Bild-Zeit III: Zeitgestalt und Erzählstruktur in der bildenden Kunst des 16. Jahrhunderts 9783205201830, 9783205796459


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Bild-Zeit III: Zeitgestalt und Erzählstruktur in der bildenden Kunst des 16. Jahrhunderts
 9783205201830, 9783205796459

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ARS VIVA Herausgegeben von

Götz Pochat Band 12

Götz Pochat

Bild – Zeit Zeitgestalt und Erzählstruktur in der bildenden Kunst des 16. Jahrhunderts

2015 böhl au verl ag wien köln weimar

Gedruckt mit der Unterstützung durch: Österreichische Forschungsgemeinschaft Amt der Steirischen Landesregierung MA 7, Kulturabteilung der Stadt Wien Theodor Springmann Stiftung Heidelberg Kurt Rosmann, Graz Den Fördergebern sowie Freunden, Kolleginnen und Kollegen und dem Verlag, nicht zuletzt dem Setzer, sieht sich der Autor zu großem Dank verpflichtet.

Das Buch sei Adrian und Günter in geistiger Verbundenheit und meiner Frau à la recherche du temps perdu als trouvaille gewidmet. Graz, April 2015

Alle Personenbezeichnungen, die sprachlich in der männlichen Form angewandt wurden, gelten sinngemäß auch in der weiblichen.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek  : Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie  ; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Umschlagabbildung  : Ausschnitt aus Bridget Riley, Katarakt III, 1967 – Sammlung British Council, Rowan Gallery London

© 2015 by Böhlau Verlag Ges.m.b.H., Wien Köln Weimar Wiesingerstraße 1, A-1010 Wien, www.boehlau-verlag.com Alle Rechte vorbehalten. Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig. Lektorat  : Meinrad Böhl, Leipzig Umschlaggestaltung  : Tino Erben, Wien Satz  : Michael Rauscher, Wien Druck und Bindung  : Finidr, Cesky Tesin Gedruckt auf chlor- und säurefreiem Papier Printed in the EU ISBN 978-3-205-79645-9

Inhalt

Einleitung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

7

1 Theorien zum Phänomen Zeit in der Kunst und im Kunstschaffen 7 – 2 Präsentationsformen von Zeit im Bild  22 – Ikonologie der Zeit, Hans Holbein d. J.: „Die Gesandten“ 28 – 3 Auswahl der Künstler und Werke 39 – 4 Methodik 42

I

Die Macht der Bilder . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

44

Allegorie und natürliche Zeichen 44 – Poetische Allegorie – Autonome Malerei 49 – Giorgione 51 – Lorenzo Lotto 75 – Raffael 78 – Tizian 80 – Bronzino 82

II

Serielle Erzählstruktur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

86

Albrecht Dürer, Apokalypse 86 – Albrecht Dürer, Die Große Passion 101 – Albrecht Dürer, Das Marienleben 111 – Albrecht Altdorfer 123 – Der Triumphzug Kaiser Maximilians I. 132 – Serielle Illustrationen und Kreuzwege 139

III Michelangelo . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

141

1 Die Decke der Sixtinischen Kapelle 141 – 2 Das Jüngste Gericht 158 – 3 Cappella Medici 165

Farbtafeln . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

177

IV Historia. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

200

Leonardo 202 – Michelangelo 203 – Raffael 205 – Albrecht Altdorfer 217 – Tizian 224

V

Tizian. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

235

Präsenz, Augenblick und dramatische Wirkung 235 – Mythologische Themen 239 – Sakrale Werke – Pathos und Ethos 244 – Poesie 260 – Gesicht und Gehör 271 – Prudentia – Allegorie der Zeit 277 – Expressivität, macchia und Hell-Dunkel 281 – Spätwerke – Materialität und Vergänglichkeit 284

VI Tintoretto. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

296

Der hl. Markus befreit einen Sklaven 296 – Scuola di San Rocco 304 – Allegorien von Einheit und Eintracht 308 – S. Giorgio Maggiore, Presbyterium 312

VII Veronese.. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

316

Das Gastmahl im Hause Lewis 316 – Existenzmalerei 318

VIII Vielansichtigkeit und figura serpentinata. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

320

Donatello 323 – Leonardo und die Paragonefrage 324 – Plastik nach 1500 327 – Giovanni da Bologna 332

IX Pieter Bruegel der Ältere. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

339

Innerbildliche Argumentation 339 – Frühe Landschaften 344 – Wimmelbilder 349 – Todesfugen 352 – Blindheit und Hybris 358 – Jahreszeitenbilder 369 – Die großen Bauernbilder 377 – Späte Parabeln 383

Resümee.. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

395

Anmerkungen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

400

Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

427

Namenregister (vor 1950) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

439

Abbildungsverzeichnis. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

444

Abbildungsnachweis. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Einleitung 1 Theorien zum Phänomen Zeit in der Kunst und im Kunstschaffen Die Auseinandersetzung mit dem Phänomen „Zeit“ in der bildenden Kunst und die wissenschaftliche Positionsbestimmung des ganzen Vorhabens (der dritte Teil der Folge Bild/ Zeit liegt nun vor) sei hier erneut angesprochen, zumal seit dem Erscheinen des ersten Bandes bereits achtzehn Jahre verstrichen sind. Die vorgestellte Theorie liegt der Ausrichtung der Analysen und der fortlaufenden Reflexion über das Gestaltete und dessen Beschreibung selbst zugrunde. Es handelt sich nicht um eine Methode, eher um eine für die Kunstbetrachtung in der Wissenschaft und Ästhetik unerlässliche Verhaltensweise. Pänomenologie, Gestalttheorie und Inhaltsanalyse haben den Zeitaspekt als einen kostitutiven Faktor der bildenden Kunst und der Kunstbetrachtung herausgestellt. Die hier vorgenommene Präsentation der einschlägigen Theorien und Autoren deutet den geistigen Horizont an, vor dem sich die Analysen in den folgenden Kapiteln entfalten. Überschneidungen mit der Einleitung im ersten Band der Bild/Zeit von 1996 waren unvermeidlich, auch wenn wichtige Beiträge kunstphilosophischer Natur hinzugekommen sind.1 Die Einleitung eröffnet die Möglichkeit, das vorliegende Buch als ein Solitär zu lesen. Der Hauptteil ist nur generell mit dem theoretischen Exkurs verknüpft. Die einzelnen ­Kapitel sind als Studien zu den Werken einiger maßgeblichen Künstler im 16. Jahrhundert, zu verstehen, die zu spezifischen Ausprägungen der Zeitlichkeit gelangt sind und somit die daraus resultierende Erlebniszeit und die mit ihr verbundene Reflexion nachhaltig geprägt haben. Aus der jeweiligen Werkgruppe und ihrer Thematik ergibt sich die unterschiedliche methodische Vorgehensweise (auf die Auswahl­kriterien wird am Ende der Einleitung kurz eingegangen).

Erlebniszeit In meinem Artikel Erlebniszeit und bildende Kunst von 1984 ging es um die fundamentale Rolle des inneren Zeitbewusstseins, von Husserl und späteren Phänomenologen erörtert worden ist. Das Zeitbewusstsein trägt maßgeblich zur Klärung des Themenkomplexes „Zeit im Bild“ bzw. der Rezeptionszeit bei. Die Bildbetrachtung und die damit verbundene, fortlaufende Reflexion über das Wahrgenommene und

Erkannte sind für die Interpretation von Kunst, die dadurch hermeneutische Relevanz erlangt, unabdingbar. Zu Beginn der 1980er-Jahre war das Thema „Zeit“ von der Kunstwissenschaft immer noch vernachlässigt (als Ausnahmen seien hier Arnheim, Dagobert Frey und Dittmann genannt). Dies gab mir den Anstoß zu dem Vorhaben, die Kunst in ihrer historischen Entwicklung auf den Aspekt der Zeitlichkeit unter steter Berücksichtigung der eigenen Erlebniszeit abzufragen. Das Thema lag freilich in der Luft, denn kurz darauf erschienen die Bücher von Lamblin (1985) und Theissing (1987) und im selben Jahr eine grundlegende Positionsbestimmung von Gottfried Boehm. Weitere Untersuchungen und Ausstellungen zum Zeitphänomen folgten.2

Zeit als Ausdrucksqualität Viele Aspekte der Zeit, die sich in den Gestaltungen der Kunstwerke manifestieren, wie die Bewegungsdarstellung, die Relation von Figuren im Bild, die Dynamik der Gestaltung sowie Zeitaspekte in der Ikonografie und der Symbolik, können Gegenstand der Analyse sein. Aber die kunsthistorische Klärung von Gestaltungsprinzipien setzt erst im Nachhinein, im Nachvollzug des Gesehenen, einschließlich der Inhalte und ihrer Ausrichtung, im Bewusstsein ein  ; so auch die Frage nach dem Sinn und der Funktion der Zeit in Bezug auf die Bildgestalt. Wie kommt Zeitlichkeit in einem Bild zum Tragen  ? Inwiefern entspricht die vorliegende Gestaltung unserer herkömmlichen Zeiterfahrung und was gelangt darin zum Ausdruck  ? Bei der formalen Analyse geht es in erster Linie nicht um Identifikation von Figuren und Klärung von Inhalten, sondern um formale Ausdrucksqualitäten  : um die Erfassung der Struktur eines Werkes, der Gestalt einer Plastik und ihres Verhältnisses zum umgebenden Raum, um die Dynamik der Linie und der Wirkung des Kolorits oder des farbigen Grundes. Einschätzungen zur Relation einzelner Bildelemente zueinander und zum Ganzen einer Komposition, ihrer ganzheitlichen Gestalt, sind ebenfalls Gegenstand der Analyse. Die begleitenden Wahrnehmungs- und Bewusstseinsprozesse sind dabei für die Erlebniszeit konstitutiv. Die Reflexion über deren Abläufe im Bewusstsein macht es möglich, über die „Zeit im Bild“, die uns als Betrachter affiziert, Aussagen zu treffen. Als ein Problem erweist sich hierbei die durch den wissenschaftlichen Diskurs vorgenommene nachträgliche Trennung des Zeitbegriffs in einen ontologischen und einen er-

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Einleitung

kenntnislogischen Vorgang.3 Auf die bildende Kunst bezogen, kann man hier vereinfachend von der objektiv vorliegenden Struktur eines Werkes und der subjektiven Erfahrung derselben sprechen. Nach Deppert bedingen der erkenntnislogische und der ontologische Zeitbegriff einander jedoch und sind miteinander verschränkt  ; letztendlich seien sie „als Zeitbewusstsein oder kurz als Zeit zu bezeichnen“.4 Auf die konstitutive Rolle der aus der Struktur eines Bildes bzw. aus seiner Zeitlichkeit resultierenden Zeiterfahrung hat Gottfried Boehm hingewiesen. Zugleich wird das positivistisch gegründete Missverständnis angesprochen, der Raum sei als eine vorgegebene objektive Größe zu verstehen, aus der die neuzeitliche Bildvorstellung erwachsen sei, und die Zeitlichkeit resultiere aus dem „Neben- und Hintereinander bildlicher Ordnung“. Eher das Gegenteil dürfte nach Boehm in der bildenden Kunst, auch in der abstrakten, der Fall sein.5

Ästhetischer Nachvollzug der Zeitstruktur In diesem dritten Band von Bild/Zeit wird – wie bereits in den vorhergehenden Bänden von 1996 und 2004 – der Versuch unternommen, bei den Werkanalysen und der Klärung formaler und narrativer Strukturen zugleich die mit der Betrachtung verbundene Erfahrung der Zeitlichkeit beschreibend zu vermitteln, die Erlebniszeit in ihrer konstitutiven Bedeutung evident zu machen. Der Prozess des ästhetischen Nachvollzugs wird bereits in den Anfängen der Gestaltpsychologie als eine Verschmelzung von Wahrgenommenem und Wahrnehmendem, von Physis und Psyche beschrieben – geht es doch um qualitative Werte bildlicher Gestaltung. Erst aus dem eigentlich selbstbezüglichen Dasein des Kunstwerks (man könnte hier wieder ästhetische Begriffe wie Spiel, Schein und Interesselosigkeit bemühen) erwächst die Authentizität und Aussagekraft des Bildhaften. Die Interaktion der Komponenten im Bildgefüge, zuweilen auch inhaltlich bedingt, wird durch den Begriff Ikonik umrissen. Das Ikonische trägt den Sinn in sich selbst und lässt die Bildstruktur, die sich von der Kontingenz der alltäglichen Dinge abhebt, als autonome Größe hervortreten.6 Eine weitere wesentliche Komponente der Zeitgestaltung in der Malerei hat Lorenz Dittmann in Über das Verhältnis von Zeitstruktur und Formgestaltung in Werken der Malerei (1977) angesprochen. Gegenstand seiner Erörterung sind das Kolorit, das Helldunkel und der Bildrhythmus, der den Zeitraum des Gemäldes zu einem autonomen Ganzen schließt. Der farbige Grund des Bildes wird in Dittmanns Darstellung mit dem Zeitgrund, der „inneren Dauer“, wie von Bergson und René Huyghe postuliert, in eins gesetzt.7

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Die Neuerung Dittmanns besteht in seiner Reflexion über die malerische Gestaltung, zu der die koloritgeschichtlichen Untersuchungen von Ernst Strauss angeregt haben. In Bezug auf die zeitliche „Gerichtetheit“ von Rembrandts Malerei heißt es, dass die „durée die Dimension der gelebten, der subjektiv erfassten Zeit“ sei und dass „der Weg von Rhythmik zur Dauer“ und „zur Subjektivierung, zur Verinnerlichung der Zeit“ führe.8 Heinrich Theissing hat in seinem Buch „Zeit im Bild“ 1987 die verschiedenen Aspekte der Zeitlichkeit, die bis ­dahin Berücksichtigung gefunden hatten, systematisch zusammengefasst und an Beispielen vorgestellt. Besondere Beachtung wird darin Arnheims Bildstruktur geschenkt  : der Fläche und ihrer Füllung sowie der Lage der einzelnen Figuren im Bild. Des Weiteren wendet sich Theissing Fragen nach Bewegungsmotiven, dem Bild- und Goldgrund, Helldunkel oder dem Farbraum zu. Über diese objektiv vorliegende (ontologische) „Bildzeit“ hinaus kommen auch erkenntnislogische Aspekte der Rezeption, der „Zeit der Betrachtung“ und der „historischen Zeit“ zum Tragen.9

Zeit als Existenz und Bewusstseinsform In seiner Einleitung geht Theissing auf die philosophische Frage nach der Zeit ein. Er stützt sich dabei auf Augustinus’ Reflexionen und Heideggers diesbezügliche Einschränkungen aus seinen „Marburger Vorlesungen“ von 1927  : „Vergangenheit und Zukunft sind ihrem Begriffe nach gerade nicht, es i s t im Grunde immer nur die Gegenwart, das Jetzt.“ Dementsprechend wird die Zeit von Heidegger schlussendlich dem „Nichtsein“ und dem „Nichtseienden“ überantwortet  : „Wenn selbst diese Bestimmungen dem Moment der Zeit fehlen, von dem man vielleicht einzig noch sagen kann, daß es i s t , dem Jetzt, dann scheint die Zeit ganz und gar dem Nichtsein und Nichtseienden (μή όυ) zuzugehören.“10 Der strenge philosophische Diskurs, dem Phänomen „Zeit“ als ontologischer Gegebenheit gerecht zu werden, mündet in den Versuch, diese Erscheinungsform von der „erkenntnislogischen“ zu trennen (so Deppert  ; vgl. oben), ohne dass es gelänge, der Zeitlichkeit „an sich“ habhaft zu werden, den Übergang von Sein in das Nicht-Sein in einem Dasein auf den Tod hin anders als in Worten zu umkreisen. Als intuitiv gelebte und erlebte Bewusstseinsform erscheint Zeit unmittelbar evident  ; reflektiert und verbalisiert wird sie in der Phänomenologie und der Existenzphilosophie in einem Bewusstseinszustand der Selbsterkenntnis und Lebensbewältigung. Das beschränkte Dasein hat als Vorentwurf der zur Disposition stehenden Zeit zu gelten, die als solche nur aus „Leere“

Theorien zum Phänomen Zeit in der Kunst und im Kunstschaffen

bestehe. Bei Gadamer heißt es  : „Dennoch bestätigt sich damit nur im ganzen, daß Zeit hier als das, worüber man verfügt und was wie in einer beharrlichen Präsenz zur Verfügung steht, verstanden ist. Nur in Grenzerfahrungen wird ihre Negativität als solche unüberhörbar.“11

Mittelalter  : Paradigmatische Zeitstruktur Der Zeitbegriff hat in der Physik zu Beginn des 20. Jahrhunderts seinen objektiven Charakter eingebüßt. Aber schon in der Antike, der die objektive Methode der Zeiteinteilung in der Astronomie geläufig war, wusste man um den relativen Charakter der Zeit.12 Am stärksten tritt die Aufhebung des zeitlichen Kontinuums in der vertikalen Erzählstruktur der Bibel zutage.13 Hinzu kommt der figurale Aspekt der biblischen Erzähltechnik  : Die Realprophetie der Vergangenheit findet in der Gegenwart ihre Erfüllung – die Historie bildet den Grund für die reale Umsetzung der Voraussagen und die in Aussicht gestellte Erlösung bewahrheitet sich als erlebte Zeit im Augenblick der Ekstase.14 Gerade das paradigmatische Zeitverständnis des Christenmenschen zeichnet sich angesichts des übergreifenden Heilsplans durch seine „Tiefendimension“ aus. Es hat entsprechend auf die Ikonografie und Struktur der christlichen Kunst seit frühchristlicher Zeit eingewirkt  : Verschmelzung der herkömmlichen epischen (syntagmatischen) Erzählung mit symbolischen Formen  ; Aufhebung der Zeitlichkeit in Darstellungen des Abendmahls, der Taufe, der Epiphanie, der Auferstehung und Parusie (vgl. Bild/Zeit, I, 1996, S. 146 f ).

Augustinus Es ist kein Zufall, dass Augustinus sich mit dem Schematismus des objektiven Zeitbegriffs auseinandergesetzt und im elften Buch seiner Bekenntnisse den Entwurf einer Phänomenologie der Zeit vorgegeben hat. Die Rätselhaftigkeit des Augenblicks wird dort befragt und die konstitutive, weltschaffende Kraft des Zeitbewusstseins mit aller Schärfe herausgestellt  : „Was ist also die Zeit  ? Wenn mich niemand danach fragt, weiß ich es, wenn ich es aber einem, der mich fragt, erklären sollte, weiß ich es nicht. Ich weiß, daß wenn nichts verginge, es keine vergangene Zeit gäbe, und wenn nichts vorüberginge, es keine zukünftige Zeit gäbe. Jene beiden Zeiten also, Vergangenheit und Zukunft, wie kann man sagen, daß sie sind, wenn die Ver-

gangenheit schon nicht mehr ist und die Zukunft noch nicht ist  ? Wenn dagegen die Gegenwart immer gegenwärtig wäre und nicht in die Vergangenheit überginge, so wäre sie nicht mehr Zeit, sondern Ewigkeit.“15

Für Augustinus geht also das Jetzt, wenn es verbliebe, in Ewigkeit über. Die Entfaltung der Zeit nach der Vergangenheit und der Zukunft hin erfolgt nach Augustinus wiederum im Bewusstsein des existierenden Subjekts. Nach einer längeren Erörterung der axialen Zeitteilung und der phänomenologischen Veränderlichkeit von Zeit folgt die Feststellung  : „Es gibt drei Zeiten, eine Gegenwart in Hinsicht auf die Gegenwart, eine Gegenwart in Hinsicht auf die Vergangenheit, und eine Gegenwart in Hinsicht auf die Zukunft. In unserem Geiste sind sie wohl in dieser Dreizahl vorhanden, anderswo nehme ich sie nicht wahr.“16 Damit ist der Grundcharakter der phänomenologischen Zeitanalyse  : das Phänomen der Zeitdehnung, Zeitkürzung und der unterschiedlichen Ausrichtung des Zeitbewusstseins, angezeigt, auch jener Augenblick, in dem göttliche Intervention zur Aufhebung der Zeit, zur Dauer oder gar „Ewigkeit“ führt. Es gibt kaum eine Erörterung der Zeit aus philosophischer oder phänomenologischer Sicht, die sich nicht auf Augustinus’ prägnante Schilderung berufen hätte.

Kant, Herder, Schelling In den sensualistischen Theorien des 18. Jahrhunderts werden die Sinneswahrnehmungen mit dem abstrahierenden Denkvermögen des Menschen in Verbindung gesetzt, der Zeitcharakter physiologischer Vorgänge mit dem Schematismus rationaler Prinzipien in Einklang gebracht und die „Ästhe­tik des Augenblicks“ mit den Gegebenheiten der sichtbaren Welt verbunden. Philosophisch hat Kant das erkenntnistheoretische Dilemma der Verquickung von empirischer Beobachtung und rationalem Denkvermögen durch seine Kategorienlehre zu lösen versucht. Zeit wird von ihm als eine reine sinnliche Anschauungsform verstanden, die vom Verstand durch den apriorischen Zeitbegriff gespiegelt wird.17 Kritik an Kant wurde von Herder erhoben, der schon früher, von der Plastik und anderen Kunstgattungen ausgehend, die unterschiedliche räumliche Zuordnung des Schönen erörtert hatte  : „Einen Sinn haben wir, der Theile außer sich neben einander, einen andern, der sie nach einander, einen dritten, der sie in einander erfasst. Gesicht, Gehör und Gefühl.“ (Plastik 1778.)18 Die Zeit wird dabei der Musik zugeordnet. Freilich tritt sie auch bei der endlosen Ertastung

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Einleitung

der Plastik im Bewusstsein konstituierend hinzu  : Die gestaltete Form erscheint dem Betrachter als ein lebendiges Ganzes. Die Skulptur halte die antiken Gestalten „auf einem Punkt persönlichen Daseyns fest“.19 Die Schönheit der Gestalt verhelfe dem Menschen zur Rückgewinnung einer heilen Welt, dazu, den Bruch zwischen Anschauung und Ratio zu überwinden. Die Wahrnehmung antiker Plastik fördere die Humanität der Gegenwart und trage zum Bewusstsein ihres überzeitlichen Charakters bei.20 Die geschichtsbildende, weltschaffende Kraft der phänomenologischen Betrachtung und des damit verbundenen inneren Zeitbewusstseins ist nach Hans Barth in Bezug auf das Zeitalter des deutschen Idealismus angesprochen worden. Er weist auf Schellings Fragment über die Zeitalter von 1813 hin, in dem es heißt  : „Nur der Mensch, der die Kraft hat, sich über sich selbst zu erheben, ist fähig, eine wahre Vergangenheit sich zu erschaffen, ebendieser genießt allein eine wahre Gegenwart, wie er allein einer eigentlichen Zukunft entgegensieht.“21 Zwei Grundkomponenten der Erlebniszeit werden hier angesprochen  : die Ekstatik, nach der „eine Subjektivität die Fülle des An-sich-Seins durchbricht, eine Perspektive darin aufreißt“22  ; und zum anderen eine Entfaltung oder Affektion der Zeit durch sich selbst, als Übergang von Gegenwart zu Gegenwart. Es gehöre wesentlich zum Subjekt und zu der Zeit, „sich einem Anderen zu erschließen und aus sich selbst herauszugehen“.23 In der dreifachen Struktur der erlebten Zeit verschmelzen Vergangenheit und Gegenwart  ; sie bereiten zugleich dem Zukünftigen den Boden.

Wahrnehmungspsychologie und ästhetische Reflexion In den letzten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts fielen das Zeitmoment der ästhetischen Betrachtung und die damit einhergehende Reflexion über die subjektive Wahrnehmung in den Zuständigkeitsbereich der Psychologie (so bereits in Fechners Elemente der Psychophysik von 1860). Die daraus gewonnenen empirischen Erkenntnisse fanden auch Eingang in die Theorie und Praxis der bildenden Kunst. Arnold Gehlen sprach von der „in den Vordergrund tretende[n] Selbstempfindlichkeit der Wahrnehmung“ und der damit verbundenen „gebrochenen, reflektierten Bewusstseinslage“ und zog eine Parallele zum Impressionismus und Pointillismus.24 Der Augenblicks- und Erlebnischarakter der Wahrnehmung, „die Verselbstständigung der Sichtbarkeit bis in die Ableitung des Malvorgangs als Aktion selbst“ diente daraufhin Conrad Fiedler als Ausgangspunkt seiner kunsttheoretischen Überlegungen. Nur in der faktisch ablaufenden ästhetischen Erlebniszeit sei der Ausschluss der „kunstfremden Lebenszwecke“ des Den-

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kens, Wollens und des Handelns möglich. Das formal ausgerichtete „künstlerische Sehen“ (auch vom „sehenden Sehen“ ist die Rede) unterscheidet sich nach Fiedler grundsätzlich von der alltäglichen Form der Wahrnehmung.25

Henri Bergson In ähnlicher Weise vollzieht sich die Durchdringung von ästhetischem Gefühl und faktischer Erlebniszeit in Bergsons Darstellung des dynamischen Bewusstseins (Sur les données immédiates de la conscience, Paris 1888).26 Gestaltpsychologische Gedanken werden dabei von Bergson bereits vorweggenommen. Bei der Erfassung von Linien und Formen finde im Bewusstsein eine Symbiose der wahrgenommenen Gestalt mit dem begleitenden Gefühl statt  ; die Strukturierung des Erlebten trage wiederum zu seiner Ästhetisierung im Bewusstsein bei.27 Die Wahrnehmung der Gestalten im Raum, die in den Zuständen unseres Gemüts ihre Entsprechung finde, sei unlöslich mit dem Zeitbewusstsein und der Vorstellung der Dauer verbunden. Jeder gezählte Moment sei als ein Punkt im Raum vorstellbar, jede Zahlenvorstellung mit räumlicher Anschauung verknüpft  : „Einfache Sukzession ist nur in der Zeit denkbar, eine Vielzahl Folgen konstituiert den gedachten Raum.“28 (Fig. 1) Dies gelte insbesondere für akustische Vorgänge  : Die Reihung der Töne finde in einem Idealraum statt, dem wir eine reine Dauer unterlegen – sei es bei der Wahrnehmung einer Melodie (qualitativer Eindruck), sei es bei der Zählung einzelner Töne. Der Zahlenaspekt trete nur durch Vermittlung einer symbolischen Vorstellungsweise, bei welcher notwendig der Raum eine maßgebliche Rolle spiele, in Erscheinung  : „[M]an [entlehnt] notwendig vom Raume all die Bilder …, durch die man das Gefühl beschreibt, das das reflektierte Bewusstsein von der Zeit und sogar von der Sukzession hat  ; die reine Dauer muss also wohl etwas anderes sein.“29 Gedacht erscheint die Zeit hier als „Phantom des Raumes“, wie bei Kant eine sinnliche Anschauungsform, von einem apriorischen Begriff erfasst. Die Leistung der Intelligenz bestehe in der Verbalisierung von Empfindungen, die das Ich dynamisch konstituieren und zur raumzeitlichen Orientierung beitragen. Zwei Auffassungen von Dauer werden nach Bergson im Bewusstsein virulent  : zum einen die analytische Aussonderung von Einzelmomenten, die nachträglich zur Vorstellung einer dauernden Sukzession führen und als simultan auftretende Vorgänge auf den imaginären Raum projiziert werden  ; und zum anderen die Durchdringung sukzessiver Bewusstseinsvorgänge zu einer einheitlichen Gestalt

Theorien zum Phänomen Zeit in der Kunst und im Kunstschaffen

Fig. 1 Henri Bergson, Der gedachte Raum. Vorstellung der Sukzession.

Fig. 2 Henri Bergson, Durchdringungsprozess der Bewusstseinsvorgänge.

und Ganzheit, wie sie etwa im Erlebnis einer Melodie zum Ausdruck komme (Fig. 2). Die Ausklammerung eines Moments sei nur im Augenblick möglich – aus dem Strom der Zeit gerückt verweile er in der „reinen Dauer“. Diese „wahre Dauer“ werde im qualitativen Sinn als intensive Größe wahrgenommen  ; sie erscheine im Durchdringungsprozess der Bewusstseinsvorgänge.30 Diesen ­Bewusstseinszustand vermöge der Mensch nur durch symbolische Vorstellungen und raumzeitliche Bilder zu veranschaulichen. Die heterogene Erlebniszeit werde notwendigerweise in die homogene Form symbolischer Gebilde übertragen. Zum Bewusstsein der „reinen Dauer“ des Moments gesellt sich nach Bergson das Erlebnis der Bewegung  : die Erinnerung an frühere Bewusstseinslagen und durchschrittene symbolische Räume. Qualitativ sei die Bewegung als Akt an sich nicht teilbar, vielmehr schließe sie im Bewusstsein die Erinnerung an frühere Lagen mit ein. Im Erlebnis der „reinen Dauer“ werde Vergangenes mit Gegenwärtigem verschmolzen, gleichsam koexistent. In dieser Dynamik innerer Bewusstseinszustände spiegele sich das Leben selbst in seinem Werden und Vergehen. In Bergsons Buch L’Évolution créatrice (Paris 1907) wird dieser Gedanke noch weiter ausgebaut. Der Durchdringungsprozess der Zeiten im Denken und Fühlen vollziehe sich in der lebendigen Gegenwart  ; der élan vital erfülle diese mit Dynamik und Leben. Die zeitgenössische sog. Lebensphilosophie in Deutschland wurde stark von Bergsons existenzieller Philosophie beeinflusst. Georg Simmel hat den „Lebensgeist“ in seiner

Rembrandtinterpretation entsprechend beschworen  : Der Lebensstrom und der Lebensimpuls verdichteten sich in der Malerei des Meisters zu einer Ausdrucksbewegung, die „das ganze Nacheinander ihrer Momente in der Einmaligkeit eines einzelnen fühlen“ lasse.31 In Bergsons Schrift La Pensée et le Mouvant (1934  ; dt.: „Denken und schöpferisches Werden“, 1948) wird die Intuition als Versuch des Menschen definiert, „die wahre Dauer“ wiederzuerlangen. Das begriffliche Denken habe sich als unfähig erwiesen, in die Tiefe des Geistes einzudringen  : „Sie haben nicht gesehen, dass die verstandesmäßig erfasste Zeit gleich Raum ist, dass die Intelligenz nur einen Schatten der wahren Dauer bearbeitet, aber nicht die Dauer selbst, dass die Eliminierung der Zeit der gewöhnliche und banale Akt unseres Verstandes ist, dass die Relativität unserer Erkenntnis des Geistes gerade daher rührt, und dass man also, um von der Begrifflichkeit zur unmittelbaren Schau, vom Relativen zum Absoluten zu gelangen, sich nicht außerhalb der Zeit begeben muss …, sondern dass es im Gegenteil gilt, sich in die wahre Dauer zurückzuversetzen, und die Wirklichkeit in der Bewegung, die ihr Wesen ist, wieder zu ergreifen.“32 Dieses Erlebnis des Augenblicks sei sowohl mit dem Gewesenen als auch mit dem Zukünftigen koexistent  : „Für die Intuition ist die Veränderung das Wesentliche[,] was das Ding angeht  ; wie es der Verstand auffasst, ist jenes nur ein Querschnitt im Fluss des Werdens, den unser Geist als Ersatz für das Ganze genommen hat. … Intuition, mit einer Dauer verbunden, bedeutet inneres Wachstum, sie gewahrt in ihr eine ununterbrochene Kontinuität von unvorhersehbarer Neuheit.“33

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Einleitung

Fig. 3 Edmund Husserl, Konstituierung des Zeitbewusstseins (nach Ausgabe 1966).

Phänomenologie  : Franz Brentano, Edmund Husserl In den 80er-Jahren des 19. Jahrhunderts versuchte Franz Brentano die phänomenologischen Konsequenzen aus den experimentellen Untersuchungen der Empfindungen und dem unmittelbaren Zeitbewusstsein zu ziehen.34 Er unterschied dabei zwischen „unmittelbarer Gedächtnisvorstellung“ und der nachträglichen Vergegenwärtigung vergangener Bewusstseinsinhalte. Auf die Ästhetik bezogen trete dabei die „normative Funktion der menschlichen Seele, die den wertenden Akt aus einer inneren Notwendigkeit heraus“ vollziehe, in Kraft. Auch der Begriff der Schönheit sei in diesen psychischen Akt eingebunden, dessen Wesenszug als „seelische Intentionalität“ zu verstehen sei.35 Von Brentano ausgehend gelangte Husserl zu seiner Grundlegung der Phänomenologie  : Vorlesungen zur Phänomenologie des inneren Zeitbewußtseins (1893, 1905–1917). Als entscheidende Neuerung seines Ansatzes sah Husserl die Scheidung von Zeitwahrnehmung und Zeitfantasie, die Trennung zwischen Akt, Wahrnehmungsinhalt und aufgefasstem Gegenstand.36 Die Zeitanalyse habe allen drei Komponenten Rechnung zu tragen. Unlöslich sei Zeitlichkeit mit der Wahrnehmung verwoben. Die Objekte stellten nicht nur Einzelheiten in der Zeit dar, sondern enthielten auch eine

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gewisse zeitliche Ausdehnung. Das Zeitobjekt werde im Jetzt wahrgenommen. Kaum sei es im dauernden Fluss unseres Zeitbewusstseins herabgesunken, werde es von neuen Phänomenen im Jetztpunkt des Bewusstseins überlagert. Zugleich trage es rückwirkend zur Konstituierung dieses neuen Jetzt bei. Die Retention „beschatte“ den Augenblick. In diesem Sinne wird der Erlebnisinhalt unseres Bewusstseins als ein Kontinuum von Wahrnehmungen, das von der Retention fortwährend modifiziert wird, beschrieben (vgl. Fig. 3). Die aktuelle Wahrnehmung gilt als Präsentation, die von der primären Erinnerung gespeist wird. Darüber hinaus ist von einer sekundären Erinnerung die Rede, bei der ein vergangener Bewusstseinsinhalt vergegenwärtigt wird – repräsentiert im Jetzt, den Augenblick mitgestaltend. Ob als Sukzession oder als Einzelteile  : In ihrer Ganzheit, in der Präsenz des Bewusstseins, erhalten die Inhalte, so Husserl, ihre Dauer und Gestalt. Eine weitere Modifikation erfährt das innere Zeitbewusstsein durch die Unterscheidung zwischen dem originären Bewusstsein während des Wahrnehmungsaktes, der mit diesem zusammenhängenden Empfindung und dem Fantasiebewusstsein, das neben der Vergegenwärtigung früherer Erinnerungen auch das Bewusstsein um die Selbstgegebenheit mit einschließe.37 Hier werde das Wiedererinnerte projektiv auf das Zukünftige übertragen. Das Fantasiebewusstsein beziehe die Erwartung des Menschen mit ein, das Kommende möge die Erfüllung des Vergangenen und des Vergegenwärtigten gewähren. Diese Erweiterung des Zukunftshorizonts wird in der Phänomenologie durch den Begriff der Protention umschrieben (siehe Bild/Zeit, I, 1996, S. 15, Fig. 3). Der Augenblick des inneren Zeitbewusstseins wird sowohl von der aktuellen Wahrnehmung (Präsentation) und der konstitutiv daran beteiligten primären Erinnerung als auch von der sekundären Erinnerung und der Protention modifiziert. Vergegenwärtigung und Vorwegnahme durchdringen sich im „Jetzt“, in der erfüllten Dauer der Erlebniszeit. Diese, ob rein gegeben oder zusätzlich repräsentiert, wirkt auf eine mögliche Erfüllung hin, konstituiert das Sein und die Welt des Individuums und bleibt im Strom des Bewusstseins immanent präsent. Die Erlebnisse entsprechen der Dauer der Augenblicke, in denen das Ich qualitativ beschlossen liege. An seiner eigenen Existenz erfahre der Mensch das Prinzip des Lebens, das sowohl Werden als auch Vergehen, sowohl Veränderung als auch Kontinuität in der ekstatischen Einheit des Augenblicks in sich begreife. Die Affinität zu Bergson liegt auf der Hand. Was Bildbewusstsein und Erinnerung betrifft, unterscheidet Husserl zwischen der Repräsentation bildlicher Objekte (z. B. Kunstwerke) und der Erinnerung als setzender Repro-

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duktion  : Vergegenwärtigung eines Gegenstandes, dessen ­Erscheinung im Bewusstsein zugleich als „gegenwärtig gewesen“ modifiziert wird. Nicht die frühere Wahrnehmung, sondern der ganze Komplex des ehemaligen Bewusstseinsganzen werde reproduziert, eine frühere Gegenwart in ­Bezug zum Jetzt gebracht.38 Im Augenblick der Vergegenwärtigung werde eine frühere Subjekt-Objekt-Relation heraufbeschworen, deren fiktiver Charakter infolge des ­Abstands zur Gegenwart und des nicht konkreten Vorhandenseins modifizierend auf das aktualisierte Erlebnis und dessen Einschätzung einwirke (hier sei auf Marcel Prousts großartige literarische Umsetzung dieses Gedankens verwiesen).

Maurice Merleau-Ponty Merleau-Ponty hält an Husserls Modell des inneren Zeitbewusstseins fest (Phénoménologie de la perception, 1945). Die Modifikationen werden ebenfalls als eine fortwährende Überschattung oder ein Einsinken von Momenten in den Bewusstseinsstrom beschrieben.39 Retention repräsentiert bei Merleau-Ponty die unmittelbare Vergangenheit im Sinne von Husserls „primärer Erinnerung“, während Erinnerung als Vergangenheitsbewusstsein nachträglich in den Bewusstseinsprozess eingreife. Die Zeit sei nicht Gegenstand des Wissens, sondern „eine Dimension unseres Seins“40. Die Vergegenwärtigung des Vergangenen wird nur durch eine „fungierende Intentionalität“ ermöglicht  : „Meine Gegenwart übersteigt sich selbst auf eine nächste Vergangenheit und Zukunft hin.“ Diese beiden gehen in dem ursprünglichen Akt des augenblicklichen Seins und Bewusstseins auf  : „Die Subjektivität ist nicht in der Zeit, da sie vielmehr die Zeit sich zueignet und sie erlebt, mit dem Zusammenhang eines Lebens in eins fällt.“41 Zeit erfahren bedeute für das Individuum, aus sich selbst herauszugehen, im Fluss der Dinge und des Bewusstseins sich selbst zu erkennen und zu zeigen. Heidegger spricht von „Selbstaffektion“ eines Wesens, welches „darin aufgeht, sehen zu lassen“. Merleau-Ponty wiederum verweist darauf, dass auch das Bewusstsein „sich selbst affiziert und sich selbst schon gegeben findet“ – „das Wort Bewusstsein selber [hätte] keinen Sinn ohne diese Dualität“.42 Für die Existenzphilosophie ist das menschliche Sein gleichbedeutend mit Zeit oder, wie Staiger im Anschluss an Heidegger bemerkt, jener Form der Anschauung, aus der menschliche Existenz und das, was wir Wirklichkeit und Gegenwart nennen, entspringen  : „Die Zeit, so wie wir sie hier verstehen, als Existenz des Menschen, ist durchaus ein ,außer sich geraten‘, ist ihre Natur und Bestimmung. Sie

tritt aus sich heraus, indem sie sich inkarniert und symbolisiert.“43

Cassirer, Raum-zeitliche Symbolform Den Zusammenhang von räumlich-zeitlichen Vorstellungen, die der Einbildungskraft zugrunde liegen und in Sprache, Kunst, Mythos und Religion an den Tag treten, hat Ernst Cassirer in seiner Philosophie der symbolischen Formen (1923–1929) näher erörtert.44 Sie schlgen sich in symbolischen Formen verschiedener Art nieder. Zugleich gelte, dass die Wahrnehmung simultan ausgerichtet sei, die gestaltete Form vorerst als Einheit erfasst werde (zum Problem der Simultaneität und der Gestalt vgl. S. 19 f.). Strukturzusammenhänge und Modalitäten erschlössen sich dann der nachträglichen logischen Analyse. Die Nähe Cassirers zu Versuchen seiner Zeit, gestaltpsychologische Erkenntnisse auf die Kunstbetrachtung zu übertragen, liegt hier auf der Hand. In seiner Nachfolge hat Susanne K. Langer die zeitlich-räumlichen Bezüge je nach ihren Modalitäten in den verschiedenen Kunstgattungen zum Gegenstand ihrer ästhetischen Untersuchungen gemacht.45

Gestalt und Rhythmus Zeit und Raum sind demnach Begriffe, die entweder im Augenblick des Erlebens qualitativ und konstitutiv im Bewusstsein des Menschen vergegenwärtigt werden, wie von der Phänomenologie oder Existenzphilosophie beschrieben, oder es sind Leerformeln der analytischen Begriffsbildung, die der Bindung an Gegenstände und Geschehnisse bedürfen, um Anschaulichkeit zu erlangen. Die Erlebniszeit kommt nur durch „symbolische Bilder“ zum Tragen, die nach Bergson mit Notwendigkeit auch mit räumlichen Vorstellungen verknüpft sind. Aus der Umsetzung gelebten Lebens in sichtbare Form entsteht Kunst. Staiger hat die Zeit als ihre eigentliche Quintessenz bezeichnet  : „Echte Kunst ist reine Inkarnation der ursprünglichen Zeit. Die eine Zeitstruktur, der Rhythmus, symbolisiert sich in dem Mannigfaltigen eines Kunstwerks.“46 Die Einheit wird durch die Struktur des Ganzen gewährleistet, die uns als Gestalt entgegentritt, Evidenz gewinnt. Wenn wir Zeit und Werden, Dauer und Augenblick als Selbstvollzug des Menschen verstehen, die seiner Existenz und seinem Erleben zugrunde liegen, deckt sich der Anspruch Staigers, der auf die Kunst schlechthin abzielt, mit den früheren phänomenologischen Analysen des inneren Zeitbewusstseins. In der Tat eröffnet

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sich hier ein weites Feld der Kunstinterpretation, dem bislang zu wenig Beachtung geschenkt wurde. Die Betonung des Rhythmus, die aus Staigers Textinterpretationen erwachsen ist,47 lässt sich mit einem Ansatz Susanne Langers vergleichen  : Aus der Matrix des Lebens erwachse der Rhythmus der künstlerischen Gebilde, deren Seinsvollzug darin bestehe, scheinbares Leben und Wachstum durch raumzeitliche Gebilde zu evozieren (virtual space, virtual time, virtual growth).48 Die dabei erzeugte Fiktion des Lebens und Werdens, der ästhetische „Schein“ des Kunstwerks, entspreche der unmittelbaren Seinserfahrung des Menschen mit ihrem innerzeitlichen Charakter. Im Erlebnis des Kunstwerks vollziehe sich dieser Vorgang stets aufs Neue. Der Frage nach der Einheit im Mannigfaltigen, die für die Zeiterfahrung Bergsons eine so entscheidende Rolle spielte, ist auch in Bezug auf die Künste (seien es Sprachkunst, Musik, Architektur, Malerei und Plastik oder die übergreifenden Formen des Theaters oder des Tanzes) mit dem Hinweis auf den Rhythmus, der gleichsam als Lebensnerv die strukturierten Gebilde durchzieht, von fundamentaler Bedeutung. Dieser Daseinsfosrm der Kunst entspricht die Verschränkung von Raum und Zeit, Dauer und Augenblick im Leben und Bewusstsein des Menschen. Aus der ästhetischen Erlebniszeit, wie sie von Langer beschrieben wird, erwachsen Sinn und Gestalt.49 (Zur Diskussion um Ganzheitlichkeit in der Gestalttheorie vgl. S. 44.)

Phänomenologische Bildbetrachtung Da die Zeitlichkeit konstitutiv am schöpferischen Prozess künstlerischer Gebilde beteiligt und ästhetisch erfahrbar wird, ist es unumgänglich, die Werke nach Struktur und Modus daraufhin zu befragen. Es geht hierbei nicht um Zeit als Gegenstand einer inhaltlichen Aussage, sondern um den inhärenten Ausdruck derselben in der formalen Struktur. Aus phänomenologischer Sicht greift dabei die Zeiterfahrung des Künstlers modifizierend in Leben und Bewusstsein des Betrachters ein  : „Reproduktion“ heißt in diesem Fall Vergleich eigener Erfahrungen mit dem phänomenal Gegebenen, das zugleich den Charakter des bereits Erlebten, Vergangenen enthält. Husserl unterscheidet zwischen der ­Repräsentation von Bildern, d. h. Kunstwerken, und der „setzenden Reproduktion“ früherer Bewusstseinsinhalte (vgl. S. 128). Zugleich stellt das Objekt eine Vergegenwärtigung vergangener fremder Bewusstseinsinhalte dar. Erfahrbar werden jene durch die retentionale und protentive Fähigkeit des Intellekts, der im Augenblick der Wahrnehmung die eigene Vergangenheit und Zukunft als Erfahrungshorizont, Lebens-

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und Bewusstseinsinhalt mit einbezieht. Zur Reflexion, die in der ästhetischen Betrachtung in Form der Selbstaffektion enthalten ist (vgl. o. S. 13), treten das Bewusstsein um die „Fremdheit“ der sich im Kunstwerk erschließenden Bewusstseinssphäre und der Drang des Betrachters, sich damit zu identifizieren (oder davon abzuschirmen), modifizierend hinzu. Becker hat darüber hinaus auf eine weitere Art der Fremdheit verwiesen, die im subjektiven ästhetischen Akt selbst beschlossen liege  : „Die heraklitische Struktur der ästhe­tischen Sphäre zeigt sich doch erst am Erlebnis, das durch seinen Zeitpunkt als mit sich Identisches definiert ist.“50 In diesem Augenblick der „reinen ästhetischen Subjektivität“ tritt die Paradoxie des Künstlerischen, der Zusammenschluss der Idee im Besonderen, die Entstofflichung des Realen und die flüchtige Erscheinung des Ideals in der künstlerischen Fiktion, zutage. Die Aufhebung der Polarität von Norm und Erlebnis im Augenblick der ästhetischen Wahrnehmung klinge in seiner Gegensätzlichkeit zur alltäglichen Lebenserfahrung modifizierend und entfremdend im Bewusstsein des Rezipienten nach.51

Viktor von Weizsäcker, Prolepsis Der biologische Charakter und die Funktion der Selbstbehauptung, die sich im Prozess der Rezeption als Einverleibung oder Abwehr spiegelt, weisen auf den Brückenschlag zwischen Biologie und Psychologie hin. Die biologische Zeit und die dynamische Seins- und Zeiterfahrung des Menschen entsprechen sich in ihren Grundzügen. Dies wird aus der Betrachtung von Viktor von Weizsäckers Gestalt und Zeit 1942 ersichtlich  : Der biologische Zeitpunkt wird nicht auf einer objektiven Zeitachse lokalisiert, sondern setzt sich selbst als Ausgangspunkt, konstituiert aus sich heraus die eigene Zeit. Wie die einzelne Komponente im Bereich des Organischen, so verhalte sich auch das Leben des Menschen in Bezug auf seine Geschichte. Besonders wichtig scheinen mir die Verweise auf den Rhythmus als biologisches Zeitmaß (vgl. o. S. 13f.) und die Umschreibung der organischen Bewegung durch den Begriff der Prolepsis  : Die Form der Bewegung sowie ihr Ablauf enthalten in sich das geltende Zeitmaß. Schon in der Anfangsphase werde die Gesamtleistung (die Endfigur) vorweggenommen.52 Die Relevanz der Prolepsis, die Wahrnehmung der „Zeitgestalt“, ist in unserem Zusammenhang offensichtlich  : Zum einen erweise sie sich als ein offener Prozess, im Fall der künstlerischen Gestaltung als eine formale Umsetzung von Bewusstseinsinhalten  ; zum anderen erkenne auch der Betrachter „nachschaffend“ die wahrgenommene Gestalt in ihrer zeitlichen Ausprägung.53

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Wilhelm Keller Der qualitative Charakter der dreiteilig strukturierten Erlebniszeit wurde 1964 von Wilhelm Keller erneut angesprochen.54 Insbesondere die Relativität des subjektiven Zeitgefühls, seine Länge bzw. Kürze, wurde von Keller herausgestellt. Die unabänderlichen Fakten der Vergangenheit würden im Gedächtnis gespeichert, um die Gegenwart mitzugestalten. Der „Jetzt-Charakter“ des Augenblicks erscheine in der symbolischen Form der Anschauung als eine längere oder kürzere Strecke. Der Wandel derselben sei auf Gefühl, Wertung, Stimmung und Gerichtetheit des Denkens zurückzuführen, wobei die Gegenwart als Vollzug des eigenen Seins Vergangenheit und Zukunft als Bewusstseinsinhalte mit einschließe. Die retentionale Funktion des Gedächtnisses ebenso wie der protentive Vorgriff auf Zukünftiges wird von dem Phänomenologen in ähnlicher Weise beurteilt, wie es in der biologischen Darlegung Weizsäckers der Fall war. In der Gegenwart erfolge der Brückenschlag von den bekannten Momenten und Fakten der Vergangenheit hin zu dem unbestimmten Zustand des Zukünftigen, jener Offenheit und Freiheit, die für Oskar Becker als Inbegriff des Künstlerischen überhaupt galt.55 Lebenswirklichkeit sei als momentane Erfüllung physischer und psychischer Gesetzmäßigkeitien zu verstehen  ; erst die Verwirklichung des Geschehens ermögliche die Erkennbarkeit des Ganzen, erschaffe Wesenseinheit. In gleicher Weise erwachse die autarke Einheit künstlerischer Ausdrucksformen im Einklang mit dem biologischen und phänomenologischen Zeitbegriff. Das Unbestimmte erweise sich als unentbehrlicher Bestandteil des Lebens und der Entfaltung – so auch in Bezug auf die schöpferische Tätigkeit des „abenteuerlichen Künstlers“. Durch das Wagnis des künstlerischen Vorgriffs werde der dunklen Zukunft das Werk abgerungen.56 Der Augenblick sei zeitüberbrückende Gegenwart, in dem das Notwendige und Determinierte der Vergangenheit (Natur und Geschichte) durch den Gestaltungsprozess in das noch Unbestimmte zukünftiger Erfüllung eingehe. Im Lichte des inneren Zeitbewusstseins erscheine der Augenblick des Erschaffens und Erlebens in der ihm eigenen Prägnanz und Bedeutung als die Präsenz eines retentiv-protentiv strukturierten Ganzen.57 (Auf die Problematik des Ganzheitsbegriffs aus künstlerischer und rezeptionsästhetischer Sicht wird noch eingegangen  ; s. u. S. 19 f.) Keller hat das Phänomen der Zeitdehnung bzw. der Zeitkürzung im Bewusstsein ausführlich besprochen  : Zeitdehnung entstehe durch verstärkte Retention bei großer Fülle des Erlebten (d. h. intensiviertes Behalten) oder durch stär-

kere Protention bei geringer Inhaltsfülle (d. h. bei einem Überschuss an Erwartung)  ; Zeitkürzung trete bei schwacher Retention und großer Inhaltsfülle (Kurzweil) oder bei herabgesetzter Protention und geringer Fülle (Ereignislosigkeit und geringe Erwartung) auf.58 Die Modifikation dieser Aufbaufaktoren im Zeiterleben des Menschen im Sinne des Jeschon, Je-gerade und des Erst-noch seien existenziell zu verstehen  : Die „innere Zeitlichkeit des Daseins“ erweise sich als „letzter Grund der Funktionsstruktur des Erlebens“.58

Retention und Protention im Zeitbewusstsein So stellt sich Keller in die Nachfolge von Husserl, Heidegger und Merleau-Ponty. Die existenzielle Gegenwärtigkeit sei als Übergang von der Gewesenheit in das Künftige zu verstehen, mit dem die „faktische Zeitigung“ des Selbst und „die Stiftung von Welt“ einhergingen. Sowohl im Bereich der Psychologie als auch in der Biologie könne vom Prinzip der „Erhaltung der Identität durch Veränderungen hindurch“ gesprochen werden, wobei das Ich im Fluss der Dinge und des Bewusstseins sein Selbst und seine Welt zu wahren wisse. Bei dieser Hingabe an die gegenwärtige Zeit, den Augenblick, trete das Gefühl als dominanter Faktor im Bewusstsein hervor  : „Die Retention vermittelt in der fühlenden Präsentation die Anmehrung durch die gegebene Situation  ; die Protention dagegen bildet das darin ebenso relevante Ansprechen des Daseins auf die Bedeutsamkeit des Erlebten für seinen [des Daseins] eigenen Fortgang.“59 In der Kunst inkarniere sich der Selbstvollzug des Daseins im zeitlich-räumlichen Gefüge des Werkes, das analog zum Prinzip der Einheit und Lebenserhaltung das Mannigfaltige der subjektiven Anschauung in Gestalt (Struktur) der symbolischen Form zur Anschauung bringe.60 Von großem Interesse erscheint in diesem Zusammenhang der Versuch Viktor von Weizsäckers, den Gestaltbegriff mit der biologischen Zeit zu verknüpfen. Dabei werden die als simultan empfundenen oder wahrgenommenen Gestalten/ Gebilde als Phänomene sukzessiver Bewusstseinszustände verstanden  ; die Wahrnehmung selbst sei als eine Form oder Bewegung, als ein Akt der Erinnerung zu verstehen (Anamnesis). Ohne den Zeitfaktor sei die Interpretation der sichtbaren Dinge, die Orientierung in der Welt, nicht möglich. In der Wahrnehmung erschaffe der Mensch sich eine eigene Welt. Die Reize der physikalischen, sichtbaren Dinge würden auf gewisse Formen reduziert, die der raumzeitlichen Ordnung der Empfindung und der Perzeption entsprächen. Weizsäcker spricht in diesem Zusammenhang von der Nomophilie, der Reduktion der wahrgenommenen Dinge auf einfache, geo-

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metrische Formen – zur gleichen Erkenntnis ist später Arnheim gelangt.61 Diese symbolischen Zeichen dienen der Kommunikation und der Orientierung. Die Gestaltpsychologie ist zu dem einleuchtenden Ergebnis gelangt, dass die Dauer der Wahrnehmung einfacher (oder „guter“) Gestalten prägnanter und kürzer sei als bei komplizierten, was vom Phänomen der Dehnung bzw. der Kürzung der Erlebniszeit bestätigt zu werden scheint (vgl. S. 15, Anm. 58). Im Prinzip gilt, was schon im Zusammenhang mit der Prolepsis hervorgehoben wurde  : Der Zeitfaktor tritt im Augenblick der Wahrnehmung anamnetisch in Kraft, d. h. das Bewusstsein speichert die ersten Eindrücke („primäre Erlebniszeit“ bzw. Retention) und modifiziert zugleich das Wahrgenommene fortlaufend auf Zukünftiges hin (Prolepsis). So erscheint die wahrgenommene Gestalt als primär gegenüber der Zeit. Die zeitlich-räumliche Verschränkung, auf die wiederholt verwiesen wird, ja die Zeit selbst tritt als „Phänomene in der Wahrnehmung“ selbst auf  : Die Zeit „empfängt ihr Gestaltsein aus der Gestaltetheit dessen, was erscheint“.62 Das an der Wahrnehmung beteiligte Gedächtnis, die Anamnesis, wird hier als dynamisch erlebend und mitgestaltend beschrieben. Proleptisch greift auch die Einbildungskraft, das Denkbare und Vorgestellte, in diesen Bewusstseinsprozess und in die Gestaltung ein, wobei sie zugleich von der sekundären Erinnerung gespeist und modifiziert wird.

Schaffen und Rezipieren als zeitliche Bewusstseinsprozesse Nach Becker sind „Schaffen und Rezipieren … gerade in der ästhetischen Sphäre in ihrer letzten Wurzel prinzipiell ungeschieden“63. Die wahrgenommenen Gestalten besitzen demnach einen proleptischen und anamnetischen Charakter, sie stellen eine Verbindung vom inneren Zeitbewusstsein des Urhebers zur Wahrnehmungszeit des Rezipienten her. Durch die Wahrnehmung wird das Objekt vergegenwärtigt, tritt es seinskonstituierend im Bewusstsein hinzu (Präsentation). Zugleich gibt es den Anstoß zur Reproduktion von Fantasievorstellungen. Richtungsangaben oder Bewegungsabläufe im Sinne des „Von-her“ und „Dort-hin“ gewinnen in diesem dynamischen Prozess qualitative Bedeutung, fordern die aktive Beteiligung des Subjekts heraus und lassen so das subjektive Zeitbewusstsein im dynamischen Wechselspiel des Augenblicks zum Tragen kommen. Zwischen Präsentation von Einzelelementen und ganzheitlicher Repräsentation wäre hier zu unterscheiden (vgl. S. 20). Darüber hinaus besteht ein Unterschied zwischen dem offenen Prozess der künstlerischen Gestaltung und der nachträglichen Analyse einer bereits vollendeten, ganzheitlichen Gestalt eines Kunstwerks.

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Gestaltpsychologie Der enge Zusammenhang zwischen der phänomenologischen Zeitanalyse und der Gestaltpsychologie ist allein schon aus der historischen und geistigen Affinität ersichtlich. Die phänomenologische Erörterung des inneren Zeitbewusstseins und der Ästhetik des Augenblicks sollte stärker als bisher von der Kunstwissenschaft, die sich der Gestaltpsychologie verpflichtet fühlt, in Betracht gezogen werden. Dabei dürfte sich die Unvereinbarkeit von Sukzession und Simultaneität bei der ganzheitlichen Erfassung einer „Gestalt“ als unbegründet erweisen. Hans Sedlmayr versuchte in den 1920er-Jahren die „reinen Formen“ bzw. die prägnante „gute Gestalt“ unter Berufung auf Max Wertheimers Untersuchungen zur Lehre von der Gestalt (1921/1923) seiner vom Gesamteindruck einer Fassade ausgehenden Strukturanalyse zugrunde zu legen.64 Bereits 1890 hatte Christian von Ehrenfels in seinem Aufsatz Über Gestaltqualitäten den Weg gewiesen.65 Eine ähnliche Vorgehensweise, vom ganzheitlichen Eindruck zur nachträglichen Analyse, findet sich in der Folge in Theodor Lipps Grundlegung der Ästhetik (1903) und in seinen ­Ausführungen zur „Einfühlungstheorie“ in Psychologie des Schönen und der Kunst (1903/1906). 66 Schon vor den 1930er-Jahren setzten die experimentellen gestaltpsychologischen Versuche Köhlers und Koffkas ein, denen freilich Experimente von Ehrenfels, Lipps u. a. vorangegangen waren. Konfigurationen und Muster lassen nach der Gestaltpsychologie den Probanden Ausdrucksqualitäten erkennen, die auf entsprechende Prozesse im Gehirn zurückzuführen sind. 1936 unternahm Wolfgang Metzger in seinem Buch Gesetze des Sehens den Versuch, diese Erkenntnisse auch für die Beurteilung der bildenden Kunst und ihre Gestaltungen fruchtbar zu machen. Metzgers Arbeit zeitigte erst später in Deutschland Wirkung  – die zweite Ausgabe erfolgte 1975.67

Rudolf Arnheim Es blieb Rudolf Arnheim, der im politischen Exil in den USA sich allerdings nicht auf Metzgers Arbeit berief, vorbehalten, den Brückenschlag von der Gestaltpsychologie zur formalen Analyse der bildenden Kunst zu vollziehen. Seine Erkenntnisse hat Arnheim in einer Reihe von Büchern und Aufsätzen publik gemacht und so die Theorie der Wahrnehmung mit dem Verständnis für den künstlerischen Ausdruck verknüpft. Sein grundlegendes Buch Art and Visual Perception. A Psychology of the Creative Eye erschien 1954.68

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Auf Experimente der Strukturwahrnehmung rekurrierend (Wilhelm Köhler, Kurt Koffka u. a.) wird zunächst die vorliegende Stimulusstruktur anhand von Testbildern dem Leser vor Augen geführt. Unterschiedliche Gestaltqualitäten kommen dabei zum Tragen  : Gleichgewicht, Umriss oder Gestalt im räumlichen Kontext  ; Form in Bezug auf ein dargestelltes Objekt  ; Transformation einer abstrakten Linie oder einer plastischen Form zur Repräsentation einer Figur  ; die Übertragungen planimetrischer Formen und Konturen auf räumlich anmutende Gebilde  ; Distorsion von Elementen und ihre räumliche Wirkung  ; Perspektivkonstruktionen und Vexiereffekte  ; die Wahrnehmung als konstitutiver Faktor der Lebenswelt, insbesondere im Kontext der bildenden Kunst  ; die Farbe in ihrer physischen Beschaffenheit und im relativierenden Kontext ihrer Anwendung  ; das Phänomen der Wahrnehmung von Bewegung in unbelebten Objekten oder Figuren  ; die Empfindung von Spannung angesichts einer vorgegebenen Struktur. Zunehmend tritt bei der Erörterung der Gestaltqualitäten die konstitutive Rolle der Empfindung beim Rezipienten hervor, verstärkt auch der Aspekt des künstlerischen Ausdrucks. Das Bewusstsein des Betrachters wird auf das Zusammenspiel der formalen Elemente im übergreifenden Gefüge des Bildes und den intendierten Ausdruck des Urhebers gelenkt. Arnheim stellt, im Gegensatz zu Lipps, den projektiven Prozess der „Einfühlung“ zugunsten der elementaren Eindrücke hintan. Die Ausdrucksqualität sei ein inhärentes phänomenales Konstrukt der Wahrnehmung, die biologisch vermittelte Information eines dynamischen Kontextes. So enthielten auch wahrgenommene Objekte Ausdrucksqualitäten, die vom Individuum von Beginn an unmittelbar apperzipiert würden. Die formale Gestaltung sei stets als unmittelbarer Ausdruck des Urhebers und seiner inhärenten Präsenz zu begreifen. Der Betrachter mache sich diese Ausdrucksform betrachtend zu Eigen, und dieser Akt werde nicht von der Reflexion und der Logik wie bei einer nachträglichen Analyse gesteuert, sondern beruhe auf dem Impuls der wahrgenommenen Konfiguration. Die Ausführungen in Art and Visual Perception zielen insbesondere darauf ab, die physisch belegbaren Eigenschaften und Ausdrucksqualitäten von Stimuli festzulegen, welche spezifische physiologische Reaktionen bedingen, unabhängig von kultureller Prägung, Gedächtnisleistung oder Erwartungshaltung des Subjekts. Von den elementaren Gegebenheiten geht Arnheim dann dazu über, die Gestalttheorie mit den Ausdrucksformen der bildenden Kunst zu verknüpfen (Toward a Psychology of Art, 1966 und 1980).69 Wertheimer und seine Nachfolger (Köhler und Koffka) hatten bereits auf die reduktionistische Tendenz bei der

Wiedergabe von Formen und Stimuli der sichtbaren Welt hingewiesen (vgl. S. 16). Diese vereinfachenden, auf geometrische Grundformen zurückgehenden Gestaltungsmerkmale, die bereits in Kinderzeichnungen sowie in der Kunst sog. „primitiver Kulturen“ auftreten,seien nach Arnheim nicht als Folge gedanklicher Konzepte oder diskursiver Bewusstseinsvorgänge zu verstehen, sondern als repräsentative Formen perzeptueller Natur, die der Wahrnehmung des Menschen als vorgängige Ordnungskriterien zugrunde lägen. (Auf die „Nomophilie“ kam ja auch Viktor von Weizsäcker im Zusammenhang mit der Zeitgestalt zu sprechen  ; vgl. S. 15).70 Laut Arnheim sei dem Menschen die Fähigkeit, einfache Gestaltqualitäten unmittelbar zu erfassen, in die Wiege gelegt worden, die Wahrnehmung gegenüber dem kognitiven Vermögen somit vorrangig. Die Gestalttheoretiker würden zwar in ihren Testfragen einfache geometrische Grundformen verwenden  ; dies heiße aber nicht, dass derartige Konfigurationen in reiner Ausprägung tatsächlich in der sichtbaren Welt vorlägen bzw. Teil der unmittelbaren Seherfahrung seien – es handele sich vielmehr um angenommene Abstraktionsprozesse im Gehirn, die einer nachträglichen wissenschaftlichen Exemplifizierung und Überprüfung zu unterziehen seien. Die praktische Umsetzung der Seherfahrung, die bereits in Zeichnungen aus der frühen Kindheit aufträten, seien vom Medium selbst geprägt und setzten einen komplexen Akt der Transformation voraus.71 Der Brückenschlag von der Repräsentation eines wahrgenommenen Gegenstandes (oder einer Figur) zu dem im Gedächtnis aufbewahrten „Gegenstück“ wird durch die Ähnlichkeit bewerkstelligt, eine Angleichung, die auf einigen prägnanten Merkmalen beruht, die vom Betrachter mehr oder minder vage als bildnerische Äquivalente begriffen werden. Dabei müsse dieser gleichsam den umgekehrten Weg beschreiten, um von der bildnerischen Gestalt zu dem dahinter liegenden Muster vorzudringen, um dann wieder auf den ursprünglichen Stimulus zu schließen – ein Prozess, der auch die Einschätzung der künstlerischen Expressivität bzw. des psychischen Zustandes des Urhebers mit einbegreife (Arnheim, Wahrnehmungsabstraktion und Kunst, 194772). Die Wahrnehmung eines in der heutigen Kunstwelt als „Kunstwerk“ deklarierten Werkes ist allerdings auch von der historischen Situation gefärbt, d. h. kontextabhängig, und von einer Idee getragen. Arnheim wendet sich aber grundsätzlich gegen intellektualistische Konzepte, welche die Gestaltwahrnehmung und damit zusammenhängende formale Umsetzungen nach den Regeln eines logisch-diskursiven Prozesses unterlaufen. Anderseits lassen sich die häufig vorkommenden auf geometrische Strukturen und Gestalten

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ausgerichteten Wiedergaben von Objekten nicht zu leugnen. Bildmuster werden in Formen des Sichtbaren erkannt, Strukturen in das jeweilige künstlerische Medium übertragen, dessen Beschaffenheit und ästhetische Möglichkeiten maßgeblich zur Gestaltung des Werkes beitragen. Dies ist auch Arnheim sehr wohl bewusst, wenn er etwa die Verfremdung und den autonomen Charakter der Dinge und Figuren in der Malerei Cézannes anspricht. Die „reinen Formen“ der Gestaltpsychologie werden von Arnheim nicht als Qualitäts- oder Wahrheitskriterien künstlerischer Exzellenz ins Feld geführt. Sie dienen vielmehr als das aus der Anschauung gewonnene Rohmaterial, von dem aus der künstlerische Prozess erst seinen Anfang nehme (vgl. Anm. 72). In den „reinen Gestalten“ suche der Künstler seiner visuellen Erfahrung Ausdruck zu verleihen. Auch in der neueren Kunstphilosophie ist man zu diesem Schluss gelangt  : sei es in Bezug auf die leidenschaftslose Ausführung malerisch realisierter Konfigurationen wie in Cézannes Porträt seiner Eltern oder auf das leidenschaftliche, spontan ausgeführte Porträt Rembrandts von Hendrikje Stoffels. Auch bei der bewussten Eliminierung fast aller mimetischen Elemente in der Malerei, sodass nur die Textur, das Kontingente und die dynamische Bewegung dem Auge des Betrachters verbleiben, wie etwa in den informellen Gemälden eines Jackson Pollock – stets bleibt der immanente, subjektive Ausdruckscharakter ausschlaggebend.73 Infolge der Kunstentwicklung der Moderne hat Arnheim die Gestalttheorie dahin gehend modifiziert, dass er, gleichsam dialektisch, auch solche Kunstformen in seine Überlegungen einbezog, die eben nicht auf das Wohlbefinden des Betrachters oder die Akzeptanz perzeptueller Präferenzen abzielen, sondern eher gegenteilige Empfindungen auslösen  : Art Brut, Informel, die Malerei der Cobra-Gruppe und die vorangegangenen Spielarten der Expressionisten. Auch in der klassischen Kunst lassen sich derartige Tendenzen feststellen, so im Spätwerk Tizians, bei Tintoretto, Rembrandt, Goya oder im ausgehenden 19. Jahrhundert (Manet, Corinth, Slevogt). Letztendlich lässt sich keine historische Scheidelinie zwischen der macchia der mimetisch orientierten alten Meister und den Vertretern einer „abstrakten Kunst“, allen voran Kandinsky, ziehen. In beiden Fällen bleibt das Formelement (im weitesten Sinne begriffen) Voraussetzung für das visuelle Erleben und Verstehen der bildenden Kunst. Auch Gombrich ging bekanntlich von wahrnehmungsund gestaltpsychologischen Ansätzen in seiner paradigmatischen Studie Art and Illusion von 1960 aus. Grundsätzlich betont er darin den konzeptuellen Charakter der Kunst und führt die abstrahierende Tendenz bei der Wiedergabe der

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Dinge auf die stark reduzierten Schemata der Gestalttheorie und das Prinzip der Ökonomie der Mittel zurück. Die vom Künstler im Laufe der Zeit erarbeiteten Konfigurationen und deren Lesbarkeit werden in einer kühnen Analogie mit dem kognitiven Prinzip der wissenschaftlichen Falsifizierbarkeit in eins gesetzt.74 Dementsprechend schält sich in der Entwicklung der mimetisch ausgerichteten Kunst aus Gombrichs Sicht ein langsamer Prozess hin zu einer immer stärkeren illusionistischen Wirkung heraus. Im Gegensatz dazu sind die Erkennung von Formen sowie die unmittelbare Erfassung ihrer Ausdrucksqualitäten für Arnheim wie erwähnt von vornherein gegeben. Konzeptualität im Sinne einer diskursiven Logik liege demnach weder der Wahrnehmung noch der Gestaltung zugrunde. Sie sei für den Schaffensprozess allenfalls zweitrangig. Demnach sei die Unterscheidung zwischen ­mimetischer und nicht-mimetischer Kunst unzulässig.75 Arnheim fragt, um welche Art von Illusion es sich bei Gombrich handele, denn letztendlich ändere sich aus gestalt­psycho­logischer Sicht nur wenig durch den Umstand, dass wir im ersteren Fall die „reale“ Welt wahrnehmen, im zweiten eben Bilder dieser besagten Realität. Der Wahrnehmungsprozess bleibe in beiden Fällen dynamisch und autonom  : Die konzeptuellen Vorgänge, die davon ausgelöst würden, stünden nicht am Anfang, sondern griffen im Laufe der Gestaltung und der Interpretation nur modifizierend ein. Spricht Gombrich von „Ähnlichkeiten“, so bevorzugt Arnheim den Begriff „Äquivalenz“, der übrigens auch bei Imdahl eine zentrale Rolle spielt. Konzepte werden eher im Sinne einer übergreifenden Lebenswirklichkeit oder Welterfahrung angesprochen – womöglich ein Ausläufer der Lebensphilosophie, die der Gestalttheorie voranging (vgl. S. 11f.). In der neueren Kunstphilosophie scheint sich diese Ausdrucksqualität von „Leben“ und die damit verbundene Expressivität, die sowohl traditionellen mimetischen als auch nicht-mimetischen Werken zuEigen ist, durchgesetzt zu haben. In den Äußerungen des Menschen offenbart sich seine Einstellung zur Welt, von der er selbst ein Teil sei – also von innen, denn im Kunstwerk äußere sich die Identität des Urhebers in einer transitiven Form. Äquivalenz in der formalen Gestaltung ist nach Arnheim gleichbedeutend mit der perzeptuellen Qualität des Lebendigen. Sie sei ebenso real und gegenwärtig wie die sichtbare Welt, sodass die Frage nach der Illusion im Kunstwerk sich eigentlich nicht stelle. Es mutet eigentümlich an, dass Arnheim hier nicht Bezug auf Susanne Langer nimmt, da auch er von der prägnanten Form (significant form) spricht, die nach Langer der bildenden und darstellenden Kunst sowie der Musik den Schein des Lebens und der Schönheit (semblance) verleiht (vgl. S. 14).

Theorien zum Phänomen Zeit in der Kunst und im Kunstschaffen

Gestaltungsprinzipien der klassischen Moderne Um den elementaren Charakter der künstlerischen Ausdrucksmittel und ihre Gesetzmäßigkeit herauszustellen, bedurfte es ihrer Loslösung von der repräsentativ-mimetischen Funktion. Wie so oft ging die Praxis hier der Theorie voraus, denn mit dem Durchbruch der Moderne in München und Paris im ersten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts wurde unwiderruflich der Primat der Gestaltungselemente in den Fokus gerückt und die mimetische Funktion nur als ein Ausdrucksmittel unter vielen angesprochen. Die Künstler haben selbst das Rüstzeug für das Verständnis ihrer Gestaltungsprinzipien geliefert – freilich unter Ausklammerung naturwissenschaftlicher Begründungen und Experimente  : Wassily Kandinsky, Über das Geistige in der Kunst, 1911/12  ; ders., Punkt und Linie zu Fläche. Beitrag zur Analyse der malerischen Elemente, 1926  ; Paul Klee, Das bildnerische Denken. Schriften zur Form- und Gestalttheorie 1956.76 Die Erläuterungen sind aus den künstlerischen Erfahrungen erwachsen, insbesondere den methodisch-didaktisch ausgerichteten Übungen am Bauhaus in den 1920er-Jahren. Aber darüber hinaus kommen auch theoretische Überlegungen zum Tragen, so etwa der Vergleich zwischen der Malerei und der Musik als der Zeitkunst par excellence, das Phänomen der Verschmelzung der beiden in der Synästhesie und vor allem das Problem der Vereinbarkeit von Sukzession und Simultaneität. Dabei spielt das „künstlerische“ oder „ganzheitliche Sehen“ eine entscheidende Rolle. Geht es doch darum, die wirkenden Kräfte in einem Bild, die durch die Relation der einzelnen Elemente zueinander entstehen, in den Gestaltungsprozess einzubringen bzw. in der nachträglichen Analyse zu erkennen. Das Bild als Ganzes wird als eine „Beziehungsform“ ins Auge gefasst.77 Eine allmähliche Hinwendung zur Gestaltpsychologie erfolgte, wenn auch nicht explizit, in Deutschland durch die Vertreter der traditionellen formalen Analyse  : Wölfflin, Rintelen, Badt, Hetzer und Pächt haben, unbeirrt beschreibend, daran festgehalten  ; Hetzer und Dittmann zogen verstärkt die Wirkungsmächtigkeit der Farbe in ihre Betrachtungen mit ein. Imdahl hat mit seiner formanalytischen Studie zu Giottos Arenafresken 1980 den Begriff der Ikonik hoffähig gemacht und sich die Sichtweise Arnheims, auch in seiner Erörterung der Moderne, angeschlossen.78 Gottfried Boehm befasste sich wiederholt, nicht zuletzt im Rahmen seiner Analysen der modernen Malerei, mit autonomen Formprinzipien und bildimmanent wirkenden Form- und Farbqualitäten. Zu dem theoretisch begründeten Überbau der phänomenologischen Interpretation und ihrer hermeneutischen Hinterfragung treten bei ihm gestaltpsy-

chologische Aspekte hinzu. Ontologisch vorgegebene Konfigurationen und die Farbgestaltung stehen am Anfang eines Interpretationsprozesses, der fortwährend formalästhetischen Erwägungen und Modifikationen unterworfen wird, d.h. jene das Sehen begleitenden Selbstbeobachtung, von der bereits Fiedler in zukunftsträchtiger Weise sprach, und wie erwähnt, auch der phänomenologischen Methode zugrunde liegt.79 Als Verfechter eines „künstlerischen Sehens“ tritt Günter Brucher in seinem Buch „Kandinsky. Wege zur Abstraktion“ hervor. Brucher macht sich die gestaltpsychologischen Erkenntnisse Arnheims und Metzgers in seinen Analysen der Malerei Kandinskys ebenso zunutze wie in seiner aktuellen Geschichte der venezianischen Malerei. Auch er verweist auf Conrad Fiedler, bei dem vom „künstlerischen Sehen“, das sowohl den Künstler selbst als auch den aktiv „nachschaffenden“ Betrachter kennzeichnet, die Rede ist. Darüber hinaus wird nachdrücklich auf die schlagenden Parallelen zwischen Kandinskys Gestaltungsprinzipien und der Gestaltanalyse Arnheims hingewiesen.80

Ganzheit der Gestalt, Simultaneität und Sukzession Das Thema Bild/Zeit und Erlebniszeit, um das es in diesem Projekt fortlaufend geht, ist in der Gestalttheorie ebenso präsent und relevant wie in der Phänomenologie. Die beiden Gebiete lassen sich letztendlich nicht voneinander trennen. Dennoch wird die Zeit, was die Gestalttheorie betrifft, meistens nur implizit mitgedacht. Dies mag auf der Annahme beruhen, es handele sich bei der „Gestalt“ um elementare, auf der Wahrnehmung basierende Bewusstseinsinhalte, die sich unabhängig von der verstandesmäßigen Logik unmittelbar in der Präsenzzeit ereignen  ; die angesprochene dreiteilige Struktur der Erlebniszeit scheint dadurch vorerst außer Kraft gesetzt. Dass dem nicht so ist, wird aus einer Präzisierung dessen, was mit der „Ganzheit“ eines Kunstwerks gemeint ist, ersichtlich. Denn die Gestalt in der bildenden Kunst ist nicht ein starres Gebilde, das zu Versuchszwecken einer Person vor Augen gehalten wird, sondern eine lebendige Struktur, die fortwährend und dynamisch auf den Betrachter einwirkt. Boehm hat den Sachverhalt unter Bezugnahme auf Kandinskys Punkt und Linie zu Fläche folgendermaßen beschrieben  : „Der Punkt ‚schwimmt‘ auf dem leeren Blatt, er bleibt vieldeutig. Mehrere Punkte untereinander treten bereits unter die Bedingung einer anschaulich völlig unausschöpfbaren Komplexität ihrer Beziehung …, um so mehr wenn das Auge sich bildadäquat verhält, die Sukzession immer rückverbindet mit der Simultaneität, das

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Wechselspiel von Teil und Ganzem wirklich vollzieht. Ohne die Teilnahme des Auges hätte dieses Wechselspiel überhaupt keine Existenz.“81 In diesem Sinne ist immer das Bild in seiner Ganzheit als ein „simultanes Feld und Kontinuum“ zu verstehen, während das Verhältnis der einzelnen Elemente zueinander und zum Bildganzen wohl erst im Wechselspiel der Aufmerksamkeit, die sich mal dem Bildganzen, mal dem Einzelnen zuwendet, als zeitlicher Akt sukzessiv vollzogen wird.82 Gehlen hat das Schaffen in ähnlichem Sinn mit einem Kreisprozess verglichen – vom Bild zur Hand zum Auge –, ständig im Werden begriffen.83 Gombrich spricht in der Einleitung von Art and Illusion allerdings von dem „Wunder der Simultaneität“, der Zusammenschau des sichtbaren Motivs und seiner durch den Malakt zugleich in Gang gesetzten Transformation, die den dargestellten Gegenstand nur als einen materiellen Farbfleck auf der Bildfläche hervortreten lässt. Das rätselhafte Vermögen, sich beide Phänomene bei der Ausführung gleichzeitig vor Augen zu halten, sei dem künstlerischen Genius eigen, während der Betrachter nicht im Stande sei, sich beide Aspekte gleichzeitig bildhaft zu vergegenwärtigen. Nach Boehm tritt das Element als Einzelnes für sich betrachtet nur durch die Abhebung vom Angrenzenden, der „Nicht-Figur“ oder dem „Ausdrucklosen“, in Erscheinung. Dadurch trage es kontextabhängig zur Simultaneität des Bildganzen bei  : „Das Ideal eines rein auf Präsenz, auf Vergegenständlichung zielenden Bildsehens ist in sich widersinnig und widerspruchsvoll. Die Zeitlichkeit des Bildes ist, paradox gesprochen, nur um den Preis der Sukzession zu haben, d. h. der Vereinzelung der Elemente, zugleich aber auch nur unter der Bedingung eines Potentials der Simultaneität. Dauer hat vielmehr das inverse Verhältnis von Simultaneität und Sukzession, wie es im jeweiligen Bild angelegt ist.“84 (Als Exemplifikation sei hier auf die beiden Grafiken zu Bergson, S. 11, Fig. 1 und 2, verwiesen.) Letztendlich geht es in der von Boehm beschriebenen „Vollzugsform des Bildsehens“ um das Vermögen, Gegensatz und Verbindung gleichzeitig zu erfassen und diese „ikonische Differenz“, die dem Bild eigen sei, als seinen eigentlichen Sinn zu begreifen.85 (Bereits Alhazen hat das Problem von simultaner Wahrnehmung mehrerer Komponenten und die dabei in Kraft tretende Erinnerung erörtert (vgl. F. Büttner, „Giotto und die ursprünge der neutzeitlichen Bildauffassung“, 2013).86 Huber hat den „Simultaneitätsanspruch“ des Bildfeldes in seiner Totalität im Verlauf der sukzessiven Wahrnehmung infrage gestellt und Boehms Ausführungen als „von vorneherein“ widersprüchlich kritisiert. Nach ihm handelt es sich bei der simultanen Ganzheitlichkeit eines Bildes um eine

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„mentale Repräsentation“, die aus der Erinnerung gespeist wird. Diese beiden Prozesse, die Wahrnehmung und der ­simultane Abruf mentaler Bezugssysteme, müssten voneinander getrennt werden, denn „die Totalität der Simultanwahrnehmung und die Unvollständigkeit der Sukzessivwahrnehmung schlössen sich logisch aus“. 87 Brucher schließt sich dieser Vorstellung nur mit Vorbehalt an  : „Simultaneität kommt erst im Finalstadium des Sehprozesses zum Tragen, wenn die Strukturen des Kunstwerks als dynamische Ganzheitsmuster im Kopf des Rezipienten gespeichert und als solche zugleich abrufbar sind, der visuelle Vorgang bereits abgeschlossen ist.“88 Im Gegensatz zu Huber vertritt er aber die Meinung, dass Simultaneität und Sukzession nicht als eine Dichotomie, d. h. als zwei Größen zu verstehen sind, die sich gegenseitig ausschließen, sondern sich in ihrer Dualität und Ambivalenz vielmehr wechselseitig bedingen und ergänzen.89 Die Simultaneität, so wie sie von Boehm dargelegt werde, bleibe mit dem zeitlichen Kontinuum, dem Werden des Werks verwoben. Huber spricht (dann doch halb zustimmend) in seiner Zusammenfassung der Position Boehms von dem „prozessualen Werden, bei der die simultane Totalpräsenz des Bildganzen die tragende Matrix ist, die die sukzessiven Einzelwahrnehmungen begleitet und gliedert“.90 Die Widersprüchlichkeit bei der Zusammenführung von Augenblick und Ablauf im schöpferischen Akt lässt sich m. E. mit einer Modifikation der Begriffe „Bildganzheit“ und „Totalpräsenz“ beheben. Boehm spricht „vom Wechselspiel vonTeil und Ganzem“ – von der Totalität des kompletten, fertigen Bildes ist eigentlich nicht die Rede, vielmehr von Elementen, die dynamisch in Relation zueinander treten. Wenn ein Künstler ein größeres Werk ins Auge fasst, mag er zwar kompositorische Entwürfe machen, die sich auf die Bildganzheit beziehen, die ihm bei der Erschaffung des Bildes mehr oder weniger vage vorschweben dürfte. Bei der Realisierung des Ganzen werden die Einzelteile dann aber fortlaufend Veränderungen unterzogen, nehmen Binnenstrukturen zunehmend konkrete Gestalt an. Réaliser (um den Begriff Cézannes zu bemühen) ist ein offener Prozess, dessen glückliches Ende stets ungewiss, ja unvorhersehbar bleibt. Das Endprodukt, das als dynamisches „Ganzheitsmuster“ schließlich in die Welt tritt und in seiner Totalität auch die Möglichkeit einer „mentalen Repräsentation“, eben nicht nur die einer „phänomenalen Einzelwahrnehmung“ in sich birgt, dürfte in dieser Konkretion und Exaktheit dem Künstler von Beginn an kaum vor Augen gestanden haben. Gerade das Kontingente, Unvorhergesehene, das sich im Prozess der Malerei fortwährend auftut und den Künstler zu kreativen Lösungen und Korrekturen anhält, bürgt für die

Theorien zum Phänomen Zeit in der Kunst und im Kunstschaffen

Freiheit und Abenteuerlichkeit des Unternehmens. Oskar Beckers Ausspruch, dass Schaffen und Nachschaffen prinzipiell ungeschieden seien, muss wohl dahin gehend modifiziert werden, dass der Betrachter sehr wohl bei der Analyse eines fertigen Bildes auf die „mentale Repräsentation“ desselben Bezug nehmen kann, der bildende Künstler hingegen, in fortwährender Auseinandersetzung mit den Einzelteilen und den übergreifenden Konfigurationen (Gestalten) im Laufe des Werkprozesses erst gegen Ende desselben vor der Konkretion der simultanen Bildganzheit, die sich vor seinem Auge auftut, steht.91 Das dynamische Wechselspiel von Simultaneität und Sukzession drückt also dem Schaffensprozess einen einmaligen, in seiner Unwiederholbarkeit rätselhaften Stempel auf, während der Betrachter mit dem Resultat vor Augen den Schaffensvorgang eigentlich in rückwärtigem Verlauf geistig zu rekonstruieren versucht. Hierbei könnte die „mentale Reproduktion“ der Gesamtheit, deren Gestalt am Ende des abgeschlossenen Schaffensprozesses auch dem Betrachter präsent sein dürfte, ihm zugleich als „simultan“ erscheinen.

Schaffen und Nachschaffen Das künstlerische Schaffen und der Nachvollzug desselben sind also nicht identisch, aber doch vergleichbar. Die verbale Umsetzung der mit der Kunstbetrachtung verbundenen Erlebniszeit mag eine Komponente der Offenheit und Dynamik im künstlerischen Sinn enthalten, nur bewegt man sich hier auf einem Terrain, das eher der dreiteiligen Zeitstruktur der Phänomenologie und der Form des diskursiven Rekurses entspricht als derjenigen der von der elementaren Seherfahrung getragenen, auf Zukünftiges hin ausgerichteten Gestaltung im Sinne Arnheims. Dennoch spricht auch Husserl in Bezug auf die Interpretation eines Kunstwerks von dessen „Unabschließbarkeit“.92 In der Musik ist es nicht anders  : Der Dirigent hat die komplette Partitur vor Augen. Die Interpretation derselben kann nicht beliebig sein, ist aber im Prinzip, trotz der Ganzheitlichkeit des Werkes, unerschöpflich und offen. Der feine Unterschied, was die Zeitstruktur im Bewusstsein bei der Entstehung eines Kunstwerks (Repräsentation) bzw. bei der „nachschaffenden“ Interpretation durch den Betrachter angeht, wird von Boehm herausgestellt  : „Denn was (die Sprache) nicht zu leisten vermag, ist die simultane Erfassung der Ganzheit eines Kunstwerks. Hingegen verdeutlicht sie adäquat (angesichts der ihm naturgemäß inhärenten Sukzessivität) Probleme der Bildzeit, dynamische Strukturen und Forminterdependenzen. Relevant ist die Sprache, wenn sie dem Betrachter als Substrat zum ‚Weiter-

schaffen‘ am Bild dient. Sie löst sich von ihrer traditionellen Funktion als Beschreibungsmittel der ‚reinen Bildevidenz‘. Sie wird selbst zum Kunstwerk (deshalb ‚Beschreibungskunst‘), zum Sprachrohr der Vermittlung des dynamischen Themas, mithin des Phänogramms, in dem erst das Kunstwerk zur Vollendung drängt. … So wenig ein Kunstwerk ein Abbild der äußeren Wirklichkeit produziert, so liefert auch das Beschreiben eines Bildes niemals ein Abbild, ist keine unmittelbare Wiedergabe, sondern immer schon symbolische Vermittlung und damit Schöpfung.“93 Diese Feststellung entspricht meinen früheren Versuchen, dem Zeitaspekt in der bildenden Kunst gerecht zu werden  ; sie sei auch diesem Buch vorangestellt. Im Gegensatz zu den hier vorgebrachten theoretischen Überlegungen ist die kunsthistorische Auseinandersetzung mit dem Phänomen Bild/Zeit stets an der Beschreibung der jeweiligen Werke gebunden. Diese ist nicht Selbstzweck, sondern dient der Vermittlung des Gedachten und Gefühlten  ; die Beschreibung bleibt stets nachprüfbar und bietet der Leserin oder dem Leser die Möglichkeit der Ergänzung im Sinne des „Nachschaffens“.

Ikonik und Erlebniszeit Zum Abschluss dieses theoretischen Exkurses über die wissenschaftstheoretische Fundierung der Bild/Zeit sei noch einmal die Verschränkung der formalen Gestaltung mit der Wahrnehmung und der Erlebniszeit des betrachtenden Subjekts angesprochen. Denn auch diese Bewusstseinsprozesse selbst sind auf ihre innere Zeitlichkeit hin zu befragen. Der Gestaltpsychologie gemäß, sei die Wahrnehmung auf Ganzheitlichkeit ausgerichtet  ; sie erwachse im Bewusstsein um das wahrgenommene Wechselspiel von Simultaneität und Sukzession. Der Eindruck wird nachträglich einer analytischen Betrachtung unterzogen, nicht zuletzt dann, wenn es darum geht, komplexe Inhalte aufzudecken und sprachlich mit der vorliegenden ikonischen Struktur in Beziehung zu setzen. Auf eine Figur bezogen kann die Gestalt in sich dynamisch angelegt sein, sodass der Betrachter die darin enthaltene fiktive Bewegung im Bewusstsein nachvollzieht  ; in der Folge wird er die Bewegung – oder den Rhythmus – mit dem erkannten Bildinhalt in Einklang zu bringen suchen. Die Erlebniszeit greift also zunächst auf die primäre Erinnerung an einer Figur zurück, um die Repräsentation dersselben folgen zu lassen. Während die Gestalttheorie sich ausschließlich der Analyse der wahrgenommenen Form und Struktur, dem Phänomen des „reinen Sehens“ zuwendet, wird die phänomenolo-

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gische Auswertung des Gesehenen sowohl vom dynamischen Prozess der selbstbezüglichen Wahrnehmung als auch von der Erinnerung und der Erkundung möglicher Inhalte und Bedeutungen mitbestimmt. Über die formale Analyse hinaus kommen kognitive Aspekte zum Tragen, welche die Erlebniszeit entscheidend mit prägen – auch die in der Reflexion womöglich erkannte moralische Botschaft, die in der Zeitstruktur mancher Werke beschlossen liegt, gehört diesem kognitiven Bereich an. In diesem zweiten Schritt der mentalen Aneignung eines Werkes erfolgen die Identifikation mit den Gestalten und der Versuch, sie mit dem inhaltlichen Kontext in Beziehung zu setzen. Dabei wird auf frühere sekundäre Inhalte und Erfahrungen zurückgegriffen, um den tieferen Sinn des Gesehenen, sei es im formalen Aufbau, sei es aus inhaltlicher Sicht, zu erfassen. Die Interpretation erfolgt als hypothetischer Vorgriff auf einen noch ausstehenden, möglichen Bildsinn. Der Ablauf dieser mentalen Prozesse ist zum einen eng mit der angesprochenen Gestaltwahrnehmung verbunden  ; darüber hinaus spielt auch die Ikonologie mit ihrer Dreischichtentheorie in den kognitiven Bereich mit hinein. (Im ersten Band von Bild/Zeit wurden die konsekutiven Schritte dieser phänomenologisch ausgerichteten Interpretation anhand der Grafiken Fig. 5 und 6 veranschaulicht  ; (vgl. Bild/ Zeit I, 1996, S. 19 ff.). Als Beispiel einer gestaltpsychologischen und phänomenologischen Analyse wird die Beschreibung von Bruegels Blindensturz von 1568 (Neapel  ; Bild/Zeit I, 1996, S. 25 f.) im letzten Kapitel des vorliegenden Buches erneut aufgegriffen  : Die Zeitgestalt erfasst prägnant den Ablauf des Falls und trägt zugleich, infolge der ganzheitlichen Struktur der Gruppe, dem sukzessiv ablaufenden Bewusstseinsprozess Rechnung (vgl. S. 387 ff. und Abb. 252, 253). Wichtig ist der dadurch ausgelöste begleitende Affekt im Betrachter, sei er ästhetischer oder inhaltlich-moralischer Natur  ; er dürfte eine nachhaltige Spur in Form einer abrufbaren mentalen Repräsentation im Bewusstsein hinterlassen, der bei der abgerufenen mentalen Repräsentation noch nachwirken dürfte.94

2 Präsentationsformen von Zeit im Bild Die vorangegangenen Bände über Bild/Zeit von 1996 und 2004 setzten sich mit dem spezifischen Charakter und unterschiedlichen Formen der Zeitlichkeit in der bildenden Kunst von der Antike bis etwa 1500 n. Chr. auseinander. Über die permanente Reflexion über das Phänomen Zeit in der Kunst und dessen Relevanz für die Rezeption hinaus,

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ging es vornehmlich um fünf Aspekte sowohl formaler als auch inhaltlicher Natur  : 1 Bewegungsdarstellung, 2 Das Symbol der Zeit, 3 Narratio im Bild, 4 Historische Zeit, 5 Ikonologie der Zeit Die Ikonologie der Zeit kommt allerdings erst im vorliegenden Buch voll zum Tragen. Es handelt sich dabei eigentlich nicht um eine formale Präsentationsform von Zeit, sondern eher um eine inhaltliche Auseinandersetzung mit dem Phänomen seitens des Künstlers  ; die Thematisierung von Zeit in der Kunst wird daraufhin in der sog. Ikonologie vom Interpreten mit der kulturellen und gesellschaftlichen Situation, der sog. „dritten Sinnschicht“, in Verbindung gebracht. Im Folgenden sollen zunächst die ersten vier genannten Manifestationsformen der Zeit, die allenthalben in der Kunstentwicklung zu finden sind und bereits in den vorangegangenen Büchern zur Sprache gebracht wurden, noch einmal exemplarisch vorgestellt werden, um den Leser mit den Fragestellungen und den methodischen Ansätzen vertraut zu machen. Darüber hinaus werden Zeitphänomene der späteren Entwicklung, die über das vorliegende Buch hinausgehen, ebenfalls angesprochen, um zu weiteren Erkundungen auf diesem Gebiet anzuregen. Dieser kurze Überblick wurde auch in einer Ausstellung in der Kunsthalle Krems im Jahr 1999 , die ich unter demTitel „Zeit/Los“ veranstaltet habe, in die Praxis umgesetzt.. Der begleitende Katalog ist bei DuMont, Köln 1999, erschienen.95

1. Bewegungsdarstellung Die Orientierung in Zeit und Raum war immer eine Grund­voraussetzung menschlicher Existenz und dementsprechend finden das Konzept der Zeit oder temporale Vorgänge von Beginn an Niederschlag in allen Formen bildhafter Kommunikation. In der Architektur, in der Plastik, in den Reliefs und in der Ornamentik der frühen Hochkulturen kommt die Zeitlichkeit nicht zuletzt in der Darstellung organisch belebter Formen und in der Bewegung als einem Äquivalent zum Leben (auch in Gestalt ihrer Negation, des Ewigen, Zeitlosen) zum Tragen – eingebettet in die kosmische Ordnung und die obwaltenden Kräfte der Natur. Ein frühes Beispiel der Selbstaffektion des Menschen im Moment der Bewegung findet sich in dem minoischen Stier-

Präsentationsformen von Zeit im Bild

springer von um 1550 v. Chr. (Archäologisches Museum Heraklion), der, in der Schwebe erfasst, die existenzielle Erfahrung des Seins im Augenblick der Ekstase auf den Betrachter überträgt (vgl. Bild/Zeit, I, 1996, Abb. 69). Bewegung und Dynamik sind mit der Darstellung des menschlichen Körpers implizit verbunden, aber nicht ausschließlich, denn auch die Ornamentik, der Duktus einer Linie, abstrakte Konfigurationen und farbige Dynamik evozieren äquivalente Prozesse im Bewusstsein des Betrachters. Die Bewegungsdarstellung, in der Statik der bildenden Kunst eigentlich ein Paradoxon, gehört zu den vornehmlichen Mitteln, um eine ästhetische Illusion von Leben und räumlicher Entfaltung zu erwecken. Dementsprechend hat Ernst Gombrich in Art and Illusion sein Augenmerk darauf gerichtet, als es galt, das Revolutionäre in der griechischen Kunst entwicklungsgeschichtlich einzuordnen  : Die zielgerichtete Suche nach illusionistischer Wirkung und Verlebendigung in Plastik und Malerei führte zur Verzeitlichung der dargestellten Körper und zur Stärkung ihrer Interdependenz. Die Kunst lebt zum einen von der Kodifikation und Tradierung eines festen Formenvorrats, der als Teil der kulturellen Überlieferung zu sehen ist. Zum anderen bedarf es der Bereitschaft des Betrachters, infolge der Affektion durch wahrgenommene Formen und Gestalten Leben und Dynamik in diese selbst hineinzuprojizieren.96 Wenn es um die Vergegenwärtigung von Zeitlichkeit geht, ist dies nur indirekt, auf dem Wege der symbolischen Darstellung von Figuren und Formen möglich, die in einer Relation zur räumlichen Umgebung oder zueinander stehen. Bei Henri Bergson heißt es  : „Man [entlehnt] vom Raume all die Bilder … ,durch die man das Gefühl beschreibt, das das reflektierte Bewusstsein von der Zeit und sogar von der Sukzession hat  : die reine Dauer muß also wohl etwas anderes sein. Diese reine Dauer ist nicht quantitativ, sondern qualitativ zu verstehen. Sie wird als intensive Größe perzipiert und tritt im Durchdringungsprozeß der Bewußtseinszustände zutage.“97

Wiederholt wurde auf die formal ausgerichteten kunstwissenschaftlichen Analysen im 20. Jahrhundert hingewiesen, die das Augenmerk auf die Ikonik der Bildstruktur, die Lage der abstrakten Formen, Konfigurationen oder Figuren auf der Bildfläche richteten, wo es darum geht, den Eindruck von Raum und Zeit zu erwecken (so z. B. Hetzer, Arnheim, Theissing, Pächt, Imdahl, Boehm, Brucher). Die Bewegungsdarstellung verstärkt die Illusion von Räumlichkeit und dient der Vergegenwärtigung des Augenblicks. Ihr wurde deshalb in denjenigen Epochen der Kunstentwicklung besondere Bedeutung zugemessen, in welchen die Mimesis als vornehmliche

Aufgabe der bildenden Kunst galt (späte Klassik, Hellenismus, Neuzeit bis zum Ende des 19. Jahrhunderts). Die Impressionisten machten das Phänomen der Veränderlichkeit der sichtbaren Welt (und damit auch implizit den Prozess der Wahrnehmung selbst) zum Gegenstand ihrer Bilder (Arnold Gehlen 1960). Licht wurde zu Farbe, und das zu einer Zeit, als Wahrnehmung und Bewusstsein selbst Gegenstand empirischer Untersuchungen waren und der innere Zeitfluss eine literarische Umsetzung erfuhr (Marcel Proust, James Joyce). In der Fotografie (z. B. durch Marey, Muybridge u. a.) wurden tatsächliche Bewegungsabläufe festgehalten, die keineswegs mit den gängigen Vorstellungen und Darstellungen von Bewegung konform gingen. In der Malerei versuchte man in Anlehnung an die serielle Fotografie, die Bewegungsabläufe stroboskopisch zu repräsentieren (Duchamp, die Futuristen). Im Film schließlich kam die Bewegung analog in der sog. „Echtzeit“ zum Durchbruch. Diese Instrumentalisierung der ablaufenden Zeit in Form der Bewegung ging mit der Erweiterung des Kunstbegriffs im zweiten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts einher  : Die Darbietungen der Dadaisten, die dem späteren Happening vorgriffen, liefen in der unmittelbaren Gegenwart ab. Zeitlichkeit tritt auch in den mobiles eines Alexander Calder in Erscheinung, greift konstitutiv in den Prozess des action painting Jackson Pollocks ein, prägt das Informel und den Tachismus der 1950er-Jahre und bleibt ein Charakteristikum der Art Brut und der expressiven Malerei der Moderne überhaupt. In den frühen 1960er-Jahren zelebrierte Yves Klein seine „Anthropometrien“ – Abrollungen nackter Mädchenkörper unter Begleitung von Musik. Entgrenzungen und Interventionen im öffentlichen Raum wurden von Joseph Beuys, den Aktionisten und den Vertretern der Fluxus-Bewegung in vielen performances vorgenommen  ; das Mysterientheater von Hermann Nitsch suchte die existenzielle Grenzerfahrung durch die Revitalisierung archaischer Riten wiederaufleben zu lassen, etc. Mit der Aufkündigung der Mimesis (und damit implizit der Ausrichtung der bildenden Kunst auf die Fiktion) wurde in der Folgezeit der klassischen Moderne die unmittelbare Erfahrung der Zeitlichkeit aus der elementaren Gestaltungsweise und der Materialität der Kunst selbst gewonnen  ; dies gilt auch für die semiotisch anmutenden Referenzen in den Collagen. Die Symbiose von bildender und darstellender Kunst findet in der „Echtzeit“ statt, um allerdings nach den Aktionen und Happenings und in den letzten Jahrzehnten der Videokunst wieder der Vergänglichkeit anheimzufallen – es sei denn, diese werden im Medium der Fotografie dokumentiert.98

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2. Das Symbol der Zeit Die Zeit als kosmischer Ordnungsfaktor, Regulator der Natur und auch des Menschenlebens, fand früh Eingang in die Ikonografie. Wir finden ihre symbolische Ausprägung in der ägyptischen Kunst, in Hieroglyphen, die Leben und Tod, Erneuerung, Wiedergeburt und Dauer repräsentieren. In dem einschlägigen Bild der Schlange, die sich in den Schwanz beißt, dem Uroboros, steht uns ein Bild des ewigen Kreislaufs der Sonne, der zyklischen Zeit und der ständigen Wiederkehr des immer Gleichen vor Augen. Der Uroboros fand Eingang in die Glyptik der Spätantike und später in die Emblematik der Renaissance und des Barock. Eine Revitalisierung des Symbols in der Tiefenpsychologie erfolgte im ausgehenden 19. Jahrhundert. In der Folge wurde dem Uroboros eine prominente Rolle in der Archetypenlehre C. G. Jungs zuteil.99 Nicht minder bedeutsam ist der schillernde Begriff des kairos, des „fruchtbaren Augenblicks“, dem zunächst eine wichtige Rolle im Schaffensprozess der klassischen griechischen Plastik zukam. Als geflügelte Gestalt mit wehendem Schopf erscheint der Kairos in hellenistischer Zeit als Verkörperung des „rechten Maßes“, das es im Augenblick der Gestaltung der Plastik zu ergreifen gelte.100 Später wurden seine Eigenschaften und seine Unwägbarkeit auf die unbeständige Fortuna übertragen. In der Ikonografie des Mittelalters und der frühen Neuzeit erscheint das allegorische Bild der „Zeit“, der dem antiken Gott Saturn anverwandelte Chronos, als ein alter Mann, auf einen Stock gestützt, mit Sichel und geschorenem Kopf, mit Flügeln und bisweilen einem Stundenglas versehen. In den Trionfi Petrarcas nimmt er auf dem Triumphwagen stehend seinen angestammten Platz ein, um dann als agierende Figur, besonders in der barocken Ikonografie, immer stärker in Erscheinung zu treten.101 Die von Augustinus angesprochene Entfaltung der Zeit im Bewusstsein findet einen Niederschlag in der antiken Gestalt des Triciput (einem dreiköpfigen Ungeheuer), die im Mittelalter auf die allegorische Figur der Prudentia übertragen wurde. In seinem Gemälde aus dem Jahr 1565 in der National Gallery, London, hat Tizian das Motiv des Triciput und der Prudentia um jenes der „drei Menschenalter“ – Porträtköpfe, womöglich von sich und Familienangehörigen – erweitert und darüber hinaus nach dem Vorbild des Horapollo und des in Venedig gängigen Holzschnitts aus der Hypnerotomachia Poliphili von 1499 mit drei Tierköpfen kombiniert  : dem Wolf, nach rückwärts gewandt, die Vergangenheit verschlingend  ; dem Löwen, die Gegenwart beherrschend  ; und dem Hund, der sich einschmeichelnd der

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Zukunft zuwendet (vgl. Abb. 172, 173).102 Der Sinnspruch liefert die Moral dieser Zeitallegorie  : „Aus der Vergangenheit [lernend] in der Gegenwart klug handeln, um zukünftiges Vorhaben nicht zu vereiteln“ (Ex praeterito praesens prudenter agit, ni futurum actionem deturpet). Mit der Vorstellung der innerweltlichen Zeit, nicht zuletzt im Rahmen eines eschatologisch ausgerichteten Daseins, geht das Bewusstsein um die Vergänglichkeit des irdischen Lebens einher. Insbesondere die Bildsprache des Barock ist von dem Vanitasmotiv in verschiedener Ausformung geprägt  : Totenkopf, Stundenglas, Kerze, Pfeife, Früchte mit Würmern, Blumen mit Insekten etc.103 Die Vermessung der Zeit, die mit der Erfindung der Räderuhr um 1300 zu einer Revolution in der Regulierung der Arbeitswelt und des Lebens in dem aufstrebenden städtischen Gemeinwesen führte, bediente sich des Glockenschlags und des runden Ziffernblattes als symbolischer Stundenanzeige,  – eigentlich ein Ausdruck des kosmischen Kreislaufs und der Wiederkehr des immer Gleichen.104 Diese Form visualisierter Zeit hat in unserer Gegenwart immer noch Konjunktur, wiewohl die digitale Zeitmessung und -angabe als ein nicht enden wollendes Band den Fluchtpunkt in einen unendlichen, expandierenden Kosmos verlagert und die Zeitsymbolik nur mehr in mathematischen Formeln und Zahlen ihren Ausdruck findet.

3. Narratio im Bild Die literarische Erzählung erschafft sich eine eigene Zeitlichkeit, an welcher der Leser partizipiert und die der Textinterpretation immer offensteht (Paul Ricœur).105 Über diese fortlaufende Konstituierung einer selbstbezüglichen Erzählzeit hinaus muss auch der kontextuelle Rahmen in Betracht gezogen werden  : Er gilt als eine Voraussetzung für den Entwurf der Tragödie, die sich als ein geschlossener Sinnkreis präsentiert. Ästhetisch – und deshalb auch mit der bildenden Kunst als „Spiel“ und „Darstellung“ vergleichbar und für sie relevant – orientiert sich die Tragödie nach Gadamer an der aristotelischen Dramentheorie  ; es gehe um die Wirkung des „Jämmerlichen“ und „Schauderhaften“ (eleos, phobos) in der Seele des Betrachters, der durch das Schauspiel in den Bann geschlagen und so in „Ekstasis, in den Zustand des Außersich-seins“, versetzt werde.106 Zeitlichkeit ist in diesem Zusammenhang qualitativ zu verstehen, dem zeitlichen Kontinuum des Alltäglichen entrückt. In der bildenden Kunst, etwa in der griechischen Vasenmalerei, entfaltet sich die Erzählung in ihrer Innerzeitlichkeit vor dem Grund des Mythos bzw. des epischen Stoffes. Zu dem Verständnis für die

Präsentationsformen von Zeit im Bild

bildhafte Umsetzung trägt der vom Künstler gewählte Zeitpunkt der entsprechenden Narratio bei. Neue Themenkreise wie Bibelexegese und Hagiografie traten in der christlichen Tradition im Mittelalter hervor und bildeten in der Neuzeit neben der antiken Mythologie und der profanen Historie einen gewaltigen Fundus, aus dem die Künstler schöpfen konnten. Im Mittelalter blieb die Erzählung grundsätzlich auf das Jenseits ausgerichtet. Über den „syntagmatischen“ Ablauf des meist wohlbekannten biblischen Geschehens oder jenes der Heiligenlegenden spannte sich der Bogen überzeitlicher Signifikanz, jener „vertikale“ Bezug, der das Kontinuum der Erzählfolge immer wieder außer Kraft setzt. Nach Erich Auerbach muss diese „parataktische“ Erzählstruktur als ein Spezifikum der biblischen Erzählweise im Alten wie im Neuen Testaments gelten, das auf das Eingreifen Gottes in die Geschicke der Menschheit zurückzuführen ist.107 Wolfgang Kemp, Roland Barthes u. a. sprechen von den „syntagmatisch“ ausgerichteten Erzähleinheiten in den gotischen Glasfenstern, deren Sinn erst durch die Bezugnahme auf den übergreifenden paradigmatischen Heilsplan ersichtlich werde (vgl. Bild/Zeit, I, 1996, S. 213 ff.). In der frühen Neuzeit hat Giotto es mit rein gestalterischen Mitteln verstanden, die Darstellungen dramatisch zu steigern.108 Seine Bilder vergegenwärtigen den Inhalt, erscheinen aber zugleich ästhetisch abgehoben, ikonisch selbstbezüglich, den Fesseln der Alltagswelt enthoben. So schildert Giotto in seinem Fresko Die Hochzeit zu Kana in der Scrovegnikapelle in Padua um 1305 die Verwandlung des Wassers zu Wein anhand verschiedener Phasen des Geschehens und stellt darüber hinaus den Gegenwartsbezug der Szene durch die zentrale Figur der Braut als Ecclesia her (Bild/Zeit, I, 1996, S. 249 f. und Abb. 233). Das biblische Ereignis wird somit mit dem Sakrament der Eucharistie konnotiert. Entscheidend ist die ikonische Umsetzung des Geschehens im Spannungsfeld von Flächenhaftigkeit und Raumillusion  ; infolge der Bildstruktur wird der Betrachter von der Braut direkt anvisiert  ; die Ikonik bewerkstelligt so den Brückenschlag zur Gegenwart. Im 15. Jahrhundert wurde das Augenmerk verstärkt auf die Visualisierung psychischer Vorgänge gerichtet und eine bislang unerreichte Differenzierung der agierenden Figuren in den Szenen erreicht. Die enorme Ausweitung des Narrativen und der mit diesem implizit verbundenen Zeitlichkeit ist vornehmlicher Gegenstand des zweiten Bandes von Bild/ Zeit (2004). Die zunehmende Virtuosität, mit der das Geschehen im Bild vergegenwärtigt werden konnte, erlaubte es dem Maler oder dem Plastiker, nicht nur den Augenblick einer Handlung zu schildern, sondern auch psychische Vor-

gänge und deren Ablauf durch die physiognomische Wiedergabe der agierenden Figuren oder die Darstellung einer Vielzahl von Protagonisten sichtbar werden zu lassen. Verweise auf Vergangenes und Zukünftiges wurden eingebracht und häufig auch zeitlich auseinanderklaffende Szenen simultan dargestellt. In Ghibertis Reliefs auf der Paradiestür am Baptisterium in Floren konnte festgestellt werden, dass die Abfolge simultan dargestellter Einzelszenen manchmal zu einer systematischen räumlichen Entfaltung führt  : vom Vordergrund bis in den Hintergrund und wieder zurück  ; der kontinuierliche Wahrnehmungsprozess erschließt somit den Bildraum im Bewusstsein des Betrachters (vgl. Bild/Zeit, II, 2004, S. 90 ff., Abb. 65). Die „Gestalt“ des Kornspeichers in der Josefgeschichte, dessen randverzerrte Rundform sich selbst den Raum schafft, steht eigentlich im Widerspruch zu den übrigen, seitlich auf der Bildfläche verteilten Szenen, die unabhängig vom Raumkonstrukt infolge der inhaltlich begründeten Abfolge das Auge vor und zurück springen lässt. Auch in Masaccios Zinsgroschenszene in S. Maria del Carmine, Florenz, besetzen die Nebenszenen links im Hintergrund bzw. rechts an der vordersten Bildebene den Bildraum, der sich, der Abfolge entsprechend, dem Betrachter erschließt. Von der mittleren Szene, deren dominante „Gestalt“ in Form eines perspektivisch verkürzten, von den Figuren gebildeten Kreises eingenommen wird, entfaltet sich die Geschichte in ihrem zeitlichen Ablauf und steckt dabei die Grenzen des Bildraums ab (Bild/Zeit, II, 2004, S. 76 ff., Abb. 57). Wie aus der altniederländischen Malerei ersichtlich, gehen die verstärkte Bezugnahme auf die sichtbare Welt und die mimetische Wiedergabe derselben nicht unbedingt mit einer Säkularisierung einher. Nur erhält die istoria einen neuen Eigenwert, der zu einer Ausdifferenzierung des Erzählflusses, der Wiedergabe psychischer Vorgänge und der Interdependenz der agierenden Figuren im angesprochenen Sinne führt. Hinzu tritt seit dem 15. Jahrhundert die von den Humanisten propagierte Gebärdensprache der Rhetorik, die den Verlauf eines Geschehens und die Interdependenz der Protagonisten für die Betrachter deutlich machte und dadurch die Vergegenwärtigung des Geschehens noch stärker ins Spiel brachte. Ein weiteres Mittel, den Inhalt einer istoria dem Betrachter wirkungsmächtig vor Augen zu führen, war die angesprochene Wahl des Augenblicks, insbesondere hinsichtlich des anvisierten Höhepunkts einer Erzählfolge, in der die Handlung schicksalhaft umschlägt. Diese der antiken Poetik entlehnte Peripetie der Handlung kann als dramatisches Mittel der Inszenierung (auch für die Malerei) nicht hoch genug eingeschätzt werden. Der Verlauf eines Geschehens, das sich sowohl im innerzeitli-

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chen Kontext der Erzählung als auch in der realen „Echtzeit“ abspielt, führt zu einer wachsenden Spannung, die von der Wahrnehmung des Betrachters, der Gedächtnisleistung, der Erwartungshaltung und der Imagination gleichermaßen genährt wird. Die Verdichtung der Handlung auf einen Augenblick hin und das vorhersehbare Ende derselben sollten fortan als bewährte Mittel dienen, um die Zuschauer unmittelbar zu affizieren und sie am Geschehen, das mit der Jetztzeit des Dramas bzw. der Bildbetrachtung in eins fällt, teilhaben zu lassen  : Leonardo, Tizian, Caravaggio,Tintoretto El Greco, Rubens und Rembrandt – praktisch alle Meister der Renaissance und der darauffolgenden Jahrhunderte haben sich dieser Technik der Poetik bedient und den zeitlichen Ablauf des dargestellten Geschehens nach dem Muster der Tragödie gestaltet. Wesentlich für die Wirkung ist hier wie dort das Wissen des Publikums um den weiteren Fortgang der Handlung. Die Tragik des Augenblicks mag durch die Heilsgewissheit gemildert werden oder der absehbare Tod des Verbrechers die Zukunft in versöhnlicherem Licht erscheinen lassen. War die persuasio im Zeitalter des Barock in erster Linie auf Glaubensinhalte sowie auf die Verherrlichung von Potentaten ausgerichtet, standen seit dem Ende des 18. Jahrhunderts verstärkt ethische Grundsätze im Vordergrund, die bis ins späte 19. Jahrhundert ihre Gültigkeit bewahrten. Lessing hat in seiner Analyse der Laokoongruppe (Laocoön, oder über die Grenzen der Malerei und Poesie, 1766) den Begriff des „fruchtbaren Augenblicks“ wieder aufgegriffen in der Forderung an den Künstler, diesen entscheidenden Punkt (wie er paradigmatisch im Drama zum Tragen komme) zu suchen und wirkungsvoll einzusetzen. Dies wirft in den Ausführungen Lessings über die dramatische Figurengruppe die Frage nach den gattungsspezifischen Grenzen von Plastik, Malerei und Dichtung auf (vgl. Bild/Zeit, I, S. 131 ff., Abb. 133). Zeitlichkeit in der Plastik sei nur im Sinne des „Transitorischen“ zu verstehen. Dem Betrachter bleibe es überlassen, den Höhepunkt des Geschehens im Geiste nachzuvollziehen. Mit ein Grund für diese befremdlich anmutende Einschränkung mag Lessings am klassischen Ideal geschulter Geschmack gewesen sein  : Die exzessive Darstellung des Affekts, welche das eigentliche Ziel der Plastik vorgebe, führe zur Verunstaltung der Schönheit (vgl. Bild/Zeit, I, 1996, S. 131 f. und Abb. 133). Wiewohl man nicht mehr gewillt ist, Lessing hier zu folgen, berührt die Frage nach dem Transitorischen, die insbesondere in der barocken Plastik virulent wird, doch den grundsätzlichen Aspekt der Zeitlichkeit in der Kunst. Darüber hinaus wird auch die Imagination des Betrachters, der sich im Geiste den Höhepunkt der Geschichte ausmalt, Gegenstand des Diskurses. Goethe hat in seiner späteren Ana-

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lyse der Skulpturengruppe, Über Laokoon (1797), das Argument Lessings widerlegt, dass die Plastik Zurückhaltung üben müsse und sich auf den verfließenden Moment vor der Peripetie zu beschränken habe. Nach Goethe repräsentieren die Protagonisten drei verschiedene Stadien des Handlungsablaufs, vom Aufbegehren über den höchsten Schmerz im Augenblick der Niederlage bis zu dem bereits eingetretenen Tod. Das Vorübergehende, Transitorische in der plastischen Gruppe trage zu ihrer Wirkung bei  ; wie keine andere bringe sie die unterschiedlichen Stufen der Hoffnung, des Mitleids und des Schreckens zur Anschauung  : „Der höchste pathetische Ausdruck[,] den sie darstellen kann, schwebt auf dem Übergange eines Zustandes in den anderen.“109

4. Historische Zeit Die Historie ist ein Produkt der selektiven Betrachtung und Auswertung von Quellen und Geschehnissen der Vergangenheit. Ihre zeitliche Struktur verdankt sie dem rationalen Ordnungssinn des Menschen, es sei denn, man unterstellte den Gang der Geschichte einer übergeordneten geistigen Macht. Die Vergegenwärtigung vergangener Zeiten dient der Identitätsstiftung in der Gegenwart und kann als Zukunftsentwurf auf ein sinngebendes telos hin ausgerichtet sein. Dementsprechend sind die Bilder der Historie je nach Interpretation der sie auslegenden Epochen unterschiedlich strukturiert. Wie kein anderer hat Reinhart Koselleck die Relativität der historischen Konstrukte und ihrer Zeitperspektiven herausgearbeitet.110 Im Mittelalter wurden die biblischen Berichte als Teil des göttlichen Heilsplans interpretiert  : Die Geschehnisse und Prophezeiungen des Alten Testaments bewahrheiten sich als historische Fakten im Neuen Testament und finden ihre Erfüllung im übergreifenden Plan der Heilsgeschichte. Diese Sichtweise kristallisierte sich bereits im Frühchristentum heraus, um im 12. Jahrhundert zu einem umfangreichen typologischen Schema ausgebaut zu werden. Die Verschränkung der historischen Zeiten ante legem, sub lege und sub gratia erfolgt von der heilsgeschichtlichen Warte aus, die den Anfang und das Ende der irdischen, historischen Zeit in sich begreift. Die „Schatten“ und Zeichen des Alten Testaments finden ihre Erfüllung im Neuen Testament, und ihre Wirklichkeit wird immer wieder durch die materielle Präsenz der sakramentalen Heilszeichen in der Gegenwart beglaubigt. Als ein paradigmatisches Beispiel wurde in Bild/Zeit, I, 1996, S. 187–201, der Klosterneuburger Altar von Nikolaus von Verdun von 1177–1181 besprochen. Bei Buschhausen heißt es in Anlehnung an Augustinus  : „Die ersten Sakramente

Präsentationsformen von Zeit im Bild

waren Schatten (umbra), die zweiten Bild (imago), die dritten Körper (corpus). Danach folgt an vierter Stelle die Wahrheit des Geistes (veritas spiritus).“111 Vollbracht wird das Erlösungswerk im Jüngsten Gericht, das der irdischen Zeit ein Ende setzt und die Ewigkeit des Himmlischen Jerusalem einläutet. Bei Hugo von St. Viktor heißt es  : „Es sind drei Epochen, durch die der gegenwärtige Zeitabschnitt hindurchreicht. Die erste ist die Zeit des Naturgesetzes, die zweite die des geschriebenen Gesetzes und die dritte die Zeit der Gnade. Erstens von Adam bis Moses  ; zweitens von Moses bis Christus  ; drittens von Christus bis zum Ende der Zeiten.“112 Große Freskenzyklen religiösen Inhalts mit dem Leben und der Passion Christi, dem Leben Mariens sowie der Kreuzeslegende dienten im 14. und 15. Jahrhundert der ­Vergegenwärtigung der Heilsgeschichte. Immer noch dialektisch nach dem Prinzip der Zeit sub lege und sub gratia strukturiert sind die unter Sixtus IV. angefertigten paradig­ ma­tischen Fresken in der Sixtinischen Kapelle  ; im zweiten Jahrzehnt des 16. Jahrhunderts wurden sie inhaltlich durch die Teppichserie Raffaels auf die Apostelgeschichte und implizit auch auf die Gegenwart hin ausgeweitet (Bild/Zeit, II, 2004, S. 206–216). Mit der säkularen Geschichtsschreibung in der Renaissance nach dem Vorbild der Alten nahm das historisch-philologisch begründete Zeitkonstrukt seinen Anfang. Begleitend dazu trat die Historienmalerei ihren Siegeszug als führende Gattung in der Malerei an. Als paradigmatisches Beispiel auch für den ikonologischien Zugang zum Zeitphänomen wird im vorliegenden Buch Raffaels Fresko mit dem Borgobrand in der Stanza dell’Incendio im Vatikan besprochen, das unter dem Pontifikat Leos X. um 1514–1517 ausgeführt wurde (vgl. Abb. 124). Das zugehörige historische Ereignis, die wundersame Löschung eines Brandes im Vatikan durch ein von Leo IV. geschlagenes Kreuzzeichen im Jahr 847, wurde von dem Historiografen Platina in seiner Historia de vitis pontificorum (1505) kolportiert. Leo IV. erscheint im Hintergrund von Raffaels Fresko in einer manieristischen Architekturkulisse, die dem Geschmack der Zeit entsprach. Links sehen wir, wie Aeneas den Vater aus dem brennenden Troja trägt, ein gängiger Topos für die Errettung Roms. Die gewichtige Vergangenheit Roms und die politische und heilsgeschichtliche Rolle des Papsttums werden somit im Fresko thematisiert, vergangene Taten auf das Wirken Leos X. in der Gegenwart implizit übertragen  : Wie sein Namensvetter aus der karolingischen Epoche tritt der amtierende Papst als Friedensstifter, Retter und Erneuerer der ­Kirche in den unruhigen Zeiten der Reformation, der Türkenkriege und der fortlaufenden kriegerischen Auseinander­ setzungen auf italienischem Boden auf den Plan.

Die Historienmalerei hat in den folgenden Jahrhunderten bis zum Beginn der Moderne ihren hohen Rang gewahrt. Zunächst diente die Historie weiterhin als ein Spiegel von Legitimität, Macht und Moral, in dem die Auserwähltheit und Tatkraft von Kaisern, Päpsten, Fürsten und Feldherren und das unvergängliche römische Tugendideal dem Publikum vor Augen geführt wurden. Im 19. Jahrhundert stellte die Vergangenheit ein historisches Konstrukt dar, das aus der Überlieferung einer Gruppe oder eines Volkes national oder ideologisch über die engeren Grenzen der Gesellschaft hinauswuchs. Es ist kein Zufall, dass die Historienmalerei im 19. Jh. eine Hochblüte erlebte, als die kulturellen Äußerungen einen historistischen Charakter annahmen und die Kunst der Gegenwart, nicht zuletzt die Architektur, zunehmend ihrer Vitalität beraubt wurde, was Anlass zur Klage über die Substanzlosigkeit der eigenen Zeit gab. Die Rekonstruktion der Vergangenheit, die dem Anliegen der Universalgeschichte der Zeit entsprach, wurde in der Historienmalerei dem Publikum als Spiegel zur Kommemoration einstiger Größe und gesellschaftlicher Einheit vor Augen gehalten.113 Den Betrachter innerlich zu bewegen war seit jeher ein Anliegen der Erzählung in Wort und Bild gewesen. Nun ging es um das Nationale und die Regeneration der Gesellschaft überhaupt. Die zeitliche Kluft zu den früheren Begebenheiten suchte man durch das historische Kostüm und eine möglichst genaue visuelle Rekonstruktion der jeweiligen Epoche zu überbrücken. In den einzelnen Werkanalysen im vorliegenden Buch richtet sich das Augenmerk auf die Erzählformen und die formale Zeitstruktur derselben  ; dabei werden die besprochenen Präsentationsformen von Zeit wiederholt zur Sprache gebracht. Aber darüber hinaus kommen auch neue Ausprägungen zum Tragen  : Formen und Themen, die zeitliche Phänomene implizit mit einbegreifen. Zeit als Thema tritt selten isoliert, in reiner Gestalt auf, sondern meist im Verbund mit anderen bekannten Zeitaspekten. Die Manifestationsformen, wenn auch in Veränderung begriffen, lassen sich meist nicht auf ein Merkmal reduzieren, noch würde die Beschränkung auf eine Methode nicht der Vielfalt der Erscheinungsformen und der formalen oder inhaltlichen Zugängen gerecht werden. Die Vorhersehbarkeit des methodischen Zugangs im Einzelfall ist ebenso unwägbar wie die Erscheinungsformen vielfältig sind. Entscheidend für das 16. Jahrhundert sind neue Vorgaben, die an die Kunst gestellt werden, nicht zuletzt infolge gesellschaftlicher Umschichtungen, die zu anderen Gewichtungen und künstlerischen Ausdrucksformen, ja gar Gattungen geführt haben. Womöglich kann man von einer allgemeinen Tendenz zur Subjektiviät sprechen  : Der Mensch steht in mitten der Welt, mit seinen geistigen Fähigkeiten

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Einleitung

dem Himmel und mit seiner Körperlichkeit dem Irdischen zugewandt. Gesellschaftlich, und auch was die Religiosität betrifft, muss er sich neu orientieren  : das Individuum lebt als ein Ebenbild Gottes in einer zunehmend säkularisierten Welt, im Spannungsfeld von Gesetz und Gnade, frei und doch an Normen und Gesetzmäßigkeiten weiterhin gebunden. Die bildende Kunst und das kulturelle Leben werden natürlich auch davon berührt  : Verstärkt wird das Augenmerk auf die unmittelbare sinnliche Erfahrung und die Kunst um ihrer selbst willen gerichtet. Dem Bild wird eine eigene fast magische Wirkung zugesprochen. Mit dem ungleich höheren Stellenwert der Kunst und ihrer Breitenwirkung gehen die die Kunstsinnigkeit und die Verfeinerung des ästhetischen Erlebens einher. Die Sinnlichkeit und die mit ihr verschränkte Rezeption des Wahrgenommenen, die aus den formalen und inhaltlichen Qualitäten resultieren, lassen gerade das Zeitbewusstsein im Akt des ästhetischen Vollzugs als neuer Faktor im geistigen Haushalt des Menschen aufscheinen  : die ästhetische Verhaltensweise ist im kulturellen Leben der Neuzeit fortan nicht hinwegzudenken.

Ikonologie der Zeit, Hans Holbein d. J.: „Die Gesandten“ Zum Abschluss dieser Einleitung sei ein Gemälde vorgestellt, das dem Zeitaspekt beispielhaft in vielfältiger Weise Rechnung trägt, nicht zuletzt in ikonologischer Hinsicht  : Hans Holbein d. J., „Die Gesandten“, 1533, National Gallery, London (Abb. 1). Über die zahlreichen Hinweise auf die Zeit und ihrer Entzifferung im Doppelporträt hinaus, e­ rweist sich auch die ablaufende Zeit der Bildbetrachtung und die Verortung des Rezipienten hier und jetzt von fundamentaler Bedeutung.114 Zur Entschlüsselung des Werkes in seiner ganzen Komplexität bedarf es einer ikonologischen Untersuchung im weitesten Sinne. Dabei tritt auch das innere Zeitbewusstsein des Interpreten in hohem Grade verstärkend hinzu  ; die Nähe zum hermeneutischen Kreis der selbstbezüglichen Befragung und Reflexion tritt evident hervor – eine Konvergenz der Zugänge, auf die bereits im ersten Band der Bild/Zeit hingewiesen wurde (1996, S.  21 und Fig.  6). Das Doppelporträt weicht in seinem Realismus von anderen Darstellungen der „Zeit“ im 16. Jahrhundert ab, die eher als symbolisch oder allegorisch zu bezeichnen sind (Bronzino, Tizian, Bruegel d. Ä.). Es bewältigt in einzigartiger Weise und Tiefe das Thema „Zeit im Bild“ und stellt für die Ikonologie eine echte Herausforderung dar – paradigmatisch für weitere Untersuchungen von Bildern mit ähnlicher Ausrichtung.

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Das Doppelporträt der beiden hochstehenden Persönlichkeiten ist auf 1533 datiert. Die Identität der Protagonisten ist seit der bahnbrechenden Studie von Mary Hervey aus dem Jahr 1900 bekannt  : Links, etwas vorgerückt, ist Jean de Dinteville, Seigneur de Polisy und Bailli von Troyes zu sehen, der von Februar bis November 1533 als französischer Gesandter am Hof Heinrichs VIII. in London akkreditiert war  ; rechts von ihm sein Freund Georges de Selve, Bischof von Lavaur, der sich im Frühjahr sechs Wochen in London aufhielt.115 Die beiden Porträtierten geben sich standesgemäß und selbstbewusst  : Dinteville zeigt sich in einer modischen Tracht samt einem eleganten pelzgefütterten Mantel. Um den Hals trägt er eine goldene Kette mit dem Orden des Hl. Michael – der Erzengel erscheint darauf als Seelenwäger. Auf dem schwarzen Barett ist eine Agraffe mit einem aus der Schrägperspektive abgebildeten Totenkopf geheftet. Der zur Schau gestellte Prunkdolch mit einem Griff, den der Maler besonders sorgfältig ausgeführt hat, weist das Alter des Besitzers aus  : Aet. Suae 29  ; dem Porträtierten werden überdies eine gewisse Melancholie und Hypochondrie nachgesagt. Georges de Selves ist als Geistlicher weniger aufwendig ausstaffiert, aber der fußlange, mit Marderfell gefütterte braunviolette Mantel und das schwarze Barett zeugen von Eleganz und vornehmer Zurückhaltung. In der Rechten hält er seine Handschuhe und stützt sich wie sein Freund lässig auf ein Regal, das infolge des prachtvollen anatolischen Teppichs als Blickfang innerhalb des Bildes dient. Auch Selves’ Alter ist auf dem Schnitt des Buchs, auf das er sich stützt, vermerkt  : Aetatis Suae 25. Die Opulenz des Gemäldes entspricht der eleganten Erscheinung der beiden Auftraggeber und dem vornehmen Ambiente  : ein grüner Damastvorhang, der die Figuren effektvoll hinterfängt  ; in Kontrast dazu der kräftig gemusterte rote kaukasische Teppich auf dem Regal mit den astronomischen Instrumenten und dem Quadranten, die ein geräumiges studiolo suggerieren. Nobilitiert wird der Raum darüber hinaus durch den kostbaren inkrustierten Marmorfußboden, für den es weitreichende Erklärungen gibt. Dem geometrischen Muster nach zu urteilen, handelt es sich um eine Replik des Marmorbodens am Hochaltar von Westminster Abbey aus dem Jahr 1268, der wiederum auf römische Vorbilder des opus sectile zurückgeht, wie etwa in der Bodengestaltung in San Crisogono (auch die Inkrustation im Boden der Sixtinischen Kapelle wurde in Erwägung gezogen).116 Der Boden im Gemälde erscheint wesentlich heller, glatter und unversehrter als eine Bodeninkrustation aus der Spätantike oder dem Mittelalter, was Richard Foster veranlasst hat, hier das Vorbild eher entweder in Bridewell, wo die Botschafter un-

Ikonologie der Zeit, Hans Holbein d. J.: „Die Gesandten“

1 Hans Holbein d. J., Doppelbildnis von Jean de Dinteville und Georges de Selve  : Die Gesandten, 1533. National Gallery, London (Farbtafel I).

tergebracht waren, oder in dem später zerstörten königlichen Palast in Greenwich zu vermuten. Heinrich VIII. hatte dort den Steinboden um den Brunnen im Hof nach dem Vorbild alter Kosmatmuster ausmalen lassen (diese Hypothese wird allerdings vehement von Claussen zurückgewiesen117). Von Quadraten und Kreisformen abgesehen, taucht ein sechszackiger Stern im Zentrum des Paviments im Gemälde auf – er galt sowohl als ein Symbol für den Schöpfer, der die Welt in sechs Tagen erschaffen hat, als auch für die

Trinität in doppelter Ausführung – hier konnte man sich auf eine Textstelle bei Hrabanus Maurus berufen.118 Auf dem oberen Regal zwischen den beiden Freunden sind naturwissenschaftliche Messgeräte und Modelle platziert  : ein Himmelsglobus, ein Quadrant, ein sog. torquetum und ein Sonnenzylinder – Geräte, die vielleicht dem Hofmathematiker Nikolaus Kratzer, mit dem der Maler in engem Kontakt stand, gehörten. Holbein hat Kratzer in einem Porträt zu Beginn seines zweiten Aufenthaltes in London

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Einleitung

1528 porträtiert (eine gute Kopie befindet sich im Louvre). Dieselben Geräte wie im Londoner Gemälde, die zur astronomischen und irdischen Bestimmung des Ortes und der Zeit dienen, finden sich in der Darstellung von Kratzers studiolo an der Wand bzw. auf dem Tisch. In der Hand hält der Astronom den in „Die Gesandten“ ebenfalls zur Schau gestellten spektakulären Polyeder mit den Skalen der Stunden und Minuten. An der Wand hinter ihm hängen Richtscheit und Winkelmaß.119 Auf dem unteren Regal hinter den beiden Gesandten befinden sich ein Erdglobus, Richtscheit und Winkelmaß, die dem „sublunaren Bereich“ zuzuordnen sind  ; darüber hinaus ein Lutheranisches Gesangbuch aus dem Jahr 1524, auf dessen aufgeschlagener Seite XIX der Choral Kom heiliger Geyst Herregot zu erkennen ist (zu der vertauschten Seitenangabe vgl. S. 34). Ein Rechenbuch Peter Apians (Een newe unnd wohlgegründete Underweysung aller Kauffmanns Rechnung, Ingolstadt 1527) gibt ebenfalls Aufschluss über das intellektuelle Milieu, in dem sich die beiden Protagonisten bewegten. Eine Laute, eine Flöte mit fünf Pfeifen (zwei fehlen) sowie ein Gesangbuch vervollständigen jene dreiteilige Form der musica mundana, von der Augustin gesprochen hatte.120 Zusammen repräsentieren die astronomischen Messgeräte, die Musikinstrumente und die beiden Bücher das Quadrivium der artes liberales, in denen sich die beiden Freunde offensichtlich zu Hause fühlten. Sie weisen sich im Bild als Gelehrte aus, am Puls der Zeit in einer expandierenden Welt inmitten eines von physischen Kräften durchwalteten Kosmos. Die abgehobene Stimmung in diesem von Reichtum, Verfeinerung und Vergeistigung durchdrungenen Ambiente ist allerdings leicht getrübt, wie die nähere Betrachtung zeigt  : An der Laute, die normalerweise Harmonie und Bündnistreue anzeigt, ist eine Saite gerissen, was auf einen politischen Zwist hindeutet.121 Die gerissene Saite könnte aber auch für vanitas stehen.122 Den Gelehrten, Weisen und Reichen begleitet stets die Gefahr der Hybris in Anbetracht der Nichtigkeit aller Erkenntnis und der Hinfälligkeit der Welt. Niemand hat die Gier, den Neid und die Überheblichkeit der höheren Gesellschaftsschichten (und auch die der Gelehrtenzunft) stärker angeprangert als Erasmus und Holbein scheint dafür prädestiniert gewesen zu sein, die Lebensweisheit und den Sarkasmus des Humanisten künstlerisch umzusetzen. Mit 18 Jahren hat der aufstrebende Maler Erasmus’ Lob der Torheit von 1509 (1511 in Paris erschienen und Thomas Morus gewidmet) in der Ausgabe Johann Frobens (Basel 1515) mit Randzeichnungen versehen. Dort sehen wir den „Mathematiker“ mit Himmelsglobus, Erdkugel, Rechentafel und Harfe ausgestattet (fol. N. 4v). In der Tat

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könnte Erasmus’ Verdikt einer bornierten Gelehrtenzunft auch die beiden „Gesandten“ mitsamt ihren Geräten in einem schiefen Licht erscheinen lassen, wäre da nicht die tiefer liegende Glaubenswirklichkeit, die sich im Gemälde hinter dem schönen Schein verbirgt.123 Zu den naturwissenschaftlichen Erkenntnissen, die sich zunehmend auf Beobachtung und Vermessung stützten, gesellte sich zugleich der Zweifel an ihrer Stichhaltigkeit. Heinrich Cornelius Agrippa von Nettesheim, der lange mit Erasmus in Kontakt stand, ließ 1530 mit einem Buch aufhorchen, das aus der Sicht des „fruchtbaren Zweifels“, eines Topos, der bereits bei den Neonominalisten und später in Nikolaus von Kues Fürsprecher gefunden hatte, die neuen Wissenschaften zur Rede stellte  : De incertitudine et vanitate omnium scientiarium et artium, Antwerpen 1530. Den Gelehrten stehe eine gewisse Bescheidenheit gut an. Dementsprechend wurde in Holbeins Doppelporträt eine Reihe von mementi vor allem religiöser, gar reformatorischer Natur eingebaut. Auch hier dürfte Erasmus als moralische Instanz gedient haben – fand der Künstler in ihm doch von Beginn seiner künstlerischen Laufbahn an einen treuen Gönner, der ihm allerorts den Weg ebnete.

Reformationsbilder In Glaubensfragen hatte Holbein sich wohl bereits in der Jugend von Erasmus leiten lassen. Dieser hatte den Urtext des Neuen Testaments ins Lateinische übersetzt, der 1516 bei Froben in Basel erschien, 1519 gedruckt und 1522 ebendort zum dritten Mal aufgelegt wurde. Auch Luther nahm darauf in seiner Bibelübersetzung Bezug.124 In ihrer Rechtfertigungslehre griffen sowohl Luther als auch Erasmus auf das paulinische Glaubensbild von Gesetz und Gnade zurück, das auch in den Bildern die althergebrachte Gegenüberstellung von Altem und Neuem Testament aktualisierte. Der vor dem Gesetz unrettbar verlorene sündige Mensch könne allein durch den Glauben an den gekreuzigten Christus auf Erlösung hoffen. Diese Antinomie fand ihre Entsprechung in der antithetischen, schematischen Bildstruktur der zusätzlich mit Wörtern bestückten Lehrbilder. Derartig reformatorisch ausgerichtete Holzschnitte erschienen bereits um 1525. 1529 folgten die ­beiden Reformationsbilder Gesetz und Gnade von Lucas Cranach d. Ä., heute in Gotha und Prag, die wiederum späteren Holzschnittvarianten zugrunde lagen. Von besonderem Interesse ist hier ein Holzschnitt in der Bibliothèque Nationale in Paris, der früher Geoffroy Tory zugeschrieben und auf um 1535 datiert wurde. Die Darstellung steht nach

Ikonologie der Zeit, Hans Holbein d. J.: „Die Gesandten“

2 Hans Holbein d. J., Der erlösungsbedürftige Mensch vor dem Gesetz und der Gnade, ca. 1535. National Gallery of Scotland, Edinburgh.

Struktur und Inhalt nämlich jenem Reformationsbild Holbeins von 1535 nahe, das sich in der National Gallery in Edinburgh befindet (Abb. 2). Ersetzt wurden darin die vielen französischen Inschriften durch lateinische, was womöglich auf ein gehobenes Zielpublikum schließen lässt. Die antithetische Bildstruktur und die eindeutige Botschaft kommen in Holbeins Gemälde aufgrund einer zugunsten der Klarheit im Bildaufbau vereinfachten Ikonografie und der Qualität der Ausführung ungleich stärker zum Tragen.125 Der Mensch (homo), auf einem Stein sitzend, befindet sich im Spannungsfeld von Gesetz und Gnade. Dem Gesetz zugeordnet sind links der „Sündenfall“, die Errichtung der „ehernen Schlange“ als sakramentales Heilszeichen unter der Rubrik mysterium justificationis und darunter ein Gerippe in

einem Sarkophag (mors). Die Gnade, das Erlösungswerk, wird rechts durch die Empfängnis Mariens auf einem Berg in Gang gesetzt. Dem Sohn Gottes (agnus Dei) folgen die Jünger. Als Inbegriff der Erlösung erscheint das Kruzifix unter der Rubrik justificatio nostra und im Vordergrund sehen wir Christus als Sieger aus dem Sarkophag steigen (victoria nostra). Als Vermittler, auf der Schwelle zwischen dem Alten und dem Neuen Bund, erscheint hinter dem Menschen Johannes der Täufer, auf Christus als agnus Dei verweisend  ; auf der linken Seite der Prophet Jesaja, der die Empfängnis Mariens geweissagt hatte  ; er zeigt dementsprechend auf die Jungfrau im Hintergrund. Zur Verdeutlichung der protestantischen Botschaft wird auf die alte Metapher des Tugendwegs zurückgegriffen  : So erscheint die Tanne hinter dem homo auf der linken Seite verdorrt, auf der rechten mit be-

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grünten Nadelzweigen versehen. Gegenüber dem kahlen Berg des Alten Testaments vor dem feurigen Himmel links steht der im hellen Licht erstrahlende grüne Berg des Neuen Testaments rechts. Man könnte spekulieren, warum hier ein Seitenwechsel im Widerspruch zur herkömmlichen paysage moralisé vorgenommen wurde (vgl. Lottos Allegorie von 1505 in Washington  ; Abb. 16). Womöglich wollte man das herkömmliche heraldische Prinzip von links und rechts durchbrechen, um verstärkt den noch unentschiedenen Standpunkt des Betrachters angesichts der entscheidenden Frage der Erlösung ins Spiel zu bringen. Der erlösungsbedürftige Mensch sitzt auf dem Stein, der mit einer Inschrift versehen wurde  : Miser ego homo, quis me eripiet hoc corpore morti ob noxio  ? Matthias Winner hat wohl als Erster darauf hingewiesen, dass es sich hierbei um einen Passus aus Paulus’ Römerbrief, 7, 24 in der Neuübersetzung des Erasmus handelt  : „Ich elender Mensch, wer wird mich aus diesem dem Tod verfallenen Körper herausreißen  ?“ Grundsätzlich geht es hier um Gesetz versus Gnade, Tod versus Erlösung und ewiges Leben. Auch Melanchthon hat zu diesem Ausspruch in seinen Loci communes rerum theologicarum von 1521 Stellung genommen und dabei die Verschränkung der historischen Zeiten im Herzen des Gläubigen angesprochen  : „Jede Zeit ist bis heute in Bezug auf unsere Herzen eine Zeit sowohl des mosaischen Gesetzes als auch des erlösenden Evangeliums.“126 Davor heißt es  : „Das Gesetz hält die Sünde vor Augen, das Evangelium die Gnade. … Das Gesetz ist ein Diener des Todes – um die Worte des Paulus zu verwenden –, das Evangelium [dient] dem Leben und dem Frieden.“127 (Kopplin hat darauf aufmerksam gemacht, dass Melanchthons revidierte Ausgabe der Loci communes von 1535 Heinrich VIII. gewidmet war – womöglich in der Absicht, den König dazu zu bewegen, sich den evangelischen Fürsten im Schmalkaldischen Bund anzuschließen.) Bei der Entscheidung zwischen Gesetz und Gnade geht es um das Seelenheil des gläubigen Menschen schlechthin und dementsprechend durchdringen sich im Bewusstsein die historischen Zeiten, Tradition/Gesetz versus Gegenwart/Gnade, im Augenblick der Entscheidung.

Gelehrsamkeit und Tod In einige seiner früheren Porträts des Erasmus hatte Holbein, wohl auf Wunsch des Humanisten selbst, verdeckte und zuweilen auch offene Hinweise auf das Ende des arbeitsreichen Gelehrtenlebens einfließen lassen. In dem berühmten Por­trät des Erasmus aus dem Jahr 1523 (Longford Castle), das der Humanist dem Erzbischof von Canterbury,

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William Warham, zum Geschenk machte, ruhen die Hände des Porträtierten auf dem roten Einband seiner Sprüchesammlung, der 1508 erschienenen Adagia.128 Zusätzlich zum Namen des Autors (Erasmi Rotero) erscheint auf dem Einband der griechische Titel „Herkulische Mühen“ (eracleioi ponoi). Winner hat den Sachverhalt durch ein Zitat aus Erasmus Text geklärt  : „Menschliche Mühen verdienen herkulisch genannt zur werden, wenn sie daran tätig sind, die Monumente der alten und wahren Literatur wiederherzustellen.“129 Der Pilaster im Hintergrund des Porträts, der im Schatten verdoppelt erscheint, verweist auf die Säulen des Herkules „plus ultra“. Gemeint ist hier nicht der Wahlspruch Kaiser Karls des V. und das spanische Wappen mit dem Spruch „non plus ultra“, sondern der Ruhm des Athleten Theron, der in einer Ode von Pindar verewigt wurde. Mit seiner Leistung bei den Olympischen Spielen sei jener „bis zu den Säulen des Herkules vorgestoßen, über die hinaus weder Weise noch Törichte gelangen“130. Analog zu Theron wird Erasmus nun aber als ein Heros der Gelehrsamkeit apostrophiert. Auf den Maler selbst fällt der Glanz seines Ruhms. Hinter dem grünen Vorhang im Hintergrund, von Winner mit dem Wettstreit zwischen Zeuxis und Parrhasios in Verbindung gebracht, werden wir eines Folianten und einer Glasvase gewahr. Auf dem Buchdeckel ist die Jahreszahl xxiii verzeichnet auf dem Buchschnitt Holbeins Signatur, mit einem Distichon verwoben  : „Ich bin jener Johannes Holbein  ; schwerlich wird irgendjemand mich ebenso nachahmen, wie er mich tadeln [können wird]“ – die Abwandlung eines Verses, den Zeuxis unter das Bild eines Athleten geschrieben haben soll (Plinius, Nat. hist., XXXV, 36, 63). Die Glasvase (vas) gilt als ein Bild der menschlichen Seele. Holbein sei nach Erasmus imstande, die unsichtbare Seele eines Porträtierten, ja sein Innenleben selbst zu malen. In den Adagia von 1539, Nr. 183, geht es um Momus, den notorischen Gott des Tadels, der in einem Bildnis von Vulkan gerade die Darstellung der Seele vermisst. Zu dem Sprichwort „Momus zufriedenstellen“ (Momo satisfacere) heißt es  : „Mögen menschliche Tadler Holbeins Erasmusbild kritisieren. So malen wie er werden sie nicht können  ; denn das Seelenbild des Erasmus muss selbst den Gott des Tadels befriedigen.“131 Immer wieder nehmen Holbein und seine Zeitgenossen (Dürer, Quentin Massys) bei den Porträts von Erasmus in Gemälden und auf Medaillen Bezug auf den Grenzgott Terminus und das Ende der Welt. Ein Scheibenriss Holbeins aus dem Jahr 1524/25 wurde mit der griechischen Devise  : „Siehe, das Ende (Ziel) eines langen Weges“, sowie mit einem Zitat des Horaz versehen  : „Der Tod ist das Ende der Dinge“ (Mors ultima linea rerum).132

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Holbein hat sich mehrfach mit dem Thema des Todes auseinandergesetzt. So sei auf die Darstellung mit dem Leichnam Christi für das Epitaph der Familie Amerbach in dem kleinen Kreuzgang der gleichnamigen Kartause von 1521 hingewiesen oder auf die berühmte Holzschnittfolge Bilder des Todes aus dem Jahr 1525. Als Holbein bei seinem zweiten Aufenthalt in England 1532 mit dem Doppelporträt von Jean de Dinteville und Georges de Selve betraut wurde, dürften ihm sowohl die Bildgattung als auch die ganze Bandbreite möglicher offener und verdeckter Bildhinweise vertraut gewesen sein. Adelige und hochgestellte Persönlichkeiten überhäuften ihn mit Porträtaufträgen und im Lauf der Jahre gelang es ihm, auch seine Stellung am Hof zu festigen und die Gunst des Königs zu erlangen. Dennoch hatte sich die Stimmungslage verdüstert. Bereits 1532 legte Thomas Morus sein Amt als Lord Chancellor zurück, drei Jahre später wurde er hingerichtet. Die Unwägbarkeit des Daseins, der Streit in Glaubensfragen, der Mensch im Spannungsfeld von Gesetz und Gnade, Tod und Erlösung, zwischen aufgeklärter Weltsicht und ungewisser Erkenntnis, Vorsehung und Willensfreiheit waren gewiss Themen, die zunehmend tiefe Spuren auch in höheren Bildungsschichten hinterließen.

Koinzidenz der Zeiten Holbein dürfte das komplexe Programm seines Doppelbildnisses auf Augenhöhe mit den Auftraggebern und höchstwahrscheinlich auch mit Nikolaus Kratzer entworfen haben. Mit besonderer Sorgfalt wandte er sich der Ausführung zu, womöglich in der Absicht, mit dem Porträt in Frankreich zu reüssieren – eine Hoffnung, die sich nicht bewahrheiten sollte. Das Alter der beiden Protagonisten Dinteville und Selves wird mit 29 und 25 Jahren angegeben (vgl. S. 28). Exakte Geburtsdaten sowie die Bestimmung des Ortes waren zu dieser Zeit gefragt, insbesondere wenn es darum ging, bei der Erstellung eines Horoskops eine Verbindung mit den wirkmächtigen Planeten und Gestirnen zu bewirken (vgl. S. 62f. und Abb. 12). North hat den hypothetischen Versuch unternommen, die Komposition mit den üblichen quadratischen Grundformen des Horoskops sowie mit dem Geburtsdatum Dintevilles in Verbindung zu bringen  ; dabei wird der auffallende Prunkdolch in leichter Schräge als Hinweis auf die beginnende Aszendenz im ersten Haus des Sternbildes Waage (libra) gedeutet. Der Protagonist besitzt nach dem Hörensagen den Charakter eines Kämpfers (pugnator), so North mit Verweis auf Johann Engel, Opus astrolabii plani, Augsburg 1488.133 (Als Vermittler zwischen den

Welten dient der Astronom oder Astrologe, der seinen Zirkel den Gestirnen entgegenstreckt – so in einem Holzschnitt von Cecco d’Ascoli von 1524). Die präzise Darstellung des Himmelsglobus, der astronomischen Messinstrumente und des Sonnenzylinders auf dem Regal ermöglichte eine exakte Bestimmung des Zeitpunktes der Zusammenkunft der beiden Freunde. Einigkeit besteht darin, dass diese am 11. April 1533 in London stattgefunden hat.134Allein schon der Himmelsglobus mit dem Stand des Zodiakus, dem Horizontring, dem Meridianpol und der Positionierung der Sterne und der Sonne durch eine gradierte Skala und einen Zeiger erlaubte die Bestimmung des Breitengrades (ca. 51,5º = London) und die vermutliche Uhrzeit, in diesem Fall um 9  :30 Uhr oder 15  :30 Uhr.135 Der Himmelsglobus im Gemälde geht vermutlich auf einen Holzschnitt von Johannes Schöner in Nürnberg aus dem Jahr 1515 zurück, dem wiederum die spektakulären Imagines coeli septentrionales cum duodecim imaginibus zodiaci von Dürer und Conrad Heinvogel aus dem gleichen Jahr als Vorbild gedient haben dürften.136 Die Positionen der Sternbilder (Schwan, Cepheus, Widder, Pegasus etc.) werden von North penibel erörtert. Die Sonne befindet sich auf dem Globus noch unter dem Horizontkreis. Das Spektakuläre an dem angegebenen Datum ist der Umstand, dass der 11. April 1533 mit dem Karfreitag zusammenfiel. Schlagartig tritt dadurch die Tiefendimension des Doppelporträts zutage, die zu unterschiedlichen Sinndeutungen desselben führen sollte. Die angesprochene Unsichtbarkeit der Sonne erscheint nun bedeutungsträchtig, denn den Evangelienberichten zufolge geriet die natürliche Ordnung des Kosmos durch den Tod Christi aus dem Lot  : „Es war um die sechste Stunde, als eine Finsternis über das ganze Land hereinbrach. Sie dauerte bis zur neunten Stunde. Die Sonne verdunkelte sich. Der Vorhang im Tempel riss mitten entzwei, und Jesus rief laut  : Vater, in deine Hände lege ich meinen Geist. Nach diesen Worten hauchte er den Geist aus.“ (Lk 23, 44–46.) Holbein und seine Berater haben sich nicht damit begnügt, das besagte Datum des Karfreitags 1533 nur einmal zu zeigen. Vielmehr wird die Bestimmung nach Zeit und Ort durch die verschiedenen Instrumente dreimal bekräftigt und die Uhrzeit appoximativ mit 8 oder16 Uhr Uhr festgelegt. So zeigt die zylindrische Sonnenuhr auf dem Regal mit dem Schattenwurf ihres Zeigers (gnomon) den Breitengrad von London und Polisy (dem Stammsitz Dintevilles) an  ; zugleich lässt der Schattenwurf nach North auf den Sonnenstand schräg rechts hinter dem fiktiven Betrachter mit etwa 74° schließen. Der Winkel der Sonne zum Horizont betrage dabei etwa 27° – eine symbolträchtige Zahl, wie sich weisen wird.137

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Als Messgerät des Sonnenstands diente auch der im Bild auffallende weiße Quadrant. Der Winkel der Sonne wird darauf mit 27°, die Tageszeit durch die gepunkteten Stundenlinien mit 16 Uhr am 11. April 1533 bestimmt (der Breitengrad beträgt hier deutlich erkennbar 49,3°).138 Auch der spektakuläre Zehnflächer (eigentlich zwei durchschnittene Pyramiden, auf quadratischer Ebene stehend – womöglich jenes Sonnenstandmessgerät, das Kratzer in Holbeins Porträt von 1527 in der Hand hält  ; vgl. S. 30) diente der genauen Bestimmung der Uhrzeit. Die Zeiger (gnomoi) befinden sich alle parallel zur Polachse  ; ihre Inklination ergibt sich aus dem Verhältnis des vorliegenden Breitengrades zum Horizont. Der Winkel im Gemälde auf dem Regal, das der Nord-Süd-Achse entspricht, wird von North erneut auf 27° berechnet.139 Natürlich handelt es sich bei den Einstellungen dieser Messgeräte im Bild nicht um tatsächliche Messvorgänge, sondern um fiktive. Zeitpunkt und Ergebnis waren natürlich vorgegeben. Die Werte der Messinstrumente sollten erkennbar sein und hatten eine deiktische Funktion zu erfüllen. Das letzte und wohl komplexeste Instrument in unserem Gemälde, das den Tag und die Jahreszeit anhand der Beobachtung des Zodiakus und der Vermessung des Sonnenstands anzeigen konnte, ist ein multifunktionales Drehinstrument, das sog. torquetum, eigentlich ein drehbares Teleskop, das auch den Winkel des jeweiligen Sonnenstandes im Verhältnis zum Horizont sowie die Lage der äquatorialen und ekliptischen Flächen im Verhältnis zur Grundfläche angab. Peter Apian hat das Gerät in einem Holzschnitt in seiner Introductio geographica (Ingolstadt 1533) verewigt.140 Zur Darstellung in unserem Gemälde heißt es  : „The instrument as a whole has been so positioned that the zodiacal place of the Sun on Good Friday 1533 is at the nearest point of the appropriate (ecliptic) disc to the viewer.“141 Als Breitengrad ist 51,5° ablesbar. In der Nähe zu dem Buch, dem Zehnflächer und dem torquetum, befindet sich das Symbol für „Sagittarius“ mit der Stundenzahl „2“ auf der äquatorialen Scheibe. Mithilfe der Lage der Sonne auf derselben leitet North die Position des Mondes in der besagten Stunde, etwa 3° vom Sagittarius entfernt, ab  ; die Sonne wiederum befinde sich 1° oder 1,2° vom Stier entfernt. Die Zeit der Kreuzigung sei entsprechend der Fixpunkte auf den Meßscheiben mit etwa 16  :10 Uhr anzusetzen. Zu diesem Zeitpunkt befanden sich am Karfreitag Sonne und Mond fast in Opposition zueinander, was nach North der herkömmlichen Ikonografie der Kreuzigung entspreche. Zu sehen ist der Mond auf dem Himmelsglobus unterhalb des Horizontringes freilich nicht.142

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Die besprochenen Instrumente befinden sich alle auf dem oberen Regal, das folglich der himmlischen Zone zuzuordnen ist. Dort besticht der prachtvolle Teppich aus Westanatolien, dem auch eine gesonderte Untersuchung gewidmet wurde.143 Solche Teppiche waren zu dieser Zeit in Mode gekommen – in den Inventaren Heinrichs VIII. werden etliche angeführt  ; für 1552 wurde gar ein Teppich für den Kommunionsaltar in St. Pauls Cathedral vermerkt. Besondere Bedeutung wurde den christlich-armenischen Symbolen „S“ und „E“ in der Bordüre des Teppichs zugemessen (Gantzhorn). Die Buchstaben entsprächen nach armenischer Gepflogenheit Gott, Christus und dem Allmächtigen.144 Die Geräte auf dem oberen Regal verweisen alle auf die astronomisch bestimmbare Zeit  : die Lage der Sonne und der Gestirne, immer mit Bezug auf den fiktiven Standort der Vermessung, in unserem Fall London. Die Geräte auf dem unteren Regal beziehen sich auf die mundane Zone  : Der dargestellte Globus der Erde wurde approximativ auf das Jahr 1523 datiert und dürfte wie auch der Himmelsglobus von dem Nürnberger Johannes Schöner entworfen worden sein. Zu erkennen sind auf dieser Weltkarte u. a. Rom und der Name Polisy (!), das Stammschloss von Dinteville etwa hundertfünfzig Kilometer südwestlich von Paris. Die Aufteilung der Welt nach dem Vertrag von Tordesillas 1494, 1506 von Julius II. bestätigt, der die Einflusssphären Spaniens und Portugals auf 270 Seemeilen westlich der Azoren festlegte, wird durch den rot eingezeichneten Meridian erkenntlich gemacht. Unterhalb des Globus befindet sich das aufgeschlagene Rechenbuch Petrus Apians aus dem Jahr 1527 mit arithmetischen Berechnungen, die wiederholt auf die allgegenwärtige Zahl 27 Bezug nehmen.145 Rechts daneben erscheint die Laute mit ihren elf Saiten, von denen eine gerissen ist – nach Alciatus ein Indiz für Tod und Zwietracht (vgl. o. S. 30). Davor liegt das reformatorische Geystliche gesangk Buchleyn in der Wormser Ausgabe von 1525, u. a. mit zwei Liedern von Martin Luther. North weist darauf hin, dass die aufgeschlagene Seite mit dem Hymnus Veni Sancti Spiritus nicht mit Alleluja endet und die korrekte Seitenzahl „XII“ bewusst durch „XIX“ ersetzt wurde. 19 galt als die heilige Zahl für Ostern, da die Zyklen von Sonne und Mond alle 19 Jahre nach Jahr und Monat korrelieren. In der Tat überschneidet die Verlängerung der Linie zwischen Sonne und Mond auf dem torquetum die aufgeschlagene Seite im Gesangbuch.146 Zusammenfassend lässt sich sagen, dass Holbein keine Mühe gescheut hat, Zeit und Ort der Begegnung der beiden Gesandten für kundige Betrachter wiederholt und präzise sichtbar zu machen. Dies hat Auswirkungen bis in die Kleidung von Bischof Georges de Selve, der in seiner Rechten

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ostentativ ein Paar Handschuhe emporhält, die dunkel, womöglich schwarz sind. Dies entspräche der liturgischen Vorschrift, die für die Nachmittagsmesse am Karfreitag eben schwarze Handschuhe vorsah.147 Die im Gemälde angezeigte Uhrzeit bzw. das Datum, die durch die Anzeigen der astronomischen Messgeräte verifiziert werden, der 11. April 1533 um 8.00 oder 16.15, beziehen sich auf das entscheidende Ereignis in der Heilsgeschichte, den Opfertod Christi anderthalb Millennien zuvor. Das Datum der Begegnung der beiden Freunde wird durch das Gemälde dokumentiert und verleiht dem Doppelporträt somit eine besondere kommemorative Funktion. Die enge Verschränkung von Gegenwart und Vergangenheit, irdischem Dasein und kosmischer Zeit, erhält durch die Koinzidenz mit dem Karfreitag im Jahr 33 nach der Zeitenwende eschatologische Bedeutung. Im Evangelium ist im Augenblick des Todes Christi von einer Finsternis die Rede – ein kosmisches Zeichen wurde gesetzt. Eine zusätzliche Bedeutsamkeit dürfte dem Karfreitag im Jahr 1533 zugemessen worden sein, da in jenem Jahr die Zeitspanne zum historischen Karfreitag wie erwähnt genau anderthalb Millennien betrug. Womöglich hat dieser Umstand die Hoffnung der Gläubigen auf Erlösung am Ende der Zeiten noch verstärkt.

Allgegenwärtiger Tod Spektakulär tritt in unserem Doppelporträt die Anamorphose in Erscheinung – sie schwebt wie eine schräg aufragende Scheibe imaginär im Raum. Die Identifikation des Objekts stellt sich aus der Frontalansicht vorerst nicht ein. Gelöst wird das Rätsel der Erscheinung erst, wenn man sich schräg rechts vor das Bild stellt. Die Verzerrung wird nun aufgelöst und ein Totenschädel etwa in Normalgröße tritt von unten hervor. Neu war das Motiv für Holbein nicht  : Auf einer Holztafel (ca. 33 x 25 cm) von 1520 hatte er bereits zwei Schädel in einer fiktiven Nische dargestellt, die unzweifelhaft auf die Endlichkeit des irdischen Lebens verweisen. Kemperdick zieht hier den Vergleich mit einer Intarsie, die illusionistisch wirkt, aber doch ihren bildhaften Charakter behält.148 Die Anamorphose in Holbeins Porträt kann als ein frühes Beispiel der Gattung gelten, die in der Nachfolge Leonardos am französischen Hof im zweiten Jahrzehnt des 16. Jahrhunderts und in England in den 1530er-Jahren erstmals entwickelt wurde. Zu Beginn des 17. Jahrhunderts befanden sich die Anamorphosen infolge der optischen Studien von Mersennes und Niceron in Paris im Aufwind. Jurgis Baltrušaitis hat sie entsprechend in seinem einschlägigen Buch gewürdigt.149 Er geht von der An-

nahme aus, dass Holbeins Doppelporträt für eine Saalwand bestimmt gewesen sei, an deren rechter Seite sich eine Tür befunden habe, durch die der Besucher den Raum verlassen musste. Dabei würde der Totenkopf plötzlich auftauchen und den Besucher in Schrecken versetzen. Dintevilles Schloss Polisy wurde allerdings 1544 umgebaut, was diese Hypothese nicht nachprüfbar macht. Andere Gründe könnten für die Konstruktion der Anamorphose wichtiger gewesen sein. North macht geltend, dass der Schädel von der errechneten Horizontlinie aus in einem seitlichen fallenden Winkel von etwa 27º anvisiert werden müsse. Dabei werde das vom grünen Vorhang fast verdeckte Kruzifix am oberen linken Bildrand in einem entsprechend steigenden Winkel getroffen. Diese gedachte Visierlinie verlaufe über die Spitze des Sonnenstabes auf der vorderen Fläche des Polyeders, durch die errechnete Position der Sonne auf dem Himmelsglobus und durch das linke Auge Dintevilles.150 Die Visierlinie konzidiere mit der Linie auf dem weißen Quadranten, welche die Lokalzeit (d. h. den Sonnenstand) in London auf 11. März 1533 um 16  :15 Uhr indiziert. Diese, wie man meinen könnte, recht fantastische planimetrische Rekonstruktion hat North veranlasst, bezüglich der beiden Visierpunkte (Totenschädel bzw. Sonnenposition und Kruzifix) weitere Überlegungen anzustellen. So verweist er auf eine gnomische Berechnung von Carolus Bovillus (frz. Charles de Bouelles), ebenfalls aus dem Jahr 1533, die es sich zum Ziel gesetzt hatte, den Blickwinkel des Gekreuzigten im Augenblick des Todes zu eruieren.151 (Zu dem deiktischen Charakter von Bovillus’ Schriften vgl. S. 60 f.) Erhärtet werden die Spekulationen um die beiden seitlichen Blickwinkel in unserem Porträt, eigentlich eine „split vision“, durch zwei Texte, die der Zeit geläufig gewesen sein dürften  : In Richard Whitfords (dem Freund von Thomas Morus und Erasmus) englischer Übersetzung von Thomas von Kempens De imitatione Christi 1531, ist davon die Rede, dass der Mensch sein rechtes Auge über die Gegenwart hinaus auf die ewigen, himmlischen Dinge gerichtet halte, während das linke Auge sich den vergänglichen Dingen zuwende.152 In der eher entlegenen sog. Theologia Germanica (oder deutsch) aus dem 15. Jahrhundert, die aber von Luther 1516 entdeckt und veröffentlicht wurde, ist von der Seele Christi die Rede, die ihr rechtes Auge nach innen, auf die ewigen Dinge und Gott gerichtet halte, während das linke den Menschensohn in seiner irdischen Erscheinung in all seinen Qualen repräsentiere. Auch noch am Kreuz habe die Seele Christi diese beiden Augen besessen. Dementsprechend besitze auch die Seele des Menschen zwei Augen unterschiedlicher Natur  : ein rechtes mit der Fä-

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higkeit, die Ewigkeit zu schauen, und ein linkes, das dem Körper, der sichtbaren Welt und der Zeitlichkeit zugewandt ist. Da die Seele aber nicht beides zur gleichen Zeit zu sehen vermöge, müsse etwa bei der Betrachtung der ewigen Dinge das linke Auge geschlossen gehalten werden, als ob es tot wäre.153 Die Spekulation über die Doppelnatur des Menschen wird von den Humanisten häufig angesprochen – hier sei auf die Illustrationen zum Liber de sensibus und Liber de intellectu von 1509/10 des bereits erwähnten Carolus Bovillus verwiesen (Kap. 1, Abb. 10 und 11). Das Konstrukt der simultanen Wahrnehmung im Doppelporträt mit seinen verdeckten Bezügen im Schnittpunkt zwischen dem allgegenwärtigen Tod und der Erlösung erscheint doch plausibel und zeitgemäß.

Relative Wahrnehmung und Erkenntnis Bei der Betrachtung der Anamorphose drängen sich zwei Erkenntnisse auf  : zum einen das Bewusstsein um die Relativität des Wahrgenommenen bzw. des jeweiligen Standpunktes  ; und zum anderen die kalkulierte Fortbewegung des Betrachters als Voraussetzung für die Behebung der Verzerrung und die Erkennbarkeit des Motivs. Die korrekte Wiedergabe des Totenschädels erscheint als wahr  ; zumindest ist seine referenzielle Funktion gewährleistet, auch wenn wir nicht bereit sind, die Illusion als solche mit etwas Gegebenem zu verwechseln. Zum anderen liegt es gewiss in der ­Natur der Anamorphose, dass sie durch den Überraschungseffekt unzweifelhaft zu einer Reflexion über die zeitlich-­räumlichen Bedingungen der Wahrnehmung führt  ; ihre Ambivalenz (und somit auch ihr Wahrheitsanspruch) werden infrage gestellt. Von einem Moment zum anderen wandeln sich die Dinge je nach dem Standpunkt, den wir als unstete Betrachter einnehmen. Erst in einer exakt vorherbestimmten Position sind wir in der Lage, das Objekt zu erkennen. Die Willensfreiheit fällt dabei einer Vorsehung zum Opfer, die uns nur einen Augenblick der Erkenntnis (oder auch der willentlichen Illusion) zugesteht. Das wahrgenommene Bild scheint flüchtig im Strom des Bewusstseins auf, um sogleich als Spur in der Erinnerung zu versinken  ; bei der Fortbewegung des Betrachters wird der abgebildete Totenkopf erneut verunklärt. Konrad Hoffmann hat in diesem Zusammenhang auf die Spiegelmetapher bei Paulus verwiesen  : „Jetzt schauen wir in einen Spiegel Und sehen nur rätselhafte Umrisse,

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dann aber schauen wir von Angesicht zu Angesicht. Jetzt erkenne ich unvollkommen, dann aber werde ich durch und durch erkennen, so wie ich auch durch und durch erkannt worden bin.“ (1 Kor 13, 12)154

Holbeins Vertrautheit mit dem paulinischen Gedankengut wurde bereits angesprochen. Seine Kenntnis der einprägsamen Spiegelmetapher erscheint somit plausibel. Auch bei der Anamorphose erkennen wir nur „rätselhafte Umrisse“, deren Bedeutung von einem bestimmten Punkt aus plötzlich evident wird. Hier handelt es sich aber, wie Claussen bemerkt, nicht um Gottes-, sondern um Todeserkennen.155 Dennoch bleibt die Textstelle im Zusammenhang mit der Zeitlichkeit relevant. Im Zeitfluss des Irdischen bleiben Wahrnehmung und Erkennen stets ungewiss und verschwommen. Erst der Tod wird diesem Zustand ein Ende setzen. Er ist aber selbst nur ein Vorbote des ultimativen Endes, in dem alles in Klarheit erscheinen und die christliche Seele aus seinen Fängen in die Ewigkeit eingehen wird. Textstelle und Anamorphose sind gleichermaßen als Metapher des Daseins zu verstehen, dessen Sinn sich am Ende der Welt und der Zeiten erweisen wird. Die Brüchigkeit der Erkenntnis gilt auch für die empirische Beobachtung und die Wissenschaft, für den philosophisch-theologischen Diskurs und natürlich auch für die Kunst. Im mundanen Bereich, wo alles fließt und relativ ist, bleibt uns nur die auf das Dasein beschränkte Gewissheit, dass alles vorerst ein Ende nehmen wird und der Tod immer und überall gegenwärtig ist. Die kleine Agraffe mit dem Totenkopf auf dem Barett Dintevilles stellt diesen Bezug auch zur Person des Auftraggebers her. In noch höherem Grad geht es im Paviment, über dem die Anamorphose zu schweben scheint, um die irdische Zeit und das Weltenende. Die Erklärung desselben wurde durch das Vorbild des Paviments in Westminster Abbey und die dort angebrachte Inschrift geklärt  : „Die Inschrift, die sich um die Rota und ihre vier Trabantenkreise herumzog …, legte diese Fünfkreis-Formation (quincunx) sowie das umgebende innere Quadrat und das doppelt so große äußere mit seinen Zwickelscheiben als Archetypus (= Mikrokosmos) und des Makrokosmos aus.“156 Hinzu kam ein Abzählvers, der das Ende der Schöpfung vorhersagte  : „Wenn der Leser die neun Sphären des göttlichen Schöpfungsplans abschreitet, kann er gleich in der Neunerpotenz von drei das Ende dieser Herrlichkeit ausrechnen. Der Endpunkt des ‚primum mobile‘ ist als Termin des Jüngsten Gerichts, 19.683 Jahre nach Erschaffung der Welt.“157 Die beiden Protagonisten im Porträt bewegen sich also auf einem Boden, dessen Muster

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das Ende der Welt exakt vorherbestimmt. Der Tod des Individuums ist nicht vorhersehbar, gewiss ist nur, dass dieser sich in Bälde ereignen wird. Für den Christenmenschen ist dieser Tod aber nicht das Ende. Hinter dem Vorhang am oberen linken Bildrand befindet sich das angesprochene halb verdeckte, aus der Schrägperspektive wiedergegebene silberne Kruzifix. Die Botschaft ist deutlich, aber nur leise ausgesprochen  : Als Gegenstück zum allgegenwärtigen Tod steht das Kruzifix für die Erlösung, die sich am Tag des Jüngsten Gerichts bewahrheiten wird. An jenem Tag findet auch die Seelenwägung durch den Erzengel statt, die auf Dintevilles Orden des Hl. Michael dargestellt ist. Konrad Hoffmann hat in einer denkwürdigen Studie sich dieser Thematik und Argumentationstechnik des Deus absconditus zugewandt.158 Der opulente grüne Vorhang in unserem Gemälde ist mit dem verhüllenden Tuch in Verbindung gebracht worden, mit dem der Altar zu Ostern verdeckt war (implizit auf den Vorhang im Tempel anspielend, der im Augenblick des Todes Christi entzweigerissen wurde  ; vgl. S. 33). Die Farbe Grün, die nach North etwa zur Zeit des Gemäldes auch in Westminster Abbey auf dem Fastentuch (lenten veil) vorkam, steht für die Hoffnung. Am linken Bildrand, der die quadratische Grundform des Bildes verschiebt und so aus der symbolischen Form des irdischen Quadrats ausscheren lässt (hier sei auf Platos Timaios hingewiesen  ; vgl. Bild/Zeit, II, 2004, S. 196 f.) Oben links hinter dem Vorhang erscheint das Kruzifix, außerhalb der geometrischen Ordnung, jenseits von Zeit und Raum.

Kreuz und Erlösung In Zeiten der religiösen Auseinandersetzungen und Verfolgungen konnte der verdeckte Hinweis sowohl im täglichen Leben als auch literarisch oder bildkünstlerisch als deiktisches Stilmittel eingesetzt werden. Erasmus spricht in seinem Handbüchlein eines christlichen Streiters von 1501 von dem „unsichtbaren Kreuz“ und dem „Geheimnis des Kreuzes in dir“, Sebastian Franck in seinen Paradoxa Nr. 133 und 134 davon, dass „Christus außerhalb von uns … keinen Nutzen“ bringe.159 Entscheidend sei die Gnade, die dem Gläubigen, der das Kreuz in sich trage, zuteilwerde. (Pieter Bruegel sollte sich später wie kein anderer dieser Technik der verhüllten Botschaft bedienen – vgl. das letzte Kapitel in diesem Buch, S. 341 ff. –, insbesondere im Zusammenhang mit dem in den Niederlanden um sich greifenden Nikodemismus.) Das Wesentliche wird nur in verhüllter Form gezeigt, der Glaubenskern bleibt im Herzen des Gläubigen beschlossen, wie

Paulus in seinem Römerbrief erläutert. Für Erasmus stellte aber das Wissen an sich, wenn auch begrenzt, kein Hinderungsgrund für die Gnade dar. Aus der Einsicht könnten die Willensfreiheit und die Selbstverantwortung des Christenmenschen erwachsen. Luther erklärte im Gegensatz dazu in seiner Rede zur Theologie des Kreuzes am 26. April 1518, dass die Theologie, die sich mit den sichtbaren Dingen auseinandersetze, Schall und Rauch sei und der wahre Theologe die Welt als sichtbaren Ausdruck Gottes nur durch das Leiden und das Kreuz zu erkennen vermöge. Entscheidend für die Erlösung sei der Glaube, die Gnade allein. Durch den Opfertod Christi bewahrheitet sich die Heilsgeschichte. Die zeitlichen Grenzen lösen sich .auf  : Was einmal war, bewahrheitet sich immer wieder, die Gegenwart ist davon erfüllt  ; bis zum Jüngsten Tag wird das Opfer stets aufs Neue vollzogen. (vgl. die Ausführungen zu Sebastian Franck S. 342 f.). Nach den Berechnungen von North überschneidet die Visierlinie, die vom Auge des Betrachters über die Messinstrumente und den Himmelsglobus bis zum Kopf des Gekreuzigten führt, den hellsten Stern Deneb im Sternbild des Schwans (Cygnus). Dieses Sternbild wurde gelegentlich als Nördliches Kreuz (Crux Major) bezeichnet und könne somit Passion und Auferstehung in Verbindung stehen. Die Lage des Sterns Deneb auf dem Himmelsglobus entspreche einer Zeit von 9 Uhr abends, etwa jener Stunde, als die Kreuzabnahme nach herkömmlicher Ansicht stattgefunden habe.160 Hier stellt sich aber die Frage, wie weit man solche Hypothesen treiben kann und darf. Im Zeichen des Kreuzes bleibt die Zukunftshoffnung lebendige Gegenwart. Dies gilt auch für den Augenblick der Begegnung der beiden Freunde in einer Welt, die auf der einen Seite Sicherheit, Lebenskunst und Vergeistigung ausstrahlt, anderseits aber auch Vergänglichkeit und Tod in sich birgt. Der in Aussicht gestellten Erlösung harrt der Auftraggeber in christlicher Demut.

Ikonik und Ikonologie Die vielen Deutungen von Holbeins Gemälde lassen in unerhörter Weise die Verschränkung von Zeit und Raum, Kosmos und Welt im Rahmen des göttlichen Heilsplans aufscheinen. Die Begegnung der beiden Freunde in London am Karfreitag, dem 11. April 1533, um 16 Uhr, zu jenem Zeitpunkt als Christus am Kreuz einst gestorben sei, demonstriert mit mathematischer Genauigkeit die Koinzidenz von dem einstigen Opfertod mit der realen Gegenwart. Der heiligen Zahl 27 (der dritten Potenz der Dreizahl der Dreifaltigkeit) entsprechen nach North sämtliche Anzeigen der

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astro­nomischen Instrumente und die planimetrische Konstruktion des Bildes. Der Winkel von 27° bestimme auch die Lage des Geystliche gesangk Buchleyns auf dem unteren Regal, dessen aufgeschlagene Seite (sie wurde bewusst mit der „Osterzahl“ XIX versehen) mit dem Choral Kom heiliger Geyst anhebt  ; rechts steht ein Vers aus einem Hymnus zu den Zehn Geboten  : Mensch wiltu leben seliglich. Auch wenn man Zweifel an diesen exzessiven „Winkelmessungen“ anmelden kann, lässt das häufige Auftreten der heiligen Zahl 27 kaum Zweifel am Kalkül, das dahintersteckt, aufkommen. Der zeitliche Zusammenschluss des Karfreitags im Kalendarium der Gegenwart mit dem welthistorischen Ereignis des Opfertodes wird durch die Vermessungen des Sonnenstands sinnfällig  ; darüber hinaus ermöglicht erst der seitliche Blickwinkel von 27º beim Anvisieren des Gemäldes das Erkennen des Totenkopfes. Dieser erscheint gerade in jenem Augenblick, als der Betrachters davor mit seinem „rechten“, himmelwärts gerichteten Auge zugleich den Gekreuzigten im Bild wahrnehmen kann. Die intuitive Erfassung von Einzelelementen unter dem Überbau der „Gestalt“ ist in der Einleitung als ein wahrnehmungstheoretisches Problem angesprochen worden (vgl. S. 16 ff.). Im 16. Jahrhundert hat man die psychologische Bewältigung simultan auftretender antagonistischer Kräfte – himmlisch und irdisch, Leben und Tod – als ein Naturphänomen gesehen, das im Falle des Menschen nicht zuletzt seiner Doppelnatur entsprang (vgl. S. 60 und Abb. 11a, b). Nikolaus von Kues hat bereits Mitte des 15. Jahrhunderts auf das Phänomen hingewiesen  : Die Aufmerksamkeit der intelligentia führe dazu, dass der Mensch seine Wahrnehmung auf bestimmte Dinge richte, insbesondere auf solche, die als vermittelnde Bilder (imagines) der Erkenntnis dienten, dadurch aber den anderen, gleichzeitig vorliegenden Dingen und Vorgängen kaum Beachtung schenke  : „Die Vorübergehenden nämlich sehen wir nicht, wenn wir nicht aufmerksam sind.“161 Bei der Interpretation des Gemäldes tritt das Problem der Simultaneität sowohl was die Wahrnehmung als auch was den Inhalt betrifft demnach erneut auf den Plan. Alle Dinge werden der übergreifenden Heilsordnung untergeordnet, die gleichsam die Funktion einer integrativen Macht übernimmt, wie wir es aus der Kreuzespredigt Luthers entnehmen können (S. 37). Das Kruzifix dient als zeitliche Referenz und Verweis auf den Opfertod Christi. Der Gottessohn, auf die Gegenwart des Auftraggebers bezogen, triumphiert indes als Sol iustitiae über die Nacht und den Tod. Am Ende der Zeiten wird er das Erlösungswerk vollenden. Was in Holbeins später ausgeführtem Reformationsbild explizit durch Inschriften für jedermann erkennbar war, hier

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wird es in Form von versteckten Hinweisen kommuniziert. Nur dem Kundigen erschloß sich der theologische Sinn des Gemäldes  ; und nur der Wissende war infolge der astronomischen Bestimmung des Karfreitags und der Stunde der Begegnung imstande, die Koinzidenz von astronomischer Zeit und irdischer Begebenheit, identer kalendarischer Zeitpunkt in Gegenwart und Vergangenheit, zu erkennen. Das Wissen erscheint hier dem Glauben nicht abträglich zu sein  : Auch Erkenntnis eröffnet einen Weg zu Einsicht und Gnade. Diese Großmut, wenn auch moralisch gezügelt, entspricht der Haltung von Erasmus, und das Selbstbewusstsein, mit dem Dinteville und de Selve dem Blick des Betrachters begegnen, lässt nicht den Eindruck einer Verunsicherung oder gar von Glaubenszweifeln aufkommen. Mit der Wahl des Zeitpunktes, der im Doppelporträt akribisch zur Darstellung gelangt und der Nachwelt als Vermächtnis überliefert wird, erhält die Zeitlichkeit eine Qualität und Tiefendimension, die das Dasein des Individuums übersteigt. Um der Gefahr der Anmaßung, der superbia, entgegenzuwirken, wurde die Botschaft verdeckt und das Gemälde, so Claussen, kompensatorisch angelegt. Die Ambivalenz von Wahrnehmung, Erkenntnis und Zeitlichkeit im Bild wird von Claussen mit Jean de Dinteville in Verbindung gebracht  : „Abgesehen von der persönlichen Disposition des Auftraggebers, dessen Leben zeitweise von Melancholie beherrscht wurde, hatte er den meisten Grund vorzubeugen, daß sein Porträt nicht als pure Ruhmsucht ausgelegt wird. Wie könnte sich das Gewicht zugunsten der Humilitas besser verschieben lassen, als durch die gehäuften Todeszeichen. Wie immer ist der Effekt solcher klugen Bescheidenheit aber natürlich auch hier der, den Bescheidenen nur noch höher auf den Sockel zu stellen.“162 Das Doppelporträt vollzieht den Brückenschlag von der Gegenwart der beiden Protagonisten sowohl in die Vergangenheit als auch in die Zukunft. Es kann so als Lehrstück eines hermeneutischen Weltverständnisses dienen. Gadamer spricht von der „hermeneutischen Bedeutung des Zeitenabstandes“, denn gerade in dem zeitlich begrenzten Dasein des Menschen gewinne die Geschichtlichkeit des Verstehens existenzielle Relevanz. Überlieferung, Tradition und vor allem Sprache trügen dazu bei, die Fremdheit zwischen „der historisch gemeinten, abständigen Gegenständlichkeit und der Zugehörigkeit zu einer Tradition“ bewusst werden zu lassen. In diesem Zwischen ist der wahre Ort der Hermeneutik.“ … „Der Zeitenabstand und seine Bedeutung für das Verstehen“ gelte es in den Vordergrund zu stellen163 Von Heidegger, so Gadamer, wurde das Verstehen ontologisch als ‚Existenzial‘ gesehen  ; aus „der temporalen Interpretation, die er (Heidegger) der

Auswahl der Künstler und Werke

Seinsweise des Daseins widmete, ..konnte der Zeitenabstand in seiner hermeneutischen Produktivität gedacht werden“.164 Das Verhältnis von hermenutischem Verstehen, Zeit und Geschichte wird anschließend zusammengefasst  : „Nun ist die Zeit nicht mehr primär ein Abgrund, der überbrückt werden muß, weil er trennt und fernhält, sondern sie ist in Wahrheit der tragende Grund des Geschehens, in dem das Gegenwärtige wurzelt.“165 Die Thematisierung von Zeit und Zeitpunkt in Holbeins Doppelporträt ist in ihrer Vielschichtigkeit ungewöhnlich. Der Maler trifft eine Aussage existenzieller Natur. Er versteht es, aller Gelehrsamkeit und allen mementi zum Trotz, uns den schönen Schein der Welt als wahrhaftig vor Augen zu führen. Das Bild in seiner Geschlossenheit und starken Wirkung erscheint von den Fährnissen des Daseins unberührt. Es gilt nun zu klären, was es mit dem Verstehen unter dieser Vorbedingung auch für uns, in unserem eigenen Dasein, auf sich hat. In dem zeitlichen Abstand, der sich zwischen einem Kunstwerk der Vergangenheit und unserer eigenen Gegenwart auftut, zeitigt sich nach Gadamer gerade der Sinn eines Textes oder einer künstlerischen Schöpfung. Bei der Geschichtlichkeit des Verstehens handele es sich in Wahrheit um einen unendlichen Prozess, aus dem stets „neue Quellen des Verständnisses [entspringen], die ungeahnte Sinnbezüge offenbaren. Der Zeitenabstand, der die Filterung leistet, hat nicht eine abgeschlossene Größe, sondern ist in einer ständigen Bewegung und Ausweitung begriffen.“166 Als Grundbedingung des Verstehens gilt die Begegnung mit dem Anderssein, der Differenz, die in der Überlieferung bereits zum Tragen komme, dabei aber zugleich eine Basis der Vertrautheit schaffe, welche durch die kulturelle Tradition gegeben und immer neu zu erheben sei. Dass uns ein Werk anspricht, wie es im vorliegenden Fall der Fall ist, hat nach Gadamer „als die oberste aller hermeneutischen Bedingungen“ zu gelten.167 Von dort nehme alle Befragung ihren Anfang. Das Doppelporträt der „Gesandten“, in dem die Zeitlichkeit das existenzielle Thema stellt, muss wie erwähnt als ein Sonderfall gelten. Eine vielschichtigere Behandlung des Phänomens Zeit lässt sich schwerlich finden. Die ikonologische Untersuchung gleicht einem Prozess der Entschlüsselung, die Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft gleichermaßen mit einbegreift. Die Unabgeschlossenheit der Auslegung entspricht der unablässigen hermeneutischen Befragung und Deutung, die auch unserem eigenen Dasein einen Sinn zu verleihen suchen, indem sie fortwährend ein produktives Verhalten und Verständnis des Rezipienten einfordern.

3 Auswahl der Künstler und Werke Auf die Frage, wie es im vorliegenden Buch zu der Wahl der Künstler und deren Werke kam und wie methodisch vorgegangen wurde, sei Folgendes angemerkt  : Die bekannten „großen Meister“ sind infolge ihrer Kreativität, technischer Virtuosität und ihres tiefen Verständnisses für künstlerische Fragen zu dem geworden, was sie sind. Der Konsens darüber stellte sich oft schneller ein als man vermuten könnte. Die Umsetzung schwieriger Konzepte und ein aussergewöhnliches Gestaltungsvermögen ließen einige Künstler aus der Menge hervortreten. Immer waren sie für Überraschungen gut und bewirkten Umbrüche, welche von der historischen Warte aus die Entwicklung in unvorhergesehe neue Bahnen lenkten. Ihr Schaffen sorgte für Erneuerung, und die Wirkung blieb nachhaltig. Dementsprechend stützt sich die Auswahl der hier besprochenen Künstler und Werke auf die Vorstellung von Qualität und Exzellenz. Bei der Frage nach der Präsentationsform der Zeitlichkeit im Bild wurde selektiv vorgegangen  : Welche Neuerungen aus formal-gestalterischer und inhaltlicher Sicht haben zu einer veränderten Sichtweise der Malerei beigetragen  ? Welche Rolle ist dem ästhetischen Nachvollzug der Gestaltungen im Bewusstsein des Betrachters, das letztlich die Erlebniszeit konstituiert, zuzumessen  ? Beim Versuch, solche Fragen zu klären, sind Bildbeschreibungen unerlässlich – haben sie doch den Zweck zu erfüllen, die Wahrnehmung der Gestalten und ihrer Ausführung so präzise wie möglich in die diskursive Form der Sprache zu übertragen. Der Vorteil der Verknüpfung von Bild und Wort liegt darin, dass die Nachprüfbarkeit des Gesagten jederzeit möglich ist. Auch bietet die sprachliche Umsetzung die Möglichkeit, die eigene Reaktion und Reflexion in den Diskurs mit einzubeziehen  ; dem Prozess des Nachschaffens, von dem wiederholt die Rede war, ist Rechnung zu tragen. Im ersten Kapitel geht es um ein neu auftauchendes Phänomen in der venezianischen Malerei  : losgelöst von inhaltlichen Vorgaben hat man zu einer autonomen Form und Handhabe der Farbe gefunden. Dem Akt der Malerei selbst gilt der Primat. Hinter der Wirkung der Farbe und der Stimmung, nicht selten mit landschaftlichen Motiven verbunden, tritt das Inhaltliche zurück. Die kleinen Gemälde meist mythologischen Inhalts,, die um 1500 in Venedig zur Ausführung gelangten und als „poetische Allegorien“ oder favole bezeichet werden, deckten nur einen kleinen Sektor im zeitgenössischen Kunstbetrieb ab, aber die Folgen waren tiefgreifend. Giorgione, dem einige der besagten favole zuge-

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Einleitung

schrieben werden, hat die neue Sicht- und Malweise auch auf größere Formate übertragen. Die Inhalte blieben komplex und vage. Grundsätzlich halten die Werke der neuen Gattung den Betrachter zu einer „ästhetischen Verhaltensweise“ in Bezug auf Kunst und Lebensformen an  ; die Verschmelzung von Wahrnehmung und Erleben findet im dynamischen Prozess des inneren Zeitbewusstseins statt. Dieser Mentalitätswandel, der sich zunächst nur verhalten bekundet, hat den Anstoß zu einer neuen Entwicklung in der venezianischen Malerei des 16. Jahrhunderts gegeben –nicht nur in der Malerei, sondern auch was Zeichnung, Graphik, Plastiken und andere Kunstformen der Zeit außerhalb des Veneto betrifft. Die ästhetische Verhaltensweise zeichnet auch die Wertschätzung der manieristischen Kunst aus, wie von Shearman beschrieben. Was ich unter dem Begriff „Bildmächtigkeit“ am Ende des ersten Kapitels subsummiert habe, gilt nicht nur für die venezianische Malerei (Giorgione, Tizian), sondern letztlich auch für jene Künstler, die sich dem toskanischen disegno verschrieben hatten (Raffael und die frühen Manieristen), ja auch Werke monumentalen Ausmaßes, wie Raffaels Fresken in der Stanza della Segnatura, deren grandiose Ausführung einen hochkomplexen Inhalt in einer scheinbar leicht verständlicher Form zu vermitteln vermochte. Die offene, freiere Malweise der Venezianer zeitigte eine grenzüberschreitende Wirkung  ; die malerische Umsetzung trug dem Phänomen der Synästhesie Rechnung und entsprach der Stimmung der poetischen Vorlagen. Bereits im ersten Jahrzehnt seines Schaffens hat Tizian die Steigerung der Farbe ins Monumentale bewerkstelligt. Seine weitere Entwicklung wird im fünften Kapitel nachgezeichnet. Die kräftigen Akzente der Lokalfarben werden zu Gunsten einer koloristischen Vereinheitlichung zurückgestuft, die Leinwand mit einem flimmernden farbigen Grund überzogen und einzelne Partien mit kräftigen, pastosen Pinselstrichen herausgearbeitet. Aus der offenen Malweise entwickelt sich die vom Gegenständlichen losgelöste autonome Fleckenmalerei (macchia). Dieser Wandel in der MaltechnikTizians lässt sich besonders gut an der Abfolge seiner Werke beobachten, nicht zuletztdurch den Vergleich von Gemälden gleichen Inhalts, die über eines längeren Zeitraums h ­ inweg entstanden sind. Die vielen Bildbeispiele und Beschreibungen sollen den ästhetischen Nachvollzug der Ge­stalt­qualität der einzelnen Werke ermöglichen und die immanente malerische Entwicklung sinnfällig machen. Im zweiten Kapitel geht es um die serielle Erzählstruktur, die zwar auf frühere Erzählformen zurückgreifen kann, aber nun infolge neuer ikonischer Gestaltungsprinzipien die ein-

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zelnen Bilder im Verbund neue formale Lösungen einfordert. Dies gilt nicht zuletzt für Dürer, der den neuen graphischen Medien zum Durchbruch verholfen hat. Die Auswahl und Abfolge der einzelnen Blätter, etwa in der Apokalypse, stellten den Künstler (und auch die Kunsthistoriker) vor entsprechende Probleme. Eine größere Homogeneität weisen in der Folge die Große Passion und das Marienleben auf, die ebenfalls einer Analyse hinsichtlich ihrer Erzähl- und Zeitstruktur unterzogen werden. Auch Albrecht Altdorfer greift die Möglichkeit der seriellen Erzählfolge in seinen Gemälden auf. In dem opulenten Triumphzug des Kaisers Maximilan I., der mit Holzschnitten von Dürer, Hans Burgkmair.d. Ä. und Altdorfer ausgestattet wurde  ; vor allem im Triumphzug von Altdorfer und seinen Gehilfen auf einer Pergamentrolle von 100 m Länge ausgeführt, konnte die Prozession quasi in „Echtzeit“ vor den Augen des Kaisers abgerollt werden. Dass sich das Augenmerk im dritten Kapitel auf capolavori von Michelangelo richtet, ist nicht verwunderlich – hat er doch, wie sich herausstellt, in vieler Hinsicht Wesentliches zu Repräsentationsformen von Zeit durch seine Kunst beigetragen. In der ersten Ausmalung der Decke und der Lünetten in der Sixtinischen Kapelle werden die früheren Fresken an den Wänden mit der Geschichte Moses sub lege und den Wundertaten Christi sub gratia von der Genesis, die Erschaffung der Welt und die Geschicke bis zur Scham Noahs, dem „zweiten Sündenfall“ überstrahlt. Vermittelnd erscheinen Propheten und Sibyllen in den Zwickeln sowie die lange Ahnenreihe der Vorfahren Christi in den Lünetten. Unmittelbar unter der Trennung von Licht und Finsternis an der westlichen Stirnwand wohnt der entrückte Jonas dem kosmischen Ereignis bei. Mit der gegenreformatorischen Darstellung des Jüngsten Gerichts an der Stirnwand wird der Zeitverlauf des Freskenprogramms in der Decke und an den Wänden jäh umgepolt. Die Besucher der Kapelle sehen sich mit einer furchterregenden Endzeitvision konfrontiert, werden auf ihr eigenes Dasein zurückgeworfen. So schließt sich der Zeitkreis von der Erschaffung der Welt mit der unmittelbar darunter stehenden Vision vom Ende der Zeiten, von Verdammnis und Erlösung. In der Medicikapelle in Florenz hat Michelangelo ein (wenn auch unvollendetes) Gesamtkunstwerk geschaffen, das als Zeitspiegel Leben und Tod, Zeit und Vergänglichkeit thematisiert. In seinen Sonetten und Notizen kommt der Künstler selbst darauf zu sprechen  : Die verrinnende Zeit, der Wechsel von Tag und Nacht, verkörpert in den schwermütigen allegorischen Gestalten. Es weichen aus ihnen

Auswahl der Künstler und Werke

Wärme und Leben durch die Umklammerung von der hermetischen Architektur und der kühlen Ausleuchtung der Grabkapelle, wo tagtäglich Stundengebete für die verstorbenen Herzöge abzuhalten waren. Die Sixtinische Kapelle steht uns gewiss als ein gewaltiger Spiegel der Heilsgeschichte von der Erschaffung der Welt bis zur Erlösung am Jüngsten Tag vor Augen. Zunehmend gewann auch die profane Geschichte nach antikem Vorbild in der Renaissance eminente Bedeutung. Historie als Zeitkonstrukt wird dementsprechend im vierten Kapitel behandelt. Ausgewählt wurden einschlägige Historienbilder einiger Meister, die ihre Wirkung auf die Nachwelt nicht verfehlt haben (Piero della Francesca, Leonardo, Raffael, Altdorfer). Die Vielschichtigkeit der historischen Zeit wird in Raffaels „Borgobrand“ in der Stanza dell’Incendio thematisiert, indem das mythische Geschehen des brennenden Troja mit der Löschaktion Leos IV. in karolingischer Zeit und den Aktivitäten des Auftraggebers Leos X., als Friedensstifter auf der politischen Bühne der Gegenwart agierend, verwoben wird. Zur Gattung der Historienmalerei hat auch Tizian beigetragen, indem das Individuum dank der eindrucksvollen Schilderung von Ausstrahlung und Präsenz der Person diese als konstitutiver Faktor auftritt und entscheidend in das Zeitgeschehen einzugreifen vermag. Das Bild sicherte den Nachruhm der Porträtierten und diente als Gewähr für deren Überdauern. Was die Intensität und Dynamik des Augenblicks betrifft, hat Tizian der venezianischen Malerei, und nicht nur diese, den Weg gewiesen. Ihm ist zunächst Tintoretto (Kapitel sechs) gefolgt („Markus befreit einen Sklaven“), der die Peripetie nach den aristotelischen Regeln der Tragödie im Bild umzusetzen vermochte. In den späteren, ins dramatische Helldunkel getauchten Szenen entfaltet sich die Narratio eher sukzessiv, auf einzelne Gruppen auf der Bildfläche/bzw. im Bildraum verteilt. Quasi periegetisch kann der Betrachter das Geschehen in seiner Imagination verfolgen, während das ikonische, spannungsreiche Konstrukt das ästhetische Bewusstsein in der Schwebe hält. Stärker als bei den Vorgängern tritt die venezianische Festivitas in der Malerei Veroneses zutage (Kapitel 7). Wie kein anderer hat der Maler es verstanden, Glanz und Schönheit des Lebens und der Geselligkeit zu schildern. Jene ästhetische Verhaltensweise zur Kunst und zum Leben, die sich zu Beginn des Jahrhunderts abzeichnet und ihre Entsprechung in der freien Malweise bei Giorgione, Tizian u. a. erfuhr, wurde in der „Existenzmalerei“ Veroneses (Jacob

Burckhardt) dem Betrachter quasi als idealer Zustand des kulturellen Lebens vor Augen gehalten. Die Wirkung von Veroneses Malerei blieb bis ins 19. Jahrhundert ungebrochen. In der Plastik des 16. Jahrhunderts kommt es zu einer lebhaften Auseinandersetzung über die Vorzüge der dreidimensionalen Skulptur, die in unterschiedlichen Ansichten zur Entfaltung gelange (achtes Kapitel). Bewegung und Sukzession unterstreichen den temporalen Charakter der Wahrnehmung. Die Zerlegung des Zeitkontinuums führt paradoxer Weise zur Fokussierung der Aufmerksamkeit auf einzelne, bildhafte Aspekte. Die vielbeschworene Vielansichtigkeit hat zu der eher seltenen Ausprägung der sog. figura serpentinata geführt, die infolge der spiralförmig angelegten Gestalt und ihres Bewegungsduktus den Betrachter zum steten Wechsel seines Standpunktes anhalten soll. Es handelt sich hier also um eine Zeitproblematik, die aus dem Medium selbst und dem Bezug der Plastik zum Betrachter erwächst und im damaligen technischen und ästhetischen Diskurs entsprechend verhandelt wurde. Das letzte Kapitel neun ist dem Schaffen Pieter Bruegels d. Älteren gewidmet. An seinem Werk zeigt sich, dass das innere Zeitbewusstsein bei der Betrachtung eines Kunstwerks nicht immer mit einer rein ästhetischen Erfahrung in Verbindung zu bringen ist. Vielmehr vermag der Zeichner und Maler durch die virtuose Anlage seiner erzählerischen Bilder den Betrachter durch Verrätselung und Ambivalenz in den Bann zu ziehen – jener steht im Zugzwang, um eine rationale Erklärung für den Bildinhalt zu finden. Als begnadeter Erzähler ist Bruegel zugleich ein Skeptiker und Moralist, der die Verkehrtheit der Welt aufdeckt und mittels innerbildlicher Argumentation den Betrachter zur Reflexion über sein eigenes Leben anhält. Welthistorische Begebenheiten werden peripher gezeigt, Nebensächliches in den Vordergrund gestellt, Wahrheit verhüllt. Erst dem sinnenden Betrachter geht das Licht der Erkenntnis auf. In den Spätwerken wird die moralische Botschaft in Parabeln verpackt, die nicht zuletzt durch die ingeniöse Auffächerung des Augenblicks in das soeben Geschehene bzw. das unmittelbar Bevorstehende das Publikum wie im Theater an dem fatalen Gang der Dinge, wo das (tragische) Ende bereits vorgezeichnet ist, partizipieren lässt. Die ikonische Struktur trägt maßgeblich zur Wirkung der Parabel bei – Bildgestalt und Gleichnis stehen sich ebenbürtig zur Seite. Beim Betrachter kann gewissermaßen von einer Läuterung gesprochen werden – zumindest von Selbsterkenntnis, die dem Individuum einen Weg aus der Verstrickung der Sinne, der Blindheit und Sünde zu weisen vermag. Zeitbewusstsein, ob ästhetisch auf die Bild-

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Einleitung

gestalt oder moralisch auf den daraus resultierenden Sinn gerichtet, sollte sich in diesem Zeitalter der religiösen Reformbewegungen und des sich anbahnenden Barock als ein mächtiges Mittel der Vergegenwärtigung in der Kunst bzw. ihrer intendierten Wirkung erweisen.

4 Methodik Zum Abschluss der Einleitung sei die Methodik in den folgenden Studien zur Bildstruktur und Erlebniszeit in der Kunst des 16. Jahrhunderts angesprochen. Aus dem bereits Gesagten dürfte hervorgegangen sein, dass Zeit, Zeitbewusstsein, Erlebniszeit, Ikonik und Erzählkonstrukt eine Vielfalt von Erscheinungsformen annehmen, die fortlaufend Gegenstand der Analyse der Bilder und der interpretatorischen Befragung sind. Von einer schlüssigen Methode kann demnach nicht die Rede sein. Das Augenmerk wird mal auf die formale Gestaltung oder auf das Inhaltliche eines Kunstwerks gerichtet, mal verstärkt auf die aus der Betrachtung stammende subjektive Erlebniszeit und die damit im Zusammenhang stehenden Reflexion. Im ersten Kapitel geht es um die Emanzipation der Malerei um ihrer selbst willen, um formale Aspekte und die freiere, vom Objekt unabhängige Handhabe der Farbe. Verstärkt wird dabei die aktive Beteiligung des Rezipienten in Form des „künstlerischen Sehens“ und einer ästhetischen Verhaltensweise eingefordert. Zur empirischen Analyse und der imaginären Selbstbefragung treten auch theoretische Überlegungen, die sie bereits in der Einleitung angesprochen wurden, wie etwa Bewusstseinsprozesse des „Schaffens“ bzw. „Nachschaffens“. Die Erkundung der seriellen Bilder im zweiten Kapitel befasst sich vorerst mit Fragen formaler, auch ikonischer Natur. Als Problem erweist sich dabei die Gestaltung von Einzelblättern im Rahmen einer fortlaufenden Erzählung. Wie Viktor von Weizsäcker in seinen Überlegungen zur biologischen Zeit kann man von der Ganzheit einer Erzählung sprechen, die Einfluss auf die einzelnen Sequenzen nimmt  ; zugleich besitzt die Bildfolge eine eigene, innerzeitliche Dimension, wie eine literarische Erzählung im Sinne von Paul Ricœur. Das dritte Kapitel wendet sich Michelangelo zu, der in allen Künsten entscheidend zur Gestaltung von „Zeit“ in den verschiedensten Kunstgattungen beigetragen und die existenzielle Bedeutung des Phänomens überhaupt durch seine Kunst Ausdruck verliehen hat. Die christliche Heilsgeschichte stellt ein historisches Konstrukt dar, das zum einen

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von der religiösen Botschaft getragen wird, zum anderen aus der fortlaufenden Textauslegung und der Verschränkung der historischen Zeiten mit dem metaphysischen Überbau allmählich erwachsen ist. Diese aus dem ‚Glauben und der Ratio entstammende Zeitstruktur findet eine künstlerische Umsetzung in Michelangelos Fresken der Sixtinischen Kapelle, die unmittelbar auf den Betrachter wirken und die Erlebniszeit nachhaltig prägen. Der methodische Zugang zu den darin auftauchenden Zeitaspekten formaler und inhaltlicher Natur ist demnach vielfältig  : Er betrifft die sichtbare Struktur der Fresken in ihrer Gesamtheit  ; die Überlagerungen historischer Schichten  ; typologische Verflechtungen und unterschiedliche Realitätsgrade  ; die Bezugnahme zum Betrachter auch mittels der fiktiven räumlichen Struktur und der Interaktion der Figuren  ; oder Anspielungen auf das Pontifikat seines Auftraggebers Julius II. Die Frage wurde gestellt, ob der Regress im Deckenprogramm bis zur Erschaffung der Welt und der spätere Zusammenschluss mit dem Ende der irdischen Zeit, dem Jüngsten Gericht, vom Betrachter wirklich erfasst werden konnte  ? Zumindest wurden die Besucher der Kapelle im Zeitalter der Gegenreform unmittelbar vor die Frage  : Verdammnis oder Erlösung gestellt, auf die letztlich Schöpfung, Heilsgeschichte und das Wirken der Kirche hinausliefen. Zeit, Vergänglichkeit und die Hoffnung auf zukünftige Erlösung stellen auch das Generalthema der von Michelangelo als Gesamtkunstwerk konzipierten Medicikapelle. Der Zugang erfolgt zunächst durch die formale Analyse der ausgefallenen Wandarchitektur in Anlehnung an Andreas Prater, zum anderen durch Beschreibung und Interpretation der berühmten allegorischen Figuren der Tageszeiten. Quellen und die Auswertung der Gedichte Michelangelos tragen zur Verifizierung der Gedanken bei, die dieser „Zeitinstallation“ zugrunde liegen  ; mit seiner Kunst kämpft der Künstler gegen die Vergänglichkeit an, die den melancholischen Grundtenor der Figuren in der Medicikappelle bildet. Das Historienbild der frühen Neuzeit ist als ein Zeitkonstrukt zu verstehen, das insbesondere zum Zweck der Legitimation der Herrscher eingesetzt und dem Betrachter als ein Tugendspiegel römischer Provenienz vor Augen gehalten wurde. Über die formale Analyse hinaus, wird im vierten Kapitel auf die Interdependenz der unterschiedlichen historischen Epochen, die evoziert werden, sowie auf ihren Gegenwartsbezug eingegangen. In übersteigerter Form gewinnt das Geschehen in Altdorfers „Alexanderschlacht“ überzeitliche, kosmische Relevanz. Zugleich tragen Bezüge zur damaligen Wissensstand, etwa der Geographie oder der zeitgenössischen historischen Wissenschaft, sowie die Analogie zu der

Methodik

aktuellen politischen Situation, etwa der Auseinandersetzung mit den Türken, zur Vielschichtigkeit des historischen Zeitkonstrukts bei. Im Laufe der Arbeit stellt sich immer mehr der eigenständige Beitrag Tizians zur Gattung der Historienmalerei heraus, nicht nur durch Auftragswerke, welche ein spezifisches Geschehen, manchmal in allegorischer Form, ins Auge fassten, sondern auch auf dem Gebiet der Porträtkunst  : Das Individuum in der Präsenz seiner Leiblichkeit und Ausstrahlung hier und jetzt galt es zu erfassen. Quellen geben Aufschluss über die historischen Umstände, das Leben der dargestellten Personen und die Auftragslage. Sie tragen alle dazu bei, die Analysen über die immanente formale Zeitlichkeit hinaus mit Bezug auf den historischen Kontext zu vertiefen. Eine Reduktion der vielen Bildbeispiele und Beschreibungen in den Kapiteln V–VII wurde zwar erwogen aber doch nicht durchgeführt, um den Entwicklungsgang in der venezianischen Malerei des 16. Jahrhunderts in seiner Selbstbezüglichkeit stärker herauszustellen. Besonders deutlich tritt das Phänomen der Farbentwicklung und der Maltechnik im Schaffen von Tizian selbst durch Vergleiche seiner Werke untereinander zutage. Der Rezipient vermag diesen selbstbezüglichen Prozess im Bewusstsein nachzuvollziehen, so er denn bereit ist, anhand der Bildbeschreibungen „nachschaffend“, sich in die Werke hinein zu versetzen um sich dabei ein eigenes ästhetisches Urteil zu bilden. Diese „ästhetische Verhaltensweise“ setzt sich mit der Beschaffenheit und gattungsspezifischen Ausrichtung der einzelnen Werke und ihren impliziten Zeitaspekten auseinander. Es geht um Phänomene wie Bewegungsdarstellung, Fixierung eines Augenblicks, Stillegung der Handlung mittels Perspektivwechsel, Anwandlungen von Synästhesie und Verbildlichung von Textvorlagen, symbolische Repräsentation der dreiteiligen Zeitstruktur, periegetischer Handlungsablauf, Interdependenz von historischen Zeiten, Vergangenheit und Gegenwart sowie die ästhetische Verklärung der Gegenwart als ideale Daseinsform. Wechselhaft wie die Themen sind auch die Fragen und die entsprechenden methodischen Zugänge. In der theoretischen Auseinandersetzung um die Vorzüge der Plastik im Vergleich zum zweidimensionalen Bild wird im achten Kapitel diese im 16. Jahrhundert um sich greifende Diskussion erörtert. Darin spielte der Zeitaspekt eine wichtige Rolle. In vielen Beschreibungen und auch Erläuterungen auch seitens der Künstler selbst wurde das Phänomen der „Vielansichtigkeit“ besprochen und paradigmatischer Beispiele vorgestellt. Zur Klärung des Diskurses hat

vor allem L. O. Larsson beigetragen. Aus den Beschreibungen und der Autopsie der Werke selbst geht hervor, dass die vermeintliche, fortlaufende Erfassung einer Figur durch Umschreiten ein Trugschluss ist, denn bei jedem signifikanten Haltepunkt bietet sich nur ein Aspekt dem Betrachter bildhaft dar. In der eher seltenen Ausprägung der sog. figura serpentinata, die spiralförmig angelegt ist, ist es dennoch möglich, von einem periegetischen Zugang zur plastischen Gestalt, die von „allen Seiten gleich schön“ zu sein hatte, zu sprechen. Zeitlichkeit wird hierbei in Form einer als kontinuierlich empfundenen Bewegung evoziert. Der Zugang zu den Werken Pieter Bruegels d. Älteren im neunten Kapitel ergibt sich zum einen aus formalen Analysen von Bildern aus unterschiedlichen Perioden seiner Entwicklung, zum anderen auch aus den vielen ikonographischen Untersuchungen  ; hier sei besonders Jürgen Müller hervorgehoben, der die innerbildliche Argumentation Bruegels nachzeichnet und in den Kontext der zeitgenössischen Morallehre in den Niederlanden stellt. Kaum ein anderer Künstler hat die Kunst so gezielt eingesetzt, um auf dem Weg der einzigartigen Wirkung seiner aus Realitätssinn und Phantasie stammenden Bilder zu existenziellen Fragen zu gelangen. Zu der Vergänglichkeit des Daseins und der verfließenden Zeit, die ikonographisch und metaphorisch immer wieder angesprochen werden, tritt das Memento der Selbsterkenntnis hinzu  : die Sündhaftigkeit und Blindheit des Menschen, denen es im Leben entgegenzuwirken gilt. Der emotionale und zugleich rationale Nachvollzug des Bildinhalts, der in den ikonischen Ausprägungen immens an Evidenz gewinnt, wird so fortlaufend vom Betrachter verinnerlicht. Die Zeitlichkeit selbst in Form der Vergänglichkeit erweist sich als die conditio sine qua non des irdischen Daseins, und lässt die Verstrickung des Menschen in Sündhaftigkeit und Blindheit tragisch und aussichtslos erscheinen. In der reflexiven Deutung von Bruegels Kunst durch das selbstbestimmte Subjekt eröffnet sich mittels der Erkenntnis die Möglichkeit eines Bewusstseinswandels und ein Weg zur inneren Läuterung. Alle formalen und inhaltlichen Untersuchungen und Deutungen von Bruegels Werk führen unausweichlich zu solchen Betrachtungen philosophischer Natur  ; die Reflexion über das Leben und die Kunst erweist sich in diesem Fall als eine unverzichtbare begleitende Methode bei der Auslegung von Bruegels Kunst, wobei das innere Zeitbewusstsein verstärkt in die Pflicht genomen wird.

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I Die Macht der Bilder Allegorie und natürliche Zeichen In seinen Réflexions critiques sur la poésie et la peinture (1719) vertrat Abbé Du Bos die Ansicht, dass es die Aufgabe der Dichtung und Malerei sei, den Leser oder Betrachter zu bewegen und zu erfreuen. Den im Kunstwerk zum Ausdruck gelangenden Passionen obliege es, die Seele des Betrachters unmittelbar zu erregen.1 Diese Ausdrucksästhetik sowie die mit ihr verbundene Instrumentalisierung der Kunst entsprechen der aristotelischen Dramentheorie und Poetik sowie der von Horaz geprägten Maxime utile dulci. In der Malerei sollte man sich nach Du Bos der „natürlichen Zeichen“, in der Dichtung der „künstlichen Zeichen“ bedienen. Die „natürlichen Zeichen“ (signes naturels) seien ihrem Charakter nach sinnlich und dem Menschen intuitiv zugänglich, die Wörter (signes artificiels) hingegen seien eher künstlich und auf Übereinkunft gegründet, auf abstrakte Erkenntnis ausgerichtet und durch den Verstand zu begreifen.2 Mit dieser Unterscheidung wurde dem im 18. Jahrhundert gängigen Allegoriebegriff der Boden bereitet. Auch den Hieroglyphen und der Poesie wurde zu dieser Zeit ein intuitiv fassbarer Ausdruckscharakter zuerkannt – so z. B. von Gian Vincenzo Gravina in seiner Della ragion poetica (1708), von Giambattista Vico in seinen Principij di una scienza nuova (1725) oder bei späteren Vertretern der sog. Schweizer Schule. Der Poet sei imstande, die Wahrheit der Religion und Philosophie in der prägnanten Form der Metapher zu fassen – abstrakte Gedanken und Begriffe (concetti) fanden ihren Niederschlag in natürlichen bildhaften Formen. Der Allegoriebegriff wurde demnach mit „natürlichen Zeichen“ konnotiert, im Falle der Malerei mittels der Naturnachahmung. Allegorische Figuren und Bilder seien intuitiv fassbar und zugleich infolge ihres exemplarischen Charakters imstande, das Allgemeine zu repräsentieren. Diese Ansicht wurde von Lessing in seiner Hamburgischen Dramaturgie von 1767 vertreten und auch Winckelmann hatte etwa zur gleichen Zeit die Bildwerke der Griechen als natürliche, imitative Zeichen verstanden, in denen das Ideal seinen gültigen Ausdruck erhalten habe.3 Hinter seinem „Versuch einer Allegorie besonders für die Kunst“ (1766) stand die Absicht, die geistige Entwicklung der Menschheit anhand solcher allegorischen Bilder aufzuzeigen. Dabei unterschied Winckelmann aber zwischen Allegorien, die „durch sich selbst verständlich seyn, und keiner Beyschrift vonnöthen haben“, und Devisen und Sinnbildern – unnatürliche, willkürliche Bildschöpfun-

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gen – die zur „Ausrottung des guten Geschmacks“ geführt und infolge einer unzulässigen spitzfindigen Hinzufügung von erklärenden Texten die vollkommene Natur der (antiken) allegorischen Bilder zerstört hätten. Auch Herder hielt infolge des „organischen Charakters“ der griechischen Plastik an dieser Unterscheidung fest, denn der Emblematik fehle in ihrer zusammengestückelten Form jene Ganzheitlichkeit, welche die „große offene Poesie“ kennzeichne. Wie kaum ein anderer hat Herder die ganzheitliche Erfassung der plastischen Qualität als einen sinnlich-intuitiven Vorgang beschrieben, welcher der Natur des Gegenstands oder des Kunstwerks entspreche (Plastik 1778).4 In der Erörterung des Zeitphänomens in der griechischen Plastik (Bild/Zeit, I, 1996, S. 134 f.) wurde auf die sinnliche Ertastung der Form, wie sie von Herder beschrieben wurde, als ein konstitutiver Akt des Bewusstseins verwiesen  : Hierdurch werde der Bruch zwischen Anschauung und Ratio überwunden, die plastische Gestalt erhalte in der erfüllten Gegenwart überzeitliche Bedeutung.5 Der Allegoriebegriff war fortan mit dem Phänomen des naturgegebenen sinnlichen Zeichens verknüpft  ; jenes sei infolge seiner ganzheitlichen, organischen Natur imstande, eine allgemeine Idee unmittelbar sinnfällig zum Ausdruck zu bringen.

Signaturenlehre Die Zeichentheorie des 18. Jahrhunderts sah sich Vorgaben verpflichtet, die dem gelehrten Abbé Du Bos auch gewärtig gewesen sein dürften. Die bildende Kunst im Mittelalter war nicht primär auf die illusionistische Wiedergabe der sichtbaren Welt und ihrer „natürlichen Zeichen“ ausgerichtet – dies war nur bedingt vorstellbar und eigentlich nicht erwünscht. Nicht zufällig wurde im 12. Jahrhundert, in dem das allegorische Denken frühe Blüten trieb, unter Rückgriff auf Augustinus eine Signaturenlehre entwickelt, die zum einen auf die leibliche Präsenz Christi in der Eucharistie, zum anderen (mittelbar verweisend) auf das Jenseitige Bezug nahm.6 Die Schönheit der sichtbaren Welt entspreche als Zeichen oder Bild der übersinnlichen, göttlichen Welt. Die Heilige Schrift gehöre als literarisches Werk zwar der Welt an, aber ihre Harmonie sei geistiger Natur  ; die Bedeutung des Zeichens liege darin, dass es auf den geistigen Gehalt verweise. Anhand der Buchmetapher beschreibt Hugo von St. Viktor die sichtbare Natur und den Kosmos  : „Univer-

Allegorie und natürliche Zeichen

sum und Welt sind gleichsam ein Buch, das mit dem Finger Gottes geschrieben wurde“ … „und die einzelnen Geschöpfe können mit Zeichen verglichen werden, die nicht von der Vorstellung des Menschen geformt wurden, sondern von göttlicher Vorsehung, um somit von der unergründlichen Weisheit Gottes Zeugnis abzulegen.“7 Der Verweischarakter der sichtbaren Dinge tritt mittels der „Ähnlichkeit“ (similitudo) in Kraft, nur handelt es sich dabei nicht zwingend um eine Verknüpfung mimetischer Natur. Zu Beginn des 13. Jahrhunderts wurde die Zeichenlehre im Rahmen der allegorischen Interpretation der Welt weiter ausgebaut. So sprechen Papst Innozenz III. und Durandus zum einen von „natürlichen Zeichen“ (signa naturalia) und zum anderen von „beabsichtigten Zeichen“ (signa positiva). Im ersteren Fall handelt es sich um Vorzeichen oder Auswirkungen eines Geschehens in der Natur, im zweiten um eine unterlegte Bedeutung in heiliger, aber auch profaner Hinsicht. Suntrup spricht von einer dreigliedrigen Entwicklung  : 1. Das Zeichen als sichtbare Gestalt oder Handlung. 2. Das Zeichen als Verweis auf Christus und seinen Opfertod. 3. Das Zeichen als Bezugnahme auf den Leib der Kirche und deren Haupt Christus.8

Illusionismus im 14. und 15. Jahrhundert Ein entscheidender Schritt in Richtung auf die tatsächliche Verähnlichung von Mensch und Gottesbild setzt in der Gotik ein, so z. B. in den Platiken der Portale mit den Darstellungen des Jüngsten Gerichts, in denen die Gegenwart von der Schau des zukünftigen Geschehens beherrscht wird (Bild/Zeit, I, 1996, S. 207–216). Das Leben selbst in der Nachfolge Christi setzt auf Verähnlichung in der irdischen Existenz – die Taten und Wunder des hl. Franziskus als alter Christus stehen den Gläubigen vor Augen. Dementsprechend entfaltet sich der Zyklus in der Oberkirche von San Francesco in Assisi zu einer eindrücklichen, teleologisch untermauerten Erzählfolge. Die zeitlichen Implikationen dieser Narratio, die historisches Geschehen und paradigmatische Verweise mit unmittelbarer Vergegenwärtigung und einem ästhetischen Rezeptionsvorgang koppeln, wurden bereits erörtert (Bild/Zeit, I, 1996, S. 223–238). Der autonome Charakter von Giottos Bildsprache kehrt das Verhältnis von zeichenhaftem Bild und Signifikant insofern um, als nun dem Bild als Bedeutungsträger über seine verweisende Funktion hinaus immer größeres Gewicht als einem in sich strukturierten, selbstbezüglichen Kunstwerk zukommt.

Die weiter oben angesprochene unterlegte Bedeutung (signa positiva) ist nun nicht mehr ausschließlich auf den dahinter stehenden geistigen Sinngehalt gerichtet, sondern gilt auch der künstlerischen Umformung selbst, die von Imdahl mit dem Begriff der Ikonik umschrieben wurde.9 In der Tat bahnt sich hier ein Prozess der Bildmächtigkeit an, nicht zuletzt im Rahmen einer unaufhaltsamen Eroberung der sichtbaren Welt mittels der auf Illusion und Ausdruck ausgerichteten Malerei und Plastik, die bereits von Alanus von Lille angesprochen worden war  : Im Palast der natura seien Inschriften unter den Gemälden angebracht, um die illusionistische Wirkung derselben abzuschwächen.10 In der Sockelzone der Arenakapelle zu Padua stehen uns 14 allegorische Figuren aus Fleisch und Blut vor Augen, deren Bedeutung in fiktiven Inschriften festgehalten ist. Die Allegorie erhält Realitätscharakter  : Mit ihrer physischen Präsenz teilt die allegorische Figur Raum und Zeit mit dem betrachtenden Subjekt, während ihre semiotische Funktion in dem fiktiven Rahmenwerk schriftlich festgehalten wird. Die Macht der illusionistisch ausgerichteten Kunst wurde im 14. und 15. Jahrhundert gezielt eingesetzt, um den Betrachter unmittelbar in den Bann zu ziehen. Neue Bildprägungen wie die Andachtsbilder hielten ihn zur Verinnerlichung und zur Partizipation an  ; der narrative Kontext, sei es in Darstellungen der religiösen Historie oder später im profanen Bereich oder dem der Mythologie, trug verstärkt der Wirkung des fiktiven Raumes und der Dynamik der Natur selbst Rechnung.11 Im Prinzip ist es dabei gleichgültig, ob der Bildinhalt religiös-historisch konnotiert war oder ob es sich um eine Verlebendigung literarisch-mythologischer Stoffe handelte. In beiden Fällen treten Materialität, irdische Präsenz und zeitliche Ausdifferenzierung in den Vordergrund. Die Grenze zwischen der verweisenden Funktion und der körperlichen Autonomie eines Dinges oder einer Figur ist damit durchlässig geworden. Das natürliche Zeichen wird vieldeutig und steht für die unterschiedlichsten Interpretationen offen. Der Streit um den sog. „verborgenen Symbolismus“, der nach Panofsky als ein Charakteristikum der altniederländischen Malerei zu verstehen ist, kann hier als Beispiel dienen.12 So kündigt sich bereits hier eine neue ästhetische Verhaltensweise, d. h. ein grundlegender Mentalitätswandel an. Am weitesten geht Jan van Eyck in der Verschmelzung von wirklichkeitsgetreuen Gegenständen und fiktiven Räumen mit einem unterlegten geistigen Gehalt, dessen Wurzeln noch in der mittelalterlichen Tradition der spiritualia sub metaphoris corporalium zu suchen sind – es handelt sich hier um eine Symbolik, die mit der Gegenständlichkeit (den „natürlichen Zeichen“) der realen Welt verschmilzt und de-

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Die Macht der Bilder

ren verweisende Funktion aus dem gestalterischen Zusammenhang nicht unmittelbar sinnfällig, aber doch im Sinne der signa positiva für den Kundigen evident wird.13 Mit der Säkularisierung, die aber wesentlich später einsetzt, kann demzufolge von einer zunehmenden Verrätselung mancher Bildinhalte im Gegensatz zu einfach erkennbaren Inhalten gesprochen werden. Die Gegenständlichkeit und die damit zusammenhängende Verzeitlichung auch religiöser Themen treten verstärkt in den Vordergrund. Einen ähnlichen Weg beschreitet die bildhafte Umsetzung mythologischer Stoffe, wiewohl der Zugang von vornherein nur einem kleineren Kreis gebildeter Humanisten vorbehalten blieb und kaum mit dem Widerhall breiterer Bevölkerungsschichten zu rechnen war.

Hieroglyphik Die erwähnte Mystifikation diente in erster Linie als konstitutives Prinzip komplexer Interpretationsabläufe. Die Bekanntgabe des 1419 entdeckten „Horapollo“, einer spätantiken alexandrinischen Schrift aus dem 5. Jahrhundert, gab Anlass zur Beschäftigung mit den Hieroglyphen. Nach Ansicht der Humanisten handelte es sich dabei um eine verschlüsselte Schrift der frühen Menschheitsgeschichte, in der jene Urweisheitniedergelegt sei, die Moses und Plato vorangegangen sei. Die Zeichen im „Horapollo“ galten als eine rätselhafte Bildersprache, die den Schlüssel zur göttlichen Weltordnung enthieltt. So nimmt es nicht Wunder, dass in der Folge die angewandte Hieroglyphik der Renaissance in einer wilden Mischung aus ägyptischer Bilderschrift, pythagoreischer Symbolik, kabbalistischer Zahlenmystik, antiker Mythologie und mittelalterlicher Allegorik den Grundstock zur Emblematik des 16. Jahrhunderts legte, die mit den „Emblemata liber“ des Alciatus 1531 ihren Anfang nahm.14 Es handelt sich hierbei um eine Zeichensprache, die von Beginn an auf Kombinatorik und Übereinkunft gegründet war. Die Bildmächtigkeit der „natürlichen Zeichen“ wurde hier zugunsten des Konzeptuellen sekundär. Die lehrhaft-allegorische Auslegung von Bildern, wie sie Alciatus in den antiken Epigrammen der Anthologia graeca vorfand, geriet zum festen Bestandteil eines neuen Zeichensystems. Der Signifikant wird nun sowohl vom Bild als auch vom Wort angesprochen und die moralische Botschaft überdies dem Betrachter bzw. Leser in Form des Mottos vor Augen gehalten. Das Stilisiert-Künstliche, das der Emblematik anhaftet und den reflexiven Entschlüsselungsvorgang durch den Rezipienten anstachelt, ist hier nicht Gegenstand des Diskurses. Nur so viel sei gesagt, dass viele Bildprägungen der Emblematik

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dem Fundus der vorangegangenen Malerei und Grafik entstammen, Bildfindungen aus dem ursprünglichen Kontext genommen und gleichsam „umgemünzt“ wurden. Carpaccios Porträt eines jungen Ritters von 1510 im Museum Thyssen-Bornemisza in Madrid mag hier als Beispiel dienen (Abb. 3). Im Vordergrund erscheint der weiße Hermelin als Wappentier des 1484 gegründeten Hermelinordens und darüber auf einem Zettel die Devise Malo mori quam foedari („Lieber qualvoll sterben, als Schande erleiden“). Lauts hat den Ritter als Francesco Maria della Rovere von Urbino identifiziert, der 1508 Herzog von Urbino wurde, wo die Devise seit alters her gängig war.15 Auch die Blumen wurden mit Bedacht ausgewählt – die weiße Lilie als Symbol der Reinheit, die Schwertlilie als Wappenblume, aber auch womöglich als Verweis auf den Mythos des jung erschlagenen Hyacinthus, mit der verwelkenden Lilie als Hinweis auf die Kürze des Lebens einhergehend. Im Himmel oberhalb des Reiters, der zu Pferd in die Schlacht zieht, erscheint die auffällige Konstellation eines Falken mit einem Reiher. Wir finden die beiden später in dem „Dritten Emblembuch“ von Joachim Camerarius d. J. aus dem Jahr 1596 wieder (dort Nr. 32). Die Devise lautet dort  : Exitus in dubio est, und in der epigrammatischen subscriptio wird das Bild noch einmal erläutert. So kann das Emblem rückwirkend zur inhaltlichen Klärung des früheren Gemäldes beitragen, in dem die Bildprägung schon vorgegeben war. Die Identifikation des jungen Ritters konnte bislang nicht gesichert werden – der posthume Charakter scheint mir aber durch die Ikonografie naheliegend.16

Hypnerotomachia Poliphili 1499 erschien bei Aldus in Venedig das überaus populäre Buch Hypnerotomachia Poliphili („der geträumte Liebeskampf des Poliphilos“), aus dem letzten Drittel des 15. Jahrhunderts, dem römischen Adeligen Francesco Colonna ­zugeschrieben. Es handelt sich um eine ungemein vielschichtige Erzählung über die christlich- allegorisch verklärte Liebesbeziehung zwischen Poliphilo und Polia. Die Suche nach der im verzauberten Wald verschwundenen Geliebten, der Liebestraum des Poliphilo, in dem er initiatorische Prügungen zu bestehen hat und am Ende, durch den weisen Entschluss sich der Göttin der Liebe anzuvertrauen, seine Polia findet. Mit ihr gelangen die beiden durch die Intervention von Cupido zur Liebesinsel Kythera, wo die freudige und feierliche Vermählung stattfindet. Dort berichten beide, noch im Traumzustand, in der Runde der Hochzeitsgäste über die wundersamen Begebenheiten ihrer Begeg-

Allegorie und natürliche Zeichen

nung und die Zeit bis zur bevorstehenden Erfüllung ihrer Liebe. Dieser innerzeitliche Erzählduktus, durch den Traum verschoben und distanziert, greift als Wunschtraum vor, kann sich aber im Wachzustand nicht bewahrheiten. Allerdings sind wir erst bis zur Mitte der alllegorisch zu verstehenden Romanze angelangt, denn im zweiten Teil wird die Erzählung durch den zwischen den beiden Protagonisten ablaufenden Dialog zeitlich umgedreht und auf die Vergangenheit gerichtet, bis zu den genealogischen Anfängen ihres Lebens. Die Liebesgeschichte wird dabei aus der jeweils „anderen Perspektive“ des Gegenparts gesehen. Die innerzeitliche Struktur des Textes ist demnach mehrschichtig  ; sie verweist mal vor , mal zurück  ; der Prozess der Vergeistigung, der gegen Ende metaphysische Züge annimmt, wird auch durch das Traumhafte, rätselhafte Bilder und geheimnisvolle Figuren, phantastische Szenerien und paradiesiesche Landstriche verstärkt  ; erschreckende Monster und Drachen treten auf. Die Grenzen zwischen christlicher Weltsicht und erotischem Wunschdenken, Rationalität und Sinnlichkeit, aufgeklärtem Bewusstsein und dunkler Magie, werden fließend. Zusätzlich tragen auch der Traum und die Perspektivwechsel zum labyrinthischen Ablauf der Geschichte bei, der letztendlich in den Aufstieg von Poliphilos Seele nach dem Tod in das Jenseits mündet. Erst im Sterben muß Poliphilo erkennen, dass Körper und Seele sich dabei trennen und Letztere Unsterblichkeit erlangen wird. Im Himmel wird, ungemein charakteristisch für die zeitgemäße Betonung der „Macht des Bildes“, die Seele Poliphilos angesichts eines Bildnisses von Polia in einem mit Venus und Amor geführten Gespräch über ihre Unsterblichkeit aufgeklärt. Danach wacht Poliphilo in seinem Bett in Treviso auf – ein abruptes, offenes Ende also. Kirsten Dickhaut hat in einer brillanten Darstellung der „Liebessemantik diesen Kontext der gesellschaftlichen und kulturellen Situation“, der sich in diesem gelehrten literarischen Bravourstück spiegelt, in seiner ganzen Komplexität aufgezeigt. Auf der Schwelle zur Neuzeit, noch immer auch der spätmittelalterlichen Tradition verpflichtet, werden christliches und humanistisch-hermetisches Gedankengut mit einander verwoben. Zum Erlösungsgedanken gesellt sich das Element der sinnlichen Erfahrung, denn erst beide Aspekte machen den ganzen Menschen aus. Schlagend tritt im Verlauf der Geschichte die Modernität der literarischen Ausformung der unterschiedlichen Realitäts- und Zeitebenen zutage.17 Die eminente Rolle, die gerade die literarische Zeitlichkeit in der Hypnerotomachia Poliphili spielt, stellt die Kunstgeschichte vor die Frage, wie sich nun die Holzschnitte, nicht weniger als 169 an der Zahl, zum Text verhalten  ? Sie wur-

3 Vittore Carpaccio, Francesco Maria della Rovere, 1510. Museo ThyssenBornemisza, Madrid.

den laufend in die verschachtelten Textblöckeintegriert, ganzseitig oder in halber Spiegelbreite dem Text angepasst. Auffallend ist dabei, dass jede Illustration als ein eigentständiges Ganzes innerhalb einer schlichten Rahmenleiste quasi als Unikat gestaltet wurde, immer die Balance der Komponenten in der Fläche bewahrend. Offen ist die Frage, wer zu dieser Zeit so qualitative Holzschnitte – vereinfacht, ornamental und nach venezianischer Gepflogenheit streng flächenhaft und zugleich um den Ausgleich der Volumina bemüht – zustande gebracht haben kann  ? Was auf dem Gebiet der Malerei erst in den folgenden beiden Jahrzehnten, vor allem bei Tizian etwa in seiner „Himmlischen und Irdischen Liebe“ fünfzehn Jahre später zur Ausprägung gelangt, hier kündigt sich die Entwicklung bereits an. Es drängt sich dabei auch der Vergleich mit den deutschen Holzschnitten auf  ; so monumental und dramatisch wie jene, vor allem die Blätter in Dürers „Offenbarung“, sind die Holzschnitte hier nicht, aber mit ihren vereinfachten Binnenformen, den austarierten Landschaften und phantasievollen Architekturen

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Die Macht der Bilder

sowie den Weiß ausgesparten, von feinen Konturlinien umrandeten Figuren zeugen sie in der Leichtigkeit ihrer Ausformung doch von großem Können. Die Bilder verhalten sich pragmatisch illustrierend zum Text, jeder Holzschnitt behält in seiner Schlichtheit und unaufgeregten Stimmungslage seine Eigenständigkeit, erscheint unberührt von der Komplexität der innertextualen Zeitverschiebungen und Bedeutungsebenen. Paul Kristeller stellt fest, dass der Künstler nicht entfernt an die Phantastik des Dichters heranreicht, und die Figuren manchmal etwas steif anmuten. Das Erzählerische bleibt in seiner Schlichtheit auf die reale Welt bezogen, und die Zeitlichkeit der jeweils gezeigten Szene verweist nicht über den Augenblick hinaus (vgl. Abb. 9 und 20). Von den Illustrationen in dem weitverbreiteten Buch mit unzähligen Auflagen und auch Übersetzungen ins Französische ausgehendöffnen sich zwei Wege  : zum einen in die Hieroglyphik und Emblematik des 16. Jahrhunderts (hier sei auf den sog. Triciput aus der Hypnerotomachia Poliphili verwiesen, Abb. 173)  ; zum anderen aus formaler Sicht, die Betonung der Fläche als Gestaltungsprinzip der venezianischen Malerei und Grafik des 16. Jahrhunderts. In der Tat besteht im ausgehenden Quattrocento manchmal ein eigentümliches Verhältnis zwischen natürlicher Bildprägung und inhaltlicher Ausdifferenzierung, welche die angesprochene Verschleierung und Verrätselung einfordert. Die Neuplatoniker in Florenz im Kreis um Ficino redeten einer synkretistischen spekulativen Theologie das Wort und bezogen Philosophie und Wissenschaften in ihr System mit ein. Der bildenden Kunst kam hierbei nicht nur eine dienende Funktion zu, denn auch sie trug einen unverzichtbaren Teil zur Erziehung und Veredelung des Menschen bei. Die Nobilitierung der Kunst erfolgte nicht zuletzt aus dem Umstand, dass sie die intelligiblen Formen einer höheren Existenz widerzuspiegeln vermochte.17 In den Bildern würden nämlich die Ideen der Natur, der Geschichte und der Menschenseele sinnfällig. Zuweilen galt die ästhetische Wirkung, die vom Kunstwerk ausging, als eine Form „guter“ Magie.18 Inhaltlich weniger ausgetüftelt als die Florentiner, allen voran Botticelli, entwickelten die Venezianer um 1500 eine evokative Maltechnik, die den Betrachter unmittelbar, auf einer sinnlich-emotionalen Ebene ansprach.

Sympathetische Landschaft In der sakral ausgerichteten Malerei setzte Giovanni Bellini bereits um 1460 auf den Ausbau sympathetischer Landschaften, die fast ausnahmslos den Hintergrund der religiösen Szenen bildeten  : Andachtsmotive, Madonnen, Szenen aus dem

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Leben Jesu, Heiligendarstellungen etc. wurden darin emotional begleitetet und verstärkt, Empathie und projektive Fähigkeiten des Publikums angesprochen. Die Veränderlichkeit der Hintergrundlandschaft und der Lichtverhältnisse bildet den Klangboden des sakralen Geschehens und erweckt gleichsam analog äquivalente Gemütsregungen im Betrachter.19 Einige Beispiele sollen hier genügen, um diesen Umstand zu verdeutlichen  : der kühle blaugraue Himmel über der dunklen Landschaft hinter der monumentalen PietàGruppe in der Mailänder Brera um 1460  ; die stupende, im Helldunkel breit gelagerte Landschaft mit dem Abendhimmel in der Darstellung des Gethsemane aus demselben Jahr (National Gallery, London  ; Abb. 4)  ; die in Gelbtönen gehaltene, lichtdurchflutete, detailgenaue Landschaft in der Ekstase des hl. Franziskus (Frick Collection, New York) und die vom weißen Tageslicht beherrschte Stimmung in der Transfiguration (Museo Nazionale di Capodimonte, Neapel), beide um 1485  ; die sog. „Pietà Donà delle Rose“ von um 1504 aus der Accademia in Venedig, in welcher der Landschaftshintergrund in gebrochenen Braun- und Olivtönen mit dem Lila im Gewand der Schmerzensmutter korrespondiert  ; die „Madonna auf der Wiese“ (National Gallery, London) und die sog. „Brera-Madonna“ in Mailand, beide um 1510, bei welchen die im hellen Tageslicht aufscheinenden Landschaften einen eher heiteren Eindruck vermitteln. Der Landschaft kommt demnach eine fundamentale Rolle als Stimmungsträger zu und die Verschmelzung von Figur und Hintergrund wird überdies durch den weitgehenden Verzicht auf harte Konturen immer mehr verstärkt, sodass in den späteren Werken Giovanni Bellinis bereits von einem farbigen sfumato gesprochen werden kann, das Giorgione zu dieser Zeit überhaupt zum Markenzeichen seiner Malerei weiterentwickelt hat. Giovanni Bellinis Ausbau der Landschaftshintergründe, vor allem was die Stimmung und Lichteffekte betrifft, trug maßgeblich zur Emanzipation der Landschaft als Bildgattung bei, wiewohl die Bindung an die Figuren und den Bildinhalt vorerst gewahrt blieb. Den letzten Schritt zur autonomen Landschaft hin hat der Maler nicht vollzogen. Auch lag ihm nichts daran, Dynamik in die Hintergründe seiner Bilder zu bringen, wie dies in den frühen Werken Tizians bereits der Fall war. In Bellinis Götterfest in der National Gallery, Washington, von 1514 musste die Landschaft in dem späteren Gemälde Tizians in Alfonso d’Estes camerino d’alabastro nachträglich angepasst werden  ; dabei tritt die unterschiedliche künstlerische Disposition und Intention der beiden Maler eklatant hervor (vgl. Abb. 140, 141). Die Entwicklung der Landschaftsdarstellung als eine eigene Bildgattung erfolgte zu Beginn des 16. Jahrhunderts  :

Poetische Allegorie – Autonome Malerei

4 Giovanni Bellini, Gethsemane, um 1460. National Gallery, London.

Dürer, Giorgione, Fra Bartolomeo, Giulio Campagnola, Lorenzo Lotto, Altdorfer, Wolf Huber, Patinir u. a. – alle haben sie dazu beigetragen.20 Auch wenn Figuren meist nicht fehlen, ist der quantitative Anteil derselben, die manchmal nur als Staffage eingesetzt werden, entscheidend. Die Landschaft wird zum eigentlichen Thema und Stimmungsträger. Die Bildmächtigkeit eines „natürlichen Zeichens“ gewinnt somit die Oberhand, es entledigt sich seiner ursprünglichen Verweisfunktion, um im Zustand der selbstbezüglichen Erscheinung der genießenden Schau und den damit verbundenen Stimmungswerten den Vorrang zu geben. Mit der Autonomie der Kunst gehen die Verzeitlichung der ästhetischen Erfahrung und mit ihr die Konzentration auf den unmittelbaren sinnlichen Eindruck beim Rezipienten einher. Inhaltliches spielt dabei zunächst nur eine sekundäre Rolle.

Poetische Allegorie – Autonome Malerei Ein Schritt in diese Richtung wird in jenen kleinen mythologischen Bildern vollzogen, die um 1500 allerorts, aber ins-

besondere im venezianischen Ambiente entstehen. Edgar Wind hat sie mit dem Begriff der „poetischen Allegorie“ umschrieben, womit er auf die malerische Umsetzung eines allegorischen Gehalts, wie wir sie von den Werken Giorgiones her kennen, abzielt  : Die (inhaltlichen) Konzepte seien von einer poetischen Stimmung, persönlich, lyrisch-geprägt, durchdrungen.21 Den manchmal vagen, zuweilen bewusst verunklärten Inhalten, die bereits angesprochen wurden, wird weniger Gewicht beigemessen. Vornehmlich geht es um formale, sprich malerische Werte, um Stimmungen, die sich auch auf die Ikonografie auswirken. Dieser Prozess der Ästhetisierung auf Kosten des Inhalts und der verweisenden Funktion des Gemäldes war den Kunstsachverständigen in der Folgezeit auch sehr wohl bewusst, ja er dürfte sogar mit ein Grund für die spätere zwiespältige Haltung Vasaris zur venezianischen Malerei gewesen sein. So beklagte dieser sich angesichts der von Giorgione ausgeführten allegorischen Figuren an der Fassade des Fondaco dei Tedeschi darüber, dass der Maler das Werk ohne Plan begonnen habe, nur in der Absicht, Figuren nach seiner Fantasie zu malen, um seine Kunstfertigkeit unter Beweis zu stellen  ; denn er, Vasari, könne keinen Zusammenhang zwischen den Figuren erken-

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Die Macht der Bilder

Autonome Malerei

5 Giorgione (Umkreis), Der Astrologe, um 1500. Phillips Memorial Gallery, Washington.

nen, noch könne er sagen, ob sie die Taten einer ausgewiesenen Person, sei es einer aus der Antike oder aus der Gegenwart, vergegenwärtigten.22 Vasaris Frustration rührt von dem Umstand der geschwächten Verweisfunktion her. Auch wenn seine Aufgebrachtheit ihm Anlass gab, seiner Abneigung gegen die venezianische Kunstauffassung Ausdruck zu verleihen, bringt sie die Tendenz der Malerei doch auf den Punkt. Die Venezianer treten um 1500 mit Bildern auf den Plan, deren Ikonografie vage bleibt, aber darum dem Interpreten mehr Spielraum lässt. Vor allem stehen die Bildinhalte hinter den formalen Qualitäten zurück, sei es in Bezug auf die Harmonie der Zeichnung und der Komposition, sei es bei der malerischen Ausführung des Ganzen, etwa im Sfumato der evokativen Landschaftsschilderungen. Diese spezifische Bildgattung, die einer istoria im herkömmlichen Sinne entbehrt, zugleich aber die allegorisch anmutenden Figuren doch lebensnah, voll sinnlicher Ausstrahlung hervortreten lässt, kann als „poetisch“ bezeichnet werden. Aus der gestalterischen Kraft und der künstlerischen Vision heraus werden sie mit Leben erfüllt. Auch wenn sie nicht „wirklich“, sondern nur als Produkte der künstlerischen Fantasie erscheinen, wird ihnen infolge des „poetischen Glaubens“, der dem Einbildungsvermögen eigen ist, eben doch eine Realität und Autonomie zuerkannt, die der Fiktion im Reich der Kunst entspricht. Diese psychologische Bestimmung des Ästhetischen ist einst von Friedrich Theodor Vischer in seinen Kritischen Gängen eindrucksvoll formuliert worden, und zwar in Absage an seine frühere kategorische Verdammung des Poetischen und Allegorischen in der Kunst. Auch die nicht wirklich geglaubten Gestalten des historischen Mythos würden in der Kunst zu neuem Leben erweckt, der Natur und dem Unbeseelten „unsere Seele und ihre Stimmungen“ unterlegt.23

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In der Zeit der Hochrenaissance tritt der Mensch in eine neue Beziehung zur Kunst. Gestaltung und Ausdruckscharakter verleihen dem Werk jene Autonomie, die über die Funktion als Bedeutungsträger hinausgeht – ja im Grunde dreht sich das Verhältnis insofern um, als die malerische Ausführung die eigentliche Botschaft, den Gehalt des Bildes ausmacht. Eingeleitet wurde dieser Prozess wie erwähnt bereits durch Giotto (zur Ikonik und zur Relevanz für die zeitliche Interpretation vgl. Bild/Zeit, I, 1996, S. 239 ff.). Im kleinen Tafelbild um 1500 scheint diese neuzeitliche ästhetische Betrachtungs- und Verhaltensweise in humanistischen Abnehmerkreisen sich so weit durchgesetzt zu haben, dass die Künstler aus freien Stücken Werke schufen, die nicht auf einem Auftrag beruhten, sondern ihre Existenz dem Umstand verdanken, dass der Sammler eben diesen oder jenen Künstler in seinem studiolo vertreten haben wollte. Die Sammeltätigkeit allein ist schon ein Indiz für den Mentalitätswandel, die veränderte Einstellung zur Kunst  ; die gesellschaftliche Nobilitierung mancher Künstler und ihre Aufnahme in den illustren Kreis der Vertreter der artes liberales ein weiteres. Die Bemühungen Isabella d’Estes um ein Werk aus der Hand Giovanni Bellinis oder die Wertschätzung Giorgiones seitens der nobiltà in Venedig legen hierfür ein beredtes Zeugnis ab.24 Viele Faktoren haben demnach zur Genese jener neuen Bildgattung beigetragen, die unter dem Begriff der „poetischen Allegorie“ firmiert und deren Relevanz im Kontext der Kunstentwicklung und als kulturelles Phänomen hoch einzuschätzen ist. Dementsprechend kommt ihr auch im Rahmen dieser Untersuchung der zeitlichen Struktur der bildenden Kunst große Bedeutung zu. Im Prinzip fügen sich die „poetischen Allegorien“ nicht in den allgemeinen Trend zum Ausbau und zur psychologischen Auslotung des Erzählerischen ein. Sie sind eher gegenläufig und entziehen sich einer eindeutigen inhaltlichen Bestimmung. Es sind Zustandsbilder, deren Verweischarakter zwar gegeben ist, aber meist vage und unbestimmt bleibt und dem Betrachter einen großen Freiraum subjektiver Projektion zugesteht. Vor allem wird das Spiel der Einbildungskraft von der Präsenz und der suggestiven Bildmächtigkeit der Figuren und den Stimmungswerten in der Landschaft beherrscht, die einen Zustand der genießenden Schau und der damit verknüpften ästhetischen Reflexion evozieren. Diese Freisetzung des ­Moments und des damit verknüpften Zustandes des Zeitbewusstseins, dieser Prozess der Durchdringung und Vereinheitlichung vorangegangener, sukzessiver Bewusst­seins­ vorgänge wurde von Bergson mit dem Begriff der „reinen

Giorgione

Dauer“ umschrieben (vgl. S. 11). Es handelt sich dabei um eine qualitative Form der erlebten Zeit, die in der Ganzheit des Bildes, seiner Gestalt, ihren Auslöser hat und darin ihre sichtbare Entsprechung findet. Soweit ich sehe, gehen die hier angestellten Überlegungen zur „Macht der Bilder“ mit jenen grundsätzlichen Erwägungen philosophisch-hermeneutischer Natur konform, die Gottfried Boehm in seinem jüngst erschienenen Buch Wie Bilder Sinn erzeugen. Die Macht des Zeigens vorgebracht hat.25

Allegorische Bildformen Die „poetischen Allegorien“ um 1500 sind nicht auf Venedig und die terra ferma beschränkt – nur treten sie dort verstärkt auf und erhalten ihre charakteristische malerische Ausprägung  : Voran geht Giovanni Bellini mit seinen Restello-Bildern, ihm folgt Cima da Conegliano mit zwei kleinen mythologischen Tafeln, ehe die sog. „poetischen Allegorien“ dann bei Giorgione und Lorenzo Lotto vollends zur Entfaltung gelangen (Abb. 5, 7, 16, 17). Tizian wartet 1515 noch mit seiner Himmlischen und irdischen Liebe auf (Abb. 20). In Florenz wurde bereits mit den großen mythologischen Gemälden Botticellis, der Geburt der Venus, der Primavera und mit Mars und Venus, der „poetischen Allegorie“ in ihrer toskanischen Ausprägung der Boden bereitet (vgl. Bild/Zeit, II, 2004, S. 228 ff.), um in Raffaels frühen kleinen Tafeln mit dem Traum Scipios und den Drei Grazien zu gipfeln (Abb. 18, 19). Einschränkend ist dabei festzuhalten, dass der Inhalt in der toskanischen Tradition seine Vormachtstellung zu wahren wusste. In der Stanza della Segnatura kann man schließlich von einer Monumentalisierung der allegorischen Bildform sprechen. Es handelt sich um einen Spiegel der zeitgenössischen Wissenschaften und der Kunst, der in seiner ikonografischen Komplexität kaum zu überbieten ist. Aber dennoch bleiben die geniale Umsetzung und Reduktion der Figuren und Gruppen vieldeutig und offen, immer einprägsam und suggestiv in ihrer Wirkung. Auch diesen monumentalen Fresken fehlt jene erzählerische Komponente, die der innerbildlichen Zeitlichkeit und Strukturierung einer istoria anhaftet. Der Zeitfaktor wird allenfalls in das betrachtende Subjekt verlagert, dessen Bewusstsein im langwierigen Prozess der Entschlüsselung der komplexen Bildinhalte sich fortlaufenden Modifikationen ausgesetzt sieht. Die Idylle, die in der Darstellung der pastoralen Landschaft ihren entsprechenden Ausdruck findet, entstammt der literarischen Tradition. Die Gedichte Theokrits, Ovids Fasti und Metamorphosen sowie Vergils Bucolica und Geor-

gica erschienen in Venedig in den Jahren 1470–1497  ; hinzu kommen neuzeitliche Dichter, allen voran Petrarca, dessen Bedeutung für die Venezianer kaum zu überschätzen ist. Im Zeitraum 1499–1505 erscheinen des Weiteren Colonnas Hypnerotomachia Poliphili (1499), Macrobius’ In somnium Scipionis (1500), Sannazaros Arcadia (1502), Tebaldeos Rime (1503) und Bembos Gli Asolani 1505.26 Aus den vielen verdichteten pastoralen Landschaften, die von bekannten Meistern wie Lotto, Cima da Conegliano und Carpaccio sowie von zweitrangigen Malern zu dieser Zeit geschaffen wurden, ragen die poesie Giorgiones hervor. Durch die Verdichtung der summarisch ausgeführten Landschaften und ihren Zusammenschluss mit den mythologischen oder allegorischen Figuren erweist sich der Venezianer als prominenter Wegbereiter der neuen Bildgattung der „poetischen Allegorie“.

Giorgione In jüngerer Zeit wurde eine Reihe von kleinen mythologischen Bildern erneut Giorgione zugeschrieben  ; sie haben sicher als Liebhaberstücke zu gelten. Ihre Entstehungszeit wird um 1500 angesetzt, als Giorgione etwa 22 Jahre alt war. Zu dieser Gruppe zählen Leda mit dem Schwan und die Idylle (Museo Civico, Padua), Venus und Cupido (Kress Collection, Washington, National Gallery of Art), der sog. Astrologe (Phillips Memorial Gallery, Washington) und die sog. Hommage an einen Dichter in der Londoner National Gallery. Zumindest der Astrologe, die Leda und die Idylle stammen aufgrund ihrer synthetischen Malweise und des farbigen Sfumatos der großzügig gemalten Landschaft in ihrer Verschmelzung mit den Figuren von einer Hand, zumal die Maße (12 x 19,5 cm bzw. 12 x 19 cm) praktisch identisch sind.

Musik und verrinnende Zeit Der sog. Astrologe ist in unserem Zusammenhang von besonderem Interesse (Abb. 5). Vor einer hügeligen Landschaft, die in das Zwielicht der untergehenden Sonne getaucht ist, sitzen auf einer Bodenwelle links ein älterer Mann mit einem ostentativ vorgestreckten Stundenglas, rechts davon ein Jüngling in einem leichten weißen Gewand, mit dem Bogen über die Saiten einer viola da braccio streichend. Brucher, der sich in jüngerer Zeit mit den kleinen Landschaften, womöglich Cassonebilder, befasst hat, ist geneigt, sich der Meinung von Stedman Sheard anzuschließen, der den vermeintlichen „Engel“ als Orpheus identifiziert hat.27

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Die Macht der Bilder

6 Anonymus, Caterina Cornaro und ihr Hof zu Asolo, ca. 1500. Attingham Park.

Beim Alten, wiewohl ohne Flügel, dürfte es sich um Chronos, eine Allegorie der Zeit, handeln. Analog zur verrinnenden Zeit verhallt der Ton in der Abenddämmerung. Dieser Aspekt muss meiner Meinung nach als das eigentliche Thema des Bildes gelten. Die Darstellung der Musik hat in der venezianischen Malerei dieser Zeit Tradition. Wir finden die Musiker am ­Sockel der thronenden Madonna, aber auch im profanen Kontext – etwa auf dem Thronsockel des Dichters im angesprochenen Londoner Bild Hommage an einen Dichter oder in jener großen Darstellung eines unbekannten Malers in Attingham Park, Shrewsbury, von um 1500, in der sich Dichter, Höflinge und Musiker um die exilierte Königin Caterina Cornaro auf der Wiese vor ihrem Refugium in Asolo scharen (Abb. 6). Das kleine Gemälde in Washington, dessen Titel gewiss unzutreffend ist, geht über die herkömmlichen Darstellungen der Musik hinaus, indem es gerade den Zeitaspekt thematisiert  : Der Ton (oder die Melodie) geht mit der verrinnenden Zeit einher, er entsteht im Augenblick und vergeht ebenso schnell. Die Betrachter werden sich wie die Lauschenden bewusst, dass die Schönheit der Landschaft bzw.

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der Melodie im schwindenden Licht so flüchtig ist wie das Leben selbst – ein Gefühl der Melancholie stellt sich ein. Die Physiognomien und die Haltung der Protagonisten in den Musikbildern der Zeit sind fast allesamt von einem Anflug der Schwermut geprägt, was Bandmann veranlasst hat, dem Bezug von Musik und Melancholie nachzugehen.28 Wenn nicht in der Theorie, so doch in der Praxis kann man von einem Versuch der Maler sprechen, auf dem Wege der Synästhesie Malerei und Musik zusammenzuführen – ja, die Verschmelzung der Kunstarten geht noch weiter, da sowohl die Malerei als auch die Musik um 1500 (zumindest im venezianischen Ambiente) auf dieselbe literarische Gattung der elegischen Pastorale zurückgreifen und versuchen, eine entsprechende, verdichtete Stimmung zu erzeugen. Die Musikform der Frottola entspricht thematisch und melodisch diesem Ansinnen. Die Visualisierung der Zeitlichkeit im Bereich des Akustischen geht mit der Stimmung der abendlichen Landschaft konform. Die „innere Zeit“ des Kunstwerks, ob eines Musikstücks oder eines Gemäldes, bleibt in sich geborgen, während die metaphorische Übertragung von einem Medium in das andere sich im Bewusstsein des Betrachters (bei der Betrach-

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tung bzw. beim Zuhören) vollzieht. Die Flüchtigkeit der realen Zeit findet in der Melodie einen adäquaten Ausdruck, denn sie trägt bereits den Keim der Vergänglichkeit in sich.29 Der Augenblick der Wahrnehmung selbst, ob akustisch oder visuell, ist zum Thema der Darstellung geworden und wird dem Betrachter vermittelt. Die Kunst der Malerei bietet dem Zerfall Einhalt, auch wenn das ästhetische Erlebnis selbst im Strom der Zeit der Vergänglichkeit anheimfällt. Die Intentionalität richtet sich im vorliegenden Werk auf den Stimmungswert, den synästhetischen Charakter und die damit verbundene ästhetische Reflexion. Dies lässt sich theoretisch mit der Definition des „Poietischen“ (neu Geschaffenen) in Aristoteles’ Poetikà, die damals Konjunktur hatte, in Einklang bringen  ; aus dem Strom der Zeit gerissen wird das Kunstwerk in die rettende Form übertragen. In einem Spätwerk Giorgiones, dem Concert champêtre, heute im Louvre, entstanden um 1508, das m. E. ihm und nicht Tizian zuzuschreiben ist, sprechen formale und ikonografische Merkmale für die angesprochene Thematik. Zuvor sollen noch drei frühere Werke erörtert werden  : die Dresdner Venus, die durchaus der Kategorie der „poetischen Allegorie“ angehört, die Tempesta, für welche dasselbe gilt, und schließlich Die drei Philosophen, die durchaus allegorisch zu verstehen sind, aber nicht nur im konzeptuellen, sondern insbesondere auch im poetisch-emotionalen Sinn.

La Tempesta Die Eigenständigkeit der Kunst kommt in der klassizistischen Kunsttheorie seit jeher zum Tragen. Der Künstler solle ein möglichst fehlerloses antikes Stück als Vorbild nehmen, das, in sich bereits „gereinigt“, das Ideal zum Ausdruck bringe.30 Als Gegengewicht zu dieser vor allem von der Plastik zum Ausdruck kommenden Kunstaffassung formten die Venezianer nun die Landschaft selbst „ideal“ um und fügten Figur und Landschaft als mehr oder weniger gleichberechtigte Elemente im Bild zusammen. Dem Maler stand es frei, der in der zeitgenössischen Pastorale geschilderten Natur in seiner Fantasie nachzugehen und so eine ideale Szene zu gestalten, die eventuelle Mängel der sichtbaren Natur eliminierte. Auf den qualitativen Zeitaspekt dieser Idealgebilde, die Verlagerung in die genießende Schau und das ästhetische Bewusstsein des Betrachters, wurde bereits hingewiesen. 1530 besichtigte Marcantonio Michiel die Tempesta von Gior­gione in der Casa Vendramin und umriss in seiner Kurzbeschreibung die Landschaft als den eigentlichen Gegenstand des Gemäldes (Abb. 7)  : El paesetto in tela cun la

tem­pesta, cun la cingana et soldato, fu de mano de Zorzi da Castelfranco.31 Die Landschaft, von elementaren Kräften durchdrungen, hat sich gleichsam von der menschlichen Figur emanzipiert  ; sie ist organisch belebt und zum eigentlichen Träger des Bildinhalts geworden. Darüber hinaus ist diese Landschaft auch ikonografisch vielschichtig im Sinne einer „poetischen Allegorie“ zu verstehen, der die Menschenfiguren untergeordnet sind. Im Laufe der Arbeit wurde der Bildentwurf in der für Giorgione charakteristischen Manier Veränderungen unterzogen. So hat Morassi auf eine nackte Frau am linken Ufer verwiesen, die später durch den „Soldaten“ ersetzt wurde.32 Nach Creighton Gilbert stehen Änderungen der Ikonografie in einem umgekehrten Verhältnis zur Bedeutung des Inhalts. So plausibel diese Behauptung zunächst erscheinen mag, ist sie im Falle Giorgiones nicht unbedingt zutreffend – vielmehr dürften im Laufe der Arbeit unterschiedliche Möglichkeiten und Bildprägungen zur Disposition gestanden haben. Eine allmähliche Herauskristallisierung einer Idee kommt ebenfalls in Betracht. Im Falle der Tempesta blieb das Grundmuster erhalten – das Konzept einer Landschaft mit einer offenen Bildmitte und einem dräuenden, blaugrünen Himmel, in dem ein Blitz erscheint. Die Subordination der Figuren wird in allen Beschreibungen angesprochen. Im Vordergrund „links“ steht der „Soldat“ auf einen Stab gestützt, dessen rechteckige Grundform von der Ruinenwand und der Baumkulisse dahinter aufgegriffen wird. Die dreieckige Grundform der sitzenden Frau mit dem Kind überträgt sich auf die allernächste Umgebung und das Gebüsch. Vor ihrer hellen Karnation zeichnen sich die Silhouetten der zarten Blätter eines Busches ab. Die Fülle des Körpers und die Schönheit des Inkarnats werden in die sprießenden Formen der Vegetation eingebunden und durch Kontrastwirkung noch gesteigert. Die Konturen der Figuren erhalten feine Entsprechungen in den Formen der Umgebung  : So wird die Neigung des Stabes in dem Baumstamm darüber gespiegelt, die linke Kontur der Frau in der Gabelung des Baumstammes dahinter wiederholt. Überhaupt werden in der Landschaft starre Horizontalen und Vertikalen vermieden – die Formen der Natur fügen sich nicht dem Lot, sondern erwecken durch feine Abweichungen den Eindruck des Belebten, Wandelbaren. Die Figuren sind aus dem Zentrum des Bildes und des Geschehens gerückt – sie erscheinen ohne Bezug zueinander, getrennt durch den Flusslauf, eingebunden in das wechselhafte Spiel von Licht und Schatten und integriert in die Szenerie als Ganzes. Die Landschaft weist wie erwähnt eine „offene“ Bildform auf. Die Versatzstücke der Vegetation bilden im Mittelgrund eine leicht geneigte Ovalform, in der

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7 Giorgione, La Tempesta, ca. 1506. Accademia, Venedig (Farbtafel II).

sich der Anblick des Flusses, der Brücke, der Häuserflucht rechts und des Gewitters auftut. Die Stadt im Hintergrund wird jäh vom Blitz beleuchtet und bildet so mit dem flackernden hell-dunklen Vordergrund eine stimmungsvolle Einheit.

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Jene farbige Polarität von Blau und Rot, auf die Hetzer in Zusammenhang mit dem farbigen Aufbau in Tizians Malerei fortwährend hinweist, wird hier bereits ausgekostet  : die rote Jacke des „Soldaten“ hebt sich vom Grün der Vegetation und dem Blaugrün der Gewitterwolke ab. Die Tiefe des

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Bildes erwächst aus der Komposition und dem farbigen Zusammenschluss der Landschaft vor dem zurückweichenden Grün-Blau des Himmels. Wie immer in der venezianischen Malerei werden Tiefenstürze vermieden und die Bindung an der Fläche mittels einer Austarierung von Farb- und Lichtwerten gewahrt. Wenn man an dem herkömmlichen dreieckigen Kompositionsprinzip der Hochrenaissance festhält, erscheint das Gewitter in der Mittelachse als Hauptakteur der Darstellung. Unter Bezugnahme auf die anthropomorphe Naturanschauung der Antike, die in der Pastorale der Renaissance ihre Fortsetzung findet, heißt es bei Gilbert  : „It is not simply a tempest, a passing visual and meteorological phenomenon as in an impressionist painting, but the Tempest, a personage, an actor, in fact the protagonist.“ 33 Die offene Bildform trägt zur Hervorkehrung dieses Umstandes bei  ; mittels der Struktur wird ein dynamisches Verhältnis zwischen Bild und Betrachter geschaffen, das es uns erlaubt, Fantasien und Emotionen in das Erschaute hineinzuprojizieren. Dieses reziproke Verhältnis, das in erster Linie ästhetischer Natur ist und nicht mehr wie früher, etwa in den Andachtsbildern, vom religiösen Inhalt her bestimmt wird, ebnet den Weg zu einer neuen Wertschätzung des Bildes aus rein ästhetischer Sicht. Das Bemerkenswerte der Bilderfindung tritt deutlich hervor, wenn man das Gewitter in Relation zu den beiden Begleitfiguren setzt. In der Tat erscheint nur die Natur als Agierende – die Entladung des Blitzes ist ein Phänomen, das ob seiner sprichwörtlichen Kürze eigentlich kein Gegenstand der Malerei sein kann  ; eben deshalb wurde der Blitz von Plinius dem Älteren als ein Beispiel für die Fähigkeit der Malerei angeführt, dem eigentlich Unmöglichen, dem nicht Gesehenen oder Vergehenden, doch eine bleibende Form zu verleihen. Der Renaissance vertraut und teuer waren die Vorstellung eines harmonischen Kosmos und die Integration des Menschen in den lebenden Organismus der Welt. Wurde dies in der Toskana in erster Linie durch die Darstellung der menschlichen Figur und mittels Attributen verdeutlicht, setzte man in Venedig verstärkt auf die Darstellung der Landschaft, nicht nur als Hintergrund, sondern auch als Umraum. Darüber hinaus wurde, insbesondere was Giorgiones „Tempesta“ oder Die drei Philosophen betrifft, eine Unzahl von möglichen Deutungen in Betracht gezogen, was für den freien Umgang des Malers mit inhaltlichen Konzepten spricht. Zu einer eindeutigen Übereinstimmung von Text und Bild ist es nicht gekommen, zumal Giorgione sich nicht auf ein

bestimmtes Thema festlegen ließ und fortlaufend Änderungen vorzunehmen pflegte. Eine gewisse Plausibilität für eine bestimmte favola bietet jedoch eine ikonographische Untersuchung, die von Jürgen Rapp 1998 und 2004 vorgelegt wurde. Nach ihm handele es sich bei der „Tempesta“ um die unselige Begegnung zwischen Paris, dem Sohn des Königs von Troja, und der Nymphe Oinone. Nach einer stürmischen Liebesgeschichte wandte Paris seine Augen Helena, der schönsten Frau der Welt, zu. Er verließ Oinone , die ihm zuvor einen Sohn, Korynthos, gebar und bereits das Unheil hatte kommen sehen. Nach Paris Tod beging sie Selbstmord. Giorgione beschäftigte sich in seiner Frühzeit nachweislich mit dem Thema des Parisurteils. Er konnte dabei auf antike Texte über den Trojamythos und das Leben der Protagonisten zurückgreifen, darunter das in den Heroiden von Ovid abgehandelte Liebesdrama vom Königssohn Paris und der Nymphe Oinone. Zugänglich waren diese populären Schriften, wie Rapp betont, durch den Transfer der Bibliothek Bessarions mit denantiken Klassikern nach Venedig 1468. Das abgebrochene Säulenpaar im Mittelgrund sei als Hinweis auf die beiden Verstorbenen und das Doppelgrab zu verstehen. Auch mit einer ikonographischen Ergänzung kann der Autor aufwarten, nämlich die sog. Brontologien  : „Gewitter, Blitze und Stürme als Vorboten persönlicher und politischer Katastrophen waren das Thema der weit verbreiteten Gewitterbücher, der sog. Brontologien.“34 Glaubhaft ist auch die Anspielung auf Padua, das vom Blitz beleuchtet im Hintergrund auftaucht – war die Stadt doch von Livius als „Troja“ apostrophiert worden. Angesichts der herkömmlichen Datierung des Gemäldes um 1505/1506 bleibt ein Zusammenhang mit der Eroberung der ganzen terra ferma durch die Truppen der Liga von Cambrai und der Schlacht von Agnadello in Mai 1509 fraglich. (Rapps sehr späte Datierung der Übermalung des Frauenakts am Bachbett links mit 1508, so man sie gelten lässt, würde jedoch die Möglichkeit eröffnen, die späte Fassung des Gemäldes mit der Krisenlage in Verbindung zu bringen. Problematisch bleibt die Diskrepanz zwischen der eher statischen Subordination der beiden Figuren links und rechts in Bezug auf die dynamischen Entladung des Gewitters in der Mittelachse, die zweifelsohne den „Augenblick“ in neuartiger Weise thematisiert. (Plinius hatte übrigens gerade die Darstellung eines Blitzes im Bild für ein unmögliches Vorhaben gehalten.) Die Immobilität der Figuren läßt sich indes schwer mit dem vorgeschlagenen dramatischen Thema, Paris tragischer Abschied von Oinone und seinem Sohn, in Einklang bringen. Überlagert wird die mythologische favola zumindest von einer allegorischen Lesart der Figuren.

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Bemerkenswert ist der Umstand, dass Rapp die selten erwähnte Fabel von Oinone mit einer der frühesten „poetischen Allegorien“, welche die malerische Revolution in der venezianischen Malerei einläutete, in Verbindung gebracht hat. Diese favola wurde nämlich auch von Panofsky zur Klärung des Bildinhalts in Tizians „Nymphe und Schäfer“ von 1575 in Wien herangezogen (vgl. S. 288 und Abb. 183). So dient dieselbe Geschichte als Rahmenmotiv eines Gemäldes, das den Schlusspunkt der malerischen Entwicklung in Venedig siebzig Jahre später setzte. Als gemeinsamer Nenner der magisch-hermetischen Deutungsversuche der „Tempesta“ dient die Elementenlehre der Epoche, die wiederum auf antiken und mittelalterlichen, neuplatonisch geprägten Schriften fußt.34 Was den Blitz oder das Feuer betrifft, kann z. B. auf den stoischen Begriff des igneus vigor bei Hugo von St. Viktor verwiesen werden oder auf einen verwandten Passus in Agrippas De occulta philosophia, gedr. 1531–33,, wo vom Feuer als dem aktiven, alles durchdringenden Element und von der Erde als dem ruhenden die Rede ist.35 Die Natur selbst wird in der Tempesta als beseelter Organismus, als natura naturans geschildert, in der dieselben Kräfte wie jene im Menschen auch wirken. Im Gegensatz zu Rapp hat Wind die Figuren nicht zueinander in Beziehung gesetzt, und dieser Umstand sowie ikonografische Einzelheiten wie der Stab, die Säulenstümpfe und das Motiv der nährenden Frau haben ihn veranlasst, in ihnen das Gegensatzpaar fortezza – caritas zu sehen. Wenn man das Unwetter nach dem Sprachgebrauch der Zeit mit der Benennung maravigliosa e mirabile fortuna von Giovanni Rucellai 1456 im Zibaldone verbindet, ergibt sich die Triade virtus und amor unter der Dominanz der fortuna. Die Fortuna wiederum galt als Gott und der Natur unterstellt  ; um sich vor ihrem schlechten Einfluss zu schützen, wurde eine kontemplative Lebenshaltung empfohlen – ja, wie Petrarca unter Verweis auf eine Metapher Vergils hervorhebt  : es gelte, die Stürme und Begierden der Seele durch die Ratio in Schranken zu halten und zu überwinden.36 Die Figuren erscheinen vor dem Sturm geschützt und kontemplativ. Giorgione dürfte eine positive Einstellung zum Leben und der Sinnlichkeit gehabt haben. So kehrt er das Ideale in der sichtbaren Natur und die positiven Kräfte der Elemente und der Fortuna hervor. Sei es als Zeichen der göttlichen Vorsehung oder als Sichtbarmachung elementarer Naturkräfte, stets bleibt das Motiv des Sturmes oder Blitzes an die Vorstellung einer höheren, alles durchdringenden Macht gebunden. Ob im Sinne der Moral (d. h. der Gegenüberstellung der vita activa und der vita sensitiva wie in Raffaels

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Traum des Scipio  ; vgl. S. 79) oder als Verkörperungen von Naturprinzipien, in beiden Fällen geht es um den Ausgleich der Gegensätze nach dem Motto  : Harmonia est discordia concors. In der verhüllten Form der poetischen Allegorie lässt sich eine Reihe von neuplatonischen Triaden durch das Zusammenspiel der Figuren mit der Landschaft konstruieren  : fortezza – carità – fortuna  ; virtus – amor – fortuna  ; Mars – Venus – Jupiter. In der Emblematik des 16. Jahrhunderts offenbart sich im Blitz die gleichermaßen todbringende wie Leben spendende Kraft Gottes. Durch das Wirken des Jupiter tonans gelangen alle Gegensätze zum Ausgleich. Der höchste Gott in Gestalt des Blitzes ist Richter und Herrscher der guten und der bedrohlichen fortuna zugleich  – er schlichtet zwischen Mars und Venus. Dementsprechend erscheint er als Emblem auf der Medaille Federigos da Montefeltro. Hinter dem Sturm, der fortuna, verbirgt sich Gott, der im Blitz seine Gewalt und Allmacht offenbart. Der Blitz, sprich das Feuer, ist Ausdruck des Leben spendenden Prinzips im Universum, tätiger Funken in der Seele des Menschen und Ziel seines Daseins zugleich. Die Interpretation der Figuren in der stimmungsvollen Landschaft steht mit dieser stoisch-neuplatonischen Interpretation im Einklang. Das Prinzip der Harmonie wird letztendlich – von den ikonologischen Interpretationen abgesehen – unmittelbar malerisch umgesetzt und diese Qualität und suggestive Ausstrahlung begründete schließlich den Ruhm des Gemäldes und seinem zeitlosen, poetischen Charakter  : „La poesia di Giorgione sorge della contemplazione, profonda e in questo senso religiosa, dell’armonia dell’universo, dove il mondo delle creature umane si distacca e si redime dalla vita sociale, delle passioni e degli interessi, quasi direi della storia, per chiudersi in una calma solitudine e vivere in armonia con l’armonia dell’universo. Quasi un novello Eden, ricco di una sottile e calda vita dei sensi, dove amore spira e l’amore non è peccato.“37

Die Dresdner Venus „In der europäischen Malerei nimmt die Dresdener Venus ungefähr die gleiche Stellung ein, wie sie innerhalb der Plastik die knidische Venus innehatte“, schreibt Clark38 und knüpft dabei (vielleicht unbewusst) an die antike Legende an, wonach die von Praxiteles geschaffene, von den Bürgern Chios zurückgewiesene und den Bewohnern von Knidos zum Geschenk gemachte Figur eine neue Ära in der weiblichen Aktdarstellung der antiken Plastik einläutete. In ihrer Geschlossenheit und dem „reibungslosen Übergang von ei-

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8 Giorgione, Die Dresdner Venus, ca. 1508. Staatliche Gemäldegalerie, Dresden.

ner begreiflichen Form zur anderen“ ist die „Dresdner Venus“ als „klassisch“ zu bezeichnen und diese poetische Verherrlichung des Frauenkörpers sollte fortan einen paradigmatischen Einfluss auf die Aktdarstellung nicht nur in Venedig, sondern auf die spätere Malerei überhaupt ausüben. Kaum jemand hat jedoch Giorgiones Ton der Reinheit und Verklärung getroffen – in der Tat haben wir es mit einer idealen Entsprechung des „erlebten Platonismus“ in der venezianischen Kultur der Zeit zu tun (Abb. 8). Wahrscheinlich wurde das Gemälde für den Freund Hieronymus Marcello um 1508 ausgeführt, in dessen Haus es 1525 von Michiel gesehen wurde  : La tela della Venere nuda, che dorme in uno paese cun Cupidine, fo de mano de Zorzo da Castelfranco, ma lo paese et Cupidine furono finiti da Titiano.39 Ob der später übermalte Cupido Giorgiones ursprünglicher Intention entspricht, wissen wir nicht  ; vermutlich wurde er gleichzeitig mit den Bauernhäusern und dem Hügel im Hintergrund rechts von Tizian ausgeführt. Hierdurch entstand ein ganz neues Bildgefüge, ein Ausgleich von Massen, der nicht dem ursprünglichen Entwurf entsprach.40 Der Vordergrund wird ganz von der auf dem roten Kissen und dem weißen Tuch unmittelbar vor einer offenen Landschaft Liegenden eingenommen. Die Hintergrundlandschaft

dürfte von Giorgiones Hand stammen, während der unschöne Versuch, den Rasen des Vordergrundes selbst als Diwan erscheinen zu lassen, bei einer späteren Übermalung erfolgt ist – womöglich aus dem Gefühl heraus, der Übergang von der Figur zur Landschaft sei zu abrupt. Saxl hat auf diesen Umstand hingewiesen  : Die im klassischen Geiste konzipierte Figur erscheine vor der offenen norditalienischen Ebene als eine Fremde.41 Auf jeden Fall haben wir es mit einer Figur all’antica zu tun und es bedürfte nicht des Hinweises auf Cupido, um in ihr eine Venus pudica mit ihrer charakteristischen Armhaltung zu erkennen. Antike Statuen waren im Hause Gabriele Vendramins zu sehen und Gärten mit antiken Plastiken kamen zu dieser Zeit bekanntlich in Mode.42 Schon 1935 hat Saxl auf die problematische Kombination des Venusmotivs mit der Schlafhaltung hingewiesen. Diese taucht in der antiken Skulptur, etwa in der Szene mit Bacchus und Ariadne auf, wo die schlafende Nymphe von einem Satyr schamlos entblößt wird. Von solch einem Vorbild stammt der berühmte Holzschnitt in der Hypnerotomachia Poliphili  ; auch dort macht sich eine eigentümlich unklassische Vermischung der entblößten schlafenden Quellnymphe mit der Venus, die in der Inschrift auf dem A ­ rchitrav als Naturgöttin, panton tokadi, angerufen wird, be­m erkbar

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9 Quellnymphe. Hypnerotomachia Poliphili, Venedig 1499.

(Abb. 9).43 Angesichts der klassischen Armhaltung (über dem Kopf ) der „Dresdner Venus“ erscheint es kaum zulässig, den Holzschnitt als direktes Vorbild zu sehen. Aber das beliebte Motiv der schlafenden Nymphe, das auch in der Liebes­poesie Lorenzo de’ Medicis auftaucht, dürfte dem elegisch-­pastoralen Geschmack in Venedig entsprochen haben (übrigens ist auf eine ähnliche schlafende Figur mit korrekter Armhaltung in Botticellis Apellesbild in den Uffizien um 1495 hinzuweisen).44 Aus dem Dunkel des Hügels wird in feinstem sfumato das schöne Gesicht der Schlafenden herausmodelliert. In dem unbewussten Zustand des Schlafes verwischen sich die Grenzen der Psyche – offen wie die Landschaft und doch mit ihr verbunden bietet sich der Akt als Inbild der reinen Schönheit dar. Wie Saxl bemerkt, wurde die ursprüngliche Beziehung zwischen Nymphe und Satyr ja aufgegeben. Stattdessen entstand eine verstärkte dynamische Beziehung zwischen Figur und Betrachter.45 Die Erlebniszeit wird demnach vom psychologischen ­Prozess der Einfühlung beherrscht, das Schlafmotiv in natürlicher Weise mit der Gestalt einer anthropomorphen Quellnymphe verbunden. Der Zustand des Unbewussten bei der

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Schlafenden entspricht der Grenzauflösung zwischen Mensch und Natur.46 Beide Aspekte sollten in der Kunst des Cinquecento aufgenommen werden  : Das Schlafmotiv tritt immer wieder in der venezianischen Grafik und Malerei auf  ; die anthropomorphe Quellnymphe wiederum gerät zu einem obligaten Bestandteil der Brunnenplastik, wobei insbesondere die antike Brunnenskulptur der Ariadne (auch als „Cleopatra“ apostrophiert) in der rustikal gestalteten Nische im vatikanischen Belvedere als paradigmatisches Beispiel dienen kann – auch das eine „poetische Allegorie“ mit einer Vielfalt von Deutungsmöglichkeiten.47 Alles ist im Dresdner Gemälde auf die Idealisierung der schönen Figur hin angelegt, die in sich ruhend und geschlossen, eher schwebend als lastend erscheint. Die weiche Wellenlinie ihrer Kontur klingt in den Hügeln am Horizont nach  ; die Stille des Abends senkt sich über die weite Landschaft wie der Schlaf über die Gestalt. Die späteren Änderungen an diesem Bild, die womöglich auf Tizian zurückzuführen sind, waren nicht von Vorteil  : die festen Blöcke der Gebäude rechts oder die Masse des Hügels, der zum Verschluss der Bildfläche führt und als Gegengewicht zur Figur dienen sollte.48 Nicht Steigerung durch Kontrastwirkung und Massenausgleich war hier ursprünglich vorgesehen, sondern ein Ausklingen der Stimmung in der offenen Landschaft. Der Rückgriff auf die antiken Skulpturen wurde in Venedig nicht als eine trockene Rekonstruktion vorgenommen, sondern mit dem unmittelbaren Aktstudium selbst verbunden. Deshalb hat man es offensichtlich nicht als widersprüchlich empfunden, diese ideale, aber doch erlebte Figur all’antica vor der glaubwürdigen Topografie der terra ferma darzustellen. Unter dem sinkenden Abendhimmel wird jene selbst verklärt. Aus der kontemplativen, traumhaften Schönheit der Frau und der Natur erwächst das Bewusstsein um ihre Zusammengehörigkeit.

Die drei Philosophen Im Jahr 1525 hat Marcantonio Michiel Giorgiones Gemälde mit den Drei Philosophen, das sich im Kunsthistorischen Museum in Wien befindet (Abb. 10), folgendermaßen beschrieben  : La tela a oglio detti 3 phylosophi nel paese, due ritti e uno sentado che contempla gli raggi solari cunquel saxo finto cusì mirabilmente, fu cominciata da Zorzo da Castelfranco e finita da Sebastiano Venetiano.49 Das Werk befand sich damals in der Casa Taddeo Contarinis. Der Aufbau ähnelt dem der nunmehr Giorgione, vormals Giovanni Bellini zugeschriebenen „Allendale-Natività“ in Washington  : eine Abschirmung des Vordergrundes mittels einer Boden- und Baumkulisse, die

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10 Giorgione, Die drei Philosophen, ca. 1508. Kunsthistorisches Museum, Wien (Farbtafel III).

im Wiener Bild allerdings kompakter ausfällt und nur in der Mitte einen Ausblick in die recht flächenhaft gemalte Landschaft gewährt. Der besonders erwähnte „Fels“ links ist von Efeu und Feigenblättern begrünt. Er war ursprünglich breiter, wie aus der Kopie von David Teniers d. J. in seiner Darstellung der Gemäldegalerie Erzherzog Leopold Wilhelms III., ebenfalls im Kunsthistorischen Museum in Wien, ersichtlich wird.50 Ein ähnlich strukturierter Aufbau ist im Stich Giulio Campagnolas Der Astrologe (um 1505) zu finden (Abb. 12). Die farbige ­Einbindung der Figuren trägt zum atmosphärischen Effekt bei – vor allem beim „alten Philosophen“ drängt sich der Vergleich mit Giovanni Bellinis „Hieronymus“ im San-­Zaccaria-­Altar von 1505 auf, wobei die Frage offenbleibt, wer wen beeinflusst hat.

Georg Richter hat in seiner Monografie von 1937 das Augenmerk auf die untergehende Sonne gerichtet und darin eine Hinzufügung Sebastiano del Piombos sehen wollen – eine Hypothese, die sich bei der Restaurierung des Gemäldes 1953 nach Friedrike Klauner nicht bestätigt hat. Die Krakelüren lassen vielmehr den Schluss zu, dass das Gemälde entgegen der Behauptung Michiels nicht ergänzt wurde.51 Dennoch haben neuere technische Untersuchungen eine Reihe von Änderungen in der Landschaft an den Tag gebracht  : Links befand sich eine Burg, der Horizont lag tiefer und weniger Bäume ragten in den Himmel. Was nun den komplexen Inhalt betrifft – Cesare Brandi spricht von „infiniti significati“ –, lassen sich die Deutungen nach Themen ordnen. Hier sollen nur die plausiblen, die

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11b Carolus Bovillus, Liber de intellectu (1510). Nürnberg 1514, fol. 2v. 11a Carolus Bovillus, Liber de intellectu (1510). Nürnberg 1514, fol. 60v.

dem visuellen Befund entsprechen, kurz vorgestellt und auf ihre Kompatibilität hin untersucht werden.52 G. C. Argan stellte 1977 die Hypothese auf, es handele sich bei den Drei Philosophen, die unterschiedlichen Alters sind, um das alte Thema der „Tre età dell’uomo“. Dabei werden die drei Temperamente ins Spiel gebracht  : „sanguino, flemmatico, collerico – tre lati della faccia umana“.53 Dass es sich bei den Figuren um die drei „Weisen“ handelt, erschließt sich aus dem Habitus. So hat man in dem Alten rechts im rotgelben Gewand mit Aristoteles einen Repräsentanten der antiken Philosophie gesehen  ; der Mittlere ist deutlich als „Araber“ erkennbar und wurde dementsprechend Averroes genannt  ; und der sitzende Jüngling in Weiß und dem hoffnungsvollen Grün gekleidet wurde als Vertreter der „neuen Naturwissenschaft“ bezeichnet.54 Zaunschirm hat die Drei Philosophen mit Platos Timaios in Verbindung gebracht, die auf den

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„vierten Philosophen“ warten, dessen „Flammengeviert im Felsen“ erscheine.55 Karin Zeleny wiederum hat anlässlich der Ausstellung im Kunsthistorischen Museum in Wien 2006 auf ein Buch von Polydorus Vergilius (1470–1555) aufmerksam gemacht, das die antiken Erfinder zum Gegenstand hatte  : De re inventoribus libri tres, Venedig 1499, bes. lib. I, 16. Darin werden die großen Naturphilosophen Pythagoras, Thales und Pherekydes vorgestellt. Letzterer, aus Syros stammend, wird als der „mittlere“, arabisch gekleidete Philosoph identifiziert, der Sitzende als Thales und der „Alte“ als Pythagoras. Allerdings wurde Zelenys Versuch, Thales mit dem pythagoreischen Lehrsatz in Verbindung zu bringen, heftig von Menso Folkerts (LMU München) und Peter Moser (Salzburg) bestritten  ; der Lehrsatz des Philosophen zum rechtwinkligen Dreieck taucht allerdings in den Elementen des Euklid auf (1, 47), die 1482 in Venedig gedruckt worden wa-

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ren. Euklid aufgrund einer Verwechslung für den Lehrsatz zuständig zu machen, sei jedoch ausgeschlossen.56 Die Identifikation des Jüngeren als „Empiriker“ wird durch seine Tätigkeit beglaubigt – mit dem Winkeleisen in der Linken und dem Zirkel in der Rechten wendet er seine ganze Aufmerksamkeit dem beschatteten Felsen zu, aus dem Efeu und Feigen – von Klauner mit der Menschwerdung Christi in Verbindung gebracht – sprießen. Die messende Tätigkeit war schon von Nikolaus von Kues als Inbegriff der geistigen Bemühungen des Menschen bezeichnet worden  ; dementsprechend wurde der Geist oder die Denkkraft (mens) etymologisch von mensurare abgeleitet.57 Auch der „alte Philosoph“ ist durch einen Zirkel und einen rotulus mit astronomischen Zeichen als ein Weiser, ein Astronom ausgewiesen. Dieser Befund entspricht dem ikonologischen Kontext, wenn man das Augenmerk auf die drei großen Perioden der Naturwissenschaften richtet  : die Periode der empirischen Beobachtung der Natur und der Astronomie, die im Abendland von Aristoteles und seinen Nachfolgern, insbesondere Ptolemaios, entwickelt worden war  ; die Periode der Araber als Vermittler der antiken Medizin und Astronomie, vornehmlich in der Gestalt des Averroes im 12. Jahrhundert, dessen Naturphilosophie in Padua noch im 15. Jahrhundert gelehrt wurde  ; und schließlich die Periode der neuen Naturphilosophie sowohl im Anschluss an die Antike – Aristoteles, Galen und Ptolemaios – als auch im Geiste des empirisch ausgerichteten Neonominalismus, der seit Beginn des 14. Jahrhunderts in den naturwissenschaftlichen Zentren wie Oxford, Paris, Salerno, Neapel und Padua betrieben wurde.58 Aus dieser Situation schälte sich die Doktrin von der „doppelten Wahrheit“ heraus, wonach es zur Trennung des Glaubens der Theologie von der logischen Beweisführung der Naturwissenschaften kam.59 Die Humanisten in Italien, allen voran die Neuplatoniker in Florenz aus dem Kreise um Ficino und Pico della Mirandola, versuchten zwar, die Lücke zwischen religiöser Offenbarung und Naturphilosophie zu schließen, aber in Padua und in der Niederlassung der sog. Rialtoschule in Venedig (Paolo della Pergola, Domenico Bragadin) setzte sich das averroistische Erbe hartnäckig fort.60 Die synkretistische Tendenz gegen Ende des 15. Jahr­ hunderts, die besonders im Neuplatonismus zum Tragen kommt, fand einen reichen Nährboden in den Geheimwissenschaften der Zeit, in der Astrologie und der Magie.61 Diesbezüglich nahm Venedig eine Schlüsselposition ein – dort tätig waren u. a. Aurelio Augurelli und Bernardo ­Trevisano. Der polyglotte Charakter des venezianischen Humanismus, der sich in der Hypnerotomachia Poliphili nieder­ schlug, ist von den Romanisten besonders hervorgehoben worden.62

12 Giulio Campagnola, Der Astrologe, ca 1500..

Giorgiones Gemälde Die drei Philosophen scheint der naturwissenschaftlichen, ikonologischen Interpretation am ehesten zu entsprechen. Sein Zustand entspricht aber nicht dem ursprünglichen. Johannes Wilde hat in seiner Röntgenuntersuchung von 1932 nachweisen können, dass der „alte Philosoph“ statt des übergestülpten Mantels ein Diadem getragen hat und der barhäuptige Jüngling mit einer Pelzmütze versehen war.63 Dies hat zu einer apokryphen Deutung Anlass gegeben  : Es handele sich um eine Darstellung der Magier auf dem mons victorialis, die nach dem Buch Seth den Aufgang des Sterns, d. h. die Ankunft des Messias, erwarten. Allerdings ist im Text von 12 studiores et amatores mysterium coelestium die Rede, sodass diese Deutung doch brüchig erscheint. Klauner verwies in ihrer Studie von 1955 auf das Opus imperfectum in Matthaeum, nach dem Efeu und Feige für die Erlösung, die Menschwerdung Christi, standen – eine Interpretation, der sich Auner 1958 und andere anschlossen.64 In der Tat begegnen wir dieser Pflanzensymbolik häufig in der zeitgenössischen Malerei, insbesondere im Spätwerk Bellinis. Die apokryphe Deutung der drei Philosophen, der religiöse Bezug im engeren Sinne hat sich kaum als tragfähig erwiesen, zumal der Stern verborgen bleibt und nur hypothetisch, anhand der Lichtverhältnisse, „gedacht“ werden muss. Von größerer Relevanz dürfte die geistige Tätigkeit der Protagonisten sein, die sich eindeutig dem Studium des Firmaments bzw. der Natur widmen, auch wenn die beiden ­älteren Philosophen eher eine kontemplative Haltung einnehmen. Proportional zum Bildganzen können die Gestalten als monumental bezeichnet werden – sie beherrschen den abgeschlossenen Vordergrund und erscheinen gleichwer­tig mit der Landschaft, in die sie kompositorisch eingebunden sind. Mit dem allgemeinen Hinweis auf die anthropomorphe Repräsentanz von Astronomie und Natur-

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wissenschaft allein ist es nicht getan, wiewohl die Stellung der Figuren auf drei Stufen des felsigen Geländes der zeitlichen Abfolge entspricht. Wichtiger dürfte freilich die Ausprägung der Typen sein, ihr Habitus und die Attribute, mit denen sie versehen sind. Der Grundtenor aller Deutungsversuche lässt sich auf die Formel bringen  : Dargestellt wird die geistige Auseinandersetzung des Menschen mit der Natur und dem Kosmos. Seine Stellung in der Welt ist durch Würde und Denkvermögen gekennzeichnet.

Neuplatonismus Diese Thematik bildet auch den Kern der zeitgenössischen Naturphilosophie in ihrer neuplatonischen und okkulten Ausformung. Sich auf die Enneaden Plotins berufend (Lib. IV, Kap. 3 und Buch XI, Kap. 4, 30–42), macht sich Ficino in seinem einschlägigen Traktat De vita coelitus comparanda für die astrale Magie stark.65 Das göttliche Wesen teile sich den kleineren Einheiten in der Natur mit, die als Spiegel das Ganze wiederum reflektierten. Dieser Ansatz einer Monadenlehre wird auf das Geistige und die Materie übertragen. Die astrale Magie versuche, diesem göttlichen Einfluss in der sinnlich zugänglichen Welt nachzugehen und auf seinen Ursprung zurückzuführen. Die Kunst bzw. der Künstler, „Affe der Natur“ (ars simia naturae), ahme in seinem Tun die Wirkungsmechanismen im Universum nach und gewinne dadurch Macht über den Einfluss der Sterne. Der göttliche Intellekt bekunde sich in dem „brennenden Logos“, der Sonne, die als belebende Kraft die sublunare Welt mit ihrer Wärme und ihren Strahlen durchdringe. In dem Traktat De sole spricht Ficino von dem „Trinken des Geistes der Sonne“ und vom Menschen als einem Weisen, einem Magus, der eine halb göttliche Rolle im „Gebrauch der Bilder“ einnehme. Der Magus sei imstande, zu jenen sympathetischen Kräften, die alle Dinge zusammenhalten, vorzudringen.66 In Dürers „Apokalypse“ sehen wir, dem Text in der Offenbarung (10, 9–10) entsprechend, aber auch mit der neuplatonischen Auffassung konform, wie der Evangelist das „kleine Buch“ vom „starken Engel“ entgegennimmt und es verschlingt (vgl. Abb. 31). Ficinos Ansichten wurden von vielen Zeitgenossen geteilt, die sich der okkulten Praxis und der Astrologie gewidmet hatten  : der allgegenwärtige Agrippa von Nettesheim, 1506 der Geheimgesellschaft Voarchodumia in Paris beigetreten, Paracelsus mit seinem Traktat De vita longa, Fra Cattani da Diacceto mit seinem Hymnus auf die Sonne, De pulchro, und viele mehr. Zwei Werke antiker Provenienz haben nachhaltig zur Naturmystik und der Magie der Zeit beigetragen  : das spätan-

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tike Corpus Hermeticum und das mittelalterliche Handbuch für Magie, der Picatrix. In dem Schöpfungsbericht des Ersteren, dem Pimander (von Ficino 1463 aus dem Griechischen übertragen), lesen wir, dass der Mensch als Schöpfer und Herrscher der niederen Welten zu begreifen sei. Sein Gesicht werde in der Natur, der Mutter aller Dinge, reflektiert.67 Der göttliche Mensch sei mit einem göttlichen Intellekt ausgestattet, der sich auch in der göttlich durchwalteten Natur widerspiegele. Als Magus stünde der Mensch mit Jupiter und der Sonne in unmittelbarer Verbindung. Im Picatrix heißt es, dass der Mensch selbst ein Mikrokosmos sei und ein Bild des Kosmos abgebe. Durch seinen Intellekt sei er in der Lage, sich über die sieben Himmel zu erheben.68 Etwas später als die Drei Philosophen erschien in Paris 1509/10 ein Traktat von Carolus Bovillus, einem Schüler von Lefèvre d’Étaples, in dem die Ordnung der Welt und die Stellung des Menschen exemplarisch dargelegt werden  ; seine neuplatonischen Spekulationen werden zusätzlich durch geometrische Zeichnungen und Figuren verdeutlicht. In der 1510 verfassten Schrift Liber de intellectu, in der Nürnberger Ausgabe von 1514 enthalten, sehen wir den Menschen als Herrscher der sublunaren Welt  : Mit seinem Gehirn ist er mit dem Kosmos, mit seinem Fixsternhimmel und den Planeten verbunden, mit seinem Körper ansonsten der vegetativen und animalischen Natur (Abb. 11a). Im Kap. 8 von De intellectu (1510) ist davon die Rede, wie die sinnlichen species sich im Bewusstsein zu geistigen verwandeln und der Mensch somit zu einem Schöpfer der geistigen Welt wird. Darüber hinaus dient die Vernunft als ein Spiegel der Welt und auch des eigenen Ichs. Die Vernunft wird demnach als eine „ebenbürtige Tochter der Natur“ bezeichnet, ist sie doch selbst eine „zweite“, kreative Natur (vgl. De sapiente, Kap. 5).69 Die Ideen der göttlichen Intelligenz werden in der Weltseele gespiegelt und auf die Formen und Bilder der sichtbaren Welt übertragen, ein Vorgang, der in der bekannten hermetischen Schrift des Asclepius erläutert wird.70 Dementsprechend erkennt der Intellekt des Menschen die in die Natur hineingegebenen Prinzipien, die auch ihm selbst, seiner eigenen Natur zugrunde liegen. Es ist also keine Frage, dass diese Inhalte auf den Betrachter des Gemäldes selbst übertragen werden und als konstitutive Teile in seiner Erlebniszeit fortwirken. Ficino hat in seinen synkretistischen Bemühungen versucht, die „gute“ natürliche Magie und die okkulten Fähigkeiten des Menschen mit der Religion in Einklang zu bringen, so auch Pico della Mirandola, der allerdings von der astrologischen Praxis Abstand nahm. Der Neoplatonismusist darf, wie aus den Schriften des Bovillus und vieler anderer ersichtlich ,als eine europäische

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Strömung bezeichnet werden, an dem Humanisten in Venedig, Paris, Nürnberg und andernorts gleichermaßen Teil hatten. Was die Magie in Venedig betrifft sei insbesondere auf die Bemühungen Augurellis und Trevisanos, auf dem Wege der Alchimie den „Stein der Weisen“ zu finden und Gold herzustellen verwiesen. Astrologie und Alchimie sind zwei Seiten derselben Medaille, die eine dem Himmel, die andere der Erde zugewandt. Von Giorgione wissen wir, dass er in Kreisen verkehrte, die mit diesen Strömungen bestens vertraut waren und ihre naturwissenschaftliche Bildung in der Rialtoschule erworben hatten. Der direkte Beleg für die Einflussnahme der Neuplatoniker auf die Ikonografie der Drei Philosophen ist 1969 Edgar Wind gelungen, der auf die Conclusiones von Pico della Mirandola mit Bezug auf die Chaldäischen Orakelsprüche verwiesen hat. In der 8. Conclusio (Opera, S. 104) ist von der „dreifachen Behausung der Menschenseele“ die Rede – triplex animae habitaculum, caeleste, spirituale et terrenum.71 Bildhaft umgesetzt erscheint das Himmlische in Gestalt eines ägyptischen Priesters, dessen Kopftuch aus „Leinen“ bestehe (an der Bekanntheit des Urpriesters Hermes Trismegistos, der am Eingang des Domes zu Siena einen prominenten Platz in der Bodeninkrustation einnimmt, ist nicht zu zweifeln). Als Repräsentant des Geistigen dient der „persische Weise“, eben der Magus, der durch einen Turban ausgewiesen ist. Die irdische Behausung der Menschenseele schließlich wird durch den „griechischen Geometer“ vertreten, der eine Pelzmütze (ex pellibus) trägt. Wenn man nun, wie Wind, das Röntgenbild unseres Gemäldes in Rechnung zieht, besteht kein Zweifel darüber, dass der ursprüngliche Entwurf, aber auch der jetzige Zustand dieser ungewöhnlichen Beschreibung Picos sehr nahe kommt. Der alte ­Philosoph trägt eine Kopfbedeckung ex lino, der Araber naturgemäß einen Turban. Der sitzende Geometer trug ursprünglich eine Pelzmütze. Wie so oft bei Giorgione wurde das ikonografische Programm im Laufe der Ausführung abgeändert – einiges wurde verdeutlicht, die Pelzmütze aber entfernt, womöglich um die niedere Stufe der Seele und den jugendlichen Charakter des Protagonisten stärker hervorzukehren. Die Diskussion über die Stellung des Menschen im Universum und die schichtenförmige Struktur der Seele, die schon in Ficinos De triplici vita zum Ausdruck gelangte, um dann in den Gemälden Der Traum des Scipio und den Drei Grazien von Raffael brillant umgesetzt zu werden,72 wurde zu dieser Zeit breit geführt. Zur Untermauerung dieser Behauptung möchte ich erneut die Aufmerksamkeit auf Carolus Bovillus lenken. In einer Illustration zu De intellectu (1510) in der Nürnberger Ausgabe von 1514 (fol. 2v) sehen wir, wie Gott sich als divina lux dem Engel (intellectus ange-

licus sive specie purus & immixtus ut sol) und dem Menschen (humanus intellectus mixtus & specie affectus ut luna) mitteilt (Abb. 11b). Der Engel ist also der Sonne, der Mensch dem Mond zugeordnet. Unterhalb derselben erscheinen die vier Stufen der irdischen Welt  : materia, mineralia, viventia, sensibilia.73 Die zeitliche Nähe zu dem Gemälde Giorgiones spricht für die Tatsache, dass diese Spekulationen die Zeit tief bewegt haben und die Themenwahl nicht nur auf den ausgefallenen Wunsch eines Freundes von Giorgione zurückzuführen ist.

Astrologie Der inhaltliche Zeitaspekt, der sich direkt in den Attributen, den astronomischen Messgeräten und Skizzen niedergeschlagen hat, wurde bereits im Zusammenhang mit Holbeins Doppelporträt „Die Gesandten“ zur Genüge erörtert. Die astronomischen Berechnungen der Zeit dienten nicht zuletzt dazu, das Leben der Menschen mit den Planeten in Beziehung zu setzen, um sich so auf dem beschriebenen Wege der „natürlichen Magie“ die Kräfte des Kosmos zunutze zu machen und Horoskope zu erstellen. In seinem Traktat De pulchro spricht Fra Cattani da Diacceto, ein Schüler Ficinos, von der Schönheit der Sonne, den „solaren Kleidern“, die von den Adepten getragen werden, und von den Beobachtungen des Sonnenaufganges.74 Ein ähnlicher Sonnenhymnus findet sich in dem spätantiken Traktat des Jamblichus Vita Pythagorae, in dem der Mensch als GeistSeele mithilfe von astronomischen Beobachtungen, Musik und Talismanen sich der Sonne zuwendet. Was liegt näher, als in dem gelbroten Gewand des Priesters (oder Philosophen) und dem vollroten Mantel des Arabers die „solaren Kleider“ der Eingeweihten und Weisen zu erkennen  ? Um nun auf die eher nüchternen Fakten der reinen Astronomie zu kommen, kann festgestellt werden, dass in den Jahren 1476–1507 nicht weniger als elf bedeutende mathematische und astronomische Handbücher in Venedig erschienen sind – darunter Regiomontanus’ Kalender (1476), Pomponio Melas Kosmographie (1478), Albubathers Sphaera mundi, Aristoteles’ Werke (1495–1498), Regiomontanus’ Epytoma und Ptolemaios’ Almagest (beide 1496), Albumasars Astronomische Traktate (1506) und Ramon Lulls Schriften (1507). Rachel Wischnitzer hat den „Araber“ in Giorgiones Gemälde mit dem Titelblatt von Regiomontanus’ Epitoma (1496) in Verbindung gebracht, wo der Astronom mit der Hand am Knoten seines Gurtes in ähnlicher Weise dargestellt ist – nach ihr ein Verweis auf den bedeutsamen Status

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des gelehrten Magus, der als Mensch zwischen Himmel und Erde nach dem berühmten Diktum aus Pico della Mirandolas De hominis dignitate von 1486 als homo nodus et copula mundi apostrophiert wird.75 Wenig Berücksichtigung fand bisher das vom antiken Philosophen ostentativ gehaltene Blatt mit den Zeichen für Sonne, Mond und Planeten sowie angedeuteten Winkelmessungen. In Ficinos De vita coelitus comparanda ist von den vier Altern des Mondes die Rede (quatuor aetatis lunae). Im ersten Viertel ist er „jugendlich“, danach erreicht er die volle Kraft seiner Männlichkeit, im dritten befindet er sich in der Übergangsphase von Mannbarkeit und Alter und im vierten schließlich im Greisenalter. Die stärkste Wirkung des Mondes kommt nach Picatrix in der Konjunktion mit der Sonne zum Tragen  ; sie entspreche den Tugenden im Körper, die vom Mond sichtbar gemacht werden. Die Sonne sei es, die im Zentrum des astralen Lebens stehe, nach Francesco Giorgi „das Herz des Himmels“, so wie der Mensch auf Erden als „solar“ bezeichnet werde (De harmonia mundi totius, Venedig 1525). Die Sonne sei in der Tat als ein „zweiter Gott“ anzusehen. In der venezianischen Grafik der Zeit finden sich etliche Blätter, etwa von Giulio Campagnola, die den Astrologen in einer Landschaft mit Zirkel und einer Tafel von Sonnen-, Mond- und Planetenkonstellationen darstellen, welche die schicksalhafte Konstellation der Planeten zeigen (Abb. 12). (Desgleichen sind die astronomischen Instrumente auch Bestandteil des Freskenfrieses Giorgiones in der Casa Pellizzari zu Castelfranco.) Wenn man die Illustrationen zu den Ephemeriden des Regiomontanus von 1505 oder dem Almagest des Ptolemaios von 1496 betrachtet, erscheint die Nähe zu den Zeichnungen auf der Schriftrolle des „alten Astronomen“ in Giorgiones Gemälde offensichtlich. So wird die Lage von Sonne und Mond in Bezug auf die Erde im Almagest (Lib. V, Prop. 23) beschrieben  : Ex data solis aut lune a centro a terra distantia  : elongatione eius a polo horizontis  ; diversitatem aspectus in circulo altitudines investigare.76 Die fundamentale Rolle des Astronomen als eines Mittlers zwischen dem Himmlischen und dem Irdischen wird in einem dramatischen Holzschnitt von Cecco d’Ascoli 1524 sinnfällig, in dem der Gelehrte seinen Zirkel gegen den gestirnten Himmel streckt und auf den Mond zeigt. Nach dem Diktum von Paracelsus ist der Naturphilosophie und der Elementenlehre der Zeit gemäß das, „was oben ist, auch unten“  ; mit den Planeten stehen die Elemente der Natur sowie die Beschaffenheit aller Lebewesen in engster Beziehung. So dürfen wir den Dritten im Bunde der Drei Philosophen, den „Geometer“ oder Naturwissenschaftler, der versucht, messend in die Geheimnisse der Erde einzudrin-

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gen, als einen Vertreter der neueren Naturwissenschaft sehen. Wischnitzer hat ihn als Regiomontanus identifiziert, der mittels genauer Beobachtungen die kosmischen Geschehnisse bis 1505 in tabellarischen Tafeln vorausbestimmt hatte. Ob diese Identifikation zutrifft, wird man nie wissen  ; gewiss ist aber, dass die Kunst des Astronomen und Astrologen mit jener des Alchimisten und Naturforschers in der Renaissance sich deckte. So heißt es in Paracelsus’ Geheimnissen  : „Und wiewohl da die Namen [der Elemente] verschieden sind, ist es doch eine Kunst und Wissenschaft, die diese Dinge erkennt. Das ist scientia, denn eins ist in allen.“77 Der Maler konnte sich getrost dieser Meinung anschließen, zumal er selbst als Magus, Mittler der Natur und Schöpfer einer Welt, apostrophiert wurde und mit Alberti und Leonardo den Anspruch erheben konnte, Wissenschaftler zu sein. Das Gemälde „Die drei Philosophen“ spiegelt eine kulturhistorische Situation wider, in der das Verhältnis des Menschen zur Natur zum Ausdruck gelangte. Als „Kunstwerk“ betrachtet darf es zugleich im Sinne Conrad Fiedlers als eine „neue Produktion von Wirklichkeit“ bezeichnet werden, in deren Geheimnis einzudringen der Betrachter bemüht ist wie sein alter ego, der junge Geometer vor dem Felsen „finto cusì mirabilmente“. Wie der Wissenschaftler oder Philosoph im Bild von den Kräften der Natur affiziert wird, so geschieht dies auch mit dem Betrachter des Gemäldes selbst. Sinnbildhaft, aber auch unmittelbar sein Innerstes berührend, steht ihm die Gestalt des Geometers repräsentativ für geistige Mühewaltung überhaupt vor Augen  : visita interiora terrae  ; rectificando invenies occultam lapidem.78 Es ist durchaus möglich, dass man auch diesem Werk positiv wirkende Kräfte zugeschrieben hat wie etwa im Fall von Botticellis mythologischen Allegorien (vgl. Bild/Zeit, II, 2004, S. 228 f.). Der vielschichtige Inhalt und die suggestiven Figuren dürften ihre Wirkung auf den damaligen Betrachter nicht verfehlt haben. Die Traditionsstränge der Naturbeobachtung und der natürlichen Magie gelangten in der zeitgenössischen Naturphilosophie und Astrologie zu einer Synthese und die Bündelung der Naturkräfte wird auf dem Weg der ästhetischen Schau des Bildes analog vermittelt. Der poetischen Allegorie dürfte eine Bedeutung zugemessen worden sein, die unsere heutige Vorstellung bei Weitem übersteigt, nahm doch auch sie unmittelbaren Einfluss auf die Existenz, die Gegenwart bzw. die Zukunft des Betrachters.

Das Concert champêtre In seinem Dialogo della pittura von 1557 sagt Lodovico Dolce, dass derjenige Künstler, der die Natur übertreffen

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13 Giorgione, Concert champêtre, ca. 1508/09. Louvre, Paris (Farbtafel IV).

will, ein fehlerloses antikes Stück, gleichsam idealer Natur, als Vorbild nehmen müsse.79 Diese klassizistische Einstellung erhielt jedoch in der venezianischen Malerei ein gesundes Gegengewicht durch die Hinwendung zur sinnlichen Schönheit der realen Welt – das Ideal der antiken belle nature sei in der Wirklichkeit selbst zu finden und umzusetzen. Die aktive Rolle des Renaissancekünstlers, ja sein Vermögen, gleich einer „zweiten Natur“ diese Idealgebilde aus sich heraus zu schaffen, entspricht der späteren klassizistischen Ästhetik. Schon um 1500 scheint dieses Selbstbewusstsein bei den bildenden Künstlern (im Wettstreit mit den Schriftstellern und untereinander) bereits ausgeprägt gewesen zu sein.80 Hinsichtlich der Landschaftsdarstellung stand es dem Maler frei, dem in der antiken Literatur und der zeitgenössischen Pastorale besungenen Ideal in seiner Fantasie nachzugehen, d. h. eine ideale Szene zu entwerfen, welche über die Erscheinung und Mängel der sichtbaren Natur hinausging. Dies ist nun in dem Concert champêtre von um 1508/09, heute im Louvre, geschehen, in dem die poetische Allegorie eine monumentale Steigerung erfährt (Abb. 13). Die Land-

schaft ist im angeführten Sinn nicht nur als angemessener Rahmen der musizierenden Gesellschaft zu verstehen, sondern bildet mit ihren ausgewogenen Formen ein Gegenstück zu den Figuren. Infolge der Schließung der Bildfläche, einer bewussten Betonung der Flächenhaftigkeit des Kompositionsgefüges, erwächst eine „Impraktikabilität“ des Bildraumes.81 Auf diese ideale Ordnung sind letzten Endes die formalen und inhaltlichen Bezüge zwischen Figur und Landschaft zurückzuführen  ; Letztere steht unverrückbar und unbetretbar dem Betrachter wie ein schöner Traum vor Augen. Die kontemplative Stimmung und der lyrische Grundton sprechen für die Autorschaft Giorgiones – wer sonst in Venedig hätte um 1508 ein derartiges Meisterwerk schaffen können  ? Wohl kaum der junge Tizian, der in seiner sieben Jahre späteren Himmlischen und irdischen Liebe keinen Anlass gehabt hätte, sich so eng an die Bildprägung des Concert champêtre zu halten und doch grundsätzlich so anders zu verfahren (man vergleiche z. B. die Analyse von Hetzer und seine Herausstellung des „Ornamentalen“). Es ist, wie della

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Pergola sagt, ein eigentümliches Geschick des Malers, wenn man ihm dieses Werk aberkennt, um im nächsten Augenblick dessen „giorgionesken Charakter“ besonders zu betonen. Dass die Änderungen an Kopf, Arm und Beinen der stehenden Figur und im Laubwerk der Bäume später von Tizian vorgenommen wurden, darf ebenfalls bezweifelt werden.82 Auf dem Rasenstück im Vordergrund befinden sich vier Personen  : die stehende nackte Frau am Brunnen links, die Wasser mit einem Glaskrug womöglich nicht schöpft, sondern in das Becken gießt  ; ihr Gegenstück, eine nackte Frau mit Flöte, sitzt rechts  ; und zwischen den beiden befinden sich der Lautenspieler und ein Begleiter. Ein dicker Baumstamm festigt die Komposition links  ; schräg hinter der sitzenden Gruppe wird die Raumtiefe durch einen Hügel mit mächtigen Bäumen begrenzt, während links davon sich ein Ausblick über eine weite Ebene mit einer entfernten Bergkette auftut. Die drei spielenden oder lauschenden Figuren bilden eine Einheit. Sie lassen sich in einen (für Giorgione charakteristischen) liegenden Halbkreis einschreiben. Etwas abseits von den Sitzenden erscheint die stehende Frau am Brunnenbecken, deren Grundform einem Kreissegment entspricht, welches den liegenden Halbkreis tangiert. Ursprünglich war sie durch Kopfhaltung und den ausgestreckten linken Arm mit der Gruppe der Sitzenden stärker verbunden. Die langsame, retardierende Bewegung ihres linken Armes kommt formal durch die Überschneidung des Stützarmes zum Ausdruck  ; verhaltene Bewegungen, Lauschen, der in sich ruhende Moment  : Das ist die Stimmung, die diese Szene beherrscht. Die Tiefe im Gemälde entsteht in erster Linie über die Farbe – die tonal stärksten nackten Frauenkörper treten im Vordergrund aus dem grünen Grund der Landschaft hervor. Formal wird ein „Massenausgleich im Raume“, eine kunstvolle Balance zwischen der sitzenden Figurengruppe und der Baumkrone erstrebt.83 Die formale Integration von Figuren und Landschaft erfolgt auf einer Ebene im Bildraum. Es ist bezeichnend, dass die stärkste Tiefenbewegung des Bildes durch die diagonalen Trapezschenkel von den Figuren zur Baumgruppe von links nach rechts verläuft und so ein Tiefensturz in die offene Landschaft links unterbunden wird. Diese Diagonalbewegung greift zwar einem Kompositionsprinzip vor, das von Tizian mit Vorliebe angewandt werden sollte, es lässt aber nicht den Schluss Klauners zu, die Baumgruppe stamme von ihm. Dazu ist die Komposition der Figuren allzu fein auf sie abgestimmt. Die Bedeutung des Kolorits – der farbige Einklang und die gegenseitige Steigerung der Farben in den Figuren und der Landschaft – wurde bereits von Gramm als vorbildlich betont. 84 Wie zwei Ge-

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wichte stehen die beiden Frauenkörper mit ihrer subtilen Karnation einander gegenüber. Sie flankieren die beiden anderen Figuren und schenken der Szene jene unbefangene Sinnlichkeit, die dem pastoralen Bild mit der Gesellschaft am Hofe Caterina Cornaros in so hohem Grade fehlt (vgl. S. 52 und Abb. 6). Der rote Mantel und die Kapuze des Lautenspielers erhöhen das volle Grün des Rasens und der Baumkronen im Mittelgrund, werden aber in das dumpfere Braun des Genossen abgeleitet, der sowohl farbig wie durch das erstaunliche sfumato eine Überleitung zu den helleren bräunlichen Tönen im Mittelgrund gewährleistet. Die tonale Abstufung des Ausblicks im Hintergrund links mit seinem Blaugrün und das flächenhafte gelbliche Wolkenband sind hell genug, um im Wechselspiel mit dem Zwischengrund einen weiträumigen Eindruck hervorzurufen, zugleich aber in ihrer Dichte und Abtönung so verhalten, dass die farbige Intensität der Vordergrundfiguren nicht gestört wird. Farbige Fülle und ruhiger Wohlklang in der ausgewogenen Flächenordnung sind die künstlerischen Mittel, durch welche der Maler seiner Vorstellung des menschlichen Daseins Ausdruck verliehen hat. In dem schönen Rahmen der pastoralen Landschaft haben sich die Menschen zusammengefunden, um im Einklang des Sinnlichen und des Geistigen dem Dasein in seiner idealen Bestimmung und seinem tieferen poetischen Gehalt nachzugehen. Diese Deutung lässt sich mit der ikonografischen Analyse in Einklang bringen.

Musik um 1500 Das musikalische Element ist seit jeher“ als ein wesentlicher Träger des Inhalts und der lyrischen Stimmung im Concert champêtre verstanden worden. Bei Boethius war schon in spätantiker Zeit die Musiktheorie auf Grund ihrer mathematischen Grundordnung nach Maß, Zahl und Proportion dem quadrivium zugeordnet worden, während die Praxis in Form der Vokal- oder Instrumentalmusik unter den artes mechanicae rangierte.85 Diese Einteilung behielt auch für die Renaissance ihre Gültigkeit, wiewohl die Musik vielleicht fast entschiedener als die anderen Kunstgattungen seit dem 14. Jahrhundert als eine eigenständige Kunstart ausgeübt wurde  : „ars nova is the first full manifestation of pure musical art, freed from the service of religion or poetry and constructed according to its own laws  : and as the first of the Avignon Popes, John XXII, bitterly complained in his Bull ‚Docta Sanctorum‘, words were now treated as mere pretexts for music.“86 Mit der Auflösung der feudalen Gesellschafts-

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ordnung wurde auch der mit den Höfen verbundenen Musik zum Teil der Boden entzogen. In den reichen Handelsstädten wie Florenz und Venedig erwuchs ein Schatz volkstümlicher Gesänge und gegen Ende des Quattrocento scheinen sich auch die Humanisten der Abfassung von Texten für diese sog. chansons und frottole zugewandt zu haben. Nach Reese hatte das Frottole einen warmen, melodischen Klang und entstammte der Volksmusik. In enger Verbindung mit dem Text sollte ein kleines „Gesamtkunstwerk“ geschaffen werden.87 Dieses Genre wurde daraufhin von Isabella d’Este an ihrem Hof gefördert — Dichter und Musiker sollten darin ein italienisches Gegenstück zum französisch-flämischen chanson schaffen. Zwei italienische Komponisten, Marchetto Cara und Bartolomeo Tromboncino, waren als Hofmusiker in Mantua tätig und trugen dazu bei, diese neue Musikform zu verbreiten. So wurde die frottola besonders von den kultivierten Kreisen in Mantua, Florenz, Ferrara und Venedig gepflegt und es ist nicht verwunderlich, dass der große Vorkämpfer des volgare und des geschliffenen literarischen Stils, Pietro Bembo, der ja überdies als Vermittler zwischen Mantua und Venedig diente, gerade in dieser Hinsicht von Einstein hervorgehoben worden ist88  : „There can be little doubt that he influenced poets and musicians alike, by word and example, to create works of a higher order, leading in the direction of the madrigal.“89 So war diese Musikform gerade zu Lebzeiten Giorgiones in jenen vornehmen Kreisen Mode, in denen er als Maler und Lautenspieler tätig war  – denn, wie Vasari berichtet, er pflegte seine Freunde mit Musik zu unterhalten.90 1504–1514 wurden in Venedig Teile der großen Frottola-Sammlung Ottaviano de’ Petruccis herausgegeben. In dem 1507 erschienenen Band war der literarische Charakter der Texte gehoben  ; die Musiker bemühten sich, eine Entsprechung zu den Texten der Oden, Sonette und Canzonen Bembos, Polizianos und Petrarcas zu schaffen. Neben Petruccis Sammlung wären auch Andrea Anticos Canzoni nove von 1510 zu nennen. Die Stücke wurden von den Musikern frei verwandt und transponiert. Zwischen dem Sopran und dem Bass dienten Alt und Tenor hauptsächlich als harmonische Stützen, weniger im Sinne des Kontrapunkts. Oft erfolgte die Begleitung instrumental  : „A common method of performance was with solo voice and lute, in which the alto part might be simply omitted and the tenor and bass intabulated (i. e. notated) for the lute. The fact that both Tromboncino and Cara were famous for singing to the lute, points to the popularity of this kind of performance.“91 Vor dem harmonischen Grund der Begleitung hob sich die gesungene Melodie in klarer, rhythmischer Weise ab – ihr zugeordnet wurden die Einsätze und Pausen der Nebenstim-

men. Vornehmstes Solisteninstrument war die Laute  ; der Flöte wurde nach antiker Gepflogenheit eher ein rustikaler Charakter zugeschrieben. Ich glaube, wir dürfen getrost in dem Concert champêtre eine Widerspiegelung der musikalischen Praxis zur Zeit Giorgiones und seiner Zeitgenossen sehen. Die Texte, die sich an der elegisch-arkadischen Poesie der zeitgenössischen Dichter orientierten, weisen meist einen erotisch-sentimentalen Charakter auf  ; es wäre vielleicht der Mühe wert, die Ikonografie von Giorgiones Gemälde mit den Texten in Petruccis Sammlung, die dem Maler vertraut gewesen sein dürften, zu vergleichen. Dem vollen Akkord nachsinnend oder in Erwartung des gemeinsamen Einsatzes schließen sich die sitzenden Figuren zu einer körperlich-geistigen Einheit zusammen. In den Akademien und den esoterischen Gesellschaften spielte die Musik ebenfalls eine wichtige Rolle, „selbst eine gewisse erotische Freiheit in den fêtes champêtres der Mitglieder ward durch die höhere Wollust der Musik veredelt“92. So wie die dargestellten Figuren von der Musik affiziert werden, ergeht es dem Betrachter des Gemäldes selbst, der im kontemplativen Nachvollzug des Gesehenen auch die Wirkung der Musik quasi am eigenen Leib zu spüren vermeint.

Peitho und Poesia Der gattungstheoretische Aspekt der Musik wird in einem Artikel von Patricia Egan berührt  : Wasserkrug und Flöte tauchen in den sog. Tarocchi di Mantegna um 1468 als Attribute der Poesia auf (Abb. 14).93 Efeuteppich und Lorbeerkranz deuten darauf hin, dass verschiedene Stilarten in dieser Spielkarte repräsentiert werden. Desgleichen hatte Cosmè Tura im benachbarten Mirandola 1465–1467 eine inzwischen verloren gegangene allegorische Darstellung der „Dichtkunst“ in Fresko ausgeführt. Lorbeer, Efeu und Myrten wiesen auf den heroischen, lyrischen und epischen Stil hin  ; sie lagen offensichtlich zu Füßen der „Poesia“, die auf einem Triumphwagen saß. Um den Wagen tanzten die Musen um Apoll, und Peitho, die Göttin der Überredungskunst, reichte einigen Singenden Wasser aus der Quelle der Grazien. Giraldi, der das Fresko ausführlich um 1503 kommentiert hat, sagt  : Pitho dea haustum liquidissimum quemdam liquorem ex Orchomenio Gratiarum fonte nonnullis canentibus propinabat.94 Gleich im Anschluss an die Erörterung der Figur Peithos folgt bei Giraldi eine Lobrede auf die Musik als eine mit der dichterischen Inspiration und der Überredungskunst verwandte Kunst, die eine magische Kraft besitze (musicae mira vis), die Geist und Körper des

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14 Poesia. Tarocchi di Mantegna, ca. 1468.

Menschen unmittelbar beeinflusse. Sowohl die Dichtung als auch die Musik weckten auch die Erinnerung, die auf jene Tradition und Wahrheit ausgerichtet sei, die dem göttlich inspirierten Dichter und dem Bewusstsein des Musikers in Form der platonisch-präexistenten Regeln der Musik eingegeben seien. In der erwähnten Spielkarte scheinen die beiden Gestalten Peitho und Poesia zu einer Figur verschmolzen worden zu sein. Die Poesia wurde mit dem Attribut der Peitho, dem Wasserkrug, versehen. Die stehende Figur in ihrer ursprünglichen Fassung – den sitzenden Figuren zugewandt und ihnen das Wasser aus der Quelle der Grazien reichend – dürfte Peitho repräsentiert haben. Die sitzende Figur mit der Flöte

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ist als ihr Gegenstück, als Muse der musikalischen Inspiration zu verstehen und formal der Dreiergruppe zugeordnet. Laute, Flöte und Singstimme entsprechen der musikalischen Einteilung in Augustins De ordine (II, 14)  : rhytmica, organica, harmonica. Von Egan und Klein werden die Figuren im Sinne von drei Stilarten in der Dichtung als heroisch – ländlich – erotisch interpretiert. Egan hat besonders den Gegensatz des Städtischen und Ländlichen hervorgehoben95 – ein humanistisches Thema, das nach Trinkaus aber nicht überbetont werden darf.96 Fraglich scheint mir Fehls Behauptung, die beiden Musiker seien den beiden Musen nur gegenübergestellt und sich ihrer nicht bewusst  ; ihre Nacktheit kann aber zugleich auch als eine zeitgemäße ideale Überhöhung gesehen werden. Ohne der Komposition Gewalt anzutun, ist festzuhalten  : Die sitzende Frau mit der Flöte kann als Muse der „musikalischen Inspiration“ interpretiert werden. Man hat auf eine Weinranke hinter ihr aufmerksam gemacht, die zusammen mit der Flöte auf eine lyrisch-bukolische Stilgattung in Musik und Literatur schließen lässt. Dies entspricht der Charakteristik der frottola und der pastoralen Landschaft im Gemälde. Die Laute war „the vehicle for the most cultivated form of solo music“97. So dürfen wir den Lautenspieler als einen Solosänger verstehen, der womöglich eine frottola vorführt – jene literarisch-musikalische Form, die durch die Flöte als mittlere Stilgattung charakterisiert wird. (Dass diese Musikform zudem Improvisation [d. h. Inspiration] verlangte, lässt die Frau noch stärker in ihrer idealen Rolle als Muse hervortreten.) Peitho links ist durch die Veränderung von Kopf und Arm verunklärt worden, was Klein zu der Annahme geführt hat, wir hätten in ihr das Eingreifen Tizians zu vermuten.98 Wie M. Hours jedoch gezeigt hat, wurden die Änderungen auf noch nasser Farbe durchgeführt  ; dies sei aus den Krakelüren ersichtlich.99 Es scheint unwahrscheinlich, wie Castelfranco und Klein glaubhaft machen wollen, dass Tizian noch zu Lebzeiten Giorgiones das Gemälde umgemalt hat – wird doch gerade die improvisierte Vorgehensweise des Letzteren von Vasari bezeugt. Es war nicht das erste Mal, dass Gior­ gione den Inhalt eines Bildes im Laufe der Ausführung veränderte.

Akustik – Synästhesie Wenn wir die stehende Peitho betrachten, sehen wir, dass sie eine entscheidende Änderung erfahren hat, welche weder von Egan noch von Klein angesprochen wird  : Sie schöpft m. E. nicht Wasser aus dem Quell, sondern lässt es in einem

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Strahl aus der gefüllten Glaskanne in das Becken laufen. Dies ist in der Tat auch auf der Spielkarte der Fall, die womöglich auch auf die mittelalterliche Sonori-fontes-Tradition zurückgreift, nach der die Botschaft der inspirierten Evangelisten in Form der vier Paradiesflüsse über die Erde verbreitet wird. Hier sei auch auf die antiken Flussgötter mit ihren Krügen verwiesen. In Giorgiones Gemälde sind die drei Sitzenden als gespannt Lauschende charakterisiert  ; die einzige verhaltene Bewegung besteht in dem Ausgießen des Wassers in das Brunnenbecken. Von einer zielgerichteten Handlung kann sonst nicht die Rede sein. Wir haben es vielmehr mit einer attributiven Handlung zu tun, wie sie eben zur Charakteristik allegorischer Figuren dient. Die Spielkarte der Poesia mag hier eingewirkt haben. Alle Aufmerksamkeit der Protagonisten scheint auf das akustische Phänomen eines verhallenden Tons gerichtet zu sein – sei es auf den Nachhall der schwingenden Saiten, sei es auf den Laut des Wasserstrahls, der das akustische Phänomen verursacht. Giraldi hat die Einwirkung des Akustischen auf den Körper und die Seele des Menschen hervorgehoben.100 Hierbei konnte er auf einen Passus im dritten Buch von Ficinos De vita triplici, De vita coelitus comparanda, zurückgreifen  : „Nur der Laut hat Bewegung. Bewegung und Handlung haben dieselbe moralische Natur und sind Ausdruck dafür.“101 Die Bedeutung des Gesangs liegt in seiner imitativen Natur  : „Remember that song is the most powerful imitatior of all things. For it imitates the intentions and affections of the soul. … Musically moved air is alive, like a disembodied human spirit, and therefore naturally has the most powerful effect possible on the hearer’s spirit.“102 (Zur ethischen Wirkung der Musik vgl. S. 271 ff.) Der Gesang ist im aristotelischen Sinne als eine imitatio des Menschen in seiner moralischen Beschaffenheit zu verstehen. Der Laut selbst wird in der Haltung und Tätigkeit der stehenden Nymphe, der Peitho-Poesia, sinnfällig. Zu dieser Darstellung der akustischen Wirkung tritt die Sichtbarmachung des Zieles hinzu – war doch der Imitatio-Akt in der Poetikà des Aristoteles auf die Darstellung des Menschen in seiner idealen Bestimmung gerichtet  : Das Bewusstsein des Betrachters eines Dramas oder eines Kunstwerks sollte auf eine höhere, ideale Daseinsform ausgerichtet sein. 1498 war Vallas lateinische Übersetzung der Poetikà in Venedig erschienen. Ihre Einwirkung auf Giorgiones Gemälde wurde von Egan hinsichtlich der Stilgattungen angesprochen  ; womöglich wichtiger ist die angesprochene moralische Funktion der Kunst als Wegweiserin einer idealen Daseinsform. Als das schwierigste und zugleich beste Mittel der künstlerischen Überredungskunst (Peitho  !) gilt nach Aristoteles die

Metapher. Damit werden wir angesichts des Concert champêtre zwangsläufig vor das Problem der Synästhesie gestellt.103 Zum Thema der Musik heißt es bei Pater  : „… music at the pool-side while people fish, or mingled with the sound of the pitcher in the well, or heard across running water, or among the flocks  ; the tuning of instruments  ; people with intent faces, as if listening, like those described by Plato in an ingenious passage of the ‚Republic‘, to detect the smallest interval of musical sound, the smallest undulation in the air, or ear and finger refining themselves infinitely, in the appetite for sweet sound  ; a momentary touch of an instrument in the twilight …“104 Pater hat in seiner Beschreibung eine für seine Zeit typische sprachlich-metaphorische Beschreibung der Stimmung in Giorgiones Gemälde geliefert. Sie darf deshalb als kongenial verstanden werden, weil offensichtlich auch zur Zeit Giorgiones dem Phänomen der Synästhesie eine wesentliche Bedeutung zugemessen wurde. Pater kommt auf intuitivem Weg der Musiktheorie Ficinos erstaunlich nahe. Die Synästhesie, d. h. der analoge Zusammenhang zwischen Dichtkunst, Musik und Malerei, ist von Bonicatti als ein wichtiger Bestandteil der humanistischen Kunsttheorie der Zeit besprochen worden.105 Die Umgestaltung des seelischen Erlebnisses der Welt wird nicht nur auf dem Wege der Form und der Farbe im Bild, sondern auch auf dem des Inhalts erzielt – oder besser  : durch die vage Umschreibung desselben erstrebt. Gerade die Abwesenheit einer klar ausgesprochenen istoria enthüllt die Absicht des Malers, den Augenblick der Wahrnehmung selbst, die unmittelbare Übertragung der Stimmung des Gemäldes auf den Seelenzustand des Betrachters zum eigentlichen Gegenstand der Darstellung zu erheben. Bonicatti weist konkret auf die aristotelische Definition der schöpferischen Fähigkeit des Menschen hin  : Der Augenblick wird dem Strom der Zeit durch die künstlerische Form entrissen, in der Erlebniszeit des Betrachters aufgehoben. Auf das kleine Bild in Washington mit der viola da braccio und Stundenglas wurde bereits eingegangen (vgl. S. 50 f. und Abb. 5) – bereits hier zeigte sich, dass der Maler sich der Problematik der Synästhesie, der Beschaffenheit und der Grenze der Malerei und der Musik bewusst war und sie zum Gegenstand der Bildaussage machte. Die „innere Zeit“ des Kunstwerks, ob im Musikstück oder im Gemälde, bleibt in sich geborgen, während die zeitliche Umsetzung der Musik in der Praxis, die nach Aristoteles den Sinn in sich selbst trägt und dem Zuhörer ästhetischen Genuss bereitet, dem flüchtigen Augenblick der realen Zeit anheimfällt.106 Wie Bonicatti so schön bemerkt, vertritt die Poetikà als Spätwerk des Philosophen die Kunstauffassung

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des Hellenismus. Sie richtet ihr Augenmerk auf die persönliche Ausdruckskraft des Künstlers und die geschichtliche Einzelsituation, die vom zeitlichen Geschehen losgelöst und sublimiert erscheint  : „Mentre il richiamo all’interiorità come sinonimo di valore, e inversamente proporzionale all’area di propagazione ideologica del fatto artistico.“107 Aus einer ähnlichen kulturellen Situation und ästhetischen Anschauung wie jener der hellenistischen Zeit heraus entstanden nun die neuen Gattungen der „poetischen Allegorien“ und der „Landschaftsmalerei“ für eine kultivierte Abnehmerschicht in Venedig zu Beginn des 16. Jahrhunderts. Das Concert champêtre muss aus seiner moralischen Funktion und idealen Form heraus beurteilt werden. Wenn auch das Ideal im Sinnlichen selbst gesucht wird, führt die künstlerische Mimesis nicht zu einem Naturalismus im Sinne des Quattrocento. Bonicatti spricht bei unserem Werk etwas dunkel von einer „imitazione del potere naturale di creare“.108 In der idealen Schilderung von Figur und Landschaft, im Erlebnis der Musik, im zeitlosen Rahmen der pastoralen Landschaft ganz dem Augenblick des reinen, verklingenden Lautes hingegeben, entsprechen Form und Inhalt der aristotelischen Forderung, das Leben in seiner höchsten Form dem Betrachter vor Augen zu führen. Dieser glückliche Augenblick in der damaligen kulturellen Entwicklung des Menschen, als die Lebensformen selbst zu Kunstformen erhoben wurden, das Dasein, einer „poetischen Weltanschauung“ gemäß, durch höfische Umgangsformen, Gelehrsamkeit, Kunstwerke und Spiele verschönert wurde, ist von Johan Huizinga in seiner „Herbst des Mittelalters“ geschildert worden – es habe die Kunst dem Leben und das Leben der Kunst gedient wie nie zuvor.109 In dieser Situation kam nun dem venezianischen Künstler seine Bejahung der sinnlichen Wirklichkeit, die auch von den Zeitgenossen in der Lagunenstadt, aller politischen Unbill zum Trotz, geteilt wurde, besonders zustatten, um die ästhetische Forderung an das Kunstwerk lebendige Wirklichkeit werden zu lassen. Die venezianische Malerei steht in ihrer sinnlichen Unbefangenheit eigentlich der Antike näher, als es je in Florenz und Rom der Fall gewesen ist. Die poetische Allegorie in ihrer der Zeitlichkeit eigentlich abholden Form erwies sich hierbei als probates Mittel.

La Vecchia – ‘col tempo’ Das Porträt einer alten Frau, La Vecchia in der Accademia in Venedig, wurde wahrscheinlich im Zeitraum 1505–1507 von Giorgione ausgeführt (Abb. 15). Das Bildnis gehört mit seiner eindringlichen veristischen Wiedergabe zu den her-

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vorragendsten Porträts der Zeit. Hier von einer Allegorie zu sprechen, geht m. E. an diesem Tatbestand vorbei. Sehr wohl aber hat Giorgione der „Alten“ eine über das Individuelle hinausreichende allgemeine Bedeutung verliehen  : einen Hinweis auf das allen vertraute Phänomen der verfließenden Zeit, die in der Physiognomie und der Gestalt der alternden Frau ihre deutlichen Spuren hinterlassen hat. Wiewohl von der Zeit gezeichnet, hat die Frau doch ihre Würde und eine gewisse Vitalität bewahrt – von einer karikaturhaften oder grotesken Schilderung einer Alten aber, wie wir sie etwa von Dürers wirklich allegorisch gemeinter Figur der Avaritia um 1507 im Kunsthistorischen Museum in Wien und manchen karikaturhaften Zeichnungen Leonardos her kennen, kann bei der Vecchia nicht die Rede sein. Das Traumhafte, Entrückte, das manche Porträts Gior­ giones auszeichnet, ist hier einer intensiven Beobachtung und Wiedergabe der Realität gewichen  : Die Lebensnähe wird dadurch verstärkt, dass die Frau sich aus der Drehung dem Betrachter zuwendet, den Mund halb geöffnet, etwas zu sagen scheint, sodass hier der immer wieder strapazierte Satz des „sprechenden Bildes“ seine Bestätigung zu finden scheint. Auch was die Alte äußert, liegt für den Betrachter auf der Hand, verweist sie doch mit der Rechten auf sich selbst und zugleich auf den darüber befindlichen cartellino mit dem Spruch  : „col tempo“. Auch sie ist als Mensch dem Verfall und der Zeitlichkeit preisgegeben – der Betrachter muss dieses memento senescere (Panofsky) auch für sich verinnerlichen. Wenngleich die Vecchia in ihrer lebensnahen Gestalt nicht der Kategorie der „poetischen Allegorie“ entspricht, die in diesem Kapitel erörtert wird, ist sie aus der Sicht der übergreifenden Frage nach der „Zeit im Bild“ an dieser Stelle doch zu besprechen – geht es doch explizit um die schicksalhafte Verquickung von Dasein und Vergänglichkeit im Leben. Jaynie Anderson hat in ihrem Aufsatz von 1979 die Porträtkunst Giorgiones unter dem Titel The Giorgionesque Portraits  : From Likeness to Allegory umrissen.110 Ich würde nicht so weit gehen und in der Vecchia eine allegorische Figur sehen, wohl aber eine allegorisierende, da sie sie einen deutlichen Hinweis auf die conditio humana gibt. Nicht selten geht in den Werken Giorgiones die Deutung vom Einzelnen aus, um im Allgemeinen zu enden, und so setzt die zweifellos realistische Figur infolge ihrer „sprechenden“, man darf sagen „deiktisch-rhetorischen Haltung“ die Reflexion seitens des Betrachters in Gang  ; sie erhält in der Folge eine signifikante Bedeutung, die sie sonst nicht hätte. Die schwierige Zuordnung des Werkes versetzt die Kunsthistoriker wie so oft bei Giorgione in Erklärungsnot. Das Porträt wurde geschwind auf eine mit Gipsgrund versehene

Giorgione

15 Giorgione, La Vecchia, ca. 1506. Accademia, Venedig.

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Flachsleinwand aufgetragen. Jenseits der Brüstung im Vordergrund, die nachträglich dazukam, sehen wird die Alte in Halbfigur, der Kopf ist in leichter Drehung über die kräftige runde Schulter dem Betrachter zugewandt. Der wache Blick mit den prägnanten Lichtreflexen in den Pupillen und der geöffnete Mund, in dem einige Zahnstummel zu sehen sind, vermitteln sowohl Vitalität als auch ungeschönte Wahrhaftigkeit. Dies gilt auch für das schüttere Haar, das unter der Haube sichtbar wird und von dem eine Strähne nach unten fällt, des Weiteren für die rissige Haut des Gesichts, die Falten im Halsbereich und im Ausschnitt, der ursprünglich tiefer angesetzt war. Der Kopf ist von einer zurückgeschobenen weißen Haube bedeckt, und von demselben substanziell dichten Weiß, das den Lichtwert im Bild angibt, ist auch das Tuch, welches die Schulter auf der rechten Seite bedeckt (ursprünglich dürfte das Tuch über den Kopf gezogen und bis über die Schulter herabfallend angebracht gewesen sein).111 Zu dem warmen Ton der hellbräunlichen Karnation – keine Frage, dass hier auch die Bestimmung des sozialen Standes der Dargestellten (womöglich jener einer Dienstmagd) implizit mitschwingt – gesellt sich das Zartrosa des Gewandes, das neben dem starken Lichtwert des Schultertuches sich als stärkster Farbwert zu behaupten hat. Der mit breiten Pinselstrichen aufgetragene Hintergrund in dunklem Braun und Oliv lässt die Figur plastisch hervortreten. Durch den lebendigen Blick, die Kopfdrehung, den halb geöffneten Mund und den Zeigegestus wird der Kontakt mit dem Betrachter hergestellt  ; der Zettel mit dem Spruch „col tempo“ lässt keinen Zweifel über den Inhalt der Botschaft aufkommen. Infolge ihrer Lebensnähe und unmittelbaren Präsenz sehen wir uns im Bildnis der Vecchia mit dem Phänomen des Alterns und des körperlichen Verfalls konfrontiert. Wenn Bernard Aikema hier von einem „erbitterten Naturalismus“, von einem „in unseren Augen ein­druck­volle[n], ja bewegende[n] Bildnis der Auswirkungen des Alters“ spricht, ist es schwer einsichtig, wie er z­ ugleich in diesem Porträt auch einen Reflex der zu jener Zeit zweifellos häufig auftretenden „lustigen Malerei“ orten kann.112

Die allegorisierende Funktion Es hätte eigentlich gar nicht des Zettels mit dem Hinweis auf die verrinnende Zeit (col tempo) bedurft, um die allgemein menschliche Bedeutung des Porträts deutlich zu machen. Da dieser Hinweis erst nachträglich hinzugefügt wurde, dürfte eine Verstärkung des allegorischen Aspekts von der Nachwelt als wünschenswert erachtet worden sein.113 Zum Vergleich weist Giovanna Nepi Scirè auf Pietro

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Peruginos Porträt des Francesco delle Opere hin, das vermutlich 1494 in Venedig ausgeführt wurde. Dieser hält, zwei Jahre vor seinem Tod, ein Kärtchen mit der Inschrift „Timete Deum“ in der Hand.114 Dass die Vecchia auch „klarerweise eine Allegorie ist“, wie Scirè anschließend feststellt, muss zumindest als sprachlich unpräzise beanstandet werden  ; die Autorin schwächt selbst ihre Aussage ab, indem sie auf die „Kategorie der Portraits mit moralisierenden Inschriften“ wie im Falle von Francesco delle Opere hinweist. Die Ambivalenz der Zuordnung ist symptomatisch, denn die eindringliche Schilderung des Individuums steht der Klassifikation desselben als eine vom allgemeinen Begriff abgeleitete allegorische Figur, die sogleich kodifiziert und statisch wirkt, entgegen. Ein Attribut hebt, wenn es nachträglich hinzugefügt wird, nicht das Porträt als solches auf, ebenso wenig wie eine porträtierte Person, die auch in die Rolle einer historischen oder mythologischen Figur schlüpfen kann, ohne ihre Individualität aufzugeben. Die Darstellungen von Julius II. und Leo X. in den Stanzen, die in Kap. IV im Kontext der Historienbilder besprochen werden, mögen hier als Beispiel dienen, so auch Giorgiones Selbstporträt in Braunschweig, bei dem es sich um ein Rollenporträt des Künstlers als David mit dem Haupt Goliats handelt (vgl. den entsprechenden Stich von Wenzel Hollar).115 Infolge seiner Einstufung unseres Bildnisses als eine „Allegorie“ beanstandet Aikema die Einschätzung Gottfried Boehms, der es als ein hervorragendes Werk in sein Buch über die Porträtkunst aufnimmt.116 Die Beurteilung von La Vecchia verkompliziert sich infolge unterschiedlicher Eintragungen in den späteren Inventarverzeichnissen. Da Marcantonio Michiel in seinen Notizie von 1530 das Werk nicht in der Auflistung der Werke Giorgiones in der Casa Vendramin vermerkt, sind Zweifel aufgekommen, ob sich das Bild überhaupt dort befand. Meller hat vorgeschlagen, dass es sich im Besitz von Kardinal Domenico Grimani, näher bestimmt in dem seines Neffen Marino befand, denn in einer Eintragung von 1528 ist von einem Gemälde mit dem „Kopf einer alten Frau mit einem Fell um das Haupt“ die Rede (una testa di donna vecchia con un vello intorno al capo).117 Nepi Scirè meldete hier Zweifel an, da das besagte „Fell“ sich schwerlich mit der Haube des Bildnisses verwechseln ließe.118 Dies trifft natürlich zu, nur wissen wir aus Scirès eigenem Befund, dass der Kopf der Alten ursprünglich „vom Kopf aus über die Schulter von einem langen Tuch“ bedeckt war.119 Nachträglich wurde aus dem langen Tuch eine Haube und ein Schultertuch. Der Ausschnitt dürfte in demselben Arbeitsgang, dem decorum gemäß, höher angesetzt worden sein. Offen bleibt allerdings, wann diese Pentimenti, nicht zuletzt auch die

Giorgione

Änderung des Zettels und die Hinzufügung der Brüstung, erfolgt sind. Der tiefere Brustausschnitt lässt sich schwerlich mit dem Porträt einer Mutter, in diesem Falle gar der des Malers selbst, vereinbaren (vgl. S. 74). Die Änderung rückt das Bildnis noch weiter weg von der schamlosen Avaritia Dürers aus dem Jahr 1507, das als Deckblatt für das Porträt eines jungen Mannes, heute ebenfalls im Kunsthistorischen Museum in Wien, diente.120 Die im Laufe der Arbeit oder womöglich später durchgeführten Korrekturen haben dazu geführt, dass die Thematik des Alterns verstärkt in den Blickpunkt gerückt ist  ; dies entspricht auch der Einschätzung Sylvia Ferino-Pagdens im Katalog der Wiener Ausstellung „Bellini, Giorgione, Tizian“ von 2006/07.121 1565 erhielt das Bildnis, nun in der Sammlung von Gabriele Vendramin, im Inventar zum ersten Mal die Zuschreibung „Portrait der Mutter Giorgiones“ (Retrato della madre de Zorzon de man de Zorzon).122 1601 ist wieder nur von einer „donna vecchia“ die Rede, „mit einem bemalten Nussholz-Rahmen … mit dem aufgemalten Wappen der Vendramin“. Es folgt der bedeutsame Zusatz  : „der Deckel des besagten Bildnisses bemalt mit einem Mann in einem Gewand aus schwarzem Leder“.123 Diese Bemerkung hat für Verwirrung in der Diskussion bei jenen gesorgt, die von der Annahme ausgingen, die Vecchia sei ein „allegorisches Bild“, da es sich bei dem Bildnis ja um ein Deckblatt für ein Portrait und nicht um das Hauptbild handele.124 Um diese Annahme zu erhärten, wurde gar die Notiz als „Irrtum“ eingestuft und ins Gegenteil verkehrt.125 Diese abenteuerliche Umdeutung hat sich freilich in der späteren Diskussion, etwa im Ausstellungskatalog „Bellini, Giorgione, Tizian“ von 2006/07, nicht durchgesetzt. Weitere Inventarnotizen der Sammlung Cristoforo Orsellis, in dessen Besitz das Bild übergegangen war, werden im Katalog von 2004 angeführt  : 1664 ist vom „Ritrato di vecchia madre di Zorzon di mano … dell’istesso Zorzon“ die Rede, 1680 nur von einem „Quadro con vecchia [che] tiene una carta in mano“  ; 1681 schließlich ist der Eintrag mit dem Zusatz et è sua madre versehen.126 So hat sich die Vermutung wir hätten es mit der Mutter des Künstlers zu tun, in der fortuna critica des Bildes, wenn auch nicht immer, erhalten.

Memento senescere Ein weiterer Umstand hat zu den Unwägbarkeiten bei der Zuordnung des Portraits beigetragen  : Wiederholt wird auf das „komische Motiv“ einer „lachenden Alten“ hingewiesen,

das in mehr oder weniger übersteigerter Form in der Renaissance Konjunktur hatte. Von Dürer und anderen nordischen Künstlern abgesehen, ist dabei natürlich auf Leonardo verwiesen worden, der auch alte Menschen und groteske Physiognomien konterfeit hat.127 Er hat auch ausdrücklich das furchtbare Altern in Gestalt einer alten Frau angesprochen  : „Als Helena sich im Spiegel betrachtete und die vom Alter verursachten Falten sah, weinte sie und dachte bei sich, warum sie zweimal geraubt wurde. O Zeit, die du alle Dinge verzehrst, o widerliches Alter, durch das alle Dinge verzehrt werden.“128 Das Parodistische des Themas erwächst aus dem rhetorischen Kontext, aus der Vermischung der Stilarten  ; auf dieses paradoxon enkomion hat Aikema hingewiesen  : Die repräsentative Darstellung, etwa in Form eines Porträts, wird durch das niedere Sujet, in diesem Falle den geringen sozialen Status einer Dienstmagd, oder durch etwas Groteskes oder Abartiges unterlaufen und löst so bei dem kundigen Betrachter eine entsprechende amüsierte Reaktion aus.129 Man denke hier etwa an die zeitgenössischen Genrebilder im höfischen Umkreis, etwa in Ferrara, oder an die späteren Beispiele in der flämischen und holländischen Malerei des 16. und 17. Jahrhunderts.130 Bei der Vecchia will sich dieses Gefühl aber nicht einstellen, denn die Alte ist in der Darstellung weder übertrieben noch ist der körperliche Verfall besonders ausgeprägt. Von einem Lachen kann auch keine Rede sein. Der wache Blick und die unumstößliche Tatsache, dass der Mensch mit der Zeit altert und sein Dasein terminiert ist, er aber dennoch seine Individualität und eine gewisse Würde bewahrt, verleiht dem Bildnis seine besondere Intensität und auch Tragik. Von der keineswegs bewiesenen und eigentlich im Widerspruch zu der Eintragung im Inventar von 1601 stehenden Annahme, dass es sich bei der Vecchia um ein allegorisches Deckblatt (timpano) handele, ist man noch einen Schritt weiter gegangen und hat die Möglichkeit eines Diptychons ins Auge gefasst. So wurde nach dem Pendant zu dem 1601 erwähnten „Mann im schwarzen Lederwams“ gefahndet. Der Typus des Doppelporträts, meist eines Paares, war sowohl in Italien als auch im Norden weit verbreitet. Was nun, wenn die Vecchia nicht als Deckblatt, sondern als Bildnis einer Dienstmagd doch als Hauptbild zu gelten hat  ? Wer käme dann als Pendant infrage  ? Ein gewagtes Gedankenspiel sei hier eingebracht – das allerdings nicht weniger unwahrscheinlich ist als manche der erwähnten Interpretationen. Nach Meller könnte sich das Bildnis der Vecchia 1528 in der Sammlung Marino Grimanis befunden haben (vgl. S. 72). Dort hing auch das bekannte „Selbstporträt Giorgiones“, heute im Herzog-Anton-Ul-

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rich-Museum in Braunschweig. Der kunstsinnige Kardinal Domenico Grimani hatte das Bild seinem Neffen überlassen  : ritratto di Zorzon di suo mano fatto per David e Golia.131 Die Maße des nachträglich stark beschnittenen Gemäldes betragen 52 x 45 cm. Der Brustharnisch (man siehe die Beschreibung Vasaris in dessen Vite, IV, S. 93–94) ist schwer erkennbar. Was wäre, wenn es als Pendantbild zu Giorgiones Bildnis der Vecchia zu sehen war, das sich womöglich auch in der Sammlung befand  ? Könnte schon damals die Idee aufgekommen sein, es handele sich um die Mutter des noch relativ jungen Malers  ? Die Maße von 68 x 59 cm weichen gewiss von denen der Vecchia ab, aber die spätere Beschneidung des Selbstporträts um etwa 16 cm seitlich und unten ist in Betracht zu ziehen. Auch die Brüstung in Wenzel Hollars Stich des Gemäldes, das sich 1650 in der Sammlung Veerle in Antwerpen befand, entspricht in etwa jener, die dem Bildnis der Vecchia nachträglich hinzugefügt wurde. Jaynie Anderson ist in ihrem Aufsatz From Likeness to Allegory (1979) auf den Transformationsprozess eingegangen, der sich von einer realistischen Darstellung eines Individuums auf die Auslotung von dessen Innenleben und „Geschichte“ verlagert habe, um dann auf die allegorische Verähnlichung des Porträtierten mit einer historischen oder mythologischen Figur überzugehen.132 Was Giorgiones Selbstporträt betrifft, werde die Persönlichkeit des Malers „in der Gestalt des historischen biblischen David verkörpert, im Moment nach der Schlacht, als Saul ihn eifersüchtig verfolgte – in einem Moment der melancholischen Reflexion und Zweifel über den soeben errungenen Triumph“.133 Hier von Interesse ist die einfühlsame Auslotung der Psyche der historischen Figur, nicht unähnlich jener, die dem David Donatellos zuteil wurde (vgl. Bild/Zeit, II, 2004, S. 89 f.). In Hornigs Buch wird ebenfalls auf Donatello rekurriert, um die Vecchia in Bezug zu dem von Donatello geschilderten körperlichen Verfall zu stellen. Dies gilt sowohl für den Johannes in der Frarikirche, der selbstverständlich allen venezianischen Künstlern vertraut war, als auch für die „Maria Magdalena“ im Baptisterium zu Florenz. Die Interpretation des Selbstbildnisses in Braunschweig (von dem sich auch eine Replik in Budapest befindet), in dem der Maler in die Rolle des biblischen Helden schlüpft, wirft ein eigenes Licht auf sein Selbstverständnis. Im Falle der Vecchia kam es zu einer Verschiebung von der realistischen Darstellung einer alten Frau, der auch die Rolle, womöglich der Wahrheit entsprechend, als Mutter des Künstlers zugesprochen wurde, zur Darstellung der Trägerin einer moralisierenden Botschaft, in der es um den körperlichen Verfall und die Vergänglichkeit des Menschen geht. Die eindringliche Zeigegeste, von der man angenommen hat, sie könne auf

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Leonardo zurückgehen (etwa auf den „Philippus“ im Abendmahl), verleiht der Figur zusätzliche Brisanz. Zwei Aspekte der Zeit werden hier angesprochen  : zum einen das Altern schlechthin, das als conditio humana immer an die Existenz des Individuums geknüpft ist. Alte Menschen haben eine lange Geschichte  ; ihre storia bleibt uns zwar verborgen, aber sie hinterlässt Spuren in ihrer Physiognomie und ihrem Habitus. Zum anderen treten der Gegenwartsbezug der Alten und ihre Befindlichkeit durch den Blick, die Drehung des Kopfes und vor allem durch den Zeigegestus stärker hervor. Wir werden hier mit einem Bild der Selbstbezüglichkeit, der Reflexion über das eigene Geschick konfrontiert  ; die Alte vollzieht quasi selbst eine mentale Zeitschleife angesichts des unaufhaltsamen Ablaufs ihres Lebens und der alles vernichtenden Zeit. Diese Thematik findet im Spruchband nochmals ihre Bestätigung. Diese Interpretation deckt sich mit der deiktischen Deutung der Vecchia von Gottfried Boehm  : „Etwas zeigen (die wegstrebende Gebärde und ihre Bedeutung) und sich zeigen verschränken sich in diesem Bildnis darüber hinaus auf zirkuläre Weise, ein Topos, der in der Porträtmalerei jener Zeit, insbesondere derjenigen Lorenzo Lottos, auch sonst zu beobachten ist.“134 Zwei weitere allegorisch ausgerichtete Aspekte der Zeit wurden von Calvesi und Meller in Erwägung gezogen. Der Erste setzt das Bild der Alten, eigentlich der späteren Zuschreibung als „Mutter“ vorgreifend, mit einem Passus bei Leone Ebreo in Verbindung  : Die Vergänglichkeit der Materie werde hier betrauert  : Von der mater materia und der materia prima ist die Rede, von der continua generazione e corruzione der Dinge.135 Meller geht hypothetisch darüber hinaus, indem er die Mutterschaft auf die Heimat schlechthin bezieht, die „in Gestalt der alten Mutter Rom … ‚mit der Zeit‘ – erniedrigt und zur Dienerin des Feindes geworden – ihre ursprüngliche Schönheit verloren“ habe.136 Der Ausweitung und Vertiefung allgemeiner – wenn man so will  : allegorischer – Inhalte sind, so scheint es, keine Grenzen gesetzt. Sie mögen der interpretatorischen Praxis der Zeit entsprochen haben. La Vecchia dürfte ohne Zweifel mit ihrer existenziellen Frage nach dem Leben, der Vergänglichkeit und dem Tod die Betrachter damals wie heute tief berührt und zu immer neuen Deutungen hermeneutischer Natur Anregung gegeben haben. La Vecchia sowie das Selbstporträt Giorgiones befanden sich vermutlich beide gleichzeitig in der Sammlung Grimani um 1528  ; dies könnte durchaus zur späteren Mythenbildung, der Identifikation der Alten als Mutter des Künstlers, beigetragen haben  : die Mutter, am Ende des Lebensweges mit ihrem moralisierenden memento senescere  ; der Sohn, bereits im Status eines Helden, mitten im Leben und der vita activa stehend,

Lorenzo Lotto

auf den aber bereits der Schatten der Melancholie in statu nascendi zu fallen scheint.

Lorenzo Lotto Für die Venezianer war Petrarca das große poetische Vorbild und die Literaten um die Jahrhundertwende wurden nicht müde, seinem geschliffenen Stil und der reichen Metaphorik seiner Lyrik nachzueifern. Bembo und seine Zeitgenossen haben die formale Perfektion gesucht, die unter dem Begriff des bembismo in die Literaturgeschichte eingegangen ist. Gerade auf der Schwelle zu einer Zeit, wo das Preziöse, der Stil und das Künstliche „an sich“ einen eigenen Stellenwert bekamen, geht diese Entwicklung in Venedig mit dem – allerdings formal völlig unterschiedlich gelagerten – Manierismus in der Toskana einher. In diesen Kontext fügt sich die Bildgattung der „poetischen Allegorien“ konstitutiv ein – die kleinen Landschaften und die evokative, mythologische oder pastorale Thematik spiegeln den ästhetischen Erwartungshorizont der Abnehmer wider.

Allegorien nach Petrarca Zwei „poetische Allegorien“ von Lorenzo Lotto befinden sich in der National Gallery in Washington  : eine Allegorie und der sog. Traum eines Mädchens. Im ersteren Falle handelt es sich um das Deckblatt eines Porträts des Bischofs Bernardo de’ Rossi, das sich in Neapel im Museo Nazionale di Capodimonte befindet (Abb. 16). Die Inschrift auf der Rückseite des Bildes besagt, dass Bernardo im Alter von 36 Jahren, zehn Monaten und fünf Tagen im Juli 1505 porträtiert wurde, sodass kein Zweifel darüber besteht, dass wir es beim Deckblatt mit einer Allegorie zu tun haben, die auf das bewegte Leben des Bischofs anspielt.137 Inmitten der landschaftlichen Szene befindet sich der gespaltene Stamm eines Olivenbaums. Ein durchsichtiges Wappenschild mit einem Gorgonenhaupt hängt an einer Schleife und am Fuß des Baumstumpfes erkennen wir das Wappenschild der Familie de’ Rossi. Die rechte Bildhälfte wird von einem dunkel-gebrochenen, zum Blau tendierenden Farbton beherrscht. Hinter dem dunklen Wald geht ein Schiff auf stürmischer See unter. Im Vordergrund sind ein Satyr, der in einen Weinkrug schaut, und um ihn herumliegende Amphoren zu sehen. Auf der linken Seite, die in ein helles gelbliches Licht getaucht ist, sehen wir eine kleine geflügelte Seele den steilen Weg der Tugend zum glänzenden

16 Lorenzo Lotto, Allegorie, ca. 1505. Kress Collection, National Gallery, Washington.

Gipfel emporklimmen. Auf dieser „guten Seite“ der als paysage moralisé ausgewiesenen Landschaft schießt ein kräftiger Spross aus dem Strunk des Olivenbaumes, der im übertragenen Sinn auf den Bischof als Hoffnungsträger der Familie verweist. Im Vordergrund links ist ein Putto dabei, mit den Geräten der Wissenschaften zu spielen. Der Baum, von Gombrich als Olivenbaum der Pallas identifiziert138, steht zum einen für die positive Entwicklung Bernardo de’ Rossis und verweist zum anderen auf die Unbill, die er erlitten hat, bzw. auf das Unglück, das der Familie durch den Krieg zwischen Venedig, Mailand und Ferrara widerfuhr. Das Haupt der Gorgo könnte auf die Familie der Sforza, vor allem auf Ludovico il Moro anspielen, der 29 Burgen der Familie um Parma konfisziert hatte, und der Schiffbruch auf Venedig, das sein Versprechen, der Familie ihr Eigentum zurückzuerstatten, nach dem Frieden von Bagnolo 1484 nicht eingehalten hatte.139 Das untergehende Schiff mag auch auf die Unstetigkeit der Fortuna verweisen – eine Bildprägung, die in den Emblembüchern des 16. Jahrhunderts auftaucht.140 Der Satyr im Vordergrund verkörpert den aufwendigen Lebensstil der Familie vor der Katastrophe, während der blühende

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Spross wie erwähnt auf Bernardo verweist, dessen Erbrecht von einem Vetter zu jenem Zeitpunkt, als Lotto die Tafel malte, eingefordert wurde. Das Deckblatt darf als eine rhetorische Empfehlung des Porträtierten gelten, dem die Serenissima eine gründliche Erziehung in den freien Künsten, die durch die Geräte repräsentiert sind, zukommen ließ. Die Auslegung der verschiedenen Motive basiert auf der zeithistorischen Situation und auf den spezifischen Lebensumständen Bernardo de’ Rossis. Darüber hinaus sind die Allegorien in den allgemeinen Kontext christlicher Morallehre eingebunden. In einem Artikel aus dem Jahr 1985 habe ich den Versuch unternommen, die Wurzeln der einzelnen Bildmotive in der einschlägigen Canzone 323 von Petrarca zu verorten. Sie hebt folgendermaßen an  : Standomi un giorno solo a la fenestra onde cose vedea tante et sì nove ch’era sol di mirar quasi già stanco.141 Canzone 323, II, 1–3

In den folgenden sechs Stanzen wird durch die Kontrastierung positiver bzw. negativer Bilder der befürchtete Tod der angebeteten Laura umschrieben. Drei poetische Metaphern gewinnen hier Relevanz  : In der zweiten Stanze wird ein reich beladenes Schiff auf ruhiger See geschildert. Ein Sturm zieht auf, das Schiff wird gegen einen Felsen geschleudert und versinkt. In der dritten Stanze wird das Bild eines Lorbeerbaumes in einer paradiesischen Lichtung beschworen. Der Himmel verdunkelt sich plötzlich und ein Blitz spaltet den Stamm und lässt den Dichter mit seiner Verzweiflung allein zurück. In der vierten Stanze schließlich wird eine sprudelnde Quelle im Wald geschildert, die plötzlich versiegt und ein verödetes Land hinterlässt. Die Nähe zu den Motiven auf dem Deckblatt ist zwar gegeben  – Schiff, Baum, die umgestoßenen Amphoren –, es erscheint aber eher angebracht, von einer Familienähnlichkeit denn von einer Kausalverbindung zu sprechen. Die Analogie zwischen Gedicht und Bild lässt sich allgemein auf die Antithetik der Motive und die malerische Kontrastwirkung von Hell und Dunkel, Gelb und Blau, offener Landschaft und dunklem Wald übertragen. In einer anderen Canzone, Nr. 230, finden wir überdies einen interessanten Verweis auf den Olivenbaum, dessen seelenheilende Kraft apostrophiert wird  : Non lauro o palma, ma tranquilla oliva pietà mi manda, e ’l tempo rasserena, e ’l pianto asciuga et vuol ancor ch’ i’ viva.142 Canzone 230, II, 12–14

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Die metaphorische Qualität der Stanzen und Sonette Petrarcas steht außer Frage. Im 16. Jahrhundert haben sie zu dem geschliffenen poetischen Stil geführt, der auch in Frankreich (in der Pléiade) und in England gepflegt wurde und als Äquivalenz zum Manierismus in der bildenden Kunst zu sehen ist. Die Bedeutung der Dichtung bzw. ihrer Metaphorik für die bildhafte Umsetzung in den poetischen Allegorien um 1500 ist naheliegend. Eine entsprechende Untersuchung ihrer Relevanz für die Bildprägungen in der Emblematik steht noch aus. Was Lorenzo Lotto betrifft, hat bereits Mario Praz auf den emblematischen Charakter seiner Bilder verwiesen.143

Laura – ‚ut pictura poesis‘ Das zweite Gemälde in der National Gallery in Washington, ebenfalls um 1505 entstanden, wird unter dem Titel Traum eines Mädchens geführt (Abb. 17). Es dürfte sich, den Maßen nach zu urteilen, um ein Pendantbild handeln, womöglich auch um ein Deckblatt für ein Porträt etwa im Stile der Laura von Giorgione im Kunsthistorischen Museum in Wien. Eine Frau in einem weißen Gewand sitzt auf einer Lichtung im Wald auf einem Rasenstück neben einer Quelle. Sie lehnt sich in einer unbedarften Schlafstellung gegen den schlanken Stamm eines Lorbeerbaumes. Hinter den bereits ins Dämmerlicht getauchten Hügeln des Waldes und den fernen Bergen leuchtet der Himmel im Glanz der untergehenden Sonne. In der vielleicht berühmtesten Canzone Petrarcas, Nr. 126, schildert der Dichter die geliebte Laura am Rande einer Quelle sitzend. Sie lehnt sich an einen Baumstamm und ihr weißes Gewand bedeckt den Busen, das Gras und die Blumen. Die klare Luft durchweht den verzauberten Ort, der von Amor beherrscht wird  : Chiare fresche e dolci acque ove le belle membra pose colei che sola a me par donna  ; gentil ramo ove piacque con sospir mi rimembra, a lei di fare al bel fianco colonna  ; erba e fior che la gonna leggiadra ricoverse co’ l’angelico seno  ; aere sacro sereno ove Amor co’ begli occhi il cor m’aperse  : date udienza insieme

Lorenzo Lotto

a le dolenti mie parole estreme.144 Canzone 126, II, 1–13

Die Verwendung des Lorbeers als Anspielung auf Laura tritt häufig in der Dichtung Petrarcas auf – zuweilen wird die Metapher zu einem Bild erweitert, so etwa in der Sestine 30, in der die unter einem Lorbeerbaum weilende Geliebte folgendermaßen beschrieben wird  : Giovane donna sotto un verde lauro vidi più bianca e più fredda che neve non percossa dal sol molti et molt’ anni, e ’l suo parlare e ’l bel viso et le chiome mi piacquen sì ch’ i’ l’ò dinanzi agli occhi ed avrò sempre ov’ io sia, in poggio o’ ’n riva.145 Sestina 30, II, 1–6

Schönheit und Keuschheit (pulchritudo und castità) verbinden sich in der Vision der in Weiß gekleideten Angebeteten, der auch die Qualität einer Nymphe zukommt  : Or in forma di ninfa o d’altra diva che del più chiaro fondo di Sorga esca et pongasi a sedere in su la riva, or l’o veduto super l’erba fresca calcare i fior com’ una donna viva, mostrando in vista che di me le ’ncresca.146 Sonett 218, II, 9–14

In Bembos Gli Asolani, etwa zwei Jahre vor dem Gemälde entstanden, lässt sich Gismondo über die Bedeutung des Lorbeers aus, der in seinen Augen die natürliche Liebe verkörpert, jene Liebe in der freien Natur, die von den wilden Wesen, im vorliegenden Falle einem Satyrpaar, verkörpert wird.147 Zwei Satyre flankieren in unserem Bild das Mädchen in Weiß – eine weibliche Gestalt, die hinter dem Baum links hervorlugt, und ein männlicher Satyr im Wasser unten rechts, der einen Weinkrug emporhebt. Zwei unterschiedliche Formen der Liebe stehen uns so vor Augen, die nach Anschauung der Neuplatoniker (Ficino, Pico) der Struktur der Seele des Menschen entsprechen  : die niedere Form der Liebe, amor ferinus (oder bestiale), und amor humanus, die gar durch göttliche Intervention als Abglanz der göttlichen Liebe (amor divinus) zu gelten habe. Das „schlafende Mädchen“, das allerdings die Augen nicht geschlossen hält, schließt sich in seiner Haltung einer Reihe von Nymphen an, die seit der schlafenden Naturgottheit in der Hypnerotomachia 1499 allenthalben in der vene-

17 Lorenzo Lotto, Laura (Traum eines Mädchens), 1505. Kress Collection, National Gallery, Washington (Farbtafel V).

zianischen Malerei auftauchen (vgl. Abb. 9). Von den beiden Satyren flankiert, erscheint sie in der Tat als eine Traumgestalt, voll in die stimmungsvolle Landschaft integriert. Sie entspricht jener Laura, die, von Petrarca beschrieben und besungen, diesem in den dunklen Wäldern von Vaucluse vor Augen stand. Auch die voralpine Topografie in unserem Bild kann als eine Umsetzung der literarischen Beschreibung gelten, denn der Typus dieser Landschaft findet keine Entsprechung in den herkömmlichen venezianischen Idyllen. Das auffallendste Motiv der kleinen Tafel wurde noch nicht erwähnt  : der Cupido, der, im Himmel schwebend, weiße Rosenblätter über die Ruhende streut. In der vierten Stanze der Canzone 126 wird das Motiv ausführlich beschrieben  : Da be’ rami scendea (dolce ne la memoria) una pioggia di fior sovra ’l suo grembo, et ella si sedea umile in tanta gloria,

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Die Macht der Bilder

coverta già de l’amoroso nembo  ; qual fior cadea sul lembo, qual su le treccie bionde d’oro forbito et perle eran quel dì a vederle, qual si posava in terra e qual su l’onde, qual con un vago errore girando parea dir  : ‚Qui regna Amore‘.148 Canzone 126, II, 40–52

In florentinischem Kontext, in Botticellis Geburt der Venus, begegnen wir ebenfalls dem Motiv des Blumenregens, der in diesem Fall, dem Mythos gemäß, befruchtend auf das Wasser niedergeht und aus dessen Schaum Venus emporsteigt.149 Auch hier handelt es sich um die Umsetzung einer poetischen Beschreibung, in diesem Fall aus Polizianos Stanze per la Giostra (I, XCIX). Bezeichnend für die unbefangene Sinnlichkeit in Venedig ist die positive Bewertung der irdischen Liebe. Panofsky hat sie folgendermaßen charakterisiert  : „symbolizing the ,generative force‘ that creates the perishable but visible and tangible images of Beauty on earth  : humans and animals, flowers and trees, gold and gems, and works contrived by art or skill“.150 Der Traum eines Mädchens in Washington sollte als Laura betitelt werden. Es handelt sich um eine bildhafte Umsetzung einer Reihe von poetischen Metaphern und Beschreibungen. Die Protagonisten erscheinen als Verkörperungen der himmlischen, der irdischen und der natürlichen Liebe und die Nobilitierung der Angebeteten erfolgt durch einen Blumenregen, von Amor, dem Gott der Liebe, bewerkstelligt, der über die Szene herrscht. Die stimmungsvolle Landschaft und das schwindende Licht bilden den sympathetischen Rahmen der traumhaften, lichten Erscheinung der Laura im Glanz des versinkenden oder herannahenden Tages. Die Übertragung auf den Betrachter und der Nachvollzug des Erschauten werden in der Tat auch von Petrarca im Canzone 127 reflektiert, in dem es heißt  : Se ’l sol levarsi sguardo sento il lume apparir che m’ innamora  ; se tramontarsi al tardo, parmel veder quando si volge altrove, lassando tenebroso onde si move.151 Canzone 127, II, 66–70

Der emotionale Nachvollzug des Geschehens ist mit der Aufnahme eines Bildes zu vergleichen, das zwar eine Veränderung anzeigt, aber in sich statisch bleibt. Die Zeitlichkeit im Sinne der Veränderung ist im Bild nur aus der Stimmung

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und den schwankenden Lichtverhältnissen erkennbar, klingt aber im emotionalen Nachvollzug des Gesehenen in der Erlebniszeit des Betrachters nach.

Raffael Pico della Mirandola hatte geplant, ein Buch über „poetische Theologie“ zu schreiben, und zwar in der Art, dass die darin enthaltenen Geheimnisse und Mysterien nicht unmittelbar von jedem erkannt und dadurch womöglich profaniert würden.152 Es galt somit, einen Bilderschatz aus rätselhaften Hieroglyphen zu erstellen, wie es bereits die Alten getan hätten. Wie früher erwähnt (vgl. S. 46), vertraten die Humanisten die Meinung, es handele sich dabei um eine Bilderschrift. Aus diesen Wurzeln entstammt die Emblematik des 16. Jahrhunderts mit ihrer Kombination aus Bild, Motto und Subscriptio, da die Bildprägung offensichtlich nicht als so schlagend empfunden wurde, dass der Sinn daraus unmittelbar hervorgeht. Vorangegangen waren Bildprägungen der antiken Plastik und der Glyptik, die in der Renaissance wieder aufgegriffen und mit neuer Bedeutung aufgeladen wurden, um dann Eingang in den weitertradierten Bildervorrat zu finden. Diese bedeutungsträchtigen Zeichen waren in Form von „natürlichen Bildern“ der Mimesis der sichtbaren Welt verpflichtet, sodass die tiefere Bedeutung derselben zunächst hinter dem „schönen Schein“ zurückzustehen hatte. So schwer es uns heute auch fällt, der Tafelmalerei mit ihren teils mythologischen, teils profanen Motiven eine „magische“, heilbringende Wirkung im Sinne eines Talismans zuzugestehen, den Humanisten um 1500 war der Gedanke keineswegs fremd. Die Grenze zwischen der didaktischen Botschaft und der unmittelbaren Wirkung, die infolge der Bildmächtigkeit eines bedeutenden Kunstwerks auch gewährleistet zu sein schien, war eher durchlässig, wie es bei den religiösen Bildern ja seit jeher der Fall gewesen war. So gewann die Präsenzzeit aus der unmittelbaren Schau, dem Augenblick der ästhetischen Betrachtung auch für die Werke mit profanen Bildinhalten jene Relevanz, die sie im Falle der Andachtsbilder bereits hatte. Überdies gingen die synkretistischen Bestrebungen der Neuplatoniker so weit, dass Gedankengut platonisch-stoischer, hermetischer oder averroistischer Provenienz fast selbstverständlich mit der christlichen Offenbarung vermengt wurde. Waren die „poetischen Allegorien“ in Venedig subjektiv geprägt und inhaltlich vage, so zeichneten sie sich in Florenz durch größere Präzision aus – sicherlich aufgrund der Dominanz der Philosophen (Ficino, Pico, Polizian u. a.). Die Bildschöpfun-

Raffael

gen Botticellis wurden bereits bezüglich ihrer Wirkung erörtert (Bild/Zeit, II, 2004, S. 229–232). Zu einem neuen Höhepunkt gelangte die Bildgattung der „poetischen Allegorie“ in Raffaels beiden kleinen Tafeln mit den Drei Grazien und dem Traum des Scipio, beide um 1504/05.

Die drei Grazien Die vielfältigen Deutungsmöglichkeiten der „Drei Grazien“ im Musée Condé, Chantilly – (Abb. 18) sind hinreichend von Panofsky und Wind dargelegt worden. Es gehe um eine Triade von Begriffen, die den Prozess des kosmischen Kreislaufs veranschaulichten – den Ausfluss (emanatio) des Göttlichen, der nach neuplatonischer Anschauung die Natur belebe (conversio, raptio, vivificatio) und das Begehren durch Schönheit wecke, sodass die irdischen Geschöpfe wieder dem Ursprung, dem Einen entgegenstrebten (remeatio).153 So trage die Triade der drei Grazien bei Ficino Bezeichnungen wie veritas – concordia – pulchritudo oder amor – pulch­ ritudo – voluptas, die Letztere unter Bezugnahme auf den locus classicus in Platos Gastmahl, dass Liebe nichts anderes sei als Verlangen, durch Schönheit geweckt.154 Die Haltung der drei Grazien entspreche folgerichtig auch dieser Auslegung der alten Bildformel, die nach Servius immer eine Grazie in Rückenansicht und zwei dem Betrachter zugewandt aufweise. Die Schönheit entstamme dem Jenseitigen. Vor ihr entflamme die Liebe, kehre uns den Rücken zu, um wieder dem Jenseitigen zuzustreben (voluptas). Die verbindende Kraft der Liebe sei imstande, die Gegensätze von Schönheit und Verlangen auszugleichen.155 Für Ficino war die voluptas eindeutig auf das Himmlische, auf Urania, ausgerichtet. Pico hat später die Begriffe amor und voluptas durch intellectus und voluptas ersetzt, wobei der letztere implizit das Verlangen nach dem höchsten Glücksgefühl enthalte. 156 Auf einer Medaille der Giovanna degli Albizzi erscheinen die drei Grazien nach der Formel Picos unter den Begriffen castitas – pulchritudo – amor als Ergänzung zur platonischen Definition in dem Sinne, dass Schönheit aus Liebe in Verbund mit Keuschheit erwachse. Die mittlere Figur der „Schönheit“ in Rückenansicht wendet sich der Liebe zu. Raffaels Version des Themas in Chantilly zeigt die drei Grazien mit leichten Abänderungen, sodass eine sinnvolle Differenzierung erzielt wird. Links erscheint eine Grazie in einem durchsichtigen Lendentuch und ohne Halskette, die als Castitas zu gelten hat. Die Mittlere in Rückenansicht ist nackt und trägt eine Halskette. Sie wird von Wind Pulchritudo benannt. Kopfdrehung und Kontraposthaltung indizieren eine Hinwendung zur dritten Grazie rechts, deren opul-

18 Raffael, Die drei Grazien, 1504/05. Musée Condé, Chantilly.

ente Halskette mit Juwelen auf Voluptas schließen lässt. Wind weist darauf hin, dass das Gewicht durch den Kontrapost der mittleren und der rechten Figur von der Castitas über die Pulchritudo zur Voluptas verlagert wird und diese Bewegung auch von den leicht fallenden Höhenzügen der Hintergrundlandschaft von links nach rechts verstärkt wird.157 Die Verschiebung zum Sinnlichen hin wird somit durch die Ikonik sinnfällig.

Der Traum des Scipio Werden das sinnliche Leben, Schönheit und Begehren von den Drei Grazien repräsentiert, die das Liebesprinzip, den kosmischen Kreislauf in anthropomorpher Form und Stellungen zum Ausdruck bringen, erscheint im kleinen Pendantbild Der Traum des Scipio in der National Gallery in London ein männlicher Protagonist (Abb. 19). Zu den beiden weiblichen Gestalten gesellt sich der Held  ; aus dem Gegensatz der Geschlechter erwächst die Harmonie. Die Formel der discordia concors kann zu dieser Zeit als Gemeinplatz gelten – sie ist jenes ausgleichende Prinzip, das sich hinter den dynamischen Kräften in der Natur und im Menschenleben verbirgt. Die Darstellung des jungen Scipio, der träumend unter dem Lorbeerbaum liegt, geht vermutlich auf Macrobius’ Kommentar zu Ciceros In somnium Scipionis zurück (dieser spätantike Kommentar aus dem frühen 5. Jahrhundert, der

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Die Macht der Bilder

und Kirche auf, hinter der Frau mit der Blume rechts ein liebliches Flusstal, das sich im fernen Dunst verliert.160 Fabel und Traum beherrschen die Gegenwart. Der Zukunft gehören der Lorbeer und die Welt. Die Struktur des Bildes entspricht der Seele des Menschen und der Natur der ausgereiften Persönlichkeit. Der Zeitaspekt kommt in der inhaltlichen Auslegung zum Tragen und findet in der formalen Umsetzung seine Bestätigung. Ein vertieftes, hermeneutisches Verständnis stellt sich am Ende des Bewusstseinsprozesses ein und gewinnt dabei eine für den weiteren Fortgang des Lebens des Betrachters existenzielle Relevanz. Seine Erlebniszeit wird dabei in hohem Maße von der ästhetischen Erfahrung geprägt.

Tizian

Die Himmlische und die irdische Liebe 19 Raffael, Der Traum Scipios, 1504/05. National Gallery, London.

die neuplatonische Seelenlehre sowie die Musiktheorie und Astronomie anhand von Ciceros Vorlage aktualisierte, war dem Mittelalter gut vertraut und wurde 1500 in Venedig neu aufgelegt). Auch bei Macrobius wird die Erzählung (fabula) als eine Art von Traum vorangestellt. Zwei Frauen nähern sich dem schlafenden Helden. Die eine bietet ihm ein Schwert und ein Buch an, die andere eine Blume. Drei Vermögen des Menschen werden hier angesprochen  : der Intellekt, die Stärke und die Sinnesempfindung  ; in Platos Seelenlehre ist vom Intellekt, dem Mut und dem Begehren die Rede.158 Als Interpreten der platonischen Seelenlehre traten zu dieser Zeit die Florentiner hervor  : Ficino, Leone d’Ebreo und Pico della Mirandola. Die beiden allegorischen Figuren stehen für drei Aspekte der Seele  : Schwert und Buch zeigen den Weg der vita activa bzw. contemplativa, die rechte Figur den der Sinneslust, die vita sensitiva oder voluptuosa.159 Nach Ficino stehen alle drei Lebensformen dem jungen Menschen offen und überhaupt sollten sie alle angestrebt werden und keine auf Kosten der anderen. So steht in dieser poetischen Allegorie der Weg in die Zukunft des schlafenden Helden offen. Im Gegensatz zur strengen Dichotomie mittelalterlicher Morallehre, die im Motiv des „Herkules am Scheideweg“ ihren Niederschlag findet, wird hier nicht das von Askese und Entbehrung geprägte Leben gegen die „Frau Lust“ ausgespielt. Gelehrsamkeit und Tatkraft halten sich vielmehr mit dem sinnlichen Leben die Waage, ja es stellt sich die Frage, ob Raffael nicht dem Letzteren eher zugeneigt ist. Hinter der Frau links tut sich ein Berg mit Burg

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Mit seiner „poetischen Allegorie“ anlässlich der Hochzeit von Niccolò Aurelio und Laura Bagarotto 1514 führt Tizian die Gattung der „poetischen Allegorie“ in seiner Himmlischen und irdischen Liebe (Galleria Borghese, Rom  ; Abb. 20) einem Höhepunkt zu. Die unmittelbare Schau der Schönheit dieser Welt findet in der Gestalt der himmlischen Venus, welche die höchste Schönheit und Lebensform repräsentiert, ihren Niederschlag.161 Zeitlosigkeit bekundet sich in der nackten Gestalt, bei derer Gestaltung Tizian auf die klassischen Plastiken der Antike zurückgreift. Die Flammenschale in ihrer erhobenen Hand wird in Ripas Iconologia später als felicità eterna ausgelegt. Nach neuplatonischer Auffassung handelt es sich um die göttliche Vernunft (ratio), die mit der Sonne am Firmament erstrahlt.162 Ihr zur Seite sitzt die „irdische Venus“, in Weiß und Gelb gekleidet. Im Haar trägt sie als Braut einen Myrtenkranz, in der Rechten hält sie einen Rosenzweig und mit der Linken umfasst sie eine verschlossene Schale. Nach Ripa steht sie für das kurze Glück (felicità breve), das dem Menschen und der Schönheit auf Erden beschieden ist.163 Die himmlische und irdische Liebe entsprechen nach Ficino der Venus coelestis, Tochter des Uranus, und der Venus vulgaris, Tochter des Zeus und der Dione (nach Pico die Tochter des Saturn). Der Zeit geläufig war die von Plinius d. Ä. (Nat. hist. XXXVI, 20) kolportierte Geschichte, dass Praxiteles zwei Venusstatuen für die Bürger auf Kos geschaffen habe, eine nackt und die andere bekleidet  ; die erste Variante sei von den Bürgern zurückgewiesen worden  ; später sei sie allerdings von den Bewohnern auf Knidos hoch gerühmt und von Lukian als Aphrodite Urania apostrophiert worden.164

Tizian

20 Tizian, Die Himmlische und die irdische Liebe, ca. 1515. Galleria Borghese, Rom.

Die formale Anlehnung dieser Venusgestalt, die von Clark mit den zu dieser Zeit bekannten antiken Plastiken in Verbindung gebracht wird, an die stehende Frau am Brunnen im Concert champêtre (Abb. 13) liegt auf der Hand – die Muse der Überredungskunst, Peitho (vgl. S. 67) musste nun der Gestalt der entrückten, himmlischen Göttin der Liebe weichen. Die grundsätzlich unterschiedliche malerische Auffassung von Giorgione und Tizian, der um 1515 schließlich zu seinem eigenen Idiom gefunden hatte, tritt nun aufgrund des engen Bezuges zu dem früheren Bild besonders deutlich hervor (diese Händescheidung wird auch vehement von Brucher verfochten)  : dort weiche, verschliffene Formen der bewegten Figuren, die recht klein in die Landschaft integriert wurden, ein abschüssiger Horizont, der die Bildelemente quasi in eine räumliche Rotation versetzt, und eine lyrische, traumhafte Stimmung, welche die ganze Szene beherrscht  ; in Kontrast dazu Tizians praktisch flächendeckenden Figuren (Hetzer), eine „ornamentale“ Ausführung der plakativen Baumkronen, die sich dunkel vor dem stupend flächenhaft ausgeführten Himmel abheben. Trotz des allegorischen Inhalts strahlt das Bild unmittelbare Präsenz und Dynamik der Figuren, Substanz und Lebensnähe aus, auch was die Hintergrundlandshaft betrifft. Warum sollte Tizian, in deutlicher Abkehr vom giorgionesken Stil, sich selbst in wenigen Jahren solcherart paraphrasieren, eigentlich korrigieren  ? Vielmehr trat er mit seiner Himmlischen und irdischen Liebe bewusst in Wettstreit mit dem capolavoro des ehemaligen Lehrmeisters. Zwischen den beiden Göttinnen am Brunnen erscheint der kleine Amor als Verkörperung des Liebesprinzips in der Welt. Er bewegt das Leben spendende Wasser in dem Be-

cken, als das ein Sarkophag all’antica herhalten muss.165 Das Motiv war bereits in der Hypnerotomachia Poliphili vorgeprägt, wo aus dem Sarkophag des Adonis das Leben spendende Wasser den Garten bewässert und die Rosen von Venus bei ihrer Flucht vor Mars rot gefärbt werden (Abb. 21  ; vgl. auch Tizians Darstellung der Venus in den Uffizien von um 1548, S. 270 und Abb. 165). Diese poetische Legende, die unter der Rubrik la tintura delle rose den Venezianern vertraut war, liegt vermutlich auch dem fiktiven Relief all’antica in unserem Gemälde zugrunde.166 Auf dem Sarkophagrelief wird die Zähmung der Libido in Gestalt eines ungezügelten Pferdes und einer Kasteiung geschildert (auch hier kann man von einer Vorprägung der späteren Emblematik sprechen  ; Wind verweist auf Bocchis Symbolicae questiones CXVII oder Valerianos Hieroglyphica, fol. 340).167 Castigatione und castità wurden zu einem Begriffspaar kombiniert, dessen Polarität wiederum vom Prinzip der Liebe überwunden wird. Aus dem Rohr an der Vorderseite des Beckens schießt ein Wasserstrahl in das Rosenbeet. Hier erscheinen nun jene beiden Wappen, die das Gemälde als ein Hochzeitsbild kennzeichnen und die moralische Botschaft letztendlich doch in den Kontext einer lebensbejahenden Praxis stellt. Trug im Concert champêtre die Thematisierung des Akustischen und des Gesichts in der Selbstbezüglichkeit des Gemäldes zur Vergegenwärtigung und zum Inkrafttreten des Bildinhalts bei, bezieht sich die komplexe Ikonografie der Himmlischen und irdischen Liebe bei allen neuplatonischen Implikationen doch auf ein konkretes Ereignis in der Gegenwart und weist dem Paar den Weg in die Zukunft. Die unbeschwerte Hinwendung zur Sinnlichkeit und Schönheit, welche den Zugang Tizians zur Kunst und Natur kennzeichnet, schlägt sich auch beispielhaft in seinem unbe-

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Die Macht der Bilder

kam dem Werk infolge seiner inhärenten rezeptionsästhetischen Funktion eine bedeutsame Rolle zu. Das Gemälde selbst sollte infolge seiner Permanenz als Gewähr für das zukunftsträchtige Glück, das dem Hochzeitspaar unter der Ägide der Liebe in Aussicht gestellt wurde, dienen.

Bronzino

21 Der Sarkophag von Adonis. Hypnerotomachia Poliphili, Venedig 1499.

fangenen Umgang mit der spröden Thematik neuplatonischer Triaden nieder. Dies wird in der Gestaltung der Hintergrundlandschaft deutlich, die sowohl von Panofsky als auch von Wind als eine paysage moralisé, durchaus mit jener in Raffaels Traum des Scipio vergleichbar, interpretiert wurde. Links hinter der „irdischen Liebe“ erscheint eine Burg mit einem Ritter, im Mittelgrund sehen wir zwei Kaninchen als Attribute der irdischen Venus. Rechts öffnet sich der Blick in die weite Landschaft mit einer Kirche im Hintergrund  ; eine Hasenjagd, ein Hirte mit Schafen sowie ein Liebespaar besetzen den Mittelgrund, der nach Wind drei Lebensphasen oder Lebensformen, den Göttinnen Diana und Venus bzw. dem Gott Hermes geweiht, repräsentiert.168 Das gesteigerte Lebensgefühl, das sich in der antikisierenden Aktfigur und in den erotischen Szenen des Sarkophagreliefs niederschlägt, aktualisiert erneut Warburgs Frage nach der Natur und Funktion der alten Pathosformeln. Der Gelehrte sah sie ja als Prägungen archetypisch-elementarer Affektzustände über Zeit und Raum hinweg. Tiefere, dynamische Schichten der Psyche würden von den elementaren antiken Bildprägungen angesprochen, die in der Gegenwart für entsprechende affektive Entladungen sorgten. Die Stunde des Hochgefühls und der gesteigerten Lebensintensität erhält in Tizians meisterlichem Beitrag zur Gattung der „poetischen Allegorie“ ihre inhaltliche und formale Entsprechung  ; im sozialen Kontext der historischen Gegenwart, zu deren Klärung die Ikonologie maßgeblich beitragen konnte,

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In seiner Studie Father Time bespricht Panofsky u. a. eine Tapisserie des flämischen Webers Johannes Rost, die sich in der Galleria degli Arazzi in den Uffizien befindet. Es handelt sich um eine Darstellung nach einem Entwurf von Angelo Bronzino, der im Inventar von 1549 unter dem Titel L’Innocenzia del Bronzino angeführt wird.169 „Justitia“, in der Bildmitte mit gezücktem Schwert und einer Waage dargestellt, kommt der „Unschuld“ zu Hilfe. Begleitet wird sie von dem glatzköpfigen, geflügelten Chronos, der, das Stundenglas auf dem Rücken tragend, ein junges Mädchen, „die Wahrheit“, umfängt bzw. enthüllt. Bedroht werden die Protagonisten von vier Tieren  : Hund, Löwe, Wolf und Schlange. Sie stehen für Neid, Wut, Gier und Hinterlist. In seiner unnachahmlichen Art, komplexe Inhalte auf den Punkt zu bringen, heißt es bei Panofsky  : „The composition is therefore a fusion of three interrelated versions of one theme  : Truth rescued by Time, Truth unveiled by Time, and Innocence justified after persecution, the third of these subjects being the theme of the famous Calumny of Apelles as described by Lucian.“170 (Zu Botticellis Verleumdung des Apelles vgl. Bild/Zeit, II, 2004, S. 232 f. und Abb. 137.) Während Botticelli die niederen Affekte des Menschen als agierende Figuren auftreten lässt, beschränkt sich Bronzino auf die Darstellung der allegorischen Tiere.

Zeit und Wahrheit Etwa zeitgleich mit dem Entwurf für die Tapisserie um 1546, womöglich als Pendantbild konzipiert, hat Bronzino seine berühmte Allegorie geschaffen, die sich heute in der National Gallery in London befindet (Abb. 22)  ; das Gemälde wurde dem französischen König François I. als Geschenk zugesandt  : Fece un quadro di singolare bellezza, che fu mandato in Francia al rè Francesco, dentro al quale era una Venere ignuda con Cupido che la baciava, ed il Piacere da un lato e il Giuoco con altri Amori  ; e dall’altro la Fraude, la Gelosia ed altre passioni d’amore.171 Ganz zutreffend ist Vasaris Beschreibung nicht, was darauf schließen lässt, dass das Ge-

Bronzino

22 Angelo Bronzino, Allegorie, ca. 1538. National Gallery, London (Farbtafel VI).

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mälde zur Zeit der Abfassung der Vite nicht mehr in Florenz zu sehen war. Liebe, Lust und Laster liegen zwar der Darstellung zugrunde, die moralische Botschaft greift letztendlich aber tiefer. Wie bei der Verleumdung des Apelles, wie sie uns in der Fassung Botticellis vor Augen steht, handelt es sich um ein Psychodrama in Gestalt von menschlichen oder hybriden Gestalten, zum Teil zerstückelt oder abgewandelt. Sie verkörpern antagonistische Eigenschaften der Seele und stehen miteinander im Widerstreit. In der Mitte kniet eine betörende nackte Venus. In der Rechten hält sie einen Pfeil hoch, den sie dem Cupido entwendet hat oder zu überlassen im Begriff ist. In der linken Hand hält sie den süßen Apfel der Verführung. Der geflügelte Amor ist zu einem schönen Jüngling herangereift, den Kopf der Mutter umfangend und zugleich ihre Brust sanft ergreifend. Zu dieser kalkulierten erotischen Ambivalenz gesellt sich die für den Manierismus charakteristische Fragmentierung der Anatomie, die den Betrachter immer wieder anhält, einzelne Körperteile wieder in ein stimmiges Verhältnis zueinander zu bringen. Die intime Beziehung von Mutter und Sohn wird durch die schnäbelnden Tauben im Vordergrund und den Myrtenzweig am linken Bildrand verstärkt. Der fast androgyn wirkende Cupido kniet auf einem rosa Kissen  – Inbegriff des Müßigganges und des Wohllebens. In dem Ovidkommentar des Berchorius von 1484, der dem 16. Jahrhundert vertraut war, wird die Frage der Liebe unter Blutsverwandten abgehandelt  : Cupido küsse seine Mutter, was an sich nie sein könne und dürfe, es sei denn, die beiden würden von der Begierde, luxuria, angetrieben, die selbst die Blutsverwandtschaft beleidige.172 Rechts von der Venus nähert sich mit beschwingtem Schritt ein jüngerer Verwandter des Cupido, Rosen haltend und nach hellenistischem Vorbild mit einem Glöckchen um die Ferse versehen. „Vergnügen“ und „Spaß“ werden hier, auch im Sinne von Vasaris Piacere und Giuoco, verkörpert. Optisch miteinander verbunden sind die hell beschienenen nackten Figuren durch Chronos im oberen rechten Eck, dessen gestreckter Arm die Konfiguration waagerecht abschließt. Der Gott ist dabei, einen Vorhang beiseitezuschieben, und Hilfe wird ihm durch die angedeutete Frau links zuteil, die als „Wahrheit“ identifiziert wurde.173 Was zunächst als ein Lob der idealen Schönheit erscheint, nicht zuletzt aufgrund der makellosen Ausführung, der Eleganz und Plastizität der Figuren, aber auch aufgrund der kühlen Pracht der farbigen Orchestrierung, die im unwiderstehlichen Ultramarin des rückwärtigen Tuches gipfelt, entpuppt sich bei näherer Betrachtung der begleitenden Gestalten als ein fatales Trugbild, das von dem äußeren Glanz überstrahlt wird. Links rauft sich eine dunkle Gestalt die

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Haare – von Vasari als „Eifersucht“ (gelosia) bezeichnet, die in sich gleichermaßen „Neid“ und „Verzweiflung“ berge. Zwischen der Venus und dem „Vergnügen“ erscheint, praktisch vom Körper getrennt und schwebend, der schöne Kopf eines jungen Mädchens vor dem blauen Grund  ; ihr zuzuordnen ist ein grünes Kleid rechter Hand des Amorin. Dieser Unschuldsengel entpuppt sich als ein monströses Wesen, als Inbegriff des „Betrugs“ (fraude) und der„Täuschung“ (inganno). Unter dem grünen Kleid kommt ein geschuppter Körper zum Vorschein, der in einen schlangenähnlichen Schwanz mündet. Neben dem Fuß des beschwingten Knaben sieht man die Pratze eines Löwen – nach Ripa haben wir es mit einem Hinweis auf die „Verstellung“ zu tun. Zwei Masken liegen unten rechts, die eine jugendlich, die andere alt. Nach Ripa verberge „der Betrug“ in weiblicher Gestalt sein/ihr hässliches Gesicht unter einer schönen Larve und biete abwechselnd Wasser und Feuer an (Ripa. Iconologia, Rom 1603). Der „Betrug“ besitzt in der Emblematik zwei Köpfe, ­einen jungen und einen alten. In der Rechten hält er (bzw. sie) zwei Herzen, in der linken eine Maske  ; darüber hinaus erkennen wir den Schwanz eines Skorpions und die Tatzen eines Greifen.174 Täuschende Erscheinung, Verrat, trügerische Veränderung, schwankende Willensäußerungen, giftiger Stachel und scharfe Krallen, Hab und Ehre raubend – alle negativen Eigenschaften kommen hier zum Vorschein. Bronzino hat es verstanden, sie in einer symbolischen Gestalt zusammenzufassen. Er greift dabei auf das Mittel der kalkulierten Dekonstruktion und Verkehrung zurück  : Mit der rechten Hand, die sich anatomisch als die linke erweist, bietet die Harpyie eine Honigwabe an, in der Linken, welche die „gute“ Rechte zu sein vorgibt, hält sie ein giftiges Reptil. Schönheit und Liebe laufen somit Gefahr, durch die luxuria vergiftet zu werden. „Täuschung“ und „Betrug“ sind hier nicht nur an den später in der Emblematik kodifizierten Attributen erkennbar, sondern treten darüber hinaus durch den virtuosen Einsatz der künstlerischen Mittel des Malers, dessen licenza in Erscheinung  : die Normen von Gut und Böse, Richtig und Falsch werden durch die anatomische Verkehrung auch ikonisch untergraben. Der Betrachter sieht sich in Erklärungsnotstand versetzt. Die „Zeit“ selbst, Chronos, tritt im Bild in Begleitung ihrer/seiner Tochter, „der Wahrheit“ (veritas), als „Enthüller“-in in Aktion. Der Betrachter erliegt zunächst bereitwillig dem Anblick der grandiosen poetischen Allegorie, der Macht des Bildes. Im Laufe der fortschreitenden Entschlüsselung muss er (oder sie) aber erkennen, dass die Gefahr, von äußerem Glanz geblendet und in den Zustand des ästhetischen Wohlbefindens versetzt zu werden, ernst zu nehmen ist. Es droht

Bronzino

der Mensch, der sich der sinnlichen Welt, der Schönheit und der Liebe hingibt, jenen verderblichen Kräften zu erliegen, die sich im Innenleben seiner Psyche verbergen  : Die verführerische luxuria kann zum Verlust der Selbstkontrolle und des seelischen Gleichgewichts führen. Ob der König als Empfänger des Gemäldes sich dieser Macht des Bildes bewusst war  ?

Natürliches Zeichen und Bildmächtigkeit Alle Gelehrsamkeit und philosophischen Konstrukte werden letztendlich von der souveränen formalen und farbigen Ausführung der „poetischen Allegorien“ in der Malerei überlagert – nur zögernd löst sich der heutige Betrachter von der Macht der Bildgestaltung, um mithilfe der memoria zu einer schlüssigen Interpretation der allegorischen Inhalte zu gelangen. Wir erfahren als Betrachter eben jenes Paradoxon, das dieser Erörterung der „poetischen Allegorie“ vorangestellt wurde  : Die Bildmächtigkeit tritt in den „natürlichen Zeichen“, die der Maler in der Natur (und auch in der antiken Plastik) vorfindet und künstlerisch umsetzt, unmittelbar und sinnlich in Kraft. Sie berührt uns stärker als die nachträgliche rationale Auslotung des Sinngehalts  ; dem Kontext der kulturellen Überlieferung scheint in der Erlebniszeit vorerst nur nachrangige Bedeutung zuzukommen. Allerdings öffnet sich durch die ikonologische Analyse der Bilder ein geistiger Kosmos, der das Bewusstsein der Kundigen nachhaltig bereichert haben dürfte und uns noch heute fasziniert. Der mentalitätsgeschichtliche Wandel, der sich in der ästhetischen Verhaltensweise des Menschen bekundet, muss auch vor diesem Hintergrund gesehen werden  ; aber auch der Inhalt wird von der künstlerischen Umsetzung geadelt, der Geschäftigkeit des Alltäglichen enthoben. Die ästhetische Wertschätzung der formalen Gestaltung und die damit verbundene Erlebniszeit dürften sich über die Jahrhunderte hinweg nicht grundlegend geändert haben, während die Deutung des Inhaltlichen im Laufe der Zeit erheblichen Schwankungen unterliegt. Der Versuch, diese Sinnschicht auch im Rahmen einer Analyse des mit der Bildwahrnehmung verknüpften Zeitbewusstseins zu erschließen, erschien im Kontext einer Besprechung der „poetischen Allegorien“ unabdingbar – tragen diese in ihrer Komplexität doch auch dazu bei, jenen weiten geistigen Horizont zu erhellen, der damals wie heute konstitutiv die Erlebniszeit eines Kunstwerks strukturiert.

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II Serielle Erzählstruktur Albrecht Dürer, Apokalypse Nach dem Evangelisten Lukas (Lk 17, 20) stehen das „Jüngste Gericht“ und, ihm vorangehend, die Wiederkunft Christi unwiderruflich, aber zu einem unbestimmten Zeitpunkt bevor. Dementsprechend nimmt auch die frühchristliche Kunst in symbolischer Form immer wieder Bezug auf die Heilserwartung der Verstorbenen und das damit verbundene Jüngste Gericht (vgl. Bild/Zeit, I, 1996, S. 146 ff. und 209 ff.). Der Verfasser der Apokalypse, Johannes, soll in der Regierungszeit Domitians um 90–95 n. Chr. im kleinasiatischen Raum als Prophet und Wanderprediger tätig gewesen sein. Dies trug zur Legendenbildung um den Evangelisten bei, dessen Marter durch Domitian in der Legenda aurea und im Passional oder Der Heiligen Leben (1488) beschrieben wird. Im Kampf gegen die römische Staatsreligion wird das Augenmerk der Offenbarung auf die himmlische Erscheinung Gottvaters und seine Taten gerichtet  ; die Fährnisse, denen die Christen ausgesetzt waren, werden in visionärer und zugleich verkleideter Form beschrieben  : der Imperator als „scheußliches Tier“ oder die Priesterschaft in Gestalt des „zweiten Tieres“ mit Lammhörnern.1 Der Gegenwart tut sich eine Zukunftsvision auf, die zum einen auf dem fußt, was der berufene Seher erfahren hat und den Zeitgenossen verkündet  ; zum anderen ist sie zugleich abgehoben, auf das Geschehen am Ende der Zeiten ausgerichtet. Eine zeitliche Differenzierung der eschatologisch gesteuerten Bestrafung und Erlösung der Menschheit wird sogleich in der einleitenden „Thronsaalvision“ (Off 4, 1–5, 15) vorgenommen, in der die bereits angebrochene Herrschaft Christi dem Gläubigen vor Augen gehalten wird. Durch die Macht des Lammes wird das erste Siegel geöffnet (Off 6, 1–8) und in der Folge kommen die Plagen über die Menschen. Nach der Öffnung des letzten, siebenten Siegels kehrt eine große Stille von einer halben Stunde ein. Sieben Posaunen erschallen und weitere Schreckenszenarien folgen. Bevor nun das Geschehen zu einem Ende gebracht wird, folgen im Text mehrere Einschübe  : die Erinnerung an die 144.000 Geretteten, Versiegelten, sowie eine Gerichtsszene  ; des Weiteren schildert der Prophet den Untergang Babylons bzw. Roms (Off 18). Das Weltgericht selbst gipfelt in der Versammlung der Auserwählten und in weiteren Handlungen Gottes (Off 19, 11–22, 5). Der jüdischen Vorstellung vom messianischen Reich entspricht jene des Tau-

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sendjährigen Reichs, das sich im Kampf durchzusetzen hat  ; erst auf den Sieg folgt das Endgericht. Den Seligen steht danach das himmlische Jerusalem in Gestalt eines Kubus vor Augen. Nach Johannes ist die Herrschaft Gottes bereits durch die Menschwerdung und den Opfertod Christi angebrochen  : Christus sei Herrscher des Kosmos und der Welt, aber zugleich ein „Kommender“. Die Apokalypse selbst ist somit nicht ultimativ, sondern als ein zeitlich begrenztes Strafgericht zu verstehen, auf das erneut tausend Jahre folgen, bevor es zum wirklichen Endgericht kommt.

Frühere Illustrationen Illustrationen zur Apokalypse finden sich bereits seit karolingischer Zeit. Große, manchmal ganzseitige Darstellungen wurden für Beatus-Handschriften angefertigt oder gelegentlich, wie in der Bamberger Apokalypse, den Textseiten der Kodizes beigefügt. Zum anderen finden wir nach Panofsky in der Großen Niederländischen Bibel aus dem frühen 15. Jahrhundert in den Textblock eingefügte Illustrationen  ; diesem Vorbild schlossen sich weitere, mit Miniaturen versehene Bibeln in den 1470er- und 1480er-Jahren an.2 Zunehmend wurden die Bildseiten in den englischen und kontinentalen Manuskripten des 13. und 14. Jahrhunderts von Textblöcken besetzt, so auch in den Blockbüchern der Apokalypse um die Mitte des 14. Jahrhunderts. Die Apokalypsen in Valenciennes und Paris (Bibl. Nat. Nouv. Acq. 1132) weisen eine stringentere Verteilung von Bild und Text auf . In den verwandten Apokalypsen aus Trier und Cambrai handelt es sich um ganzseitige Bilder, wiewohl eine feste Abfolge von Bild- und Textseiten nicht konsequent eingehalten wird.3 Die Vielzahl der Illustrationen (38–72 Seiten) lässt natürlich jene Strenge und Monumentalität vermissen, die Dürers Holzschnitte später auszeichnen sollten. Als einziges Werk, das Dürers Apokalypse in der Anordnung nahesteht, hat nach Panofsky die Offenbarung des Johannes aus dem östlichen Flandern um 1400 zu gelten (Bibl. Nat., Ms. Néerlandais, 3), wo 22 ganzseitige Miniaturen die Recto-Seiten schmücken und die entsprechenden gedruckten Texte sich auf den Verso-Seiten befinden. In der Apokalypse Dürers mit ihren vierzehn Holzschnitten ist der Text auf den Verso-Seiten durchlaufend und korrespondiert meist, aber nicht immer, mit den Bildern. Im

Albrecht Dürer, Apokalypse

Gegensatz zu früheren Forschern ist Peter Krüger der Meinung, dass Text und Bild doch aufeinander abgestimmt wurden  : „Wenn also behauptet wird, dass Dürer nichts unternahm, was zu einer Zusammenschau von Wort und Bild auch nur hätte anregen können“ – Krüger bezieht sich hier auf Aussagen von Panofsky und Perrig –, „so ist dies nicht nachvollziehbar. Im Gegenteil hat Dürer den Rekurs auf die Beschreibung der Szene im Text so gut er eben konnte ermöglicht, und seine Darstellungen zeichnen sich gegenüber der Tradition vielfach durch eine höhere Texttreue aus.“4 Es handele sich aber nicht um unselbstständige Textillustrationen, sondern um eine Abfolge von autonomen Einzelszenen, die als ein Ganzes zu betrachten seien und deren Aussagekraft infolge ihrer Geschlossenheit dem Text gleichberechtigt zur Seite stehe, ja ihn in der Wirkung sogar übertreffe. Daraus ergibt sich, dass die ausgewählten Visionen im Laufe der Arbeit zwar aufeinander abgestimmt wurden, aber nicht immer der ursprünglichen Abfolge im Text entsprechen. Ähnlich verhält es sich mit den Holzschnitten, die nicht in der Folge der Textabschnitte entstanden sind. Die Einzelszenen lassen sich zu Gruppen ordnen, wiewohl alle Holzschnitte in dem relativ kurzen Zeitraum 1496–1498 ausgeführt wurden  ; die stilistische Entwicklung vom Kleinteiligen zum Monumentalen dürfte schnell erfolgt sein. Panofsky hat darauf hingewiesen, dass Wiederholungen von ähnlichen Begebenheiten und Szenen in Dürers Apokalypse vermieden und manche Szenen aus unterschiedlichen Kapiteln gar miteinander verschmolzen wurden, um so ein Höchstmaß an Konzentration und Dramatik zu erzielen. Dies gilt auch für die Darstellungen des Autors, Johannes, der im Gegensatz zu früheren Illustrationszyklen in jene Szenen Eingang findet, wo er selbst aktiv am Geschehen teilnimmt  : kniend vor dem Herrn, von den Älteren angesprochen, beim Verschlingen des ihm vom starken Engel gereichten Buches oder im Angesicht des himmlischen Jerusalem.5 In unserem Zusammenhang stellt sich die Frage, wie bewusst die einzelnen Kompositionen miteinander in Beziehung gesetzt wurden und ob hier dem Zeitaspekt aus rezeptionsästhetischer Sicht Rechnung getragen wurde. Nach Thomas Arlt ist dies der Fall  : „Zusätzlich verknüpft Dürer unabhängig vom Text die zur Illustration ausgewählten Visionen durch formale Gestaltungsmittel wie Bewegungs- und Blickrichtungen, oder durch enge inhaltliche Zusammengehörigkeit  ; er stellt Querverbindungen mittels Wiederholungen und Kompositionsschemata her und benutzt Kontraste zwischen gegensätzlichen Stimmungen und Erzählrichtungen. Die fünfzehn Darstellungen lassen eine genaue Analyse des dramaturgischen Aufbaus der Offenbarung erkennen mit ihrer Berücksichtigung der Akteinteilung und des Prin-

zips vom Wechsel zwischen Spannung und Ruhe sowie vom wechselnden Zeitmaß. Umso interessanter ist daher der Umstand, dass Dürer am Ende des Zyklus die Struktur des Textes unterläuft.“6 Vor der Ausführung der einzelnen Blätter dürfte der Künstler die Holzschnitte der früheren Apokalypsen eingehend studiert haben  : Heinrich Quentells Kölner Bibel von 1478, die Koberger Bibel von 1483 und die Grüninger Bibel von 1485.7 Aber zwischen jenen Illustrationen und Dürers Holzschnitten liegen Welten, sodass eher von Anregungen zur eigenständigen Entwicklung der großen Kompositionen gesprochen werden kann. Dennoch greift Dürer wiederholt auf Figuren und rudimentäre Kompositionsschemata zurück, vor allem auf jene in der Kölner Bibel von 1478  ; die Vergleichsbeispiele werden in dem einschlägigen Buch Albrecht Dürer. Das druckgraphische Werk (Band II, München 2002) vorgestellt (vgl. Anm. 2). In Dürers Apokalypse sieht sich der Betrachter mit autonomen Blättern konfrontiert, die durchweg von ikonischen Kompositionsprinzipien geprägt sind, welche die Lage der einzelnen Bildteile zum Bildganzen und die zur Verfügung stehende Bildfläche berücksichtigen. Darüberhinaus führt der Quantensprung in der technischen Ausführung mit ihren vielen naturalistischen Details und der ungeheueren Variation der Helligkeitswerte und der ornamentalen Fülle zu einer gesteigerten Wirkung, sodass die dargebotene Fantastik den Betrachter staunen lässt und dieser sich selbst in der Rolle des Visionärs wiederfindet. War es im Laufe des 15. Jahrhunderts der bildenden Kunst vorbehalten, den Betrachter in die Eroberung der sichtbaren Welt mit einzubeziehen und sich somit seiner Teilhabe am Bildgeschehen zu versichern (vgl. Bild/Zeit, II, 2004), so führen ihn nun die Holzschnitte in Dürers Apokalypse in die Region des Übersinnlichen, Eschatologischen. Praktisch zur selben Zeit öffnen sich in den Gemälden des Hieronymus Bosch die Pforten zur Unterwelt. Zwischen Text und Bildgestaltung der Offenbarung besteht eine Äquivalenz. Letztere äußert sich eben nicht als illustrative Angleichung, sondern erscheint in ihrer visuellen Qualität der originären Sprachgewalt ebenbürtig. Diese Feststellung ist nicht einer spezifisch kunsthistorischen Sehweise geschuldet, sondern verdankt sich dem Umstand, dass Bild- und Textfolge quasi parallel zueinander verlaufen, quasi gleichberechtigt sind. Dürer trat bei der Veröffentlichung der Drucke 1498 sowohl als Künstler als auch als Unternehmer hervor  : Er sorgte für den Druck sowie für den Vertrieb der Blätter in eigener Regie.8

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Serielle Erzählstruktur

Tradition hatte (vgl. Bild/Zeit, Bd. II, 2004, Kap. III), war dem jungen Künstler nicht fremd – hatte er doch bereits 1493 in seinem Christus als Schmerzensmann (heute in der Karlsruher Kunsthalle) den Gepeinigten in einer Melencolia-Haltung dargestellt, über sein eigenes Schicksal sinnierend.10 Der Großen Passion wurde 1510 ein ähnlicher Christus als „Schmerzensmann“, auf dem Sarkophag mit Dornenkrone und verkrümmten Händen sitzend und dem Betrachter die Wundmale zeigend, vorangestellt (Abb. 38). In dem späteren Meisterstich der „Melencolia I“ hat Dürer die vertrackte Situation des Künstlers oder Wissenschaftlers thematisiert. Im Ambiente seiner geistigen Mühewaltung in einer von kosmischen Mächten durchdrungenen Welt wird die saturnische Disposition und Gemütslage des Urhebers selbst Gegenstand der künstlerischen Gestaltung und Aussage.11 Ein zweites kleines Autorenporträt findet sich auf dem 1511 hinzugekommenen Titelblatt der Apokalypse, auf dem der Evangelist als inspirierter Schreiber von einem Wolkenband eingefasst und in Begleitung eines Adlers zu sehen ist. Mit einer rhetorischen Geste wendet sich Johannes der ebenfalls in Halbfigur dargestellten Himmelskönigin mit dem Kind über der Mondsichel zu  ; als apokalyptisches Weib steht sie sowohl für das Ende des Erlösungswerks als auch als für das himmlische Jerusalem selbst. 23 Albrecht Dürer, Das Martyrium des Evangelisten Johannes. Apokalypse, 1496/97.

Martyrium des Evangelisten Johannes Dem Zyklus der Offenbarung wurde der Holzschnitt mit dem Autorenporträt des Johannes, der in einem Kessel der Feuerqual ausgesetzt wird, vorangestellt (Abb. 23). Krüger spricht sich für eine Datierung um 1496/97 aus. Frank Olaf Büttner hat auf die Komplexität, welche die zeitliche Verschränkung einer solchen Szene zur Folge hat, hingewiesen.9 In erhöhtem Maße wird hier die Gegenwart in ihrer Drastik und Grausamkeit beschworen. Die Marterszene spielt sich im Vordergrund unter der Aufsicht eines mit einem opulenten Turban ausgestatteten Richters ab, der die römische Herrschaft unter Verweis auf die allgegenwärtige Türkengefahr in die damalige Gegenwart transferierte. Mit den Bürgern jenseits der Brüstung teilt der Betrachter den voyeuristischen Blick auf die Marterszene und gesellt sich damit letztlich zu denjenigen, die in Schuld verstrickt sind und der Erlösung bedürfen. Eine ähnliche Aktualisierung der Passion Christi, deren reflexive Verarbeitung der imitatio pietatis gemäß schon lange

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Die Thronsaalvision oder Johannes und die sieben Leuchter Die Offenbarung hebt mit dem Sendschreiben des Johannes an die sieben Gemeinden an (Off 1, 9–20). Es folgt die Beauftragung des Johannes durch Gott auf dem Regenbogen thronend (Abb. 24). Gott ist umgeben von sieben großen Leuchtern im Wolkenhimmel  ; in der ausgestreckten Rechten hält er sieben Sterne, in der Linken das Buch. Das von seinem Mund ausgehende zweischneidige Schwert steht in der Tradition des Gottesgerichts und ist mit Strafe und Tod in Beziehung zu setzen  ; das Buch, welches im Text keine Erwähnung findet, steht für den Logos, kann aber auch als die von Johannes niedergeschriebene Vision verstanden werden. Der Autor kniet links mit gesenktem Haupt und gefalteten Händen vor der Furcht einflößenden Erscheinung, befindet sich also selbst in dem imaginären Raum, in seiner eigenen Vision eingebunden (Panofsky).12 Seine Botschaft wird die nächste Zukunft zum Gegenstand haben. Die Darstellung gehört in ihrer Monumentalität zweifelsohne zu den spätestausgeführten Holzschnitten der Folge. Der Betrachter findet sich in die Sphäre der himmlischen Vision außerhalb von Zeit und Raum versetzt. Diese Entgrenzung wird auch im Text selbst angesprochen  : „Fürchte dich nicht. Ich bin

Albrecht Dürer, Apokalypse

der Erste und der Letzte und der Lebendige. Ich war tot, doch nun lebe ich in alle Ewigkeit, und ich habe die Schlüssel zum Tod und der Unterwelt. Schreib auf, was du gesehen hast  : was ist und was danach geschehen wird.“ (Off 1, 17– 19)

Vision der offenen Himmelspforte In der folgenden Vision der offenen Himmelspforte (Off 4, 1–5, 14), die in ihrer Fülle und Kleinteiligkeit wahrscheinlich einem früheren Entwicklungsstadium der Holzschnittfolge angehört, erscheint der Allmächtige auf seinem Thron perspektivisch in der Mandorla oberhalb des Wolkenbandes entrückt, überstrahlt von den sieben Leuchtern und umgeben von den 24 Ältesten, die als dicht geflochtene Gruppe ihre goldenen Kronen darbringen (Abb. 25). Sie befinden sich oberhalb der Wolken vor der geöffneten Pforte des Himmels. Der vordere Älteste wendet sich dem jugendlichen Johannes zu, der im Zentrum des Bildes auf einer Ausbuchtung der Wolke kniet. Zu ihm blickt der Betrachter empor, darunter schweift der Blick über eine Landschaft, die nach Struktur und Motiven Darstellungen der folgenden Jahrzehnte vorgreift  : eine Stadt auf einer Anhöhe, Gestade und ferne Berge auf der linken Seite, eine Wasserburg und ein bewaldeter Hügel in der Mitte, hinter denen sich die weite Meeresfläche auftut. Eine steinige Anhöhe mit Bäumen im Vordergrund rechts schließt die Szenerie ab. Der ornamentalen Fülle und der hierarchischen Ordnung im himmlischen, oberen Teil steht somit die Vielfalt der organisch-lebendigen Natur gegenüber. Die Akteure im Himmel sind als Kollektiv dynamisch ins Bild gesetzt. Mit dem vorderen König links befindet sich Johannes im Zwiegespräch. Als noch diesseitige Person scheint er bereits von den Ältesten im Himmel aufgenommen zu werden und erhält einen besonderen Platz in den Wolken. Im Zentrum der Darstellung geht er schon in den Himmel ein, der sich an dieser Stelle nach unten wölbt. Pico della Mirandola hatte in seiner einschlägigen Schrift De hominis dignitate von 1486 die Sonderstellung des Menschen im Kosmos gewürdigt. Mit seiner Seele sei dieser dem Himmel zugewandt, sein Körper sei Teil der Erde. Der Mensch, nach Pico della Mirandola nodus et copula mundi, nimmt demnach jene Sonderstellung im Kosmos ein, wie sie uns hier in Gestalt von Johannes vor Augen steht. Auf die Schriften De sensibus (1509) und De intellectu (1510) von Carolus Bovillus, mit ihren Illustrationen 1514 in einer Nürnberger Ausgabe erschienen, habe ich bereits mehrmals verwiesen. Mit seinem Intellekt ist der Mensch darin mit dem Kosmos und dem

24 Albrecht Dürer, Johannes’ Thronsaalvision. Apokalypse, 1496/98.

Göttlichen verbunden, mit seinem Körper mit der animalischen und vegetabilen Natur (vgl. S. 60 und Abb. 11a, b).13 Mit seiner Darstellung des Johannes reiht sich Dürer künstlerisch in die laufende Debatte ein, die er womöglich bereits während seines ersten Aufenthalts in Italien zur Kenntnis genommen hat und über die er sicher durch die befreundeten Humanisten in Nürnberg unterrichtet wurde. Im Gegensatz zu der reduktionistischen Ausführung der weißen Wolkenlandschaft in der ersten Vision ist die Bildfläche in der zweiten mit ihren perspektivisch dargestellten Pforten an den Rändern des geöffneten Himmels dunkel-ornamental und zur Gänze ausgefüllt. Die Himmelserscheinung ist mehr entrückt und auch die liebliche Landschaft erscheint aus der Distanz. Von Gewalt scheint die Erde noch verschont zu sein  ; sie ist zwar von Menschen besiedelt, aber von einzelnen Figuren ist nichts zu sehen. Sie steht gleichsam offen und harrt der Dinge, die da kommen. Womöglich hat Dürer hier einen Gedanken aus dem siebten Kapitel aufgegriffen, in dem die Engel angehalten werden, „dem Land, dem Meer und den Bäumen keinen Schaden zuzufügen, bis

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Serielle Erzählstruktur

25 Albrecht Dürer, Vision der offenen Himmelspforte. Apokalypse, 1496.

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Albrecht Dürer, Apokalypse

26 Albrecht Dürer, Die vier himmlischen Reiter. Apokalypse, 1497/98.

27 Albrecht Dürer, Die Öffnung des fünften und sechsten Siegels. Apokalypse, 1497/98.

wir den Knechten unseres Gottes das Siegel auf die Stirn gedrückt haben“ (Off 7, 2–3).

Figuren, von den Bildrändern überschnitten, sind nah an uns herangerückt. Vom Menschen selbst verschuldet, setzen Tod und Verderben im Laufe der Geschichte dem Individuum und der Gesellschaft ein Ende.

Die vier himmlischen Reiter Mit der Öffnung der vier ersten Siegel (Off 6, 1–8) werden die „vier Reiter“ auf den Plan gerufen (Abb. 26). Völkerund Bürgerkrieg, Teuerung und Hungersnot sowie der Tod auf einem fahlen Pferd fallen über die Menschen her, die unter den Hufen der Pferde zu Boden stürzen. Die furchterregenden Reiter mit Bogen, Schwert und Waage fegen auf ihren Rössern im unaufhaltsamen Vorwärtsdrang auf Geheiß eines Engels über die Erde hinweg. Der Tod mit seiner Forche folgt ihnen auf seinem Gaul, um die Verendeten aufzusammeln. Die Dynamik der Protagonisten steht jener der Reitergruppe in Leonardos „Anghiarischlacht“ (Abb. 118) kaum nach  ; wir verspüren hautnah die Gewalt und den Schrecken des Augenblicks. Die Vergegenwärtigung des Geschehens ist durch das zeitgenössische Kostüm gegeben  ; die

Die Öffnung des fünften und sechsten Siegels Dies ist auch in der folgenden Vision der Fall  : der „Öffnung des fünften und sechsten Siegels und der „Einkleidung der Märtyrer im Himmel“ (Off 6, 9–15  ; Abb. 27). Der Aufbau der Darstellung ist durch die Gegenüberstellung der himmlischen und irdischen Örtlichkeit mit ihrer kontrastierenden Stimmung geprägt  : Oberhalb des Wolkenkranzes, von Sonne und Mond begleitet, erscheint ein Engel am Altar, das fünfte Siegel brechend. Links davor liegen die nackten Figuren der unschuldig Hingeschlachteten, die Zeugnis abgelegt haben  ; rechts kniet die Schar der in weiße Gewänder Eingekleideten in Anbetung des Herrn. Von dieser aus der Untersicht wiedergegebenen Vision des Himmels, dessen

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Serielle Erzählstruktur

Siegel der Unversehrtheit und der Errettung auf die Stirn zu drücken (Off 7, 1–8  ; Abb. 28). Das Augenmerk des Blattes, dessen monumentale Figuren den Einfluss Mantegnas bekunden15, liegt entschieden auf den Engeln im Vordergrund, deren Körper sich zu einem festen Block vor einem aufragenden Apfelbaum zusammenfügen, die Unversehrtheit der Natur anzeigend. Gestik und Blicke sind nach oben auf die aufgeblähten Köpfe der „vier Winde“ gerichtet, die der Erde aber nichts anhaben können  ; dies alles auf Geheiß des kleinen, perspektivisch verkürzten Engels, der vor dem Himmel mit dem „Siegel des lebendigen Gottes“ (dem Kreuz) erscheint, das im Vordergrund rechts den Knienden von einem Engel auf die Stirn gedrückt wird. Die beiden Sphären des Himmlischen und Irdischen werden in dieser Darstellung miteinander verschmolzen. Im Vergleich zu den vorangegangenen beiden Szenen kehrt Ruhe ein. Der im Text angesprochene zeitliche Aufschub ermöglicht diesen Akt der Errettung, der vom Betrachter sowohl formal als auch inhaltlich nachvollzogen werden kann.

Sieben Posaunenengel

28 Albrecht Dürer, Die vier beschützenden Engel. Apokalypse, 1497/98.

Wolkenband zwischen Sonne und Mond aufklafft, regnen die Sterne auf die Erde und auf die Menschen jeglichen Standes nieder, die in ihrer Verzweiflung und Ohnmacht Schutz im Geröll suchen (Off 6, 13–16). Die bedrängten Menschen sind in nächste Nähe zum Betrachter gerückt und werden von den seitlichen Bildrändern überschnitten, sodass auch in diesem Blatt die ornamentale Verflechtung der Figuren untereinander sowie mit der Umgebung eine Fortsetzung findet. Mithilfe der Perspektive und der Nähe zu den ausdrucksstarken Gestalten im Vordergrund sucht Dürer die Ereigniszeit im Bild mit der Erlebniszeit des Betrachters in Deckung zu bringen.

Die vier schützenden Engel Zu einer Zäsur in der fortlaufenden Katastrophe kommt es, indem Gott „vier Engel“ beauftragt, für eine kurze Zeit dem zerstörerischen Werk der vier Winde Einhalt zu gebieten, um so den 144.000 Auserwählten der Stämme Israels das

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Diese Nähe und Beruhigung wird im folgenden Blatt mit den „sieben Posaunenengeln“ wieder aufgehoben (Abb. 29). In unbestimmter Höhe schwebend, schauen wir zu Gottvater empor, der hinter einem Altar die sieben Posaunen an die Engel verteilt, während ein kleiner Engel vor ihm die glühenden Kohlen aus dem Weihrauchkessel entnimmt und sie auf die Erde wirft (Off 8, 1–5). Über das Panorama der Welt – Berge, Städte und Gestade an einer Meeresenge, vom Betrachter aus der Vogelperspektive erfasst – brechen die Naturkatastrophen unter dem Getöse der Posaunen herein (Off 8, 6–13)  : Dem Hagel und Feuer, den brennenden Bergen, die ins Wasser stürzen, und dem Blutregen fällt ein Drittel der Menschheit zum Opfer. Links am unteren Bildrand stürzt der Stern in den Brunnen und verseucht das Wasser. Beim Ton der vierten Posaune verdüstern sich Sonne und Mond, die in der Mitte links und rechts zu sehen sind. Panofsky ist geneigt, in diesem Blatt mit seinem überbordenden Reichtum an Details und seinen malerischen Werten das zuerst ausgeführte Blatt des Zyklus überhaupt zu sehen  ; in Aufbau und Ausführung steht es der Darstellung der Eröffnung des fünften und sechsten Siegels nahe (Blatt 5 – Abb. 26). Wie dort ist die Komposition symmetrisch angelegt  ; die Grenze zwischen Himmel und Erde ist aber durchlässig geworden. Die Szene drängt sich als Ganzes dem Betrachter auf, der sich der Wirkung der Vision nicht ent-

Albrecht Dürer, Apokalypse

29 Albrecht Dürer, Sieben Posaunenengel. Apokalypse, 1496/97.

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Serielle Erzählstruktur

30 Albrecht Dürer, Die vier strafenden Engel. Apokalypse, 1496/98.

ziehen kann und sogar die Position des nicht dargestellten Autors einnimmt.

Die vier strafenden Engel In dem folgenden Blatt mit den „vier strafenden Engeln“ (Abb. 30), die ein Drittel der Menschheit töten, ist der Augenpunkt wie im Blatt mit den „vier beschützenden Engeln“ (Blatt 6 – Abb. 28) wieder tiefer gelegt  : Die Engel, die mit ihren Schwertern wüten, stehen uns im Vordergrund unmittelbar vor Augen. Die im Text angesprochenen rächenden Reiter (Off 9, 13), deren Pferde Löwenköpfe haben und Feuer, Rauch und Schwefel speien, erscheinen im Himmel klein und ornamental unterhalb des Altars  ; dahinter steht der Allmächtige und befiehlt dem sechsten Engel, in die Posaune zu stoßen. Die extrem bewegten Figuren in ihrer plastisch-ornamentalen Fülle nehmen die ganze untere Hälfte der Bildfläche ein – ihre Dichte verhindert jedes Entrinnen und lässt den Betrachter die bedrohliche Enge spüren. Der

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31 Albrecht Dürer, Der starke Engel. Apokalypse, 1498.

Zeitraum, der auf diese Katastrophe folgt, bleibt unbestimmt, denn im neunten Kapitel heißt es, dass die Menschen, die nicht durch die Plagen umgekommen sind, auch weiterhin nicht vom Werk ihrer Hände, von Mord, Zauberei, Unzucht und Diebstahl ablassen (Off. 9, 20).

Der starke Engel Eine Zäsur sowohl im Text als auch in der Abfolge der Darstellungen bietet das neunte Blatt  : Der starke Engel (Off 10, 1–11  ; Abb. 31). Von einer Wolke umhüllt, auf Feuersäulen auf dem Wasser und der Erde stehend, verweist er mit der Rechten auf den von einem Kreis eingefassten Altar Gottes, der im folgenden Kapitel Erwähnung findet. Zur gleichen Zeit händigt der Engel Johannes das kleine Buch aus mit der Aufforderung, es zu verschlingen. Die Süße der Worte Gottes vermischt sich mit der Bitterkeit der Botschaften, die der Seher noch zu verkünden hat. In Dürers Darstellung erscheint die Einverleibung des lebendigen Logos wie ein Akt

Albrecht Dürer, Apokalypse

der Vergeistigung. Johannes, der stilistisch mit der organischen Fülle der Landschaft verschmilzt, wird selbst vom göttlichen Feuer durchdrungen – nicht viel anders, als Ficino es in seinem Traktat De sole beschreibt und wie wir es von den erdenschweren Figuren in Altdorfers späteren Gemälden her kennen.16 Der brennende Logos erfüllt die Gegenwart und den Menschen, der im Regenbogen und der Bundeslade den Bund Gottes und das Gesetz erkennt. Der starke Engel dient als Vermittler des Irdischen mit dem Göttlichen, das in Gestalt des abstrakten Emblems der Bundeslade in der Kreisform eingefasst im Himmel erscheint.17 Der Bezug zur zeitgenössischen Naturphilosophie und Lichtmetaphysik erscheint hier naheligend. Darüber hinaus besteht eine Ähnlichkeit des Antlitzes des Engels mit dem des Kaisers Maximilian gegeben, der als Auserkorener, mit göttlicher Macht ausgestattet, seine Rolle als Herrscher der Welt zu erfüllen hatte.18 Die Dynamik, Monumentalität und prägnante Formensprache lassen den Schluss zu, dass dieses Blatt zu den späteren der Folge gehört.19 Der Autor selbst, Johannes, und seine Interaktion mit dem Engel, der leibhaftig vor ihm erscheint, ist vornehmlicher Gegenstand der Darstellung, deren Unmittelbarkeit das Übersinnliche auch im Irdischen aufscheinen lässt. Die Hinwendung zu den geretteten Seelen im Himmel in Gestalt von kleinen Engelsfiguren lässt darauf schließen, dass das Strafgericht vorerst zu einem Ende gelangt ist. 32 Albrecht Dürer, Das Sonnenweib und der Drache. Apokalypse, 1497.

Das Sonnenweib und der Drache Die folgenden drei Darstellungen beziehen sich nicht mehr auf das Strafgericht, sondern auf den Kampf zwischen dem Teufel und den himmlischen Mächten. Dementsprechend unbestimmt ist die Verortung der Figuren in der Darstellung Das Sonnenweib (oder die Frau) und der Drache (Off 12, 1–6  ; Abb. 32). Nach der Geburt eines Sohnes entbrennt im Himmel der Kampf zwischen dem Erzengel Michael und dem Drachen (Off 12, 7–12). Nachdem Letzterer auf die Erde gestürzt worden ist, verfolgt er zunächst die Frau, der Flügel verliehen werden, sodass sie vor ihm in die Wüste fliehen kann. Der Versuch, sie mit dem ausgespienen Wasser umzubringen, schlägt fehl (Off 12, 13–18). Dürer hat sich für die Teilung und Modifizierung der Erzählsequenz entschieden. So sehen wir die Frau (oder Himmelskönigin) „mit der Sonne bekleidet“ und auf der Mondsichel stehend als Verkörperung Mariens bzw. der Ecclesia, wie sie gerade von dem siebenköpfigen, Wasser speienden Ungeheuer drangsaliert wird  ; sie wird einen Sohn gebären, der die Welt erretten soll  ; hier wird er vorerst als Kind dem

Irdischen entrückt und von zwei Engeln in einem Tuch gen Himmel getragen, wo Gottvater in der Wolkengloriole in Halbfigur erscheint und ihn segnet. Das Ende dieser Begebenheit mit der Frau und dem Drachen im zwölften Kapitel der Offenbarung verbindet sich in diesem Blatt mit dem Anfang, indem der Drache mit seinem Schwanz ein Drittel der Sterne vom Himmel fegt (Off 12, 4) und zugleich Wasser speit, um die Frau zu ertränken  ; von der Errettung des Kindes ist in der Mitte des Berichts die Rede (Off 12, 5), während das ausgespiene Wasser, das in einem Erdspalt versickert, das Ende bildet (Off 12, 16). Da der Teufel die Kirche nicht zu vernichten vermag, versucht er, ihre Nachkommen in seine Gewalt zu bringen. Dementsprechend erhält die Vision einen unmittelbaren Gegenwartsbezug.

Der Kampf Michaels mit dem Drachen Das folgende Blatt ist dem Kampf Michaels mit dem Drachen (Off. 12, 7–9), d. h. dem Kampf der himmlischen

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33 Albrecht Dürer, Der Kampf Michaels mit dem Drachen. Apokalypse, 1498.

34 Albrecht Dürer, Zwei Tiere verführen die Menschheit. Apokalypse, 1496/97.

Mächte gegen den Satan gewidmet (Abb. 33). Monumental und zugleich virtuos in der ornamentalen Ausführung stößt der Erzengel Michael mit einer Körperdrehung, die dem Manierismus vorgreift, eine Lanze in den Hals des Drachens, während die begleitenden Engel mit Schwert bzw. Pfeil und Bogen die Ungeheuer in seinem Gefolge angreifen. Der Betrachter befindet sich quasi frei schwebend in luftiger Höhe nahe am Geschehen und blickt von dieser Warte aus auf die in einfachen Umrissen aufscheinende Landschaft herab  : eine Dorfidylle mit einer Kirche, von Hügeln umgeben, während die fernen Berge eine weite Meeresbucht umsäumen, in der eine Kogge und eine Galeere erkennbar sind. Der Kontrast zwischen den wuchtigen, durch Schraffuren sehr plastisch und zugleich ornamental wirkenden kämpfenden Figuren und der in beruhigendem Weiß aufscheinenden irdischen Landschaft, die nur etwa ein Viertel der Bildfläche unten einnimmt, könnte nicht größer sein. Allerdings wird im Text bereits die düstere Voraussage getroffen, dass Land und Meer wieder von Satan heimgesucht sein werden (Off 12, 12).

Zwei Tiere verführen die Menschheit

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Diese Weissagung bewahrheitet sich im nächsten Blatt  : Zwei Tieren verführen die Menschheit (Abb. 34). Aus dem Meer steigt ein wundersames Tier mit zehn Hörnern und sieben unterschiedlichen, gekrönten Köpfen, deren Namen Gotteslästerungen sind (Off 13, 1). Dem Mischwesen aus Panther, Bär und Löwe wurde vom Drachen die Macht gegeben, sich die ganze Erde und alle Menschen untertan zu machen. Dementsprechend knien im Vordergrund Vertreter aller Völker und Stände und beten es an – all diejenigen, die nicht wie die 144.000 Geretteten das Siegel des Lamms auf der Stirn tragen. In verdeckter Form wird hier der Bogen zur späteren Geschichte der Menschheit geschlagen, indem die gekrönten sieben Tierköpfe auf die sieben römischen Kaiser anspielen, unter ihnen Nero und Domitian, welche die Christen verfolgten (zur Zeit des Letzteren dürfte die Offenbarung auch verfasst worden sein).20 Dem satanischen Tier wird die Macht über alle Stämme und Völker gegeben, mit den Heiligen zu kämpfen und sie zu besiegen (Off 12, 6–8).

Albrecht Dürer, Apokalypse

Zu diesem gotteslästerlichen Tier gesellt sich ein zweites, das „zwei Hörner wie ein Lamm hatte, aber wie ein Drache sprach“ (Off 13, 11). Dürer gibt ihm das Aussehen eines Löwen mit Widderhörnern, der als verführerischer Vermittler auftritt, der die Menschen anhält, den falschen Propheten anzubeten. Kostüme und Attribute stellen den Bezug zur Gegenwart und den unterschiedlichen Ständen her. Die beiden Ungeheuer werden mit dem Leviathan und dem Behemot des Alten Testaments identifiziert (Jes 27, 1 und Ps 74, 14), die das Chaos und die gotteswidrige Schöpfung repräsentieren.21 Das Geschehen auf der Erde wird von Gottvater im Himmel beobachtet  ; mit der Sichel in der Hand kündigt er das Ende der Herrschaft Satans an. Das Opferlamm und die 144.000 Gerechten In der nächsten Darstellung verlagert sich das Geschehen wieder in den Himmel, wo das Opferlamm, wie ein Emblem auf dem Regenbogen stehend, in einer Glorie erscheint, umgeben von den vier himmlischen Wesen. Zu ihm blicken die „144.000 Gerechten“ als dicht gedrängte Masse empor (Abb. 35). Die Bildfläche ist bis auf die angedeutete Kuppe, auf der Johannes kniet und von der links und rechts der Blick auf eine Küstenlandschaft freigegeben wird, praktisch zur Gänze von der Menge der plastisch-ornamentalen, schraffierten Figuren ausgefüllt. Im Vordergrund wird Johannes, dessen elegante Erscheinung fast der Gestalt Maximilians in Dürers „Rosenkranzfest“ vorgreift, von einem Propheten oder König der illustren Schar begrüßt, wie wir es bereits im zweiten Blatt gesehen haben. Dies entspricht der Aufforderung am Ende des Kapitels, das Gesehene niederzuschreiben (Off 14, 13). Johannes befindet sich kniend auf einer Bodenkuppe  ; sein Oberkörper überschneidet aber im Flächensinn das Wolkenband, sodass er die Grenze zum Himmlischen durchbricht und selbst die Kreisform der Auserwählten schließt. Am unteren Rand des Blattes öffnet sich der Blick auf eine in Umrissen erkennbare Küstenlandschaft – eine Lösung, die auch im Blatt mit dem starken Engel angewandt wurde (Abb. 31). Gegenwart (in Gestalt des Johannes) und Vergangenheit (die Auserwählten mit ihren Kronen und Palmenblättern) werden hier somit eng verzahnt, während das Emblem mit dem Lamm als Gegenstand der Verehrung überzeitliche Signifikanz anzeigt. Die Hure Babylon Zu den Versuchungen der Menschheit während der römischen Weltherrschaft kommen am Ende der Offenbarung noch weitere Plagen hinzu. Dürer übergeht die Darstellung

35 Albrecht Dürer, Das Opferlamm und die 144.000 Gerechten. Apokalypse, 1496/97.

derselben und wendet sich stattdessen der Hure Babylon und dem Untergang der Stadt, die als Sinnbild des römischen Kaisertums zu gelten hat, zu (Abb. 36). Die Hure, prächtig gekleidet und mit dem Prunkbecher in der erhobenen Rechten, sitzt auf dem siebenköpfigen Drachen mit den zehn Hörnern (Off 17, 1–19)  ; vor ihr stehen im Vordergrund die „Könige der Erde“  : „Kaufleute“, „Kapitäne und Schiffsreisende“, die den Untergang der reichen Stadt beklagen, der sich durch die Feuersbrunst im Hintergrund vollzieht (Off 18, 9–24). Im Himmel erscheint der Engel mit dem „Stein, so groß wie ein Mühlstein“, der die Stadt zerschmettern wird (Off 18, 21). Links oben sieht man die himmlischen Heerscharen, die den Kampf mit den Königen der Erde und ihren Heeren aufnehmen werden. Die historische Epoche der Hure und des Tiers bezieht sich auf jene des römischen Kaiserreichs  ; sie übt immer noch eine Faszination auf die in zeitgenössischer Tracht auftretenden Menschen aus. Wiewohl dieses Reich der Verlautbarung nach der Zeit zum Opfer fallen wird, tritt es zunächst erneut (aus zeithistorischer Sicht mit dem Kaiserreich deutscher Nation

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Serielle Erzählstruktur

36 Albrecht Dürer, Die Hure Babylon. Apokalypse, 1496/97.

37 Albrecht Dürer, Wegsperrung des Drachens, Das himmlische Jerusalem. Apokalypse, 1497/98.

identisch) als politische Macht auf den Plan. Im Text heißt es  : „denn es war einmal und ist jetzt nicht, wird aber wieder da sein“ (Off. 17, 8). Ähnlich verhält es sich im 13. Kapitel mit dem siebenköpfigen Tier (oder Leviathan), das, obwohl besiegt, trotzdem wieder auftaucht. Dem Betrachter des Blattes dürfte die ständige Bedrohung durch ein neuerliches Erscheinen des Antichristen gewärtig gewesen sein  ; erneut sieht er sich mit ihm in Gestalt des Tieres mit den sieben Köpfen und zehn Hörnern bzw. Kronen im zehnten Blatt mit dem Sonnenweib (Off. 12, 1–6) konfrontiert  : Diese erhalten „die königliche Macht für eine einzige Stunde … zusammen mit dem Tier“ (Off 17, 12).

Erde mit einem Schlüssel und einer schweren Kette und sperrt den Drachen für tausend Jahre in den Abgrund, der verschlossen und versiegelt wird (Off 20, 1–3  ; Abb. 37). Diese Szene spielt sich im Vordergrund des letzten Blattes vor den Augen des Betrachters ab, der sich bis auf Weiteres von der Bedrohung befreit weiß. Auf einem Hügel im Hintergrund stehen Johannes und der Engel, der auf eine prächtige Stadt im Hintergrund links verweist. Durch den Engel am Stadttor ist sie als das himmlische Jerusalem ausgewiesen. Diese eingeblendete Szene findet erst im folgenden Kapitel 21, Vers 10, der Offenbarung Erwähnung, öffnet aber die zeitliche Perspektive auf das Fernziel der Erlösung und der Seligkeit. Auffallend ist, dass der Himmel selbst nicht dargestellt wird. Die Vision bleibt in der Lebenswirklichkeit des Betrachters verankert. Noch scheint man sich, was die Gegenwart betrifft, in der historischen Phase des Tausendjährigen Reiches zu befinden. Nach Ablauf seiner Strafe wird der Satan erneut versuchen, alle Völker zu verführen, um dann schlussendlich dem Untergang überantwortet zu werden. Beim Endgericht wer-

Die Wegsperrung des Drachen und das himmlische Jerusalem Immer wieder wird in der Offenbarung der Sieg über den Satan hinausgeschoben. Vorerst wird auf der Erde „die tausendjährige Herrschaft“ errichtet  : Der Engel steigt auf die

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Albrecht Dürer, Apokalypse

den – neben den 144.000 bereits Geretteten – dann auch die Toten von der Erde und dem Wasser freigegeben und nach ihren Taten, die in den Büchern verzeichnet sind, gerichtet (Off 20, 7–15). Das Jüngste Gericht selbst fand nicht Eingang in Dürers Apokalypse. Die Folge der Darstellungen mündet in die Diesseitigkeit aus, freilich auch mit Blick auf das zukünftige himmlische Jerusalem, das als reale Stadt den Hintergrund beherrscht. Arlt hat diesbezüglich darauf hingewiesen, dass keine der Triumphszenen am Ende des Textes verbildlicht wurde, sondern die eher verhaltene Darstellung der Einkerkerung des Teufels und der Hinweis auf die irdisch anmutende Himmelsstadt  : „Der Betrachter wird also nicht mit dem Hochgefühl des kommenden Gottesreiches aus dem Werk entlassen, sondern bekommt eine Mahnung mit auf den Weg  : Der Engel weist aus dem Bericht der Zukunftsvision wieder auf die Gegenwart zurück und erinnert den Rezipienten an die Mißstände und Unzulänglichkeiten in der Welt, deren Beseitigung er zu fordern scheint. Damit betont Dürer den auf ihren pädagogischen Absichten beruhenden Gegenwartsbezug der Offenbarung, die immer auch auf eine Erziehung zu gottgefälliger Lebensführung abzielt, und vernachlässigt die Glücksverheißung des Textes.“22 Das Hauptaugenmerk in Dürers Holzschnittserie liegt wie bereits hervorgehoben im kritischen Blick auf das Diesseitige. Der Text stützt sich auf den alttestamentlichen Bund Gottes mit der Menschheit, auch was den Brückenschlag vom eschatologischen Geschehen in einer fernen Zukunft zurück in die Gegenwart betrifft. Vom neutestamentlichen Erlösungswerk Christi ist im Text ebenso wenig die Rede wie in Dürers Darstellung der Apokalypse.

Problem der seriellen Illustrationen Die Serie als Kunstform stellt den Künstler vor besondere Aufgaben, vor allem was die Verknüpfung der einzelnen Szenen oder die bewusste Kontrastierung derselben betrifft. ­Erschwerend bei der Analyse der Komposition Dürers kommt der Umstand hinzu, dass die 14 Holzschnitte der Offenbarung nicht ihrer Abfolge entsprechend entstanden sind. Mehrere Gruppen, die asynchron zum Entstehungsprozess stehen, kristallisieren sich nach Panofsky heraus.23 Um der Monotonie der Wiederholung durch Angleichung, Kontrastierung und den Wechsel von Ruhe und Dynamik entgegenzuwirken, musste Dürer vor allem gegen Ende des Unterfangens mit Bedacht vorgehen, denn gerade diese Blätter beleben durch ihre Dynamik, Monumentalität und Hell-Dunkel-Effekte die Abfolge der Holzschnittserie im

Ganzen. Das einleitende Blatt Marter des hl. Johannes“ (Abb. 23) mit seiner Innenraumdarstellung schert aus der übrigen Folge der Visionen, von Dürer „Figuren“ genannt, aus. Mit seinem Realismus in Bezug auf das oft grausige Alltagsleben der Zeit wird es als Introduktion der ersten „Figur“  : Thronvision und der Beauftragung des Johannes (Abb. 24), vorangestellt. Der Kontrast zwischen dem dunklen Bild mit dem Martyrium des Johannes und der lichten Szene, in der Johannes als Seher vorgestellt wird und zugleich in Aktion tritt, könnte wohl größer nicht sein. Beide Holzschnitte wurden bewusst einander gegenübergestellt. Nach dem düsteren „Introduktionsbild“ nehmen wir unmittelbar an der Vision des Johannes in luftiger Höhe teil. Dieser ist nicht ein passiver Beobachter, sondern wird von Gott in das Geschehen als „Seher“ mit einbezogen. Dies ist auch in dem folgenden Holzschnitt Vision der offenen Himmelspforte und der Einführung Johannes’ in den Kreis der 24 Ältesten der Fall (Abb. 25). Im Gegensatz zur Kleinteiligkeit der Figuren in diesem Blatt und der Distanz sowohl zur Himmelsvision als auch zur Landschaft aus der Sicht des Betrachters ist der Stilunterschied zu der monumentalen Figur Gottvaters und der beruhigten symmetrischen Komposition und den dominanten weißen Flächen, die zu den dunklen, lebhaften Schraffuren in den beiden benachbarten Blättern in Kontrast stehen, beachtlich. In der Darstellung der „vier Reiter“ bleibt die Perspektive auf das Irdische gerichtet, auch wenn die Figuren allein als Ausdrucksträger dienen und nur die Wolken im Hintergrund ihren Teil zur Dynamik beitragen (Abb. 26). Die Reiter, illusionistisch in die Tiefe gestaffelt, rücken bis auf den vordersten Bildrand vor  ; hier befinden sich auch die Getöteten. Wir werden also unmittelbar mit ihnen konfrontiert und spüren den Schrecken und die Ausweglosigkeit, die sie verbreiten  ; ihre plastische Ausformung ist stärker ausgeprägt als in den frühen Holzschnitten der „ersten Gruppe“, vergleichbar etwa mit dem Blatt Vier Engel, die den Winden Einhalt gebieten (Abb. 28). Die Szene mit der Eröffnung des fünften und sechsten Siegels (Abb. 27) gehört infolge ihrer Kleinteiligkeit, Distanz und Symmetrie im Aufbau zu der ersten Schaffensphase. Wieder ist es der tiefer liegende Augenpunkt, die Wucht der dramatis personae und die Dominanz der irdischen Örtlichkeit, die im Blatt mit den „vier Engeln“ (Abb. 28) für eine Kontrastwirkung zu den beiden benachbarten Blättern sorgen, die an Dramatik nichts zu wünschen übrig lassen  ; sie wirken aber aufgrund der Fülle und Kleinteiligkeit der Motive doch weniger stark auf uns, die wir das Ganze quasi in luftiger Höhe aus der Vogelperspektive miterleben. Auf das Blatt mit den „sieben Posaunenengeln“

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Serielle Erzählstruktur

(Abb. 29) folgt das der „vier strafenden Engel“ (Abb. 30), das m. E. etwa zeitgleich mit den „vier beschützenden Engeln“ (Abb. 28) entstanden sein dürfte. Wiederum schiebt sich das Geschehen bis zum unteren Bildrand – eine furiose Entladung, die in einem Knäuel von hingeschlachteten Menschen und Tieren praktisch die halbe Bildfläche einnimmt. Wir blicken empor zu den perspektivisch stark verkleinerten Figuren der himmlischen Reiter, auf monströsen Tieren reitend, zum Altar mit Gottvater, der vier Posaunen in den Händen hält, sowie zu einem fliegenden und einem Posaune blasenden Engel. Ein Kontrastprogramm also im Vergleich zum Blatt mit den „vier Engeln“ (Abb. 28), wo die Ruhe vor dem Sturm herrscht, aber von der Anlage der Komposition her durchaus ähnlich. Nach Panofsky haben wir in dieser Szene verstärkt mit dem Einfluss Mantegnas zu rechnen  ; er ist auch geneigt, die Kleinteiligkeit der Figuren im Himmel auf ein frühes Stadium desselben Bildstocks zurückzuführen, sodass die beeindruckende Schlachtenszene, die wie ein Relief die untere Hälfte einnimmt, womöglich auf eine Überarbeitung zurückzuführen ist. Drei Holzschnitte wohl aus der „mittleren“ Schaffensperiode  : Das Sonnenweib und der Drache (Abb. 32), Zwei Tiere verführen die Menschheit (Abb. 34) und die Hure Babylon (Abb. 36), alle um 1496–1497 angesetzt, werden mit zwei herausragenden, wohl später entstandenen Holzschnitten kombiniert  : Der starke Engel und das Buch (Abb. 31) und Der Kampf Michaels mit dem Drachen (Abb. 33). Früher ausgeführt dürfte der Holzschnitt Das Opferlamm und die 144.000 Gerechten worden sein (Abb. 35) – eine Massenszene und zugleich ein Andachtsbild, das im Kontrast zu den beiden erzählerischen Szenen davor und danach steht. Der Augenpunkt in den beiden Blättern (Abb. 34 und 36) sowie in der Darstellung des „Sonnenweibes“ (Abb. 32), die ja alle auch inhaltlich miteinander vergleichbar sind, ist relativ niedrig angesetzt. Das Geschehen spielt sich auf einer Erdplatte im Vordergrund ab. Wiewohl klein, verfehlen die Figuren aufgrund ihrer fantasievollen Gestaltung und des reichen zeitgenössischen Kostüms nicht ihre Wirkung. Monumentaler sind die beiden flankierenden Holzschnitte Der starke Engel und der Kampf Michaels mit dem Drachen, die wohl zu den spätesten der letzten Folge gehören (Abb. 31 und 33). Wie erwähnt, erscheint der „starke Engel“ (Abb. 31), näher bestimmt sein von einer Glorie eingefasster schwebender Kopf, in der planimetrischen Mitte der Bildfläche. Auch als Engel steht er fest auf der Erde  ; wir sind aus nächster Nähe Zeuge, wie er dem auf dem Boden sitzenden Johannes das Buch aushändigt, und sehen, wie jener beginnt, es zu verschlingen. Mit ihm blicken wir zu dem strengen Antlitz des Engels empor, dem eine Ähnlichkeit

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mit Kaiser Maximilian I. nachgesagt wird. Die Bundeslade erscheint im Himmel als emblematisches Zeichen im göttlichen Kreis. Dürer verzichtet hier auf eine „illusionistische“ Darstellung des Transzendenten. In dem Blatt Kampf Michaels mit dem Drachen (Abb. 33) sind wir als Betrachter dem Geschehen ebenfalls nahegerückt, aber diesmal im Himmel schwebend und unbestimmt verortet. Virtuos erhalten in diesem Holzschnitt die Körper einen ornamentalen Charakter. Die Kontraste zwischen den unglaublich fein und dicht ausgeführten Schraffierungen und den hell belichteten Partien (im Kleid Michaels sowie in der grafisch reduzierten Landschaft) wurden mit großer Sorgfalt ausgearbeitet. Das Monumentale der kämpfenden Figuren und das Ornamentale führen zu einer expressiven Steigerung des Mediums  ; das dunklere Blatt mit seiner reliefhaften Gestaltung der Bildfläche hebt sich von der wesentlich helleren und lockereren Ausführung der beiden benachbarten Blätter ab  ; in der Sockelzone wiederum wird unterhalb des Kampfes der Blick auf die hell beschienene Welt freigegeben, während im Gegensatz dazu der Vordergrund im vorhergehenden Blatt mit dem „Sonnenweib“ die Wiedergabe des Bodens, der ja auch ikonografisch eine Rolle spielt, zu einer Verdichtung führt (Abb. 32)  ; im Blatt Zwei Tiere verführen die Menschheit (Abb. 34) wird der unterste Bodenstreifen von den Tieren und den Menschen eingenommen, die der Verführung erliegen. Den Abschluss bildet auch formal die Wegsperrung des Drachen und das neue Jerusalem (Abb. 37). Die relativ große Gestalt Michaels nimmt die halbe Höhe des Blattes ein und füllt mit seinem Gegenspieler das rechte untere Viertel der Bildfläche aus. Über den beiden Protagonisten erscheinen der Evangelist und der Engel auf einer Kuppe, von wo aus der Blick auf das himmlische Jerusalem in Form einer zeitgenössischen Stadt freigegeben wird. Das Hauptgewicht liegt also auf dem dramatischen Moment des Sieges über Satan, während die Verheißung auf Erlösung und ewiges Leben sich im Hintergrund auftut  ; sie erscheint aber immer noch eng mit dem Irdischen verbunden. Zeitliche Entrückung wird durch räumliche Tiefe indiziert, aber infolge des starken Gegenwartsbezugs der Stadt ist diese Wirkung hier nicht so schlagend. Die Vision scheint sich vielmehr in der Abfolge der Darstellungen immer stärker mit dem Dinglichen und Zeitlichen zu verbinden. Sie nimmt durch die Verbildlichung die Qualität der universalia in re an, die ja in der Debatte um die Transsubstantiation in dieser Zeit keineswegs ad acta gelegt worden war, sondern im Gegenteil neue Aktualität erlangt hatte. Auch konvergiert in dieser Hinsicht die Endszene mit der ersten Himmelsvision  : Der (noch vorläufige) Sieg über den Satan stellt Mahnung und

Albrecht Dürer, Die Große Passion

Zukunftshoffnung zugleich dar. Er bewahrheitet sich in der Gegenwart, wiewohl der Betrachter, den Blick auf die ferne Zukunft gerichtet, noch um sein Seelenheil beim Endgericht bangen muss. Das himmlische Jerusalem erscheint indes so real wie die Darstellung der zeitgenössischen Stadt selbst. Der Blick auf die Marter des Johannes (Abb. 23) ist von der Gegenwart des Geschehens geprägt. Die folgenden vierzehn Visionen entspringen dem Leben des Johannes als Visionär, das auch im kleinen Titelblatt angesprochen wird. Die Marterszene muss dahin gehend verstanden werden, dass sie zwar das grausame Geschick des Autors drastisch schildert, zugleich aber uns das Wunder von dessen Unversehrtheit vor Augen führt. Die Annahme einer didaktisch-moralischen Absicht, die nach diesem „richtungsweisenden“ Blatt hinter dem ganzen Zyklus steckt, wird überdies durch den Umstand erhärtet, dass die Marterszene ja nicht dem ursprünglichen Bibeltext entstammt, sondern der Legende vom Leben des Evangelisten, wie sie in der Legenda aurea oder im Passional oder Der Heiligen Leben von 1488 beschrieben wird.24 Erbauung und innerer Nachvollzug, der imitatio pietatis gemäß, sind hier vorangestellt – stets hat der Betrachter die Visionen mit Blick auf seine eigene Lebensführung und die historischen Umstände zu reflektieren. Der im Glauben Unerschütterliche kann sich des zukünftigen Heils gewiss sein. So lenkt der Bericht über das Geschick des Johannes, dem die irdische Gewalt nichts anhaben kann, das Bewusstsein des Betrachters auf Zukünftiges. Der Weg zur Errettung wird in diesem einleitenden Bild nicht direkt, sondern nur implizit durch die Folterszene angezeigt  ; erst in der letzten Darstellung des Zyklus zeigt der Engel Johannes (und auch dem Leser) das Fernziel des Himmlischen Jerusalem. Der Glaube allein eröffnet dem Menschen diese Zukunftsperspektive und lässt ihn hoffen – die Frage ist, ob hier die Fokussierung auf die Gnade allein in dieser vorreformatorischen Zeit bereits Dürers Vorstellung entsprochen hat. Wie aus dieser formalen Analyse hervorgeht, kann die Ausführung und Angleichung der vierzehn großen Visionen („Figuren“) der Apokalypse in der Holzschnitttechnik, die hier zu ungekannter Perfektion getrieben wurde, noch nicht als einheitlich bezeichnet werden. Die Sicherheit im Umgang mit der Technik und das Potenzial unterschiedlicher Ausdrucksqualitäten wurden innerhalb von zwei Jahren erschlossen. Die asynchrone Folge bei der Fertigung der einzelnen Szenen führte dazu, dass später eingefügte Blätter nach Maßstab, perspektivischer Distanz, Bestimmung des Augenpunkts, Monumentalität, ornamentaler Wirkung und Hell-Dunkel-Effekten im Vergleich zu vorhergehenden oder nachfolgenden Blättern unterschiedlich ausgefallen sind.

Grundsätzlich wird die Kleinteiligkeit der frühen Blätter später von monumentalen Figurendarstellungen abgelöst, nicht zuletzt unter der Einwirkung Mantegnas. Auch Dürers Begabung für das Ornamentale wäre hier anzuführen. Der Betrachterstandpunkt wechselt und dabei auch seine Verortung, mal auf der Erde, mal im Himmel  ; als Bezugspunkt dient die Figur des Johannes. Ein fortlaufender Zeitfluss der Erzählung, der ja auch im Text nicht unbedingt auszumachen ist, konnte demnach weder technisch durchgehalten werden, noch führte die Selektion einzelner Szenen, die zuweilen zeitlich weit auseinanderklaffende Textpassagen verbildlichen, nicht zu einem einheitlichen seriellen Erzählduktus. Es ist auch zu bedenken, dass der ständige Wechsel der Örtlichkeit – von den entrückten Visionen im Himmel zu den Begebenheiten auf Erden – zu einer gewissen formalen Dichotomie führte. Diese parataktische Struktur wird von Peter Krüger auf das Hochformat der Blätter zurückgeführt. Dies heißt nicht, dass die einzelnen Darstellungen in der Apokalypse keine Meisterwerke wären – nur lässt sich der formale Zusammenschluss einer seriellen Erzählung in Raum und Zeit mit dem Visionären bzw. mit der Gegenüberstellung von Himmlischem und Irdischem schwer in Einklang bringen. Der Zeitaspekt einer kontinuierlichen, in sich geschlossenen Handlung sollte in den anschließenden Zyklen der Kleinen Passionund der Großen Passion sowie in dem des Marienlebens bald wesentlich stärker zur Ausprägung gelangen.

Albrecht Dürer, Die Große Passion Auch die Holzschnittfolge Die Große Passion, die Dürer 1511 herausgab, ist nicht in einem einzigen Arbeitsgang ­entstanden. Vielmehr hat der Künstler in den Jahren 1496– 1500, also nach Wanderschaft und erster Italienreise, gleichzeitig mit der Arbeit an der Apokalypse an Einzel­darstel­ lungen aus der Passion gearbeitet, die nach Fertigstellung auch als solche vertrieben wurden  : Christus am Ölberg, Geißelung Christi, Schaustellung Christi, Kreuztragung, Kreuzigung, Beweinung und Grablegung Christi. 25 1510 hat Dürer den Passionszyklus mit vier Blättern vervollständigt  : Abendmahl, Gefangennahme Christi, Christus in der Vorhölle und Die Auferstehung. Hinzu kam das Titelblatt Christus als Schmerzensmann und der Landsknecht. So scheint zunächst die Sachlage zunächst ähnlich wie bei der Apokalypse. In der Großen Passion ergibt sich die Bildfolge jedoch zwangsläufig aus dem vertrauten Inhalt, der bei der Apokalypse nicht unbedingt gegeben war, und nachträglich

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Serielle Erzählstruktur

Bilderfolge beifügte, in dem die Geschehnisse beklagt, beweint und kommentiert werden.27

Der Schmerzensmann und der Landsknecht

38 Albrecht Dürer, Der Schmerzensmann und der Landsknecht. Große Passion, 1511.

vervollständigt werden konnte. Auch wenn die späteren Holzschnitte der Serie eine größere Monumentalität und plastische Wirkung aufweisen, was dem Einfluss der Italiener geschuldet ist, sind keine gravierenden Stilbrüche in der Bildfolge als Ganzes zu verzeichnen. Vielmehr entwickelt der Künstler das Geschehen seriell, als ein fortschreitendes Drama, in dem ein „übergreifendes Gestaltungskonzept“ erkannt wird, das in der Leserichtung von links nach rechts in die Darstellung der Auferstehung als heilsgeschichtlichem Ziel mündet. Die später ausgeführten Szenen tragen zur Vereinheitlichung des stilistisch nicht immer homogenen Zyklus bei. Anke Fröhlich zitiert in diesem Zusammenhang Theodor Hetzer  : „Wir spüren, wie hier Dürer eigentlich aus einer Welt in eine andere hinübertrat, und wir werden vom Anfang an Bewunderung haben für die ungeheuere Leistung der Überbrückung.“26 Die starke Wirkung und die durch die „Großen Passion“ in Gang gesetzte Reflexion lässt sich auch aus dem Umstand ermessen, dass der fromme Benedictus Chelidonius 1511 eine Zusammenstellung aus früheren Schriften als begleitenden Kommentar in Hexametern der

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Dem Buch der Großen Passion mit den von Chelidonius ausgewählten lateinischen Texten stellte Dürer 1511 das Titel­ blatt Schmerzensmann und Landsknecht voran (Abb. 38). Zu Recht hat Fröhlich darauf hingewiesen, dass die Gestalt Christi hier das Motiv des „Erbärmdebildes“ bzw. des „Schmerzensmannes“ aufgreift, das Dürer wie erwähnt bereits in seinem Gemälde von 1493 (Karlsruher Kunsthalle) entwickelt hatte. Dies entspricht der Natur und Funktion des Andachtsbildes, welches das zeitliche Kontinuum aufhebt. Nicht nur werden die zurückliegenden Ereignisse durch die beigefügten Leidenswerkzeuge, die Geißel und die Dornenkrone, dem Betrachter vor Augen gehalten. Sie fordern ihn zugleich zum inneren Nachvollzug des Leidens (compassio) auf (vgl. Bild/Zeit, II, 2004, S. 33 ff.). Auf dem Sarkophag sitzend, die Beine verschränkt und mit verknoteten Händen wendet Christus uns sein Antlitz zu – schmerzerfüllt, von der Dornenkrone hinterstrahlt und erhöht. Bewusst nimmt der Erlöser auch nach Vollstreckung des Urteils die Rolle des Leidenden weiterhin auf sich. In der Figur des Schmerzensmannes, auch als „Christus in der Rast“, ist eine für die Struktur des Andachtsbildes charakteristische Zeitschleife eingebunden  : Christus betrauert und durchlebt nachträglich sein eigenes Geschick und hält dabei den Betrachter zur compassio an. Im Titelblatt tritt hier nun ein weiterer Protagonist auf den Plan  : der wüste Lands­ knecht, der den Schmerzensmann verspottet. Verstärkt wird diese Aktion, indem dem Erniedrigten ein Schilfrohr als Zepter gereicht wird. Womöglich hat Dürer das Schilfrohr gewählt, um die Nichtigkeit der Machtsymbolik überhaupt herauszustreichen. In den drei Evangelientexten ist nur von einem „Stock“ die Rede. Die Darstellung kommt jenem Passus im Matthäusevangelium am nächsten, wo es heißt  : „Dann flochten sie einen Kranz aus Dornen  ; den setzten sie ihm auf und gaben ihm einen Stock in die rechte Hand. Sie fielen vor ihm auf die Knie und verhöhnten ihn, indem sie riefen  : ‚Heil dir, König der Juden  !‘“ (Mt 27, 30). Es handelt sich bei dem Titelblatt nicht nur um die Vorwegnahme der späteren „Verspottung“, sondern um ein umfassendes Sinnbild des Leidens und der Erniedrigung Christi überhaupt. Die beiden Protagonisten wurden aus dem historischen Kontext gelöst – wohl zu Recht hat Fröhlich den visionären Charakter des von einem Wolkenrand gerahmten Bildes betont. Es geht um das Nacherleben der Passion, die in dieser

Albrecht Dürer, Die Große Passion

Nebenszene formelhaft geronnen ist. Die bösartige Verspottung behält ihre Aktualität, liegen doch der Verhöhnung Hybris und Unglauben des Menschen zugrunde. Stets läuft dieser Gefahr, in seiner moralischen Verkommenheit und Bosheit von Gott abzufallen. So wie die Betrachter der Marter des Johannes auf dem Titelblatt der Apokalypse dem Geschehen voyeuristisch beiwohnen, richtet sich nun das Titelblatt mit der „Verspottung“ unmissverständlich an uns als Betrachter in unserer eigenen Gegenwart. Aus der Erniedrigung, dem Leiden und dem Opfertod Christi erwächst die Gnade, aber nur im Zustand des bedingungslosen Nacherlebens, der compassio des Gläubigen, wird sie angenommen und wirksam. Die existenzielle Verdichtung, der Glaubensinhalt und erkennendes Bewusstsein zugrunde liegen, bewahrheitet sich im aus dem Kontinuum des Zeitflusses gelösten Augenblick. Diese religiöse Erfahrung wurde von Dürer bildhaft umgesetzt  ; als ästhetisches Phänomen wird der entsprechende Zustand von Bergson begrifflich mit „reiner Dauer“ umschrieben (vgl. Bild/Zeit, I, 1996, S. 10 und 13 ff., sowie die Einleitung in diesem Buch, S. 10 f.). Es wurde bereits auf den Umstand hingewiesen, dass gerade das Vorhaben, die Passion in einer Abfolge von zum Teil schon vorliegenden Blättern zu schildern, Dürer genötigt hat, die stilistischen Brüche in den Szenen, die sich aus den unterschiedlichen Entstehungszeiten ergaben, nach Möglichkeit kompositorisch zu überbrücken. Diese Vereinheitlichung führte zu einer Verzahnung der überkommenen spätgotischen Formensprache mit der idealisierenden Figurendarstellung italienischer Prägung – eine künstlerische Leistung, die von Hetzer wie erwähnt gewürdigt wurde. Inwieweit es dem Künstler nun gelungen ist, den Fortgang des Geschehens formal umzusetzen, soll Gegenstand der folgenden Analyse der einzelnen Blätter sein.

Das letzte Abendmahl Hinter der überschnittenen Arkade tut sich ein schlichtes Kreuzgratgewölbe auf, das mit seinen Kappen zeltartig den Raum überspannt, in dem sich das letzte Abendmahl stattfindet (Abb. 39). Unter dem schwarzen Auge eines Oculus befindet sich das von einer natürlichen Glorie umstrahlte Haupt des Herrn, der den Lieblingsjünger Johannes mit dem rechten Arm eng umschlungen festhhält.Ohne Zweifel geht es um den entscheidenden Augenblick, als Jesus kundtut, dass einer im Raum ihn verraten wird. Die Reaktion der Jünger reicht von Bestürzung und Lähmung bis zur bewegten Auseinandersetzung. Es ist kaum denkbar, dass Dürer nicht eine nähere Kenntnis von Leonardos Abendmahl­

39 Albrecht Dürer, Das letzte Abendmahl. Große Passion, 1510.

fresko gehabt hat – wird doch gerade hier wie dort der „Umschlag“ des Geschehens (metaboulos) Gegenstand der künstlerischen Auslotung (vgl. Bild/Zeit, II, S. 204 und 242 f.). Dem Bibeltext und der ikonografischen Tradition gemäß, wie wir sie insbesondere von den Altniederländern her kennen, liegt das Opferlamm auf einem Teller mitten auf dem Tisch  ; links und rechts davon werden wir des Brotes und des Weines gewahr. Der zukunftsträchtige eucharistische Bezug wird überdies durch die monumentale Figur des Wirts im Vordergrund links verstärkt, der dabei ist, aus einem Humpen Wein in einen Becher zu gießen. Stärker als in seiner Darstellung des eigentlichen Abendmahlshatte Giotto in der Arenakapelle die Eucharistie in ihrer gängigen Präfiguration der Hochzeit zu Kana zum Ausdruck gebracht (vgl. Bild/Zeit, I, 1996, S. 249 ff.). In der Entstehungszeit der Großen Passion geriet gerade die Transsubstantiation und die Frage ob Gnade allein oder auch Verdienst die Menschenseele erretten könne,in den Fokus der theologischen Auseinandersetzungen. Im Augenblick der Verwandlung, mistero della fede, wird das Opfer Christi erneut vollzogen und

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Serielle Erzählstruktur

Gnade gewährt (vgl. S. 37). Auf der rechten Seite verdreht der in voluminöser Rückenansicht wiedergegebene Judas den Kopf jäh nach rechts und schaut in die Ferne, auf Bevorstehendes. Während Jesus und die um ihn gruppierten Jünger die unmittelbaren Auswirkungen des spannungsgeladenen Moments nach dem Ausspruch verdeutlichen, tragen die beiden Protagonisten im Vordergrund zu einer weiteren Ausdifferenzierung des Zeitaspekts bei  : Mit der Ausgießung des Weins geht im übertragenen Sinn auch die des Bluts, das bald vergossen werden wird, einher. In der angespannten Stille des Augenblicks schwebt das Wort im Raum. Die Statik der höheren Ordnung ist noch nicht zusammengebrochen  ; als geschwinder Strahl steht uns aber der verfließende Moment der Ereigniszeit bildhaft vor Augen. Judas als Gegenspieler ist der Einzige, der sich bereits innerlich von der prästabilisierten Ordnung, hier ikonisch verankert, verabschiedet hat. Er lenkt die Gedanken auf den weiteren Fortgang des Geschehens in der Zukunft, die in den nächsten Darstellungen, Christus am Ölberg und Die Gefangennahme Christi, angesprochen wird. Am Rande sei hier noch eine weitere Frage eingebracht  : Sollte der vom Wirt eingeschenkte Wein im Sinne des Blutopfers, wie im Bild ständig fließend, die Gnade in der erlösungsbedürftigen Welt, deren Strom nie versiegt, zur Anschauung bringen  ? Rund sechsundfünfzig Jahre nach Dürers wohl einschlägig bekannter Darstellung zeigte Pieter Bruegel d. Ä. in seiner Bauernhochzei (Kunsthistorisches Museum, Wien) in verwandter Weise im Vordergrund links einen Bauern (womöglich den Bräutigam), der dabei ist, Bier aus einem großen Krug in eine Kanne zu gießen (vgl. Abb. 247). Aus Wein ist hier Bier geworden. Was im heilsgeschichtlichen Kontext das Zeitliche überstieg, ist nun auf die profane Gegenwart umgepolt worden, ohne Bezug zur Vergangenheit oder der Zukunft. Die Bedeutung der einschenkenden Figur, die formal eine frappante Ähnlichkeit mit dem Wirt in Dürers Abendmahlszene aufweist, hat sich entschieden gewandelt – gegenüber dem Opfer und der damit verknüpften Heilserwartung auf der einen Seite erscheint das unaufhaltsame Fließen des Bieres als eine Metapher für das zeitliche Kontinuum und ein Leben im Überfluss, aus dem es eines Tages ein böses Erwachen geben wird (vgl. Müllers Interpretation S. 382 f.).

überreichen Vegetation umso genauer geschildert (Abb. 40). Furcht als Grundtenor der Szene wurde hier, so Fröhlich, zugunsten der Fügung in das Unabwendbare zurückgenommen. Mit erhobenen Händen nimmt Jesus den vom Engel dargebrachten Kelch in Empfang. Ob der Nimbus als ein Zeichen des „Vorwissens“ zu verstehen ist, scheint mir eher eine tautologische Interpretation zu sein. Denn der Heiligenschein versetzt die Figur grundsätzlich in einen übergreifenden Zusammenhang, der aus dem zeitlichen syntagmatischen Kontinuum herausfällt und stets überzeitliche Sig­nifikanz anzeigt (vgl. Bild/Zeit, I, 1996, S. 213–216). Zutreffend ist allerdings die Beobachtung, dass Christus in den Leidensszenen nicht mit dem Nimbus versehen wurde, auch nicht in der Beweinung und der Grablegung. Nur in der Kreuzigung selbst sowie in der Vorhölle und in der Auferstehung wird Christus mit diesem überzeitlichen Zeichen bedacht. Womöglich sollten das kreatürliche Leiden des Gottessohnes, sein Tod und die darauf folgenden irdischen Klagen nicht mit dem Göttlichen seines Wesens und seiner Bestimmung in Verbindung gebracht werden. Während die Jünger im Vordergrund erdhaft, in Tiefschlaf versunken sind, nähern sich im Hintergrund bereits die Häscher, denen Judas mit dem Geldbeutel den Weg weist. Zwei Motive im Vordergrund beziehen sich formal auf den weiteren Fortgang des Geschehens  : das Schwert, mit dem Petrus Malchus das Ohr abschlagen wird, und der Baumstumpf, auf dem der jugendliche Johannes in Melencolia-Haltung den Arm aufstützt. Wiewohl der Baumstumpf eigentlich als Attribut Johannes des Täufers zu gelten hat und auf den Opfertod und die Heilsgewissheit hinweist, mag hier die Namensgleichheit mit dem Jünger Jesu eine Rolle gespielt haben. Entscheidend für den Stellenwert dieses Holzschnittes in der Serie ist m. E. weniger die kompositorische Anordnung, obwohl der Engel von links kommt und die rechte Seite offen steht, von wo das Unheil droht. Primär geht es um Verinnerlichung des Geschehens  : um das Bewusstsein von der unausweichlichen Verfügungsmacht Gottes, um die Annahme des bitteren Kelches der bevorstehenden Marter und des Todes, um einen Zustand, der durch den Kontrast zu den in bewusstlosem Schlaf versunkenen Jüngern jenseits von Ort und Zeit sich uns umso stärker aufdrängt.

Christus am Ölberg

Die Gefangennahme Christi

Bei seiner Darstellung von Christus im Garten Gethsemane hat Dürer auf die breite Darstellung des nächtlichen Ambientes verzichtet, dafür aber die felsige Landschaft mit ihrer

Mit der Gefangennahme Christi nimmt das gewaltsame Geschehen in der Passion seinen Anfang (Abb. 41). Der Holzschnitt wurde um 1510 ausgeführt. Die Entwicklung der

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Albrecht Dürer, Die Große Passion

40 Albrecht Dürer, Christus am Ölberg. Große Passion, 1496/97.

41 Albrecht Dürer, Gefangennahme Christi. Große Passion, 1510.

Technik in den vorangehenden 14 Jahren lässt sich an diesem Werk gut verfolgen. In den kleinteiligeren frühen Blättern herrscht eine ornamentale Vielfalt vor, die zuweilen einem horror vacui gleichkommt. Die Figuren drohen in der ornamentalen Fülle ihrer Gewänder und der Formenvielfalt der Vegetation und der Landschaft aufzugehen. In der Gefangennahme Christi sind die Protagonisten im Vordergrund größer gehalten und durch die virtuose Ausarbeitung grauer Zwischentöne (mittels unterschiedlicher Dichte der feinen Parallel- und Kreuzschraffuren) plastisch durch Hell-Dunkel-Effekte hervorgehoben. Der Betrachter nimmt am turbulenten Geschehen aus nächster Nähe teil, zumal der Augenpunkt niedrig gelegt wurde und die hinteren Figuren der Menschenmenge von den vorderen überschnitten werden. Die Natur spielt mit, wie schon bei Cranach dem Älteren und den frühen Vertretern der Donauschule  : Knorrige Stämme und Äste schrauben sich in die Höhe  ; ein zersplitterter Stamm ragt hinter dem passiven, in den Himmel blickenden Christus empor. Fröhlich sieht in der nach rechts zurückgelehnten Haltung des Bedrängten den formalen Ausdruck der Selbstaufgabe im weiteren Verlauf der Pas-

sion – auch das blanke Schwert Petri könnte dementsprechend als ein Vektor in Leserichtung gesehen werden. Anderseits zerren die Schergen den Gefesselten in die Gegenrichtung. Sollten sie als Vollzugsgehilfen nicht auch dem Bewegungsduktus von links nach rechts unterliegen  ? Die Diagonale der Speere weist schräg nach rechts oben, sodass zumindest der Fortgang durch die offene rechte Seite gewährleistet zu sein scheint. Zwei Nebenszenen wurden in die dramatische Szene eingeflochten  : Bei Markus (Mk 14, 50–52) heißt es in der Schilderung der Gefangennahme  : „Da verließen sie ihn alle und flohen. Ein junger Mann aber, der nur mit einem leichten Tuch bekleidet war, wollte ihm nachgehen. Da packten sie ihn  ; er aber ließ das Tuch fallen und lief nackt davon.“ Im Hintergrund werden wir dieser Episode gewahr. Links befindet sich ein Gartentor, ähnlich jenem, durch das die Häscher in der vorigen Darstellung in den umzäunten Garten Gethsemane eingedrungen waren. Im Vordergrund rechts sehen wir, zeitlich gleichgeschaltet, die Episode, in der Petrus Malchus, dem Diener des Hohenpriesters, mit dem Schwert das Ohr abschlägt. Die Gewalt wird fortan das Ge-

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Serielle Erzählstruktur

42 Albrecht Dürer, Geißelung Christi. Große Passion, 1496/97.

43 Albrecht Dürer, Schaustellung Christi. Große Passion, 1498.

schehen bestimmen und auch die Flucht aus dem Garten in die Welt von gestern kann nicht den Gang der Dinge aufhalten.

säule schart, erscheint wie ein wogendes Relief von ineinandergreifenden Formen, sodass man die einzelnen Figuren schwer ausmachen kann. Der am Boden kniende Soldat, der sein Reisigbündel festzurrt, und der Spaßmacher mit dem Strick sind jedoch raumschaffende Figuren, die den Blick auf Christus und die Martersäule in der Mitte der Szene lenken. Links schließt Pilatus, der durchweg in türkisch-orientalischem Gewand erscheint und somit einen Gegenwartsbezug herstellt, die Szene formal ab  ; rechts stößt ein Junge ins Horn, während im Hintergrund ein Vorhang beiseitegeschoben wird, um weiteren Schaulustigen Einlass in die Halle zu gewähren. Der kleine Hund am unteren Bildrand oberhalb des Monogramms, der übrigens in mehreren Szenen auftaucht, ist als ein Symbol der Treue oder der Standhaftigkeit gedeutet worden. Die Dornenkrone im rechten unteren Eck mag als Verweis auf spätere Qualen gelten  ; sie schlägt überhaupt den Grundton der ganzen Folge an. In der Beweinung taucht sie erneut als Ausdruck der compassio unterhalb der weinenden Frau am unteren linken Eck auf – womöglich als Indiz dafür, dass Christus nun die irdischen Qualen hinter sich gelassen hat.

Die Geißelung Christi Im Vergleich zu den Szenen der Apokalypse sind die der Großen Passion wesentlich stärker auf die Darstellung der Figuren ausgerichtet. Die Protagonisten nehmen etwa zwei Drittel der Bildfläche in Anspruch. Dies führt dazu, dass der Betrachter unmittelbar an den dominanten Szenen partizipieren kann, zumal der Ablauf des Geschehens allen Zeitgenossen bekannt gewesen sein dürfte. Das zeitliche Kontinuum der Geschichte ist auch in denjenigen Blättern leicht nachzuvollziehen, in welchen die Leserichtung von links nach rechts weniger deutlich ausfällt. Das Blatt mit der Geißelung Christi, das zu den frühen, 1496/97 ausgeführten gehört, ursprünglich womöglich als Einzelszene konzipiert, ist eher symmetrisch angelegt (Abb. 42). Die geifernde Meute, die sich um die abgehobene Gestalt an der Marter-

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Albrecht Dürer, Die Große Passion

Die Schaustellung Christi Die Komposition der Schaustellung Christi (oder Ecce homo) lässt auf den ersten Blick nicht darauf schließen, dass die Leserichtung von links nach rechts kompositorisch von Bedeutung war (Abb. 43). Dies mag auch der frühen Entstehungszeit des Holzschnitts geschuldet sein. Der relativ niedrige Augenpunkt wurde nach rechts verschoben und bleibt von den Figuren verdeckt. Seinen formalen Abschluss findet der noch offene Bildraum durch die Rückenfigur des Ritters rechts. Mit ihm sowie mit dem beleibten Mann, der seine Rechte Christus entgegenstreckt, und mit der Rückenfigur links mit der ausladenden Geste blicken wir zur traurigen Erscheinung Christi empor, der von Pilatus im türkischen Gewand mit beredter Geste den Schaulustigen dargeboten wird. Gelände und Schwert geben die diagonale Blickrichtung vor, sei es nach links zu Christus empor, sei es von oben zum Volk nach rechts unten ins Verderben hinab. Der Betrachter der Szene kann nicht umhin, sich der bunten Schar anzuschließen – wie in den Mysterienspielen der Zeit geht es um Deiktik, Vergegenwärtigung und Identifikation der Akteure im Drama der Passion. Der reflexive Part ist dem Ritter rechts vorbehalten, der uns als Betrachtern als vermittelnde Figur dient.

Die Kreuztragung Die Kreuztragung weist eine ähnliche Struktur wie das „Ecce-homo“-Bild auf (Abb. 44). Aus dem engen Stadttor quillt die Menschenmenge hervor. In ihr erkennen wir Maria und Johannes, denen in der Andachtsliteratur bei dieser Szene besondere Aufmerksamkeit geschenkt wird  ; des Weiteren Simon von Kyrene, der das Kreuz auf sich genommen hat, und einen Soldaten, der in seinem vehementen Vorwärtsdrang und seiner ausholenden Gebärde an einen der vier wilden Reiter aus der Apokalypse erinnert. Christus ist unter dem Kreuz auf die Knie gesunken – mit der Linken stützt er sich an einem Baumstumpf ab, während er sich Veronika zuwendet, die sich ihm auf Augenhöhe nähert. Die Gruppe wird auf der rechten Seite von der eleganten Rückenfigur eines Landsknechts abgeschlossen  ; dieser versucht, den Gestürzten mit einem Strick hochzuziehen, während er aus dem Bild herausblickt und so die Verbindung mit dem Realraum herstellt. Der Speer eines Reiters verstärkt den Duktus nach rechts zur nächsten Station des Leidens, zur Kreuzigung selbst, und nimmt zugleich den Speerstich Longins vorweg. Die übrigen Diagonalen, vor allem jene des Kreuzarms, setzen ikonisch den Vorgang des Falles selbst

44 Albrecht Dürer, Kreuztragung. Große Passion, 1498/99.

um. In der rückwärtigen Verlängerung des Kreuzarms nehmen wir im Stadttor den Träger einer Leiter wahr. Sie gehört zu den Leidenswerkzeugen Christi bei der bevorstehenden Kreuzigung. Die Kombination der „Kreuztragung“ mit dem „Abschied Christi von der Mutter“ und der „Begegnung mit Veronika“ zählt zum Standardrepertoire der Andachtsszenen (vgl. Bild/Zeit, II, 2004, Abb. 32 und 41), deren Ikonografie aus den entsprechenden einfühlsamen Texten schöpft. Darin geht es vornehmlich um den emotionalen Nachvollzug des Geschehens, um Nacherleben und fromme Versenkung im Geiste der imitatio pietatis, wie aus den von Chelidonius ausgesuchten Textstellen ersichtlich wird (vgl. Bild/Zeit, II, 2004, S. 34 ff.).28

Die Kreuzigung Man kann nicht sagen, dass mit der Darstellung der Kreuzigung der Höhepunkt der formalen Gestaltung der Serie erreicht sei (Abb. 45). Fast die ganze zur Verfügung stehende Bildfläche ist mit Figuren besetzt. Wir sehen  : die unansehn-

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Serielle Erzählstruktur

45 Albrecht Dürer, Kreuzigung. Große Passion, 1498.

liche Gestalt des Gekreuzigten selbst  ; ihm zu Seiten die fast identisch erscheinenden beiden Engel, die das Blut in ihren Kelchen auffangen  ; darunter eine vielfach überschnittene, eher schematische Landschaft mit Wald, Stadt, Fluss und fernen Hügelkuppen  ; im Vordergrund links die Trauergruppe mit der Gottesmutter und Johannes  ; rechts einen Reiter, womöglich der Hauptmann, der Jesus als den Sohn Gottes erkannte. Von einem übergreifenden Bewegungsduktus oder einer weiterführenden Öffnung nach rechts kann in diesem Blatt nicht die Rede sein. Die Kreuzigung stellt eher einen natürlichen Halte- und Höhepunkt des Passionsgeschehens dar. Entsprechend pathetisch muten die begleitenden Worte des Hieronymus Paduanus an, der die mystische Verschmelzung der Seele des Betrachters als Braut des Herrn mit der Erscheinung des Gekreuzigten beschwört.29 Der devotionale Charakter der Darstellung und die Intention, die dahintersteckt, sind bei den meisten Kreuzigungsdarstellungen vorgegeben  ; aber die Wirkung verfängt sich hier eher im Dickicht der Formenvielfalt und im Geflecht der Figuren.

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46 Albrecht Dürer, Beweinung Christi. Große Passion, 1498/99.

Die Beweinung Christi Klarer herausgearbeitet ist nach meinem Dafürhalten der emotionale Ausdruck der Protagonisten in der Beweinung Christi, die sich dem betrachtenden Auge mit einer symmetrischen Aufteilung der Hintergrundlandschaft und einer pyramidalen Gruppierung der Beteiligten im Vordergrund wie ein Andachtsbild darbietet (Abb. 46)  : der Hügel Golgathas links mit den drei Kreuzen, von denen das mittlere nun leer ist, Jerusalem in der Ferne und das offene Grab vor dem dunklen Wald auf der rechten Seite. Besonderes Augenmerk wurde der expressiven Ausformung der Bäume geschenkt. Wie in den zeitgenössischen Werken der Donauschule wird das bewegende Geschehen in der Beweinung von den aufragenden Bäumen und der Gestik der verschrobenen Äste begleitet – der seelische Aufruhr findet einen Widerhall in der sympathetischen Naturschilderung. Drastisch vornübergebeugt, mit geradezu verrenkten Armen verweilt Maria Magdalena, während die Gottesmutter die durchbohrte Hand des verstorbenen Sohnes emporhält. Die Frau links ringt die Hände wie in den Darstellungen eines Rogier van der Wey-

Albrecht Dürer, Die Große Passion

den oder der plastischen Trauergruppen, die in Norditalien zu sehen waren. Sie wendet ihr Antlitz den anderen Akteuren zu. Vor ihr liegt der Dornenkranz als Relikt vergangener Qualen  ; links befindet sich die bereitgestellte Grabeshöhle, wo eine angeschnittene Ecke des Sarkophags zu erkennen ist.

Die Grablegung Christi Wiewohl die Grablegung schon vor der Beweinung ausgeführt worden sein dürfte, erweckt sie mit ihren großen Figuren und den ausgleichenden Helligkeitswerten, die alle Einzelheiten weniger scharf, aber dafür integriert erscheinen lassen, einen monumentaleren Eindruck (Abb. 47). Die Örtlichkeit, das Grab und die sympathetische Landschaft sind dieselben – die Trauergruppe wurde um Josef von Arimathäa, Simon von Kyrene und Nikodemus erweitert. Ungewöhnlich ist die Seitenwunde an der linken Seite des Leichnams  ; sie bliebe aber sonst vor unseren Blicken verborgen.30 Zwei Diagonalen durchziehen, wie Fröhlich bemerkt, die Komposition  : zum einen von links oben, wo Golgota mit zwei Kreuzen erscheint, über die Trauergruppe nach rechts unten, wo die Gottesmutter regungslos, mit starren Augen in sich versunken liegt. Dabei ist auf die verwandte Haltung und den Zustand des toten Christus zu verweisen – eine Analogie, die der unfreiwilligen imitatio pietatis künstlerisch entspricht (auf eine ähnliche formale Angleichung habe ich bei Rogiers Kreuzabnahme im Prado aufmerksam gemacht  ; Bild/Zeit, II, 2004, S. 168 f.). Von links unten setzen die Konturlinien der Träger an, die den Leichnam schräg nach rechts oben in Richtung des offenen Grabes ziehen. Erlösung ist noch nicht das Thema, aber bereits im nächsten Blatt werden wir eines Besseren belehrt, da der Tod mit dem Abstieg in die Vorhölle und der Befreiung der dort Weggesperrten kombiniert wird.

Christus in der Vorhölle Mit dieser Szene wird der erste Schritt im Erlösungswerk nach dem Opfertod gesetzt (Abb. 48). Über die Positionierung der Szene besteht Ungewissheit, denn in der vorangegangenen Kleinen Passion (Nr. 211) und in der Kupferstichpassion (Nr. 58) befand sich die Szene jeweils zwischen der Beweinung und der Grablegung  ; bei der Bindung des Buches mit der Großen Passionwurde die Vorhölle jedoch zwischen Kreuzigung und Beweinung eingefügt.31 Es scheint, als ob Dürer der Vorstellung anhing, dass gleich nach dem

47 Albrecht Dürer, Grablegung Christi. Große Passion, 1496/97.

Tod Christi das Erlösungswerk eingesetzt habe, während seine irdischen Reste den trauernden Hinterbliebenen überlassen wurden. Dementsprechend tritt der Heiland in den beiden letzten Darstellungen in der idealisierten Gestalt eines Siegers auf.32 Als Erlöser steigt er heroisch in die von Teufeln bewohnte Vorhölle hinab und zieht Johannes den Täufer aus dem Verlies empor. Die schreckenerregende Unterwelt wird völlig von seiner Erscheinung überstrahlt. Das Urelternpaar – Konrad Hoffmann sah in Adam einen Reflex des Davids Michelangelos – und das Kind stehen wahrscheinlich stellvertretend für die Ermordeten nach der Geburt Jesu  ; sie alle wurden nach einem idealen Formenkanon gestaltet, unberührt vom betrüblichen irdischen Dasein eine jenseitige, höhere Existenz anzeigend. Inhaltlich und auch formal stellt die Darstellung des Christus in der Vorhölle eine gewaltige Vorstufe zur Auferstehung dar. Die „Sichtbarkeit“, das sine qua non der bildenden Kunst, bekommt im deiktischen Programm der Großen Passion wie in den Andachtsbildern überhaupt eine zusätzliche Relevanz. In der Szene der Vorhölle ist die Sichtbarmachung gleichbedeutend mit Befreiung  : „Durch den Blick des Erlö-

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Serielle Erzählstruktur

48 Albrecht Dürer, Christus in der Vorhölle. Große Passion, 1510.

49 Albrecht Dürer, Auferstehung Christi. Große Passion, 1510.

sers werden die in der Hölle Wartenden in die Welt des Sichtbaren zurückgeholt und damit aus der Finsternis und dem Nichts, eigentlich gleichbedeutend mit der Unsichtbarkeit, ­be­freit.“33 Die Errettung der gefangenen Seelen aus der Frühzeit des Menschengeschlechts und einschließlich des auserwählten Volkes im Alten Bund steht für eine Zeitüberbrückung im Heilsplan Gottes. Adam nimmt nach seiner Errettung die Gestalt des heroisch-klassichen Trägers des Kreuzes an, in der seine Berufung als Präfigur Christi im Heilsgeschehen ihre Bestätigung findet.

noch mit den Wundmalen versehen, schwebt in Kontrapoststellung über dem Deckel des Sarkophags. Da dieser geschlossen zu sein scheint, klingt wieder der paulinische Gedanke an, dass der Leib Christi gleich nach seinem Tod sich in einen geistigen gewandelt habe und ohne die Siegel des Grabes zu brechen entwichen sei.34 Die Wächter wiederum erscheinen wie die Jünger in der „Ölbergszene“  : zusammengekauert, in Tiefschlaf versetzt und in starken Verkürzungen der Erde verhaftet. Der untere Teil der Szene ist infolge des dunklen Hintergrunds als „Nachtbild“ zu sehen  ; in der oberen Hälfte des Blattes kehrt sich die Tageszeit um. Der Auferstandene befindet sich bereits in der lichten Zone innerhalb eines Wolkenkranzes, der die überirdische, himmlische Region anzeigt  ; er ist somit zeitlich und räumlich vom Irdischen getrennt, nicht zuletzt von den Wächtern, die schlafend und umnachtet zurückbleiben. Es handelt sich somit um eine Vision der „Auferstehung“, die den Abschluss der Großen Passion bildet und dem gläubigen Betrachter eine Ahnung von der künftigen Erlösung vermittelt. (Hier könnte ein Vergleich zu Michelangelos Re­sur­rezione zu Beginn der 1530er-Jahre gezogen werden  ; S.  164). Der weiße Nimbus des Heilands vor dem

Die Auferstehung Christi Von einer schlüssigen formalen Überleitung von der „Grablegung“ zu der im Buchband von 1511 voraufgehenden Auferstehung (Abb. 49) kann nicht gesprochen werden, wohl aber in der gegenwärtigen Redaktion der Holzschnittfolge, in der die Vorhölle vorangeht. Eine Verbindung auf der imaginären Ebene schafft die idealisierte Gestalt Christi selbst, die in siegreicher Pose erscheint  : Der klassisch schöne Körper, obgleich

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Albrecht Dürer, Das Marienleben

schraffierten Grund weist noch die Kreuzform auf  ; aber Erniedrigung, Schmerz und Tod, die sich im Titelblatt mit dem Motiv des Schmerzensmanns ankündigten, sind nun endgültig überwunden. Wiewohl wir als Betrachter noch im irdischen Jammertal verharren, hält Dürer uns nun erst recht die Wunsch- und Zielvorstellung einer jenseitigen, höheren Daseinsform vor Augen.

Albrecht Dürer, Das Marienleben Dürers Holzschnittfolge des Marienlebes umfasst 20 Blätter. 17 entstanden in den Jahren 1501–1505 und wurden von Marcantonio Raimondi nachgestochen. Unterbrochen wurde die Arbeit durch Dürers zweite Italienreise 1505/06, um erst 1510 mit dem Marientod und der Himmelfahrt Mariens zum Abschluss gebracht zu werden  ; das in der Ausgabe von Chelidonius ans Ende gestellte Blatt Die Verehrung der Gottesmutter könnte bereits früher entstanden sein. Für die Ausgabe 1510/11 kam ein neu gefertigtes Titel­ blatt mit der Mondsichelmadonna hinzu.35 Wie bei der Apokalypse sind die einzelnen Blätter des Marienlebens nicht in der Reihenfolge der Textvorlage, der Par­ the­nica Mariana des Giambattista Mantuanus aus dem Jahr 1500, entstanden.36 Die lateinischen Verse des Benediktiners Chelidonius, die begleitend zum Buch verfasst wurden, folgen auch nicht in allen Stücken Dürers Bildschöpfungen, sondern sind unabhängig davon als eigenständige Dichtung in Anlehnung an das Epos von Mantuanus anzusehen.37 Andererseits ist die Parallelführung von Text und Bild wesentlich enger als in der „Apokalypse“, indem die Buchausgabe jeweils zwei Doppelseiten aufweist mit dem Text links und dem Bild rechts, sodass die optische Zugehörigkeit der beiden gegeben ist.38 Eine Abstimmung zwischen Dürer und Chelidonius dürfte nach Anna Scherbaum um 1505/06 stattgefunden haben. Die Intention, die fortlaufende Erzählung dem Betrachter vor Augen zu führen, war gegeben. Verstärkt wird der Gegenwartsbezug der Darstellungen durch Architekturkulissen, Topografie, Typus und Kleidung der Protagonisten – ein volkstümlicher Grundzug und ein idyllisierender Ton setzen jedem Blatt ihren Stempel auf. Gelegentlich finden sich auch fantastische Elemente in der Kostümierung und in manchen Architekturstaffagen, wie wir sie von der zeitgenössischen deutschen und altniederländischen Malerei her kennen  ; sie hatten den Bedarf an Fremdem und Wundersamem zu befriedigen.39 Im Prinzip galt es aber, die apokryphe Geschichte des Marienlebens nach Zeit und Ort in die altfränkische Gegenwart zu transferieren.

Diese Intention ist in allen Darstellungen, die bereits als Einzelblätter einem breiten Publikum zugänglich gemacht wurden, spürbar.. Dennoch passen sich die Einzelszenen der Abfolge der Erzählung an und treten in der formalen Gestaltung schlüssig miteinander in Verbindung – kleinere Bildelemente leiten zur folgenden Darstellung über und tragen so zum übergreifenden Erzählduktus bei, in den sich der Betrachter fortwährend hineinversetzen kann. Wiederholungen der Figurenkonstellationen und der gängigen Motive der Topografie tragen zur Homogenität der Erzählung und ihres Ablaufes bei  ; sie erscheinen uns bekannt und verstärken so die Stimmung und die daraus erwachsende Erwartungshaltung. Im Vergleich zur „Großen Passion“ wird im Marienleben das Augenmerk wesentlich stärker auf die Einbettung der erzählerischen Szenen in die vertraute landschaftliche Umgebung und die heimatliche Architekturszenerie gerichtet, während die Passionsdarstellungen sich mit größtmöglicher Intensität der drastischen Figurenschilderung zuwandten. Infolge der Wiederholung topografischer Versatzstücke und der architektonischen Bühnen verstärkt sich im Marienleben der Eindruck einer sich kontinuierlich entwickelnden Erzählung. Bis auf wenige Ausnahmen wurden Szenen, die den Schmerz Mariens und die Passion Christi schildern, ausgeklammert.

Madonna lactans in der Mondsichel Das Titelblatt mit der Madonna lactans in der Mondsichel wurde erst zum Abschluss der Bildserie vorangestellt. Die Verschmelzung der apokalyptischen Madonna mit Sternenkranz und Sonnenstrahlen mit dem Typus der Madonna lactans lässt bereits die Tendenz zur Vermenschlichung und Idyllisierung spürbar werden. 40 Der Grundgedanke, die menschliche Nähe der Gottesmutter mit der zur Frömmigkeit und imitatio anhaltenden Form des Andachtsbildes zu verknüpfen, wird hier bildhaft umgesetzt. Wiewohl als konzeptueller Typus dem Irdischen (und Zeitlichen) entrückt, dient das Madonnenbild doch als Einführung in die Thematik und Stimmung der diesseitig ausgerichteten Erzählfolge. In dem Darstellungsmodus, im Maßstab und in der summarischen Ausführung unterscheidet sie sich jedoch erheblich von den erzählerischen Szenen des Marienlebens.

Zurückweisung des Opfers Joachims Die Erzählung hebt mit der Zurückweisung des Opfers Joachims an (Abb. 50). Dicht gedrängt um den schlichten Al-

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Serielle Erzählstruktur

50 Albrecht Dürer, Zurückweisung des Opfers Joachims. Marienleben, 1505.

tartisch, der nur durch eine mit Zotteln versehene Decke ausgewiesen ist, drängen sich Bürger und Gelehrte. Alt, gebrechlich, bereits statisch labil und unterlegen erscheint Joachim, der unterwürfig das Lamm auf den Altartisch schiebt. Ihm gegenüber steht ein dumpfer Bürger, ein Lamm unter den Arm geklemmt, und ihm zur Seite sein Sohn, der die Kinderlosigkeit Joachims und Annas deutlich macht. Dem Hohepriester scheint das Lamm aus den Händen zu gleiten. Die dramatische Zurückweisung, auf die alsbald die soziale Ächtung und die Schande des Paares folgen werden, tritt bereits zutage, manifestiert sich in der Aufregung und der gedrückten Stimmung, die dem Verlauf des Geschehens anhaften. Der Betrachter selbst nimmt wie die dargestellte Menge im „öffentlichen Raum“ daran teil, zumal die Nähe durch das zeitgenössische Kostüm und die vorgestellten Typen, die dem Alltagsleben in Nürnberg entsprochen haben dürften, zur drastischen Vergegenwärtigung der Szene führt. Das Ganze spielt sich im Vorraum des Tempels ab, der durch einen Vorhang vom Allerheiligsten getrennt ist. Die wuchtige Arkade gibt den Blick auf ein vierteiliges Rippengewölbe des Innenraumes frei. Sie hinterfängt den Hohe-

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priester, den Tempeldiener und die übrigen Protagonisten links und hinter dem Altar, während die Gestalt Joachims von der rechten Vertikalen der Öffnung gleichsam durchtrennt wird  ; Anna und die anderen Begleiter befinden sich außerhalb dieser geometrischen Flächenform. Ähnliche Gestaltungsprinzipien, die die Isolierung und Ausgrenzung mancher Figuren mittels der ikonischen Struktur sinnfällig machen, waren bereits im Mittelalter bekannt (vgl. z. B. Figur und Flächenordnung im Klosterneuburger Altar oder Giottos Fresken in der Scrovegnikapelle in Padua  ; Bild/Zeit, I, 1996, S. 187 ff. und 239 ff.)  ; im Falle Dürers fallen die planimetrischen Bezüge infolge der voll entwickelten architektonischen Räume nicht so deutlich ins Auge. Dass der Künstler aber sehr wohl in diesen Bahnen dachte, steht außer Streit. Die komplexe Verschränkung von Fläche und Raum wird auch an der Aktion im Bild deutlich. Das Lamm rutscht aus der dynamisch-diagonalen Achse zwischen dem Hohenpriester und Joachim, während der daraus entstehende Leerraum von der Radleuchte mit den zwölf Kerzen darüber, dessen Lot durch das Lamm geht, überformt. Appuhn spricht hier den Versuch des Künstlers an, eine Rekonstruktion des Tempels in Jerusalem zu wagen, vergegenwärtigt durch die Gesetzestafeln oberhalb der Tür.41 (Die wohl bekannteste Rekonstruktion der Örtlichkeiten des salomonischen Tempels dürfte Raffaels um 1515 ausgeführter Karton Petri Heilung des Lahmen sein, heute im Victoria & Albert Museum, London  ; vgl. Bild/Zeit, II, 2004, S.  211.) Im Holzschnitt wird die Diagonale im Flächensinn ferner durch den Mann mit seinem Sohn links gestützt bzw. durch die gestaffelten Figuren hinter Joachim auf der rechten Seite. Der Verschiebung aus der vertikalen Achse der Arkade zu jener der Radleuchte führt zur Übertragung der „Verstoßung“ in die Flächenordnung – doch führt diese „Störung“ des früheren vermeintlichen Gleichgewichts zu einer Betonung der eigentlichen Mittelachse des Bildes, die vom Lamm und der hinterlassenen Leere besetzt ist. Direkt sinnfällig, wie etwa bei den extrem reduzierten Bildformen Giottos, werden diese formalen Bezüge bei Dürer nicht – man stelle sich nur zum Vergleich Giottos Verstoßung Joachims in der Arenakapelle in Padua vor (Bild/Zeit, I, 1996, S. 241 und Abb. 225a). Nach zweihundert Jahren der Kunstentwicklung ist gerade das Erzählerische im Bild auf eine Reihe von Protagonisten und einen perspektivisch überzeugenden Aktionsraum ausgeweitet worden. Das biblische Geschehen wird auf die soziale Situation die Gegebenheiten der Gegenwart übertragen, mit denen sich der Betrachter nach Zeit und Ort eins weiß. Mittels der fiktionaler Gegenstände und Versatzstücke wird er zugleich in die Zeit des Alten Bundes zurückversetzt. Die Brüchigkeit der verputzten Wand im

Albrecht Dürer, Das Marienleben

Holzschnitt mag das Ende der Epoche andeuten, wie wir es von Altniederländern wie Robert Campin oder Jan van Eyck her kennen (vgl. Bild/Zeit, II, 2004, S. 126 f. und 135 f.). Die zeitliche Differenzierung anhand des Baustils fällt bei Dürer naturgemäß anders aus. Nun werden dem Tempel meist, wenn auch nicht immer, Formen der älteren Gotik zugesprochen, so im Tempelgang Mariens oder in der Vermählung, während ein zeitgenössisches Gesprenge die Stirnwand hinter der Beschneidung schmückt. Ein schweres Gebälk, von Säulen getragen, verleiht der Tempelhalle der Darbringung durch den „modernen“ antikisierenden Stil einen feierlichen Charakter.

Die Verkündigung an Joachim Die Szene mit der Verkündigung an Joachim spielt in einer Landschaft, die durch das emporragende Geäst, das sich dunkel vor dem weißen Himmel abzeichnet, zur Verstärkung der dramatischen Begegnung mit dem Engel beiträgt (Abb. 51). Die wuchtige Gestalt des Knienden, an den unteren Bildrand gerückt, mit flehend gespreizten Händen und emporgerichtetem Gesicht, wendet sich dem Engel zu, der vor der ornamental reichen Folie des Waldes in flatterndem Gewand schwebt und ihm das Spruchband entgegenhält. Geradezu manieristisch mutet die zwischen den beiden eingefügte kleine Figur des Hirten mit dem Dudelsack an, der infolge seiner drastischen Verkleinerung den Sprung in die Tiefe anzeigt. Auch die kleinen Hirten am rechten Bildrand nehmen am Wunder der göttlichen Erscheinung teil. Die Größenunterschiede sind hier nicht auf eine vom Künstler erdachte Wertperspektive zurückzuführen, sondern entstammen der spielerischen Anwendung der Perspektive, die später von den Manieristen als ein zuweilen mutwillig anmutendes Ausdrucksmittel eingesetzt werden sollte. Zur Beruhigung wird der Blick auf den weißen Meeresspiegel, eine rudimentäre Küstenlandschaft und eine Bergkette im Hintergrund gerichtet. Die Schraffierung des Himmels und des Wassers sowie der fernen Berge wird ausgespart. Der Aufbau der Szene mit den dominanten, ausdrucksstarken Figuren, den ornamental schraffierten Bodenwellen und dem dichten Waldstück schließt an frühere Arbeiten wie Der starke Engel in der Apokalypse oder an die Gethsemaneszene in der Großen Passion an. Die Expressivität der Figuren und der Vegetation sowie ihre Nähe zum Betrachter, die als Merkmale der Holzschnitte der Großen Passio zu gelten haben, werden auch hier eingebracht  ; dadurch wird eine Zäsur in der sonst so beschaulichen Abfolge der Szenen im Marienleben bewirkt.

51 Albrecht Dürer, Verkündigung an Joachim. Marienleben, 1504.

Die Begegnung von Joachim und Anna an der Goldenen Pforte Weniger dramatisch, aber noch immer dem Betrachter nahe gerückt, folgt die innige Begegnung von Joachim und Anna an der Goldenen Pforte, datiert auf 1504 (Abb. 52). Hinter einer opulenten Arkade, die als Rahmen dient und mit ihrem reichen spätgotischen Rankenwerk die Örtlichkeit anzeigt, umarmen sich die beiden auf der Schwelle zur Pforte, in welcher der fiktive Betrachter sich befindet. Schräg dahinter stehen einige Bürger unterschiedlichen Standes, die befremdet dem Geschehen beiwohnen. Ein weiter Vorhof mit altem Gemäuer sowie eine Stadtmauer mitsamt Turm und Torbogen schließen die Szene ab, während im Hintergrund eine bewaldete hügelige Landschaft mit einer Burg und einer Stadt sichtbar wird. Die Aufnahme der Szene in die Serie des Marienlebens ist nach Scherbaum als eine Stellungnahme, ja gar als ein Manifest in der zu jener Zeit wieder entfachten Debatte um die Unbefleckte Empfängnis Mariens zu verstehen.

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Serielle Erzählstruktur

52 Albrecht Dürer, Begegnung von Joachim und Anna an der Goldenen Pforte. Marienleben, 1504.

53 Albrecht Dürer, Geburt Mariens. Marienleben, 1503.

Geburt Mariens

aufwendige, reich verzierte Fantasiearchitektur zur Vergegenwärtigung des Tempels – ganz im Gegensatz zur symbolgeladenen Architektur in der ersten Szene mit der Zurückweisung des Opfers Joachims. Aus der bunten Menge und dem Treiben auf dem Vorhof löst sich gerade das Mädchen, um dem Hohepriester entgegenzusteigen, der unter einem Baldachin auf der obersten Stufe der Treppe ihre Ankunft erwartet. Die Architekturkulissen der rechten Bildhälfte sind orthogonal ausgerichtet  ; über die Figuren hinweg erblicken wir durch einen Torbogen eine ansteigende Hügellandschaft. Die Vermählung der Jungfrau spielt sich an der vordersten Bildebene vor dem spätgotischen Gesprenge und einer ornamentalen, fantastischen Arkade ab, hinter der wir der Bundeslade in einem spätgotisch anmutenden Chorraum gewahr werden. Die Figuren in zeitgenössischer Festtracht sowie der Hohepriester in entsprechendem Ornat beherrschen das Geschehen im Vordergrund, an dem wir unmittelbar partizipieren.42

Die folgenden vier Szenen sind aus einer größeren Distanz mit entsprechend kleineren Figuren geschildert  : Sie gehören zu den frühen Holzschnitten des Marienlebens. Dies wird besonders an der Szene mit der Wochenstube ersichtlich, die als ein zeitgemäßer Innenraum mit einer Vielzahl von genrehaften Frauen, die das Kind waschen und herzen, sich selbst laben und von der Geburt erholen, geschildert wird (Abb. 53). Im Hintergrund erscheint Anna auf der geräumigen Liegestatt, deren Vorhänge beiseitegeschoben wurden. Über dem Ganzen schwebt ein Engel mit einem Räucherfass vor dem geöffneten Himmel und zeigt so den Einbruch des Göttlichen in die diesseitige Welt an. Tempelgang Mariens und Vermählung der Jungfrau In den nächsten beiden Bildern mit dem Tempelgang Mariens (Abb. 54) und der Vermählung der Jungfrau dient eine

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Albrecht Dürer, Das Marienleben

54 Albrecht Dürer, Tempelgang Mariens. Marienleben, 1503. 55 Albrecht Dürer, Heimsuchung. Marienleben, 1503/04.

Die Verkündigung Die Verkündigung ereignet sich in der obligaten Kammer Mariens. Gabriel ist bereits die Treppe herabgestiegen und nähert sich der Jungfrau, die demütig mit gekreuzten Armen und niedergeschlagenem Blick das Wunder erwartet, das sich gerade in Gestalt der Taube, die im Strahlenkranz über ihr flattert, ereignet. Wesentlich handfester, als es in der theologisch fundierten Verkündigung Robert Campins der Fall war (vgl. Bild/Zeit, II, 2004, S. 130 f.), wird dem Betrachter das Geschehen deutlich gemacht  : Durch die offene Arkade im Hintergrund sehen wir Gottvater in der Ferne auf einer Wolke sitzen. Hinweise in Form von alltäglichen Gegenständen nach dem Prinzip des „verborgenen Symbolismus“ der Altniederländer fehlen nicht  : der Wasserkrug in der Wandnische links oder der kleine Kerzenständer darüber, an dem die Kerze ausgegangen zu sein scheint. Zwei weitere Hinweise auf die Heilsgeschichte sind auszumachen  : In der Lünette an der Stirnwand erscheint in der perspekti-

visch verschobenen Mittelachse Judith in Halbfigur mit dem Kopf des Holofernes – die Heldin des Alten Testaments als Präfigur Mariens. Unter der Treppe ist der Kopf des gefesselten Satan zu sehen – eine Reminiszenz an den durch die Menschwerdung Christi besiegten Teufel, der nach der Apokalypse für tausend Jahre eingekerkert wurde (Abb. 36), um dann vor dem Endgericht noch einmal in Aktion zu treten.

Die Heimsuchung Die Begegnung von Maria und Elisabeth findet vor heimatlicher Kulisse statt (Abb. 55). Die stark fluchtende Hauswand links ist derart vom Bildrand überschnitten, dass der Betrachter sich eins mit den beiden Frauen auf der Terrasse im Vordergrund wähnt, während, etwas zurückversetzt, drei Frauen vor dem üppigen Wald rechts ins Gespräch vertieft sind. Im Hintergrund türmt sich, von der Architektur- und Waldkulisse gerahmt, eine Gebirgslandschaft auf. Die weiß

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Serielle Erzählstruktur

len Folie des ornamentalen Gefieders der Engel ab. Als Ergänzung zu der helleren Gestalt Josephs kniet die ebenfalls hell beschienene Maria vor der Krippe, während von hinten zwei Hirten mit Stock und Dudelsack an der Schwelle unter dem Eingangsbogen von rechts in den Raum drängen. Die Schrägperspektive des Baus wird durch die monumentale Figur Josefs verdeckt, der auch dem horizontalen Bewegungsduktus von rechts Einhalt gebietet. Die Geburtsszene weist durch die Figuren, die sich durch Ruhe, Monumentalität, Bewegtheit und ornamentale Intensität auszeichnen, ein großes Spektrum formaler und psychologischer Ausdrucksformen auf  ; eine dramatische Steigerung erfährt sie durch die Schrägperspektive und die sich daraus ergebenden Diagonalen. Eine Schar jubilierender Engel links oben vor dem weißen Himmel und ein prächtiger Stern rechter Hand, der durch ein großes Loch im Satteldach das Kind anstrahlt, schließen die Komposition in der oberen Hälfte im Flächensinn ab – auf eine Schraffierung des Himmels hat Dürer, wiewohl es sich um eine Nachtszene handelt, verzichtet.

Beschneidung Jesu

56 Albrecht Dürer, Geburt Jesu, Anbetung der Hirten. Marienleben, 1502/03.

belassenen Gebirgsketten leuchten in der Ferne hell vor dem schraffierten Himmel mit seinen Schäfchenwolken auf.

Geburt Jesu oder Anbetung der Hirten Die Geburt Jesu ist in der Anordnung als Pendant zur vorhergehenden Darstellung der Begegnung von Maria und Elisabeth zu sehen (Abb. 56)  : Der stark fluchtende, ruinöse Stall ist nach links ausgerichtet und bildet so eine Entsprechung zu der massiven, nach rechts zielenden Wand auf der linken Seite des vorhergehenden Blattes (Abb. 56). Auch leitet die darin dominante Landschaft auf die Umgebung des Stalles über. Infolge der Baufälligkeit des Gebäudes haben wir es in der Geburtsszene mit einer Kombination einer Außen- und einer Innenansicht zu tun. Links ist Joseph mit einer Laterne im Begriff, die Schwelle zum Stall zu überschreiten. In der Mittelachse des Blattes befindet sich das Kind in der Krippe. Es hebt sich fast selbstleuchtend vor der dunk-

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Dramatische Vergegenwärtigung wird auch im nächsten Blatt, der Beschneidung, erstrebt. Wir befinden uns hier wiederum in der tonnenüberwölbten Vorhalle des Tempels, die durch einen Vorhang vom Inneren getrennt ist. Die Architektur ist also ähnlich, wenn auch nicht identisch mit der der einleitenden Szene der Zurückweisung Joachims und wir werden als Betrachter hier ebenfalls durch die Gruppierung der Figuren in das Geschehen mit einbezogen. Unterhalb des Rundfensters an der Stirnwand breitet sich ein prächtiges spätgotisches Gesprenge an der Wand oberhalb der Arkade aus. Das Gedränge der Protagonisten, die physiognomisch und ihrer Kleidung nach mit denen der ersten Szene vergleichbar sind, unterscheidet sich jedoch von dieser, indem der frühere Antagonismus aufgehoben ist und alle nun das Neugeborene in die Gemeinschaft aufnehmen. Das Kind richtet den Blick auf die geflochtene Kerze, die Hawdala, die an hohen Festtagen bei den Gebeten gezündet wurde. Die freudige Stimmung bei diesem jüdischen Brauch wird durch die sorgenvolle Miene Marias getrübt, was auf den Umstand zurückzuführen ist, dass die Beschneidung aus christlicher Sicht als eine ihrer sieben Schmerzen eingestuft wurde.43 Einige versteckte Hinweise auf die alttestamentliche Tradition, die bis zur Taufe noch ihre Geltung bewahrte, wurden im Gesprenge untergebracht  : links Judith mit dem Haupt des Holofernes (wie auch in der Verkündigung)  ;

Albrecht Dürer, Das Marienleben

rechts Moses mit den Gesetzestafeln, deren Epoche alsbald von der Zeit sub gratia abgelöst werden wird  ; in der Mitte erscheint der Löwe Juda, über dem ein Putto stellvertretend für das Christkind steht.44

Anbetung der Hl. Drei Könige Wieder an die altniederländische Tradition anknüpfend lässt Dürer die Hl. Drei Könige in einer Burgruine der heiligen Familie ihre Aufwartung machen. Die Könige sind prächtig gekleidet, der Mittlere mit einer aufwendigen Krone versehen, wie wir es etwa von Hugo van der Goes her kennen, während Maria und Joseph eher bescheiden in zeitgenössischer Tracht erscheinen. Ingeniös wurde hier das Motiv des baufälligen Stalles (allerdings in einer anderen Ausführung als in der Szene mit der Geburt Jesu bzw. der Anbetung der Hirten mit dem Motiv der Burg verbunden, sodass das heilige Paar und das Kind, welches sich mit ausgestreckter Hand dem knienden König zuwendet, hier von der Arkade überwölbt werden. Wiewohl in ruinösem Zustand, vermittelt diese steinerne Architektur doch einen Eindruck von Festigkeit und Würde, der durch den gewaltigen Rundturm, neben dem der Stern erstrahlt, noch eine Steigerung erfährt.

Darbringung Jesu im Tempel Auf diese Szene im Außenraum folgt die Darbringung Jesu im Tempel (Abb. 57) im Tempel im Ambiente eines gehobenen Innenraums. Wir befinden uns in einer geräumigen Halle  : Mächtige runde Säulen tragen ein schweres Gebälk, das nach oben offen bleibt und dessen Funktion Fragen aufwirft. Simeon, der bereits das Kind ehrerbietig in Empfang genommen hat, weiß um die Erfüllung seines Lebens und den bevorstehenden Tod. In der Gruppe hinter dem Altar weist Hannah mit ausgestrecktem Finger auf die Gottesmutter, die mit gekreuzten Armen das Kind aus ihrer Obhut gegeben hat  ; die aufwendigen Kapitäle mit ihren Weinreben nehmen Bezug auf das spätere Opfer und die Erlösung.45 Eine Dienerin ist gerade dabei, den kleinen Käfig mit den Tauben auf den Altartisch zu stellen. Aber noch ist die Mitte frei – die Prophetie Simeons ist bereits eingelöst und geht dem alttestamentlichen Opfer, das diesmal angenommen werden wird, voraus. Eine auffällige Figur am linken Rand umfängt, halb verdeckt und anonym, die kräftige Säule, sodass optisch die Überleitung zu den Akteuren am Altar gegeben ist. Es ist möglich, dass Dürer eine Anregung zu dieser außergewöhnlichen Staffagefigur von den Reliefs

57 Albrecht Dürer, Darbringung Jesu im Tempel, Marienleben, 1504.

Donatellos im Santo in Padua erhalten hat, die er bei seinen Venedigreisen gesehen haben dürfte. Die planimetrische Struktur trägt in diesem Blatt in ähnlicher Weise wie bei der Zurückweisung des Opfers Joachims zur Verdeutlichung des Hergangs bei. So überschneidet die Mittelachse der Perspektivkonstruktion die Figur Josephs. Die leicht geneigt brennende Kerze im Hintergrund, die Dienerin und die vornübergebeugte Gestalt Mariens leiten den Blick auf den leeren Altartisch, wo das Opfer bald angenommen werden wird. Das Kind ist noch in der Gemeinschaft des Alten Bundes aufgehoben, aber seine Rolle in der Heilsgeschichte wird bereits von Simeon angekündigt.

Die Flucht nach Ägypten Das prachtvolle Blatt mit der Flucht nach Ägypten ist ganz Gegenwart (Abb. 58). Der Bewegungsduktus Josephs und

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Serielle Erzählstruktur

letzt in Nürnberg.46 Darüber hinaus wird in Pseudo-Matthäus, Kap. XVIII, über ein Drachenwunder des Jesuskindes berichtet. Dürer ist es gelungen, die freie Bewegung der Figuren kompositorisch einzubinden, ohne einen statischen Eindruck zu erwecken. Wurde bei Giotto einst die Bewegung des Esels und der Figuren durch deren Lage auf der Bildfläche, die Form der Bergkulissen und das planimetrische Liniengefüge suggeriert (vgl. Bild/Zeit, I, 1996, S. 249), dient hier eine fantastische Waldlandschaft als räumliche Bühne für die Flucht nach Ägypten, die demnach freier, aber zugleich weniger dynamisch wirkt.

Die hl. Familie in Ägypten

58 Albrecht Dürer, Die Flucht nach Ägypten. Marienleben, 1504.

des Esels mit Mutter und Kind, die parallel zur Bildfläche vorüberziehen, wird durch die Diagonale des Zauns sowie durch den Stab Josephs konterkariert und durch den Brückenbogen verstärkt. Die Figuren bleiben indes fest im Raster der Baumstämme eingebunden. Die Fantasie des Betrachters wird durch die überbordende Vegetation, die mit ihrer Fülle der Büsche und der Fremdartigkeit der Bäume einen exotischen Rahmen für die traditionelle Szene schaffen, angestachelt. Die Dattelpalme, welche die Szene am linken Bildrand abschließt, dürfte sich auf eine Textstelle in Pseudo-Matthäus, Kap. XX, beziehen. Allerdings wird die Krone hier nicht wie beim früheren Stich Martin Schongauers aus den Jahren 1471–1473 von Engeln herabgebogen, auf dass Joseph an die Datteln komme. Am rechten Rand erscheint der knorrige Stamm des Drachenbaums, der infolge der engen Handelsverbindungen der Fugger und der süddeutschen Handelsstädte mit Portugal bekannt gewesen ist – diente doch das herbe Harz nicht nur als Arzneimittel, sondern auch als rotes Lackmittel in der Malerei, nicht zu-

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Wie Panofsky hervorgehoben hat, dürfte das vierzehnte Blatt mit der Heiligen Familie in Ägypten bereits 1502 als Einzelblatt konzipiert worden sein, um dann nachträglich in die Folge des Marienlebens eingefügt zu werden (Abb. 59). Die Idee dazu dürfte von Chelidonius stammen. Der Tischler Joseph wird bei der Herstellung eines Futtertroges gezeigt, während die Engel im Vordergrund die Holzspäne in einem Korb aufsammeln. Maria sitzt mit dem Spinnrocken an der Wiege  ; sie ist von Engeln und einem König mit Krone und Flügeln umgeben, die ihr die Aufwartung machen. Panofsky sieht in den drei Figuren eine Paraphrase auf die Hl. Drei Könige, was allerdings nicht die Flügel erklärt. Der König könnte stattdessen als Daedalus gelten. Die Figuren sind relativ klein und allesamt in der vordersten Bildebene platziert, während ein recht stattliches, wenn auch baufälliges Haus den Blick in die Tiefe leitet. Der beschauliche Hof wird am hinteren Ende von einer ruinösen Arkade begrenzt, hinter der eine Hügellandschaft mit einer Burg und ferne Bergketten den Anblick beleben. Der Verlagerung in den Vordergrund durch die Bewegung Josephs auf die dicht gedrängte Gruppe rechts hin entsprechen die fallende Diagonale der orthogonalen Häuserflucht und die abfallende Kontur des Hügels und der Arkade. Planimetrie und Raumgefüge werden so harmonisch verwoben – durch das offene Tor sind die Gäste zu sehen  ; und alles verdichtet sich in der intimen Szene des glücklichen Zusammenseins im Vordergrund.

Jesus unter den Schriftgelehrten Die nächste Szene mit Jesus unter den Schriftgelehrten, auch auf um 1503 angesetzt, spielt in einer geräumigen

Albrecht Dürer, Das Marienleben

59 Albrecht Dürer, Die hl. Familie in Ägypten. Marienleben, 1502.

60 Albrecht Dürer, Der Abschied Christi von der Mutter. Marienleben, 1504.

Tempelhalle. Jesus sitzt im Hintergrund rechts in einer cattedra, von einem spätgotischen Baldachin mit Gesprenge überfangen. Er befindet sich in heftiger Auseinandersetzung mit den gestisch ausfahrenden Gelehrten, die an der Stirnwand unter dem großen Oculus sitzen. Auf der Schwelle zur tonnengewölbten Halle sehen wir Maria und Joseph hinter der massiven Säule hervortreten  ; nach langem Suchen haben sie nun den Sohn im Tempel gefunden. Der räumliche Abstand zwischen den Protagonisten, der bereits von Wölfflin angesprochen und beanstandet wurde, visualisiert die geistige Kluft, die sich zwischen dem Gottgesandten und den von Alltagssorgen geplagten Eltern auftut. Mit deren Ankunft findet die Ungewissheit der unmittelbaren Vergangenheit ein glückliches Ende, während die geistige Auseinandersetzung erst den Beginn des Konflikts anzeigt, der mit Passion und Verurteilung enden wird. Im Vordergrund spiegeln die erregten Gemüter der Schriftgelehrten, einmal als nachdenkliche Einzelfiguren, einmal als diskutierendes Paar oder in einer zusammengeballten Vierergruppe, die unter-

schiedlichen Reaktionen auf den Fortgang der Konfrontation wider. Man fühlt sich an die ähnliche Konzeption in Raffaels Disputà erinnert.

Der Abschied Christi von der Mutter Die Monumentalität und Statuarik der Szene Christus nimmt Abschied von seiner Mutter (Abb. 60) wird von Panofsky den „klassischen“ Darstellungen zugeordnet  ; nach neueren Erkenntnissen wird sie auf 1504 datiert.47 Maria in Begleitung von Martha, der Schwester von Lazarus, und Maria Magdalena versucht kniend und händeringend Christus zu bewegen, nicht den letzten Gang nach Jerusalem anzutreten. Die Vorbildwirkung Mariens, insbesondere in der Szene des Abschieds von Mutter und Sohn am Stadttor, ist charakteristisch für die psychologisierende Tendenz der Andachtsliteratur, auf die Dürer zurückgreifen konnte  : „Verstärkt wurde darin das Augenmerk auf die Vorausahnung

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Serielle Erzählstruktur

e­ inem opulenten Rundbau, dessen Kuppel nach zeitgenössischer Vorstellung dem salomonischen Tempel entsprach, schließt den Ausblick im Hintergrund links, während rechts der Blick auf ein liebliches Flusstal und die fernen Berge freigegeben wird. Christi Schritt aus der hölzernen Pforte „steht für seinen Übergang aus der Welt der Menschen in das himmlische Reich. Das Salbtöpfchen auf dem Querbalken verstärkt diesen Hinweis.“ Jesus antwortet Judas, der die Verschwendung des teuren Salböls tadelte, man solle den Rest des Öls für seinen Leichnam aufbewahren (Joh 12, 7). So zählt die Szene zu den wenigen, die in Dürers Marienleben direkt auf die Passion Bezug nehmen. Dementsprechend sollte womöglich auch der mit ungewöhnlicher Sorgfalt ausgeführte Holzpfosten die Assoziation mit dem Kreuzesstamm wecken  ; er stellt so eine Verbindung zur „Großen Passion“ her. Der Abschied Christi bildet zunächst einen ernsten Abschluss der Holzschnittfolge des „Marienlebens“ das sich ansonsten im heiter-vertrauten Rahmen des Alltäglichen abspielt.

Marientod

61 Albrecht Dürer, Der Tod Mariens. Marienleben, 1510.

der späteren Trennung, die Passion und den Schmerz gerichtet. Manche Ereignisse wurden hinzugedichtet, um diesen Umstand zu verdeutlichen, wie etwa der Dialog in den Meditationes zwischen Maria und Christus am Stadttor während der Kreuztragung.“ (Bild/Zeit, II, 2004, S. 41.) In der Großen Passion hatte Dürer die Szene mit Veronika kombiniert, die dem unter dem Kreuz Gestürzten das Schweißtuch reicht (Abb. 44). Maria und Johannes erscheinen dahinter vor dem Torbogen der Stadt, ohne freilich Augenkontakt mit Christus aufzunehmen. Im Marienleben werden die drei Frauen von einem hölzernen Torbogen, der die Bildfläche praktisch halbiert, eingerahmt. Christus in einem voluminösen Gewand, die Rechte in einem Segens- und Abschiedsgestus erhoben, die den Holzpfosten überschneidet, ist fest in das vertikale Ordnungsgefüge der rechten Blatthälfte eingegliedert. Ein letztes Mal wendet er sich der Mutter zu, die wie in einer „Pietà“ bereits von Maria Magdalena gestützt wird  ; im nächsten Augenblick wird Christus die Sicherheit der Flächenordnung verlassen und ins Ungewisse der weiten Landschaft hinaustreten. Die umwallte Stadt (Jerusalem) mit

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Die beiden letzten Blätter mit dem Marientod und der Himmelfahrt bzw. der Krönung Mariens entstanden erst 1510. Das Ende des irdischen Daseins der Gottesmutter wird markiert und die darauffolgende Überhöhung in die göttliche zeitlose Sphäre manifest. Noch einmal kommen im Marientod die Prinzipien der vorangegangenen Holzschnitte zum Tragen  : die Intensität und die Variation der Figurengruppen  ; die sorgfältige Ausführung des Interieurs mit seiner architektonischen Struktur  ; die Hell-Dunkel-Kontraste und die perspektivische Einfügung der Protagonisten in den Handlungsraum, der kompositionell zwar geschlossen ist, aber zugleich doch den Zugang und die unmittelbare Partizipation des Betrachters gewährleistet (Abb. 61). Wir befinden uns als Betrachter im Sterbezimmer der Gottesmutter auf Augenhöhe mit den Figuren, die sich auf der rechten und der linken Seite um das große Himmelbett scharen und den Blick auf die Sterbende freigeben, die gerade die Sterbekerze empfängt, während Petrus im Bischofsornat, seiner neuen Rolle entsprechend, Weihwasser versprengt. Das Ganze spielt sich in einer tonnenüberwölbten dunklen Kammer ab. Das Licht scheint von vorne zu kommen. Die flankierenden Figuren, die einwärts gewandt sind, werden hell beschienen, so auch das Himmelbett, dessen Vorhänge beiseitegeschoben sind, sodass wir dem Sterbeakt der Gottesmutter im aszetischen Sinne einer gottgefälligen Ars moriendi beiwohnen dürfen.

Albrecht Dürer, Das Marienleben

62 Albrecht Dürer, Mariä Himmelfahrt und Krönung. Marienleben, 1510.

Himmelfahrt Mariens In dem nachfolgenden Blatt ist der orthogonal gestellte leere Sarkophag, in dem sich das Leichentuch noch befindet, fast bis an den vorderen Bildrand geschoben (Abb. 62). Er ist umgeben von den staunenden Aposteln, Propheten oder Heiligen, die das Wunder der Himmelfahrt Mariens vorhergesagt hatten. Mitgebracht haben sie Weihwasser, Salb- und Räuchergefäße, um die Totenfeier am Grab abzuhalten, aber die Gottesmutter befindet sich bereits im lichten Himmel, im reichen Gewand der „Schönen Madonnen“ mit gekreuzten Armen auf einem Bogen sitzend, über dem üblichen, gekräuselten Wolkensaum, der die himmlische Sphäre von der irdischen trennt. Die Krönung der Gottesmutter findet im obersten Himmel, im gewölbten Empyreum, durch den gekrönten Gottvater und den auferstandenen Christus statt. Taube, Krone und Maria bilden die Mittelachse, während der offene Sarkophag und die adorierenden Figuren im Schattenreich des Irdischen die strenge Symmetrie aufbrechen und mehr Leben in die Szene bringen. Raffaels Mari-

63 Albrecht Dürer, Die Verehrung Mariens. Marienleben, 1511.

enkrönung in der Pinacoteca Vaticana, ursprünglich von der Familie Oddi bestellt und für die Franziskanerkirche in Perugia 1503 ausgeführt, ist in seiner zweigeteilten Anlage und dem schräg gestellten Sarkophag durchaus mit Dürers Komposition vergleichbar, auch was die Betrachterperspektive di sotto in su betrifft. Bei Dürer kommen die Entfaltung des Raumes und die Dynamisierung der Handlung sowohl im irdischen als auch im himmlischen Bereich stärker zum Tragen – die Apotheose der Gottesmutter ist dem Betrachter näher gerückt und dieser wird angehalten, sich dem Kreis der Bekenner und Zeugen des Wunders anzuschließen. Eine ähnliche Lösung hat Dürer auch in der Auferstehung der „Großen Passion“ angestrebt (Abb. 49).

Die Verehrung der Gottesmutter In der Ausgabe des Marienlebens von 1511 schließt die Holzschnittfolge mit der ungewöhnlichen Darstellung der Verehrung der Gottesmutter (Abb. 63). Nach Scherbaum

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Serielle Erzählstruktur

handelt es sich womöglich um ein Unikat – ein Einzelblatt, für die persönliche Andacht bestimmt und noch stark von den Eindrücken Dürers während der ersten Reise nach Venedig geprägt. Entsprechend früh, um 1505, wird die Datierung angesetzt. Die leeren Wappenschilder im Vordergrund lassen darauf schließen, dass ein potenzieller Besitzer des Marienlebens sein Wappenund jenes seiner Frau eintragen sollte. Wir befinden uns hier erneut im irdischen Bereich  : Von zwei hoch aufragenden, überlängten Säulen gerahmt, öffnet sich hinter einer Brüstung der Blick auf Maria mit dem Kind inmitten einer dicht gedrängten Gruppe von Heiligen. Dem Knaben wird von einem Engel das Evangelium vor Augen gehalten. Ihre Aufwartung machen die hl. Katharina im Vordergrund links kniend  ; ihr zur Seite Paulus und dahinter Antonius, Hieronymus und Johannes der Täufer  ; auf der rechten Seite Joseph, ein Engel mit ausladenden Flügeln und davor ein weiterer, auf einer Harfe spielender Engel  ; auf der Balustrade im Vordergrund sehen wir lustige Putten, der eine einen Hasen jagend, ein anderer auf ein Wappenschild mit zwei Schlüsseln klopfend – nach Panofsky ein Hinweis auf eine noch nicht durch ein Wappen gekennzeichnete Stifterfigur (in diesem Fall eine weibliche, welche die „Schlüsselgewalt“ haben dürfte). Auch links bleibt das Wappenschild leer.47 Die Stimmung lässt sich mit der freudigen Exaltiertheit der Protagonisten in manchen Werken von Altdorfer oder Grünewald vergleichen. Die Architektur stellt ein Konglomerat von verschachtelten Räumen zur Schau  : Die Halle selbst mit dem Bett wurde als das Brautzimmer (thalamus Virginis) bzw. mit der „Wochenstube Mariens“ identifiziert  ; hinter der Stirnwand mit ihrer eigentümlichen Öffnung wird ein dunkler Raum erkennbar, der womöglich den Tempel mit dem Tabernakel des Alten Bundes repräsentiert. In der Lünette darüber erscheint die Figur Moses’, der ostentativ auf die Gesetzestafeln zeigt. Auf der rechten Seite dringt Licht durch die Butzenscheiben in den Raum. Die Stimmung lässt sich mit jener in Altdorfers Bildern vergleichen.48 Über die Bestimmung dieser Darstellung in der Sequenz des Marienlebens besteht keine Klarheit. Nach Stil und Ausführung gehörte sie sogar zu den frühesten Blättern – Scherbaum meint, es handele sich um einen später als Titelblatt zu Verwendung gekommenen Holzschnitt, dessen „Glorifikation Mariens“ letztlich der Erzählfolge vorangestellt wurde. In diesem Falle würde er als Pendant zur ersten Szene mit der Zurückweisung des Opfers Joachims stehen – aus inhaltlicher Sicht dieser eben diametral entgegengesetzt  : ein zeitloses Allerheiligenbild, das Endstadium und das Nachleben Mariens anzeigend, von der eigentlichen Erzählfolge

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losgelöst. Eine triumphale Einbegleitung, gewiss, zeitlich unbestimmt und durch die unterschiedlichen architektonischen Versatzstücke, die Protagonisten den Alten und den Neuen Bund verknüpfend und das Nachleben der Gottesmutter im Rahmen der Kirche mit einschließend. Stilistisch steht es dem Idiom des „Marienlebens“ wesentlich näher als das später hinzugefügte übergroße Titelblatt mit der Madonna in der Mondsichel.

Resümee In seinem Zyklus des Marienlebens ist es Dürer gelungen, eine Folge von Einzelszenen zu schaffen, die den bunten Strang der Erzählung kontinuierlich und einfühlsam, zuweilen dramatisch dem Betrachter vor Augen führt. Wiederholt werden beruhigende Abschnitte eingefügt, die Protagonisten in vertrauter Umgebung gezeigt  ; sie dienen zur Überbrückung der zeitlichen Kluft zwischen dem Geschehen sub lege und der Gegenwart, die nach der Menschwerdung Christi im Zeichen der Gnade steht. Wiewohl die Einzelszenen uns als abgeschlossene Kompositionen vor Augen stehen, sind sie formal und was die Versatzstücke betrifft miteinander harmonisch verknüpft  ; Wiederholungen von ähnlichen, wenn auch nicht identischen Szenen, wie die Gestaltung der Innenräume und der Landschaftsausblicke, sorgen für Vertrautheit, kontrastierende Spielstätten für Abwechslung und Dramatik. Ein auffallendes Kunstmittel ist die Kombination von räumlicher Entwicklung und strenger Gliederung der Bildfläche, die entscheidende Akzente setzt und zugleich auf rein ikonischem Weg zu einer vertieften inhaltlichen Aussage und Verdeutlichung des zeitlichen Ablaufs beiträgt. Die fortlaufende Handlung und die feinsinnige strukturelle Variation der Einzelszenen halten den Betrachter zur Reflexion an. Bereits Gesehenes wird ins Gedächtnis gerufen, das Geschehene im Bewusstsein präsent. Die Partizipation vollzieht sich somit auf der Ebene des inneren Nachvollzugs. Waren die Zeitbezüge der Apokalypse sowohl was den Text als auch was die bildhafte Umsetzung betrifft mehr auf den übergreifenden historischen Kontext oder auf den fortwährenden Kampf mit dem Satan und das eschatologische Endziel gerichtet, spielt sich das Marienleben im Alltäglichen, bisweilen Idyllischen ab. Die Lebenswelt des Betrachters wird unmittelbar angesprochen. Der volkstümlich anmutende Stoff steht uns als Gegenwart vor Augen, die Topoi der Örtlich­ keiten und der Landschaft erscheinen vertraut. Die imitatio pietatis, vormals in einzelnen Figurenprägungen entwickelt (vgl. Bild/Zeit, II, 2004, S. 9 und 34 ff.), erfährt nun eine Ausweitung und zugleich eine Säkularisierung, indem sie

Albrecht Altdorfer

sich auf eine ganze Geschichte bezieht, in deren Ablauf der Betrachter sich unverbindlich vertiefen kann. Die eigentlich devotionale Ausgestaltung des Marienlebens gewinnt neue Aktualität durch die Verbreitung von Dürers populärer Holzschnittserie, die weniger der religiösen Versenkung als vielmehr der genießenden Schau der seit Langem vertrauten Geschichte dient. Letztendlich geht es auch im letzten Blatt um das Nachleben Mariens in der irdischen Welt, beglaubigt durch die Verehrung der Gottesmutter in der Gegenwart. Ihre Erhöhung erfolgt nicht nur wie herkömmlich durch die Aufnahme in den Himmel, sondern bereits auf Erden.

Albrecht Altdorfer Sebastianaltar Nachdem Dürers Holzschnittfolgen der Großen Passion und des Marienlebens zur Ausführung gelangt waren, griff Al­ brecht Altdorfer in dem von Probst Peter Maurer vom Augustiner-Chorherrenstift St. Florian in Auftrag gegebenen Sebastianaltar um 1509–1516 in einer seriellen Folge von Einzeltafeln ebenfalls die kontinuierliche Erzählform auf. Zwölf Tafeln der Altarflügel mit Darstellungen der Passion und der Sebastianlegende sowie vier kleinere Tafeln der Predella, wohl hauptsächlich um 1512–1513 ausgeführt, sind auf uns gekommen.49 Was die vier Predellen mit der Grablegung, der Auferstehung Christi, den Hll. Margareta und Barbara und dem Stifter, „Probst Maurer“ selbst, betrifft, richtet sich infolge der unterschiedlichen Themenstellungen das Augenmerk nicht auf die Abfolge der einzelnen Begebenheiten. Vielmehr geht es in den Predellen um Verschränkung, Komplementarität und Symmetrie.

Die Grablegung Christi

64 Albrecht Altdorfer, Die Grablegung Christi, Sebastianaltar, 1518. Kunsthistorisches Museum, Wien.

Die Grablegung Christi findet in der Grabeshöhle statt, in der die Protagonisten versammelt sind (Predella des Sebastianaltars, Kunsthistorisches Museum, Wien  ; Abb. 64). Der Leichnam wird in den Sarkophag hinabgesenkt, während die manieristisch anmutenden überlängten Gestalten von Maria und Johannes am linken Bildrand sich schmerzerfüllt dem Betrachter zuwenden. Durch die weite Öffnung der Höhle erblicken wir die hohen Lärchen und ein lichtes Flusstal mit einer Burg und einem Bergmassiv im Hintergrund – eine Landschaft, die als Inbegriff der Donauschule oder des mit diesem Begriff umschriebenen Stils gelten kann.50 Die-

nen in der altniederländischen Malerei das kleinstädtische und dörfliche Ambiente sowie die sanften Hügel Flanderns der Vergegenwärtigung des jeweiligen biblischen Geschehens (vgl. Bild/Zeit, II, 2004, S. 122–190), so ist die Landschaft bei Altdorfer von der voralpinen Topografie geprägt, während die Landschaftshintergründe in den Holzschnitten Dürers mit ihrer Mischform – Flusstal, Gestade, Hügellandschaft und Bergketten  – eher den späteren universalen Landschaften des 16. Jahrhunderts vorgreifen, die sowohl in Flandern als auch in Italien Konjunktur hatten. Der Gegenwartsbezug wird überdies durch das zeitgenössische Kostüm

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Serielle Erzählstruktur

Die Auferstehung Die Auferstehung, ebenfalls im Kunsthistorischen Museum in Wien, datiert auf 1518, spielt sich logischerweise in derselben Höhle ab, wenn auch die Stimmung nicht gegensätzlicher sein könnte (Abb. 65).51 Vor einem flammend gelbroten Abendhimmel erscheint Christus mit der flatternden Kreuzfahne der Auferstehung. Die expressive Übersteigerung der Farben und das Helldunkel, welches Berge und Bäume silhouettenhaft erscheinen lässt, verleihen der Szene den Charakter des Traumhaften, Transzendenten. Das Schlaglicht, welches auf die hockenden Soldaten im Vordergrund und auf die kleineren Engel und Figuren im Hintergrund fällt, lassen den Auferstandenen selbst, von einer intensiven Gloriole und dem roten Firmament umstrahlt, als Quelle des Lichts und des Naturschauspiels erscheinen. Als Sol invictus war der Erlöser bereits in der Patristik zu einem gängigen Begriff geworden, nicht zuletzt, als es darum ging, die heidnischen Stätten und den Kaiserkult auf den Heiland zu übertragen. Bei Altdorfer entwickelt sich die Auferstehung zu einem kosmischen Drama – eine Ausweitung, die der Maler im profanen Bereich der Alexanderschlacht später zu einer großartigen Steigerung führen sollte.

Predellen – Grablegung und Auferstehung

65 Albrecht Altdorfer, Die Auferstehung Christi, Sebastianaltar, 1518. Kunsthistorisches Museum,Wien (Fartbafel VII).

verstärkt. Hier hatten die Italiener und die Niederländer den Weg gewiesen und Dürer und Altdorfer bedienten sich derselben Mittel. Entscheidend sind die Expressivität der Figuren und die überbordende Farbgebung, die über manche womöglich bewusst in Kauf genommene Unzulänglichkeit der anatomischen Wiedergabe und der räumlichen Einordnung hinwegsehen lässt.

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Die Predellen des Sebastianaltars bilden die Klammer des Erlösungsdramas von Tod und Leben, eng mit der umgebenden Natur verwoben. Die beiden anderen Predellen sind ganz auf Diesseitigkeit ausgerichtet  : Die Heiligen „Margaretha und Barbara“ sitzen in einem Chorgestühl ins vertrauliche Gespräch vertieft. Das Pendantbild mit „Probst Peter Maurer“ stellt den Stifter kniend vor einer Kreuzigung im Chorbereich einer Kirche dar, deren Netzgewölbe im Hintergrund schräg nach links fluchtet. In beiden Tafeln ist die Architektur dynamisch, aus der Untersicht wiedergegeben. Der Betrachter rückt in die Nähe der Figuren und wähnt sich ebenfalls von der Architektur umgeben. Eine ähnliche Wirkung hat auch Dürer zuweilen in seinen Holzschnitten erzielt. Zu Recht hat Winzinger auf die neue Stimmung verwiesen, die in den Szenen der Passion vorherrscht. Nicht die innere Größe der Gestalt Christi wie bei Dürer oder die Übersteigerung des Physischen und des Miterleidens wie bei Matthias Grünewald dient hier als Richtmarke der bildhaften Umsetzung, sondern das schaurige Mysterienspiel der Passion im sozialen Kontext.52 Ob die von Winzinger angesprochene „Unsicherheit der Form“ einem Unvermögen des Malers entspringt, sei dahingestellt. Auch diejenigen Künst-

Albrecht Altdorfer

66 Albrecht Altdorfer, Christus am Ölberg, Sebastianaltar, 1509–1516. Stift St. Florian.

ler, die im Zeitalter des Frühmanierismus die Form bis zum Exzess mutwillig verzerrt haben, wie etwa die Antwerpener Manieristen oder die Figuren von Gaudenzio Ferrari in San Maria delle Grazie in Varallo oder den großen Kreuzwegstationen auf dem Sacro Monte ebendort (siehe S. 146), verfolgen ähnliche Ziele und lassen das Passionsspiel wie auf einer Bühne ablaufen. Der Betrachter gerät so in die Rolle des begierigen Zuschauers. Wie in den Mysterienspielen der Zeit droht hier das devotionale Nacherleben der säkularisierenden Tendenz des Sensationellen, Schaurigen und der Prachtentfaltung zum Opfer zu fallen.53 Was die acht Darstellungen der Passion Christi betrifft, die als zwei Bildstreifen zu jeweils vier Tafeln zusammengestellt sind, hat Winzinger bereits 1975 überzeugend zeigen können, dass jede Einzelszene zwar für sich als eigenständige Komposition besteht, aber erst durch das übergreifende Kompositionsschema ihre eigentliche Wirkung entfaltet.54 Sowohl der generelle gesättigte Farbton als auch die Verschränkung der Bildstrukturen tragen zu einem deutlichen Leseduktus von links nach rechts bei, wobei nicht selten die

67 Albrecht Altdorfer, Gefangennahme Christi, Sebastianaltar, 1509–1516. Stift St. Florian.

Gruppierung der Figuren von einem Bild zum nächsten überleitet und so dem Betrachter das Kontinuum der Erzählung spüren lässt. So überspringt man bei der horizontalen Lesart den nunmehr verschollenen Mittelschrein mit den Schnitzfiguren und bleibt weiterhin im oberen Register. Wie in den Predellentafeln wechseln sich in den Darstellungen die Innen- und Außenräume ab. Die Ölbergszene (Abb. 66) und die Gefangennahme Christi (Abb. 67) spielen in einer dunklen Nachtlandschaft  ; sie finden ihre Fortsetzung in der ebenfalls verdunkelten Tempelhalle des Kaiphas auf dem rechten Flügel, in welche die Soldaten mit dem Gefangenen eindringen. Der Geißelung als letzter Darstellung im oberen Register kommt ein höherer Lichtwert zu, der dann in der ersten Tafel im unteren Register links mit der Dornenkrönung durch die lichte Palasthalle noch gesteigert wird. Den Abschluss der Innenraumdarstellungen bildet die Szene Christus vor Pilatus (Abb. 68). Während Letzterer seine Hände in Unschuld wäscht, wendet sich Christus bereits von ihm ab und verlässt den Raum.

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Serielle Erzählstruktur

68 Albrecht Altdorfer, Handwaschung des Pilatus, Sebastianaltar, 1509– 1516. Stift St. Florian.

69 Albrecht Altdorfer, Kreuztragung Christi, Sebastianaltar, 1509–1516. Stift St. Florian.

Als Nächstes folgt die Kreuztragung vor dem Stadttor (Abb. 69), wobei das Augenmerk wie in der vorangegangenen Grafik, etwa bei Schongauer und Dürer, auf Christus, der unter dem Kreuz zusammenbricht, gerichtet ist, während Maria und Johannes, die in den herkömmlichen Bildern eine so prominente Rolle spielen, hier eher als unauffällige Akteure in der Menge vor dem Stadttor zu erkennen sind. Den Abschluss bildet die Szene mit der Kreuzigung, deren Expressivität nicht zuletzt durch die schräg gestellten Kreuze, die eine raumschaffende Raute bilden, verstärkt wird  ; sie bieten dem durchgängigen Duktus zugleich Einhalt. Hier konnte Altdorfer auf Mantegnas Kalvarienberg zurückgreifen,55 aber auch auf die dramatischen frühen Kreuzigungen von Lucas Cranach dem Älteren. Die Expressivität dieser Tafeln steht in unmittelbarem Zusammenhang mit Lucas Cranach dem Älteren und der Kunst Michael Pachers.56 Mit allen Mitteln war Altdorfer bestrebt, die Betrachter in das Geschehen mit einzubeziehen und ihre Partizipation auf den Augenblick auszurichten  : drastische Darstellung der einzelnen zuweilen fast karikaturhaften Figuren, starkes Lokalkolorit, Kontraste, Helldunkel, Verortung der Protagonisten im Vordergrund und vor allem ein niedriger Augenpunkt, sodass man sich in Augenhöhe

mit den agierenden Figuren wähnt und mit ihnen das räumliche Ambiente teilt, sei es die Architektur alpenländischer Provenienz oder die Landschaft, welche der vertrauten voralpinen Umgebung entspricht. Die Architekturkulissen der Interieurdarstellungen sind ausdrucksvoll, wiewohl oft unstimmig in Szene gesetzt  ; sie führen nicht nur den Blick von der dramatischen Szene im Vordergrund in die Tiefe, sondern öffnen den fiktiven Bildraum nach oben. Durch kunstvolle Überschneidungen glaubt der Betrachter sich von der Architektur umfangen und ergänzt im Bewusstsein jene Teile, die nur partiell angedeutet sind. Sie entsprechen wie gesagt dem Zeitstil und erscheinen als eine fantasievolle Mischung aus spätgotischen und klassischen Stilelementen.

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Außenflügel – Die Sebastianmarter Die Außenflügel mit der Sebastianlegende sind einander paarweise zugeordnet  : Das Verhör und Die Niederknüppelung spielen jeweils in einer prunkvollen Halle, während Die Marter Sebastians und Die Bergung des Leichnams auf einem Palasthof bzw. außerhalb einer Stadtmauer stattfinden.

Albrecht Altdorfer

Die Entstehungszeit wird von Winziger sogar noch vor jener der Passionstafeln von 1512 angesetzt. In der Szene mit dem Verhör Sebastians vor dem Kaiser wurde die Architektur aus der Untersicht mit ihren Bögen mit Rosetten und den bis auf die Kämpfer herabgezogenen Rippengewölben effektvoll eingesetzt, wiewohl von einer Logik der Konstruktion nicht die Rede sein kann. Auch ist eine gewisse Ablenkung von der Figurenszene nicht von der Hand zu weisen. Diese Störfaktoren wurden in den beiden anderen von der Architektur gegliederten Szenen besser gemeistert. Was die Darstellung der Niederknüppelung Sebastians (Abb. 70) betrifft, die ja eher eine beruhigte, übergreifende Raumwirkung aufweist, hat Winzinger indes auf die immer noch unsichere Eingliederung der Figuren in die Umgebung und auf kompositorische Unstimmigkeiten aufmerksam gemacht. Vor allem gelingt ihm der Nachweis, dass Altdorfer auf einen Kupferstich mit einem Tempel aus dem Umkreis Bramantes um 1495 zurückgegriffen hat. Die Rolle der Architektur wird auf den Punkt gebracht  : „Vor allem begriff er damals noch nicht den Zusammenhang zwischen Augpunkt und Horizont, Kenntnisse, über die um diese Zeit neben dem an den Italienern geschulten Pacher bereits Dürer und auch Wolf Huber verfügten. Altdorfer wendet bei den Innenraumbildern eine ausgesprochen malerische, rein gefühlsmäßige Perspektive an. Bei seiner ausgeprägten Raumsinnlichkeit fallen die Unstimmigkeiten gar nicht auf  ; durch die enge Zuordnung zu den Gestalten erhebt er den Raum vielmehr zu einem mächtigen Ausdrucksmittel. Er wird dadurch selbst gleichsam zu einem höchst lebendigen Mitspieler des dramatischen Geschehens.“57 Bei aller Problematik des perspektivischen Aufbaus bemüht sich Altdorfer darum, die Gliederung auf die Abfolge der Leserichtung abzustimmen. So fluchten die Orthogonalen im Verhör des Sebastian stark von links nach rechts – dort wird die Szene durch eine massive, halb überschnittene Säule begrenzt. In der anschließenden Tafel mit der Sebastianmarter dient die Säule als Stütze des Heiligen (da die Pfeile auch in ihr stecken, handelt es sich offenbar um eine Holzsäule, wie sie ja nicht selten in der Architektur nördlich der Alpen vorzufinden ist). Der Landschaftshintergrund ist perspektivisch angelegt. So wird der Durchstich unter der Brücke im Mittelgrund von Spitzbögen getragen und leitet den Blick schräg nach links in die Tiefe. Die beiden Szenen werden durch die angeschnittene Säule auf der rechten bzw. linken Seite miteinander verbunden. Darüber hinaus rückt der Heilige im letzten Bild nach links in die Mitte der beiden miteinander verknüpften Darstellungen.

70 Albrecht Altdorfer, Niederknüppelung des hl. Sebastian, Sebastianaltar, 1509–1516. Stift St. Florian.

Die Tafeln darunter werden anders kombiniert. In der Szene mit der Niederknüppelung Sebastians (Abb. 70) ist der Innenraum auf der linken Seite offen  ; der zum Schlag ausholende Scherge, am vorderen Bildrand stehend, ist weder mit dem fast schwebend erscheinenden Sebastian, der in starker Verkürzung gezeigt wird, noch mit den anderen Protagonisten im Hintergrund räumlich überzeugend in Verbindung gebracht. Einheitlicher ist die sich hell vor den dunklen Versatzstücken eines Hofes abzeichnende Gruppe von Figuren in der Bergung des Leichnams des hl. Sebastian. Abgeschlossen wird das Ganze rechts durch ein im Winkel aufragendes dunkles Gemäuer, das den Handlungsraum optisch, wenn auch nicht sehr logisch, abschließt.

Die Mariengeburt Einige Jahre später, um 1520, hat Altdorfer auch in der Anwendung der Perspektive Meisterschaft erlangt, wie sich in der Tafel mit der Mariengeburt in der Münchener Pinakothek bekundet. Wiewohl das Innere der Hallenkirche immer noch eine krause Stilmischung des spätgotischen und klassischen Formenvokabulars aufweist, entspricht die Raum-

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Serielle Erzählstruktur

71 Abschied des hl. Florian, um 1516. Uffizien, Florenz.

struktur der einer mehrschaligen Hallenkirche, von der sich auch der Betrachter mit den Protagonisten umgeben wähnt. Wir blicken zum Engelreigen empor, der ebenso präsent und handfest wie die übrigen Figuren erscheint. Um diese überzeugende räumliche Wirkung zu erlangen, hatte Altdorfer sorgfältige Architekturzeichnungen angefertigt, wie eine Studie aus im Berliner Kupferstichkabinett beweist. Wiederholt hat Winzinger auf die Nähe zu Wolf Hubers Raumschöpfungen zu dieser Zeit verwiesen, auch auf den Umstand, dass der Innenraum in der Zeichnung in der späteren Ausführung des Gemäldes vielleicht sogar absichtlich verunklärt wurde.58

Die Florianlegende Leben und Tod des hl. Florian Im Zeitraum zwischen der Ausführung des Sebastianaltars hauptsächlich in den Jahren 1512–1513 und der Mariengeburt um 1520 ergingen Aufträge des kaiserlichen Hofes an Altdorfer, u. a. für den Triumphzug Maximilians I. (1512– 1515). Kurz danach schuf der Maler einen Zyklus von kleineren Tafeln mit dem Leben und dem Tod des hl. Florian. Die Expressivität der früheren Darstellungen ist hier einer

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Beruhigung und einer Verfestigung der Formen gewichen. Eine beschauliche Stimmung zieht sich durch die gesamte Folge  : Die Figuren muten etwas unbedarft, volkstümlich an, was einige Forscher zu der Annahme verleitete, es handele sich um Arbeiten aus der Werkstatt des Meisters. Die Beruhigung setzt sich entsprechend in der psychologischen Schilderung der Protagonisten fort, die in ihrer vertrauten Umgebung fest verankert erscheinen  ; wohl mit Recht spricht Alfred Stange von „figurenreichen sittenbildlichen Schilderungen“ einer realistischen Malerei, wie sie am Hofe Maximilians bevorzugt wurde. Wiewohl zuweilen eher flüchtig-malerisch ausgeführt, zeichnen sich alle Tafeln durch einen einheitlichen Duktus aus und laden den Betrachter dazu ein, wie in Dürers Marienleben den steten Gang der Geschichte zu verfolgen. Auch wenn wir infolge der verstreuten Orte der Aufbewahrung die Folge nicht mehr als Einheit vor Augen haben, bestätigt sich anhand der Reproduktionen doch der homogene Gesamteindruck. Rätselhaft bleibt die ursprüngliche Bestimmung der erhaltenen sieben Tafeln (eine dürfte verloren gegangen sein  ; sollte es sich um einen geplanten Altar gehandelt haben  ?). Man hat über eine Abfolge, einem Stationsweg vergleichbar, spekuliert. Der eigent­lich plausible Vorschlag Linningers, die Tafeln seien ursprünglich für die St. Johanneskirche im Marktflecken von St. Florian bestimmt gewesen, die in der Darstellung des Wundertätigen Brünnleins akribisch abgebildet wurde, hat sich mangels Dokumentation nicht erhärten lassen.60 Der Abschied des hl. Florian Vor dem Stadttor von St. Pölten nimmt der Heilige mit dem Strahlennimbus, in ein prächtiges Gewand gekleidet und mit Hut und Wanderstab versehen, Abschied von den Honoratioren der Stadt (Uffizien, Florenz  ; Abb. 71). Hinter ihnen stehen zwei Diener mit kostbaren Pokalen und einem Schwert. Der Weg, den Florian bald beschreiten wird, führt in die Tiefe  ; zwei Bäume stehen flankierend an der Grenze des städtischen Territoriums. Dort warten zwei Weggefährten. Der Weg ins Land, die offene Distanz, wird durch die abrupte Verkleinerung der Figuren auf dem Weg angezeigt – ein häufig auftretender Kunstgriff der manieristischen Kunst. Hinter der Kirche in der fernen Landschaft türmt sich ein Bergmassiv auf – die Topografie gleicht durchaus jener südlich von St. Pölten. Die Gefangennahme des hl. Florian Ähnlich dominant wie im ersten Bild stehen die Akteure auf dem Knüppelpfad, der über den Fluss in einem Bogen zum Stadttor von Enns führt (Abb. 72). Zwei Landsknechte in

Albrecht Altdorfer

72 Gefangennahme des hl. Florian, um 1516. Germanisches Nationalmuseum, Nürnberg.

73 Albrecht Altdorfer, Der hl. Florian vor dem Statthalter, ca. 1516. Germanisches Nationalmuseum, Nürnberg.

fantasievollen Kostümen nehmen Florian den Stab (oder den Speer) ab. Die Begleiter werden zur Seite gedrängt. Über dem Stadttor türmt sich der Stadtberg mit Burg und Stadtmauer auf, von der untergehenden Sonne hell beleuchtet. Der Himmel ist dräuend, tiefblau, und eine graue Wolke ballt sich düster am Firmament zusammen. Die heitere Stimmung der ersten Szene ist nun einer unwägbaren, bedrohlichen gewichen.

trotz ihrer Komplexität klar erfassbar. Die innere Ruhe und Festigkeit des Heiligen erhält dadurch ein formales Äquivalent  ; ebenso einleuchtend ist die Einbindung der Figuren in die von der Architektur konstituierte Flächenordnung. Die vertikalen Pfeiler an den beiden Seiten, welche die Kontrahenten hinterfangen, werden durch den weiten Arkadenbogen verbunden, der sich über die vermittelnde Figur in der Mitte wölbt.

Der hl. Florian vor dem Statthalter Auf einem Treppenabsatz in einer geräumigen Stadthalle wird Florian dem Statthalter Aquilinus vorgeführt (Abb. 73). Dieser, auf einem bescheidenen überdachten Thron sitzend, wie wir ihn von den Mysterienspielen her kennen, wendet sich dem Wanderer zu. Florians Rosenkranz dient wie schon bei der vorangegangenen Gefangennahme als Zeichen seiner Festigkeit im Glauben. Als Vermittler – oder gar Kläger – verweist ein Richter auf den Angeklagten und wendet sich zugleich mit rhetorischer Geste an den Statthalter. Von außen strömt das Licht in das Treppenhaus hinein. Wir blicken auf Augenhöhe mit den dramatis personae empor und hinab, aber die Treppen und Gänge führen nirgends ins Freie. Im Vergleich zu den früheren Innenraumdarstellungen ist die Architektur hier vereinfacht und in der Wirkung

Die Niederknüppelung des hl. Florian Ganz anders trägt der architektonische Rahmen zur Dramatisierung der Handlung in der folgenden Schilderung der brutalen Niederknüppelung des Heiligen bei (Abb. 74  ; Narodní Galerie, Prag). Die spitzen Arkaden und Rippen der aus der Schräge nach unten zielenden Gewölbe und das scharfe Muster eines Gitters bilden den unruhigen Hintergrund der Gewaltszene. Bereits im Außenflügel des Sebastianaltars mit der Niederknüppelung des hl. Sebastian (Abb. 70) hat Altdorfer dasselbe Thema geschildert, in welcher der Heilige in starker Verkürzung und Schräglage im Vordergrund liegend den Schlägen ausgesetzt gezeigt wird. Die Figuren stehen in der späteren Fassung der Floriantafel wesentlich gefestigter und stimmiger in Relation zueinander und zu der Umgebung – was das unglückliche Opfer an Realismus und Prä-

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Serielle Erzählstruktur

75 Albrecht Altdorfer, Der Brückensturz des hl. Florian, c. 1516. Uffizien, Florenz. 74 Albrecht Altdorfer, Die Niederknüppelung des hl. Florian, ca. 1516. Narodní Galeríe, Prag.

senz gewonnen, hat es allerdings an Expressivität verloren. Begleitend zu den Schergen wurden diskutierende Figuren eingebracht, die den Handlungsverlauf verfolgen – auch wir sind angehalten, darüber zu reflektieren. Der Brückensturz des hl. Florian Die Größe der Figuren und eine inzwischen sichere Handhabe der Perspektive sowie eine klare Gliederung der Architektur tragen nun verstärkt zur Vergegenwärtigung des Geschehens und zur unmittelbaren Einbeziehung der Betrachter bei. Der Brückensturz des hl. Florian (Abb. 75  ; Uffizien, Florenz) erfolgt von dem „Knüppelpfad“ über der Enns aus, wo der Heilige eingangs gefangen genommen wurde. Im Gegensatz zu dieser Szene hat der Maler hier eine gewagte niedere Perspektive gewählt  : So befindet sich der Betrachter weit unterhalb der Brücke und blickt auf den Flusslauf dahinter und zu den steilen Bergen empor, die sich hinter den Uferhängen auftun. Oben vor dem Himmel, aus extremer Untersicht erfasst, erscheint die dicht gedrängte Menge der Schergen und Schaulustigen, die sich um den knienden, fast nackten Heiligen drängen. Um seinen Hals ist ein Eisenring gelegt, an den wiederum der Mühlstein angekettet wurde. Wir nehmen Teil an dem spannungsgeladenen Moment, bevor dem Verurteilten eine Augenbinde an-

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gelegt wird und er den verhängnisvollen Stoß erhält und ins Wasser fällt. Wir halten inne und ermessen im Geiste die Höhe des Falls von dort oben zu uns herab bis zur Wasseroberfläche, wo wir uns praktisch befinden. In Kürze wird Florian hier aufschlagen und in die Tiefe gezogen werden. Der Heilige aber, mit gekreuzten, gebundenen Armen, scheint unberührt von dem Gedränge und schaut am Mühlstein vorbei, während die Protagonisten mit Gesten und anbiederndem Gehabe versuchen, ihn noch umzustimmen oder zu verunglimpfen. Der Höhepunkt der Szene, ja der ganzen Geschichte, der gewaltsame Tod, wird der Vorstellungskraft des Betrachters überlassen. Die psychische Auslotung der Befindlichkeiten der Protagonisten vor dem endgültigen Aus und die damit verbundene „Zeitdehnung“ treten hier infolge einer relativ geringen Inhaltsfülle und einer verstärkten Erwartungshaltung in Kraft.59 Die Bergung des hl. Florian Mit der Bergung der Leiche des hl. Florian (Abb. 76  ; Germanisches Nationalmuseum, Nürnberg) gelangt die Schilderung des Martyriums, das um 304 n. Chr. stattfand, zu ihrem Ende. Ruhe, Andacht und eine unmittelbare Nähe zum Betrachter durchwalten die Szene. Der Ertrunkene wird an einer Böschung am Ufer geborgen. Sein Kopf ist

Albrecht Altdorfer

immer noch vom Strahlenkranz umgeben, das Gesicht aber verdeckt, sodass die Möglichkeit der Identifikation oder direkten Empathie unterbunden wird. Die Frauen und ein (anonymer) Helfer in Weiß und Rot heben den Leichnam auf einem Karren. Sie zeichnen sich hell vor der üppigen und dunklen Vegetation mit gelblichen Höhungen ab. Gelb und tief steht der Mond vor dem blutroten Himmel am Horizont, während sich der tiefblaue Himmel und die fahl beleuchteten grauen Wolken über die nächtliche Landschaft wölben. Die Berge und das Wasser verfärben sich blaugrün und rot und schließen so die Szene. Aus der Fülle und dem Zusammenklang der Farben erwächst die stimmungsvolle Landschaft vor unseren Augen und schließt sich zugleich dynamisch-sympathetisch mit den agierenden Figuren zusammen. Vor dieser Macht des Bildes schmilzt die eigentliche historische Distanz zum Geschehen – alles ist Stimmung und als Betrachter werden wir ihrer teilhaftig.

Das wundertätige Brünnlein Dennoch wird die tatsächliche Gegenwart in einem weiteren, abschließenden Gemälde beschworen, das die Darstellung des wundertätigen Brünnleins in St. Florian zum Gegenstand hat (Privatbesitz). An einer wundertätigen Quelle wurde im Jahr 1116 eine kleine Kirche dem hl. Johannes dem Täufer geweiht. Sie befindet sich immer noch mitsamt Quelle im Flecken von St. Florian und entspricht der akribischen Schilderung in unserem Gemälde. An dem Brunnen vor der Kirche sind die Pilger versammelt, um Wasser zu trinken und Hilfe von St. Florian gegen Gebrechen, Krankheiten und Feuersbrünste zu erbitten. Die Gruppe am Brunnen im Vordergrund ist etwas kleiner im Maßstab als die Figuren in den vorhergehenden Bildern – eher vergleichbar mit denen in einem früheren Gemälde des Meisters  : Abschied Christi von Maria (um 1513/14, heute in Luton Hoo). Etwas isoliert und steif erscheint vor dem Hintergrund der Kirche der Pfarrer im weißen Chorhemd mit Messbuch und Schlüsselbund. Dennoch dürfte auch dieses abschließende Bild, das den historischen Zeitraum vom Hochmittelalter bis in die Gegenwart überbrückt, von Altdorfer selbst ausgeführt worden sein, zumal mehrfache Anleihen aus der früheren Grafik des Meisters, etwa aus dem Tross des Triumphzuges für Maximilian I., an einzelnen Figuren nachgewiesen werden konnten.60 Die Frage nach der „Neuheit“ der seriellen Abfolge der Einzelszenen bei Altdorfer lässt sich anhand der erörterten Werke nicht eindeutig beantworten. In der Kunstgeschichte tauchen zu dieser Zeit allenthalben Beispiele auf, die dem

76 Albrecht Altdorfer, Bergung des Leichnams des hl. Florian, c. 1516. Germanisches Nationalmuseum, Nürnberg.

Publikum den Handlungsablauf in Form von seriellen Bildern vor Augen führen. Bereits in der frühen Neuzeit, um nicht von den Bilderwänden und den vielen Predellen in der Malerei des 14. und 15. Jahrhunderts zu sprechen, machen sich diese Tendenz zu einer kontinuierlichen Erzählweise und das Streben nach einem formalen Zusammenhang verstärkt bemerkbar. Altdorfers expressive Handhabung der Schrägperspektive und der damit in Zusammenhang stehenden fantasievollen Architekturkulissen, die meist aus einer gewagten Untersicht geschildert werden, ziehen den Betrachter verstärkt in das Geschehen mit ein. Der Maler dürfte Michael Pacher verpflichtet gewesen sein, der Anregungen der Italiener aufgegriffen und für die alpenländische Kunst fruchtbar gemacht hatte. Altdorfer verstärkte vor allem die fortlaufenden Szenen durch eine bislang ungekannte farbige Intensität und hob so die Darstellung der Figuren auf eine neue, expressive Stufe der malerischen Imagination. Den Betrachter vermag er durch die Landschaftshintergründe, ein suggestives Helldunkel, Farbintensität und grafische Effekte unmittelbar zu affizieren. In seinen Gemälden schuf der Maler ästhetische Äquivalente zur Drastik der Handlung. Die Kontinuität und Suggestivität der von Altdorfer geschaffenen Erzählfolgen werden in erster Linie durch seine unverwechselbare Handhabung der Farbe und die expressive

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Gestaltung der Agierenden hervorgerufen – wie ein Märchenerzähler zieht der Maler den Betrachter in seinen Bann. Was Dürer auf dem Gebiet der grafischen Bildfolgen bereits vor Altdorfer geleistet hatte, wurde nun vom Letzteren in der Malerei bewerkstelligt.

Der Triumphzug Kaiser Maximilians I. In einem Fall hat Altdorfer allerdings die serielle Erzählform zu einem Höhepunkt geführt. Mit 32 Jahren wurde er von Kaiser Maximilian I. mit der Ausführung eines spektakulären Triumphzuges betraut. Das Programm wurde vom Hofhistoriografen Johannes Stabius 1512 erstellt und schriftlich dokumentiert. Der Triumphzug sollte dem Herrscher „zu lob vnnd Ewiger gedächtnüs“ gereichen.61 59 Pergamentblätter sind in der Albertina erhalten, die vor der Ausstellung „Kaiser Maximilian I. und die Kunst der Dürerzeit“ 2012 ebendort noch als Einzelblätter in großen Passepartouts lagen. Sie wurden, dem ursprüngliche Zustand gemäß, zu einem „fortlaufenden Bilderfries verklebt“.62 Die miniaturhaften Szenen wurden in Feder, Aquarell und Gouache ausgeführt. Mehrere Künstler waren dabei am Werk, wiewohl Altdorfer wohl den Mehrpart ausführte und das ganze Projekt überwachte. Die Größe der einzelnen Pergamentblätter variiert zwischen 44,2–46 cm Höhe und 83,3–95 cm Breite. Ursprünglich dürfte der Bilderfries an Holzstangen oder Trommeln montiert und aufgewickelt gewesen sein  ; später wurden die Einzelszenen ausgelöst und vermutlich in zwei Folianten aufbewahrt, von denen der erste verloren ging. Der Bilderfries war ursprünglich über hundert Meter lang – die zweite Hälfte, die in der erwähnten Ausstellung gezeigt wurde, weist immer noch die stattliche Länge von 53,8 Metern auf. Mit über hundert Metern dürfte der Triumphzug wohl die längste Erzählfolge in der abendländischen Kunst überhaupt sein, den Bayeuxteppich eingerechnet, der 230 Fuß misst (vgl. Bild/Zeit, I, 1996, S. 179 ff). Die lange Prozession setzt mit dem Aufrufer des Triumphs (preco) an. Es folgen die vielen Protagonisten des Hofstaates sowie Musikanten, Hofnarren u. a., des Weiteren Reitergruppen mit den Fahnen der habsburgischen und burgundischen Länder (Abb. 77), die nach der Heirat Maximilians mit Maria von Burgund 1477 dem Haus Habsburg zugefallen waren.63 Mit der Darstellung dieser Heiratszeremonie setzt der zweite, erhaltene Teil des Bilderfrieses ein  : ein goldener Wagen mit Abbildungen der Städte und Schlösser des Kaisers, Bannerträger mit Schautafeln der vie-

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len geschlagenen Schlachten (Abb. 78a)  ; weiters Wagen mit Trophäen, Karren mit den gewaltigen Kanonenrohren von Maximilians moderner Artillerie sowie schwer beladene Wagen mit den kirchlichen und weltlichen Schätzen des eher immer knapp bemittelten Kaisers. Historische Ereignisse, wie die Belehnung Ludovico Sforzas mit Mailand 1495 oder die Heirat Philipps mit Johanna von Kastilien 1496, werden auf großen Tafeln zur Schau gestellt. Den Eltern Maximilians ist ein eigener Triumphwagen gewidmet, der Herrscher selbst thront auf einem Wagen, der von zwölf Schimmeln gezogen wird, umgeben von seinen Nächsten, Maria von Burgund und der Tochter Margarete sowie dem Sohn Philipp und Johanna von Kastilien. Es folgen, der sozialen Stufenleiter gemäß, Fürsten, Grafen, Herren, Ritter und Landsknechte, die Wagenburg und die „kalikutischen Leut“ (Indianer aus der Neuen Welt, die den Machtanspruch des Herrschers augenfälligwerden lassen  ; Abb. 77). Den Abschluss des langen Triumphzuges bildet der gewaltige Tross. In meinem Buch Theater und bildende Kunst ging es u. a. um die Frage, inwiefern Szenen mit Motiven der darstellenden Kunst – Bühnen, sacre rappresentazioni, tableaux-vivants, Festzüge und Festwagen (nuvole) –, wie sie uns aus den Quellen überliefert sind, auch ein dokumentarischer Wert innewohnt  ? Auch wenn die Kodifikation in der bildenden Kunst schnell erfolgt, darf gerade Darstellungen von Festzügen und trionfi doch ein hoher Grad an Authentizität zuerkannt werden.64 Über die Aktualität solcher Inszenierung, nicht zuletzt, was Maximilian betrifft, gibt eine Beschreibung in der Nürnberger Chronik von Hartmann Schedel 1493 Aufschluss. Auf Blatt CCLVII wird ein fiktiver Triumphzug des Kaisers beschrieben, der nach der Eroberung des Heiligen Landes als Triumphator in Rom einzieht und dort auf dem Kapitol nicht „im Tempel des falschen Jupiter, sondern in der Kirche des Apostelfürsten Petrus“ vom Papst empfangen wird.65 Was nun die bildnerische Ausformung von Maximilians Triumphzug betrifft, verleihen die vielen eingelassenen Darstellungen von Schlachten und anderen historischen Ereignissen auf den Standarten dem Aufzug ein eigenes Gepräge. Der historisierende Aspekt, der kriegerische Großtaten und Legitimation hervorkehrt, ist in diesem Zusammenhang auffallend. Dabei konnte man sich auf antike Vorbilder und Überlieferungen stützen, wo auf Fahnen und Standarten des erfolgreichen Feldherrn auch Schlachtendarstellungen zu sehen waren. Als einschlägige Rekonstruktion dieser spezifischen Gattung der Historieinbilder ist stets auf Andrea Mantegnas Triumph Caesars (ca. 1484–1492, heute in Hampton Court Palace), dessen Erhaltungszustand nicht der beste ist, zu verweisen. Die Bekanntheit desselben wurde

Der Triumphzug Kaiser Maximilians I.

77 Albrecht Altdorfer, Die erkoren Fürsten, Triumphzug Kaiser Maximilians I., 1512–1515. Albertina, Wien.

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Serielle Erzählstruktur

78a Albrecht Altdorfer, Bannerträger und Reiter, Triumphzug Kaiser Maximilians I., 1512–1515. Albertina, Wien.

durch Holzschnitte, etwa jene Jakob von Straßburgs aus dem Jahr 1504, gewährleistet.66 Vor allem könnten der Bewegungsduktus und die Anordnung des Triumphzugs späteren Künstlern vor Augen gestanden haben  : „Folgt man nun dem Hergang von der Spitze des Triumphzugs bis zum Wagen des Feldherrn an dessem Ende, so erkennt man, dass der überwältigende Gesamteindruck einer kontinuierlichen Handlung mit einem, alle Szenen verbindenden Rhythmus

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des Voranschreitens im Detail – teilweise durch kleinere „Sprünge“, aber teilweise auch durch größere Brüche in der Abfolge der einzelnen Szenen – gestört wird.“67 Beim „Triumphzug Maximilians I“. sind diese Zäsuren behoben, was allerdings zu einer gewissen Schematismus bei der Aneinanderreihung der Protagonisten geführt hat. Die im Bilderfries inkludierten Darstellungen der von Maximilian geschlagenen Schlachten, die auf den Standar-

Der Triumphzug Kaiser Maximilians I.

78b Der Sieg über Lüttich (Detail von 78a).

ten auf den Prunkwagen als Bilder im Bild zur Schau gestellt sind, werden von Eva Michel zu Recht mit der Buchmalerei in Verbindung gebracht. Im Gegensatz zu den italienischen Vorbildern, wo die Figuren und Wagen dominant sind und der Hintergrund nur eine rudimentäre Rolle spielt, sind in Altdorfers Szenerien die kleinen detailreichen Figuren und Menschenballungen in eine illusionistische, tiefenräumliche Landschaft eingebettet, sodass man von einem Versuch des Künstlers sprechen kann, bei aller Stereotypie doch den topografischen Gegebenheiten der verschiedenen Schlachten Genüge zu tun. Dazu heißt es bei Winzinger  : „Er bewältigt hier mühelos alle Probleme eines mit Luft und Licht erfüllten Landschaftsraumes, und er verbindet die einzelnen Gestalten zu bewegten Massenszenen [Abb. 78b]. Anderthalb Jahrzehnte vor seiner ‚Alexanderschlacht‘ sind die dort auftretenden künstlerischen Aufgaben in ihren Grundzügen schon vorbereitet und zum Teil in virtuoser Weise gelöst.“68 Winzinger hat auch spätere Entlehnungen in den Reiterfiguren der Alexanderschlacht festgestellt (zur Alexanderschlacht vgl. S. 220).69 Wiewohl der Triumphzug Maximilians in Wirklichkeit nie in der dargestellten Form stattgefunden hat, bemühte man sich doch, der fantastischen Prozession durch die lebendige Darstellung der Figuren und ihres Vorwärtsdrangs Glaubwürdigkeit zu verleihen. Zur Vergegenwärtigung tru-

gen auch die Kleider, Waffen und die zur Schau gestellte prunkvolle Heraldik bei. Auffällig ist die opulente Ahnenreihe  : Auf den Standarten erscheinen die Vorgänger Maximilians in Gestalt von goldenen Plastiken vor rotem und blauem Grund, von Architekturrahmungen all’antica eingefasst. Als Inspirationsquellen dieser Ahnenreihe, die eben nicht lebendig, sondern in statuarischer Form vorgestellt wird, ist auf die burgundische Grabplastik oder die opulente, genealogisch ausgerichtete Begräbnisstätte Maximilians in Innsbruck verwiesen worden. Die retrospektive Sicht wird somit durch eine Veränderung des Modus verdeutlicht – ein Kunstgriff, der vor allem in der altniederländischen Malerei schon lange praktiziert worden war (vgl. Bild/ Zeit, II, 2004, etwa zu Jan van Eyck, Rogier van der Weyden). Auch wenn der Triumphzug Maximilians als ein imaginäres Gebilde zu gelten hat, dient er doch als ein Spiegel des Festwesens der Zeit und der großen entrées der Herrscher in den Städten. Altdorfer ließ große Sorgfalt bei der Ausführung der unzähligen Figuren und des Kostüms walten, das nicht zuletzt die hierarchische soziale Rangordnung der Protagonisten hervortreten lässt. Im Gegensatz zu den Gepflogenheiten im Norden, wo die Schaubühnen und tableaux-vivants stationär an den Straßenrändern errichtet wurden, an denen das Gefolge vorbeizog, entsprachen bei

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Serielle Erzählstruktur

den Festzügen im Süden die prunkvollen, allegorisch bestückten Wagen (it. nuvole) dem italienischen Usus. In unserem Triumphzug sind solche folgerichtig nicht zu verzeichnen  – nur der Wagen des Kaisers und der seiner Eltern wurden besonders ausgestattet. Den Hauptpart des Zuges machen die Reiter, das Fußvolk, das die zahlreichen Banner trägt, und der Tross aus.70 Insgesamt kann die Anlage des gesamten Bilderfrieses mit den gleichmäßig vorbeiziehenden Protagonisten als periegetisch charakterisiert werden. Als Betrachter schlüpfen wir in die Rolle des Herrschers, der den gewaltigen Zug mit allen Beteiligten an sich vorbeiziehen lässt. Wir gelangen damit zur Kardinalfrage bei dieser außergewöhnlichen seriellen Darstellung  : Wie wurde der Triumph in der vorliegenden Form vorgeführt  ? Wie erwähnt handelt es sich höchstwahrscheinlich um einen großen Rotulus, der entrollt eben um hundertzehn Meter lang war. Wiewohl der rotulus in der Antike und im frühen Mittelalter gängig war, nicht zuletzt im jüdischen Kontext oder im Zusammenhang mit Urkunden, die auf Pergament abgefasst waren, ist er in der vorliegenden extensiven Form doch ungewöhnlich.71 Die beschränkte Höhe des Pergamentbandes, um 44–48 cm, deutet darauf hin, dass die Szenen, die in der Ausführung der Miniaturmalerei zuzuordnen sind, aus der Nähe be­trach­tet werden sollten. Da der kaiserliche Auftraggeber wohl kaum das über hundert Meter lange Band selbst abgeschritten hat, ist die zweite Möglichkeit, ein an zwei Trommeln montiertes Band, das langsam vor seinen Augen a­ bgerollt wurde, wohl die plausiblere Erklärung. Die Protagonisten des Triumphzuges zogen, von links kommend, an dem Herrscher vorbei. Dementsprechend wurden die Blätter, meist eine Gruppe zeigend, in Leserichtung von rechts nach links zusammengeklebt und dementsprechend im vorliegenden Ausstellungskatalog nummeriert. Bereits 1972/73 hat Winzinger eine derartige Vorrichtung des Triumphzuges in Erwägung gezogen.72 Das Abrollen der Spule, d. h. der staunenswerte Vorbeizug des Triumphzuges vor den Augen des Kaisers oder vor einer kleinen Schar von Auserwählten im Angedenken seines Todes, lässt an kinematografische Techniken vom Ende des 19. Jahrhunderts. Die Prozession vollzieht sich in „Echtzeit“ analog vor den Augen des Publikums. Bislang ist nur ein weiteres Beispiel solch einer bewegten seriellen Präsentation bekannt, nämlich die sog. Laut’s Roll, ein zusammengefügter, zehn Meter langer Streifen von Kupferstichen, welche die Begräbnisprozession zu Ehren von Sir Philip Sidney in London 1587 zeigen.73 Wiewohl über die Vorführungspraxis unseres Bilderfrieses nichts bekannt ist, deuten Material, Faltspuren und Verkle-

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bung alle auf eine in Echtzeit ablaufende Vorführung hin. Zwei unterschiedlich Aspekte der Zeitlichkeit kommen in dieser „Schau“ zum Tragen  : zum einen die vielen retrospektiven Bilder, seien es Genealogien, Ahnenreihen, zurückliegende historische Ereignisse oder vor allem Schlachtenszenen, welche als „Bilder“ in der Prozession die Siege des Triumphators aus der jüngeren Vergangenheit wieder in Erinnerung rufen und der Historia des Herrschers eine für die Zukunft richtungsweisende Aktualität verleihen sollen. Zum anderen wird die Grenze zwischen der künstlerischen Darstellung einer Prozession mit ihren unzähligen Protagonisten und der tatsächlichen Bewegung der vorbeiziehenden Gruppen aufgehoben, die Bewegung analog zur verfließenden Zeit simuliert. Aber diese vergehende Zeit, die im ­ganzen Arrangement beschlossen liegt, wird durch die übergreifende kommemorative Funktion der Darbietung konterkariert. Michel hat emphatisch darauf Bezug genommen  : „Als Erinnerung an die Taten seines Auftraggebers und Exemplum für zukünftige Generationen wurde Maximilians Festzug, dessen Zuschauer die Nachwelt ist, zu einem Triumph über Tod und Zeit.“74 Diese Funktion trifft aber auch auf die Gattung der Historienmalerei überhaupt, auf die in Kapitel IV eingegangen wird, zu. Der Triumphzug Maximilians als eine serielle Darstellung in extremis bleibt vorerst ein Sonderfall  ; er dient als Indiz dafür, dass Altdorfer und seine Berater im zweiten Jahrzehnt des 16. Jahrhunderts bewusst den Versuch unternommen haben, reale Bewegung durch die serielle Darstellungsform eines Bilderfrieses und dessen Abrollung zu simulieren.

Hans Burgkmair d. Ä. Etwa gleichzeitig mit der Ausführung des langen Bilderfrieses auf Pergament wurde eine Holzschnittfolge mit dem gleichen Thema in Angriff genommen. Hans Burgkmair d. Ä. war für diese Aufgabe zuständig und entwarf nicht weniger als 66 großartige Holzschnitte, welche die bewegten Protagonisten der Prozession und die opulenten Triumphwagen zeigen. Beispielhaft sei hier die Gruppe mit den Indianern und den Eingeborenen aus Indien gezeigt (Abb. 79a, b). Des Weiteren haben Altdorfer und Hans Springinklee zu dieser Serie 32 bzw. 22 Entwürfe geliefert.75 Auch Dürer war maßgeblich an dem Projekt beteiligt. In der Albertina befindet sich eine opulente Federzeichnung für den Großen Triumphwagen des Kaisers, die bereits auf um 1512 angesetzt wird. Gedruckt wurde der Große Triumphwagen 1522 als Einzelblatt, er wurde aber nicht in die

Der Triumphzug Kaiser Maximilians I.

79a Hans Burgkmair d. Ä., Die Kapelle der süßen Melodie, Triumphzug Kaiser Maximilians I., Holzschnitt, ca. 1518. Albertina, Wien.

79b  Hans Burgkmair d. Ä., Die Indianer und die Eingeborenen aus Indien, Triumphzug Kaiser Maximilians I., Holzschnitt, ca. 1518. Albertina, Wien.

Serie inkorporiert (Abb. 80).76 1518 folgte Dürers aquarellierte Federzeichnung (Albertina), die mit einer Ausweitung des Zwölfergespanns durch eine Vielzahl von weiblichen Tugendfiguren aufwartet.77 In den Triumphzug eingegliedert wurde indessen der Kleine Triumphwagen von Dürer,

welcher die Heirat Maximilians mit Maria von Burgund zum Thema hat. Die gewaltige Holzschnittfolge des Triumphzuges wurde zwar nach dem Tod Maximilians 1519 nie vollendet, hatte aber zu jener Zeit bereits einen Umfang von

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Serielle Erzählstruktur

80 Albrecht Dürer, Der große Triumphwagen, Holzschnitt 1522 (nicht in den Triumphzug Kaiser Maximilians I. inkorporiert). Albertina, Wien.

136 Druckstöcken, welche die imaginäre Länge der Darstellung auf 54 Meter anwachsen ließen. Das Programm entsprach Stabius’ Entwurf von 1512. Dennoch sind Unterschiede der Holzschnittversion im Vergleich zu den aquarellierten Federzeichnungen des Pergamentfrieses zu verzeichnen. Die F ­ iguren sind allesamt monumentaler, die Gruppen der Protagonisten mehr reliefhaft zusammengedrängt, plastisch und ornamental zugleich. In vielen Blättern hat man sich mit einem ausgesparten Hintergrund begnügt. Eine flüchtig strukturierte Bodenplatte, die beliebig gestreckt werden konnte, diente den Karossen und Reitern als Fundament. Einige Partien wiederum wurden mit einer reichen Hintergrundlandschaft versehen  : Gebirge, vertraute Architekturkulissen, die an das „Marienleben“, oder üppige Vegetation und Nadelbäume, die an Altdorfers Grafik mit ihren charakteristischen Lärchen erinnern. Die Darstellung des unbeschwerten Fußvolks vor heimatlicher Kulisse dürfte wohl Altdorfer zuzuschreiben sein.78 Grundsätzlich schließt die Holzschnittfolge im Vergleich zum Pergamentfries sich enger an die italienischen Trionfi mit ihren Wagen an, die mit allegorischen oder „lebenden“ Figuren bestückt waren. Wiewohl die Hintergrundlandschaft in einigen Passagen des Festzuges in der Holzschnittfolge als festlich-belebendes Ambiente zur Vergegenwärtigung beiträgt, übernimmt sie hier eine andere Funktion denn als Bildträger historischer Begebenheiten wie in Altdorfers Schlachtendarstellungen. In den Holzschnitten beschränkt sich die Schilderung der Historie auf „trophäenge-

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schmückte Wagen“, die nach Michel sowohl eine „Rückkehr zur ‚traditionellen‘ antiken Darstellungsform und zugleich eine Weiterentwicklung im Sinne ‚moderner‘ italienischer Vorbilder“ anzeigen.79 Allein schon das Material der Holzschnittdrucke spricht gegen eine Montage zu einem kompletten Fries, wie sie allerdings in der Ausstellung in der Albertina 2012 präsentiert wurde, sodass man nicht von einer bewegten Bilderfolge wie bei der Pergamentrolle sprechen kann. In den Jahren 1516– 1519 wurden die in Feder ausgeführten Entwürfe auf die Bildstöcke übertragen. Erst 1526 folgte der erste Druck  ; fortan wurden die Holzschnitte in gebundener Form verbreitet. Infolge der Montage dieser großen Holzschnittfolge fällt der Eindruck monumentaler und abwechslungsreicher aus als die Prozession in Altdorfers Version. Der Festzug wird ebenfalls von dem berittenen Ausrufer (lat, precator) angeführt. Die Betrachter sind gehalten, die lange Prozession abzuschreiten, d. h. ihr von rechts entgegenzukommen. Auch hier darf man von einem Höhepunkt der seriellen Darstellungsform sprechen. Es geht ja nicht um eine Erzählung im herkömmlichen Sinn, die aus einzelnen Begebenheiten besteht, sondern um den Ablauf des Festzugs in ­seiner Ganzheit, dem die Darstellungsform Sinn und Aktualität verleiht. Im Fall des ersten Bilderfrieses haben wir es wie gesagt mit dem außergewöhnlichen Fall eines (zumindest möglichen) Bewegungsablaufs in „Echtzeit“ zu tun. In der Holzschnittfolge treten immer wieder neue fantastische Prunkwagen in Erscheinung und der stete Strom der Reiter und des Fußvolks wird durch dynamisch-belebte Gruppen,

Serielle Illustrationen und Kreuzwege

die miteinander unablässig in Interaktion treten, veranschaulicht.

Die Ehrenpforte Kaiser Maximilians I. Zu diesen beiden Unterfangen der visuellen Umsetzung von Triumphzügen in gezeichneter und gemalter Form oder in Holzschnitten, die den Nachruhm und das Gedächtnis des Kaisers sicherten, gesellte sich 1515 ein drittes Projekt, nämlich die Errichtung einer Ehrenpforte, in der sich die gesamte Genealogie, die heroischen Taten und der globale Machtanspruch Maximilians I. manifestierten. Die Mittelachse dieser fantastischen Schauwand wird vom Stammbaum des Kaisers eingenommen, der mit seinen unzähligen verwandtschaftlichen Verzweigungen zu anderen Fürstenhäusern bis in die Antike zurückreicht. Oberhalb der flankierenden Seitenportale befinden sich Schaufelder mit Darstellungen historischer Ereignisse und der obligatorischen zahlreichen Schlachten Maximilians. Die seitlichen Türme wiederum repräsentieren die „vortrefflichen Kenntnisse und Charaktereigenschaften“ des Herrschers.80 Die Ehrenpforte erreicht in Opulenz und Umfang jene der Triumphzüge. Sie besteht aus 195 Druckstöcken, die auf 36 Foliobögen gedruckt wurden. Die Maße des von Dürer entworfenen überbordenden Rahmenwerks mit seinen manieristischen Säulen, Balustern und Vasen, wuchernden Kapitälen, Fabelwesen und Figuren betragen 341 x 292 cm. Zur weiteren Prachtentfaltung, die es nach Schauerte mit den großen Wandteppichen der Zeit aufnehmen konnte, trugen auch die Farben bei  : Rot und Weiß in der Heraldik, Polychromie in den flankierenden Szenen, Rot und Blau in den Turmpartien. Was nun das Serielle betrifft, sehen wir uns hier mit dem Gegenteil konfrontiert  : Auf dieser enormen architektonischen und grafischen Schauwand werden alle wesentlichen Aspekte zur Person und zum Leben des Kaisers zusammengetragen, zum ewigen Gedächtnis simultan dargeboten. Der Gesamteindruck und die Einordnung in ein statisches System gestehen jedem Einzelteil und Bild nur so viel Raum und Freiheit zu wie unbedingt notwendig. Die ersten Jahrzehnte des 16. Jahrhunderts unter der Herrschaft Maximilians I. sind auf dem Gebiet der Kunst, insbesondere der Grafik, nördlich der Alpen eine Zeit des Aufbruchs. Die Grenzen des Mediums, sei es in erzählerischer, sei es in repräsentativ-programmatischer Hinsicht, werden bis zum Äußersten getrieben  : Dies gilt nicht nur für die serielle Form der Darstellung, die gerade in der vom Auftrag her bedingten, quasi „analog“ umgesetzten Form ein

unerhörtes Ausmaß erreichte, sondern auch für die simultane Präsentation der von Information und Gelehrsamkeit überbordenden Triumphpforte, deren nachträgliche Aufschlüsselung den Kundigen über Jahre beschäftigt haben dürfte. Im ersteren Fall gelangt die Erlebniszeit nach der Betrachtung bzw. nach dem Abschreiten des Triumphzuges vorerst zu einem Ende. Bei der Triumphpforte bleibt der unmittelbare, sublime Gesamteindruck vorrangig, während der rationale Nachvollzug des Dargebotenen unabhängig davon erst im Nachhinein langsam erfolgt.

Serielle Illustrationen und Kreuzwege Die serielle Darstellungsform war eigentlich schon länger in Fresken und Predellen des 14. und 15. Jahrhunderts gang und gäbe. Auch das neue Medium des verfeinerten Holzschnitts, der eine Ausdifferenzierung der Zeit in der Abfolge der Einzelszenen ermöglichte, hielt dem Betrachter den Fortgang der Geschichte lebendig vor Augen. Die Illustrationen zu den Reiseberichten, die seit der Jahrhundertwende um 1500 die Gemüter mit der Kunde von den neuen Welten bewegten, sind hier zu nennen. Gezeigt werden dabei nicht das Leben an Bord der Schiffe, sondern die entscheidenden Stationen auf den Entdeckungsreisen – nicht viel anders, als es in Zyklen religiösen Inhalts (sei es in Predellen oder Holzschnitten) der Fall war. Als Beispiel sei hier auf die Illustrationen von Jörg Breu dem Älteren zur deutschen Ausgabe von Ludovico Vartomans Die ritterliche Reise verwiesen, die 1515 in Augsburg bei Johann Miller erschien.81 Diese Illustrationen präsentieren unerwartete und aufregende Schilderungen der fernen fremden Völker, ihrer Gebräuche und Sitten. Der Zusammenhang der Bilder wird durch das übergreifende Thema der Reise ins Ungekannte gewährleistet. Bei Darstellungen biblischer Stoffe und der Heiligenlegenden konnten die Künstler mit dem Erfahrungsschatz und dem Gedächtnis des Publikums rechnen  ; verstärkt wurde dabei das Einfühlungsvermögen angesprochen. Lew Andrews erörtert in seiner Studie Story and Space in Renaissance Art. The Rebirth of Continuous Narrative von 1995 die Möglichkeit des kontinuierlichen Erzählens in Bildern. Eigentlich sei die Schilderung des Zeitverlaufs nur durch die Kombination von Einzelszenen möglich – entweder durch die Verteilung derselben in einem imaginären Raum oder in der Abfolge von Einzelbildern, welche die Imagination des Betrachters ansprechen.82 Als einschlägiges Beispiel der seriellen Darstellung wird auf Gaudenzio Ferraris Fresken auf dem tramezzo in San Maria delle Grazie in

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Serielle Erzählstruktur

Varallo um 1513 verwiesen.83 (Nach der Reproduktion Fig. 11 in Andrews’ Buch zu urteilen, handelt es sich allerdings um eine Schauwand, die mit Einzeltafeln bestückt worden ist.) Zum Vergleich wird die andere Möglichkeit der kontinuierlichen Erzählform, die Verteilung der Szenen innerhalb eines übergreifenden Raumes, angeführt, so etwa Bernardo Luinis Kreuzigung um 1530 in San Maria degli Angeli in Lugano. In den beiden vorangegangenen Büchern zu Bild/Zeit von 1996 und 2004 habe ich eine Reihe von Bildern und auch Reliefs besprochen, die dieser Erzählstruktur entsprechen – von besonderer Bedeutung sind hier die Freskenzyklen in der Sixtina 1481–1482 und Hans Memlings Passionstafel von 1470/71 in der Galleria Sabauda, Turin (Bild/Zeit, II, 2004, S. 206–216 und 278 ff.). Andrews’ Erwähnung von Gaudenzio Ferrari ist in diesem Zusammenhang von Interesse  ; war er es doch, der von Beginn an in Varallo an der Herstellung plastischer und gemalter Bilder gearbeitet hat, die sich in der Folge zu der grenzüberschreitenden Kunstform des Kreuzweges entwickeln sollten. Der ersten Anlage mit dem Grab Mariens um 1493–1499 am Sacro Monte folgten eine Kapelle mit der Pietà 1495, 1512/13 die Grotte mit der Natività und das Gemach der Verkündigung, 1517/18 die Anbetung der Hirten, 1518–1522 „Der große Kalvarienberg“ und schließlich 1527/28 die Anbetung der Hl. Drei Könige.84 Der Anfang des Typus des Kreuzwegs mit seinen einzelnen Stationen war damit gemacht. Im Prinzip haben wir es mit einer Fortsetzung der mittelalterlichen Mysterienspiele mit ihren einzelnen luoghi deputati zu tun, zwischen denen sich das Publikum selbst zu bewegen hatte. Das Kontinuum wird in diesem Fall durch die „Echtzeit“ (im heutigen Sprachgebrauch), die unmittelbare Betrachtung eines tableau-vivant und die darauf folgende Zeitspanne, in welcher der Betrachter sich zum nächsten „stehenden Bild“ bewegt, real umgesetzt. Die Dynamik der Gegenwart, die „Echtzeit“ selbst, trägt somit analog zum kontinuierlichen Ablauf der wahrgenommenen istoria bei.85 Damit wird der Schritt von der bildenden zur darstellenden Kunst vollzogen. Die Kunst ereignet sich im realen Raum, der Ablauf vollzieht sich in „Echtzeit“, der Betrachter bewegt sich von einer Station zur anderen und leistet so selbst einen konstitutiven Beitrag zur Realisierung der dramatischen Handlung. Im Prinzip haben wir es hier mit einer Umkehr der Bewegung und der damit in Zusammenhang stehenden Erlebniszeit zu tun, wie wir sie in der kinematografisch anmutenden Inszenierung des Triumphzugs Maximilians I. erfuhren.

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III Michelangelo 1 Die Decke der Sixtinischen Kapelle An der Decke der Sixtina, die mitsamt den Stichkappen und Lünetten in den Jahren 1509–1512 zur Ausführung gelangte, tun sich vor den staunenden Augen der Besucher die Schöpfungsgeschichte und die Frühzeit der Menschheit ante legem bis zur Scham Noahs, dem zweiten Sündenfall, auf. Es folgt in den Lünetten die lange Kette der Vorfahren Christi aus dem Stamm Jesse (Abb. 81). An der Westwand und an den Längswänden erscheinen die Zeiten sub lege und sub gratia in den Historienbildern, die während des Pontifikats des Gründers der Kapelle, Sixtus IV., 1481–1483 in Auftrag gegeben worden sind (vgl. Bild/Zeit, II, 2004, S. 206–216). Auch wenn die Genesis bereits in der Bildausstattung von Alt-St.-Peter vorgegeben war und als fester Bestandteil in die frühchristliche Ikonografie und später in die Ausstattung bedeutender mittelalterlicher Kirchen einging (vgl. z. B. das Baptisterium in Florenz oder den Narthex von San Marco in Venedig), dienten die Einzelszenen dort zur Illustration des parataktischen Ablaufs der Schöpfungs- und der Menschheitsgeschichte. Die zeitliche Abfolge des Programms in der Sixtinischen Kapelle dürfte den zeitgenössischen Betrachtern einsichtig gewesen sein, nur erhielt die Decke infolge ihrer monumentalen, dominanten Figuren ein ganz anderes Gewicht als in den früheren kleinteiligen historischen Darstellungen an Decken und Wänden. Die Komplexität der typologisch ausgerichteten Szenen in der Sixtina, die nicht nur die Verflechtung der alt- und der neutestamentlichen Ereignisse thematisieren, sondern auch die Funktion der Ecclesia und das tagespolitische Geschehen mit einbeziehen, erhielt durch die Teppichfolge Raffaels eine weitere theologische und historische Signifikanz, in der die Verbreitung und Festigung des Glaubens durch das Wirken der beiden Apostelfürsten Petrus und Paulus unter Juden und Heiden (gentes und gentiles) geschildert wird.1 Gegenstand des Deckenprogramms im Anschluss an die Historienbilder an den Wänden schon vor der Teppichserie Raffaels waren die Erschaffung der Welt sowie die früheste Geschichte der Menschheit von dem Sündenfall bis zur Sintflut, der Bund Gottes mit Noah sowie Fluch und Segen des Letzteren (Gen 1–9).2 Der in der Renaissance geläufigen Doktrin gemäß, dass der Mensch sich im Zentrum der Welt befindet und sowohl dem Himmel als auch der Erde zugewandt ist, nimmt die „klassisch“ anmutende Erschaffung Adams die Mitte des

Deckenprogramms ein. Zur Altarwand nach Westen hin folgt ein Regress  : über die Erschaffung der Tiere und Pflanzen in der Natur und des Kosmos bis zur ersten dramatischen Gebärdefigur des Schöpfers, der das Licht von der Finsternis trennt. In Richtung des östlich gelegenen Eingangsbereichs der Kapelle, der für die Laien bestimmt war, folgen die Geburt Evas, der Sündenfall und die Vertreibung aus dem Paradies  ; des Weiteren das Opfer Noahs, die Sintflut sowie die Trunkenheit Noahs (Gen 9, 18–29). Streng genommen müsste die Sintflut (Gen 6, 1–8, 19) dem Dankopfer Noahs (Gen 8, 20–21) vorangehen. Da aber die Sintflut, wahrscheinlich die erste Szene, die Michelangelo nach Aussage Condivis in der Mittelachse der Decke malte, kleinteilig und mit vielen Figuren versehen ist, musste das größere, von der fiktiven Architektur gerahmte Feld in Anspruch genommen werden, während die beiden kleineren Felder für das Opfer Noahs und die Trunkenheit Noahs reserviert blieben.3 Mit der Ursünde des ersten Sündenfalls und dem Zweiten Sündenfall der sich vermehrenden Völker nimmt die Heilsgeschichte aufgrund der Erlösungsbedürftigkeit der Menschheit ihren Lauf. Dieser christologische Gedanke setzt sich in den seitlich gelegenen Zwickeln und Stichkappen fort. Die Propheten des Alten Testaments und die Sibyllen der antiken Welt prophezeien zum einen die Erlösung der Menschen durch den Herrn  ; zum anderen dienen die Weissagungen der Sibyllen der Legitimation der Kirche.4 In den Stichkappen und Lünetten befinden sich die Vorfahren Jesu, jener Stammbaum, der die Verheißungen an Abraham und David einlöst und im Matthäusevangelium (Mt 1, 1–17) nach Generationen aufgezählt wird. Die Gruppen, immer auf wenige Figuren beschränkt, überbrücken somit den langen Zeitraum zwischen Exodus und der Geburt des Erlösers. Man könnte sagen, dass in der Sixtina die alte mittelalterliche Form der fortlaufenden Präsentation von einzelnen Szenen (syntagmatische Struktur) in der mittleren Achse der Decke aufgegriffen wird  ; parataktisch wird mittels Gruppen und Einzelfiguren in den Stichkappen und Lünetten auf den Stammbaum Christi Bezug genommen, während zwischen den beiden Registern die begleitenden, kommentierenden und sinnierenden Propheten und Sibyllen den heilsgeschichtlichen Zusammenhang, den übergreifenden paradigmatischen Erzählkontext zu verdeutlichen hatten (vgl. Bild/ Zeit, I, 1996, S. 213–216). Wir haben es mit repräsentativen Figuren zu tun, welche die Verschränkung des christologi-

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Michelangelo

81 Die Sixtinische Kapelle, Vatikan.

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Die Decke der Sixtinischen Kapelle

82 Das Programm der Deckenmalerei Michelangelos (nach P. de Vecchi).

schen Erlösungswerks sub gratia mit der jüdischen Stammesgeschichte sub lege beglaubigen. Frederic Hartt hat seinerzeit die Hypothese vorgebracht, die Wände und die Decke der Sixtina würden farbig einen Entwicklungsprozess widerspiegeln  : dieser führe von den schemenhaften Gestalten der jüdischen Vorfahren (den umbra des Alten Testaments) über die erhabenen Geister der Propheten und Sibyllen zu den lichten, idealen Szenen der Genesisdarstellungen, die rückwärts verlaufend zum Ursprung der Schöpfung, zur göttlichen Emanation gelangen.5 Solche Überlegungen wurden ebenfalls von Herbert von Einem 1959 angestellt. Die ideale Gestaltung der ignudi hebe diese reinen Seelen vom irdisch-geschichtlichen Geschehen ab. Eigentlich komme in ihnen der ureigenste Gestaltungsdrang Michelangelos zum Tragen.6 Dies ließe sich auch in Bezug auf die mächtigen Plastiken des späteren Juliusgrabes sagen. Wilde hat übrigens gerade Michelangelos Umsetzung der Plastik in das Medium der Malerei in der Sixtinischen Kapelle betont.7 Mit einem neuplatonischen Konzept wie in der Decke der Sixtina wurde auch die Architektur und Ausstattung der Medicikapelle in Verbindung gebracht (vgl. S. 174  ff.). Derartige Überlegungen, insbesondere was den Regress der Schöpfungsgeschichte bis zum Augenblick der Scheidung des Lichts von der Finsternis betrifft, mögen das Deckenprogramm beeinflusst haben (so auch Charles de Tolnay). Dennoch sollte das neuplatonische Element, das vor allem in der formalen Ausführung und der Farb- und Formgebung zu finden ist, nicht überbetont werden. Der vermeintliche Übergang von den typologisch begründeten umbra der alttestamentlichen Vorfahren in den Lünetten zu den lichten

Szenen einer vorangegangenen höheren geistigen Existenz hat sich nach der Restaurierung mit den Schatten selbst verflüchtigt. Die Differenz in Farbigkeit und Lichtwert an den Wänden, Zwickeln und der anschließenden Decke muss neu überdacht werden. Vor allem steigert sich im Laufe der Ausführung der Farbwert und die Kombination der Farben nimmt dramatischen Charakter an, insbesondere in den Lünetten mit ihren unglaublichen Farbkontrasten. Der Effekt derselben ist nicht zuletzt auf die großzügige Malweise zurückzuführen, die Michelangelo gegen Ende der Ausmalung praktizierte – die Lünetten wurden ja in nur 100 Tagen (vermutlich ohne Kartons) ausgeführt.

Ikonografie Der Ablauf der historischen Zeit wird aus dem ikonografischen Programm ersichtlich. Wie erwähnt darf vom Betrachterstandpunkt aus von einem fortlaufenden Regress gesprochen werden. Die neun Deckenszenen sind in drei Gruppen gegliedert  : die Geschichte Noahs mit der „Scham Noahs“ dem zweiten Sündenfall, der Sintflut und dem Opfer Noahs  ; die Erschaffung Adams und Evas sowie der erste Sündenfall  ; die Erschaffung der irdischen Welt, des Kosmos und des Lichts (Abb. 82). Begleitend zu diesen Darstellungen der Genesis kamen in den Eckpendentifs vier typologische Szenen zur Ausführung, die sich auf das Erlösungswerk bzw. auf die Funktion der Kapelle und das Sakrament beziehen.8 Ihnen zur Seite stehen die begleitenden Weissagungen von sieben Propheten und fünf Sibyllen, welche zu dem

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Michelangelo

weise sowie die akribische Auswertung der Quellen und der Aussagen der einschlägigen an der Kurie tätigen Theologen geben eine Vorstellung von dem Programm, das in seiner Komplexität dem der zeitgleichen Stanza della Segnatura kaum nachsteht.10 Die formale Kraft und visuelle Prägnanz, mit denen der noch junge Künstler die an ihn herangetragenen Konzepte in einprägsame Szenen und Gestalten umzusetzen wusste, sind erstaunlich.

Die Trunkenheit Noahs

83 Michelangelo, Die Scham Noahs, 1508. Sixtinische Kapelle, Vatikan.

Wandprogramm mit dem Wirken von Moses und Christus überleiten. Dazwischengeschaltet befinden sich die Lünetten mit den vierzig Generationen der Vorfahren Christi, die wie erwähnt am Ende der Ausmalung 1512 entstanden sind  ; in ihrer großflächigen Ausführung unterscheiden sie sich stark sowohl von den meisten vorangehenden Fresken mit ihrer präziseren Ausführung und naturgemäß noch stärker von den früheren Papstbildern und den Wandszenen sub lege und sub gratia, die Sixtus IV. Anfang der 1480er-Jahre in Auftrag gegeben hatte. Nach der Restaurierung lässt sich konstatieren, dass Michelangelo mit seinen stupenden Figurenentwürfen und der überbordenden, geradezu provokanten Farbgebung den Manierismus triumphal eingeläutet hat. Über die ignudi lassen sich wie erwähnt bislang nur Vermutungen anstellen. Gewiss erschöpft sich ihre Bedeutung nicht in ihrer formalen Perfektion und Ausdruckskraft. In ihrer idealisierten Nacktheit entziehen sich die Jünglinge der zeitlichen und örtlichen Einordnung und agieren als freie Geister und Trägerfiguren vor dem Gerüst der Scheinarchitektur. Die Festons mit ihren Eicheln sind überzeugend mit dem Auftraggeber, Julius II. della Rovere, in Verbindung gebracht worden und darüber hinaus mit dem Topos des „Goldenen Zeitalters“, das nach Egidio da Viterbo nun angebrochen war und die weltliche Macht und geistige Autorität des Papsttums verkündete. 9 Die bronzenen Medaillons mit ihren Szenen repräsentieren einen „niedrigeren“ Realitätsgrad  ; sie dienen gleichsam als theologische Kommentare zu den benachbarten illusionistischen Szenen – in Erz gegossene typologische exempla und Opferdarstellungen, welche die zeitliche Verschränkung und den Fortgang des Erlösungswerks bekunden. Eine genauere Erörterung der zentralen Szenen der D ­ ecke im Kontext der Begleitfiguren und der sonstigen Bildver-

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Die Erzählfolge hebt, vom Eingangsbereich aus gesehen, mit der Trunkenheit Noahs an, in der zum einen die Fortsetzung der Ursünde nach der Sintflut sinnfällig wird (Abb. 83), zum anderen zugleich auch die Auserwähltheit des Stammes von Sem (Gen 9, 18–29 und 11, 10–32). Die leere Trinkschale dient als Verweis auf das vergossene Blut und den Opfertod Christi – auch wurde die Demütigung Noahs einer Textstelle bei Augustinus gemäß im figuralen Sinn ausgelegt, wonach der Herr die Menschwerdung „im Weingarten Israels“ auf sich nahm.11 Dementsprechend sehen wir im Hintergrund links, wie der Patriarch mit dem Spaten sich im Weingarten zu schaffen macht. Abendmahl und Eucharistie werden gleichermaßen als neutestamentliches bzw. gegenwärtiges liturgisches Geschehen in diesen Szenen angesprochen. Die begleitenden Medaillons, von den ignudi an Bändern gehalten, zeigen, wie Joram, vom Pfeil Jehus getroffen, von seinem Wagen stürzt (2 Kön 9, 25). Im zweiten Medaillon sehen wir, wie Abner hinterlistig von Joel erdolcht wird (2 Sam 3, 28). Verrat und Tod präfigurieren die Passion und das unschuldig vergossene Blut Christi. Die Trunkenheit Noahs ist als erste Szene in der zentralen Achse der Decke von drei monumentalen prophetischen Figuren umgeben  : Sacharja, der den kommenden Friedenskönig weissagt, der auf einem Esel in Jerusalem einziehen wird  ; er verkündete für die Väter den Frieden, dessen Herrschaft bis an die Grenzen der Welt reiche (Sach 9, 9)  : Die Gefangenen werden „um des Blutes deines Bundes“ willen freigelassen, die Krieger des Herrn „trinken und lärmen wie beim Wein  ; sie sind voll Blut, wie eine Opferschale, wie die Ecken eines Altars“ (Sach 9, 16). Nach langen Kämpfen werde am Ende Jerusalem obsiegen und Frieden einkehren (Sach 14, 1–11). Die mächtige Figur des Propheten befindet sich an der Ostwand, womöglich den Aufstieg des Geschlechts repräsentierend und vom Licht aus dem Osten beschienen  ; viele Opfer des Volkes wurden vom Propheten geweissagt, aber auch der Sieg, der dem des Erlösers vorangehe.

Die Decke der Sixtinischen Kapelle

84 Michelangelo, Die Sintflut, 1508. Sixtinische Kapelle, Vatikan.

Katastrophen werden von dem düsteren Joel geweissagt, der an der nördlichen Wand, in einer Buchrolle lesend, bereits den Bezug zur nächsten großen Szene, der Sintflut, herstellt. Dies entspricht der thematischen Logik der Bildfolge, aber nicht der eigentlichen Chronologie, wie denn überhaupt die Begleitfiguren (wie in der Bibel auch) auf bereits Geschehenes Bezug nehmen, immer das Geschick des auserwählten Volkes im Auge behaltend. Die umbra des Alten Bundes werden sich erst durch das spätere Erlösungswerk in die veritas des Neuen Bundes kehren. Die emphatische delfische Sibylle wendet sich abrupt von der Textrolle ab und richtet über die Schulter ihren Blick unverwandt auf den Betrachter. Dieser partizipiert somit unmittelbar am Geschehen. Nach hergebrachter Bildprägung ist sie mit halb geöffnetem Mund und aufgerissenen Augen als eine von der Gottheit Besessene gekennzeichnet. Womöglich war auch eine Hinwendung zur benachbarten Zwickelszene mit Judith und Holofernes intendiert, die als Präfigur der jungfräulichen Empfängnis galt.

Die Sintflut Die Sintflut ist mit dem tagespolitischen Geschehen in Zusammenhang gebracht worden (Abb. 84). Die Verdammnis Venedigs durch Julius II. am 14. Mai 1509 fällt in den Zeit-

raum der Ausführung. Die Errettung Noahs und seiner Sippe durch die Arche, das Holz sowie der Bund Gottes mit dem auserwählten Volk, durch den Regenbogen beglaubigt, lässt den Anspruch und die Führungsrolle der Kirche klar hervortreten.12 Die Arche wurde als Bild der Kirche gesehen, deren Holz die Errettung der Menschheit gebracht habe, so auch das Wasser, das zum einen die Sündigen vernichte, zugleich aber durch die Taufe den Menschen von der Erbsünde befreit habe. De Vecchi die Sintflutszene mit ihren simultan ablaufenden Darstellungen unterschiedlicher Gruppen mit einer Exegese Hugos von St. Viktor in Verbindung gebracht, die drei verschiedene Verhaltensweisen der Menschen zeigen  : die Gläubigen, die in die Arche (Kirche) flüchten  ; die Verdammten, die mit Gewalt suchen, sie zu erstürmen  ; und schließlich jene, die zu sehr an der Welt hängen und demzufolge versuchen, all ihr Hab und Gut mit sich zu schleppen. Die Virtuosität, mit der die unterschiedlichen simultan ablaufenden Handlungsstränge kompositionell zusammengefügt wurden, ist Gegenstand einer Analyse von Rudolf Kuhn.13 An den Längswänden unterhalb der Sintflut befinden sich die Historienbilder mit der Bestrafung der Rotte Korah von Botticelli und Peruginos Schlüsselübergabe, die ebenfalls die Bestrafung der Sünder bzw. die Errettung der Gläubigen durch das Wirken der Kirche zum Gegenstand haben (vgl. Bild/Zeit, II, 2004, S. 213 f.). Grundsätzlich wird so-

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Michelangelo

1, 11–15). Ausführlich wird hingegen das zukünftige Wirken des Gottesknechtes geweissagt  : Geburt, Opfertod und Erhöhung (Jes III, 53). Begleitend zu seiner Verurteilung falscher Opfer und des Götzendienstes wird in einem Medaillon die Zerstörung der Götzenbilder gezeigt (Jes I, 2, 6–22). Auch der Tanz um das Goldene Kalb und der Raub des Tempelschatzes durch Heliodor lassen, dem Anathema des Propheten entsprechend, die Nichtigkeit der irdischen Güter und der mit ihnen verbundenen Riten anklingen.

Sündenfall und Vertreibung 85 Michelangelo, Das Dankopfer Noahs, 1508. Sixtinische Kapelle, Vatikan.

wohl in den alt- wie auch in den neutestamentlichen Szenen das Wirken der Kirche bzw. des gegenwärtigen Papstes, in diesem Fall das des Onkels von Julius II., Sixtus IV., angesprochen  ; was das Alte Testament betrifft, erfolgt die realprophetische Konnotation eher implizit, im Neuen Testaments mehr offenkundig, indem die Kirche in der Nachfolge Christi eigentlich als dritte Stufe in die typologische Deutung der Historie Eingang findet.

Das Dankopfer Noahs Aufgrund der notwendigen Angleichung der ersten Deckenszenen an die vorgegebene Größe der Felder wurde wie erwähnt die Szene mit dem Dankopfer Noahs entgegen der Chronologie der Sintflut vorangestellt (Abb. 85). Dies fällt dennoch nicht so stark ins Gewicht, da die Darstellung auf die Passion und den Opfertod Christi ausgerichtet und schlüssig in der Nachbarschaft zum Sündenfall angesiedelt ist. Durch Holz, hier wie fascien gebündelt, und Feuer wird die Menschheit wieder der Erlösung zugeführt. Wiewohl die vier Figuren im Vordergrund, welche die Opferriten ausführen, von Domenico Carnevali stammen, der in den Jahren 1568–1572 das partiell zerstörte Fresko wiederherstellte, dürften diese doch eng an die ursprüngliche Fassung angelehnt sein.14 Die begleitenden Propheten sind ebenfalls auf das Opfer im übertragenen Sinn ausgerichtet  : die erythräische Sibylle, als „Schwiegertochter Noahs“ apostrophiert, sagte die Menschwerdung Christi und die Passion vorher. Jesaja, in sich gekehrt, entspricht einer gespannt lauschenden Inspirationsfigur. Gleich zu Beginn äußert sich der Prophet sehr negativ über die vielen sinnlosen Schlachtopfer und Verbrennungen, die dem Herrn ein Gräuel seien (Jes I,

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Die vierte Szene der Deckenszenen ist dem Sündenfall und der Vertreibung aus dem Paradies gewidmet (Abb. 86). Die eklektisch anmutende Eva, an einem verdorrten Baumstumpf ruhend, nimmt gelassen den von der weiblichen Schlange ihr gereichten Apfel entgegen, während Adam den kräftigen Zweig eines Feigenbaums herabzieht. Maßgeblich dürfte hier die Auslegung von Marco Vigerio della Rovere gewesen sein, dessen Decachordium christianum soeben (1507) erschienen war.15 Die Feige Adams sei gefällt worden, während der zweite Baum „sich essend erhob“. Die „Vertreibung der Ureltern aus dem Paradies“ durch den Erzengel spielt sich vor einer offenen Ebene ab  ; nur der ausladende Feston mit den goldenen Eicheln darüber gemahnt an das verlorene Paradies  ; sie ruft jenes „Goldene Zeitalter“ Julius’ II. in Erinnerung, das von Egidio da Viterbo 1507 in einem Lobgedicht beschworen wurde  ; die goldenen Eicheln finden zunehmend Eingang in das dekorative Rahmenwerk der Decke und bekunden die Macht der Kirche, zu binden und zu lösen (vgl. Abb. 99).16 Mit dem Sündenfall setzt die erste eigentlich historisch zu nennende Phase der Menschheitsgeschichte ein, die zur ersten Tilgung des Menschengeschlechts durch die Sintflut und der fortwährenden Scham führen sollte. Aus der Ursünde entspringt bereits die Notwendigkeit der Erlösung der Menschheit  ; der Kirche kommt dabei eine Schlüsselrolle zu. Der in der zeitgenössischen Panegyrik immer wieder angesprochene Baum des Lebens und der Erkenntnis (del bene e del male, lignum vitae et crux) macht die felix culpa sinnfällig, die letztendlich auch das Erlösungswerk Christus verursacht und das weitere Wirken der Kirche notwendig macht.17

Programm und Raumstruktur Durch die Szene des Sündenfalls wird die triadische Einteilung der Deckenszenen durchbrochen. Zu Beginn des „his-

Die Decke der Sixtinischen Kapelle

86 Michelangelo, Sündenfall und Vertreibung, 1509. Sixtinische Kapelle, Vatikan.

torischen“ Geschicks der Menschheit wird der elementare Charakter des Irdischen ikonografisch angesprochen  : die Erde (das Setzen des Weinstocks), das Wasser (die Sintflut), das Feuer (das Opfer Noahs) und die Luft (Baum, Himmel). Auf einen weiteren, für das gesamte Deckenprogramm wichtigen Umstand sei noch hingewiesen  : Die Decke bis einschließlich der vierten Szene überwölbt den für Besucher und Laien reservierten Teil, der zur Zeit der Ausmalung oberhalb der sich dort befindenden Schranke endete. Dem Besucher wurde gleichsam ein realer Ort zugeteilt, der seinem Status als historisches Wesen und einer Lebensführung der vita activa entsprach. Die Erlebniszeit wird mit einem ikonografisch gesteuerten Bewusstseinsprozess verknüpft, der die Kirche als maßgebliche Institution in der historischen Entwicklung sinnfällig macht. Mit der Heilsgeschichte, der historia tripartita, nimmt sie ihren Anfang  ; das bildhaft dargestellte Ende blieb zur Zeit der Ausmalung noch ausgespart. Erst 25 Jahre später kam es in dem gewaltigen Fresko mit dem Jüngsten Gericht zum Abschluss des Ganzen.

Die Geburt Evas Wie Shearman in seinem einschlägigen Buch über die Teppichserie Raffaels hervorgehoben hat, befand sich der Lett-

ner, der die Laien von den Vertretern der Kurie trennte, ursprünglich unter dem Deckenfresko mit der Geburt Evas (Abb. 82 und 87).18 Guldan hat gleich zu Beginn seines Buches Eva und Maria. Eine Antithese als Bildmotiv auf das Virginitätssymbol der „porta clausa“ verwiesen, deren Symbolik sich direkt auf den Lettner unter dem Fresko übertragen lasse. Guldan zitiert Bernward von Hildesheim, der sich wiederum auf Ez 44, 1–3, bezieht  : „Die Pforte des Paradieses, durch die erste Eva verschlossen, ist nun durch die heilige Maria allen aufgetan worden.“19 Hier und jetzt, im Akt des Durchschreitens konnte der Besucher der Kapelle den Sinn quasi am eigenen Leib erfahren. Wie schon im Frühmittelalter kann man von einer Konvergenz von Symbolik und periegetischer Raumerfahrung sprechen (vgl. Bild/Zeit, I, 1996, S. 202 ff.). Dementsprechend wurde in der Sixtina in der Bodeninkrustation auf die Liturgie und das Zeremoniell Bezug genommen. Mehr aus dem Felsen denn aus der Seite des schlafenden Adam scheint Eva in die Welt zu kommen. Mit gefalteten Händen wendet sie sich der mächtigen Gestalt Gottvaters zu  ; bereits in frühen Jahren hat Michelangelo an Nachzeichnungen von Giotto in der Peruzzikapelle oder von Masaccios Figuren in der Brancaccikapelle seine voluminöse Körpererfassung erprobt. Eva wurde als Präfigur von Maria und Ecclesia aus der Seite Adams erschaffen, analog zu dem Blut und dem Was-

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87 Michelangelo, Die Geburt Evas, ca. 1510. Sixtinische Kapelle, Vatikan.

ser, die aus der Seitenwunde Christi austraten  ; als „zweite Eva“ habe sie infolge der Unbefleckten Empfängnis die Ursünde der Menschheit getilgt.20 Der begleitende Prophet Ezechiel und die cumäische Sibylle machen diese heilsgeschichtliche Auslegung der Szene sinnfällig. So heißt bei Ezechiel (Ez 17, 24)  : „Ich lasse den grünenden Baum verdorren, den verdorrten erblühen.“ An einer späteren Stelle steht  : „Dann führte er mich zum äußeren Osttor des Heiligtums zurück. Es war geschlossen. Da sagte der Herr zu mir  : Dieses Tor soll geschlossen bleiben, es soll nie geöffnet werden, niemand darf hindurchgehen, denn der Herr, der Gott Israels, ist durch dieses Tor eingezogen  ; deshalb bleibt es ­geschlossen.“ (Ez 44, 2–3.) Guldan fasst nochmals Michelangelos Darstellung der Geburt Evas im Rahmen der Begleitfiguren im Deckenprogramm als eine Manifestation der Eva-Ecclesia-Typologie zusammen  : „Nachdem Edgar Wind in der cumäischen Sibylle eine Repräsentantin der Kirche

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und in den beiden Medaillons an den Schmalseiten des mittleren Deckenfreskos die Sinnbilder der Ecclesia militans et triumphans erkannt hat, ist nicht mehr daran zu zweifeln, dass Ezechiel hier als Prophet der in Evas Geburt präfigurierten Kirche seinen Platz gefunden hat. Das ekklesiologische Programm der zentralen Bildgruppe folgt damit einem Gedanken, der durch die Weihe der päpstlichen Kapella an die Assunta, die gekrönte Braut Christi, im Mittelpunkt der Thematik zu erwarten war.“21 Wie bereits besprochen, befand sich ursprünglich der Durchgang der Schranke unter der Szene mit der Geburt Evas, durch den man vom Laienraum in den für Kurienmitglieder vorbehaltenen Bereich gelangte. So wurde die Bedeutung der Szene gleichnishaft realiter in Zeit und Raum dem kundigen Besucher bewusst, die Gegenwart mit dem Überbau der Heilsgeschichte direkt in Einklang gebracht (vgl. Bild/Zeit, II, 2004, S. 212 f.).

Die Decke der Sixtinischen Kapelle

88 Michelangelo, Erschaffung Adams, ca. 1510. Sixtinische Kapelle, Vatikan.

Erschaffung Adams Die Szene mit der Erschaffung Adams wurde bereits von den Zeitgenossen Michelangelos als ein makelloses Zeugnis idealer Figurengestaltung angesehen (Abb. 88). Ihnen ist auch Heinrich Wölfflin gefolgt. Zu Recht verweist de Vecchi auf Pico della Mirandolas Traktat De hominis dignitate von 1486, in dem die zentrale Stellung des Menschen, dem Kosmos und dem Geistigen gleichermaßen wie dem Irdischen zugewandt, angesprochen wird. Für Wölfflin und die Kunsthistoriker in seiner Nachfolge kommt in der ausgewogenen Gestalt Adams das zeitlose klassische Ideal paradigmatisch zum Ausdruck. Die dynamische Gestalt Gottvaters, von einer Gruppe himmlischer Wesen und einer sibyllinischen Frau getragen, löst als primus motor mit einer spielerisch leichten Berührung die Belebung des Menschen aus. Im Augenblick des Schauens partizipiert der Betrachter gleichsam

an jenem zündenden Funken, jener ènérgeia, die den Dingen Leben einhaucht und später auch von Michelangelo selbst mit dem Auslöser und Impuls des künstlerischen Schaffens in eins gesetzt wird. Diese Vorstellung, später mit dem Begriff des concetto umschrieben, betont den geistigen Charakter des Schöpfertums, das auch dem Menschen zuteilwurde  ; der Begriff wird aber nicht so ins Metaphysische erhoben wie bei den Spätmanieristen, die den alleinigen Primat der „göttlichen Idee“ postulierten. Einmal im Geiste des Menschen bzw. des Künstlers vorhanden, kann die ènérgeia nach Michelangelo im Kunstwerk materiell umgesetzt werden, das demzufolge denselben Wahrheitsanspruch und Status wie die ursprüngliche Idee beanspruchen dürfe. Benedetto Varchi verweist, an Michelangelo anknüpfend, auf die aristotelische Wurzel dieses Gedankens.22 Mit der Erschaffung Adams geht das Geistige eine Verbindung mit der Materie ein, erhält das Dasein zugleich eine

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89 Michelangelo, Gott scheidet Wasser und Land, ca. 1512. Sixtinische Kapelle, Vatikan.

historische Dimension  : Die Ahnenreihe Christi und die mit seiner Menschwerdung einsetzende Erlösungsgeschichte schlagen den Bogen bis zum Tag des Jüngsten Gerichts. Adam als „der aus Erde Geschaffene“ präfiguriert nach Ansicht vieler Kommentatoren Christus, der die spirituelle Erlösung durch sein leibliches Opfer herbeiführen wird. Aus dem Mund Adams wuchs später jener Baum, dessen Holz Tod und Errettung gleichermaßen bewirkt habe. Der Brückenschlag von der Gegenwart zurück zu den Anfängen der Erlösungsgeschichte im Zeichen des Kreuzes erfolgte dem genius loci gemäß in der Sixtinischen Kapelle bei der Papstwahl und bei der Pfingstvesper  : Zu diesen Gelegenheiten wurde der schöpferische Geist angerufen  : Veni creator spiritus.

Wasser, Meer, Luft – Erschaffung der Lebewesen Die letzten drei Deckenbilder bilden den kosmisch-naturhistorischen Vorspann der Schöpfung bis zur Erschaffung des Menschengeschlechts. Rohlmann spricht in einer kurzen Analyse der Genesisszenen aus der Sicht von Zeitlichkeit von einer „Aneinanderreihung mehrerer Handlungsepisoden“.23 Dies trifft zu, wenn man die Schöpfung selbst als eine übergreifende Handlung sieht und die einzelnen Stadien derselben als „Episoden“ benennt. Dem Begriff haftet allerdings etwas Ephemeres an, was bei der Beschreibung der stufenweise erfolgenden Erschaffung der Welt nicht unbedingt angebracht erscheint. Schwierig ist es wiederum, die einzelnen Stadien des Fortgangs strikt voneinander zu trennen, da die Bestandteile der Schöpfung in den ersten vier

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90 Michelangelo, Der Prophet Daniel, ca. 1510. Sixtinische Kapelle, Vatikan.

Tagen sich kaum verändern. Entscheidend ist der aktive Gott, dessen Handeln im Wesentlichen aus dem Prozess der elementaren Teilung besteht. Weil diese Szenen auf diesen Aspekt abzielen, bleibt das Augenmerk auf die stark vereinfachte überlebensgroße Gestalt Gottvaters gerichtet (Abb. 89). Nach der Scheidung des Trockenen vom Wasser erhalten diese die Benennung „Land“ und „Meer“ (Gen 1, 9–10). Auch die (in umgekehrter Abfolge in der Decke vorangehende Erschaffung der Lebewesen des Wassers und der Luft wird hier angesprochen (Gen 1, 20–23). Die bewegten mächtigen Gestalten der Propheten tragen zur historischen Einbindung des Geschehens bei. Benachbarte Wandbilder verweisen auf die Ansammlung von Völkern unter Maria, dem Stern des Meeres  ; nach Hieronymus wird die Gottesmutter dementsprechend als „ein Meer voller Gnade“ apostrophiert. Der begleitenden Sibylle Persica wird der Spruch in den Mund gelegt, der Schoß einer Jungfrau werde den Völkern das Heil bringen. Der Persica gegen-

Die Decke der Sixtinischen Kapelle

91 Michelangelo, Erschaffung von Sonne und Mond, ca. 1512. Sixtinische Kapelle, Vatikan.

über thront Daniel, seit alters her eine der prominentesten Präfiguren Christi und der Auferstehung (Abb. 90). Der Prophet sagte ebenfalls die Errettung des Volkes durch den Erzengel Michael voraus  : „Die Verständigen werden strahlen, wie der Himmel strahlt  ; und die Männer, die viele zum rechten Tun geführt haben, werden immer und ewig wie die Sterne leuchten.“ (Dan. 12, 4.) Die alte Sternendecke der Sixtinischen Kapelle war zwar durch die Ausmalung Michelangelos verdeckt worden, aber die Metapher könnte den Besuchern noch gewärtig gewesen sein. Zu den Errettern, die zu rechten Taten anhalten, könnte sich auch Papst Julius II. gezählt haben, der zur Zeit der Ausmalung der Kapellendecke Krieg gegen die Franzosen führte  ; ihm dürften die vielen kriegerischen Auseinandersetzungen im Buch Daniel am Herzen gelegen sein. Zu den ältesten Präfiguren der Auferstehung und der Errettung vom Tode überhaupt gehört das Geschick der „drei Jünglinge im Feuerofen“ (Daniel 3, 1–97). In dem begleitenden Medaillon werden wir darüber hinaus mit dem „Tod Absaloms“ konfrontiert, der, an den Haaren im Baum hängend, den Kreuzestod Christi präfiguriert (2 Sam 18, 6–18).

Erschaffung von Sonne und Mond In der folgenden Szene mit der Erschaffung der Sonne und des Mondes sehen wir Gottvater gleichsam dupliziert  : mit gebieterischer Geste schräg von vorne und zugleich von hinten dargestellt (Abb. 91) – zwei Phasen einer Bewegung, die in ihrer formalen Anlage durchaus auch als ein Argument Michelangelos in der aufkeimenden Paragonediskussion gesehen werden kann. Die Anregung zu dieser simultanen Darstellung dürfte aber auf eine Empfehlung Egidios da Viterbo zurückgehen, der auf Augustinus’ Auslegung einer Textstelle im 2. Buch Mose (Ex 33, 22–23) Bezug nimmt  : „Wenn meine Herrlichkeit vorüberzieht, stelle ich dich in den Felsspalt und halte meine Hand zurück, und du wirst meinen Rücken sehen. Mein Angesicht aber kann niemand sehen.“ Wiewohl diese Auslegung hypothetisch bleiben muss, bietet sie doch eine Erklärung für die Doppelfigur und die simultane Darstellung von zwei Phasen eines Bewegungsablaufs. Die rechte Ansicht zeigt Gottvater im dynamischen Akt der Schöpfung, wie er sich mit der Sonne auf uns zubewegt, während der Mond im Hintergrund rechts nur als eine blasse Scheibe erscheint  ; links ist Gott vorbeigeglitten und streckt seine Rechte zu den Pflanzen hin, welche die Erde auf sein Geheiß hin begrünen  : „Das Land lasse junges Grün wachsen, alle Arten von Pflanzen, die Samen

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Michelangelo

der Ordnung im Kosmos beruhenden Ablaufs der Zeit nach Jahr und Tag. Mit der gebieterischen Erschaffung von Sonne und Mond, Tag und Nacht, Helligkeit und Dunkelheit nimmt der ganze Verlauf der ersten vier Schöpfungstage figürliche Gestalt an, gerät zu einem einprägsamen und zugleich übergreifenden Motiv.

Trennung von Licht und Finsternis

92 Michelangelo, Trennung von Licht und Finsternis, ac. 1512. Sixtinische Kapelle, Vatikan (Farbtafel X).

tragen, und von Bäumen, die auf der Erde Früchte bringen mit ihren Samen darin.“ (Gen 1, 11). Die gebieterische Armhaltung der ersten Figurenstellung ist als Hinweis auf die Kreuzesform interpretiert worden, so auch die Verfinsterung des Gesichts und Teile des Körpers. Gewaltig und schreckenerregend mutet die Gestalt allemal an  ; auch die begleitenden kleinen himmlischen Wesen agieren verhalten und verhüllen ihre Gesichter. Fast am Anbeginn der Zeiten angelangt, greift die Figur Gottvaters dem Typus des strengen Richters vor, der rund fünfundzwanzig Jahre später im Jüngsten Gericht das Geschehen beherrschen sollte. In der Genesis vergehen fünf Tage, bevor die Tierwelt und der Mensch am sechsten Tag erschaffen werden. Der fünfte war den Tieren in der Luft und im Wasser vorbehalten. So bleiben vier Tage, von denen der erste Schöpfungstag mit einem Bildfeld bedacht wurde. Die restlichen drei Tage vom zweiten bis zum vierten Schöpfungstag werden in der Szene mit der Erschaffung von Sonne und Mond zusammengefasst. Die Überlagerung und Verschmelzung der einzelnen Etappen des Schöpfungswerks werden dabei in Kauf genommen  : die Scheidung von Wasser und Wasser, Himmel und Erde, die Einrichtung der Lichter am Himmel und des auf

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Ganz in der Bewegung aufgehend, mit erhobenen Armen und den Kopf ungelenk nach oben gereckt, sehen wir Gottvater in der ersten Szene, wo die Trennung des Lichts von der Finsternis vollzogen wird (Abb. 92). Am Anbeginn der Schöpfung ist in der Genesis (Gen 1, 1) zunächst von der Erschaffung des Himmels und der Erde die Rede. Von der Beschaffenheit des Himmels wird nichts Greifbares gesagt und die Erde selbst „war wüst und wirr, Finsternis lag über der Urflut“. Implizit wird der Himmel im Urstadium als nicht vorstellbar ausgelassen und die Finsternis entzieht sich jeder Verbildlichung. So wendet sich Michelangelo dem folgenden Passus des Schöpfungsberichts zu  : „Gott sprach  : Es werde Licht. Und es wurde Licht.“ (Gen 1, 3.) Mit dem Wort, logos, setzt Gott in seiner Schöpfung gleichsam den zweiten Schritt. Aus ihm wird das Licht implizit von der Finsternis geschieden und von da an nimmt die weitere Entwicklung im Kosmos und in der sublunaren Welt ihren Lauf  : „und Gott nannte das Licht Tag, und die Finsternis nannte er Nacht. Es wurde Abend, und es wurde Morgen  : erster Tag.“ (Gen 1, 4–5). Michelangelo dürfte sich intensiv mit diesem Text auseinandergesetzt haben, der ja praktisch auch den vier Tages- und Nachtzeiten vorgreift, die später in der Medicikapelle allegorische Form annehmen sollten. Auf die Scheidung von Licht und Materie folgt die von Erde und Wasser, am zweiten Tag wiederum die Scheidung der Erde vom Wasser und die Einrichtung des Himmelsgewölbes (Gen 1, 8). Durch den fortlaufenden zeitlichen Regress in der Decke erfährt der Betrachter die fortschreitende Elimination des Irdischen, der Ordnung des Kosmos und der Materie. Er wird auf den ursprünglichen, entscheidenden Augenblick des in das Sein tretenden, sich zeigenden Lichts text- und bildgetreu zurückgeführt. Der Schöpfer erscheint vorangestellt  : Die Halbfigur im gleißenden weißen und purpurnen Gewand befindet sich in heftiger Drehung  ; mit erhobenen Armen scheint sie vor unseren Augen zu schweben. Die raumgreifende Gebärde scheidet Licht von Chaos. Das Licht selbst ist nach neuplatonischer Auslegung eins und untrennbar mit dem Göttlichen verbunden. Michelangelo hat sich der Gebärdefigur Gottvaters bedient, um den

Die Decke der Sixtinischen Kapelle

94 Michelangelo, Jeremias und Begleiterin, ca. 1510. Sixtinische Kapelle, Vatikan.

93 Michelangelo, Ignudo, 1511. Sixtinische Kapelle, Vatikan.

ersten Akt der Existenz, die Scheidung von Licht und Finsternis sinnlich fassbar zu machen und den ursprünglichen Zustand des Göttlichen zu offenbaren.

Ignudi Im Vergleich zur reinen Bildhaftigkeit und der Autonomie der Bilder in der mittleren Achse der Decke nehmen die größeren, plastisch ausgearbeiteten Gestalten der ignudi, die durch ihre Karnation „real“ anmuten, ihre Plätze in der Scheinarchitektur ein (Abb. 93, 99). Manche erscheinen als ideale Wesen, ebenmäßig, entrückt und der Schwerkraft enthoben, andere unter der Last eines Festons gekrümmt, verdreht und aufbegehrend. In der Tat nehmen die ignudi formale Lösungen der Sklaven im späteren Juliusgrab sowie in der Cappella Medici vorweg. Wie bei keinem anderen Künstler kann man bei Michelangelo von einer fortschrei-

tenden Entwicklung eines selbstbezüglichen Kunstschaffens sprechen, in der sich Vergangenes mit Gegenwärtigem und Zukünftigem in eigentümlicher Weise verschränkt. Aus der Sicht der Nachwelt erkennt man vieles, was bereits in den frühen Plastiken, in den Gemälden und vor allem in der Decke der Sixtina angelegt ist, das dann in späteren Formprägungen wieder aktualisiert wird.

Propheten und Sibyllen Je weiter zurück wir in der Schöpfungsgeschichte kommen, umso entrückter erscheinen Gottvater und die Begleitfiguren, die bunte Welt hinter sich lassend. Bereits oberhalb der Lünette mit Jesse, David und Salomon, die dem letzten Joch der Decke vorangeht, begegnen wir einer der enigmatischsten Zwickelgestalten  : der im Traum versunkenen Frau in der Mitte der Stichkappe. Auch der Alte, der sie begleitet, hält seine Augen verschlossen. Tief in Gedanken versunken erscheint ebenfalls der benachbarte Jeremias, der sein gewaltiges Haupt in die Hand stützt (Abb. 94). Die in Grün gekleidete Begleiterin, die sich links vom Rot des Mantels des Propheten abhebt, senkt ihren Kopf pathetisch zur Seite – die Augen geschlossen, mit geöffnetem Mund. (Die rechte Figur im strengen Profil dürfte das Resultat einer späteren Ausbesserung sein.) Die krass changierenden Partien des Gewandes, wie sie in den Lünetten nach der Restaurierung

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Michelangelo

95 Michelangelo, Die libysche Sibylle, ca. 1510. Sixtinische Kapelle, Vatikan.

an den Tag getreten sind, weisen Michelangelo als ein Manierist der ersten Stunde aus. Die libysche Sibylle in gewagter Rückenansicht, mit erhobenen Armen einen gewaltigen Kodex stützend und von der Schöpfungsszene abgewandt, richtet den Blick nach unten (Abb. 95). Ihr Buch mag als Beglaubigung des bevorstehenden, noch Jahrhunderte währenden Geschicks des auserwählten Volkes sowie der Erlösungsgeschichte selbst gedeutet werden  – war sie es doch, die in den Augen der Theologen die Muttergottes, Jungfrau und Kind geweissagt hat. Nicht zufällig befinden sich unter ihr an der Längswand die historischen Szenen mit der Auffindung Moses’ und der Beschneidung des Sohnes Moses’ von Perugino und Pinturicchio, Präfiguren der Geburt Christi und der Taufe (zur Interpretation vgl. Bild/Zeit, II, 2004, S. 208). Zugleich wird durch den Hinweis auf das Sakrament die fundamentale Rolle der Kirche angesprochen. Des Weiteren treten die Medaillons mit der Opferung Isaaks und der Himmelfahrt Elias’ als Realprophetien des Opfertodes Christi und der Auferstehung in Erscheinung.

Jona Den Abschluss der mittleren Achse der Fresken bildet Jona mit dem Walfisch, Präfigur Christi, in gewaltsamer Drehung und Verkürzung, der als Einziger der großen Begleitfiguren

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96 Michelangelo, Der Prophet Jona, ca. 1512. Sixtinische Kapelle, Vatikan (Farbtafel XI).

den Blick nach oben richtet, den Mund in Entrückung halb geöffnet, vom göttlichen Odem erfüllt und von Hitze befallen (Abb. 96).24 Als Prophet nicht nur den Messias weissagend, sondern mit ihm leibhaftig und geistig durch göttliche Intervention verbunden, erscheint er visionär dem Schöpfungsakt unmittelbar beizuwohnen. Der starke Rechtsdrall des Körpers bezieht sich formal auf die erste christologische Szene an der nördlichen Längswand, den Fischfang. So wird der Bogen von der Erschaffung der Welt über Jona bis zum Wirken der Kirche in der Gegenwart geschlagen.

Die Pendentifszenen Die beiden flankierenden Szenen in den Pendentifs mit der Bestrafung Hamans (Est 7, 1–10) und der Aufrichtung der ehernen Schlange (Num 21, 8–9) galten seit jeher als realprophetische Anspielungen auf die Kreuzigung. Bei Johannes (Joh 3, 14–15) lesen wir  : „Und wie Mose die Schlange in der Wüste erhöht hat, so muss der Menschensohn erhöht werden, damit jeder, der [an ihn] glaubt, in ihm das ewige Leben hat.“ Die präzise Ausführung der durch Verdrehung und Verkürzung komplexen Figur Hamans bezeugt die Par-

Die Decke der Sixtinischen Kapelle

allelität mit dem Gekreuzigten, während die gebieterische Geste von Ahashver noch einmal Hand und Armhaltung Gottvaters bei der Erschaffung Adams in Erinnerung ruft (Abb. 97). Die Darstellung mit der Aufrichtung der ehernen Schlange wiederum verweist in der Gruppierung der Gläubigen und Genesenden links und der von der Schlange umschlungenen chaotischen Gruppe rechts auf die gängige Struktur des Jüngsten Gerichts mit den Seligen links und den Verdammten rechts. Der Vorgriff auf den Manierismus in Reinform, wie wir ihn von Giulio Romano her kennen, zeichnet sich bereits hier deutlich ab. Es handelt sich bei den beiden Pendentifszenen wie gesagt um realprophetische Verweise auf das Kreuz und das Jüngste Gerichts  : Verdammnis, Rettung und Erlösung. Der Blick richtet sich in Angst und Erwartung in die Zukunft, vom alttestamentlichen Geschehen aus auf den Erlöser, dessen Opfer aber nicht explizit gezeigt wird, sondern auf den richtenden Christus am Ende der Zeiten. Die zwei anderen Pendentifszenen an der Ostseite der Kapelle sind zwei heroischen Gestalten des Alten Testaments gewidmet  : Davids Enthauptung Goliaths, die auf den Kampf zwischen Christus und Satan anspielt, zugleich aber auch auf die kriegerischen Verwicklungen von Julius II. Bezug nimmt  ; zum anderen Judith und Holofernes, die nach Bischof Antoninus den Sieg Marias über die Sünde verkündet (Abb. 98). Der gewaltige Kopf des Philisters liegt auf einer Schüssel, die von einer Dienerin getragen wird, während Judith im Begriff ist, ihn mit einem Tuch zuzudecken. Wir haben es mit jener Verschmelzung der beiden ikonografischen Typen zu tun, die von Panofsky angesprochen wurde (vgl. Botticellis Judith von 1472  ; Bild/Zeit, II, 2004, S. 225).25 Erst das Motiv der Johannesschüssel gewährleistet die Identifikation der beiden Frauen nach Vollendung der Tat. Die Kopfdrehung der „delphischen Sibylle“ schräg gegenüber mag auf ihre mariologische Weissagung zurückzuführen sein  ; denn auch Judith wurde als ­Tugendfigur quasi dialektisch mit der jungfräulichen Empfängnis Mariens in Verbindung gesetzt und somit von jeglicher Sünde reingewaschen. Wind, Hartt und Wilde haben anhand einiger Entwurfszeichnungen, allen voran jener im British Museum (Frey Nr. 43), den Fortgang der Deckenausschmückung rekonstruiert.26 Die Ausdeutung des Deckenprogramms setzte sich in den folgenden Jahrzehnten fort – so wurden die Einzelheiten der Szenen und Figuren sowie das schmückende Beiwerk mit dem übergreifenden Programm in Verbindung gebracht und durch exegetische Hinweise auf zeitgenössische Quellen untermauert. Insbesondere die in den Festons häufig eingebundenen Eicheln, die mit dem Wappen des Auf-

97 Michelangelo, Die Bestrafung Hamans, ca. 1511. Sixtinische Kapelle, Vatikan.

traggebers, der Eiche Julius della Roveres, konnotiert sind, legen nicht nur ein Zeugnis von der Fruchtbarkeit des Stammes Israel ab, sondern weisen in ihrer von Grün ins Gold changierenden Farbe auch auf das gegenwärtige „Goldene Zeitalter“ des Papsttums hin, das von Egidio da Viterbo in einem Lobgedicht auf Julius II. 1507 wiederholt angesprochen wurde (Abb. 99). Fundamental für die ikonologische Interpretation der Decke bleiben aber die Geschehnisse des Alten Testaments selbst, die von den Theologen unter Berufung auf die Autoritäten in den heilsgeschichtlichen und zeitgenössischen Kontext gestellt wurden. Das Schrifttum ist von Wind und Hartt aktualisiert worden.27 Besonders werden Hrabanus Maurus’ Darlegungen zurGeschichte des hl. Kreuzes und seine Explikationen zum Matthäusevangelium und den Vorfahren Christi herangezogen. Ebenfalls mit der Kreuzessymbolik befassten sich der hl. Bonaventura in seinem Lignum vitae sowie das Messbuch in Bezug auf den Lebensbaum und die Geburt der Gottesmutter. Wesentlichen Aufschluss über die

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Michelangelo

98 Michelangelo, Judith und Holofernes, ca. 1511. Sixtinische Kapelle, Vatikan.

komplexe Korrespondenz der Moses- und Christuszyklen an den Längswänden sowie über die Agenda des Erbauers der Kapelle selbst, Sixtus IV., gibt ferner ein Buch von Filippo Barbieri  ; weitere Bezüge der Fresken zum Pontifikat Julius’ II. wurden von Egidio da Viterbo und dem päpstlichen Zeremonienmeister, Paris de Grassis, angesprochen.28 Wenn man die Decke und die Lünetten der Sixtina als Ganzes ins Auge fasst, besteht kein Zweifel darüber, dass sie allein schon durch den Maßstab der Figuren und die überraschende Farbgebung alles bisher Geschaffene in den Schatten stellten  ; nur in einigen Jochen lassen sich die Figuren an der Klassizität Raffaels messen, verlassen diese aber alsbald, um in manieristischem Überschwang und unter permanenten Normverletzungen in expressive Tiefen vorzustoßen, die für den damaligen Betrachter schwindelerregend gewesen sein müssen. In der Sixtinischen Kapelle, gleichsam im Zentrum der Christenheit, stehen wir vor einer überwältigenden Vergegenwärtigung der Schöpfung, dem Beginn des Menschengeschlechts und, bemerkenswerterweise, der frühen Geschichte des auserwählten Volkes der Juden. Es handelt

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sich nicht um die Historie, die mit der Inkarnation Christi und der Wende zur Geschichte sub gratia aus den umbra des Alten Testaments heraustritt, wie man es noch vor der Restaurierung der Fresken glaubte, sondern um eine Welt, deren Darstellung die darauffolgenden christlich-historischen Epochen, zumindest was die künstlerische Ausführung und Wirkung betrifft, überstrahlt. Je weiter zurück der Blick hier gelangt, desto mehr löst sich das Bewusstsein aus den Niederungen der Geschichte im säkularen Sinn. Während die narrativen Szenen an den Wänden aus der Zeit Sixtus’ IV. durchaus als „Historienbilder“ zu sehen sind, auf die Konkordanz der alt- und neutestamentlichen Geschehnisse ausgerichtet und darüber hinaus immer wieder auf das Wirken der Kirche in der Gegenwart Bezug nehmend, so lösen sich die Deckenszenen, womöglich die der Sintflut ausgenommen, vollends von diesem Schema. Bemerkenswert scheint mir der Umstand, dass der imaginäre Regress bis zum Ursprung der Welt in Raum und Zeit, den wir in den Feldern der mittleren Achse des architektonischen Rahmenwerks verfolgen können, von Sibyllen und Propheten begleitet

Die Decke der Sixtinischen Kapelle

wird, die wiederum jeglichen Maßstab sprengen  ; in ihrer Plastizität erscheinen sie, ebenso wie die imaginären Existenzen der ignudi, dem realen Raum zugehörig und beleben die fiktive Architektur. Die Wucht und Monumentalität dieser überlebensgroßen Sitzfiguren wird überdies durch die ­Farbgebung gesteigert – mehr als doppelt so groß wie die illusionistischen, aber steif und konventionell anmutenden Papstfiguren in ihren Nischen, die noch dem Programm Sixtus’ IV. angehören, lassen sie diese sowie die historischen Szenen darunter eher blass erscheinen. Nur die später (um 1513–1516) hinzugekommene „Tapetenfolge“ Raffaels kann es an Monumentalität und Prachtentfaltung mit Michelangelos Fresken aufnehmen, wiewohl die Tapeten, nicht zuletzt infolge der Beschränkung durch das Medium, stets im Rahmen des Bildhaften verharren und nicht jenes Spiel von unterschiedlichen Realitätsgraden, die wir in den Deckenfresken bewundern, freisetzen können. Auch wenn „das Erhabene“ als ästhetische Kategorie zur Zeit der Entstehung von Michelangelos Deckenfresko noch nicht Eingang in das begriffliche Vokabular der Kunstbetrachtung gefunden hatte, entsprach die Anlage und Wirkung desselben doch ganz dessen Kriterien. So deutlich manche Hinweise auf die Gegenwart und den Glanz der Kurie für den kundigen Betrachter auch gewesen sein mögen, zu dem historischen Kontext, auch dem der drei großen Epochen der Kirchen- und Heilsgeschichte, wird der Betrachter nur mittelbar durch die Propheten und Sibyllen sowie durch die typologischen Hinweise geführt. Der paradigmatische Überbau des Geschehens wird somit durch den Prozess der reflexiven Auslegung der Szenen und Figuren gewährleistet. Aber dieser Zeithorizont der Schöpfungsgeschichte und des späteren, mitgedachten Erlösungswerks läuft Gefahr, hinter der überwältigenden Präsenz der Figuren zu verblassen. Der Betrachter wird auf sich selbst und die Tiefe seines unmittelbaren Erlebens zurückgeworfen – angesichts der Urgewalt der Gebärdefiguren der Schöpfungsgeschichte und ihrer titanischen Begleiter muten theologische Erklärungen und exegetische Konstrukte eher kleinkariert und zeitgebunden an. Dynamische Gestaltung verbindet sich hier mit Zeitlosigkeit, qualitative Dauer trägt die unmittelbare Empfindung. Ungeachtet der inneren und äußeren Erschütterungen, die der Kirche zur Zeit der Ausmalung der Sixtina widerfuhren, verkünden die Fresken, die zeitgleich mit der Ausmalung der ersten Stanza durch Raffael und Bramantes Neubau von St. Peter zur Ausführung gelangten, selbstbewusst die Macht und den Glanz der Kurie unter Julius II. bzw. nach ihm unter Leo X. Die Päpste konnten es sich sogar leisten, dem titanischen Ausbruch eines künstlerischen Genies, das

99 Michelangelo, Ignudo, ca. 1511. Sixtinische Kapelle, Vatikan.

jedwede Rücksichtnahme auf das decorum vermissen ließ, freien Lauf zu lassen. So ist es auch bezeichnend, dass das mariologische Patrozinium der Kapelle später durch die Tilgung der Himmelfahrt Mariens und die Freskierung in den Lünetten und der Decke unkenntlich gemacht wurde. Zunächst blieb im ersten Entwurf des geplanten Freskos mit dem Jüngsten Gericht an der Westwand Peruginos Darstellung der Himmelfahrt Mariens“ neben der Geburt Christi bzw. der Auffindung Moses’ vorerst inkorporiert.Die Inkompatibilität der quattrocentesken Fresken an der Altarwand mit dem neuen Konzept, dem großen Maßstab und der Figurendarstellung Michelangelos führte jedoch bald zu der Einsicht, dass die Tilgung derselben früher oder später unvermeidlich sei.

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2 Das Jüngste Gericht Es ist bezeichnend, dass sowohl Condivi in seiner Vita di Michelangelo Buonarroti von 1553 als auch Vasari in der zweiten Ausgabe seiner Vite von 1568 die größtmögliche künstlerische Entfaltung als Beweggrund von Clemens VII. angeben, als es darum ging, Michelangelo mit der Ausführung des Jüngsten Gerichts zu beauftragen. Allerdings dürften im aktuellen Zeitraum 1530–1534, wie Fillitz bemerkt, im Vorfeld der Entscheidung über Thema und Auftrag vor allem religiöse, strategische Erwägungen ausschlaggebend gewesen sein.29 Jedenfalls stimmte Paul III., sich auf bereits bestehende Entwürfe und einen Karton stützend, 1536 der Ausführung des Plans in seiner vorliegenden Form zu. Einige Änderungen im unteren Bereich des Freskos, das nunmehr die ganze Westwand einnehmen sollte, betrafen die Darstellung der Fähre Charons und des Höllenschlundes. Die Posaune blasenden Engel und diejenigen mit dem Buch des Lebens bzw. des Todes kamen erst im Laufe der Arbeit hinzu, was letztendlich auch die Übermalung von Peruginos Himmelfahrt Mariens zur Folge hatte.30 Formale und inhaltliche Kohärenz dürfte Michelangelo zu diesen Korrekturen bewogen haben und der Papst war offensichtlich bereit, die Assunta als Verbildlichung des Patroziniums der Kapelle zugunsten der allgegenwärtigen Endzeitvision zu opfern (Abb. 100). Die Erweckung der Toten auf der linken Seite und die allmähliche Loslösung der schwebenden Körper von der Erde lassen allerdings die herkömmliche Freude und Erleichterung, die sich sonst in den Gesichtszügen der Seligen abzeichnen, vermissen. Auch jene, die sich bereits über den Wolken befinden, wenden sich furchtsam dem richtenden Christus zu. Die Märtyrer stellen ostentativ und anklagend ihre Folterwerkzeuge zur Schau  ; prominent postiert sind in der Mitte Laurentius mit dem Rost und der geschundene Bartholomäus, auf der Wolkenbank sitzend, deren Festtage mit der Gründung der Kapelle bzw. deren Weihe unter Sixtus IV. zusammenfielen. Die klare Trennung von links und rechts wurde in dieser mittleren Zone aufgegeben. Propheten, Sibyllen, Patriarchen und Selige scharen sich alle um den Weltenrichter, dessen Marterwerkzeuge, das aufgerichtete Kreuz und die Dornenkrone links und die Martersäule rechts, von den frei schwebenden Scharen der himmlischen Wesen in den Lünetten darüber herangetragen werden. So wie die Auferweckten auf der linken Seite emporgezogen werden, so stoßen die rächenden Engel die Verdammten auf der rechten Seite gewaltsam hinunter. Es handelt sich nicht so sehr um einen Kampf, wie von de Vecchi beschrieben,31 sondern vielmehr um das Eingreifen einer himmlischen Macht, das uns etwa in Raffaels Stanza del Eliodoro vor Au-

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gen steht. Unten zerren Dämonen bereits die Verurteilten herab. Von einem Höllenschlund im herkömmlichen Sinne kann nicht die Rede sein  ; vielmehr hat sich der Maler von Dante inspirieren lassen, wie Varchi, Condivi und Vasari bezeugen. Gewaltige Leiber werden aus dem Kahn Charons auf dem kargen Strand im gelben Widerschein des Infernos ausgesetzt. In einer glühenden Höhle in der aufbrechenden Erdkruste inmitten des Vordergrundes sehen wir Minos selbst, einen Dämon sowie eine Rückenfigur, die Arme der entfachten Glut entgegenstreckend. Wiederholt ist angesichts des Jüngsten Gerichts von einer erschreckenden Endzeitvision die Rede gewesen, die wenig Hoffnung auf Zukünftiges verspreche und auch den Erlösten selbst wenig Freude zu bereiten scheine. Im Gegensatz zu früheren Darstellungen des Endgerichts sind nicht die körperlichen Leiden und Martern Gegenstand der Darstellung, sondern die psychischen Zustände der Protagonisten  : Furcht, Erstarrung, Verzweiflung und Ohnmacht, die in Bewegung, Gestik und Physiognomien zum Ausdruck gelangen. In ähnlicher Weise wurden rund hundert Jahre früher die Verurteilten von Rogier van der Weyden im „Beaune­ altar“ als vom inneren Zwang Getriebene geschildert (vgl. Bild/Zeit, II, 2004, S. 180 f.). In Rogiers Gerichtsdarstellung agieren nur einige Figuren stellvertretend für alle Seligen und Verurteilten. Michelangelo entfaltet mit zahllosen Beteiligten ein kollektives Psychodrama.

Endzeit und Zeitgeschichte Mit dem Jüngsten Gericht schließt sich der Zeitbogen in der Sixtina  : Von der Erschaffung der Welt, der Frühzeit des Menschengeschlechts und den Vorfahren Christi über den Moseszyklus (sub lege) und die Taten Christi (sub gratia) kann der Betrachter den Gang der Geschichte und das Erlösungswerk verfolgen. Mit der Schlüsselübergabe (von Perugino) geht die Verantwortung auf die Kirche über. Die Teppichfolge Raffaels mit der Bekehrung der Juden und Heiden durch das Wirken der Apostelfürsten Petrus und Paulus schließt sich im unteren Register der Längswände an. In den fiktiven Nischen oberhalb der historischen Szenen wird die lange Reihe der Nachfolger auf dem Stuhl Petri vorgestellt – sie war bereits Bestandteil des ersten Programms zu Zeiten von Sixtus IV. Die gefestigte Stellung der Kirche, die das Maß in den Wandzyklen vorgab, drohte bereits durch die Ausführung der Fresken an der Decke sowie in den Lünetten und Stichkappen ins Wanken zu geraten. Mit dem Jüngsten Gericht scheint die Heilsgewissheit durch die päpstliche Autorität

Das Jüngste Gericht

100 Michelangelo, Das Jüngste Gericht, 1536–1541. Sixtinische Kapelle, Vatikan (Farbtafel IX).

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101 Michelangelo, Der Weltenrichter und die Gottesmutter (Ausschnitt). Sixtinische Kapelle, Vatikan.

nicht mehr gewährleistet zu sein, zumal das Geschick und das Wirken der Kirche nur in den Gestalten der Heiligen und der Märtyrer anklingen. Der Besucher der Kapelle sieht sich vielmehr auf sich allein gestellt. Ursprünglich gelangte er, als er durch die Schranke hindurchschritt, die unter der Szene mit der Geburt Evas ihren angestammten Platz hatte, in den geschützten, sakralen Bereich der Kapelle. Dort sah er an der Altarwand die Himmelfahrt Mariens und wusste sich in der Ecclesia gut aufgehoben. Nach der Übermalung der Szenen an der Westwand nun vor die gewaltige Vision des Jüngsten Gerichts gestellt, ist die Situation aus der Sicht des Rezipienten eine gänzlich andere. Maria ist zwar immer noch als Assunta in den Himmel aufgenommen (Abb. 101). Sie schmiegt sich als Gottesmutter und Vermittlerin an die Seite des richtenden Christus. Ihre Funktion als Misericordia intercessio wird durch den gebieterischen, verdammenden

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Gestus des Sohnes als Blitzschleuderer, als Sol iustitiae und Sol invictus (ein formaler Topos antiker Provenienz von überzeitlicher Relevanz), eher konterkariert, auch wenn Christus mit seiner Linken im Gegenzug auf seine Seitenwunde und zugleich auf die Mutter verweist. Maria, die zweite Eva und Ecclesia, wird von dem übermächtigen, Furcht einflößenden Richter in die Schranken gewiesen  ; sie verharrt als eine in sich gekehrte Gestalt, die Arme über die Brust gekreuzt, passiv an seiner Seite. Condivi hat sie folgendermaßen beschrieben  : Sie schmiegt sich an ihn, „gleichsam als ob sie erschreckt und vor dem Zorne Gottes und seines Geheimnisses nicht sicher wäre“.32 Wie die vielen Figuren, die sich um den Richter scharen, ihn, wiewohl gerettet, doch angstvoll anblicken, sieht sich auch der Besucher der Kapelle mit diesem entscheidenden Moment konfrontiert  : mit der Entscheidung zwischen Leben und Tod, Freispruch oder Verdammnis. Affekt und ästhetisches Erlebnis sind eins, keine Instanz schiebt sich im Augenblick der Wahrnehmung beruhigend zwischen die Darstellung des Urteilsspruchs und den Betrachter. Wohl nicht zufällig ließ der Maler die Folge der Deckenszenen mit der Scham Noahs beginnen  : mit der Fortsetzung der Erbsünde, die jedes Individuum in den folgenden Zeiten belastet. Unlöslich ist die Erlebniszeit angesichts der Ausmalung der Eckzwickel und des Jüngsten Gerichts vom Bewusstsein der Sünde und Verdammnis, des Todes und der Erlösung durchsetzt und entsprechend ist auch die bildende Kunst in den reformatorischen Ländern Europas von denselben Ängsten und Glaubensnöten geprägt. Hier sei auf die Ausführungen zu Holbeins Die Gesandten, zur Reformation oder auf die niederländische Kunst des 16. Jahrhunderts verwiesen (S. 30, 36 f., 341 und 364). Michelangelo stand in seiner beglaubigten Religiosität und auch in seiner Kunst auch den Reformern innerhalb der Kirche nahe, die sogar eine Aussöhnung mit den Protestanten zu bewirken suchten. Sie sahen im Glauben, im Opfertod Christi und in der Gnade allein die Gewähr für das Seelenheil des Christenmenschen.

Reform der Kirche, Papst und Kaiser Mit dem Sacco di Roma 1527 waren die weltliche Macht und der Glanz nicht nur des Vatikans, sondern auch die der Ewigen Stadt überhaupt zutiefst erschüttert worden. Dass aber Clemens VII. die größte Katastrophe Roms, die er hat erdulden müssen, verewigen wollte, ist nicht glaubhaft. Eine noch größere, andauernde Gefahr drohte der Kirche durch die Zersplitterung in den Glaubensfragen. Clemens VII. war bemüht, eine innere Erneuerung und Reform herbeizufüh-

Das Jüngste Gericht

102 Benvenuto Cellini, Aufrichtung des Kreuzes durch Clemens VII. und Karl V., Avers der Gedenkmünze von 1529. Kunsthistorisches Museum, Münzkabinett, Wien (nach Fillitz).

103 Benvenuto Cellini, Die Apostelfürsten Petrus und Paulus, Revers der Gedenkmünze 1529. Kunsthistorisches Museum, Münzkabinett, Wien (nach Fillitz).

ren. Die Planung des Jüngsten Gerichts dürfte damit einhergegangen sein  ; nach neueren Erkenntnissen hatte sie nicht erst kurz vor dem Tod des Papstes am 25. September 1534, sondern bereits früher an Konkretion gewonnen. Wenn Onorato Agnello in einem Brief vom 2. März 1534 von einer resurrezione spricht, die der Papst angeregt hätte, könnte hiermit nicht nur die Auferstehung Christi, sondern auch die Auferstehung der Toten am Tag des Jüngsten Gerichts gemeint gewesen sein.33 Der Begriff der resurrezione steht im weiteren Sinn auch mit dem Bemühen des Papstes in Einklang, das Kreuz wieder aufzurichten. Dieser Gedanke hat Clemens VII. nachweislich bereits 1529 beschäftigt. In einer denkwürdigen Studie geht Hermann Fillitz auf die Ikonografie der Gedenkmünzen ein, die der Papst 1529 in Auftrag gegeben hatte.34 Auf einer Münze erscheint sein Porträt und auf der Rückseite der „Ecce homo“ mit der Inschrift  : „Für ihn, damit sie mir zugetan sein mögen“ (pro eo ut me diligerent). Die zweite Gedenkmünze stellt Papst und Kaiser dar, die sich bemühen, das Kreuz wieder aufzurichten (die Inschrift lautet  : Ut omnis terra adoret te  ; Abb. 102). Auf der Rückseite sitzen die beiden Apostelfürsten, von der Inschrift beglaubigt  : Unum spiritus et una fides erat in eis (Abb. 103). So wie sie die Heiden und Juden bekehrt hatten, so konnten sie auch als Vorbilder dienen, als es galt, die Einheit des Glaubens wiederherzustellen. Die dritte silberne Münze

mit dem Porträt des Papstes zeigt auf der Rückseite die Errettung Petri aus dem See Genezareth, die Frage Jesu zitierend  : Quare dubitasti  ? Die Sorge des Papstes um die Einheit des Glaubens, sein Ringen um Vertrauen und Befreiung lassen diese Münzen zu einem öffentlichen Bekenntnis werden. Welcher Ort, wenn nicht die Sixtinische Kapelle, wäre besser geeignet, dieses Bekenntnis und die Sorge in monumentaler Form zum Ausdruck zu bringen  ? Bereits in den beiden Pendentifs an den Seiten der Stirnwand steht die Aufrichtung des Kreuzes im Fokus der figuralen Korrespondenz. In den darunter liegenden Lünetten werden Kreuz und Martersäule aus der Schrägperspektive dem Richter zugeführt. Die Bezugnahme auf die zeitgenössische religiöse und politische Lage geht in Michelangelos Fresko aber noch weiter. So hat Fillitz sich nicht gescheut, eine Umdeutung jener zwei dominanten Figuren vorzunehmen, die, einander gegenüberstehend, Christus flankieren. Wie die übrigen Märtyrer hält Petrus ostentativ zwei Schlüssel in den Händen, welche die ihm verliehene Gewalt, „zu lösen und zu binden“, symbolisieren (Mt 16, 19  ; Abb. 104). Der goldene Schlüssel des Himmelreichs ist noch unversehrt, dem silbernen fehlen ein Teil des Schaftes und der Ring..35 Der Schlüssel ist somit unbrauchbar, der Apostelfürst machtlos. Wenn man nun die Physiognomie von Petrus mit den Porträtdarstellungen von Clemens VII. vergleicht, etwa mit jenen auf den Münzen,

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104 Michelangelo, Petrus/Clemens VII. (?), Jüngstes Gericht (Ausschnitt). Sixtinische Kapelle, Vatikan.

105 Michelangelo, Johannes/Karl V. (?) Jüngstes Gericht (Ausschnitt). Sixtinische Kapelle, Vatikan.

kann von einer schlagenden Ähnlichkeit gesprochen werden. Der Zeitensprung in der Angleichung früherer Päpste an die Lebenden war ja nicht neu – hier sei auf die Fresken Fra Angelicos in der Cappella segreta Nikolaus’ V. oder diejenigen von Raffael in den Stanzen verwiesen. Im Fresko schultert Clemens VII. die Rolle des ersten Stellvertreters Christi auf Erden  ; er sieht sich genötigt, am Jüngsten Tag seine Ohnmacht und sein Leid dem Herrn vor Augen zu führen. Die Pendantfigur auf der linken Seite, ebenfalls in mar-

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kantem Profil gezeigt, wurde bislang als Johannes (Condivi bezieht sich dabei auf die spärliche Bekleidung mit dem Fell) oder Adam gesehen. Fillitz hat hingegen eine Identifikation mit Karl V. vorgeschlagen (Abb. 105). Eine Porträtmedaille, 1536 von Leone Leoni angefertigt, weist große Ähnlichkeiten, was Haarwuchs, Bart und Nase betrifft, auf (Abb. 106). Das gemeinsame Bemühen von Papst und Kaiser, das Kreuz als Zeichen des Glaubens wieder aufzurichten, wird von der Inschrift auf der Goldmünze von Benvenuto

Das Jüngste Gericht

Cellini gestützt, die Karl V. und Clemens VII. als die beiden Akteure der resurrezione benennt (vgl. S.  161 und Abb. 102). Sie entspricht somit der Rollenverteilung von Kaiser und Papst in der aktuellen politischen Situation. Ihre zentrale Positionierung im Fresko erscheint somit durchaus glaubhaft. Problematisch bleibt allerdings die Nacktheit der Figuren  : Papst und Kaiser als Repräsentanten kirchlicher und weltlicher Macht entblößt zu zeigen, und das in der päpstlichen Kapelle vor den Augen der ganzen Welt, konnte nur als eine schwere Verletzung des decorum gesehen werden. Durch die neue Interpretation der Figuren gewinnt die Schärfe, mit der man sich in der Folge gegen die nackten Figuren im Jüngsten Gericht wandte, an Plausibilität.

Einkehr und Erlösung Nach Condivi hatte Michelangelo bereits vor dem Tod Clemens’ VII. begonnen, die Stirnwand der Kapelle für das Fresko herzurichten. Zwei Fenster wurden zugemauert und die Wand mit Mörtel überzogen. Mit Ausnahme von Peruginos Assunta (vgl. o. S. 160) dürften die übrigen Szenen bereits übertüncht worden sein. Zwischen dem 25. Oktober 1534 und dem Amtsantritt Pauls. III. im November 1536 kam die Arbeit zunächst zum Stillstand. In einem Motu proprio vom 17. November 1536 wurde der Künstler angehalten, das Fresko nach dem Karton, der bereits Clemens VII. unterbreitet worden war, fortzuführen.36 Den Unwillen des Malers, überhaupt Änderungen am Entwurf zugunsten Pauls III. vorzunehmen, beweist der Umstand, dass er sich weigerte, das Wappen des Papstes in das Fresko einzufügen, weil das Werk unter dem Vorgänger begonnen worden war und auf dessen Konzept gründete. Dies heißt aber nicht, dass nachträgliche Änderungen und Ergänzungen wie die erwähnte Tilgung der Assunta, um für die Szene mit Charon und der Hölle Platz zu schaffen, nicht vorgenommen werden konnten. Dreimal in den entscheidenden Jahren der Ausführung 1536, 1538 und 1541 kam es nach dem Bericht Francisco de Hollandas zu Begegnungen mit der vom Künstler so hochverehrten Vittoria Colonna, die im Collegio di San Silvestro in Capite residierte.37 Sie gehörte bekanntlich zum Kreis jener Reformer, die im Geiste für Kreuz, Blut und Schweiß brennend und nach Prüfung und Läuterung trachtend die innere Erneuerung der Kirche erstrebten. Sie sahen im Glauben, im Opfertod Christi und in der Gnade allein die Gewähr für das Seelenheil. Die geistige Nähe Vittoria Colonnas (und mit ihr auch die Michelangelos) zur Partei der Reformer liegt auf der Hand. Zu ihnen gehörten die

106 Leone Leoni, Karl V., Medaille 1536. Kunsthistorisches Museum, Münzkabinett, Wien (nach Fillitz).

Spirituali unter Leitung des Kardinals Gasparo Contarini, ihm nahestehend Reginaldo Pole, Giovanni Moroni und viele mehr. Die Reformer wurden von Paul III. in den ersten Jahren seines Pontifikats gezielt in das Kardinalskollegium einberufen, um die Erneuerung der Kirche voranzutreiben. Zusammengefasst wurden der Standpunkt und das Anliegen der Spirituali im Trattato utilissimo del beneficio di Giesu Christo. Der bedeutendste Verfechter des spirituellen Lebens und des mystischen, inneren Glaubens zu dieser Zeit war Juan de Valdés, dessen Schriften von den Reformern in Viterbo unter Leitung von Kardinal Reginaldo Pole herausgegeben wurden. Der in den Jahren 1534–1541 in Neapel Tätige vertrat den reformierten Standpunkt (vgl. auch Luther, Erasmus  : S. 31 und 37) von der Errettung der Seele durch den Glauben allein (sola fide). Der Gläubige könne nur auf die Gnade Gottes hoffen  ; die guten Taten seien letztendlich nur dem göttlichen Wirken im Menschen zuzuschreiben.38 Michelangelo hat sich in seinem Spätwerk zunehmend mit diesen Themen – Kreuz, Gnade, Tod und Erlösung – auseinandergesetzt. Auch nach Beendigung der Arbeiten in der Sixtina erhielt er den Kontakt zu Vittoria Colonna bis zu ihrem Tod 1547, der ihn schwer traf, aufrecht. Im Fresko des Jüngsten Gerichts erscheint sie hinter der Figur des Laurentius als eine in Gelb gekleidete Frau. Infolge einer nachträglichen Übermalung des Rosts ist es zu einer unschönen

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der Kirche anspielen  ; der Betrachter wird dadurch verstärkt seiner Eigenverantwortung überlassen  ; noch befindet er sich im raumzeitlichen Kontext der päpstlichen Kapelle, das von den imaginären Gestalten und der Szene des Endgerichts Leben und Sinn erhält – von Figuren umgeben, die einer idealen Sphäre oder der überbordenden Imagination des Künstlers entstammen, gewaltige der Imagination des Künstlers entstammende Gestalten, die das Treiben der Menschen in den historischen Szenen an den Längswänden eher ephemer erscheint lassen. Das ästhetische Erlebnis wird zum Auslöser affektiver Gemütszustände wie Furcht, Ohnmacht und Selbstaufgabe und vermag nur beschränkt die Hoffnung auf Gnade und Erlösung zu wecken. Von Rhetorik oder Narratio hier zu sprechen, kommt einer Verkürzung gleich. Die Wucht der Gestalten und der Konfigurationen, durch welche sie den Betrachter unmittelbar in ihren Bann ziehen, sind auf ihre singuläre Plastizität und Bewegtheit zurückzuführen. Die Ernsthaftigkeit, mit der die vom Tode Erweckten gegen die Erdenschwere ankämpfen, lässt ästhetischen Genuss als eitlen Tand erscheinen. Michelangelo hat selbst in einem Sonett die Verschiebung von der rein formalen Virtuosität in seiner Jugendzeit hin zu einer tiefer gehenden Umsetzung drängender existenzieller Sorgen im späteren Stadium seines Lebens angesprochen  :

107 Michelangelo, Bartholomäus, Jüngstes Gericht (Ausschnitt). Sixtinische Kapelle, Vatikan.

Überschneidung ihres Gesichts gekommen. Ihr gegenübergestellt wurde eine weitere, ebenfalls in Gelb gekleidete Figur hinter Bartholomäus, die als Tommaso Cavalieri identifiziert worden ist  ; für ihn hat Michelangelo bekanntlich zu Beginn der 1530er-Jahre eine Zeichnung mit einer Resurrezione angefertigt.39 Diese Porträts von Personen, die dem Künstler nahestanden, dürften gegen Ende der Ausführung in das Fresko eingefügt worden sein (Abb. 107). Auch das bekannte Selbstporträt Michelangelos, das auf der abgezogenen Haut des Bartholomäus zur Schau gestellt wird, mag aus dieser Zeit stammen. Es entspricht als Äußerung und Selbstdeklaration jenen neuplatonisch geprägten Sonetten des Künstlers, in denen das künstlerische Schaffen als ein Akt der Befreiung der Seele von der irdischen Hülle des Körpers geschildert wird. So allumfassend die Vision des Jüngsten Gerichts auch erscheinen mag, so sind doch eine Reihe von Hinweisen darin enthalten, welche auf die gegenwärtige prekäre Lage

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Die Schönheit kommt mir in den Sinn, die früher in der Seele ich gehegt, das innere Bild wächst unentwegt, das äußere schwindet ohne Wert dahin. Mentre ch’alla beltà, ch’i viddi in prima Apresso l’alma, che per gli occhi vede, L’immagin dentro crescie, e quella cede Quasi vilmente e senza alcuna stima.40

Mit dem Jüngsten Gericht gelangt die Zeit an ihr Ende. In der Tat befindet sich die apokalyptische Vision an der Westwand unterhalb jener Szene, von wo aus die Schöpfung ihren Anfang nimmt  : Die Trennung von Licht und Finsternis oder Die Erschaffung des Lichts. Die in großen Zügen summarisch ausgeführte Halbfigur Gottvaters ist als eine reine Gebärdefigur zu sehen. Ihre Rotation veranschaulicht den Akt der Trennung von Geist und Materie  ; sie schafft Ordnung im Chaos und die zentrifugale Kraft ihrer Bewegung überträgt sich auf die späteren Stadien der Schöpfung. Ebenfalls in einer drastischen Drehbewegung befindet sich der Prophet Jonas darunter, den Körper zurückgeworfen und den Kopf in Ekstase nach oben gewandt. Getroffen

Cappella Medici

wird er vom Licht und von der Hitze des göttlichen Logos  ; auch er ist von dem inneren Feuer des Glaubens erfüllt, auf das die Spirituali wie Vittoria Colonna und Juan de Valdés immer wieder zu sprechen kamen. Jona, dem Wasser zugeordnet und althergebrachte Präfigur Christi, ist mit dem ikonografischen Programm der Stirnwand und der nördlichen Längswand in Beziehung gesetzt worden  : Raffael hat seinen Teppichzyklus mit dem „Fischfang Petri“ beginnen lassen. Michelangelo schuf mit dem ekstatischen „Jona“, welcher der Schöpfung am nächsten steht, eine Verbindung zu der Taufe Christi an der Nordwand. Diese wiederum diente Raffael als Vorgriff auf den darunter angebrachten Teppich mit der Berufung Petri.41 Mit der Freskierung der Westwand schließt sich jener Zeitkreis, der mit der Schöpfungsszene in der Decke in Gang gesetzt wurde. Die Historie und das Erlösungswerk, an den Wänden vergegenwärtigt, sind an ihr Ende gelangt. Mit der schwungvollen Gebärde des Schöpfers setzt die Zeitlichkeit ein, und mit der Geste des Blitze schleudernden Weltenrichters geht sie letztendlich wieder in die Ewigkeit über. In Augustinus Bekenntnissen (Kap. 11) hieß es dementsprechend  : „Ich weiß, dass wenn nichts verginge, es keine vergangene Zeit gäbe, und wenn nichts vorüberginge, es keine zukünftige Zeit gäbe. … Wenn dagegen die Gegenwart immer gewärtig wäre, und nicht in die Vergangenheit überginge, so wäre sie nicht mehr Zeit, sondern Ewigkeit“ (vgl. S. 9).

3 Cappella Medici Das „Symbolische“ in der Architektur der Renaissance entsteht nach Andreas Prater gleichsam sekundär aus ihrer Struktur und dem kompositionellen Aufbau selbst.42 Dies ist zweifellos richtig, wenn es um eine reine Formanalyse geht, wie wir sie etwa von Hubala, Ackerman oder Wittkower her kennen. Anderseits zeigt die Präferenz für das Sphärische bzw. den Kreis und andere geometrische Grundformen wie den Kubus in der Renaissancearchitektur, die den Gedanken des Zentralbaus auch wieder zu Ehren kommen ließ, dass eine durchaus symbolisch begriffene Grundform der sakralen Bauaufgabe vorangestellt werden konnte. Aus ihr wurden freilich andere Formprägungen abgeleitet, deren symbolischer Charakter sich erst aus genauen Analysen ergibt, wie sie etwa von Paul Naredi-Rainer anhand von Zahlen und Proportionen, von Erik Forssman in Bezug auf die Bauten von Palladio und eben von Prater, was die Neue Sakristei anbelangt, vorgenommen wurden.43

Im Falle der Alten und der Neuen Sakristei von San Lorenzo in Florenz haben wir es mit kuppelüberwölbten Zentralbauten zu tun, die (insbesondere was die Alte Sakristei mit ihrer Melonenkuppel von Brunelleschi betrifft) als Anspielung auf die Grabeskirche in Jerusalem zu gelten haben (Abb. 108). Die acht Türen lassen, wenn auch nur optisch, die Achtzahl als Hinweis auf die „Auferstehung“ in Erscheinung treten, da nach chrsitlicher Vorstellung die sieben Tage der Schöpfung um den achten Tag der „neuen Schöpfung“, der mit der Auferstehung des Herrn einsetzte, erweitert wurden. Die irdische Zeit wird somit symbolisch transzendiert und dem Jenseits zugeschlagen. Die Verknüpfung mit der paradigmatischen Grabeskirche wird in der Neuen Sakristei nicht nur aufrechterhalten, sondern bildhaft noch verstärkt, indem die zwölf Stützen auf die zwölf Säulen der Anastasis in Jerusalem Bezug nehmen.44 Der bildhafte Charakter der Neuen Sakristei setzt also bewusst eine frühere Tradition fort, die mit Brunelleschis Alter Sakristei als letzter Ruhestätte der Medici initiiert worden war. „So wird der Beginn der mediceischen Geschichte … aufgerufen, um ihr Ende in der Allegorie zu transzendieren, … in der Allegorie als Vehikel zur Rettung über die Zeitlichkeit“.45 Auf das Heilige Grab anspielend, nimmt die Neue Sakristei in ihrer Bildhaftigkeit die Gestalt eines Memorialbaus an. Die eigentlich selbstbezügliche, flach gehaltene Gliederung der Wand dient in ihrer architektonischen Ausformung den idealen Gestalten der verstorbenen Herzöge bzw. den ihnen zugehörigen allegorischen Figuren als Rahmung. Im Gegensatz zur Alten Sakristei wird die liturgische Funktion des Raums im herkömmlichen Sinn in dem neuen Memorialbau unterschlagen. Man kann auch sagen, dass die Liturgie mit den vorgesehenen Stundengebeten und den vier Seelenmessen sich den spezifischen Gegebenheiten der Gestaltung zu fügen hat. Die Sakristei dient der Apotheose der Medici und bezieht sich als Memorialbau zugleich auf die Endzeit, die Erlösung. Sie war der Resurrezione del Nostro Signore geweiht. Der Raum wird so „zum verräumlichten Rahmen des allegorischen Bildes“.46 Es dürfte hier nicht abwegig sein, auf ein früheres Gesamtkunstwerk zu verweisen, das ebenfalls unter dem Pontifikat Leos X. errichtet wurde, nämlich Raffaels Chigikapelle in Santa Maria del Popolo, und in ihrer Folge auch auf spätere Schöpfungen Berninis in Rom. In Raffaels Grabkapelle lassen sich die pyramidalen Gräber allerdings nicht reibungslos in die dahinter liegende Wandstruktur eingliedern, sondern verursachen unschöne Überschneidungen (dies wird später, etwa in Berninis Raimondikapelle in San Pietro in Montorio, vermieden).47 In der Neuen Sakristei passen sich die architektonischen Gräber mit ihren Segmentgiebeln auch nicht der Tektonik

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der Wandstruktur an, sondern erscheinen als eigenständige Gebilde getrennt davor. Ackerman hat die plastischen Werte dieser selbstgenügsamen architektonischen Formen hervorgehoben und auch Prater spricht in seiner Analyse von einer abstrakten Bildwertigkeit der Wandgliederung, welche die hinzukommenden plastischen Elemente „mit dem Dekorativen bildhaft zusammenschließt“. 48 Lineare Projektion, sprich Flächenhaftigkeit, und Plastizität (rilievo), die sich aus und vor der Wand entwickelt, konstituieren hier die spezifische Bildhaftigkeit des architektonischen Raumes, der letztendlich doch den Primat für sich beansprucht – wir haben es gleichsam mit der Umkehrung der freien Verfügbarkeit architektonischer Formen zu tun, die Michelangelo zehn Jahre früher in der gemalten, fiktiven Deckenarchitektur in der Sixtinischen Kapelle mit ihren lebendig darin und davor agierenden Figuren verwirklicht hatte.

Der hermetische Zentralraum Prater gebührt das bleibende Verdienst, auf den Zeitaspekt der Medicikapelle entschieden hingewiesen zu haben. Auf einige Themen, die von ihm herausgearbeitet wurden und die für diese Untersuchung wesentlich sind, sei im Folgenden eingegangen. Der hermetische Eindruck des Zentralraumes entsteht in der Neuen Sakristei durch die Wandarchitektur. Die Kolossalpilaster, die blinden Tabernakelnischen, von gekoppelten Pilastern und einer kleineren, ornamental geschmückten eigenwilligen Ordnung flankiert, sowie die flachen Lisenen und Blindnischen repräsentieren eine Außenwandarchitektur, die nicht weiterführt, sondern auf den Innenraum, den sie abschließt, bezogen bleibt (Abb. 108).49 Der Raum wird gleichsam von einer architettura tacente beherrscht, die in ihrer autochthonen Erscheinung Rätsel aufgibt und sich Erklärungen entzieht. Die herkömmliche Logik einer den normativen Regeln folgenden Wandgliederung wird immer wieder unterlaufen, wie dies ja auch in dem benachbarten ricetto der Biblioteca Laurenziana der Fall ist. Das Fragmentarische und Zerstückelte weist hier ins Abgründige, schwer Fassbare  : Wirkliche und fiktive Türen, Architekturfragmente, Blindfenster und Nischen führen nirgendwohin, sondern versperren den realen oder geistigen Zugang zu anderen Räumen. Der Betrachter wird auf sich selbst und den Eindruck einer reinen Bildhaftigkeit zurückgeworfen. Seine Erlebniszeit, um diesen Aspekt hervorzuheben, bleibt in einem circulus vitiosus gefangen, sieht sich den Kräften einer Grenzen setzenden, ausschließenden Außenarchitektur ausgesetzt. Das in Stein gebannte Spiel architektonischer Kräfte

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setzt sich bis zum Architrav des oberen Wandabschnitts fort – symmetrisch, rhythmisch horizontal geschlossen, eigentlich statisch-ornamental in seiner Bildhaftigkeit. Im Gegensatz dazu erscheint das von einem Segmentgiebel überwölbte Fenster in der Lünette nach oben trapezförmig verjüngt, sodass der Eindruck des Höhenzugs verstärkt zum Tragen kommt. Infolge der schräg geschnittenen Wandöffnung fällt das Licht diagonal durch die Öffnung in den Raum. Die unteren beiden Geschosse der Schauwände lassen sich in ein Quadrat einschreiben, sodass wir es mit einem in sich ruhenden Zentralraum zu tun haben, der sich im Prinzip auf die stereometrische Form des Kubus des Irdischen bezieht, wie wir sie von den Erläuterungen im Timaios und der Elementen- und Proportionslehre eines Piero della Francesca her kennen (vgl. Bild/Zeit, II, 2004, S. 196 f.). Infolge der blinden Fenster gen Süden und Osten werden die wechselnden Lichtverhältnisse praktisch ausgeschaltet. Prater spricht von einer „statischen Helligkeit“ und „Stillegung“, von einer bewussten Herauslösung aus der natürlichen Ordnung.50 Das Irdische wird somit seiner Lebendigkeit beraubt  : Stille, Schweigen und Lebensferne herrschen in dieser kalten, starren Welt vor, in der die verfließende Zeit zum Stillstand gekommen zu sein scheint.

Die Allegorien der Tageszeiten Die Tageszeiten nehmen die Gestalt von vier allegorischen Figuren an, die schwerfällig auf den abschüssigen Sarkophagdeckeln vor sich hindämmern. Die Notte ist vom Licht abgewandt, das Gesicht des Giorno wird im Kontrast dazu von dem einfallenden Lichtstrahl getroffen. Aurora und Crepusculo werden partiell beleuchtet und übertragen so den Schwebezustand zwischen Tag und Nacht auf die Lage und Befindlichkeit des über sie thronenden Lorenzo, der als saturnische Figur in sich versinkt (vgl. Abb. 111–114). Die wechselhaften Zustände der Natur spiegeln sich in den anthropomorphen Gestalten wider, deren Erdenschwere und komplexe Haltungen zu einer Selbstfesselung und einer gequälten Stilllegung der körperlichen Dynamik führen – weniger dramatisch, als es bei den Sklaven des Juliusgrabes der Fall ist, aber ebenso tragisch führen sie dem Betrachter eindrucksvoll den Prozess des schwindenden Lebens und der Vergänglichkeit vor Augen. Auch andere Aspekte der Temporalität, eigentlich der Entschleunigung, tun sich infolge der Zuordnung der vier allegorischen Tageszeiten zu den Statuen der verstorbenen Herzöge der Medici auf. Über dem Tag und der Nacht

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108 Michelangelo, Neue Sakristei, 1521–1534. San Lorenzo, Florenz.

thront Giuliano de’ Medici als idealisierter Herrscher in antiker Rüstung, in seiner Bewegtheit ein Inbegriff der vita activa und der magnificenzia (Abb. 109). Optisch eingeengt von der flachen Nische ist allerdings auch er in seinem Aktionsradius behindert. Mit gesenktem Kopf in passiver Melencolia-Haltung erscheint als Gegenpart zu ihm der sinnierende Lorenzo. Die Beschattung des Gesichts fordert in verstärktem Maße die projektive Beteiligung des Betrachters ein. Die begleitenden Allegorien der Dämmerung und der erwachenden Aurora verdeutlichen den inneren Schwebezustand des Verstorbenen (Abb. 110). Prater hat eine wesentliche Erweiterung des Zeitaspekts, was die Gräber betrifft, vorgenommen, indem er die allegorischen Figuren der vier Tageszeiten in Analogie mit den vier Lebensaltern setzte. Wenn man das Muster der Aufstellung durchbricht, ergibt sich die Abfolge  : Morgen, Tag, Dämmerung und Nacht. Die beiden aktiven männlichen Protago-

nisten werden von den weiblichen, der Erwachenden und der in todesähnlichen Schlaf versetzten Nacht, verklammert. Die Altersunterschiede scheinen jedoch nicht in allen Figuren so eindeutig zu sein, als dass der Hinweis auf die vier Lebensalter völlig überzeugend wäre. Von größerer Tragweite ist dagegen die Übertragung der Zeitallegorie auf die historische Zeit im Sinne der Herrschaft und der Dynastie der Medici. Mit dem Memorialgedanken verbindet sich implizit auch das Gedenken an das Herrscherhaus, dessen Zenit zur Zeit der Errichtung der Neuen Sakristei nicht nur überschritten, sondern bereits zu einem Ende gelangt war. So zeitlos und idealisiert die Gestalten von Giuliano und Lorenzo auch erscheinen mögen – Michelangelo hat sich ja ausdrücklich gegen die ephemere zeitgebundene Porträtähnlichkeit verwahrt –, so repräsentieren sie in Verbindung mit den von Schlaf und Ohnmacht benommenen allegorischen Figuren doch Herrscher, deren

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109 Michelangelo, Nacht und Tag, Grab des Giuliano de’ Medici. Neue Sakristei, San Lorenzo, Florenz.

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110 Michelangelo, Dämmerung und Morgen, Grab des Lorenzo de’ Medici. Neue Sakristei, San Lorenzo, Florenz.

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111 Michelangelo, Die Nacht. Neue Sakristei, San Lorenzo, Florenz.

Wirken im großen Räderwerk der Geschichte bereits Vergangenheit ist. Der tragische Charakter des Ensembles ist nicht zuletzt darauf zurückzuführen, dass der Tod nicht nur die Herrscher ereilt, sondern dass diese als Akteure auf der historischen Bühne und als Glieder einer dynastischen Kette letztendlich um die Früchte ihrer Taten gebracht werden. Nur in Form der Kunst, mit der wir als Betrachter direkt konfrontiert werden, wird der verhängnisvolle Lauf der Zeit zum Stillstand gebracht. Eine einschlägige Notiz von Michelangelo selbst und Stellungnahmen seiner Zeitgenossen, die von Prater zitiert werden, belegen diesen komplexen Zeitbezug  : „Himmel und Erde – Tag und Nacht sprechen und sagen  : Wir haben mit unserem schnellen Lauf den Herzog Giuliano zum Tode geführt  ; es ist wohl recht, dass er dafür Rache nehme, wie er es tut, und die Rache ist diese  : da wir ihn getötet haben, so hat nun er in seinem Tode uns das Licht genommen und hat mit seinen geschlossenen Augen die unseren verschlossen, so dass sie nicht mehr über der Erde leuchten. Was hätte er also aus uns gemacht, wenn er am Leben geblieben wäre  ?“51

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Von Einem weist darauf hin, dass „Himmel und Erde“ sich hier womöglich auf zwei geplante allegorische Figuren beziehen, die seitlich von Giuliano hätten postiert werden sollen. Zwei Möglichkeiten der Deutung bieten sich hier an  : zum einen „der Fürst als Herr über die Zeit“. Zu dieser rhetorischen Figur gesellt sich im Falle der Medicigräber der Aspekt der Verabschiedung des Geschlechts von der historischen Bühne  : Der Tod seiner Vertreter hat unweigerlich das Ende der historischen Herrschaft nach sich gezogen  ; zum anderen mögen die geplanten Figuren mit der Rolle der Kunst und der Form der Allegorisierung zusammenhängen  : Die Fixierung der Zeit im Bildwerk führt letztlich durch die Immobilität der Allegorien zur Aufhebung ihrer selbst. Gemäß dem selbstbewussten Wahlspruch späterer Künstler, „natura potentior ars“, erweist sich die Kunst als mächtiger als die Natur in ihrer temporalen Gebundenheit. Prater hat es folgendermaßen formuliert  : „Die Voraussetzung dieser Tragik ist in der Reflexion angelegt, welche die Allegorien im Dialog über ihr Schicksal aussprechen. Die Zeit waltet in ihrer eigenen Bildwerdung nicht mehr

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112 Michelangelo, Der Tag. Neue Sakristei, San Lorenzo, Florenz.

als unbewusstes, blindes Fatum der Vergänglichkeit, sondern erfährt ihre verhängnisvolle Funktion an sich selbst in dem Augenblick, wo sie durch Kunst Gestalt gewinnt und leibhaftig wird, in einer Form also, deren ständige Verwandlung im Entstehungsprozess auf absolute Endgültigkeit zielt. In diesem Sinne besitzt das ‚infinito‘ hier ikonologische Bedeutung. Der Bildzustand, in dem die Zeit sich ihrer selbst bewusst wird, bedeutet für ihr Wesen Schlaf und Ohnmacht  ; Bild zu werden, heißt für sie, einen todesähnlichen Zustand annehmen  ; je mehr die Form von Michelangelo aus dem Stein ‚befreit‘ wurde, um so mehr wird das Ruhelose der Zeit, das jedes definitiv Zuständliche immer schon verlassen hat, fixiert und in die Form gebannt. Nur auf das Wesen der Zeit bezogen erklärt sich das Paradoxon, dass es im Bewusstsein ein Verlöschen gibt, in der Reflexion ‚Macht‘ gebrochen wird, und die Bildwerdung Negierung bedeuten kann. Schließlich gibt es auch eine abstrakte Aufhebung der Zeitlichkeit in der Architektur mit ihrer allegorischen Zusammenfügung heterogener Zeit- und Stilelemente.“52

Die Heterogenität der Wandarchitektur, die in sich mehrdeutig ist und allenfalls als Ausgrenzung und Abtrennung

charakterisiert wurde, behält stets ihre Rahmenfunktion, lässt dabei aber immer die Wandgräber isoliert im Raum erscheinen, umgeben von hermetisch geschlossenen, selbstbezüglichen Wandflächen. Ein allegorischer Hinweis auf die alles verzehrende Zeit in der Medicikapelle wurde bereits von Condivi geortet. So habe der Meister „die Zeit, die alles verschlingt“, in den Gestalten von Tag und Nacht zur Anschauung gebracht und überdies vorgehabt, eine Maus darzustellen, „weil dieses kleine Tier unaufhörlich nagt und frisst, nicht anders als die Zeit alles verschlingt“ (Abb. 111, 112).53 Die Verortung des Tieres wird von Condivi nicht präzisiert (er kannte die Kapelle ja auch nur vom Hörensagen) und sein Hinweis hat Panofsky und anderen dementsprechend Kopfzerbrechen bereitet. Prater, der Condivis Auslegung aufgreift, aber sich skeptisch gegenüber der angeblichen Darstellung des Tierchens zeigt, verweist gleichwohl auf die Tierprotome, die auf der Kassette, auf die sich der nachdenkliche Lorenzo mit seinem linken Arm stützt, erscheinen (Abb. 115). 54 Dort ist die Ähnlichkeit eines Kopfes mit großen Ohren mit einer Maus wohl gegeben und auch die Platzierung des Motivs

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113 Michelangelo, Die Dämmerung. Neue Sakristei, San Lorenzo, Florenz.

auf der Schatzkiste, die auf die Tugend der Mäßigung und des Bewahrens des Herzogs Bezug nimmt, ergibt durchaus Sinn, denn gerade die Reichtümer dieser Welt sind der Vergänglichkeit preisgegeben. In dem von Stille, Schweigen und statischem Licht beherrschten Raum sind die vier Allegorien der Zeit die einzigen Komponenten, die, wenn auch schlaftrunken, in der Erdenschwere der muskulösen Körper noch jene sublunare Natur repräsentieren, der unaufhaltsam die Kraft und Wärme des Lebendigen zu entweichen scheint. Von Kälte und Versteinerung umgeben, treiben sie auch selbst diesem Zustand der Petrifizierung entgegen. Noch lehnt der Tag sich auf, hebt Aurora pathetisch ihr Antlitz. Dem Betrachter bleibt es überlassen, die Hilflosigkeit und Tragik dieser Gestalten im Bewusstsein nachzuvollziehen. Verstärkt wird der Eindruck der Rätselhaftigkeit und Lebensferne durch die Ornamentik, die in Form von Relikten, Versteinerungen

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und Fragmenten der vitalen Natur noch stärker die Erstarrung hervorkehrt. Hinter den Masken herrscht Leere, so wie hinter den Wänden sich nur das Ausgegrenzte, Unbenennbare verbirgt.55 Die Zeitlichkeit in der Natur bekundet sich im Organischen und in der Bewegung. Gerade die Positionierung der vier allegorischen Figuren auf den abschüssigen, gesprengten Giebeldeckeln der Sarkophage verdeutlicht die Labilität und Unwägbarkeit des irdischen Daseins, das mit dem schwindenden Leben zu Ende geht, und mit ihm die Zeit, die dem Individuum zur Verfügung steht (vgl. Gadamer, S. 9). Es kann wohl sein, dass die schweren liegenden Figuren, die als Typus auf antike Flussgötter zurückgehen, ursprünglich für andere Liegestätten vorgesehen waren. Aber gerade das Disparate in ihrer Position, die Labilität ihrer Lage, der sie sich nicht zu erwehren scheinen, legt von ihrer Machtlosigkeit und dem unentrinnbaren Schicksal ein beredtes Zeug-

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114 Michelangelo,  : Der Morgen. Neue Sakristei, San Lorenzo, Florenz.

nis ab. Noch finden sie Halt, aber vor dem inneren Auge des Betrachters sind sie dabei, in eine andere Existenz abzugleiten, die nicht mehr den Gesetzen des Lebens und der Natur gehorcht.56 Wohl zu Recht hat Prater in der Medicikapelle sowie im Jüngsten Gericht einen „Zukunftspessimismus“ geortet – ein eschatologisches Ziel jenseits aller Geschichte und Zeitlichkeit, dessen Ausgang für den Menschen mehr als fraglich und wenig verheißungsvoll erscheine. Auch wenn Vasari in seiner Vita Michelangelos 1550 davon spricht, dass der Künstler in der Neuen Sakristei alle Fesseln und Ketten gesprengt habe, so trifft diese Charakteristik nur für jene Kunstformen dort zu, welche die Tradition verneinen und das Zeitliche übersteigen.57 Das Einzelschicksal des Menschen, auch das eines ruhmreichen Herrschergeschlechts, fällt der Vernichtung, dem Tod außerhalb von Zeit und Raum anheim. Die angeordneten fortwährenden Stundengebete und Seelenmessen in der Grabkapelle kön-

115 Tierproton auf der Kassette von Lorenzo de’ Medici (nach Prater). Neue Sakristei, San Lorenzo, Florenz.

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nen nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Unwägbarkeit des Seelenheils und die Ungewissheit eines ewigen Lebens von einem Künstler zum Ausdruck gebracht wurden, der selbst von der existenziellen Krise und der Reformbedürftigkeit der Kirche überzeugt, ja zutiefst betroffen war.

Zeitlichkeit und Erlösung Einige Punkte sollen hier noch angesprochen werden, die den christlichen Charakter der Kapelle stärker herausstreichen und den Aspekt der Zeitlichkeit zugleich in das Erlösungswerk einbinden. Zum einen steht die Kapelle uns nur als unvollendete vor Augen – geplant waren ja weitere allegorische Figuren, welche die Herzöge flankieren sollten. Vor den Wandgräbern sollten Flussgötter nach antikem Vorbild, deren kleine bozzetti in der Casa Buonarroti auf uns gekommen sind, auf dem Boden ruhen. Weitere Figuren waren für die Attikazone vorgesehen, darüber hinaus eine Ausmalung der Lünetten mit der Aufrichtung der ehernen Schlange als Präfigur der Passion Christi und Judith und Holofernes als realprophetischer Verweis auf den Sieg Mariens über den Teufel.58 Über die autonome Bildhaftigkeit der Wandgräber mit ihren plastischen Figuren und die strenge formale Gliederung der Wände hinaus ist diesen fehlenden Elementen in der Kapelle Rechnung zu tragen  : der Bestückung der Wände und der Attikazone mit Figuren sowie der angesprochenen Ausmalung der Lünetten. Die Trennung von Plastik und reiner Architektur, wie sie uns heute vor Augen steht, entspricht demnach nicht dem ursprünglichen Plan. Von Einem hat das Augenmerk verstärkt auf die untere Zone der Kapelle gerichtet, auf die große Plastik Madonna mit Kind an der Eingangswand über den Gräbern der Magnifici (Abb. 116). Sie wurde bereits 1521 als erstes Werk ausgeführt  ; später kamen die flankierenden, von Raffaello Montelupo und Montorsoli nach bozzetti Michelangelos ausgeführten Figuren von Cosmas und Damian, den Schutzheiligen der Medici, hinzu. Von Einem ist der Meinung, die Herzöge seien in ihren Blicken und Stellungen auf die Madonna bezogen.59 Über der Medicimadonna war auch ein Fresko mit der Auferstehung Christi geplant.60 Es ist keine Frage, dass Auferstehung und Erlösung, der Widmung der Kapelle entsprechend, von Beginn an das ikonografische Programm mit geprägt haben. Nach Abbruch der Arbeiten 1534 und der endgültigen Übersiedlung Michelangelos nach Rom sind diese überhaupt zum beherrschenden Thema für ihn geworden, das im Jüngsten Gericht einen unmittelbaren Niederschlag fand. Nicht zufällig hat Clemens

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VII., der als Kardinal ja maßgeblich am Projekt der Neuen Sakristei beteiligt gewesen war, bereits um 1530 seine Vorstellungen in diese Richtung entwickelt, auch was die Sixtinische Kapelle betraf (vgl. S. 160 f.). Für Herbert von Einem erschien der Neuplatonismus weder für das Programm in der Neuen Sakristei noch für das Künstlerische im formalen Aufbau entscheidend. Dementsprechend scharf wies er die Interpretationen von Tolnay, Panofsky und Hartt zurück.61 Aber kategorisch von einer Unvereinbarkeit der christlichen Tradition mit platonischem Gedankengut kann man aus der heutigen Sicht der Renaissance nicht mehr sprechen. Den mittelalterlichen Theologen war das neuplatonische Weltbild schon seit Johannes Scotus durchaus vertraut. So sehen wir etwa in einer Miniatur der Clavis phyicae des Honorius von Autun (um 1154  ; Ms. lat. 6734, Bibl. Nat., Paris) den hierarchischen Aufbau der Welt so, wie er von Johannes Scotus in seiner De divisione naturae erläutert worden war.62 Inmitten der Schöpfung erscheint die unförmige Materie, von Zeit und Ort umrahmt. Auch wenn Tolnay vielleicht zu einseitig in der Neuen Sakristei eine Umsetzung des neuplatonischen Weltgebäudes erkennen will63, kann man immer noch an Parallelen festhalten, die im Zeitalter der Renaissance mit ihrer synkretistischen Auslegung der antiken Philosophie nicht ungewöhnlich und vor allem zum Teil mit der christlichen Erlösungslehre kompatibel waren. Dies gilt vor allem für den Gegensatz von Geist und Materie und den Gedanken, dass sich der Mensch aus der Verstrickung der Sünde und der Fleischlichkeit zu befreien habe – Gedanken, die Michelangelo bereits bei der Arbeit am Grabmal Julius’ II. beschäftigten und die er ­verstärkt später, nicht zuletzt in seiner Dichtung, angesprochen hat  ; Vorstellungen, die auch von den Reformatoren inner- und außerhalb der katholischen Kirche immer stärker vorgebracht wurden (hier sei nur als Beispiel auf Erasmus’ Enchiridion – Handbüchlein eines christlichen Streiters von 1501 – vgl. S. 341 – verwiesen). Die untere Zone in der Kapelle steht nicht für das unförmige Chaos neuplatonischer Prägung – allenfalls könnten die nie zur Ausführung gelangten Flussgötter als repräsentative Figuren des Elementaren oder gar Chtonischen gelten –, aber zweifelsohne befindet sich der Besucher hier im terrestrischen Bereich. Das Organische bekundet sich in den allegorischen Gestalten, in denen der Kreislauf der Natur, Tag und Nacht, die Monats- und Jahreszyklen sinnfällig werden. Das Leben des Menschen ist wie alles Leben auf Erden der Endlichkeit preisgegeben und so verlieren Zeit und Raum als Kategorien der irdischen Existenz nach dem Tod ihre Gültigkeit. Die Kapelle war aber der „Auferstehung des

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116 Michelangelo, Die Medici-Madonna, ca. 1524–1530. Neue Sakristei, San Lorenzo, Florenz.

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Herrn“ geweiht und dementsprechend wurde den Seelen der verstorbenen Magnifici und Herzöge, die im Memorialbau zur Ruhe gebettet waren, die Erlösung in Aussicht gestellt. Dies geschah vorerst in Gestalt der Madonna lactans mit dem Kind, denn dieser Typus beglaubigte die entscheidende Hinwendung Gottes zum Menschen und dem Irdischen durch die Inkarnation (Abb. 116). Die Tatsache, dass auf Geheiß von Clemens VII. täglich vier Seelenmessen in der Sakristei abzuhalten waren und demzufolge auch die eucharistische Feier, lässt diese Funktion auch für das Bildprogramm als richtungweisend erscheinen. Die Zeitlichkeit als kategoriale Form irdischer Existenz verliert für die Verstorbenen ihre Bedeutung und dementsprechend weicht das Leben auch allmählich aus den allegorischen Figuren der Tageszeiten. Die liturgische Feier und das Wunder der Wandlung setzen die Gesetze der Natur außer Kraft und transzendieren den Augenblick. Die Statuen der verstorbenen Herzöge befinden sich auf einer höheren Stufe der Wandordnung. Formal und auch inhaltlich stehen sie als ideale Gestalten dem Betrachter vor Augen  ; sie verkörpern eine Form des spirituellen Nachlebens. In einem Gedicht anlässlich des Todes seines Vaters 1531, also gerade während der Arbeit an dem „zweiten Herzog“ (vermutlich Giuliano), heißt es in einem Gedicht von Michelangelo, auf das von Einem aufmerksam macht  : Zeit und Schicksal wagen die himmlischen Türen Nicht zu betreten … Keine Gewölke, die euch das Licht verdrängen, Keine Stunden, die euch den Tag zerreißen, Keine Gewalt, kein Zufall, die euch beengen, Ewiger Glanz, den weder die Nacht je dämpfte, Noch des lichtesten Tages Licht erhöhte, Und wenn noch so leuchtend die Sonne kämpfte.64

Für von Einem liegt im Gedicht, wiewohl nicht direkt auf christliche Erlösung ausgerichtet, doch ein Schlüssel zum Verständnis der Kapelle  : „Auf den Sarkophagdeckeln die Symbole der Vergänglichkeit der Zeit, Tag und Nacht, und als Gegenstücke Morgen und Abend (schon in Vasaris erster Auflage so genannt). Sie klagen über ihren schnellen Lauf, der zum Tode führt. Sie können die himmlischen Türen nicht betreten. Sie sind gebunden an die Sarkophage, d. h. an die Zone des Todes. Sie leiden an dieser Gebundenheit. Sie sind unfrei. Darüber, dem Kreislauf der Zeit entzogen, sind die verklärten Toten der Madonna und Christus zugewandt, von denen das Heil und die Gewissheit der Auferstehung und Unvergänglichkeit kommen. Über den Verklärten

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leiten die leeren Throne – uralte Symbole für die Gegenwärtigkeit Gottes  – zu den Lünetten mit den Heilsdarstellungen über.“65

Die Verschmelzung von christologischen und neuplatonischen Vorstellungen ist wohl nicht von der Hand zu weisen  ; das Thema der Erlösungwar, aber vordringlicher. Mit ihm verbindet sich die Kardinalfrage nach dem Verhältnis von Glaube und Gnade (vgl. S. 30 f.). Diese Verschiebung in Zeiten der innerkirchlichen Reform während der langen Entstehungsgeschichte der Kapelle mag auch mit ein Grund für die fortlaufenden Planänderungen gewesen sein. Für das Problem der Zeitlichkeit ist dies jedoch weniger relevant. Im Gegensatz zur antiken Naturphilosophie kamen nach biblisch-christlicher Vorstellung Zeit und Raum erst bei der Schöpfung Gottes in die Welt, wie es Michelangelo auch in der Decke der Sixtina zur Anschauung gebracht hat.66 Mit dem Ende der Welt und des Daseins gelangt auch der Lauf der irdischen Zeit, wie Michelangelo im Jüngsten Gericht zum Ausdruck bringen sollte, an sein Ende  : Die Zeit geht in Ewigkeit über. Eine Ahnung davon wurde auch den Besuchern der Neuen Sakristei durch ihre architektonische und plastische Gestaltung vermittelt.

Farbtafeln

Tafel I Hans Holbein d. J., Doppelbildnis von Jean de Dinteville und Georges de Selve  : Die Gesandten, 1533. National Gallery, London.

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Farbtafeln

Tafel II Giorgione, La Tempesta, ca. 1506. Accademia, Venedig.

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Farbtafeln

Tafel III Giorgione, Die drei Philosophen, ca. 1508. Kunsthistorisches Museum, Wien.

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Farbtafeln

Tafel IV Giorgione, Concert champêtre, ca. 1508/09. Louvre, Paris.

Tafel V Lorenzo Lotto, Laura (Traum eines Mädchens), 1505. Kress Collection, National Gallery, Washington.

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Farbtafeln

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Farbtafeln

Tafel VI Angelo Bronzino, Allegorie, ca.1538. National Gallery, London

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Farbtafeln Tafel VII Albrecht Altdorfer, Die Auferstehung Christi, Sebastianaltar, 1518. Kunsthistorisches Museum,Wien.

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Farbtafeln

Tafel VIII Albrecht Altdorfer, Die Alexanderschlacht, 1529. Alte Pinakothek, München.

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Farbtafeln

Tafel IX Michelangelo, Das Jüngste Gericht, 1536–1541. Sixtinische Kapelle, Vatikan.

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Farbtafeln

Tafel X

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Michelangelo, Trennung von Licht und Finsternis, ca. 1512. Sixtinische Kapelle, Vatikan.

Farbtafeln

Tafel XI Michelangelo, Der Prophet Jona, ca. 1512. Sixtinische Kapelle, Vatikan.

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Farbtafeln

Tafel XII Tizian, Bacchus und Ariadne, 1523. National Gallery, London.

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Farbtafeln

Tafel XIII Tizian, Venus mit Cupido, 1548. Uffizien, Florenz.

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Farbtafeln

Tafel XIV Tizian, Karl V. bei der Schlacht von Mühlberg, 1548. Prado, Madrid.

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Farbtafeln

Tafel XV Tizian, Der Tod des Aktäon, 1559. National Gallery, London.

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Farbtafeln

Tafel XVI Tizian, Tarquinius und Lucretia, ca. 1575. Akademie der bildenden Künste, Wien.

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Farbtafeln

Tafel XVII Tizian, Nymphe und Schäfer, ca. 1575. Kunsthistorisches Museum, Wien.

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Farbtafeln

Tafel XVIII Tintoretto, Der hl. Markus befreit einen Sklaven, 1547. Accademia, Venedig.

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Farbtafeln

Tafel XIX Pieter Bruegel d. Ä., Der Sturz des Ikarus, 1554/55. Musées Royaux des Beaux-Arts, Brüssel.

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Farbtafeln

Tafel XX Pieter Bruegel d. Ä., Triumph des Todes, 1562. Prado, Madrid.

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Farbtafeln

Tafel XXI Pieter Bruegel d. Ä., Die Kreuztragung, 1564. Kunsthistorisches Museum, Wien.

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Farbtafeln

Tafel XXII Pieter Bruegel d. Ä., Heimkehr der Jäger, 1565. Kunsthistorisches Museum, Wien.

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Farbtafeln

Tafel XXIII Pieter Bruegel d. Ä., Bauernhochzeit, 1568. Kunsthistorisches Museum, Wien.

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IV Historia Historienmalerei im Quattrocento Mit der Konstituierung der wissenschaftlichen Disziplin der „Geschichte“ im Rahmen des humanistischen Bildungskanons und der theoretischen Erörterung derselben öffnete sich ein weites Feld künstlerischer Betätigung.1 Die mimetisch ausgerichteten Gestaltungsprinzipien in der frühen Neuzeit hielten die Künstler an, ein möglichst hohes Maß an Glaubwürdigkeit und Vergegenwärtigung vergangener Ereignisse anzustreben. Von einer strengen Scheidung zwischen christlichen und profanen Inhalten kann nicht die Rede sein – in beiden Fällen ging es um die Legitimation der Gegenwart durch die Vergangenheit. Während des 15. Jahrhunderts behielten die biblischen Stoffe und die Legenden die Überhand, wiewohl zuweilen auch profane Themen oder solche mythologischen Inhalts, oft christlich verbrämt, zur Ausführung gelangten. Als einschlägiges Beispiel sei hier auf die Konstantinschlacht von Piero della Francesca im Zyklus der Kreuzeslegende in San Francesco in Arezzo hingewiesen (Abb. 117). Die Lesart der Szene ist eine doppelte  : Zum einen fügt sie sich als ein Schlüsselmoment in den Ablauf der Kreuzeslegende ein, die mit dem Tod Adams anhebt und mit der Rückführung des Kreuzes nach Jerusalem durch Heraclius endet  ; zum anderen bezieht sie sich auf die Kreuzzugsidee zur Zeit der Entstehung des Freskos. Die Kreuzeslegende war hinlänglich bekannt –zum einen durch die Beschreibungen in der Legenda aurea oder der Historia scholastica, zum anderen durch einschlägige Darstellungen wie die von Agnolo Gaddi in der Hauptchorkapelle von Santa Croce aus den Jahren 1388–1393, in der der kontinuierliche Ablauf der Geschichte in Einzelszenen dem Betrachter vor Augen geführt wird. Im großen Ganzen handelt es sich dabei um eine fortlaufende Illustration des Geschehens, in der auch das Bemühen sichtbar wird, dem historischen Kostüm Rechnung zu tragen (im zweiten Band von Bild/Zeit habe ich auf den Umstand hingewiesen, dass Agnolo Gaddi auf die dramatische Szene der Konstantinschlacht an der Milvischen Brücke oder gegen die Barbaren an der Donau verzichtet hat, die in Pieros Zyklus einen so prominenten Platz einnehmen sollte  ; vgl. Bild/Zeit, II, 2004, S. 30). Die Anordnung der Einzelszenen in Arezzo folgt, wie Marilyn Aronberg-Lavin dargelegt hat, aber einem komplexeren Schema, das dem Gründungsmythos des Bundes zwischen Gott und den Menschen und der späteren Epoche sub gratia zugrunde liegt und darüber hinaus die

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Brücke zur Gegenwart durch die Darstellung von Mitgliedern der Stifterfamilie (der Bacci) in der Chosroe-Szene schlägt.2 Was nun die Konstantinschlacht Piero della Francescas betrifft, wird der Gegenwartsbezug deutlich durch die Fahnen herausgestellt, die auf bekannte Familien in Arezzo anspielen, die sich an dem geplanten Kreuzzug gegen die Türken beteiligten. Nach dem Fall Konstantinopels 1453 nahm die Kreuzzugsidee unter Pius II. konkrete Formen an und gerade in diesem Zeitraum erging der Auftrag an Piero, den Zyklus der Legende auszuführen. Auf die Konzeption der Szene mit der Konstantinschlacht haben die zeithistorischen Ereignisse entscheidenden Einfluss genommen. Frank Büttner hat in einem Aufsatz von 1992 feststellen können, dass es sich bei dieser Darstellung wahrscheinlich nicht um die Schlacht an der Ponte Milvio handelt, sondern um ein anderes Ereignis, das in der Legenda aurea angesprochen wird  : nämlich die „Vertreibung der Heiden über die Donau“. Auch zu dieser Gelegenheit erschienen dem Kaiser Konstantin des Nachts ein Engel und ein lichtes Kreuz am Himmel mit dem besagten Spruch  : In hoc signo vinces. Er ließ ein Kreuz anfertigen und vor seinem Heer herführen, das die Heiden über den Fluss zurückwarf. Dementsprechend wird das Kreuz in der Darstellung dem Kaiser vorangetragen, während die fliehenden feindlichen Reiter versuchen, sich aus den Fluten zu retten. Die historische Szene zielt zugleich auf die politische Situation zur Zeit der Entstehung des Freskos ab – ja, man könnte sagen, dass dem Betrachter hier ein exemplum für die zeitgenössische kriegerische Auseinandersetzung mit den Türken vor Augen gehalten wird. Das Geschehen erhält zudem eine höhere Dignität, indem antike Schlachtensarkophage als formale Vorlagen herangezogen wurden, um das exemplum virtutis römischer Prägung dem kundigen Betrachter verstärkt ins Bewusstsein zu rufen.3 Des Weiteren ist auf ein anderes prominentes Beispiel für die Verschränkung historischer Zeiten, das für die weitere Entwicklung der Historienmalerei überhaupt kaum überschätzt werden kann, zu verweisen, nämlich auf den von Sixtus IV. beauftragten Freskenzyklus in der Sixtina aus den Jahren 1481–1482, der im zweiten Band von Bild/Zeit (2004) besprochen wurde.4 Als Leitgedanken dienten dort der Primat und die Macht des Papstes sowie die Rolle des Priestertums in den Zeiten des Alten und des Neuen Bundes. Nicht nur die Gegenüberstellung der alttestamentlichen Szenen mit Moses und dem Exodus an der Südwand mit je-

Historia

117 Piero della Francesca, Vertreibung der Heiden über die Donau, 1454–1459. San Francesco, Arezzo.

nen christologischen an der Nordwand ließ die Korrespondenz der historischen Epochen aufscheinen. Auch das Fortleben der Kirche, die Verbreitung des Glaubens unter gentes und gentiles, wird darin angesprochen. Dieser Aspekt wurde später in der Teppichserie Raffaels, die er im Auftrag Leos X. im Zeitraum 1515–1520 entwarf, noch einmal in den Fokus gerückt (vgl. Bild/Zeit, II, 2004, S. 207 f. und 212 f. sowie o. S. 141 f.). Eindrucksvoll wird die Erfüllung des Heilsplans durch die Ecclesia dem Besucher der Kapelle vor Augen geführt. Die Komplexität der zeitlichen Verschränkung der Szenen mit dem Leben und Wirken der Apostelfürsten Petrus und Paulus, die jeweils auf die darüber liegenden Szenen des Alten bzw. Neuen Testaments bezogen sind und dementsprechend das typologische Schema in einem dritten Schritt auf das Wirken der Apostel (und implizit auch der Kirche) in der Zeit nach Christus erweitern, ist von Shearman glänzend dargelegt worden.5 Nicht zufällig diente die Gattung der Tapisserie der Zurschaustellung der Historie und der propagandistischen Machtentfaltung des Papstes. Den Kern der formalen und inhaltlichen Gestaltung stellt die Rhetorik, die seit Anbeginn auch in den Dienst der Verkündigung der christlichen Botschaftgenommen wurde und später der Legitimation der geistlichen und weltlichen Macht des Papstes diente. Eng mit der neuen, von den Humanisten besonders gepflegten Disziplin der Geschichtswissenschaft verbunden war die rhetorische Vermittlung moralischer Inhalte. Zum einen ging es um die Person und Fähigkeit des Sprechers (im übertragenen Sinn  : des Malers), den Zuhörer oder Betrachter zu

erregen und zu überzeugen. Sowohl Cicero (De inventione, De oratore, Orator) als auch Quintilian (Institutio oratoria) verweisen auf die Selbst- bzw. Fremderregung, die durch die Rede und die Imagination in Gang gesetzt werden (vis eloquentiae – vgl. auch S. 187). Anhand ausgesuchter exempla, die infolge des Einbildungsvermögens Gestalt annehmen, trete Dynamik (ènérgeia), die dem Bild und dem Wort innewohne, in Kraft  ; jene ist vom Rezipienten unmittelbar erfahrbar.6 Die wachsende Bedeutung der Rhetorik im Zeitalter der Renaissance ist in den letzten Jahrzehnten verstärkt in den Blick der Forschung gelangt – handelt es sich doch um ein Phänomen, das sich in allen Sparten der Literatur, der bildenden Künste, der Architektur, des Theaters und der Musik über die gattungsspezifischen Grenzen hinweg entfaltet hat.7 In Bezug auf den Zeitaspekt in der bildenden Kunst dient die Rhetorik wie kaum ein anderes Mittel der Gestaltung zur Vergegenwärtigung und Verlebendigung jener historischen exempla, die im Akt des Schauens und der damit verbundenen Reflexion das affektive Moment in der Erlebniszeit des Betrachters auszulösen vermögen. Wie vormals bei der spezifischen Form des Andachtsbildes ging es auch bei den appellativ angelegten Szenen der Historienbilder um Affektion im weitesten Sinne, um die Umsetzung einer Wirkungsästhetik, die in der Dramentheorie ihre Wurzeln hat.8 In engem Zusammenhang mit der kommunikativen Situation, die in der Rhetorik analysiert und von ihr selbst mitgestaltet wird, stehen Begriffe wie Stil und Tonart (decorum, modus), welche die angemessene Ausdrucksform des jeweiligen Themas dem Pu-

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blikum eindrücklich vor Augen zu führen vermochten.8 Die Naturnachahmung und die mit ihr einhergehende Wirkungsästhetik wurden im 16. Jahrhundert zunehmend von einem Regelkodex begleitet  : „Nahezu alle Theoretiker sehen die Lösung des Problems in einer Verbindung der Forderung nach Imitatio mit einem ständig weiter differenzierten Regelkodex  ; ein Kompromiss, der durch die Überzeugung gerechtfertigt erschien, dass die kanonisierten Autoren der Antike den für alle Zeiten gültigen, im Wesen der Dichtung begründeten Regeln gefolgt sind.“9 Gleiches gilt für bildende Kunst und Architektur, wiewohl im ersteren Falle eine Vorstellung von der antiken Malerei nur aus der Lektüre einschlägiger Bildbeschreibungen (die als ekphrasis eher als literarische Fingerübungen zu verstehen sind) und aus gelegentlichen Äußerungen ästhetischer Natur gewonnen wurde. Die Wirkungsästhetik wurde im 16. Jahrhundert zunehmend von der Rhetorik und ihrer Begrifflichkeit her bestimmt  ; sie hat maßgeblichen Einfluss auch auf die „Erleb­ nis­zeit“ des Betrachters genommen, indem man in der geistigen Repräsentation des Wahrgenommenen intuitiv die Übertragung der Imagination als Ausdruck des Urhebers erkannte  ; dies trug letztlich zu einer verstärkten Aktivierung des eigenen Gedächtnisses bei. Die Förderung dieser Gedächtnisleistung (memoria) nimmt in der Rhetorik einen breiten Raum ein, nicht zuletzt, wenn es um den Gebrauch der Metapher geht. Was die Bildwahrnehmung betrifft, schließt die memoria in noch höherem Grad die imaginative und projektive Fähigkeit des Betrachters mit ein, zumal die eingangs angesprochenen „natürlichen Zeichen“ im verstärkten Maße eine emotionale Komponente in die Bewusstseinsbildung mit einbringen (vgl. S. 94). Ausdrücklich ist bei Giambattista della Porta in seiner L’Arte del ricordare 1566 von Bildern der Malerei (imagines agentes) die Rede, welche die imaginatio des Betrachters direkt berühren und später mittels der memoria wieder aktualisiert werden können. Die Historienmalerei, wie wir sie von den Quattrocentofresken in der Sixtina oder von den venezianischen Gemälden eines Gentile Bellini oder später eines Vittore Carpaccio her kennen, zeichnet sich durch Massenszenen aus. Im ersteren Fall wird der Gang der Ereignisse durch die Verteilung einzelner Gruppen in der Landschaft veranschaulicht. Wenn auch „simultan“zu sehen, sind sie gewiss nicht als „gleichzeitig“ zu lesen. Erst durch das Vorverständnis des Betrachters erschließen sich die einzelnen Etappen der istoria und mit ihnen, durch ihre räumliche Verortung, die formale Struktur des Ganzen  ; Letzteres erscheint zwar als Einheit, entfaltet sich aber zeitlich und räumlich erst aus der Folge der Einzelszenen.10 Was die venezianische Ausprägung des Historienbildes betrifft, die in den 1480er- und 1490er-Jahren er-

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folgte, kann von einem Bestreben, die Einheit des Ortes und der Handlung zu gewährleisten, gesprochen werden. Diese trägt zur Wiedergabe der tatsächlichen Topografie bei, die wiederum die Vergegenwärtigung des Geschehens fördert  ; dies führt manchmal sogar zur Verunklärung des eigentlichen, weit zurückliegenden Bildinhalts. So wurde die eigentliche historische Begebenheit etwa in Gentile Bellinis bekanntem Historienbild Prozession auf dem Markusplatz von 1492, die sich auf ein Kreuzwunder von 1443 bezieht, erst in jüngster Zeit von der Kunstgeschichte wahrgenommen. „Dessen Aktualisierung trägt zu einer Erzählung bei, die ihre Wurzeln in der Tradition und dem Gemeinwesen der Stadt hat. Die Macht der Geschichte und die Heredität erweisen sich als stärker und wichtiger denn die Betonung des Einmaligen, des Subjekts oder seiner Befindlichkeit.“ (Bild/Zeit, II, 2004, S. 217 und Abb. 128.) Von einer effektvollen Inszenierung und einer Affektion des Betrachters im Geiste der Rhetorik kann hier also noch nicht die Rede sein.

Leonardo Die Anghiarischlacht Die entscheidende Wahl und eindrucksvolle Darstellung eines historischen Moments im Kontext einer beglaubigten Begebenheit erfolgten durch Leonardo (Abb. 118). Der schicksalhafte Augenblick im „Kampf um die Fahne“ in der sog. Anghiarischlacht, einem entscheidenden Sieg der Florentiner über die Mailänder im Jahr 1440 bei Anghiari, wurde um 1503/04 im Großen Ratssaal des Palazzo Vecchio in Florenz ausgeführt – womöglich handelt es sich bei den Kopien, die auf uns gekommen sind, jedoch nur um den Ausschnitt einer größeren Schlachtenszene. Vorgestellt wird der spannungsgeladene Höhepunkt der andauernden battaglia – sie entspricht der von der Poetik eingeforderte Peripetie einer Handlung  : jener Moment eines Geschehens, an dem die Handlung umschlägt und einen (meist unheilvollen) Verlauf nimmt (vgl. Bild/Zeit, II, 2004, S. 242 ff.). Die Momentaufnahme birgt in sich das Problem des Transitorischen, das in der Praxis der barocken Plastik und Malerei weniger ein Problem darstellte als später in der akademischen Auseinandersetzung, als es um die Frage nach den gattungsspezifischen Grenzen von Plastik und Malerei, Dichtung und Musik ging (zu Laokoon vgl. Bild/Zeit, I, 1996, S. 131 ff.). Was Leonardos Anghiarischlacht betrifft, hat die Konzentration auf die Reitergruppe und die Ausblendung des umliegenden Getümmels der Schlacht (das womöglich im Fresko ge-

Michelangelo

118 Leonardo, Die Anghiarischlacht, 1504 (Kopie von Rubens 1605). Louvre, Paris.

zeigt wurde) den historischen Aspekt der Darstellung abgeschwächt. Das Augenmerk gilt eher der überzeitlichen anthropologischen Konstante von Kampf und Gewalt. Die Verdichtung des Geschehens in der Darstellung der wilden Reiter, die um die Fahne kämpfen, lässt das eigentliche historische Ereignis, die Schlacht der Florentiner gegen die Mailänder im Jahr 1440, in den Hintergrund treten. Die rasenden Reiter auf den sich aufbäumenden Pferden stehen für den existenziellen Kampf des Menschen schlechthin, für Gewalt und Tod. Frühere Schlachtendarstellungen waren eher distanziert, nicht so sehr auf den dramatischen Gewaltausbruch des Kampfes ausgerichtet – dafür fehlte auch das technische Vermögen. Dies ist besonders augenscheinlich, wenn man die Schlachtenbilder Paolo Uccellos zum Vergleich heranzieht. Auch das große Fresko mit der Entscheidungsschlacht gegen Chosroe von Piero della Francesca in San Francesco, Arezzo, von um 1454–1459, das sich an dem Reliefstil antiker Sarkophage orientiert, vermag nicht jene Dynamik zu vermitteln, die Leonardos Darstellung auszeichnet. Von der Antike ist bei Leonardo wenig zu spüren  – die lebendige Erfassung der

Kämpfer und Tiere steht dem erkennbaren Rückgriff auf antike Gestaltungsprinzipien entgegen. Auch die historische Reflexion und die Bezugnahme auf einen übergreifenden Kontext verblassen angesichts der überbordenden Intensität des Augenblicks, der Peripetie des Kampfes, dessen Eindruck der Betrachter sich nicht entziehen kann.

Michelangelo Die Schlacht bei Cascina Michelangelo hat sich der Antike stärker angenähert, allerdings in einer Form von Appropriation, die antike Formprägung entscheidend verändert und die klassische Norm bisweilen unterläuft (so z. B. in dem frühen Relief mit dem Kentaurenkampf von 1491–1492 in der Casa Buonarroti oder in dem Bacchus aus der ersten römischen Periode um 1496–1498, heute im Bargello  ; Abb. 211). In der Sala del

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119 Michelangelo, Die Schlacht von Cascina, 1504.

Gran Consiglio im Palazzo Vecchio hat Michelangelo (wahrscheinlich links von Leonardos Schlachtenbild an der Ostwand) seine Darstellung der Schlacht bei Cascina zur selben Zeit, um 1503/04, ausgeführt. Dieses Historienbild diente der Kommemoration des Sieges der Florentiner über die Pisaner am 28. Juli 1384. Wie in Leonardos Darstellung zeigen die Kopien von Michelangelos Karton vermutlich nur einen Teil des gesamten Wandgemäldes – sie machen überhaupt einen reduktionistischen Eindruck (Abb. 119). Im Gegensatz zur Anghiarischlacht kann man nicht behaupten, dass die Darstellung auf einen Höhepunkt des Kampfes zusteuert  ; wohl aber hat Achim Gnann auf unterschiedliche Stadien des Ablaufs des Geschehens hingewiesen. 11 Von einem Warnsignal aufgeschreckt, beeilen sich die badenden Soldaten, an Land zu kommen, um sich dort anzuziehen und ihre Rüstungen anzulegen. Im ursprünglichen Entwurf der Szene sollen auch kämpfende Reiter und Fußvolk im Hintergrund zu sehen gewesen sein. Die nackten Soldaten bieten sich in ihrer Gruppierung dem Auge wie ein räumlich strukturiertes Relief dar, im Prinzip der erwähnten Kentaurenschlacht nicht unähnlich, wiewohl die einzelnen Figuren hier autonom und herauspräpariert jede für sich stehen können. Mit großer Virtuosität werden sie in durchwegs unterschiedlichen Posen gezeigt und bilden so eine Probekarte von Aktdarstellungen,

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die paradigmatisch die Meisterschaft Michelangelos, was varietà und difficoltà anbelangt, unter Beweis stellt. Auch wenn Gnann darauf verweist, dass die Figuren verschiedene Phasen des Verlaufs ­demonstrieren, führt die zeitliche Sequenz, die vom Vordergrund in den Hintergrund führt, nicht zu einer dynamischen Steigerung der Handlung. Vielmehr hat man den E ­ indruck, es handele sich um einzelne Akt- und Bewegungsstudien, wobei die Figuren simultan aus verschiedenen Blickwinkeln dargestellt werden. Keine Frage, dass im Rahmen des Paragonestreits, an dem vielleicht Michelangelo nicht so interessiert gewesen ist, aber die späteren Zeitgenossen sehr wohl, auf den Cascinakarton als paradigmatisches Beispiel für die Überlegenheit des disegno zurückgegriffen werden konnte. Allein die Figur in der Mitte, die am Felsrand sitzend sich nach hinten dreht, führt uns vor Augen, wie eine Figur mehrere Körperansichten zugleich zeigen kann (zur „Vielansichtigkeit“ vgl. S. 301 ff.). Die in starker Bewegung und Drehung verharrenden Figuren greifen den ignudi an der Decke der Sixtina vor. Die Zeitlichkeit, d. h. der Anstoß, der vom Weckruf ausging, spielt also in dieser Darstellung eine wesentliche Rolle  ; weniger wichtig war dem Künstler die Verdichtung der ganzen Gruppe auf einen entscheidenden Moment hin. Der historische Kontext dürfte nur dem kundigen Betrachter gewärtig gewesen sein. Er

Raffael

120 Raffael, Die Vertreibung Heliodors, 1512/13. Stanza d’Eliodoro, Vatikan.

dürfte, zumindest was Michelangelo angeht, nur als Vorwand gedient haben, als es darum ging, dem Publikum den menschlichen Körper in schwierigen Stellungen in höchster Perfektion und Reinheit vor Augen zu führen. Die Auflage, das Geschehen nach Ort, Zeit und Handlung zu vereinheitlichen, mag zwar auf den ersten Blick erfüllt worden sein. Nur bleibt die Handlung eher akademisch kühl und abgehoben. Die Örtlichkeit erscheint eher als Beiwerk und kann nur bedingt als historischer Referenzrahmen dienen. Leonardo ist es gelungen, Zeit und Handlung dramatisch zu verschmelzen  ; aber auch bei ihm bleibt die Verortung der istoria eher vage. In beiden Historienbildern überwiegt der allgemeine Charakter  ; von einer Fokussierung auf die historische Zeit kann eigentlich keine Rede sein.

Raffael Stanza d’Eliodoro Raffael blieb es vorbehalten, die Wahl eines bedeutungsträchtigen Moments mit der spezifischen Verortung der Handlung in Einklang zu bringen, d. h. die Historie im eigentlichen Sinne zum Gegenstand der Darstellung zu erheben. In den Jahren 1511–1513 war er damit be-

auftragt, für Julius II. zwei Zimmer auszumalen  : In dem ersten, fast vollendeten Arbeitszimmer des Papstes für weltliche Angelegenheiten, der Stanza della Segnatura, sieht sich der Besucher mit vier komplexen konzeptuellen Darstellungen der großen Wissensgebiete der abendländischen Zivilisation konfrontiert  : Theologie, Philosophie, Poesie und Jurisdiktion. Von einer Handlung im eigentlichen Sinn ist in diesen Szenen wenig zu sehen, auch wenn die Interaktion und die bedeutsamen Gesten der Figuren dem hohen Abstraktionsgrad der Konzepte entgegenwirken, ja ihnen sogar Leben einhauchen.12 Im zweiten Raum, der sog. Stanza di Eliodoro, der wohl ursprünglich als Audienzzimmer gedient hat, wurde die Ausmalungen in Juli 1514, bereits unter dem Pontifikat Leos X., zu Ende geführt, wie Raffael in einem Brief an seinen Onkel berichtet.13

Die Vertreibung Heliodors Die Szenein der Stanza d’Eliodoro mit der Vertreibung (oder Bestrafung) Heliodors, der den Tempelschatz raubt, erweckt den Eindruck einer Inszenierung, die der Dramentheorie und der Rhetorik verpflichtet ist (Abb. 120). In ei-

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ner Hinsicht weicht der Maler allerdings von der aristotelischen Forderung nach der Einheit von Zeit, Ort und Handlung ab, indem nämlich mehrere Ereignisse der Geschichte miteinander verschmolzen werden – ein kunstvolles Geflecht von Bezügen, das dem Besucher in didaktisch-repräsentativer Absicht vor Augen gehalten wird. Der Umschwung von einem neuplatonischen Idealismus florentinischer Prägung (Ficino, Pico della Mirandola), der zweifelsohne einst zum Vorhaben Sixtus’ IV. beitrug, Rom als ein repräsentatives Zentrum des Christentums und der Gelehrsamkeit zu etablieren, vollzog sich unter dem Pontifikat Julius’ II. 1503–1513  : Mit dem Anbruch des neuen „Goldenen Zeitalters“ und der Wiederherstellung des imperialen Rom unter der Hegemonie der Kirche, repräsentiert durch die dominante, monarchisch agierende Person des Papstes, verlagerte sich das Geschichtsbewusstsein auf die Gegenwart und die von der Kurie genährte Zukunftshoffnung.14 Die Szene mit der Vertreibung Heliodors aus dem Tempel bezieht sich auf den Bericht im 2. Buch der Makkabäer (2 Makk 3, 1–40)  : Vom König beauftragt, macht sich Heliodor daran, das im Tempelschatz hinterlegte Geld zu beschlagnahmen. Den Hohepriester befällt große Angst und die Leute in der Stadt geraten in helle Aufregung. In der Schatzkammer erscheint ein himmlischer Reiter in goldener Rüstung, der den Tempelschänder attackiert. Zwei „junge Männer“ (eigentlich Engel) werfen ihn mit vielen Hieben zu Boden. Auf die Intervention des Hohepriesters Onios hin wird daraufhin ein Opfer dargebracht und Heliodor wieder zum Leben erweckt. Der König erkennt, dass an jenem Ort „wahrhaftig eine göttliche Kraft“ obwaltet (2 Makk 3, 38). Die Szene spielt sich in einer Tempelhalle, einer Vierung ähnlich, ab. In der zentralperspektivischen Achse mit ihrer Abfolge von goldenen Gurtbögen und Halbkuppeln sehen wir den Hohepriester betend am Altar mit dem siebenarmigen Leuchter. Ob es sich um den Bittgottesdienst zur Errettung des Tempels oder um die spätere Intervention handelt, bleibt offen. Auf der rechten Seite im Vordergrund haben der himmlische Reiter und seine beiden Begleiter den Tempelräuber niedergestreckt – aus dem Gefäß quellen Goldmünzen hervor. Auf der linken Seite sehen wir die Gruppe der heftig gestikulierenden Frauen mit ihren Kindern, die im Bibeltext im Vorfeld der Tempelschändung ausdrücklich erwähnt werden. Hier scheinen sie eher auf das Wunder der strafenden Engel zu reagieren. Die Wirkung der beiden himmlischen Gesandten wird insbesondere durch ihren schwerelosen Zustand verstärkt, der von Raffael mittels Schlagschatten, welche die Körper frei im Raum schwebend erscheinen lassen, deutlich gemacht wird.

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Soweit ist die Szene örtlich und zeitlich kohärent. Das Stoßgebet des Hohenpriesters, das im Bibeltext keine Erwähnung findet, geht der göttlichen Intervention voraus oder ist ihr gleichgeschaltet. An der linken Seite, unmittelbar jenseits des fiktiven Gurtbogens, sehen wir die porträtähnliche Gestalt Julius’ II. auf der von Trägern getragenen sedia gestatoria sitzend. Der vordere Träger in weißem Wams und olivbraunem Gewand – vermutlich ein Porträt – schaut den Betrachter unvermittelt an und stellt so den Kontakt zum Realraum und zur Gegenwart her. Der Papst schaut über die Frauen hinweg auf den Tumult und die Niederschlagung Heliodors und seiner Begleiter durch die Gottesboten. Brassat hat auf die unterschiedliche malerische Ausführung hingewiesen und sie als Ausdruck von zwei „Seinsebenen“ interpretiert, die sich im Fresko auftun  : zum einen die Gegenwart, repräsentiert durch den Papst und die zeitgenössisch gekleideten Figuren, und zum anderen die idealisierten, sorgfältig ausgeführten übrigen Protagonisten, die in einem etwas kleineren Maßstab gehalten sind. Der Papst halte sich, nach Brassat, das alttestamentliche Ereignis gleichsam als Vision vor Augen.15 Bei näherer Betrachtung scheint Julius II. aber auch malerisch integriert, während seine Träger und Gefolgsleute in der Tat eine Härte in der Ausführung aufweisen und weniger vom Fluidum erfasst werden. Die Stilunterschiede dürften aber eher auf die Beteiligung der Werkstatt zurückzuführen sein. Nach Brassat ist die Vertreibung Heliodors demnach als eine Imagination (visio) des Papstes zu verstehen  ; der „ontologische“ Bruch und „die Überschreibung der augensinnlich wahrnehmbaren Lebenswelt“ dienten als „handlungspraktische Orientierung“.16 Gemeint ist die Vertreibung der Franzosen aus Italien, die bereits am 7. September 1506 angedacht war, als der Papst am Hochaltar des Domes zu Orvieto vor dem Corporale, das dort auf dem Hochaltar aufgestellt war, um göttliche Unterstützung für seinen Feldzug betete. Während die Messe von Bolsena als Vorgriff auf kommende Ereignisse zu verstehen ist, dient die Vertreibung Heliodors eher als Bestätigung des glücklichen Ausgangs der Kampagne von Julius II. Zwei Jahre lang, 1510–1512, hatte der Papst einen erbitterten Kampf gegen die Franzosen und ihren Verbündeten, den Herzog von Ferrara, geführt. Noch im April 1512 hielten die Franzosen nach der siegreichen Schlacht bei Ravenna die ganze Romagna besetzt, aber durch eine glückliche Fügung gelang es dem Papst, Parma und Piacenza zurückzuerobern und die Feinde ganz aus Italien zu verdrängen. Die Bedrohung des Landes, nicht zuletzt des Kirchenstaates, durch die Aggressoren war damit abgewendet. Als die Nachricht am 22. Juli 1512 Rom erreichte,

Raffael

ließ sich Julius, bereits geschwächt, zu seiner Titelkirche San Pietro in Vincoli tragen, um dort am Altar seinen Dank für die göttliche Intervention zu entrichten. Wie einst Petrus von den in dieser Kirche aufbewahrten Fesseln befreit worden war, so war es nun dem Papst vergönnt, das Joch abzuschütteln. Nicht zufällig hat man auf die Ähnlichkeit des am Altar betenden Hohenpriesters mit Julius II. verwiesen. Ob als Stoßgebet oder als Danksagung – die in den Hintergrund gestellte Figur ist nur im Geiste mit dem Geschehen verbunden, während das göttliche Wunder sich in der Gegenwart, vor den Augen des Betrachters ereignet. Vermutlich in der zweiten Jahreshälfte 1512, noch vor dem Tod des Papstes am 20. Februar 1513, hat Raffael das Fresko mit der Vertreibung Heliodors zu Ende geführt. Die Analogie der zeitgenössischen politischen Vorfälle zu dem mit Bedacht ausgewählten alttestamentarischen Ereignis dürfte jedem Besucher gewärtig gewesen sein  : die Errettung der Kirche und Italiens durch Glaubensstärke und göttliche Fügung. Der Raum öffnet sich in die Tiefe und lässt den Betrachter gleichsam durch die vermittelnde Schicht der historischen Zeit an der spirituellen Kommunikation zwischen Papst und Gott teilhaben. Das historische, biblisch beglaubigte Wunder spielt sich flächenparallel im Vordergrund ab. Durch die ostentative Raumaufteilung kommen Spannung und Dynamik zum Tragen. Die höchst manieristisch anmutenden Pathosformeln der dargestellten Frauen links dienen quasi als Auslöser des Geschehens, während rechts die Frevler bereits an den Bildrand gedrängt und partiell sogar von ihm überschnitten werden. Die zentrifugale Wirkung, von der Bewegung der himmlischen Protagonisten und der Lage der Bedrängten im Eck der zur Verfügung stehenden Wandfläche verursacht, darf als eine virtuose ikonische Umsetzung des biblischen bzw. tagespolitischen Geschehens gesehen werden – die Vertreibung der feindlichen Eindringlinge findet somit ihre ikonische Entsprechung. Nur ein Künstler hatte sich vormals solcher Bildstrukturen bedient, um Erregung und Dynamik so wirkmächtig dem Betrachter nahezubringen  : Donatello. Und es mag mehr als ein Zufall sein, dass die auf dem Podest stehende, sich an die Säule klammernde Figur links, die auf den betenden Hohepriester vermittelnd blickt, Entsprechungen in Donatellos Reliefs, etwa im Eselswunder des hl. Antonius oder dem Wunder des sprechenden Kindes im Santo in Padua, findet (vgl. Bild/Zeit, II, 1004, S. 116, Abb. 76). Darüber hinaus hat gerade Donatello wie kein anderer die zentrifugalen Kräfte von Massenszenen in ihren expressiven Möglichkeiten ausgelotet.

Die Messe von Bolsena Das zweite Fresko in der Stanza di Eliodoro, die Messe von Bolsena, greift auf ein kürzer zurückliegendes Ereignis zurück, das unmittelbar mit der Vita des Papstes verwoben ist (Abb. 121). Das Wunder der Hostie ereignete sich im Jahr 1263 in der Kirche Santa Cristina in Bolsena, als bei einer von einem deutschen Priester zelebrierten Messe Blut aus der Hostie austrat und einen Fleck auf dem Corporale hinterließ. Der Priester wurde dadurch von seinem Zweifel an der Transsubstantiation, die ja 1215 als Dogma verkündet worden war, durch ein göttliches Wunder befreit. In der Folge hatte Papst Urban IV. das Fronleichnamsfest eingeführt und das Corporale zur Verehrung auf dem Hochaltar des Doms zu Orvieto aufstellen lassen. Bereits während seines ersten Feldzugs gegen die Franzosen suchte Julius II. am 7. September 1506 in Orvieto die Reliquie auf und erbat sich Beistand für seine Kampagne gegen die Franzosen. Vielleicht versuchte er dabei auch, seinen Glauben zu stärken. Wir sehen ihn rechts vor dem Altar, barhäuptig, ins Gebet versunken. Der energische Blick richtet sich auf den zelebrierenden Priester, der die Hostie gerade über den Kelch erhebt. Es zeichnet sich darauf der Blutfleck in Form eines eingefassten Kreuzes ab, desgleichen mehrfach auf dem ausgefalteten Corporale. Wir haben es, was die Darstellung betrifft, mit zwei gleichrangigen Protagonisten zu tun  : dem zelebrierenden Priester, im Augenblick das Wunder gewahr werdend, und dem Papst, der ihm, am selben Ort zeitversetzt, im Geiste beiwohnt. 243 Jahre trennen die beiden Begebenheiten, aber im Fresko erscheint das Wunder unteilbar, erhält es überzeitliche Signifikanz. Gegen eine „Vision“ des Papstes spricht in diesem Fall die Malweise, denn beiden Protagonisten wurde derselbe Grad an Realität verliehen, wie denn auch das Mysterium der Wandlung bei der Eucharistie sich immer wieder aufs Neue ereignet – eine Frage, welche gerade in der Reformationszeit ­Gegenstand der Debatte war und übrigens auch von Reformern wie Luther vehement verteidigt wurde. Die Reaktion der übrigen Protagonisten der Szene, die ebenfalls den beiden Zeit­ebenen zuzuordnen sind, ist unterschiedlich. Links hinter dem Priester nehmen Messdiener und staunende Besucher lebhaften Anteil am Geschehen, in ähnlicher Weise, wie es Raffael bereits in der Disputà vorgeführt hatte. Die Frauen im Vordergrund betonen durch heftige Gesten und Körperdrehungen ihre Anteilnahme – sie sind von demselben manieristischen Schlag wie jene in der Szene mit der Vertreibung Heliodors. Rechts hinter dem Papst erscheinen Würdenträger der Kirche  ; der vordere mit gekreuzten Armen wurde von Vasari als Kardi-

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121 Raffael, Die Messe von Bolsena, um 1512/13. Stanza d’Eliodoro, Vatikan.

nal Riario identifiziert. Neben ihm steht womöglich Giovanni de’ Medici, der nach Julius II. das hohe Amt antreten sollte. Im Vordergrund sehen wir die Gruppe der fünf Schweizergardisten (der rechte fast zur Gänze vom Bogen der Lünette überschnitten). Noch stärker als in der Vertreibung Heliodors setzen sie sich in der härteren Ausführung von den übrigen Figuren ab. Brassat sieht hier ebenfalls einen ontologischen Bruch und eine zeitliche Überschreitung der Lebenswelt im Vergleich zu den übrigen Protagonisten, zumal die Gardisten wenig Anteilnahme an dem Wunder erkennen lassen und somit (im Gegensatz zu den Frauen) „klein im Glauben“ erscheinen. Die psychologische Auslotung dieser Figuren, die eher als Repoussoir der formalen Gestaltung dienen, dürfte zu viel des Guten sein. Eine bewusste formale zeitliche Differenzierung von Gegenwart und Vergangenheit ist hier nur schwer argumentierbar, da Julius II. und sein Gefolge ohne Brüche in die Szene integriert erscheinen. Der Gegenwartsbezug lässt sich dagegen doku-

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mentarisch begründen. Die unterschiedliche Ausführung dürfte wie bei den anderen Fresken dem Eingreifen der Werkstatt zuzuschreiben sein. Sollte tatsächlich die Absicht bestanden haben, hier eine zeitliche Kluft anzuzeigen, könnte es sich nur um jene sechs Jahre handeln, die zwischen dem Besuch des Papstes in Orvieto 1506 und der Ausführung des Freskos Ende 1512 verflossen waren. Die Gegenwart des Betrachters würde dann mit derjenigen der Gardisten in eins fallen, die ja übrigens erst im Mai 1510 in die hier zur Schau getragenen, von Michelangelo auf Betreiben des Papstes entworfenen Kostüme eingekleidet wurden. Der unmittelbare Kontakt des Betrachters mit der Gruppe der Gardisten wird durch den mittleren bewerkstelligt, dessen Kopfdrehung die flächenparallele Ausrichtung der übrigen Protagonisten dramatisch durchbricht.

Raffael

122 Raffael, Befreiung Petri aus dem Kerker, 1512/13. Stanza d’Eliodoro, Vatikan.

Befreiung Petri aus dem Kerker Die Verschränkung der Gegenwart mit vergangenen Zeiten ist auch für die beiden anderen Fresken in der Stanza di Eliodoro kennzeichnend. Die Befreiung Petri aus dem Kerker in der Lünette oberhalb des Fensters steht mit Julius II. und seiner Titelkirche in direkter Verbindung, sodass sich etwaige Hinweise erübrigten (Abb. 122). Das Fresko dürfte noch unter Julius II. begonnen und nach dessen Tod im Februar 1513 unter Leo X. zu Ende geführt worden sein, wie eine Inschrift auf dem fingierten Architrav besagt. Das Geschehen wird in drei Episoden aufgeteilt, optisch simultan erfassbar, aber dem Bibeltext gemäß sukzessiv. Zentral, oberhalb des Fensters, sehen wir den Kerker im hellen Widerschein, vor dem sich die Ketten und die zusammengesunkene Gestalt Petri und der stehende Wächter rechts abzeichnen. Rechter Hand wird der Apostel vom Engel aus dem Kerker geführt, während die Wächter an der

Treppe in todesähnlichen Schlaf versetzt zu sein scheinen. Auf der linken Seite vor der suggestiven Nachtlandschaft sind die Wächter noch einmal dargestellt – als vom Licht Geblendete ergreifen sie erst nachträglich die Flucht. Im Vergleich zu einer lavierten Studie (heute in den Uffizien) wurde die Anzahl der Protagonisten der Szene reduziert, dafür wurden aber die Bewegungen heftiger herausgestellt  ; die verweisende Geste des in Rückenansicht wiedergegebenen Wärters links lenkt unseren Blick erneut auf die Hauptszene mit der Engelserscheinung. So schließt sich im Bewusstsein des Betrachters der Kreis von der wundersamen Erscheinung des Engels über die schwerelose Begleitung aus dem Kerker bis hin zur Bestürzung über das Wunder der göttlichen Intervention. Analog zu diesem Geschehen hat sich die Befreiung Italiens und des Kirchenstaates von der Bedrohung Frankreichs vollzogen. In der Stunde der Entscheidung standen dem Papst in San Pietro in Vincoli die Fesseln Petri vor Augen – so ist auch diese Verschränkung der politi-

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123 Raffael, Leo I. gebietet Attila Einhalt, um 1513/14. Stanza d’Eliodoro, Vatikan.

schen Situation in der Gegenwart mit der Begebenheit aus der Apostelgeschichte evident.

Leo I. gebietet Attila Einhalt vor den Toren Roms Gegenüber der Szene mit der Vertreibung Heliodors befindet sich das Pendantfresko „Leo I. gebietet Attila Einhalt vor den Toren Roms“ von ca. 1514 (Abb. 123). Noch stärker hat Raffael hier durch Schattierungen eine Massenszene realisiert, die ihre Wirkung in der Folgezeit nicht verfehlen sollte. Vor der Weite der römischen Campagna, in der ein Aquädukt, das Kolosseum sowie eine Basilika zu erkennen sind, erschein im Vordergrund auf der Landschaftsbühne links Papst Leo I. auf einem weißen Schimmel Die flächenparallele Ausrichtung von Ross und Reiter steht im starken Kontrast zu der Attilas, der von rechts her angeprescht kommt und dessen Schimmel sich abrupt aufbäumt. Dahinter erscheint die bunte Schar der Hunnen. In der Mitte stehen zwei Rossbändiger, die nur mit Mühe

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ihre Pferde im Zaum zu halten vermögen. Der Tumult wird durch die Erscheinung der beiden Apostelfürsten oben links ausgelöst, die überlebensgroß wie zwei Racheengel in priesterlichen Gewändern mit Schwertern in den Händen vor dem gleißenden Himmel erscheinen. Die Gegenwart wird von der Spannung der Aktion und Reaktion einer beachtlichen Zahl von Figuren beherrscht – in diesem Sinn handelt es sich um ein klassisches Historienbild. Hinter den Barbaren ragen Baum- und Felskulissen empor. Zwei Feuersbrünste (auf dem Monte Mario  ?) lassen ihre Übeltaten erahnen. Man könnte von einem paysage moralisé sprechen, denn in Kontrast dazu erstrahlt auf der linken Seite hinter dem Papst und seinem Gefolge die römische Campagna mit ihren geschichtsträchtigen Gebäuden in hellem Licht. Leo I. wird von zwei Kardinälen begleitet. Gravitätisch und eher unbeweglich sitzt er auf seinem flächenparallel gestellten Schimmel, der dadurch den Eindruck der Festigkeit vermittelt. Vor dem Papst wird ein Prozessionskreuz emporgehalten und durch dieses Zeichen und mit seiner erhobe-

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nen Rechten gebietet das Kirchenoberhaupt der wilden Schar Einhalt. Wie im gegenüberliegenden Fresko erfolgt die göttliche Intervention in Form von zwei Gottgesandten, hier den Apostelfürsten, die der unerschütterlichen Glaubensgewissheit zufolge den Hilferuf erhören. Der Brückenschlag zwischen dem historischen Ereignis – Leo I. und Attila vor den Toren Roms (eigentlich hat Leo I. durch Friedensverhandlungen mit Attila 452 n. Chr. diesen zum Abzug aus Italien bewogen) – und Leo X., als Friedensstifter den Franzosen entgegentretend, erfolgt mehr im geistigen Sinn, denn der direkte Kontakt Leos X. mit den Feinden beschränkte sich auf seine Gefangennahme als päpstlicher Legat in der Schlacht bei Ravenna 1512  ; bei diesem Ereignis soll er übrigens auch auf einem Schimmel geritten sein.17 Manche Unwägbarkeit besteht bei der Beurteilung des Freskos. War man früher eher geneigt, den Anteil der Werkstatt Raffaels und auch jenen Giulio Romanos nach 1515 relativ hoch einzuschätzen, neigen neuerdings manche Forscher wie Hartt oder Penny dazu, dem Meister größere Anteile zuzuschreiben  : Der Kopf des Papstes, die bewegten Gestalten der Apostel sowie die Massenszene mit der dramatischen Landschaft rechts sind nach Brizio vor dem Hintergrund links entstanden. Bei diesem Fresko wurde bisher nicht auf den Umstand hingewiesen, dass die Ausführung nur partiell zu Lebzeiten Julius’ II. erfolgt sein kann. Ob wir es in dieser Darstellung wirklich mit der Schlacht gegen die Hunnen bei Ravenna 452 n. Chr. zu tun haben, ist ungewiss.18 Die Rettung Italiens und des Kirchenstaates vor den Heiden war natürlich ein prestigeträchtiges Thema, das sich als Gegenstück zum alttestamentlichen Ereignis der Vertreibung Heliodors anbot. Der Örtlichkeit Ravennas haftete allerdings, was Julius II. betraf, der Makel der erwähnten Niederlage gegen die Franzosen 1512 an. Vielleicht sollte der Papst in effigie Leos des Großen die zuvor erlittene Schmach durch den diplomatischen Triumph tilgen  ? Mit dem Amtsantritt Leos X. änderte sich die historische und ikonografische Situation auch hinsichtlich der Ikonografie in der Stanza di Eliodoro grundlegend. Bislang war ja das Programm der Stanzen auf die Person Julius’ II. zugeschnitten gewesen und die Bezugnahme der biblischen und kirchenhistorischen Themen entsprechend auf die historischen Begebenheiten seiner Gegenwart abgestimmt. Nachdem Julius II. gestorben war, ergriff Leo X. die Gelegenheit und brachte sich ebenfalls persönlich in das Bildprogramm als Friedensstifter ein  ; so wurden die Gesichtszüge des Papstes womöglich durch eine Abänderung mit denjenigen von Leo X. versehen.

Zur Bedeutsamkeit der geschilderten istoria kam nun auch noch die Namensgleichheit hinzu. Noch stärker als die bereits von Julius erwünschte Porträtähnlichkeit mit den agierenden Personen erfolgte nun unter Leo X. die Zusammenführung von Identitäten aus unterschiedlichen historischen Zeiten. Porträtähnlichkeit und Namensgleichheit ­w aren ein probates Mittel der Legitimation  – in der Kirchen­geschichte dürfte die Namenswahl der Päpste stets mit Kalkül erfolgt sein. Was nun das Fresko betrifft, nahmen also wahrscheinlich durch eine spätere Korrektur die Gesichtszüge Leos des Großen diejenigen von Leo X. an. Dieser trat ursprünglich als Kurienkardinal Giovanni de’ Medici im Gefolge Julius’ II. auf und erscheint in der Szene zunächst mit dem Kardinal ganz links. Im Fresko wird somit das wechselhafte Spiel der Geschichte (ungewollt) sinnfällig  ; dieselbe Person tritt doppelt, wenn auch in verschiedener Funktion auf. Zur Zeit der Vollendung des Freskos im Jahr 1514 ist es Leo X., der sich die Kunst Raffaels in noch höherem Grad zu Diensten macht. Entsprechend nimmt er in den späteren Historienbildern des Malers eine dominante Rolle ein.

Stanza dell’Incendio Die Ausmalung der Stanza dell’Incendio wurde von Raffael am 1. Juli 1514 in Angriff genommen  ; im Sommer 1517 dürften die Arbeiten zum Abschluss gebracht worden sein.19 Die Funktion des kleinen Raumes konnte nicht mit Sicherheit festgestellt werden, aber Paolo Giovio berichtet, dass Leo X. dort seine Mahlzeiten unter Rezitation von Gedichten und Musikaufführungen einzunehmen pflegte. Es dürfte sich um ein Empfangszimmer gehandelt haben, in dem die Gäste Zeit hatten, die Taten der früheren Päpste, allesamt Namensvettern des leibhaftigen Papstes, zu bewundern. So wurden zu Recht diese Fresken von Brassat als Musterbeispiele rhetorischer Inszenierung bezeichnet. Nach Quintilian ist es Aufgabe des Redners, sich selbst mithilfe der Imagina­tion (visiones) in die Stimmung der Zuhörer hineinzuversetzen  ; dementsprechend sei es nun auch dem Maler durch die Überzeugungskraft (ènérgeia) der Bilder gegeben, die Besucher in seinen Bann zu ziehen (vgl. o. S. 201).20

Der Borgobrand In der Tat haben wir es in der Darstellung des sog. Borgo­ bran­des mit einem Historienbild zu tun, das in seiner Vielschichtigkeit der Nachwelt immer paradigmatisch vor Au-

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gen gestanden hat  : Seitlich verschobene Architekturkulissen geben den Blick in der Mitte der Lünette auf den Vorplatz von Alt-St.-Peter frei, dessen Fassade hinter dem mosaikverkleideten Vorbau emporragt (Abb. 124). Ein mächtiger ­Palast vom Typus des gerade von Bramante und Raffael bevorzugten Sockelbaus schiebt sich von rechts in den Hintergrund herein. Er entspricht insofern den topografischen Gegebenheiten, als hier das untere Stockwerk des von Leo X. errichteten Kampaniles mit einer womöglich von Raffael geplanten Loggia sichtbar wird.21 Bemerkenswert ist die serliana, in der die Figur des Papstes mit erhobener rechter Hand erscheint. Im Jahr 847 schlug Papst Leo IV. ein Kreuz und konnte so auf wundersame Weise den verheerenden Brand löschen, der bereits die Viertel der Sarazenen und Lombarden im Borgo vernichtet hatte und nun auch die Bauten in der Nähe von Alt-St.-Peter bedrohte. Unterhalb der Loggia sehen wir in römischen Lettern die Inschrift mit dem Namen des Papstes. Seine Statur erinnert rudimentär an die Leos X. Die historische Begebenheit ist in Platinas Historia de vitis pontificium, 1505 in Paris gedruckt, dokumentiert. Der dortige Bericht liegt auch den übrigen Darstellungen in der Stanza dell’Incendio zugrunde.22 Der historische Bezug zur Gegenwart Leos X. war demnach sowohl durch die topgrafische Darstellung als auch durch den historischen Bericht gegeben. Der Analogieschluss zur Zeitgeschichte vollzog sich auf der metahistorischen Ebene. So wie Leo IV. einst die physische Bedrohung des Kirchenstaates mithilfe göttlicher Intervention abwenden konnte, so war es nun an Leo X., die Wogen des Krieges zu glätten und als Retter und Friedensstifter in die aktuelle politische Situation einzugreifen. Die Legitimation, die ihm auch als Instanz weltlicher Macht zukam, wurde durch die Szene links bekräftigt. Die Gründung Roms war ja nach dem gängigen Mythos durch Äneas nach der Flucht aus Troja erfolgt. Links sehen wir den Helden seinen Vater Anchises, der übrigens durch eine bürgerliche, an Cosimo de’ Medici erinnernde Kopfbedeckung ausgewiesen ist, aus der brennenden Stadt tragen, begleitet von Ascanius, der das Fortleben des Geschlechts sichern sollte. Vasari verweist auf die Nähe zu Vergils Beschreibung in der Aeneis, in der sich die Rettung nel medesimo modo che Vergilio descrive come Anchise fu portato da Enea vollzieht.23 Es scheint nicht unbedingt zwingend, die Verwendung von modo in diesem Zitat mit dem Modusbegriff in Verbindung zu setzen, wiewohl die Aeneis seit dem Mittelalter als Muster des stilus gravis galt.24 Die Szene mit dem Untergang Trojas ist als Ganzes aber ohne Zweifel im Sinne des „hohen Stils“ zu sehen, wiewohl die Schilderung des Untergangs bei der sorgfältigen Ausführung der schönen Aktfiguren nicht den

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Betrachter in Furcht und Schrecken versetzt, wie es nach der Dramentheorie eigentlich der Fall hätte sein müssen. Die von Lessing in Bezug auf die Plastik geforderte Einschränkung der Expressivität zugunsten der schönen Gestalt gilt auch hier. Nicht zuletzt die an der Stadtmauer hängende nackte Figur ist in ihrer Dysfunktionalität der manieristischen Ästhetik geschuldet. Die Protagonisten inmitten des Vordergrundes sind ebenfalls nicht dazu angetan, das Mitleid des Betrachters zu erwecken. Die kniende Frau links, aus der Rückenansicht mit evokativ erhobenen Armen dargestellt, ist zwar der antiken Pathosformel verpflichtet, leitet aber den Blick zur Erscheinung des Papstes in der rückwärtigen Loggia, sodass hier die Aufmerksamkeit des Betrachters geweckt und auf das Wesentliche gerichtet wird. Dieselbe Funktion erfüllen auch die Frau mit dem Kind sowie die schräg rechts von ihr Stehende mit der erhobenen Hand, die Verwunderung über die Reaktion der Begleiterinnen anzeigt und so, quasi selbstbezüglich, den Kreis des Staunens schließt. Die elegante Wasserträgerin mit der Amphore rechts sowie die übrigen mit Becken und Krügen hantierenden Figuren repräsentieren pars pro toto die Bewohner der vatikanischen Vorstadt in ihrem vergeblichen Versuch, den Brand zu löschen. Die offenen Münder signalisieren zwar affektive Erregung, stehen aber in paradoxalem Kontrast zu ihren ausgeklügelten Stellungen, die Raffaels Vermögen, formale Schwierigkeiten zu meistern, offenkundig machen. Auf die ästhetische Distanz, die zur Aufhebung der dramatischen Wirkung der gegenwärtigen Handlung führt, wurde bereits im Zusammenhang mit Michelangelos Cascina­ schlacht verwiesen. Drei Zeitebenen werden demnach kunstvoll miteinander im Borgobrand verschränkt  : Die Historie (in mythischer Vorzeit oder in einem entscheidenden Moment der Kirchengeschichte) bildet die Folie, vor der die Gegenwart Sinn und Glanz erhält. Erst aus nachträglicher, reflexiver Sicht macht die Verknüpfung des moralischen Beispiels mit einem davon völlig unabhängigen, historisch beglaubigten Wunder Sinn. Der Papst selbst setzt als Akteur das Geschehen außer Kraft. Brassat hat die Logik der Struktur aus der rhetorischen Praxis erklärt  : Der Brand Trojas links diene als herkömmlicher Topos eines verheerenden Brandes  ; als Gegenbeispiel (antitheton) sei die Löschung der Feuersbrunst durch Leo IV. zu verstehen. Dem Betrachter erscheine das Wunder in der kunstvollen Ausführung ebenso wahr und möglich wie die ihm bekannte politische Situation der Gegenwart (amplificatio).25 Die Löschversuche, repräsentiert durch die Protagonisten in der rechten Hälfte der Szene, würden durch den eher unscheinbaren Segensgestus des Papstes in der architektonischen Rahmung der serliana in

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124 Raffael, Der Brand im Borgo, 1516/17. Stanza dell’Incendio, Vatikan.

ihrer Aussichtslosigkeit bloßgestellt. Die Frauengruppe im Vordergrund diene der Vermittlung und stelle die Verbindung des Betrachters zum Papst im Hintergrund her. Räumliche Distanz indiziere zugleich Zeitlichkeit. Der Gegenwartsbezug komme auch im Hintergrund durch die Anpassung an den realen Architekturstil der Gegenwart und im übertragenen Sinn durch die symbolische Geste des Papstes zum Tragen. Nach dem Laterankonzil, eröffnet am 3. Mai 1512 nach dem Antritt Leos X., gewannen die ekklesiastischen Themen in der Ausstattung der Stanzen die Oberhand.26 Der Papst schultert dort gezielt die Rolle als Friedensstifter und Retter des Kirchenstaats. Der Mythos und das historische Ereignis dienen als exempla, an denen seine Taten, göttlich bekräftigt, zu messen sind und deren Erfolg somit bereits als gesichert erscheint.

Die Krönung Karls des Großen In den drei übrigen Wandfeldern der Stanza dell’Incendio, größtenteils von der Werkstatt Raffaels (Penni, Raffaellino del Colle und Giulio Romano) ausgeführt, wird der Bezug zum Tagesgeschehen noch weiter verstärkt, nicht zuletzt durch die permanente Einfügung des Porträts von Papst Leo X. in die historischen Szenen, der somit in die Rollen seiner karolingischen Vorgänger schlüpft. Die Krönung Karls des Großen, die zu Weihnachten im Jahr 800 in Alt-St.-Peter durch Leo III. erfolgte, verdeutlicht den Primat des Papstetums über die weltliche Macht. Der Kaiser hat sich zum Schutz der römischen Kirche verpflichtet, wie aus einer beigefügten Inschrift unterhalb der Darstellung ersichtlich wird. Kurz vor der Ausführung des Freskos in Dezember 1515 war es Leo X. gelungen, den französischen König

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Franz I. als Beschützer der Kirche zu gewinnen und darüber hinaus auch diejenigen Erlasse in Frankreich aufheben zu lassen, welche die päpstliche Autorität dort einschränkten.27 Dementsprechend wurden Leo III. die Gesichtszüge Leos X. verliehen und Karl dem Großen diejenigen von Franz I. Einige architektonische Versatzstücke lassen darauf schließen, dass der damalige Neubau von St. Peter wohl bewusst anachronistisch den architektonischen Rahmen der historischen Begebenheit bereitstellte. Begonnen wurde das Fresko im Jahr 1516 und im Mai 1517 dürfte die Arbeit zum Abschluss gebracht worden sein.28

Der Schwur Leos III. Der Schwur Leos III. in der Lünette des Fensters bezieht sich nach der Schilderung Platinas auf die juridische Unfehlbarkeit des Papstes  ; von den Nepoten Hadrians I. verleumdet, musste Leo III. sich vor Karl dem Großen rechtfertigen. Er schwor seine Unschuld und ließ den Spruch verlautbaren, der auf einer Tafel unterhalb des Freskos zu lesen ist  : Dei non hominum est episcopos iudicare (23. Dez. 800  : „Nur Gott und nicht dem Menschen steht es zu, über Bischöfe zu richten“).29 Der Zeitbezug wird durch das Laterankonzil von 1515 hergestellt, auf dem mit der Bulle Unam sanctam (1302) von Bonifaz VIII. die alleinige Verantwortung des Papstes vor Gott bestätigt wurde. Damit waren auch die Themen der Investitur sowie das drohende Schisma angesprochen, welches durch die Einberufung des schismatischen Konzils zu Pisa von Ludwig XII. noch unter dem Pontifikat Julius II. im Raum stand. Beim Laterankonzil im Dezember 1513 hatten allerdings die Gesandten des französischen Königs auf den Plan einer Kirchenspaltung feierlich verzichtet  ; desgleichen stellte Franz I. 1515 nicht mehr die Autorität des Papstes in Belangen der Kirche in Frankreich infrage.

Die Seeschlacht vor Ostia Ungeachtet seiner Rolle als Friedensstifter suchte Leo X. wie viele vor ihm die Einheit der Christenheit im Kampf gegen die Türken herzustellen. Nach dem Einfall derselben in Polen und infolge ihrer steten Expansion im Mittelmeerraum und auf dem Balkan war die Gefahr einer erneuten Expansion stets gegeben. Was die allgemeine Bedrohung des Kirchenstaats unweit der Tibermündung betrifft, war die Sicherheit nicht immer gewährleistet. Um ein Haar wäre der Papst selbst bei einer Jagd 1516 von Seeräubern gefangen

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genommen worden. Auch hier bot sich eine Parallele zu Leo IV. an, der im Jahr 852 die Umwallung des Vatikans, der civitas Leonina, zum Schutz gegen die Sarazenen veranlasst hatte, die 847 in Rom den verheerenden Borgobrand entfacht hatten. Es gelang ihm, die Sarazenen durch einen Glücksfall in der Seeschlacht bei Ostia 849 vernichtend zu schlagen, da die Flotte der Araber von einem Sturm versprengt wurde (Abb. 125). So sehen wir in der Lünette des dritten Wandfeldes, das partiell Giulio Romano und Giovanni da Udine zugeschrieben wird, wie die Besiegten an Land und vor den Papst gebracht werden. Dieser thront links erhöht und dankt mit erhobenen Händen und emporgerichtetem Blick für die göttliche Intervention. Im Hintergrund, jenseits der Mole von Ostia, tobt noch die Seeschlacht. Der Papst ähnelt nach Statur und Physiognomie jener unseligen Sitzfigur, die Domenico Aimo von ihm im Jahr 1514 zeitgleich mit den Arbeiten am Fresko anfertigte (heute in Santa Maria d’Ara Coeli)  ; an der Porträtähnlichkeit besteht kein Zweifel.30 Im Gegensatz zu verwandten martialischen Szenen, wie man sie etwa auf der Trajanssäule sehen konnte (vgl. Bild/Zeit, I, 1996, S. 136 ff.), erscheint der Papst nicht so sehr in der Pose des unerbittlichen siegreichen Feldherrn, sondern eher im Begriff, die Gefangenen zu verschonen. Wie in der früheren Szene mit der Begegnung von Leo I. und Attila vor den Toren Roms in der Stanza di Eliodoro gibt sich der Papst vom Geschehen eher unberührt, als Friedensstifter von göttlicher Macht geschützt und gelenkt.

Die Sala del Costantino In den Augen der Zeitgenossen Raffaels gehörten die Ausmalungen der Sala del Costantino im Vatikanischen Palast, die von Leo X. 1519 beauftragt und später unter Clemens VII. fortgeführt wurden, zweifelsohne zu den bedeutendsten Historiendarstellungen überhaupt. Vasari hebt die „Schlacht an der Milvischen Brücke“ in der ersten Ausgabe seiner Vite von 1550 lobend, wenn auch nicht extensiv hervor  ; in der zweiten Ausgabe von 1568 wird ausführlicher auf die Fresken eingegangen, die nach dem Tod Raffaels von ­Giulio Romano und Francesco Penni zum Abschluss gebracht wurden (Vite V, S. 527–531 zu Giulio Romano). Der Darstellung der „Schlacht an der Milvischen Brücke“ an der Südwand des Saales lag ein Entwurf von Raffael zugrunde, so auch der Kreuzesvision an der Ostwand sowie den fiktiven Nischen mit den monumentalen Figuren früherer Päpste und den entsprechenden Tugendfiguren. Auch das Rahmengerüst mit der Scheinarchitektur geht auf Raffael zurück –

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125 Raffael (Werkstatt), Die Seeschlacht vor Ostia, 1514/15. Stanza dell’Incendio, Vatikan.

bereits in den Loggien hatte der Meister seine Kompetenz unter Beweis gestellt. In keinem anderen Werk der Zeit finden sich so viele Anleihen an antike und zeitgenössische Vorlagen, nicht zuletzt auch an die Deckenfiguren in der Sixtinischen Kapelle. Das historische Programm in der Sala di Costantino ist von Rolf Quednau, der alle zugänglichen Quellen und die einschlägige kunsthistorische Literatur aufgearbeitet hat, exemplarisch dargelegt worden. Die folgenden Ausführungen basieren auf seiner Monografie aus dem Jahr 1979.31 Drei Ebenen tun sich nach Quednau bei der Analyse auf  : die rein historische Bedeutung, die universal gültige Relevanz der Szenen und schließlich die individuellen Hinweise auf den Papst und seine Familie. In dem Bankettsaal fanden über Festivitäten hinaus auch Empfänge, Trauungen, Einkleidungen und zeremonielle Begebenheiten statt. Die Fa-

milie der beiden mediceischen Auftraggeber, Leos X. und Clemens’ VII., wurde durch Wappen und imprese besonders apostrophiert. Bereits in den Stanzen hatte sich Leo X. in effigie in Analogie zu seinen historisch weit zurückliegenden Vorgängern, Leo I. und Leo IV., als Friedensstifter in Szene gesetzt. Derselbe Ton, nun aber unter stärkerer Betonung der weltlichen Machtfülle des Papsttums, wurde in der Sala del Costantino angeschlagen. Nicht zuletzt die beiden Szenen mit der „Taufe Konstantins durch Silvester I.“ und der „Konstantinischen Schenkung“ an Silvester I.“, die von Clemens VII. wohl 1524 ergänzend in Auftrag gegeben wurden, halten den Fokus auf die politische Macht der Kirche und ihre weltliche Oberhoheit gerichtet. Der rhetorische Charakter der Wandmalereien wurde in den Jahren nach der Ausmalung der Stanzen noch verstärkt. Nicht zufällig hat Giambattista Armenini, auf den Quednau

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verweist, die Ausmalung in der Sala del Costantino als ein Muster der Angemessenheit (convenevolezza) gepriesen (De’ veri precetti della pittura, Ravenna 1587). Während die maiestas papalis durch die repräsentativen monumentalen Gestalten der Päpste in den fiktiven Wandnischen und in anderen Szenen zum Tragen kommt und weitere Themen der Kirchengeschichte und der Zeremonien in den Fresken angesprochen werden, erscheinen die großen historischen Szenen im Zentrum der vier Wände des Saales in Form von fiktiven Teppichen  : Die „Vision des Kreuzes“ an der Ostwand  ; die Taufe Konstantins durch Silvester an der Westwand  ; die „Schlacht an der Milvischen Brücke“ an der Süd- und die Schenkung Konstantins an Silvester I. an der Nordwand. Die inhaltlichen Vorgaben dürfte Raffael durch die maßgeblichen Theologen in der Kurie im Umfeld von Leo X. erhalten haben (genannt werden Aleander und Prierias, aber auch Humanisten wie Paolo Giovio und Egidio da Viterbo). Warum die vier großen historischen Szenen aber in Form von fiktiven Wandteppichen ausgeführt wurden, bleibt offen – Quednau bietet dafür keine Erklärung. Womöglich setzt sich dadurch, zumindest optisch, das Konzept der Wandteppiche in der Sixtina, die nach den Kartons Raffaels angefertigt wurden, weiter fort. In diesen früheren „echten“ Teppichen wird die Verbreitung des ­Glaubens unter Juden und Heiden durch die beiden Apos­ telfürsten Petrus und Paulus dargestellt. Im Festsaal folgen nun in den beiden von Raffael entworfenen fiktiven Teppichen die Verheißung des Sieges des Christentums und die historische Erfüllung desselben durch Konstantin. Der Realitätsbezug der Schlachtenszene lässt, was Örtlichkeit und das historische Kostüm betrifft, nichts zu wünschen übrig – wir haben es mit einer für die Zeit akribischen Rekonstruktion des Geschehens nach antiken und zeitgenössischen Quellen zu tun. Allerdings bleibt die Szene auf der Stufe einer als Bild ausgewiesenen Repräsentation der Historie stehen. Der Brückenschlag zur Gegenwart, die Verschränkung historischer Zeiten, wie wir sie von den Stanzen her kennen, erfolgt dabei nicht. Die Schlachtenszene setzt keine Reflexion in Gang, wie es etwa im „Borgobrand“ der Fall war. Was den Typus der Darstellung betrifft, dürfte Raffael auf die Anghiarischlacht sowie auf einige römische Schlachtensarkophage zurückgegriffen haben. Er schuf so ein monumentales, auf die Vergangenheit beschränktes Historiengemälde, das seine Wirkung bis ins 19. Jahrhundert behalten sollte. Nicht zufällig verweist Quednau auf Charles Lebrun, der während seines Romaufenthalts das Fresko genau studiert hat. Die Darstellung richtet sich bildhaft, in der Form des Teppichs, an die Imagination des Betrachters. Wiewohl rea-

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listisch, lässt der Teppich mit der Schlachtenszene die Differenz zwischen Fiktion und Realität, historischer Rekonstruktion und gegenwärtiger Betrachtung aufscheinen. Primär erscheint der verweisende Charakter eines Bildes. Wäre nicht die Distanz zum Geschehen durch den fiktiven Bildträger (den Teppich) gegeben, Raffael hätte in diesem Fresko die Grenzen der zeitgenössischen Historienbilder überschritten und sich der Form der Schlachtenszenen späterer Jahrhunderte angenähert. Aber für eine Rekonstruktion der Vergangenheit im Geiste des Historismus war die Zeit noch nicht reif. Aus ästhetischer Sicht ist die Qualität der Fresken in der Sala di Costantino eher enttäuschend. Bereits in der „Seeschlacht vor Ostia“ in der Stanza dell’Incendio, die Giulio Romano und den Gehilfen Raffaels zugeschrieben wird, kam es zu einem qualitativen Abfall. Brassat hat in seinem Artikel aus dem Jahr 2000 (vgl. Anm. 15) den Charakter des Historienbildes im 16. Jahrhundert umrissen  : Es biete sich mit seinen unterschiedlichen Zeitebenen als kompositorisch gefestigtes Konstrukt dem Betrachter realiter dar, diene aber zugleich als ein imaginäres Bild, das zwar abbildend, aber zugleich exemplarisch „immer Merkmale einer paradox anmutenden Gleichzeitigkeit von Referenz und Fiktion“ aufweise. Der Handlungsfluss werde zurückgenommen und zugleich der Bezug zur Gegenwart oder zu einem absehbaren zukünftigen Ereignis verstärkt. Diese Ambivalenz sollte hinkünftig die Konfiguration des Historienbildes emphatisch prägen. Es handelt sich um konzeptuelle und zugleich imaginäre Bilder, die sich gleichermaßen an die Vorstellungskraft und das Denkvermögen des Betrachters richten und ihm das Geschehen im Sinne einer rhetorisch aufgezeigten Möglichkeit vor Augen führen. Darin tut sich im Vergleich zur Historienmalerei des 19. Jahrhunderts ein entscheidender Unterschied auf  : Zu dieser Zeit suchten die Maler nämlich mittels einer peniblen Rekonstruktion die Situation in der historischen Vergangenheit, „wie es eigentlich gewesen“ (Ranke), visuell umzusetzen – eine positivistische Sicht der Geschichte, die paradoxerweise in Wunschbilder mit realistischem Anspruch mündete, denen immer ein Beigeschmack des Theatralischen anhaftete. Bis ins 18. Jahrhundert hingegen sollte das historische exemplum, nicht selten mythologisch verbrämt und überhöht, rhetorisch und moralisch auf den Betrachter einwirken. Es ging dabei nicht vornehmlich um die Rekonstruktion der Vergangenheit, sondern vielmehr um Bewusstseinsbildung, die dem moralischen Impetus des Auftrags entsprach. Gerade diese moralisierende und idealisierende Tendenz bewahrte das Historienbild vor dem 19. Jh. vor einer flach anmutenden, uninspirierten positivistischen Wiedergabe der kruden Wirklichkeit.

Albrecht Altdorfer

Albrecht Altdorfer Der Triumphzug Kaiser Maximilians I. In dem über hundert Meter langen Bilderfries mit dem Triumphzug Kaiser Maximilians I., in den Jahren 1512–1515 von Albrecht Altdorfer und seinen Mitarbeitern, darunter Georg Lemberger, der sog. „Meister der Historia“, ausgeführt, wurden historische Szenen, vor allem Schlachtenbilder als Bilder auf den Standarten im Bilderfries, gleichsam als Bilder im Bild, gezeigt (vgl. S. 132). Wie in den fiktiven Teppichen in der Sala del Costantino stellen diese miniaturhaften Schlachtenbilder vorerst keinen zeitlichen Bezug zur Gegenwart her  ; sie dienen ausschließlich der kommemorativen Funktion. An diesen Massenszenen, die aus der Miniaturenmalerei stammen und in topografisch glaubwürdige, lichtdurchflutete Landschaften eingebettet sind, hatte Altdorfer maßgeblichen Anteil. Die ornamentalen Weißhöhungen und die kalligrafischen Effekte entsprechen seinem Stil (vgl. Abb. 70). Nicht weniger als 17 Schlachtendarstellungen sind auf dem Bilderfries zu sehen. Keine Frage also, dass bereits hier eine technische Grundlage für das spätere Meisterwerk der Gattung der Historienmalerei, die Alexanderschlacht, gelegt wurde. Es sind kommentarlose Darstellungen faktischer Schlachten aus der Vergangenheit, die in erster Linie dem Betrachter die Heredität, Legitimität und die historischen Glanztaten des Kaisers ins Bewusstsein rufen sollten. Der Kontext ihrer Präsentation ist allerdings als außergewöhnlich zu bezeichnen  : Wir haben es ja mit der fiktiven, aber in der Echtzeit sich vorwärtsbewegenden Triumphprozession zu tun. Bemerkenswert ist der Aufwand, mit dem der „historische“ Festzug und die Schlachten als Bilder dem Publikum bzw. der Nachwelt vor Augen geführt wurden. Wie gesagt, handelt es sich aus der Sicht der Zeitlichkeit eigentlich um eine kinematografische Präsentationsform (vgl. S. 136).

Die Regensburger Hunnenschlacht Nach dem Triumphzug Maximilians I. hat Altdorfer mit der Regensburger Hunnenschlacht 1518 ein reines Schlachtengemälde ausgeführt (Germanisches Nationalmuseum, Nürnberg  ; Abb. 126). Das Bild weist die beachtlichen Maße von 110,5 x 122 cm auf  ; es galt lange als eine Tischplatte, die dem Kaiser von den Regensburgern zum Geschenk gemacht wurde in der Hoffnung, er möge sich tatkräftig gegen die Türken einsetzen. Inzwischen ist man von dieser Annahme abgekommen. Nach Hess geht es eher um den Fortbestand der von Karl dem Großen gegründeten Kirche Weih-St.-Pe-

ter bzw. des Schottenklosters in Regensburg, um den Machtkampf zwischen Bischof und Stadtrat in den Jahren 1515–1520.32 Das Gemälde dürfte für die Wand bestimmt gewesen sein. Darauf deutet der Originalrahmen mit seiner rückwärtigen Anordnung der Aufhängung hin  ; mit seinen prachtvollen Blumenarabesken mutet er wie die Bordüre eines Wandteppichs an  : Von hier aus öffnet sich das Fenster zur Welt. Im Vordergrund prallen die Heerscharen aufeinander, alle überstrahlend Karl der Große in goldener Rüstung mit gebrochenem Schwert, vor ihm ein Engel auf einem Schimmel, der dem Kaiser mit seinem Schwert den Weg bahnt. Der Legende nach soll die Schlacht bei der Rückeroberung von Regensburg drei Tage gedauert haben. Als ein ungutes Ende sich abzuzeichnen begann, sei auf das Stoßgebet des Kaisers hin ein Engel mit einem Schwert in der Hand im Zeichen des Kreuzes am Himmel erschienen. Unwiderstehlich habe das christliche Heer daraufhin die Heiden überrannt und später noch alle Gegner erschlagen. Der Maler hat versucht, den Verlauf der Schlacht zu schildern  : Die christlichen Ritter in ihren bunten Rüstungen, allen voran Karl der Große  ; die dicht gedrängten Reihen der Landsknechte mit ihren langen Speeren, die sich über dem Kampfgetümmel wie wogendes Gras abzeichnen  ; das hell beschienene Regensburg mit seinen eher fantastischen Befestigungen im Hintergrund  ; die Brücke an der Furt, über die glänzende Donau führend  ; die erstrahlenden Berge der voralpinen Landschaft im Hintergrund links  ; die Lichtperspektive des bewegten Himmels und das Spiel der Wolken – dies alles spricht dafür, dass Altdorfer selbst für den Hauptpart dieses Historienbildes verantwortlich zeichnet. Eine Steigerung der Thematik sowie eine kosmische Überhöhung in Perspektive und räumlicher Weite sollte zehn Jahre später in der Alexanderschlacht noch eindrucksvoller erfolgen.33 Die zukunftsweisende Ausführung der Hunnenschlacht verdient besondere Beachtung, zumal sie den Zeitverlauf des Kampfes, wie in der Quelle geschildert, deutlich macht. Die Einteilung in drei helle Tageszonen und zwei Nachtzonen entspricht nämlich der Schilderung in der angeführten Legende, die seit 1485 gedruckt vorlag (erschienen bei Fritz Creußner in Nürnberg   ; mit einer Fülle weiterer Quellen, auf die hier nicht eingegangen wird, kann Edith Feistner in einem jüngst erschienenen Artikel aufwarten.34 Das Wunder der göttlichen Intervention habe sich am dritten Tag der Schlacht zur Mittagszeit ereignet. In unserem Gemälde mit Blick auf den Kampf im Vordergrund und Regensburg dahinter, von Osten aus gesehen, sowie Donau, südlich davon verlaufend, scheint die am Horizont sich rötlich färbende Sonne bereits unterzugehen. Während der Halbmond im

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126 Albrecht Altdorfer und Werkstatt, Der Sieg Karls des Großen über die Awaren bei Regensburg, 1518. Germanisches Nationalmuseum, Nürnberg.

rechten Nachtstreifen noch hoch am Firmament steht, ist er auf der linken Seite nicht mehr zu sehen. Wie auch immer  : Um die Zeitspanne von drei Tagen und zwei Nächten nachvollziehbar zu machen, hat Altdorfer den Himmel einfach in drei entsprechende Kompartimente geteilt und so die Abfolge der Tages- und Nachtzeiten mittels der Bildstruktur deutlich gemacht. Wo notwendig, muss die Wiedergabe der natürlichen Ordnung, in diesem Fall der kontinuierliche Lauf der Zeit, sich der ikonischen Logik fügen, ja muss selbst der Lauf der Sonne und der Gestirne hinter der göttlichen Intervention und Vorsehung zurückstehen.

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Der Sinnhorizont der Alexanderschlacht In der Geschichte der Historienmalerei steht die Alexanderschlacht von Albrecht Altdorfer als ein Unikat da. Das Aufeinandertreffen der Heere wird in epischer Breite aus der Sicht des Kollektivs geschildert, jeglichen persönlichen Bezugs enthoben, kosmisch überhöht und quasi sub specie aeternitatis aus der Enge kontingenter irdischer Verflechtungen gelöst. In seinem brillanten Buch Vergangene Zukunft hat Reinhart Koselleck die Relativität des historischen Bewusstseins und die unterschiedlichen Zeithorizonte, die sich im

Albrecht Altdorfer

Laufe der kulturellen Entwicklung herauskristallisierten, erörtert. Eingangs geht er auf Altdorfers Gemälde von 1529 ein. So wie die Schlacht bei Issus im Jahr 333 das dritte Weltreich des Hellenentums eingeläutet habe, so lasse sich das Ereignis aus der Sicht Altdorfers mit der kriegerischen Auseinandersetzung mit den Türken vergleichen, welche im selben Jahr vor den Toren Wiens standen. Die Übertragung des historischen Ereignisses aus dem Zeitalter des Hellenismus auf die Gegenwart werde überdies durch das historische Kostüm der Heerscharen verdeutlicht  : Die Landsknechte seien wie die Truppen zur Zeit Maximilians I. eingekleidet  ; die Perser seien allesamt als Türken geschildert. Der Zusammenschluss von Gegenwart und Vergangenheit, Antike und früher Neuzeit beziehe sich, so Koselleck, auf einen Erfahrungshorizont, der beide Begebenheiten in sich schließe.35 Hier sei eine kritische Anmerkung eingebracht  : Die Humanisten waren sich, im Gegensatz zu den mittelalterlichen auctores, sehr wohl jener tiefen Kluft bewusst, die sie von der Antike durch das Mittelalter trennte. Aber gerade aus diesem Umstand heraus suchten sie den Abstand durch den selbstbewussten Rückgriff auf die Antike in den Künsten und Wissenschaften zu überbrücken.36 Zu den einschlägigen Fächern der Humanwissenschaften gehörte über die Philologie (Textkritik) hinaus auch die Geschichtsbetrachtung, der von Natur aus ein theoretisches Moment innewohnt. Wenn man also von einem gemeinsamen Sinnhorizont der Antike, der frühen Neuzeit und gar dem Mittelalter ausgeht, müssen Konstrukte gefunden werden, die gleichermaßen für die Theoriebildung aller dieser drei historischen Zeiten von Belang gewesen sind, wiewohl sich im 16. Jahrhundert gerade im Zeitbewusstsein ein entscheidender Wandel anbahnte. Ein solches Konstrukt könnten die großen historischen Epochen sein, ausgedrückt im Aufstieg und Fall der vier Weltreiche  : Von Babylon zu den Medern bzw. Persern und von diesen zu den Hellenen (ab 331 v. Chr.) gelangte man schließlich zum Römischen Reich (ab 168 v. Chr.). Wiewohl Rom von den Goten unter Alarich 410 n. Chr. zu Fall gebracht wurde, setzte sich das römische Erbe nach Ansicht der Historiker im christlichen Abendland unter der Ägide von Papst und Kaiser fort. Aus der Sicht von Orosius zu Beginn des 5. Jahrhunderts (Historia adversum paganos) sollte dieses abendländische Weltreich christlicher Prägung bis zum Jüngsten Tag andauern. Nach biblischer Zeitrechnung war die Erschaffung der Welt um 4000 v. Chr. anzusetzen  ; das Ende war etwa 2000 Jahre nach Christi Geburt zu erwarten. Zu jener Zeit, als Altdorfer seine Alexanderschlacht schuf, war die Befürchtung eines unmittelbar bevorstehenden Endes, zumindest bei Reformatoren wie Martin Luther, Sebastian Franck u. a., stark ausgeprägt.37

Gerade der Krieg gegen die Türken, so die Erwartung, werde den Zeitverlauf noch beschleunigen und die Menschheit so noch schneller auf das Endgericht hinführen. Allerdings hat diese Vorstellung vom angekündigten, wenn auch fernen Ende der Geschichte, wie es in der Apokalypse immer wieder angesprochen wird, dazu geführt, dass der Weg in die Zukunft vorherbestimmt blieb. Aus dieser statisch-heilsgeschichtlichen Sicht der Dinge mit ihrem von der Kirche ­abgesteckten Zeithorizont war nichts Neues, Unvorhergesehenes zu erwarten. Die Deutungshoheit oblag der Kirche, die sich mit dem säkularen Geschichtsverständnis, das bereits im 15. Jahrhundert im Entstehen begriffen war und die Sinnfrage der Historie nicht mit der Erlösungsgeschichte in Zusammenhang brachte, entsprechend schwertat. Das Ende der irdischen Zeit und ihrer Geschichte war, wie Koselleck feststellte, gleichsam in der Kirche selbst aufgehoben.38 In diesem Schema nahm jedes historische Geschehen den ihm zukommenden Platz ein, so auch die Alexanderschlacht an der Wende zum dritten Weltreich der Hellenen  ; entsprechend war auch der abendländische Abwehrkampf gegen die Türken unter dem Zeichen des Kreuzes einzustufen. Aber gerade zu dieser Zeit, inmitten der Glaubenskrise und der Instabilität der großpolitischen Machtbalance, der Entdeckung und Eroberung der Neuen Welt und im Lichte der neuen Erkenntnisse auf den Gebieten der Geografie und Kosmografie, gerieten die althergebrachten zeitlichen und räumlichen Vorstellungen ins Wanken. Das heliozentrische Weltbild, eine von physikalischen Kräften beherrschte Natur und die Perspektive eines endlosen, offenen Universums untergruben die prominente Stellung des Menschen als Mitte der Welt und Krone der Schöpfung. Sie trugen dazu bei, die Macht und Legitimität der Kirche, „zu lösen und zu binden“, den Menschen von der Sünde loszusprechen und sein Seelenheil zu erwirken, ernsthaft infrage zu stellen.39 Luther war der Ansicht, dass die Welt wohl kaum noch die ganze verbleibenden Zeitspanne bis zum Ablauf der 2000 Jahre nach Christus bestehen werde. Mit der Schlacht gegen die Türken sei das Weltende eben wesentlich früher zu erwarten  ; so könne zumindest das himmlische Jerusalem schneller errichtet werden  : dan die welt eilet davon, quia per hoc decennium fere novum saeculum fuit.40 Alexander habe die Heidenvölker Gog und Magog als Vorläufer des Antichrist im Kaukasus aufgehalten, aber nachdem nun das Römische Reich untergegangen sei, der Heilige Stuhl sich im Verfall befinde und soziale Unruhen und Bürgerkriege um sich griffen, sei die in der Apokalypse angekündigte Auseinandersetzung mit dem Satan bereits im vollen Gange und das Ende der Welt wohl unmittelbar bevorstehend.41 Zeitgleich mit dieser düsteren Prognose standen die Türken

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nach Suleimans II. Eroberung von Belgrad und Ofen vor den Toren Wiens  ; unweit davon hat Altdorfer in Regensburg seine bedeutungsträchtige Alexanderschlacht ausgeführt.

Die Alexanderschlacht – Das Gemälde Die äußeren Umstände, was die Auftragslage des Gemäldes (Abb. 127a) betrifft, sind bekannt. Eine Reihe von Historienbildern wurde um 1528 vom bayerischen Herzog Wilhelm IV. für die Neuveste im Residenzgarten in München in Auftrag gegeben und in den folgenden Jahren bis 1540 ausgeführt. Fünf befinden sich nunmehr in der Münchener Alten Pinakothek und drei im Nationalmuseum in Stockholm. Mit Ausnahme von Altdorfers Gemälde handelt es sich um konventionelle Schlachtendarstellungen und Heldenszenen aus der römischen Geschichte  : Hannibal, Cäsar, Marcus Curtius, Scipios Sieg über Hannibal bei Zama, Mucius Scaevola, Horatius Cocles wehrt Porsenna ab und der Sieg des Manlius Torquatus über einen Gallier.42 Beratend wurde im Vorfeld der Alexanderschlacht der gelehrte Hofhistoriker Aventinus (Johannes Thurmayr) hinzugezogen, der in seiner Chronik auf Curtius Rufus’ Historia Alexandri Magni um 50 n. Chr. zurückgreifen konnte, die 1494 in Venedig und 1518 in Straßburg im Druck erschienen war.43 Im Falle unseres Historienbildes lieferten Curtius Rufus’ Schilderung (Hist. Alex. Magni, III, 21–23) und die Anabasis (11, 8–11) des Flavius Arrianus die genauen Vorgaben  ; sie dienten auch zur Klärung der Topografie bei Issus und die taktischen Umstände bei der Schicksalsschlacht. Diese Beschreibungen fanden Eingang in die historische Chronik des Aventinus (Kap. 153, 158).44 Laut Curtius Rufus nutzte Alexander das parallel zum Küstenstreifen verlaufende Gebirge, um die östliche Flanke seines zahlenmäßig unterlegenen Heeres zu sichern, um dann in der Schlacht die zusammengepferchte Front des Gegners von der Flanke aus anzugreifen. Man kann zwar nicht behaupten, dass diese topografisch bedingten strategischen Züge unmittelbar ersichtlich werden, wohl aber, dass die Bewegungen der Truppen sich aus der Lage von Bergen, Ebenen und Schluchten ergeben, wie es später Pieter Bruegel d. Ä. ebenfalls in einigen Gemälden vorführte (vgl. Abb. 232 und 236). Die grandiose Weltlandschaft, die sich dem Betrachter aus der Vogelperspektive darbietet, kann durchaus als eine malerische Umsetzung der zeitgenössischen Kartografie gesehen werden. Unter anderem wurde auf die Landkarte in der schedelschen Weltchronik aus dem Jahr 1493 (Blatt XIII) verwiesen, wo dem Betrachter das östliche Mittelmeer und

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127b Alexanderschlacht (Detail).

das Nildelta rudimentär vor Augen stehen. Dementsprechend konnte Meckseper in unserem Gemälde das östliche Mittelmeer, das Rote Meer, das Nildelta und die Große Syrte, im Gemälde vom kleinasiatischen Festland aus gesehen, ausmachen. Die gebirgige Insel dürfte Zypern sein.45 Natürlich handelt es sich hierbei nur um eine großräumige Indikation nach der Beschreibung des Aventinus, der auch die falsche Verortung der Schlacht vor der Stadt Taurus in Schedels Weltchronik korrigiert. Allerdings erscheint dort wie auch hier links der Babylonische Turm im Hintergrund  ; dies entspricht jedoch in etwa der tatsächlichen topografischen Verortung. Es bedurfte nicht vieler Hinweise, um die historische Dimension der Alexanderschlacht zu vergegenwärtigen und es dem Betrachter als exemplum eines bedeutsamen Moments der Weltgeschichte vor Augen zu halten. Während die übrigen in Auftrag gegebenen Historienbilder Vorkommnisse aus der römischen Geschichte und ihrer Helden schilderten, ging es hier um die Auseinandersetzung zwischen zwei Weltreichen, dem älteren im Osten und dem jüngeren im Westen. Ein vergleichbarer, seit dem 8. Jahrhundert anhaltender Kampf war zwischen dem christlichen Abendland und den Muselmanen bzw. den Osmanen entbrannt, aber diese Konfrontation zweier Weltreiche fand in den anderen Schlachtendarstellungen in München naturgemäß keine Berücksichtigung. Wie bereits erwähnt, ist die Vergegenwärtigung des Geschehens in Bezug auf die Gegenwart des frühen 16. Jahrhunderts durch die Ausstattung der Truppen, ihrer Rüstungen und Waffen, die dem Betrachter vertraut waren, gegeben. Wir sehen Landsknechte mit Lanzen und Helle-

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127a Albrecht Altdorfer, Die Alexanderschlacht, 1529. Alte Pinakothek, München (Farbtafel VIII).

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barden, wie sie bereits von Altdorfer und den anderen Hofmalern Maximilians I. in dessen Triumphzug vorgestellt worden waren, während die Perser zu Türken mutiert sind. Im Gegensatz zu den herkömmlichen Historienbildern wird das Geschehen in Altdorfers Darstellung nicht von den einzelnen Figuren entscheidend geprägt, auch wenn die Hauptprotagonisten, Alexander und Darius, den Quellen entsprechend durch die Komposition geschickt herausgestellt werden (vgl. unten). Maßgeblich ist die weite, geradezu kosmische Perspektive, von der aus die Lage und die Bewegungen der einzelnen Kohorten, die wie gesagt von der Strategie und der Topografie bestimmt werden, zu erkennen sind. Nicht das Individuum, sondern das Kollektiv ist Gegenstand der Darstellung. Keine göttliche Macht in Gestalt eines deus ex machina scheint zu obwalten. Die Geschichte vollzieht sich gleichsam als unpersönliche, übergeordnete Macht. Die Schlacht selbst spiegelt die zunehmende Mechanisierung des Kriegshandwerks wie auch die Anonymisierung der Protagonisten wider, die als Individuen unbedeutend, insektenhaft erscheinen. Der Zeitaspekt erhält hierbei eine neue Qualität, denn der entscheidende Moment der Schlacht, die Peripetie, tritt erst bei näherer Betrachtung hervor, während der übergreifende Vollzug des Geschehens den ersten Eindruck beherrscht. Die Darstellung erhebt den Anspruch auf historische und topografische Authentizität und entspricht so der Ausrichtung der aufstrebenden historischen Wissenschaft der Zeit. Ein wichtiger, wenn nicht sogar entscheidender Anstoß zu Altdorfers Konzeption der Darstellung dürfte m. E. von Dürer stammen. 1527 erschien dessen Etliche Underricht zu Befestigung der Stett, Schlosz und flecken, gedruckt bei Hieronymus Andreae in Nürnberg (Abb. 128).46 In dieser „Befestigungslehre“ findet sich eine Darstellung der Belagerung einer Stadt aus der Vogelperspektive. Zwei querformatige Bildstöcke wurden zusammengefügt und so ein Panorama mit einer befestigten Stadt links und einem weiten Landstrich mit etlichen Feuersbrünsten im Hintergrund und einer Ebene im Vorder- und Mittelgrund geschaffen, in dem gewaltige Heeresverbände in geometrisch geordneten Heerhaufen erscheinen. Die Einzelfiguren sind wie kleine Punkte über die weiße Bildfläche verteilt. Im Gegensatz zu Altdorfers Historiengemälde geht es hier nur um die Exemplifikation der taktischen Gruppierung von Heeresverbänden  ; aber die Vogelperspektive, die auch in der Kartografie eine Rolle spielte, sowie die extreme Maßstabsverkleinerung waren auch für die Alexanderschlacht maßgeblich. Genau wie Dürer, der von seiner Heimatstadt Nürnberg beauftragt worden war, die Befestigungen angesichts der Bedrohung durch die Türken zu verstärken, wurde Altdorfer infolge der

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Belagerung Wiens im Auftrag Regensburgs 1529 dort mit derselben Aufgabe betraut. Einmalig ist in der Alexanderschlacht die Zusammenschau einer makrokosmisch anmutenden Weltlandschaft mit der unerschöpflichen Fülle von Einzelfiguren, die in Massen zusammengefasst in Bewegung geraten. Dennoch schält sich optisch der entscheidende Augenblick der Schlacht heraus  : Unterhalb des kegelförmigen Berges tut sich inmitten der Wogen der Kämpfenden eine Leerstelle auf. Dort sehen wir den von rechts anstürmenden Welteroberer auf seinem gepanzerten Streitross, durch die Inschrift Alexander Magnus gekennzeichnet  ; er befindet sich in der Verlängerung der Mittelachse des Bildes, die durch den an einer Schnur hängenden Ring angezeigt wird. Darius, der mächtigste König der Epoche, ist in seinem sichelbewehrten Streitwagen bereits dabei, die Flucht durch eine Schneise, die sich unter den Kämpfenden von der Mittelachse aus schräg nach links auftut, zu ergreifen. Der erwähnte Ring hängt in leichter Drehung genau im Fluchtpunkt des Bildes, der sich auf der Horizontlinie der Landschaft, auf der Scheide zwischen Himmel und Erde befindet. Winzinger hat darauf hingewiesen, dass das Gemälde später vor allem der Himmel oben beschnitten und die Inschriftentafel entsprechend verkleinert wurde  ; die ursprünglich in Deutsch abgefasste Inschrift wurde nachträglich ins Lateinische übersetzt  : „Alexander der Große besiegt den letzten Darius, nachdem in den Reihen der Perser 100.000 Mann zu Fuß erschlagen und über 10.000 Reiter getötet wurden. Während König Darius mit nicht mehr als 1000 Reitern sich durch Flucht retten konnte, wurden seine Mutter, seine Gattin und seine Kinder gefangen genommen.“47 Eine zeitliche Diskrepanz dieser gerundeten, eigentlich unwahrscheinlichen Zahlen ergibt sich durch einen Vergleich mit den Inschriften, die sich auf den Fahnen der Truppen befinden  : Da heißt es z. B., dass Alexander 32.000, Darius nur 300 Feinde erschlagen habe  ; auf einer anderen ist von 4000 getöteten Reitern bzw. 150 aufseiten der Hellenen die Rede. Koselleck hat auf den bewussten Anachronismus dieser statistischen Hinzufügungen hingewiesen, da viele Protagonisten, die bald selbst zu den Gefallenen zählen sollten, diese Zahlen bereits auf ihre Fahnen geheftet haben (Abb. 127b).48 Wenn auch erst bei näherer Betrachtung erkennbar, ist die Darstellung auf eine Verdichtung des Schlachtgeschehens auf den entscheidenden Höhepunkt der Handlung hin, den Angriff Alexanders auf Darius selbst, angelegt. Dies entspricht der Dramentheorie  : Die Einheit von Ort, Zeit und Handlung, historisch untermauert und unter Berücksichtigung der neueren geografischen Kenntnisse, wird hier eingehalten. Was den Höhepunkt betrifft, ist der Umschlag

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128 Albrecht Dürer, Belagerung einer Stadt. Befestigungslehre, Nürnberg 1527.

durch die sich abzeichnende Niederlage des Darius bereits erfolgt, nicht unähnlich der Darstellung in dem bekannten Mosaik aus dem Haus des Fauns in Pompeji, das sich heute in Neapel befindet, aus der zweiten Hälfte des zweiten Jahrhunderts v. Chr. nach einem Original des Philoxenos (vgl. Bild/Zeit, I, 1996, S. 123 f. und Abb. 122). Im Unterschied zu jenem Mosaik hat Altdorfer die räumliche Komponente quasi ins Kosmische gesteigert und so der historischen Dimension zu einem unerhörten Ausdruck verholfen. Die grandiose Schilderung der aus der Vogelperspektive erfassten Mittelmeerlandschaft und der kleinasiatischen Küste wird mit der dramatischen Gestaltung des Firmaments kombiniert, das ursprünglich noch höher reichte und die Höfe des Mondes und den Wirbel um die Sonne ohne Überschneidungen zeigte. Die leichte Wölbung des Horizonts, dessen Apex mit dem Ring an der Schur zusammenfällt, aktualisiert in neuartiger Form das Bewusstsein um die Kugelform der Erde, über der sich die Kräfte des Firmaments im Spannungsfeld zwischen Mond und Sonne ballen. Dass wir es hier mit einer Entsprechung des Kampfes zwischen Orient und Okzident, Darius und Alexander, zu tun haben, dürfte jedem Betrachter gewärtig gewesen sein. Hinter der Wüstenei der afrikanischen Gebirgsketten brechen die Sonnenstrahlen hervor und durchdringen die dunklen Wolken, die sich nach links, wie Winzinger bemerkt, auflösen. Die leicht gedrehte Inschriftentafel mit den flatternden Bändern, nachträglich mit der kürzeren lateinischen Inschrift versehen, vermittelt zwischen Sonne und Mond links oben. Das Kräftemessen auf der Erde setzt sich im Kosmos fort, die Historie gewinnt überirdische Signifikanz. Im Augenblick der Entscheidung fällt der Sieg aus dem Strom der irdischen Zeit heraus, erhält durch die geniale künstlerische Umsetzung qualitative Dauer.

Das hier Vorgebrachte deckt sich in etwa mit Praters jüngst angestellten Überlegungen zur Zeitstruktur in der Alexan­derschlacht. Zum einen gehe es um den historischen Verlauf der Schlacht selbst, um die Zeit des historischen Ereignisses, bei dem die Individuen mit Ausnahme der beiden Hauptakteure und der Peripetie der Schlacht als Teile des Kollektivs keine Rolle spielen. Bei der Betrachtung aus der Nähe tue sich das Paradoxon auf, dass der Betrachter sich die Zahlen der Truppenstärken und der Gefallenen, die wie erwähnt auf den Standarten aufgelistet sind, zu Gemüte führen kann und so aus der Nähe innerliche Distanz gewonnen wird.49 Die Ereigniszeit wird nach Prater der historischen Sicht und der damit zusammenhängenden Reflexion untergeordnet. Schlussendlich werde in dieser Darstellung der Weltlandschaft der Gang der Planeten selbst aus einer Perspektive erfasst, die das irdische Zeitmaß übersteige, quasi sub specie aeternitatis von der Warte des Schöpfers aus, außerhalb von Zeit und Raum gesehen. Altdorfers Gemälde steht der Nachwelt bis heute als ein paradigmatisches Beispiel historischer Signifikanz vor Augen. Dies wird auch aus den begeisterten Worten Friedrich Schlegels ersichtlich, der das Wunderwerk in der Restaurierwerkstätte des Louvre sah und im abnehmenden Mond und in der aufgehenden Sonne ein ebenso „deutliches als großes Sinnbild der dargestellten Geschichte“ erkannte. Vor solcher Bedeutsamkeit muss die Logik der Gesetze der Natur weichen – sehen wir doch die Sonne im Süden aufgehen, sodass die „verborgene Symbolik“, um auf den umstrittenen Ausspruch Panofskys zurückzugreifen (vgl. Bild/Zeit, II, 2004, S. 162 f.), deutlich auf eine höhere Macht und Bedeutsamkeit hinweist, die das zeitliche Gefüge der Planetenbahnen außer Kraft setzt. Ullman hat allerdings entgegen den herkömmlichen Interpretationen die Sonne als „untergehend“

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gesehen – der Mond kündige die einbrechende Nacht und damit das Ende des Kampfes an.50 Bei einer solchen Deutung entfällt die Parallelität von irdischem und kosmischem Geschehen – aber auch in diesem Fall führt die Übersteigerung des historischen Augenblicks zu einer bewussten Vernachlässigung des tatsächlichen Zeitgefüges der Planetenbahnen, denn die Sonne befindet sich immer noch, von Kleinasien aus gesehen, im Süden, am Rande Afrikas. So wie die Historie sich eigentlich immer aus einer qualitativen Selektion und Strukturierung von Fakten konstituiert, so sind die Versuche der bildenden Kunst, historische Ereignisse zu vergegenwärtigen und in ihrer Bedeutung erkennbar zu machen, zugleich von der Imagination des Künstlers abhängig. Ihm steht es frei, gelegentlich, wenn gestalterisch notwendig und vorteilhaft, auch die physikalischen Gesetze von Zeit und Raum außer Kraft zu setzen. Anstatt die Sonne im Westen untergehen zu lassen, steht sie eben über dem afrikanischen Kontinent. Auch für den Fall, dass sie aufginge, stimmt die Himmelsrichtung nicht mit dem Panorama überein. Die Ikonik hat eben auch im Historienbild das Sagen.

Tizian Neugestaltung des Historienbildes Venedig konnte seit den 1470er-Jahren auf eine gefestigte Tradition kollektiv ausgerichteter Historienbilder zurückblicken, welche die Geschichte der Stadt und das Wirken ihrer Funktionsträger zum Gegenstand hatten (vgl. Bild/Zeit, II, 2004, S. 216 ff.). Repräsentation und Staatszeremoniell gelangen hier in einer der Vedute vorgreifenden städtischen Topografie zum Ausdruck. Die Verschiebung von einer übergreifenden, eher statischen Wiedergabe der historischen Begebenheiten, welche die physische Präsenz und Individualität der Protagonisten als zweitrangig erscheinen ließ, zur Darstellung einer dynamischen Handlung, des aktiven Eingreifens der Protagonisten in das historische Geschehen, wurde vorerst von Leonardo in der Anghiarischlacht um 1503/04 bewerkstelligt, die der spezifischen Gattung des Schlachtenbildes eine neue Qualität der Unmittelbarkeit verlieh (S. 179 und Abb. 118). Diesen vorgezeichneten Weg ist Tizian weitergegangen.

Die Schlacht von Cadore 1513 erhielt Tizian von der Serenissima den Auftrag, ein Historienbild der „Schlacht von Cadore“ für die Sala del

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Gran Consiglio im Dogenpalast anzufertigen  ; vollendet wurde das Gemälde allerdings erst 1538.51 Über die Dynamik der Darstellung, die uns durch einen Stich Giulio ­Fontanas und den rudimentären Entwurf in Form einer Kreidezeichnung im Louvre überliefert ist, besteht kein Zweifel – leider fiel das Werk mit den früheren venezianischen Historienbildern dem verheerenden Brand im Dogenpalast von 20. Dezember 1577 zum Opfer. Man kann sich gut vorstellen, wie markant sich Tizians Darstellung von den früheren statischen Historienbildern Gentile und Giovanni Bellinis abgehoben haben dürfte. 1508 stießen die Truppen Maximilians I. an der Grenze von Italien in Cadore auf erbitterten Widerstand. Den Venezianern gelang es, den Einmarsch eine Zeit lang aufzuhalten. Anlässlich dieses eher symbolischen Sieges erhielt der junge Tizian, dessen Vater und andere Verwandte sich in Cadore bei dieser Gelegenheit ausgezeichnet hatten, 1513 den Auftrag, ein kommemoratives Bild des Sieges der Venezianer auszuführen. Unklarheit herrscht darüber, ob dieser ursprüngliche Auftrag dem Kampf auf der Brücke von Cadore galt oder auf eine frühere Begebenheit abzielte, nämlich auf die Schlacht zwischen Papst Alexander III. und Friedrich Barbarossa bei Spoleto im Jahr 1155. Bereits 1494 war Pietro Perugino mit der Darstellung eben dieses Kampfes bei Spoleto als Ersatz für ein Schlachtenbild aus dem Trecento im Dogenpalast beauftragt worden. Die meisten vorangehenden Historienbilder von Gentile und Giovanni Bellini aus den 1470er- und 1480er-Jahren in der Sala Maggiore hatten bereits die bedeutenden Ereignisse aus dieser Zeit der venezianischen Geschichte zum Thema, da Venedig unter dem Dogen Ziani eine rühmliche Rolle als Vermittler zwischen Kaiser und Papst gespielt und die Stadtrepublik danach einen entscheidenden Aufschwung erfahren hatte. Bereits im 16. Jahrhundert herrschte Unstimmigkeit über das Sujet von Tizians Historienbild. Dolce gibt keinen Titel an. Vasari spricht von der „Rotta di Chiaradadda“, und Francesco Sansovino von der „Battaglia di Spoleto“  ; Carlo Ridolfi spielt später auf die „Battaglia di Cadore“ an. Tizians Schlachtenbild ist wie erwähnt 1577 verbrannt. Eine Kopie befindet sich in den Uffizien, desgleichen ein Stich von Giulio Fontana aus dem Jahr 1569  ; weitere Vorstudien aus der Hand des Meisters, meistens in schwarzer Kreide ausgeführt, befinden sich in den Uffizien, im Louvre, in München und in Oxford.52 Ob es sich um Entwürfe für das Schlachtenbild von 1513 handelt, ist fraglich  ; fertiggestellt wurde das Gemälde erst 1537 und aus dieser Zeit stammt die großzügige Zeichnung in schwarzer Kohle mit der dramatischen Szene im Louvre (Abb. 129), die im Aus-

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129 Tizian, Entwurf für die Schlacht von Cadore, 1537. Louvre, Paris.

stellungskatalog von 1990 besprochen wird. Tizian habe letztendlich den ursprünglichen Auftrag im August 1538 zu Ende geführt. Wie Valcanover 1978 glaubhaft machte, dürfte der Doge Andrea Gritti zu dieser Zeit eher an dem venezianischen Sieg über die kaiserlichen Truppen bei Cadore interessiert gewesen sein, sodass der ursprüngliche Entwurf von 1513, sollte er sich auf die battaglia bei Spoleto beziehen, womöglich adaptiert werden musste.53 Dies war für den Maler wohl ein Leichtes, denn es handelte sich nicht um die genaue Rekonstruktion einer Schlacht, sondern um die Darstellung eines Kampfes an seinem Höhepunkt – freilich an dem markanten Ort einer Brücke, die mit den angedeuteten schroffen Bergen im Hintergrund gewiss an die Topografie Friauls erinnert. Zusam-

menballungen von Figuren, hineinsprengende Reiter, ungestüm vorwärtsdrängend und auch fallend, verleihen der Szene einen hohen Grad an Dynamik. Dies wird auch anhand der anderen erhaltenen Zeichnungen im Louvre, in der Münchener Graphischen Sammlung und im Ashmolean Museum in Oxford ersichtlich (vgl. Anm. 51). Tizians „Schlacht von Cadore“ schließt sich ohne Zweifel an Leonardos Anghiarischlacht an, die in ähnlicher Weise das Kampfgetümmel auf einen dramatischen Höhepunkt hinführt. Auch Tizian schildert die Entladung von Bewegung und Gewalt sowohl in einzelnen Figuren als auch in Bezug auf die kämpfende Masse. Wiewohl wir nicht wissen, wie viel Aufmerksamkeit dem Ambiente des Geschehens geschenkt wurde, können wir davon ausgehen, dass Tizian in

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verstärktem Maße darum bemüht war, auch der Topografie und der spezifischen Örtlichkeit seines Heimatdorfes Rechnung zu tragen. So dürfte es ihm gelungen sein, Ort, Zeit und Handlung in diesem Historienbild nach der Vorgabe der aristotelischen Dramentheorie zusammenzuführen. Die Darstellung scheint allein dem Augenblick verpflichtet – Leichen und Affektfiguren im Vordergrund tragen dazu bei, den Betrachter in Angst und Schrecken zu versetzen. Von historischen Reflexionen, wie sie bereits in den Historienbildern Raffaels und Altdorfers zu vermerken waren, kann hier eigentlich keine Rede sein.

Historie und Porträt Die Historienmalerei des 16. Jahrhunderts wurde in zunehmendem Maße von der Sichtweise des Auftraggebers und seiner gesellschaftlichen Stellung mitbestimmt. Für die formale Gestaltung wurde verstärkt auf Vorgaben der Rhetorik zurückgegriffen – ging es doch darum, den Zuhörer (oder auch den Betrachter) mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln von der künstlerisch verpackten Botschaft zu überzeugen. Dabei spielte die Gebärdensprache der agierenden Personen, die nach Cicero bekanntlich als das zweite, neben der Sprache wirkungsmächtigste Mittel des Redners einzusetzen ist, auch in der rhetorisch ausgerichteten bildenden Kunst eine primäre Rolle. Das „stumme Bild“ sollte zum Sprechen gebracht werden und dem Betrachter sollten Gedanken und Gefühle, ethos und pathos, unmittelbar vermittelt werden.54 In der Einleitung zum Kapitel über die Zeit bei Tizian wird nachdrücklich auf sein Vermögen hingewiesen, Präsenz und Ausstrahlung des dargestellten Individuums bildmächtig in Szene zu setzen (S. 211). Dies kann als ein Markenzeichen seiner Porträtkunst vom Beginn an gelten – der Mensch wird ganzheitlich, in der Dominanz seiner Erscheinung erfasst. Dies führte dazu, dass Tizian auch in der Gattung der Historienmalerei eine Wende herbeiführte, indem die Porträtierten nicht, wie es schon länger Usus war, in historische, mythologische oder sakrale Rollen schlüpfen, sondern vielmehr den Habitus der Gegenwart und die Anlehnung an klassische Haltungen oder Posen gesellschaftlicher oder ritueller Natur beibehalten. Panofsky spricht in diesem Zusammenhang von dem Phänomen der „Transplantation“, einer Art „Klassizismus in Verhüllung“.55 Die Frage ist, ob es hier nur um Bildkonventionen geht oder ob es sich nicht eher um eine Form von semiotischen Codes handelt, die von den Protagonisten als kulturelles Gut mehr oder weniger bewusst übernommen werden, um im entscheidenden Moment eingesetzt zu werden. Die Grenze zwischen Porträt und Historie ist, wie hier

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erkennbar, fließend. Herkömmliche Szenen wie die Anbetung von Madonna und Kind dienen durch die Einführung von zeitgenössischen, meist lebenden Personen der Vergegenwärtigung. Die Fiktion erhält einen realistischen Charakter (vgl. Bild/Zeit, II, 2004, S. 34, 73 und 111 f.; hier sei auf Tizians Pesaroaltar von 1518–1526 oder auf das „Votivbild des Dogen Andrea Gritti“ 1531 verwiesen, das beim Brand im Dogenpalast von 1577 vernichtet wurde, aber in einem Stich in den Uffizien überliefert ist). Um 1540 gelangt Tizian zu monumentalen Darstellungen von Ganzfiguren, die nicht nur als Porträts, sondern auch als Historienbilder einzustufen sind. Im Gegensatz zu früheren Porträts in Halbfigur, die zwar repräsentativ sind, aber keine Handlung im engeren Sinn zulassen, treten die Protagonisten nun in Aktion. Es kommt auf die Vergegenwärtigung eines spezifischen historischen Moments an, die das Alltagsgeschehen übersteigt und dem Agierenden als Vollstrecker überzeitliche Bedeutung verleiht. In Tizians Ausformung des Historienbildes steht das Individuum im Fokus. Kraft seiner Persönlichkeit vermag es in den Gang der Geschichte einzugreifen. Nicht so sehr die universalhistorische Perspektive gibt hier den Rahmen vor, sondern die Dynamik des Augenblicks, der Höhepunkt im tatsächlichen Ablauf der Handlung. So verlagert sich das Augenmerk auf die politische Gegenwart des betrachtenden Subjekts, auf das Porträt eines Individuums, das in das zeithistorische Geschehen gestaltend eingreift. Dabei kann es sich um die Bezugnahme sowohl auf ein spezifisches Ereignis handeln als auch auf eine allgemeine politische Situation. Letztere lässt sich ungleich schwerer in überkommenen Formprägungen fassen als bestimmte historische Begebenheiten. So greift Tizian auf das Mittel der Allegorisierung zurück und lässt imaginierte Gestalten mit den Porträtfiguren in unterschiedlichen Situationen als Agierende auftreten. Begriffe wie Religion, Tugend, Macht und Friede erscheinen als reale Akteure, welche den „realen“ Protagonisten auf Augenhöhe begegnen. Im Folgenden sollen sechs Porträts, die im Zeitraum von 1540–1575 entstanden sind, besprochen werden, um Tizians spezifischen Beitrag zur Gattung der Historienmalerei zu exemplifizieren. Der Zeitlichkeit werden dabei neue Aspekte abgewonnen  ; insbesondere Tizians Kombination von Porträt und Zeitgeschichte konnte späteren Meistern wie Rubens oder Velázquez als Vorbild dienen.

Die Adlocutio des Alfonso d’Avalos Vermutlich im Januar 1539 erhielt Tizian den Auftrag, ein Porträt in Ganzfigur vom Oberbefehlshaber der kaiserlichen

Tizian

Armee, Alfonso d’Avalos, Marchese von Vasto, anzufertigen (Prado, Madrid  ; Abb. 130). Der Marchese ist in Prunkrüstung mit dem Kommandostab in der Hand in demjenigen Augenblick geschildert, als er sich mit rhetorischer Geste an seine Truppe wendet. Alle Interpreten haben die Darstellung der Figur mit der römischen Gepflogenheit in Verbindung gebracht, dass der Befehlshaber vor einer entscheidenden Schlacht aufmunternde Worte an seine Kohorten richtet, die sog. adlocutio. Tizian hat sich dieser ikonografischen Tradition angeschlossen.56 Das Thema ist häufig auf antiken Münzen zu finden. Domenico Ghirlandaio hat die adlocutio in einer bekannten Grisailledarstellung in der Sassettikapelle in Santa Trinità in Florenz (ca. 1483–1485) verewigt, des Weiteren Giulio Romano in mehr monumentaler Form, nämlich in der „Allocutio Kaiser Konstantins vor den Truppen“ in der Sala del Costantino im Vatikan (um 1520–1524). Die Darstellung Tizians bezieht sich auf eine Begebenheit, die sich während der Kampagne gegen Suleiman II. in Ungarn im Jahr 1530 zugetragen hat, als die kaiserlichen Truppen zu revoltieren drohten. Alfonso d’Avalos vermochte sie mit einer beherzten Rede umzustimmen. Tizian hat sich recht genau an die Vorgaben gehalten. Am Podest des Redners, der mit ausfahrender Geste alle Blicke auf sich zieht, steht ein Landsknecht mit dem rechten Arm hinter dem Rücken verschränkt – eine negativ konnotierte Haltung, der wir sowohl bei manchen Abendmahldarstellungen in der Figur des Judas begegnen als auch in Giorgiones Fresko mit der Justitia am Fondaco dei Tedeschi um 1508. Vor Tizians Gemälde wähnt sich der Betrachter selbst als Teil der Menge und blickt zum Redner empor. Großer Wert wurde auf die zeitgemäße Rüstung gelegt, die von Tizian „a l’usanza di oggi“ auferlegt wurde. Als Helmhalter, und wohl auch als Zukunftshoffnung, sehen wir die nicht ganz überzeugende Figur des Sohnes Don Francesco Ferrante, der zur Zeit der Revolte gerade erst geboren wurde und nun, rund zehn Jahre später, in das Geschehen eingeführt wird – also eine Zeitkorrektur, die wohl auf den Wunsch des Auftraggebers hin erfolgt ist in der Absicht, den Gegenwartsbezug des Geschehens stärker ins Bewusstsein zu rücken und eine Perspektive in die Zukunft zu eröffnen. Bereits 1531 war der Marchese in Bologna in direkten Kontakt zu Tizian getreten und zu Beginn des Jahres 1533 ließ er sich von ihm porträtieren.57 Auch in diesem Porträt, das sich heute in der Sammlung Ganay in Paris befindet, sehen wir einen kleinen Helmträger am unteren Bildrand, der von Krautheimer mit einem Zwerg in Verbindung gebracht wurde.58 Das beeindruckende große Porträt von Alfonso d’Avalos im Prado ist pathetisch-rhetorisch ausgerichtet und lässt den dramatischen Augenblick der historisch beglaubig-

130 Tizian, Allocutio des Alfonso d’Avalos, 1539. Prado, Madrid.

ten Situation entsprechend aufscheinen. Nicht zuletzt das ins Auge springende kräftige Rot im Mantel des Redners und das gebrochene Purpur im Gewand des bedrohlichen Landsknechts in der Rückenansicht, der als Gegenspieler des Feldherrn ins Spiel gebracht wird, tragen zur inneren Spannung der Szene bei, noch bevor der glückliche Umschlag des Geschehens eintritt. Die „Adlocutio des Alfonso d’Avalos“ kann demnach als ein paradigmatisches Bild einer zeithistorischen Begebenheit gelten. Dynamisch, auf die Gegenwart und die allernächste Zukunft gerichtet, affiziert es den Betrachter, der durch den niedrigen Augenpunkt selbst in das Geschehen einbezogen wird. Die unmittelbare Wirkung ist stärker, als sie die Historienmalerei bislang zu wecken vermocht hatte.

Der Kasseler Kavalier Ein in der Anlage ähnliches Gemälde steht uns im Porträt des sog. „Kasseler Kavaliers“ in der Staatlichen Kunstsammlung in Kassel, das auf um 1550 anzusetzen ist, vor Augen

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132 Tizian, Spanien kommt der Religion zu Hilfe, ca. 1566. Prado, Madrid.

131 Tizian, Der Kasseler Kavalier (Gabriele Serbelloni), 1548. Staatliche Kunstsammlung, Kassel.

(Abb. 131). Hans Ost hat das Gemälde einer akribischen Analyse unterzogen  : das fantasievolle Kostüm, den Speer, der sich als ein Sauspieß herausstellt, und den Hund, der auch in einem Spätwerk von Tizian „porträtiert“ wurde (das letztere Bild stammt aus der Sammlung Serbelloni in Mailand und befindet sich heute im Museum Boymans van Beuningen in Rotterdam). Am Ende der Indizienkette gelangt Ost zu dem Schluss, dass es sich beim „Kasseler Kavalier“ um den Feldzeugmeister der kaiserlichen Truppen, Gabriele Serbelloni, handelt, der auch bei der Schlacht von Mühlberg 1547 eine wichtige Rolle spielte.59 Bei dieser Gelegenheit wurde der Kurfürst Friedrich von Sachsen gefangen genommen und mit dem Epitheton des „Wildschweins“ bedacht. Tizian kannte den Kontrahenten Karls V. (und Serbellonis), denn während seines ersten Aufenthalts in Augsburg 1548 oder bei seinem zweiten 1550/51 fertigte der Maler im Auftrag Maria von Ungarns ein Porträt des Kurfürsten an, das sich heute im Kunsthistorischen Museum in Wien befindet. Diese historischen Umstände dienen Hans Ost als Schlüssel zum Verständnis des Kasseler Bildnisses, denn Serbelloni als höfischer Jäger mit einem Sauspieß und von einem Amorin und einem

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Jagdhund begleitet sei der Jäger, der den Eber bei der Schlacht von Mühlberg zur Strecke gebracht habe. Während des zweiten Aufenthalts in Augsburg befand sich der Kurfürst immer noch im Gewahrsam des Kaisers. Nur indirekt, rebushaft und verschlüsselt öffnet sich für den kundigen Betrachter somit ein zeithistorischer Horizont. Der Kasseler Kavalier ist ein gutes Beispiel dafür, wie ein lange unerkannt gebliebenes Porträt sich als ein historisch aussagekräftiges Bild entpuppen kann.

Spanien kommt der Religion zu Hilfe Das letzte von Tizian für den Herzog von Ferrara, Alfonso d’Este, gemalte Bild war zur Zeit seines Todes 1534 noch unvollendet. Vasari hat das Gemälde bei seinem Besuch in Venedig 1566 in Tizians Werkstatt noch im ursprünglichen Zustand gesehen  : un quadro d’una giovane ignuda che s’inchina a Minerva, con un’altra figura accanto, ed un male  ; dove nel lontano è Nettuno inmezzo, sopra il suo carro …60 Bei diesem Gemälde handelt es sich also ursprünglich um ein my-

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thologisches Thema, nach Wittkower vermutlich um eine Gegenüberstellung von Minerva und einer unbekleideten Venus, die sich ihr unterwirft (Abb. 132).61 Erika Tietze-­ Conrat hat 1951 geltend gemacht, wir hätten es mit einer Allegorie des „bedrängten Ferrara“ zu tun, das sich zu Beginn des 16. Jahrhunderts in ständigen kriegerischen Auseinandersetzungen mit Venedig zu behaupten hatte. In einem Stich von Giulio Fontana, der nach der Autorin noch die wesentlichen Merkmale der Erstfassung des Gemäldes aufweist, sei hier die Bedrohung Ferraras durch die Schlangen und Neptun (auf die Seemacht Venedig anspielend) gemeint  ; Minerva, Siegerin und Tugendallegorie zugleich, wird vom „Frieden“ mit dem Olivenzweig begleitet. 1566, als Vasari sich kurz in Venedig aufhielt, gestaltete Tizian das Gemälde gerade um, um der großpolitischen Situation und dem neuen Auftraggeber, Kaiser Maximilian II., Rechnung zu tragen. Die Ikonografie wurde mit religiösen Motiven aufgestockt  ; über den Inhalt gibt eine Zeile in Fontanas Stich Auskunft, die besagt, dass es sich „um ein frommes Bild der Religion des unbesiegten Herrschers aller Christen“ handele.62 Die ikonografische Neuorientierung ist auf die unmittelbare Türkengefahr im Jahr 1566 zurückzuführen. Im November 1568 befand sich das Gemälde bereits im Besitz des Kaisers, aber diese Fassung scheint später verloren gegangen zu sein. Noch zwei weitere Varianten sind erhalten, eine in der Sammlung Doria-Pamphili in Rom und die andere im Prado. Beide weisen angeblich keine Pentimenti auf – es handelt sich somit um Repliken, wohl aus der Werkstatt Tizians.63 Das erste Gemälde befand sich in der Sammlung des Kardinals Pietro Aldobrandini und entspricht recht genau dem Stich  ; das zweite Gemälde, jetzt im Prado, wurde Ende September 1575 zusammen mit der „Allegorie der Schlacht von Lepanto“ an Philipp II. geschickt (Abb. 132). In seiner großzügigen Malweise und gebrochenen Farbigkeit entspricht es ganz dem Spätstil des Meisters. Minerva hat Änderungen erfahren  : Das Haupt der Gorgo an ihrer Brustspange wurde durch einen Engelskopf ersetzt  ; die Rechte der Göttin ruht auf einem Schild  ; die Begleiterin hält nicht mehr einen Olivenzweig, sondern ein Schwert in den Händen  ; die Schlangen beziehen sich nunmehr auf die Häresie und Neptun wurde mit einem Turban versehen. Minerva ist zu einer Ecclesia militans mutiert, die nach der Seeschlacht bei Lepanto 1571 mit Spanien gleichzusetzen war  ; als stärkste politische Macht und Beschützerin der katholischen Kirche kommt sie der Religion zu Hilfe. Anstatt Ferrara (s. oben) nun die Gestalt einer büßenden Magdalena  ; hinter ihr sehen wir das Kreuz, vor ihr einen umgeworfenen Kelch. Die Schlacht ist indes schon gewonnen, denn zwischen der

133 Tizian, Die Seeschlacht von Lepanto, ca. 1572–1574. Prado, Madrid.

hehren Erscheinung der Ecclesia (oder Spanien) und der Religio häufen sich die Trophäen. Wir stehen somit vor einer Panegyrik des kaiserlichen Hauses, einer martialischen Machtdemonstration, die zugleich als Garant für den katholischen Glauben in Zeiten der Gegenreform zu dienen hatte.

Die Seeschlacht von Lepanto Noch deutlicher auf den historischen Sieg Spaniens über die Türken in der Seeschlacht von Lepanto 1571 ist das große historische Gemälde La Battaglia (oder Batalla Naval) von 1572–1574 ausgerichtet, an der die Venezianer maßgeblich beteiligt waren. Das Gemälde wurde 1575 zusammen mit der vorher besprochenen historischen Allegorie an ­Philipp II. geschickt (Abb. 133).64 Ausdrücklich wurde dabei der Wunsch geäußert, ein Werk mit denselben Maßen wie das Reiterporträt „Karl V. bei der Schlacht von Mühlberg“ (322 x 279 cm) zu erhalten. Das heute im Prado aufbewahrte Gemälde weist die Maße 335 x 274 cm auf. 1625 hatte Vicente Carducho den Auftrag erhalten, das Gemälde zu restaurieren und zu vergrößern  ; oben wurden 20, unten

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30 cm angestückt, an den Seiten jeweils 50 cm. Es ist anzunehmen, dass die ursprünglichen Maße denjenigen des Reiterporträts entsprachen  ; infolge von Beschädigungen, Restaurierungen und der notwendigen Vergrößerung ist das Gemälde zu dem heutigen Format gekommen. Dabei dürfte der gefangene Türke im Vordergrund wenn nicht erfunden, so doch größtenteils neu gemalt und der kleine weiße Hund auf der rechten Seite hinzugefügt worden sein. Die historischen Umstände des Auftrags sind geklärt  : Zum einen sollte der Seeschlacht von Lepanto, oder besser  : in den Gewässern von Patras, das hier nur schemenhaft im dramatischen Helldunkel des Hintergrunds zu sehen ist, vom 7. Oktober 1571 gedacht werden  ; zum anderen wurde dem König zwei Monate nach dem Sieg ein Sohn, der Infant Don Fernando, geboren. Wir sehen Philipp II. vor einer imposanten Säulenfront rechts auf einer Terrasse vor einem opulenten, mit einer schweren Decke überzogenen Tisch stehen, den kleinen Infanten in die Lüfte hebend. Von links oben schwebt die Siegesgöttin mit einem Palmenzweig herab, den sie dem Sprössling reicht. In der Rechten hält sie einen Siegerkranz. Ein Spruchband mit dem Motto „Majora tibi“ („Du wirst es besser machen“) bringt die mit dem Kind verbundene Zukunftshoffnung zum Ausdruck. Die siegreiche, glückliche Gegenwart und die vielversprechende Zukunft werden somit in diesem pathetischen Bild beschworen, das mit dem gefesselten Türken zugleich an römische Triumphdarstellungen erinnert. In den Quellen ist nicht von einer Victoria, sondern von einem Engel die Rede. In der Tat kann der Betrachter nicht umhin, an frühere Märtyrerdarstellungen (wie an „Petrus Martyr“ oder den „hl. Laurentius“) zu denken, die von einem herabschwebenden Engel die Märtyrerpalme als Zeichen der Seelenrettung empfangen. Auch wenn es zunächst um die Kommemoration eines Sieges geht, nimmt die Darstellung dennoch den Charakter eines Votivbildes an, indem der König das Kind praktisch der himmlischen Macht überantwortet. Panofsky hat in diesem Zusammenhang auf eine alte Bildprägung verwiesen, die in Gradualen und Missalen schon lange Tradition hatte  : die bildhafte Umsetzung jenes Augenblicks, in dem der Priester am ersten Sonntag im Advent die Eingangszeilen aus dem Psalm 25 (Ps 25, 1–2) spricht  : Zu dir, Herr, erhebe ich meine Seele. Mein Gott, auf dich vertraue ich. Lass mich nicht scheitern, lass meine Feinde nicht triumphieren  ! 65

In den Miniaturen sieht man den Priester am Altar die Seele in Gestalt eines Neugeborenen hochheben. Dementspre-

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chend haben wir es im Gemälde mit einem ähnlichen, liturgisch anmutenden Akt zu tun, bei dem das künftige Geschick des Königshauses und der Christenheit in Gestalt des Kindes der göttlichen Macht überantwortet wird. Dem König bzw. dem Priester wird dabei auch die Gewissheit des Sieges zuteil. Die historia ist der göttlichen Vorsehung unterstellt, in deren Dienst sich das Individuum im Zeitalter der Gegenreform im Glaubenskampf gegen die äußeren und inneren Feinde der Kirche zu bewähren hat. Die beiden großen allegorisierenden Historienbilder für Philipp II. sind propagandistische Lehrstücke, welche die Historienmalerei indirekt wieder auf religiöse Inhalte ausrichten. Ein gewisser Substanzverlust, was die Charakteristik des Individuums zugunsten des Deklamatorischen betrifft, ist nicht zu leugnen. Dies ist insbesondere auf die Funktion und Auftragslage dieser auf rhetorische Wirkung angelegten Werke zurückzuführen. Tizians ureigenste, authentische Form des Historienbildes, die unlöslich mit der Charakterdarstellung verbunden bleibt, zeichnet sein Schaffen in den 1540er-Jahren aus. Zwei bemerkenswerte, höchst persönliche Historienbilder des Venezianers, die nicht das historische Ereignis, sondern die Wirkung historischer Umstände auf das Individuum zum Ausdruck bringen, sollen hier zum Abschluss erörtert werden.

Paul III. und seine Nepoten Im Oktober 1545 kam Tizian nach Rom und wurde dort u. a. von Papst Paul III., Kardinal Alessandro Farnese und dem zweiten jungen Nepoten des Papstes, Ottviano Farnese, empfangen. Bereits 1543 hatte Tizian anlässlich der Begegnung von Karl V. und Paul III. in Ferrara das Porträt des Papstes geschaffen, das sich heute in Neapel befindet. Weitere Varianten wurden während des römischen Aufenthaltes des Malers 1545 ausgeführt. Für Alessandro hat der Maler ferner eine „Magdalena“ und einen „Ecce homo“ in Halbfigur geschaffen, für Ottaviano jene Version der „Danae“, die sich nunmehr im Museo Nazionale di Capodimonte in Neapel befindet. Gegen Ende des römischen Aufenthaltes im Frühjahr 1546 entstand das bemerkenswerte Gruppenporträt, das den alternden Papst mit seinen beiden Nepoten, die ihn umkreisen, zeigt (Abb. 134). Es ist eine in unterschiedlichen Rottönen schwelgende Symphonie, die es an Virtuosität mit der paradigmatischen Darstellung Raffaels von Leo X. und seinen beiden Neffen, Kardinal Giulio de’ Medici und Kardinal Lodovico de’ Rossi von 1518/19 (heute in den Uffizien), aufnehmen kann. Während Raffael die unterschiedlichen Rottöne als Lokalfarben stärker hervortreten

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134 Tizian, Paul III. mit Nepoten, 1546. Museo Nazionale di Capodimonte, Neapel.

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135 Tizian, Karl V. bei der Schlacht von Mühlberg, 1548. Prado, Madrid (Farbtafel XIV).

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lässt und die Szene klar, aber statisch gliedert, befinden sich die Protagonisten in Tizians Darstellung in kreisender Bewegung. Die Farben, alles Rottöne von Zinnober über Krapplack bis Karmin, durchziehen wie von Hetzer beschrieben den ganzen Farbträger  ; auch in den dunkleren Partien sind sie noch bestimmend – in den aufflackernden Partien der Gewänder, des Tischtuchs und der Draperie ein purgatorisches Feuer, das die drei Protagonisten bedrohlich umhüllt. Der Papst ist in seinem Sessel zusammengesunken, den jungen Ottaviano misstrauisch anblickend, der sich in serviler Haltung im Vordergrund anschleicht, und hinter ihm, aufrecht stehend, Alessandro Farnese, den Kontakt zum Betrachter herstellend. Panofsky hat hier ingeniös auf die „Transformation“ eines antiken Reliefs aufmerksam gemacht, das sich damals im Vatikan befunden habe. Es zeigt jenen Augenblick, in dem der Götterbote Merkur, stets unzuverlässig und bemüht, es allen recht zu machen, den neugeborenen Bacchus aus der Hüfte des Jupiter in Empfang nimmt.66 Tizians Gemälde ist mehr als nur ein Porträt – es zeigt die maßgeblichen Mitglieder der Familie Farnese in einem Spannungsfeld, das drei Jahre später zu einer Katastrophe führen sollte  : „Titian’s perceptive and experienced mind seems to have registered the subterranean disturbances within the Farnese family which, only a few years afterward, were to result in a frightful eruption.“67 Ottaviano bemächtigte sich gegen den Willen des Papstes 1549 Parmas und Piacenzas, um die sich sowohl der Kirchenstaat als auch Karl V. und Henri II. von Frankreich bemühten. Beim Treffen zwischen Kardinal Alessandro Farnese, der Ottaviano unterstützte, und Paul III. im November 1549 starb Letzterer am 6. November. Intuitiv hat Tizian mit der Inszenierung seines Porträts ein Stück Zeit- und Sittengeschichte geschaffen  : Es schildert eine Tragödie auf der Bühne des Lebens, die unheilvoll auf den Höhepunkt zusteuert. Der Maler ist der Maxime von Aristoteles’ Poetikà gefolgt und hat nicht nur das geschildert, was ist, sondern das, was möglich sein könnte.

Das Reiterbildnis Karls V. Bei seinem ersten Aufenthalt in Augsburg 1548 bekam Tizian den Auftrag, ein Reiterporträt von „Karl V. bei der Schlacht von Mühlberg“ vom 24. April 1547 anzufertigen (Abb. 135  ; heute im Prado, Madrid). Das Reiterbildnis, das zunächst in den Besitz von Maria von Ungarn überging, wurde im Zeitraum April bis September 1548 ausgeführt.68 Das Reiterporträt hat neue Maßstäbe gesetzt und diente hinkünftig als Vorbild für eine historisch-kommemorative Bildgattung, die bislang hauptsächlich von der Plastik abge-

deckt wurde (in ähnlicher Weise war Tizian mit dem Pesaroaltar praktisch in das Revier der plastischen Wandgräber mit ihrer rhetorischen Ausformung eingedrungen – ein Trend der sich bis zu seiner eigenen „Pietà“ in der Accademia in Venedig fortsetzen sollte). Auch die Zeitgenossen haben das Reiterbildnis offensichtlich in erster Linie als ein Historienbild gesehen, denn wie erwähnt wurde später bei der Bestellung der „Allegorie der Seeschlacht von Lepanto“ ausdrücklich von Philipp II. der Wunsch geäußert, es solle dieselben Maße wie das Reiterporträt haben – wahrscheinlich war eine Hängung der „Seeschlacht“ als Pendantbild zum Porträt des Vaters als Kriegsheld vorgesehen. Es wären dabei drei Generationen angesprochen worden  : der alte Kaiser im Augenblick des Ruhms, sein Sohn als ein miles christianus der Gegenwart und der Infant als Hoffnungsträger, dem höhere Weihen in der Zukunft zukommen sollten. Wie beim „Petrus Martyr“ kann man von einem Gleichgewicht von Figur und Landschaft sprechen, die sich gegensei­tig bedingen und tragen. Der Kaiser auf seinem dahinsprengenden Ross ist kompositorisch fest mit der Örtlichkeit der Schlacht verbunden. Der Reiter erscheint allein auf weiter Flur  ; im Widerschein der untergehenden (?) Sonne löst er sich im Flächensinn von der dunklen Masse des Waldes links. Die Lanze, womöglich auf die hasta, das Attribut des römischen Feldherrn anspielend, verdeutlicht die Bewegungsrichtung und trägt formal zur Absprengung von Pferd und Reiter von der Landschaftskulisse bei.69 Das helle Karmin der Decke, farbig durch die etwas dunkleren Federbüsche am Helm und am Pferdekopf verstärkt, sowie das stählerne Grau der Rüstung werden in das dunkle Olivgrün der Bäume, den grün-bräunlichen Boden und den verhangenen Himmel eingearbeitet. Die Landschaft erglüht im Abendlicht und ihre Farben werden beim Reiter noch gesteigert. Am stärksten tritt die Lokalfarbe im Zinnober des schmalen Bandes vom Orden des Goldenen Vlieses an der Brust des Kaisers hervor (Hetzer), wodurch die Aufmerksamkeit des Betrachters auf das leidende, von Licht getroffene Antlitz gelenkt wird. In diesem Reiterbildnis geht es nicht so sehr um die triumphale Erhöhung des siegreichen Feldherrn, sondern vielmehr um die Zerbrechlichkeit der menschlichen Existenz im Augenblick des großen Sieges. Denn während der Kaiser in der geschwinden Bewegung erfasst und für den Bruchteil einer Sekunde aus dem Strom der Zeit gerissen wird, der bevorstehende Sieg und der Ruhm sich bereits in dem gespannten Gesichtsausdruck und der natürlichen Gloriole des Himmels abzeichnen, neigt der Tag sich zugleich seinem Ende zu. Auch dieser Augenblick der historischen Erfüllung wird letztlich der Vergänglichkeit anheimfallen. Das Leiden

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des Kaisers mag aus diesem Bewusstsein um die existenzielle Bedrohtheit des Menschen und seiner Taten erwachsen sein – im „pourtant“ liegt seine Würde. Es bedarf nur des Vergleichs zum theatralischen Porträt des kaiserlichen Feldzeugmeisters Gabriele Serbelloni (dem sog. „Kasseler Kavalier“  ; vgl. Abb. 131), um der Tiefe dieses der Rhetorik ­eigentlich abschwörenden Reiterporträts gewahr zu werden. Denn nicht im äußeren Glanz der Erscheinung, sondern in der geistigen Haltung, im Bewusstsein um die eigene historische Bestimmung liegt die Größe und Tragik der geschichtlichen Persönlichkeit, deren Existenz in der sympathetischen Abendlandschaft erhöht und sinnbildhaft gedeutet wird. Im Individuum kristallisiert sich der historische Augenblick der Gegenwart heraus. So gewinnt das Historienbild in der von Tizian entwickelten Ausprägung eine neue Dimension. Ein neuer Zeithorizont tut sich hier auf von der Gegenwart auf eine Zukunft hin, die auch dem Betrachter offensteht.

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V Tizian Präsenz, Augenblick und dramatische Wirkung Die Konzentration auf den Augenblick, das Bemühen eines Malers, das Individuum in der Gegenwärtigkeit seiner Körperlichkeit und Psyche unmittelbar sinnfällig und lebendig zu gestalten, sind nicht nur auf den Auftrag und die äußeren Umstände zurückzuführen. Sie dürften eher der spezifischen Disposition und Begabung des Künstlers entstammen, der immer der Darstellung seinen eigenen Stempel aufdrückt. Was die altniederländische Malerei betrifft, hat Pächt auf die „Stillegung des Blicks“ im Sinne eines gemeinsamen Nenners verwiesen, der bei Jan van Eyck, Rogier van der Weyden und Memling zwar unterschiedlich ausfällt, aber doch stets „das andere Ich“ hinter der meist undurchdringlichen Erscheinung des Porträtierten unangetastet lässt. Figuren in Bewegung werden praktisch im Augenblick „eingefroren“ und alle Einzelheiten der sichtbaren Welt dementsprechend exakt abgebildet. Eine andere Sicht der Welt und neue maltechnische Voraussetzungen haben Giorgione den Ruf eingebracht, seinen Figuren Lebendigkeit und eine terribil movenzia zu verleihen (Vasari), die den Maler nun als Herr und Beschwörer einer zum Leben erweckten Fiktion erscheinen lassen. Dennoch treten die dargestellten Personen selten aus ihrer Reserve heraus und suchen nur gelegentlich den direkten Blickkontakt mit dem Betrachter. Sie verharren in der autonomen Sphäre ihrer Individualität, zu welcher der Zugang meist verwehrt bleibt. Es gibt aber Beispiele in der Porträtkunst um 1500, in der Giorgione und andere die Kluft zwischen dem Porträtierten und dem Betrachter zu überwinden trachten, besonders in jenen Darstellungen, in denen die Protagonisten durch Haltung und Gestik die Barriere zwischen dem fiktiven Bildraum und dem Realraum des Betrachters zu durchbrechen suchen. Hier wäre etwa auf Giorgiones „Mann im Pelz“ in der Münchener Alten Pinakothek zu verweisen (Abb. 136) oder auf das rund zehn Jahrespäter ausgeführte Doppelporträt Raffaels, das ihn selbst mit seinem Fechtmeister zeigt (um 1515/16  ; heute im Musée Condé, Chantilly). In der psychologischen Auslotung der Person geht im zweiten und dritten Jahrzehnt des 16. Jahrhunderts Lorenzo Lotto am weitesten. Dabei lässt er die innere Ambivalenz, Labilität und Dünnhäutigkeit der Porträtierten an den Tag treten. Zu dieser Zeit, in der die körperliche Präsenz, die physische und psychische Bezugnahme der dargestellten Figuren zum imaginären Betrachter Raum greift, stechen einige

136 Giorgione, Der Mann im Pelz, ca. 1506. Alte Pinakothek, München.

Werke hervor, die bezeichnenderweise sowohl Giorgione als auch Tizian zugeschrieben werden  : der „Christus von San Rocco“, der sog. „Bravo“ aus dem Kunsthistorischen Museum in Wien, das „Konzert“ aus dem Palazzo Pitti sowie „Tarquinius und Lucretia“ aus Wien. Unabhängig von der Frage der Zuschreibung ist die physische Präsenz der Figuren zu spüren – ein Merkmal, welches das Werk Tizians von Beginn an auszeichnete. In diesem Zusammenhang wären auch der sog. „Ariost“ aus der National Gallery in London und die sog. „Violante“ von um 1515 aus dem Kunsthistorischen Museum in Wien zu erwähnen.1 Schon früh begegnen wir im Werk Tizians der Darstellung des Blicks, dem flüchtigen Reflex im Auge des Menschen – allerdings konnte ihm Giorgione in dieser Hinsicht auch als Vorbild dienen (man vergleliche das Giustiniani-Porträt in Berlin, „La Vecchia“ in Venedig, die „Laura“ in Wien, den „Toten Christus“ in einer New Yorker Privatsammlung sowie das grandiose späte Porträt des sog. Terris in San Diego). Ausgesprochen effektvoll wird der Reflex im Auge der „Lucretia“ als Gegen-

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137 Giorgione (?), Il Bravo (Trebonius), ca. 1507. Kunsthistorisches Museum, Wien.

spielerin des Tarquinius Sextus im Wiener Gemälde in Szene gesetzt (Abb. 138), so auch im Antlitz des bedrohten Jugendlichen im sog. „Bravo“, ebenfalls im Kunsthistorischen Museum – beides Werke, die Tizian zugeschrieben werden. Zumindest im letzteren Fall sollte die Autorschaft Giorgiones aber nicht zuletzt aus stilistischen Gründen ernsthaft in Erwägung gezogen werden (Abb. 137).

Il Bravo Edgar Wind hat das Werk recht überzeugend unter die „poetischen Allegorien“ Giorgiones eingereiht.2 Noch eklatanter erscheint der Reflex in den Augen des rückwärtsgewandten Spinettspielers in der Dreiergruppe des „Konzerts“ im Palazzo Pitti, einem Werk, das mehrheitlich Tizian zugeschlagen wird. Dies gilt aber nur für die grandiose Figur des Spinettspielers mit dem emphatischen, rückwärtsgerichteten Blick, während die anderen Protagonisten wesentlich schwächer ausfallen und räumlich schlecht integriert sind. Panofsky spricht angesichts des Spinettspielers von der abgewandten Schau der Schönheit, jener apostrofé, die später mehrere Venusdarstellungen Tizians prägen sollte.3 So wird

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die Venus verticordia im Sinne einer Umkehr zum Höheren mit Platos Symposion und Philebos in Verbindung gebracht und Gleiches könnte auch hier hinsichtlich der Verinnerlichung der akustischen Harmonie geltend gemacht werden.4 In seinem De triplici vita von 1479 geht Ficino auf die Wirkung der Sinneswahrnehmungen ein. Von allen Sinnen (und den entsprechenden Künsten) übten die des Gesichts und des Gehörs die stärkste Wirkung auf die Seele des Betrachters aus. Diese von den Neuplatonikern hervorgehobene Wirkungsästhetik fiel in Venedig in den folgenden Jahrzehnten auf fruchtbaren Boden  ; nicht zuletzt im Schaffen Tizians hat sie ihre Spuren hinterlassen.5 Der sog. „Bravo“ und die „Lucretia“ können als vergleichbare Werke verstanden werden, sowohl was die formale Struktur als auch was den Inhalt betrifft. In beiden Fällen handelt es sich um dynamische Halbfiguren, die sich in einer dramatischen Auseinandersetzung befinden  ; die Spannung der Aktion überträgt sich direkt auf den Betrachter. Edgar Wind bezog im ersteren Fall, noch an der Autorschaft Giorgiones festhaltend, die Gegenüberstellung des mit einer Weinrebe geschmückten jungen Mannes mit dem älteren Mann, von dem er drangsaliert wird, auf eine von Valerius Maximus (VI, i, 12) und Plutarch (Das Leben des Marius) kolportierte Geschichte, nach der ein gewisser Trebonius von seinem Feldherrn Gaius Lusius unsittlich bedrängt worden sei und diesen, immerhin ein Neffe des Kaisers, daraufhin erstochen habe.6 Eine zweite Deutung lieferte 1989 Bruce Sutherland, der auf einen Vorfall in den Bakchen, (it. Bacchides)von Euripides verweist, der von Ovid in seinen Metamorphosen aufgegriffen wurde (Met. III, 515 f.).7 Nach ihm handelt es sich um den vergeblichen Versuch von Pentheus, dem König von Theben, den Bacchuskult zu unterbinden, indem er die Festnahme des Gottes veranlasste. Dies bietet vor allem eine Erklärung für das Weinlaub, das den Kopf des Jünglings umrankt. Andererseits wird der bedrohliche Griff nach dem Schwert hinten unterschlagen – ein formaler Topos des Verrats, der sowohl in den Fresken von Fondaco dei Tedeschi in der Darstellung der Justitia als auch später in Tizians Ansprache Avalos’ an die Truppen verwendet wurde (vgl. Abb. 130). Wie auch immer, die dramatische Gegenüberstellung von Jung und Alt, Hell und Dunkel, von der Überraschung, die im Moment des Lichteinfalls zutage tritt, und der Bedrohung, die im dunklen verlorenen Profil des Angreifers und im roten Ärmel des Wamses angesprochen wird, treibt das Geschehen auf die Spitze. Wir haben es in der Tat mit einem Umkehr des Handlungsablaufs im Sinne der aristotelischen Dramentheorie zu tun, die seit der Jahrhundertwende so reiche Früchte in der Malerei des 16. Jahrhunderts tragen sollte. Wie in der antiken Musiktheorie

Präsenz, Augenblick und dramatische Wirkung

138 Tizian, Tarquinius Sextus und Lucretia, 1515. Kunsthistorisches Museum, Wien.

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falls im Kunsthistorischen Museum, Wien) die dramatische Gegenüberstellung von Tugend und Wahrhaftigkeit bzw. Aggression und Niedertracht durch die Körperhaltung der Protagonisten, ihren Habitus und das Helldunkel in Szene gesetzt (Abb. 138, S. 237). Die antikisierende Figur der Lucretia, mit himmelwärts gerichtetem Blick bereits entrückt, und der bereits aufgerichtete Dolch des Tarquinius sowie der analoge rote Streifen in seinem Gewand lassen das gewaltsame Ende bereits ahnen. Die Mordabsicht greift dem späteren Selbstmord der Lucretia durch den Dolch vor. Zugleich transzendiert die Erscheinung der Lucretia das irdische Geschehen, erhebt die Tugendheldin in die Sphäre eines zeitlosen Ideals, dem der Selbstmord als ein geistiger Befreiungsschlag vorangehen wird.

Der eifersüchtige Ehemann

139 Tizian, Der eifersüchtige Ehemann, 1511. Scuola del Santo, Padua.

wird das Phänomen des plötzlichen Umschlags nun in der Erzählung ebenso wie im Drama eingesetzt. Das Bild zeitigt dieselbe unmittelbare Wirkung auf uns wie die Musik auf die Lauschenden.

Tarquinius Sextus und Lucretia Wie beim „Bravo“, so wird auch in dem dramatischen Figurenpaar „Tarquinius Sextus und Lucretia“ (um 1515  ; eben-

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Bereits vier Jahre früher, 1511, hatte Tizian im Fresko mit dem „Eifersüchtigen Ehemann“ in der Scuola del Santo in Padua eine gewaltsame Szene inszeniert, die entscheidende Spuren in seinem späteren Schaffen hinterlassen sollte (Abb. 139). In einer Vorzeichnung (heute in der École des Beaux-Arts in Paris) sind die beiden Protagonisten durch die Komposition der Glieder und die Kurvatur des hinter ihnen aufragenden Baumstammes eng miteinander verzahnt. Mit ihrer linken Hand ergreift die Frau das Handgelenk des rasenden Mannes, um den Dolchstoß abzuwenden. In der Ausführung ist die Liegende orthogonal gedreht. Hinter ihr steht der Mann gebückt, den Dolch bedrohlich auf sie gerichtet. Der zur Abwehr in die Höhe gestreckte Arm der Frau greift als Formfindung unzähligen Märtyrerdarstellungen vor – bereits 1526–1530 hat Tizian den Gestus effektvoll in seinem „Petrus Martyr“ eingesetzt (vgl. Abb. 150). So kann man ohne Übertreibung sagen, dass der Maler nicht nur als Kolorist eine neue Ära in der Entwicklung in der Malerei einleitete, sondern auch entscheidend dazu beigetragen hat, einen Handlungsverlauf visuell auf die Spitze zu treiben, um so den Zuschauer durch die dynamische Entladung und sinnliche Präsenz der Protagonisten unmittelbar zu berühren. Dies ist nicht so sehr auf den Wunsch eines Auftraggebers zurückzuführen, dem das noch nicht Gesehene schwerlich vorgeschwebt haben dürfte, sondern auf das Ingenium des Malers, der Erzählung durch expressive Formen und bislang ungekannte farbige Gestaltung einen so hohen Wirkungsgrad zu verleihen, dass implizit der Zusammenschluss von Präsenz- und Erlebniszeit gewährleistet wird.

Mythologische Themen

140 Giovanni Bellini, Das Götterfest, 1514. National Gallery, Washington.

Mythologische Themen Das Götterfest Der Umstand völlig unterschiedlich gelagerter künstlerischer Temperamente lässt sich überdeutlich an dem „Götterfest“ belegen, das von Alfonso d’Este dem alten Giovanni Bellini in Auftrag gegeben wurde (Abb. 140  ; heute in der National Gallery, Washington). Das 1514 in Ferrara abgelieferte Werk, das als erstes Gemälde in die Sammlung des berühmten Camerino d’alabastro einging, schildert eine burlesk anmutende Götterrunde  : Während des Gelages

versucht Priapus, sich an einer schlafenden Nymphe oder Vesta zu vergehen, aber sein Vorhaben wird durch den schreienden Esel des Silenus vereitelt. In der Umsetzung dieser Begebenheit vermisst man jegliche Lebendigkeit und erotische Spannung, die dem mythologischen Stoff innewohnt. Der Maler hat bekanntlich aus seiner Abneigung gegenüber mythologischen Themen keinen Hehl gemacht. Hinter den verhaltenen Figuren befand sich ursprünglich – in der Röntgenaufnahme deutlich sichtbar – eine gleichförmige Reihe von Baumstämmen, die nicht gerade zur Belebung der kontemplativ anmutenden Szene beitrug (Abb. 141).8

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Tizian

chung des „Götterfestes“ an Tizians Mythologien vgl. u. S. 244).

Bacchus und Ariadne

141 Das Götterfest (Röntgenbild).

Langwierige Verhandlungen waren vorangegangen. Bereits 1505 hatte Alfonsos Schwester Isabella d’Este versucht, Giovanni Bellini zu bewegen, ein mythologisches Bild für ihr studiolo zu malen, was aber der Ausrichtung des Meisters nicht entsprach. Auch Alfonso dürfte mit dem Ergebnis seiner Bemühungen, das besagte Gemälde all’antica von des Meisters Hand zu erhalten, nur bedingt zufrieden gewesen sein. Zumindest mussten in der Folge bei der Ausstattung des Camerino d’alabastro in Ferrara Veränderungen vorgenommen werden, damit das Werk dem Stil der später in jenem Raum aufgehängten mythologischen Gemälde in etwa entsprach. Kontaktiert wurden zunächst Fra Bartolomeo und Raffael, ab 1516 dann Tizian. Auch der Hofmaler Dosso Dossi war an der Ausstattung des Camerino mit einem Bacchanal beteiligt.9

Das Venusfest In den Jahren 1518–1525 lieferte Tizian drei Meisterwerke, die so ganz dem Geschmack des Fürsten und der sinnlichen Umsetzung des antiken Stoffes entsprachen  : als erstes das „Venusfest“ (heute im Prado), das recht genau der Beschreibung von Philostratos dem Älteren in den Imagines (VI, i, 6 und 25) folgt, in der von einem blühenden Apfelgarten und vielen spielenden Putten vor dem Standbild der Venus die Rede ist (Abb. 142). Der diagonale Tiefenzug der Bäume, diametral der Anordnung bei Bellini entgegengesetzt, verleiht der Komposition eine neue Dynamik (zur Anglei-

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Noch bewegter und dramatischer stehen uns die beiden folgenden Szenen vor Augen  : „Bacchus und Ariadne“ (um 1523  ; heute in der National Gallery, London) und das „Bacchanal auf Andros“ (1525  ; heute im Prado, Madrid). Im ersten Fall wird der dramatische Augenblick der Begegnung von Bacchus und Ariadne nach den Beschreibungen Ovids geschildert (Fasti III, 159–516  ; Ars amatoria I, 525–564  ; Abb. 143). 10 Von seinen Jagdleoparden auf einem Triumphwagen gezogen, kehrt Bacchus, aus Indien kommend, nach Naxos zurück. Als er Ariadnes gewahr wird, springt er geschwind aus dem Wagen. Seine rotierende Bewegung – nicht zuletzt durch den rechten Arm, der den Körper überschneidet, vermutlich als Bewegungsformel dem Orestessarkophag in Mantua entnommen –11 trägt zur Dynamisierung des Augenblicks bei. Der vorgereckte Kopf verstärkt den Impetus in Richtung Ariadnes, die am linken Bildrand stehend sich in der entgegengesetzten Drehbewegung befindet, den Gott über die Schulter anstarrt, während sie ihre Rechte nach hinten streckt. Hier darf zugleich von einem Zeigegestus gesprochen werden, denn in der linken oberen Ecke des Bildes erstrahlt am Firmament ihr Sternbild, das von Bacchus aus der Drehung heraus dorthin geschleudert wurde. Im Augenblick der Begegnung bekundet sich überzeitliche Signifikanz. Die Begleiter des Gottes, Satyre und Bacchantinnen, weisen mehrfach Anklänge an antike Formprägungen auf, wie sie den Künstlern der Zeit in den Sarkophagen vor Augen standen  ; hier ist natürlich auch auf den großen Schlangenbändiger zu verweisen, der auf Laokoon zurückgreift und ikonografisch durch einen Passus in Catulls Carmina (LXIV, 257–265) legitimiert war.12 Neben dem Triumphwagen schreitet ein kleiner bekränzter Satyr einher  ; mit seiner Kopfdrehung stellt er die Verbindung zum Betrachter her. Besonders hervorzuheben ist der Kunstgriff des Malers, den entscheidenden Moment der Szene, die physische und psychische Begegnung von Bacchus und Ariadne, in Form einer affektiven Entladung vor der Leere des Himmels zu verbildlichen. Die Bewegungen und der Blickkontakt der beiden Protagonisten dienen dazu, die Distanz zu überbrücken, die sich in diesem Fall durch ein erstaunlich flächenhaft, geradezu abstrakt konzipiertes Farbfeld in strahlendem Ultramarin zwischen ihnen auftut. Mit diesem Farbfeld korrespondiert das Blau im Kleid Ariadnes, das von einer intensiven Schleife in mittlerem Rot konterkariert

Mythologische Themen

142 Tizian, Das Venusfest, 1518. Prado, Madrid.

wird. Creighton Gilbert hat im Zusammenhang mit Giorgiones Tempesta auf das Phänomen der „aesthetic of emptiness“ verwiesen, die dort womöglich zum ersten Mal bildmächtig in Szene gesetzt wurde (vgl. S. 55). 13 Auch hier dient die Weite des Himmels, dessen räumliche Wirkung mehr durch das reine Blau denn durch Transparenz im Sinne der Lichtperspektive erzielt wird, als eine seitlich verschobene Folie, vor der sich das Psychodrama entlädt.

Das Bacchanal auf Andros Noch markanter ist die großzügige Aufteilung der Bildfläche in helle und dunkle Zonen im „Bacchanal auf Andros“, das im Zeitraum 1523–1525 zur Ausführung gelangte (Prado, Madrid  ; Abb. 144).14 Die interaktiven Figuren sind hier größer, präsenter, und verschaffen sich als Gruppe einen begrenzten Aktionsraum. Drastische Bewegungen, die sich zu

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143 Tizian, Bacchus und Ariadne, 1523. National Gallery, London (Farbtafel XII).

eindrucksvollen Konfigurationen verbinden, überhöhen die im Vordergrund gelagerten Gestalten, die sich zu einer organischen Gruppierung zusammenfügen, die der antiken Plastik im Geiste nahesteht. Wie Kenneth Clark in seinem Buch The Nude (London 1953) vermerkt, war der Zugang der Venezianer zur Antike durch die intuitiv sinnliche Erfassung des menschlichen Körpers adäquater und direkter als jener der toskanischen Künstler mit ihrem kühlen disegno. Im Grunde schlägt Tizian hier einen Ton an, der sein ganzes Schaffen bis in die Spätzeit durchzieht (so etwa im Marsyas im Erzbischöflichen Museum in Kremsier oder in „Schäfer und Nymphe“ im Kunsthistorischen Museum, Wien)  : die

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Verschmelzung von körperlicher Sinnlichkeit und Dynamik durch den unmittelbaren Zugriff einer freien Maltechnik, die zunehmend innere Glut und Substanz schafft. Die dramatische Verdichtung des Geschehens, in diesem Falle eine konzertierte Aktion der Gefolgsleute des Dionysos, geht mit der malerischen Evokation einher, die unmittelbar erfahrbar ist. Den Mythologien fehlt jene Reflexionsebene, die in den rhetorisch ausgerichteten Gemälden mitschwingt und auch bei den religiösen Themen implizit gegeben ist. Von einer zielgerichteten Handlung kann im „Bacchanal“ eigentlich nicht die Rede sein, auch wenn es vordergründig um die Ankunft des Dionysos auf Andros geht. Die Lan-

Mythologische Themen

144 Tizian, Bacchanal auf Andros, 1525. Prado, Madrid.

dung ist bereits Geschichte, denn im Hintergrund sehen wir den Weingott völlig betrunken auf dem Rücken liegen. In den Imagines (I, 25) wird das Gelage am „Fluss, der Wein führt“, geschildert  ; der Augenblick der Verwandlung des Wassers zu Wein wird weder im Text noch im Bild thematisiert, ganz im Gegensatz zu Rubens’ berühmter Kopie des Gemäldes, heute im Nationalmuseum zu Stockholm, wo gerade dieses Wunder auf den Punkt gebracht wird.15 Dafür wird ein Detail in Tizians Gemälde von Rubens unterschlagen  : das Notenblatt im Vordergrund, das den Kanon eines Trinklieds von Adrian Willaert, dem Leiter der Cantoria von San Marco in Venedig, darstellt.16 So geht das

bacchanalische Thema hier eine für das Schaffen Tizians zukunftsträchtige Verbindung mit der Musik ein, die allerdings in Venedig bereits etabliert war (vgl. z. B. das „Concert champêtre“ S.  64 f.). Die beiden bekleideten Frauen im „Bacchanal“ mögen Musen sein. Die Frau rechts, deren Trinkschale gerade nachgefüllt wird, wendet sich ihrer Gefährtin zu und beide halten in der Rechten eine Flöte. Alles drängt zur Gegenwart, verdichtet sich im Augenblick der Ekstase – Vergangenheit und Zukunft dienen nur als mythologischer Rahmen des unmittelbaren Geschehens.

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Das Camerino d’alabastro Bereits nach Tizians erstem Gemälde für das Camerino d’alabastro in Ferrara, dem „Venusfest“ von 1518, dürfte die Diskrepanz zum „Götterfest“ des greisen Giovanni Bellini augenscheinlich gewesen sein (Abb. 140). Kaum ein Gemälde hat so viele Veränderungen und Übermalungen, ­sowohl was die Figuren als auch was den Landschaftshintergrund betrifft, erfahren wie dieses Bild, sodass die Hände­ scheidung auf dem Weg der Infrarotaufnahmen, der Röntgenbilder und der chemischen Analysen der einzelnen Malschichten nicht viel weiter geführt hat als die anfänglichen Feststellungen der Stilunterschiede und Walkers Auswertung der frühen Röntgenaufnahmen (Abb. 141).17 Die Rekonstruktion des Camerino und die daraus resultierende hypothetische Hängung der Bilder, das „Bacchanal“ des Hofmalers Dosso Dossi inbegriffen, hat eine ebenso lange Geschichte, da die genaue Ortung des Raumes, wahrscheinlich im Stockwerk oberhalb der Zugbrücke über dem Wassergraben des castello, mit den entsprechenden Maßen der Fenster noch immer nicht ganz gesichert ist  ; die späteren Angaben der Besucher bzw. des Augenzeugenberichts des 1598 verübten „Kunstraubes“ seitens Papst Innozenz’ IX. haben nicht alle Unwägbarkeiten eliminieren können.18 Aber gesetzt den Fall, dass das „Götterfest“ zwischen dem Venusfest und dem Bacchanal hing, ergibt sich die Korrektur des Landschaftshintergrundes fast von selbst. Zuerst dürfte Dosso Dossi den beleuchteten Berg links zwecks Belebung des Hintergrundes und der größeren Dynamik bereits um 1520 ausgeführt haben. Entschiedener dürfte der Eingriff Tizians, wahrscheinlich nach Fertigstellung seiner Mythologien um 1525, gewesen sein. So wurden die Baumkronen flächenhaft übermalt, die Reihung der Baumstämme unterbunden und vor allem der Himmel in einem diagonalen Streifen zum eigentlichen Kern der Szene, der Gruppe im rechten unteren Eck mit Priapus und Lotis, herabgeführt und so der Blick auf das eigentliche Geschehen gelenkt. Durch partielle „Entkleidung“ wurde die sinnliche Qualität mancher Frauen in der Götterversammlung gesteigert – dem alten Bellini solche „Korrekturen“ zuzumuten, eine Reise nach Ferrara kommt nicht in Betracht. Es wird somit gerade an diesem Gemälde der Wandel der Auffassung durch die nachträglichen Änderungen beglaubigt  : Dramatisierung der Handlung auf einen Augenblick hin  ; unbefangene Sinnlichkeit, unmittelbar in den entkleideten Figuren und ihrer Gestik sinnfällig gemacht  ; und schließlich die bewusste Anpassung an den von Tizian entwickelten Typus der Mythologien, ornamental-flächenhaft und doch dynamisch-raumgreifend. Hope, Wethey und Goodgal haben

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alle eine Hängung der Gemälde im Camerino in der Reihenfolge Andrier – Götterfest – Venusfest vorgeschlagen. Es ist keine Frage, dass die Komposition und neue Gewichtung der Baumkronen im Götterfest infolge der malerischen Eingriffe zu einer Rhythmisierung und Vereinheitlichung der Mythologien in der Abfolge ihrer Hängung beitrugen (vgl. Abb. 144, 140, 142).

Sakrale Werke – Pathos und Ethos Der hl. Markus  Dieselbe Tendenz zur Verdichtung der Bildstruktur sowie der möglichst starken Vergegenwärtigung und Evokation der Handlung macht sich auch in den sakralen Bildern Tizians von Anfang an bemerkbar. Bereits in dem monumentalen Altarblatt mit den thronenden „Heiligen Markus, Cosmas, Damian sowie den Heiligen Rochus und Sebastian“ von 1511 wird diese Tendenz deutlich (Abb. 145). Das Gemälde war ursprünglich als ein Ex-voto-Bild anlässlich der Pest von 1510 für die Kirche Santo Spirito in Isola bestimmt. 1656 wurde es in die Sakristei von Santa Maria della Salute transferiert. Wiewohl es hier durchaus Anklänge an die früheren großen Darstellungen der sacra conversazione in Venedig gibt – man rufe sich etwa Giovanni Bellinis San-Giobbealtar oder den späteren in San Zaccaria ins Gedächtnis –, ist hier der Zugriff auf die Figuren unmittelbarer, die Stimmung dramatischer. Die sorgfältige Konstruktion einer Rahmenarchitektur, die bei Bellini auch die reale Architektur oder das Rahmenwerk der Altäre mit einbezog, wurde hier aufgegeben. Die Zentralperspektive ist noch in den Bodenfliesen angedeutet, aber die Rahmenarchitektur ist nach rechts verschoben, wo der Ausschnitt einer monumentalen Fassade sich dunkel abzeichnet  ; sie dient als Folie des hellen Aktes des hl. Sebastian, der sich an Bellini und vor allem Giorgione orientiert.19 Die orthogonal ausgerichteten Bodenfliesen bilden ein tiefenräumlich begrenztes Proszenium, auf dem die statuarischen Heiligen sich befinden – Cosmas und Damian im Blickkontakt, Rochus und Sebastian eher psychisch voneinander getrennt. Infolge der Überschneidung der Fliesen durch die Bildränder öffnet sich der Bildraum zum Betrachter, der in die Nähe der Heiligen rückt. Die stumme Zwiesprache derselben kommt in der Gestik zum Tragen. Die verweisende Hand Damians steht isoliert vor dem grauen Grund des hohen Sockels, während Cosmas halb aus der Rückenansicht zum einen mit der Rechten quasi das Argument aufgreift, zugleich aber als Vermittlerfigur zum hl. Markus emporschaut. Rochus wiederum richtet seinen Blick auf den

Sakrale Werke – Pathos und Ethos

Heiligen und legt zugleich den Finger in die eigene Pestwunde, während Sebastian, in sich geschlossen und den Kopf leicht geneigt, sich dem Blick des Betrachters stellt. Wiewohl nicht ausdrücklich in die sacra conversazione einbezogen, wird der Betrachter doch auf den Gegenstand der Verehrung, den Stadtheiligen Markus, hingeführt, dem das Ex-voto-Bild gewidmet ist. Sein Blick richtet sich auf den auffallend hohen, runden Sockel, auf dem der hl. Markus mit dem Evangelium sitzt. Aus der Untersicht zeichnet sich die Figur vor dem Wechselspiel zwischen dem hellen Himmel und den dunklen Wolken ab. An diesem Punkt der Partizipation schlägt die Einkehr in Dramatik um  : Der heroische Charakterkopf des Heiligen liegt ganz im Dunkeln, während ein heller Lichtstrahl diagonal über den Oberkörper fällt und als Schlagschatten zu den beiden Heiligen rechter Hand im Vordergrund hinführt. Die Idee, den Einbruch des Göttlichen durch das elementare Wechselspiel von Licht und Schatten zu zeigen, mag aus der Bibel stammen, wo die göttliche Intervention mehrfach in ähnlicher Weise geschildert wird – man denke nur an die „Verklärung Christi“  : „Während er noch redete, kam eine Wolke und warf ihren Schatten auf sie. Sie gerieten in die Wolke hinein und bekamen Angst. Da rief eine Stimme aus der Wolke  : Das ist mein auserwählter Sohn, auf ihn sollt ihr hören.“ (Lk 9, 34–35.) Es gibt aber auch eine von Rosand angeregte Erklärung für den Schatten  : Da es sich um ein Ex-voto-Bild wider die Pest handelt, kann diese der Grund des Schattens sein, der das Gesicht des Stadtheiligen verdunkelt. 20 Mit der Glaubensgewissheit verbindet sich die Bitte um Intervention und göttliche Hilfe.

Die Assunta – rhetorische Glorifikation Die Assunta in Santa Maria Gloriosa dei Frari ist in den Jahren 1516–1518 entstanden. Alles ist auf Fernsicht und Wirkung angelegt, Format und Komposition sind sorgfältig auf den Betrachterstandpunkt bezogen, der des gewaltigen Altarblatts (690 x 360 cm) durch die Arkadenöffnung der von Pietro Lombardo 1475 errichteten Chorschranke gewahr wird (Abb. 146). Das Werk hat zunächst wenig Begeisterung bei den Mönchen ausgelöst, was auf seinen extravertierten, rhetorischen Charakter zurückzuführen sein dürfte. Anlehnungen an paradigmatische Beispiele, die Halbfigur Gottvaters nach Michelangelo und die ausdrucksstarke Gestik der Protagonisten an Raffaels „Disputà“ in der Stanza della Segnatura anschließend, sind nicht von der Hand zu weisen. Die gen Himmel aufsteigende Gottesmutter mit deklamatorisch erhobenen Händen und himmelwärts gerichtetem

145 Tizian, Der hl. Markus thronend, 1512. Santa Maria della Salute, Venedig.

Blick wird von einem Wolken- und Puttenkranz in lichtdurchflutete goldene Höhen gehoben, wo sie von dem leicht diagonal versetzten Gottvater mit ausgebreiteten Armen in Empfang genommen wird. Der Kopf der Gottesmutter befindet sich im Mittelpunkt eines imaginären Kreises, sodass hier die Übereinstimmung mit der in sich ruhenden, Göttlichkeit anzeigenden Kreisform kurz vor der Vervollkommnung steht (hier wäre auf die Überlegungen zu Piero della Francescas „Taufe Christi“ aus der National Gallery in London zu verweisen  ; vgl. Bild/Zeit, II, 2004, S. 196 f.). Die Unterseite der Wolken setzt diese himmlische Zone durch die Beschattung von der irdischen ab  ; das Schlaglicht auf die beiden Putten nimmt in seiner Wirkung manche Figuren Correggios vorweg. Die heftig bewegten Apostel erscheinen im unteren Teil reliefhaft – wie in Tizians späterem Bacchanal auf Andros zeichnen sich die Gesten vor dem schimmernden gelblichen Grund des flach ausgeführten Himmels deutlich ab. Die Pathosformeln der Gebärden las-

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Umsetzung der dynamischen „Himmelfahrt“ ausgerichtet – das Momentum der Bewegung und die Emphase der sich aus dem Irdischen lösenden Gestalt, die im Begriff ist, in den Himmel aufgenommen zu werden, hinterlässt aus der Ferne gesehen einen ebenso einprägsamen wie einleuchtenden Eindruck. Die unmittelbare ästhetische Erfahrung hält den Betrachter an, das Wunder nachzuvollziehen und sich mit jenem Augenzeugen zu identifizieren, der mit erhobenen Armen sich ungestüm der entschwebenden Madonna zuwendet.

Der hl. Petrus, Alexander VI. Borgia und Jacopo Pesaro

146 Tizian, Die Himmelfahrt Marias, 1516–1518. Santa Maria Gloriosa dei Frari, Venedig.

sen innere Erregung und Ekstase spüren. Ikonografische Präzision hat hinter Expressivität zurückzustehen, was zu der negativen Beurteilung seitens der Auftaggeber, der Franziskaner, beigetragen haben dürfte. Neben dem klaren formalen Aufbau trägt das herrliche Kolorit zum stupenden Eindruck bei  : die beiden leuchtend roten Gewänder im Vordergrund, durch benachbarte moosgrüne Partien in ihrer Farbwirkung noch verstärkt, schließen sich mit dem spektakulären, in einen satten Zinnober gleitenden Gewand Mariens farbig zu einem Dreieck zusammen, das sich in der Aufwärtsbewegung auf das karminrote Schultertuch Gottes zubewegt. So ist alles durch die Gestik der Figuren sowie den formalen und farbigen Aufbau auf die

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Zu den frühesten beglaubigten Werken Tizians gehört das als Votivbild eingestufte Altarblatt von 1508 mit dem thronenden hl. Petrus, mit Papst Alexander VI. Borgia und dem von ihm einbegleitete Jacopo Pesaro (Musée Royal des Beaux-­Arts, Antwerpen  ; Abb. 147). Die Figur Petri zeigt noch die Spuren der Unsicherheit des jungen Malers (wenn man sich hier das etwa zeitgleiche „Concert champêtre“ vor Augen hält, erscheint die Zuschreibung desselben an Tizian unhaltbar). Aber umso schneller sollte der aufstrebende Maler in den folgenden Jahren, vor allem im Zeitraum 1512– 1515, zu seinem sicheren, monumentalen Stil finden. Der Auftraggeber Jacopo Pesaro sowie Papst Alexander VI. im Antwerpener Gemälde werden von vielen Forschern aus stilistischen Gründen als nachträgliche Ergänzungen um 1518 angesehen, als Tizian bereits mit dem Pesaroaltar beauftragt worden war (wiewohl Panofsky unter Berufung auf Paul Coremans versichert, das Gemälde sei homogen).21 Das Votivbild mit Petrus kann nur bedingt als ein Historiengemälde bezeichnet werden, wiewohl die Seeschlacht von Santa Maura, bei der Jacopo Pesaro als päpstlicher capitano zum glorreichen Sieg über die Türken beitrug, im Hintergrund zu sehen ist. Dieses Ereignis war der Anlass, das Altarbild überhaupt in Auftrag zu geben.22 Von großem Interesse ist das suggestive Relief auf dem Sockel Petri, das in der Mitte einen Amor über einen Altar zeigt  – über dieser Grisaillefigur liegen die beiden dem „Real­raum“ zugehörigen Schlüssel. Die Anspielung auf die Beziehung des Papstes zu Jacopo Pesaro wird somit bekräftigt, da das fiktive Relief auf die Vita des Stifters anspielt. Amor ist als Sohn der Venus mit Zypern verbunden, denn am Gestade dieser Insel sei die Göttin dem Meer entstiegen. 1495 war Jacopo Pesaro von Papst Alexander VI. mit dem Bistum Paphos auf Zypern belehnt worden. Auf der rechten Seite des Reliefs, das partiell vom Helm des capitano der päpstlichen Flotte verdeckt wird, befinden sich die beiden

Sakrale Werke – Pathos und Ethos

147 Tizian, Petrus thronend, 1508. Koninklijk Museum voor Schoone Kunsten, Antwerpen.

Göttinnen Venus und Minerva, Sieg, Frieden und Tugend verbürgend  ; als Gegenstück sehen wir auf der linken Seite eine Szene sinnlicher Liebe und einen Jungen mit einer Weintraube, wohl Vertreter des dionysischen Lebens. 23 Rund achtundsechzig Jahre später sollte Tizian das Thema der siegreichen Minerva in seinem großen historisch-allegorischen Bild Spanien eilt der Religion zu Hilfe erneut aufgreifen (vgl. S. 228).24

Der Pesaroaltar Auch der Pesaroaltar, der im Zeitraum 1519–1526 ausgeführt wurde, nimmt ausdrücklich auf die siegreiche Seeschlacht bei Santa Maura 1502 Bezug – wir dürfen von einem Altarblatt mit einer stärkeren Akzentuierung der

Zeitgeschichte, als es im Antwerpener Votivbild der Fall ist, sprechen (Abb. 148). Noch stärker auf die glanzvolle Vergangenheit Venedigs ausgerichtet, präsentieren sich die prunkvollen Wandgräber der venezianischen Adeligen in Santi Giovanni e Paolo, den Ruhm der Verstorbenen verkündend, Manifestationen venezianischer Machtentfaltung.25 Es bedurfte im Folgenden nur einer geringfügigen inhaltlichen Verschiebung vom Sakralen zum Profanen, zur psychologischen Ausdeutung der dargestellten Person und ihrer Rolle im politischen Umfeld, um zu der neuen Form des Historienbildes zu gelangen, die als Tizians Beitrag zu dieser Bildgattung angesprochen wurde. Der Pesaroaltar könnte somit auch in jenem Kapitel einen Platz als ein historisch-kommemoratives Werk beanspruchen. Die starke Bezugnahme zum Betrachter ist hier maßgebend. Der Altar befindet sich im südlichen Seitenschiff von

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Santa Maria Gloriosa dei Frari. Wie bei der „Assunta“, aber in diesem Fall aus dynamischer Schrägsicht, ist der Standpunkt des Betrachters in einem Winkel von etwa 60° zur Bildachse ausgerichtet  ; an dieser Stelle, auf dem Schnittpunkt mit der Mittelachse des Kirchenschiffs, befindet sich der ideale Visierpunkt, von dem aus auch die „Assunta“ optimal erfasst wird – eine Koinzidenz von Zeit und Raum im barocken Sinn, die ein Höchstmaß an ästhetischer und emotionaler Beteiligung des Betrachters gewährleistet. Die objektive Gegebenheit der Bildstruktur wird auf die veränderliche Position des Betrachters und den dynamischen Prozess der Wahrnehmung abgestimmt.26 Vorerst bricht die „Pala Pesaro“ mit dem herkömmlichen symmetrischen Aufbau eines Altarbildes, indem der Apex der Figurengruppe mit der Gottesmutter und dem Kind diagonal nach rechts ansteigend verschoben ist und die zu ihrem Thron hinführenden Stufen wie dieser selbst über Eck gestellt sind, sodass sich eine Spannung zwischen Flächenordnung und tiefenräumlich gestaffelten Gliedern ergibt, wie sie bereits von Giotto entwickelt worden war (vgl. Bild/ Zeit, I, 1996, S. 241 ff.). Hans Aurenhammer hat die fortlaufenden Korrekturen während der Ausführung sowie die Bildstruktur einleuchtend beschrieben. Die Gegenstrebigkeit wird auch aus der Gruppierung der Figuren ersichtlich. In der vordersten Bildebene befinden sich die Mitglieder der Stifterfamilie Pesaro, die gar von den Bildrändern teils überschnitten werden  : rechts fünf Personen, allen voran Francesco Pesaro, der Vertreter der „Casa“, ostentativ flächenparallel eingebunden, während im rechten Eck der junge Lunardo sich aus dem Verband der Gruppe zu lösen scheint und den Kontakt zum Betrachter sucht. Links kniet der Stifter des Altars, Jacopo Pesaro, spiegelbildlich zu Francesco. Hinter ihm hält ein Soldat die Stange der ausladenden roten Fahne mit dem Wappen der Pesaro und des Papstes Alexander VI. Borgia und wendet sich zugleich dem besiegten Türken mit dem großen weißen Turban zu. Als päpstlicher capitano hatte Jacopo Pesaro, 1495 mit dem Amt des „Bischofs von Paphos“ ausgezeichnet, mit den Galeeren der Venezianer den Stützpunkt der Korsaren bei Santa Maura 1502 vernichtet (bereits ein Jahr später wurde der Stützpunkt allerdings den Türken zurückgegeben). Als ein miles christianus wollte Jacopo Pesaro in die Annalen eingehen, was ihm nicht gelang. Der eigentliche Sieger von Santa Maura war der entfernte Verwandte Benedetto Pesaro, 1500 zum Admiral der Venezianer ernannt und 1503 verstorben. Ihm zu Ehren wurde der Eingang zur Sakristei in der Frarikirche zu einem Triumphbogen umfunktioniert, wo der Sieger zwischen Neptun und Mars über seinem Sarkophag erscheint. 27 Dies dürfte nach Aurenhammer für Jacopo

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Pesaro, dem die Venezianer eigentlich die Anerkennung versagten, mit ein Grund gewesen sein, sich durch das Altarbild verstärkt in Erinnerung zu rufen. Vor allem wird darin deutlich auf die engen Bande der Familie zum Heiligen Stuhl verwiesen, in dessen Dienst Jacopo, auch als Patrizier von Venedig, immer gestanden hatte. Womöglich schon kurz nach der Seeschlacht oder um 1507/08 hat Jacopo Pesaro den jungen Tizian mit dem frühen, bereits besprochenen Ex-voto-Bild „Jacopo Pesaro wird vom Papst Alexander VI. dem hl. Petrus vorgestellt“ beauftragt (vgl. Abb. 146). Vor dem antikisierenden Thronsockel kniet der Stifter und hinter ihm steht beschützend Papst Alexander VI., der im Jahr 1503, ein Jahr nach der Seeschlacht bei Santa Maura, die im Hintergrund mit den Galeeren angesprochen wird, verstorben war. Die enge Bindung der Familie Pesaro an den Heiligen Stuhl ist auch hier primärer Bildgegenstand  : Der Sieg des Befehlshabers unter dem Schutz des einstigen Papstes wird dem hl. Petrus gewidmet. Vielen Venezianern war diese enge Bindung der Pesarofamilie an den Heiligen Stuhl übrigens ein Dorn im Auge. Auf das Relief all’antica wurde bereits hingewiesen  : Es bezieht sich auf Paphos auf Zypern, wo Jacopo 1495 als Bischof eingesetzt worden war. Es handelt sich um eine freie Transformation der antiken Mythologie, in der Tugend und Liebe, Minerva und Venus, dem Triebhaften, Dionysischen, entgegengestellt werden. Über dem kleinen Amor im Boot liegen auf dem Sockel die „realen“ Schlüssel Petri.28 Sollte das Gemälde erst um 1518/1520 vollendet worden sein, befand sich der zweite Pesaroaltar noch im Werden. Auch in diesem Bild kommt dem Petrus als Mittlerfigur eine zentrale Rolle zu. Die Schlüssel befinden sich dort zu seinen Füßen. Beide Gemälde beziehen sich somit auf die Seeschlacht von 1502, die allmählich in Vergessenheit zu geraten drohte  ; darüber hinaus ging es um die Verbundenheit der Familie Pesaro mit dem Heiligen Stuhl, dem der Auftraggeber bis 1517 treu gedient hatte. Nach der Rückkehr Jacopos nach Venedig galt es wie gesagt, seine Verdienste, die er sich im Kampf gegen die Türken erworben hatte, den Venezianern in Erinnerung zu rufen. Die rhetorische Inszenierung beschwört den Mythos einer glorreichen Vergangenheit. Der Kunsthistoriker tut sich schwer, den Pesaroaltar als ein rein sakrales Werk einzuordnen. Es ist ebenso ein kommemoratives historisches Gemälde, ein Stück politischer Zeitgeschichte. Tizians persönliche Umformung der sacra conversazione geht mit seiner Neugestaltung des Historienbildes einher, dem hier eigens ein Abschnitt gewidmet wurde. Die Pala

Sakrale Werke – Pathos und Ethos 148 Tizian, Der Pesaroaltar, 1518–1526. Santa Maria Gloriosa dei Frari, Venedig.

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Pesaro ist sowohl ein Altar- wie ein Historienbild, zugleich aber auch eine Zurschaustellung des Hauses Pesaro und seiner Mitglieder  ; die Grenze eines herkömmlichen Stifterbildes wird überschritten und dem Ganzen eine extravertierte Note verliehen. Darüber hinaus kommt dem Gemälde die Funktion eines Wandgrabes zu, denn zu Beginn der Arbeit wurden am 3. Januar 1518 an eben dieser Stelle an der Nordwand der Frarikirche ein Altar errichtet und eine Grablege vor dem Altar ausgehoben. Fortan sollte jeden Tag eine Messe für den Totendienst und die Seelen der Verstorbenen dort abgehalten werden. Nachdem das Gemälde 1526 vollendet worden war, wurde am 8. Dezember, dem Tag der „unbefleckten Empfängnis, nach der Verordnung des Consiglio dei Dieci aus dem Jahr 1493 das entsprechende Fest vor dem Altar und dem grandiosen Bild abgehalten“.29 Diese festivitas fand auch vor anderen zeitgenössischen Wandgräbern in Venedig statt, allen voran vor jenen in Santi Giovanni e Paolo und in der Frarikirche, wo Repräsentation und Legitimität in Anlehnung an antikisierende Formen den Ton angaben. Diese Verschiebung in Richtung einer gesellschaftlich und tagespolitisch bedeutsamen Funktion wirkte sich auf die ikonische Struktur des Bildes aus, indem Petrus in die Mittelachse gerückt ist und an ihm vorbei eine räumliche Diagonale den Blick des Betrachters auf die verkleinerte, oben sitzende Madonna lenkt, die durch ihre Kopfneigung auf diese Bewegung reagiert und ihr zugleich Einhalt gebietet. Die Rolle Petri als Mittlerfigur steht hier außer Frage. Über die erwähnte enge Verbindung des Hauses Pesaro zum Päpstlichen Stuhl hinaus ist auch auf den Kreuzzugsplan verwiesen worden, der auf dem Laterankonzil 1517 beschlossen worden war. Fra Germano da Casali, der Guardian des Konvents und Provinzial der Ordensprovinz der Franziskaner im Heiligen Land, hatte sich nach dem Verlust der heiligen Stätten in Palästina an Sultan Selim I. diesem Gedanken angeschlossen. Als päpstlicher Legat wurde 1517 Altobello Averoldi nach Venedig gesandt, um die Venezianer zur Teilnahme an dem Kreuzzug zu bewegen. (Für ihn hat Tizian das Altarblatt von Santi Nazaro e Celso in Brescia 1520–1522 ausgeführt  ; vgl. Abb. 149.) Die Franziskaner-Konventualen fingen entsprechend im Jahr 1518 an, in Venedig den Kreuzzug zu predigen.30 So scheint es durchaus gerechtfertigt, die historische und religiöse Großwetterlage zu berücksichtigen, wenn es darum geht, die neue offene, dynamische Bildform, die sich in Tizians Pesaroaltar herauskristallisiert, in ihrer rhetorischen Stoßrichtung und Wirkmächtigkeit zeithistorisch einzuordnen. Die Hinwendung zur Madonna durch Vermittlung des Papsttums, die auch auf den Betrachter übertragen wird, entspricht

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der neuartigen Dynamik der Bildkomposition. Wenn man Puttfarkens Hypothese in Betracht zieht, dass sich der ideale Standpunkt des Betrachters auf das in einem marmornen Rahmen fixierte Gemälde in einem Winkel von etwa 60° zu diesem befindet (womit man wie erwähnt auch die Assunta am Hauptaltar optimal erfasst), rücken Maria und Kind optisch wieder in die Mitte des Bildes. So verändert sich mit der jeweiligen Position des Betrachters auch die Ausrichtung der Erlebniszeit, wird die objektiv vorliegende Komposition von der Dynamik der Wahrnehmung relativiert. Das verspielte Kind wendet sich Franziskus zu, der die Gruppe mit den Knienden rechts und Francesco Pesaro mit einer ausladenden Geste einführt. Die dominante Stoßrichtung erfolgt allerdings von links unten nach rechts oben. Ergänzt wird die Szene durch zwei gegen Ende der Ausführung 1526 hinzugefügte kolossale Säulen, Würdezeichen, die in den Himmel ragen. Auf einem Wolkenkranz, einem natürlichen schwebenden Baldachin gleich, sehen wir einen Putto das Kreuz aufrichten. Wie einst die beiden legendären Säulen vor dem salomonischen Tempel stehen auch diese für Standhaftigkeit und Stärke und stellen im Zeichen des Kreuzes die Verbindung zum offenen Himmel her. Darüber hinaus gewinnt der Topos „Venedig als das zweite Jerusalem“ in dieser Zeit der Kreuzzugspropaganda erneut an Aktualität.31 Wie bei der Assunta kann sich der Betrachter, vom Sog der Säulen ergriffen, ins Jenseits emportragen lassen.

Sympathetische Landschaft Nicht minder dramatisch sind zwei weitere Altargemälde, die um 1520 entstanden sind  : „Madonna und Kind“, von Luigi Gozzo in Auftrag gegeben und heute im Museo Civico, Ancona  ; und das sog. Averoldi-Polyptychon für Altobello Averoldi, den päpstlichen Gesandten in Venedig, in Santi Nazaro e Celso in Brescia. In beiden Fällen bedient sich Tizian des sympathetischen Landschaftshintergrundes, um das übernatürliche Geschehen mittels der Abendstimmung zu visualisieren  : So wenden sich im ersten Fall Franziskus und der hl. Alvise vermittelnd der Madonna und dem Kind zu, die auf einer Wolkenbank (nuvola) thronend vor dem strahlenden goldenen Himmel erscheinen. Derselbe rotgoldene Farbton, substanziell dicht aufgetragen, setzt sich im Abendhimmel und in der Spiegelung der Lagune fort. Deutlich zeichnen sich im Hintergrund San Marco, der Campanile und der Dogenpalast ab. Der ungemein dichte goldene Grund des Himmels dient als Folie für den emporragenden Zweig mit den Feigenblättern – seit alters her ein symbolisches Zeichen für

Sakrale Werke – Pathos und Ethos

Sündenfall, Opfer und Auferstehung. Der hl. Alvise verweist mit der Rechten ostentativ auf die himmlische Erscheinung, während seine Linke beschützend auf der Schulter des Stifters Luigi Gozzo liegt. Noch dramatischer spielt sich die „Auferstehung“ im Averoldi-Polyptychon in SS. Nazzaro e Celso in Brescia ab (Abb. 149). Vor dem durch glühende Wolken bewegten Nachthimmel schwebt bei Tagesanbruch der Auferstandene, die Kreuzfahne in der Rechten und den linken Arm pathetisch ausgestreckt. Die beiden Soldaten im Vordergrund, noch der Schwere der dunklen Erde verhaftet, nehmen als Zeugen das Wunder wahr und dienen, aus der Rückenansicht erfasst, dem Betrachter als Projektionsfiguren. Die vier kleineren Tafeln des Polyptychons werden durch das Helldunkel dem Hauptbild angeglichen  : Hinter dem hl. Sebastian rechts setzt sich sogar die Landschaft optisch, wenn auch nicht tatsächlich, im Hintergrund fort. Wie beim Pesaroaltar wurde der Augenpunkt tief angesetzt und auf den Standpunkt des Betrachters abgestimmt. Dem Kundigen dürften auch die formalen Anleihen an die Laokoongruppe, was Christus und Sebastian betrifft, vertraut gewesen sein, was zur Wertschätzung des Werkes beigetragen haben dürfte. Dafür spricht auch das Ansinnen Alfonso d’Estes, gerade diese Tafel mit dem hl. Sebastian als Kompensation für die Verzögerung zu erhalten, welche ihm bei der Ausführung der Mythologien für das Camerino durch den Auftrag Averoldis widerfahren sei.32

Petrus Martyr Zu einem Höhepunkt der Bildgestaltung im religiösen Themenkreis kam es im großen Altargemälde mit „Petrus Martyr“, 1528–1530 für die Konfraternität Santi Giovanni e Paolo ausgeführt (Abb. 150). Der Verlust des Werkes (wie auch der von Giovanni Bellini ausgeführten „Sacra conversazione“) durch den Brand vom 16. August 1867 gehört zu den schmerzhaftesten der venezianischen Malerei überhaupt. Der Stich von Martino Rota gibt neben einer vermutlich von Cigoli ausgeführten Kopie, die sich heute an dem für das Altarbild bestimmten Platz befindet, Aufschluss über das Original. In keinem Werk Tizians aus den ersten beiden Jahrzehnten ist die Flächenordnung stärker ausgeprägt als in diesem Altargemälde, dessen monumentale Maße (515 x 303 cm) nur von denen der Assunta übertroffen wurden. Die emporragenden Baumstämme tragen maßgeblich zur planimetrischen Einbindung der Figuren und zur Steigerung des Geschehens bei. In der Mitte des Vordergrundes liegt der

149 Tizian, Die Auferstehung, 1522. SS. Nazzaro e Celso, Brescia.

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150 Tizian, Petrus Martyr. Stich von Martino Rota nach dem ehem. Altarbild 1528–1530 in Santi Giovanni e Paolo, Venedig.

Märtyrer selbst, den Todesstoß erwartend, den linken Arm nach oben gestreckt. Dem leicht geneigten Baumstamm folgend, werden wir links vor der Baumkrone zweier Engel gewahr, von denen der eine, gleichsam als gedanklicher Reflex auf das Schwert des Mörders, die Märtyrerpalme wie einen Dolch erhebt und herunterstürzt. So werden dem Heiligen im Augenblick des bevorstehenden Todes zugleich Errettung und Unsterblichkeit zuteil. Bereits im Frühwerk hatte sich Tizian dieser Geste der Abwehr, die hier zugleich als empfangend umgedeutet wird, bedient, und zwar in der dramatischen Szene mit dem „Eifersüchtigen Ehemann“ in der Scuola del Santo in Padua um 1511 (vgl. S.  238 und Abb. 139  ; in der Vorzeichnung zum Fresko findet man bereits die Verklammerung der liegenden Frau mit dem hinter ihr aufragenden Baumstamm  ; der zur Abwehr emporgestreckte Arm gelangte erst in der endgültigen Fassung im

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Fresko zur Ausführung). Im Bild des „Petrus Martyr“ kommen nun beide zum Tragen  : Der ausgestreckte Arm gerät zur verweisenden, empfangenden Geste und lenkt den Blick des Betrachters in Richtung der beiden Putten vor der Baumkrone. (Kurz zuvor hatte der Maler auch dieses in starker Verkürzung wiedergegebene Engelpaar auf der beschirmenden Wolke im Pesaroaltar hinzugefügt.) Im Gegenzug zu den schräg gestellten Baumstämmen erfolgt der Schwertstoß des Räubers in der entgegengesetzten, fallenden Diagonale von rechts nach links  ; die manieristisch anmutende muskulöse Gestalt, von hinten wiedergegeben, aber in die Stoßrichtung gedreht, ist dem vertikal gerichteten Kräftespiel der Baumstämme diametral entgegengesetzt, löst sich also aus dem festen Gefüge der vorgefertigten Flächenordnung. Noch spektakulärer ist die Figurenfindung im unteren linken Viertel des Altarblattes. Wir sehen dort den für jedes Martyrium obligaten Zeugen. Der Bruder, von Entsetzen gepackt, entwindet sich buchstäblich der Bildkomposition, indem er sich aus dem Leerraum, der vom Märtyrer, dem Baumstamm und dem nach links ausschwingenden Ast eingerahmt wird, uns entgegen herauskatapultiert. Im vollen Lauf, den rechten Fuß am unteren Bildrand aufgesetzt, führt der eingewinkelte linke Arm eine Rotationsbewegung aus, welche durch die Rundform des rückwärtig sich aufbauschenden Gewandes noch verstärkt wird. Über dem Arm werden wir des aus Untersicht noch stark verkürzten Gesichts mit dem aufgerissenen Auge gewahr. Wiewohl diese Figur durch ihre exakte Einbindung am unteren und seitlichen Rand des Bildes in der für Tizian typischen Orientierung an der für die Malerei maßgeblichen Flächenordnung Halt gewinnt, bricht sie dennoch in dramatischer Weise aus dem Geflecht der innerbildlichen Struktur und der beschriebenen Rahmenform aus. Giovanni Bellini hat in zwei Spätwerken, die das gleiche Thema behandeln, die Figuren flächenparallel geführt und durch die gleichmäßige Reihung der Baumstämme im Hintergrund keine Dramatisierung erstrebt (National Gallery und vgl. die evtl. von Previtali ausgeführte Fassung um 1509 in der Gallerie des Courtauld Institute, London).33 Als entscheidende Neuerung in Tizians Bild darf der Umstand gewertet werden, dass der fliehende Bruder eben nicht im fiktiven Bildraum bleibt, sondern im Begriff ist, aus ihm in den realen Raum des betrachtenden Subjekts auszubrechen. Die labile Stellung dieser wahrhaftigen Serpentinatafigur, die in den Realraum herauszukippen droht, fordert im höchsten Grade den Betrachter zum Nachvollzug des Schreckens und der äußeren Bewegung auf. Ästhetische Distanz und formale Absicherung drohen hier aus dem Lot zu gera-

Sakrale Werke – Pathos und Ethos

ten. Die gewaltsame Handlung überträgt sich auf die Affektfigur und von dieser wiederum auf den Betrachter. Tizian hat damit eine vorbildliche ikonische Formel geschaffen, die spätmanieristischen und frühbarocken Bildfindungen vorgreift – man denke etwa an Annibale Carraccis Polyfem von ca. 1597–1604 in der Galleria Farnese oder an Caravaggios „Martyrium des hl. Matthäus“ von um 1601 in der Contarellikapelle in San Luigi dei Francesi in Rom. Der Dramentheorie, die im Laufe des 16. Jahrhunderts zunehmend an Bedeutung gewann, wird hier in mehrfacher Weise entsprochen. Lodovico Dolce hat in seinem Dialogo della pittura (Venezia 1557) gerade angesichts des Petrus-Martyr-Bildes das Tragisch-Heroische in Tizians Kunst angesprochen. Das Martyrium wird im Augenblick vor dem unausweichlichen Ende geschildert. In der Peripetie wird sich allerdings das Geschehen durch göttliche Intervention zum Guten hin wenden. Der Bruder als Zeuge, von panischer Angst (phobos) ergriffen, steht kurz davor, die Schwelle zwischen Fiktion und Wirklichkeit zu überschreiten. Die ästhetische Distanz, die sich zwischen dem Betrachter und dem Geschehen infolge des soliden Bildgefüges etabliert hat, gerät durch diese fliehende Figur ins Wanken – auch der Betrachter wähnt sich von Furcht und Mitleid ergriffen. Nachträglich erkennt er jedoch den glücklichen Ausgang des Geschehens  ; nach der kathartischen Erfahrung dramatischer Gefühlsschwankungen wird er am Ende von der Glaubensgewissheit gestärkt, das auch ihm eines Tages im Angesicht des Todes das Seelenheil zuteil werden wird. In den 1530er-Jahren tritt zunächst eine Beruhigung im Schaffen Tizians ein. Die Landschaft gewinnt mehr Raum und dient zuweilen als Folie eher beschaulicher Szenen. Der Aspekt der Zeitlichkeit in Form des spannungsgeladenen Moments tritt vorerst hinter das Gefühl der Beruhigung und der Dauer zurück. Genannt seien hier beispielhaft „Madonna mit Kind, Johannes und der hl. Katharina“ (um 1530  ; heute in der National Gallery, London), die „Madonna mit dem Kaninchen“ (etwa zur gleichen Zeit  ; heute im Louvre), die sog. „Venus von Urbino“ (um 1538  ; heute in den Uffizien), die sog. Pardo-Venus (etwas später  ; heute im Louvre  ; Abb. 164) und die „Verkündigung von San Rocco“ (um 1540). Hetzer hat diese Entwicklung umrissen und zugleich auf die Beruhigung der Farbgebung hingewiesen, die damit einherging.

Tiefenräumliche Bühnen Gegen Ende dieser Periode wandte sich der Maler mit neuer Vehemenz effektvollen Darstellungen sowohl sakraler als

151 Sebastiano Serlio, Die tragische Bühne. Secondo Libro di Prospettiva, Paris 1545.

auch profaner Themen zu, die Parallelen zu seiner Porträtkunst dieser Zeit aufweisen. Dass die Inszenierungen der sakralen oder historischen Inhalte mit der Dramentheorie des Aristoteles in kausalem Zusammenhang stehen, lässt sich schwer beweisen. Aber wir werden nicht fehlgehen mit der Annahme, dass die tiefenräumliche Bühne, wie sie bereits in Rom durch Bramante, Peruzzi und Raffael zur Ausprägung gelangt war, Wirkung auch im Norden Italiens, etwa in Mantua oder Venedig, gezeitigt hat. Als Bindeglied diente hier Sebastiano Serlio, der die Entwicklung in Rom im zweiten Jahrzehnt des 16. Jahrhunderts verfolgen konnte. Es handelt sich dabei um die Ausgestaltung einer tiefenräumlichen Bühne, der nur kurze Lebensdauer beschieden war, denn um die Mitte des Jahrhunderts ging man dazu über, seitliche Schiebekulissen zu verwenden und auf die allzu aufwendigen Perspektivkonstruktionen des Bühnenaufbaus zu verzichten. Die wesentliche Anregung zur Gestaltung der drei Bühnentypen – der tragischen, komischen und der satyrischen Bühne – ging zunächst von Vitruv aus, der im fünften Buch seines Architekturtraktats die Bestandteile derselben ausführlich beschrieben hatte. Vitruv bezog sich dabei auf die Ausgestaltung der Schauwände, der Periakte, nicht auf Staffagen einer begehbaren, tiefenräumlichen Bühne. Diese Umsetzung wurde aber von den erwähnten Architekten und Malern in Rom und in ihrer Nachfolge von Sebastiano Serlio bewerkstelligt, der in seinem Secondo libro di prospettiva, 1545 in Paris erschienen, ausführlich auf die einzelnen Bühnentypen und ihre Ausstattung einging und darüber hinaus den Text mit einschlägigen Illustrationen versehen ließ (Abb. 151).34 Vollends zur Entfaltung gelang-

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152 Tizian, Tempelgang Mariens, 1534–1539. Accademia, Venedig.

ten die drei Arten der Bühnendekoration in den auf räumliche Illusion angelegten Szenen der Malerei, aber auch in den praktikablen tiefenräumlichen Bühnen und Prospekten. Den besten Beleg für diesen Umstand bietet Baldassare Peruzzi, der zum einen in seinem Fresko mit dem „Tempelgang Mariens“ um 1523 in Santa Maria della Pace in Rom eine einschlägige Darstellung einer „tragischen Bühne“ mit Tempelfronten, Palastfassaden mit mächtigen Quadern, einem Obelisken etc. realisierte  ; zum anderen entwarf Peruzzi eine tiefenräumliche Bühne für die Aufführung der Bacchides 1531 in Rom, die bis ins Detail kalkuliert war und eine ungeheuere illusionistische Wirkung erzielt haben dürfte.35

Hintergrundlandschaft schließen die Szene ab. Meist wird die „Bühne“ im „Tempelgang Mariens“ mit der „tragischen Szene“ in Serlios Secondo libro di prospettiva in Verbindung gebracht – nicht unbedingt schlüssig, da das Buch erst sechs Jahre nach Fertigstellung des Gemäldes 1545 in Paris erschien. Man könnte ebenso gut das erwähnte Fresko Peruzzis mit dem „Tempelgang Mariens“ von 1523 heranziehen – viele Versatzstücke und die Struktur überhaupt sind mit denjenigen im Gemälde Tizians vergleichbar. Anderseits könnte Tizian bereits zur Zeit der Ausführung seines Gemäldes von Serlio bezüglich der passenden Versatzstücke mündlich unterrichtet worden sein.

Der Tempelgang Mariens

Ecce homo

Nachdem Serlio nach dem Sacco di Roma 1528 in Venedig angelangt war, stand er in engem Kontakt mit Sansovino, Tizian und auch Aretino. Letzterer dürfte dem Maler bei der „Ausstattung“ der großen gemalten Architekturszenen beratend zur Seite gestanden haben. Das erste große Gemälde dieser Art ist der „Tempelgang Mariens“ in der Scuola della Carità (heute Accademia) von 1534–1539. Sie kann als eine mustergültige „tragische Szene“ oder zumindest als eine Szene mit gehobenem Status gelten (Abb. 152). Der Augenpunkt ist tief gelegt, nur geringfügig über den Boden  : Wir blicken zu den aufgereihten Protagonisten empor, auf die Freitreppe, die zum Tempel rechts hinaufführt  ; dahinter befindet sich ein Wohnhaus mit dem für die Bühne typischen offenen Erdgeschoss. Der Obelisk und der Prospekt der

Weitere groß angelegte dramatische Schaustücke folgten zu Beginn der 1540er-Jahre. Beim „Ecce homo“ von 1543 (heute im Kunsthistorischen Museum, Wien) haben wir es ohne Zweifel mit einer „tragischen Szene“ zu tun (Abb. 153). Die Architektur mit den schweren Quadern entspricht dem manieristischen Stil, mit dem ja Tizian in Verona oder Mantua in Kontakt gekommen war. Das Kostüm der Protagonisten sucht die historische Vergangenheit wieder aufleben zu lassen. Zugleich finden sich Beispiele zeitgenössisch gekleideter Personen, auch Türken. Bemerkenswert ist der Doppeladler, der auf dem Schild im Vordergrund, auf den sich ein Soldat in antiker Rüstung stützt, ostentativ gezeigt wird. Die Fragwürdigkeit weltlicher Macht und Jurisdiktion wird hier mit der Obrigkeit der Habsburger in Verbindung

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Sakrale Werke – Pathos und Ethos

153 Tizian, Ecce Homo, 1543. Kunsthistorisches Museum, Wien.

gebracht. Überhaupt tragen die Rollenspiele der von Tizian porträtierten und in die istoria eingefügten Zeitgenossen, sei es im sakralen oder im profanen Kontext, dazu bei, das Geschehen dem Betrachter nahezubringen und die Akteure glaubhaft zu machen. Das Asynchrone dürfte dabei weniger ins Gewicht gefallen sein. Aretino hielt sich offensichtlich nicht für zu gut, um in die wenig schmeichelhafte Rolle des Pilatus zu schlüpfen. In ein hellblaues antikisierendes Gewand eines römischen Statthalters gekleidet, verweist er mit ausladender Geste auf die geschundene Gestalt Christi in der Toröffnung am linken Bildrand. Was das Kolorit betrifft, tut sich eine Ambivalenz auf, die nur einem „in Farben denkenden“ Maler gekommen sein kann. Zwei Farben bestimmen das Bild  : das Coelinblau des Himmels, leicht vermischt in der römischen Rüstung des Pilatus, und das kräftige mittlere Rot im Mantel des aufwendig gekleideten kahlköpfigen Mannes ganz im Vordergrund rechts, womöglich der Hohepriester. Links davon, hell beschienen, das Porträt einer Frau in weißem Kleid mit ihrem Sohn, die als die lichtstärkste Figur der ganzen Szene praktisch aus dem historischen Kontext herausfällt. Der Landsknecht links im purpurnen Gewand dient als Ansatzpunkt der ansteigenden Bewegung auf Pilatus und Christus hin (der Soldat wurde übrigens der Darstellung der „Ansprache des Avalos vor den Truppen“ entnommen, das kurz vor dem „Ecce homo“ entstand  ; vgl. Abb. 130). Die eher gedämpfte Farbigkeit der Architekturkulisse und der übrigen Protagonisten wird also durch die beiden markanten Figuren in Hellblau und Rot durchbrochen – eine fröhliche Buntheit, die nicht der tragischen Szene angemessen erscheint, aber umso stärker den ambivalenten Charakter der beiden Protagonisten als Popanze und Aufschneider herausstellt. So erscheint Pilatus in seinem himmelblauen Kostüm hypokritisch dem Himmel nahe.

154 Tizian, Dornenkrönung, ca. 1540. Louvre, Paris.

Die Dornenkrönung Eine bewusst herbeigeführte Dissonanz tut sich in der Darstellung des schrecklichen Geschehens in Kombination mit der aggressiven Buntheit der „Dornenkrönung“ (heute im Louvre) auf, die etwa zur gleichen Zeit, um 1540, entstand (Abb. 154). Die Plastizität der dramatisch bewegten und verschlungenen Gestalten wurde überraschend stark herausgearbeitet. Die Lokalfarben, sämtliche Primärfarben enthaltend, sind gleißend und hart gegeneinander gesetzt, während die mächtige Wand im Hintergrund mit ihren schweren Rustikaquadern in Graublau die dunkle Folie der Folterszene bildet. Über dem Türsturz mit der Inschrift Tiberius Caesar sehen wir die helle Marmorbüste des unrühm­lichen Kaisers als subversives Zeichen einer perver-

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155 Tizian, Dornenkrönung, ca. 1570. Alte Pinakothek, München.

tierten Rechtsordnung, welche die Grausamkeit des Geschehens in einen historischen Kontext rückt – den Gegen­­warts­ bezug herzustellen, bleibt dem Betrachter überlassen. Zumindest wird hier die historische Zeit überhaupt deutlich thematisiert. Der Philosoph Thomas Kisser (München) hat Tizians „Dornenkrönung“ aus dem Louvre bzw. diejenige aus der Münchener Alten Pinakothek (Abb. 155) – vermutlich eine Übermalung einer Kopie der ersten Version, um 1570 ausgeführt – zum Anlass genommen, die Zeitstruktur in der Malerei Tizians zu erörtern.36 Auch wenn ich nicht glaube, dass der Maler sich über den zeitgenössischen Diskurs bezüglich des „Substanzbegriffs“ bei Aristoteles Gedanken machte oder sich gar von der diesbezüglichen Debatte in seiner Malerei beeinflussen ließ, bietet der Vergleich der beiden Werke doch Aufschluss über die fortschreitende Auflösung der Körperformen und der Lokalfarben in der mittleren

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Schaffensphase bis zu den Spätwerken des Malers. Bereits Ende der 1540er-Jahre kann man, wie Hetzer es tut, von einer Dominanz eines übergreifenden, zunehmend gebrochenen Kolorits sprechen, das in der Vermischung von Rotund Blautönen, Braun und Grau, zuletzt den ganzen Bildträger überzieht. Zunächst kann man nicht sagen, dass in den 1540er-Jahren das Momentane der Aktion und das deutlich erkennbare historische Umfeld geschwunden seien, aber im Spätwerk nimmt das Phänomen „Zeit im Bild“ einen anderen Charakter an, wie aus dem Vergleich der beiden Dornenkrönungen hervorgeht. Aus der malerischen Verschmelzung der Figuren mit ihrer Umgebung erhält die übergreifende Materialität eine abstrakte Qualität  ; sie entstammt der Imagination des Künstlers. Wurden in der ersten Version der „Dornenkrönung“ der historische Moment der Szene, die Vergangenheit und die Gegenwart betont, bleibt diese Art der Zeitbestimmung in der zweiten Version 30 Jahre später unbestimmt – es geht ausschließlich um die Internalisierung des in den Malgrund versinkenden Geschehens  ; die äußeren Umstände der „Dornenkrönung“ erscheinen dabei von weniger Belang. (Derselbe Wandel lässt sich an den verschiedenen Heiligendarstellungen Tizians nachweisen, von denen es mehrere Fassungen gibt  : Laurentius, Margareta, Maria Magdalena, Hieronymus  ; vgl. Abb. 158, 175–178.) Von „zeitlicher Permanenz“ ist bei Kisser die Rede. Es ist wohl keine Frage, dass wir es im Spätwerk Tizians mit einer gesteigerten, vornehmlich malerischen Entäußerung zu tun haben, bei der die koloristische Verdichtung und Vereinheitlichung auf Kosten des Partikularen und der Lokalfarbigkeit erfolgen  ; dies führt zu einer Schwächung der historisch begriffenen Temporalität. Diesbezüglich reichen sich die großen Maler über die Zeiten hinweg die Hände, denn zum gleichen Schluss sind die Kunsthistoriker angesichts des Helldunkels bei Caravaggio, Ribera und Rembrandt gelangt  : Eine Bestimmung der Bildzeit erfolgt in Bezug auf den farbigen Grund, aus dem die Dinge und das Geschehen überhaupt erst dynamisch erwachsen. Zugleich verbinde sich mit dem Helldunkel das Bewusstsein um dieVergänglichkeit.37 Das Inkarnat als „Farbe aller Farben“ führt, so Kisser, zur „rein malerischen Funktion der Verlebendigung der Leinwand“. Dieser „ungegenständliche Farbauftrag“ unterlaufe die religiös-inhaltliche Zeitstruktur in Tizians Gemälden – ja, sie führe zur „Stillgestelltheit“ der Zeitbildstruktur (vgl. Anm. 37). Der Zeitaspekt verlagere sich in die Region des ästhetischen Erlebens, das dem Augenblick quasi eine sakrale Dignität und existenzielle Dauer verleihe.

Sakrale Werke – Pathos und Ethos

156a Tizian, Opferung Isaaks, 1542–1544. Deckenbild in der Sakristei von Santa Maria della Salute, Venedig.

156b Tizian, Kain erschlägt Abel, 1542–1544. Deckenbild in der Sakristei von Santa Maria della Salute, Venedig.

Die Deckenbilder in der Sakristei von Santa Maria della Salute Bereits 1511 hatte Tizian das zukunftsträchtige Altarblatt mit dem thronenden hl. Markus für Santo Spirito in Isola ausgeführt (vgl. Abb. 145). 30 Jahre später, in den Jahren 1542–1544, folgten ebendort die drei bemerkenswerten Deckenbilder, die 1567 mitsamt dem Altarblatt in die neu erbaute Sakristei von Santa Maria della Salute transferiert wurden. Die ursprüngliche Abfolge der Deckenbilder ist von Jürgen Schulz 1968 rekonstruiert worden.38 Verstärkt, in sequenzierter Form, wird das bereits im Petrus-Martyr-Bild auf einen dramatischen Höhepunkt hin ausgerichtete Geschehen nun in den Deckengemälden in Szene gesetzt  : „Die Opferung Isaaks“ (Abb. 156a), „Kain erschlägt Abel“ (Abb. 156b) und die „Danksagung Davids nach der Tötung Goliats“ (Abb. 156c). Stärker als bei den meisten Altären, den Pesaroaltar ausgenommen, findet der Betrachterstandpunkt hier Berücksichtigung. Jedes der drei Gemälde ist aus stupender Untersicht gemalt. Die Figuren werden an den unteren Bildrand gedrängt und in extremer Verkürzung gezeigt, sodass der Betrachter sich mit dem stark bewegten Himmel und einem dramatischen Helldunkel konfrontiert sieht.

156c Tizian, Danksagung Davids, 1542–1544. Deckenbild in der Sakristei von Santa Maria della Salute, Venedig.

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In der Szene mit der „Opferung Isaaks“ (Abb. 156a) wird der Blick von der brutal gekrümmten Figur auf dem Altar nach rechts über den jäh hochgerichteten Abraham zu dem herabstürzenden rettenden Engel links oben gelenkt – die Bildfläche wird diagonal von den Figuren unterteilt und im Himmel ballen sich die Wolken dramatisch zusammen. In der Szene „Kain erschlägt Abel“ sind die Figuren in der rechten unteren Bildhälfte umgekehrt miteinander verzahnt (Abb. 156b). Kain holt zum vernichtenden Schlag aus und stemmt zugleich seinen linken Fuß gegen den Körper Abels, der im nächsten Augenblick infolge seiner labilen Stellung wie ein Stein nach vorn aus dem Bild rollen wird. Dunkle Schwaden des zurückgewiesenen Opfers verdüstern den Himmel und dienen zugleich dazu, die Balance der asymmetrischen Komposition zu gewährleisten. Auch das dritte Deckenbild mit der „Danksagung Davids“ (Abb. 156c) lebt von der Dynamik der diagonal angeordneten Figuren  : der mächtige Leichnam Goliats unten links mit dem schockierend großen abgeschlagenen Haupt  ; darüber die kleine Figur des Siegers mit emphatisch erhobenen gefalteten Händen – eine Bildfindung, die nach Panofsky wahrscheinlich auf eine Darstellung Altichieros im Oratorio di San Giorgio in Padua zurückgeht.39 Die göttliche Intervention findet im verhangenen Himmel ihre Bestätigung, indem auf den Gestus Davids hin die Wolkendecke in der Mitte aufbricht und der Himmel so auf die Danksagung des Helden antwortet. Der Besucher der Sakristei durchlebt angesichts der Deckenbilder wechselnde Gemütslagen  : vom Schrecken und dem plötzlichen Einbruch der höheren Macht über die furchterregende Gewalt und den düsteren Tod bis zur Apotheose des Sieges und der Nähe des Allmächtigen. Die stupende Wirkung durch die starke Untersicht und den auf die einfache Formel der Diagonalen reduzierten Aufbau der Einzelszenen versetzt den Betrachter in Erregung und lässt ihn am Geschehen partizipieren. Keine Frage, dass diese Potenz der dynamischen Wahrnehmung und des mit ihr verbundenen Affekts zu dieser Zeit von einem Manieristen wie Giulio Romano und einem „protobarocken“ Maler wie Correggio ebenfalls wirkungsvoll eingesetzt wurde. Von Tizian wird diese Wirkung durch die Bezugnahme zum Betrachterstandpunkt in jedem der drei Deckenbilder mit ihren starken Verkürzungen erzielt. Die ikonische Struktur trägt so zur Vertiefung der Bildinhalte und ihrer Wirkung, die unterschiedliche Gemütslagen zur Folge hat, bei.

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Maniera und Rhetorik Die Konzentration auf die menschliche Figur und die Dramatisierung der Handlung, die hier festzustellen ist, führt zu einer starken Vergegenwärtigung des Geschehens und zur Intensivierung des Augenblicks, dessen Spannung sich auf den Betrachter überträgt. Seit dem Ende der 1530er-Jahre tritt der Einfluss des Manierismus auf das Schaffen Tizians verstärkt hervor. In Mantua stand er in Kontakt mit Giulio Romano, der ihn zu dieser Neuorientierung, die bis in die 1550er-Jahre anhielt, angeregt haben dürfte. Wie bereits erläutert, gewinnt Tizian der Gattung der Historienmalerei einen neuen Aspekt ab, indem er die Porträtierten als Agierende in der Gegenwart hervortreten lässt. Die Darstellung der Akteure auf der politischen Bühne konnte späteren Künstlern, auch den Malern des Barock, als Vorbild dienen. Beispielhaft wurden bereits einige wichtige Porträts mit historischer Signifikanz unter Berücksichtigung des Zeitaspekts vorgestellt (S. 202 ff. und Abb. 130–135). Das Reiterporträt von Karl V. in der Schlacht bei Mühlberg ist durchaus als ein Historienbild einzustufen – diese Sicht wurde auch von Philipp II. vertreten, wie aus einer späteren beglaubigten Notiz hervorgeht.40 Eine probate Anleitung, wie bedeutende Personen adäquat in Szene zu setzen seien, wurde von der Rhetorik geliefert  : Zum einen geht es um den angemessenen Rahmen der istoria selbst, der aus den Versatzstücken der Umgebung und der Gestaltung des Hintergrundes ersichtlich wird  ; zum anderen kann Aufschluss über die dramatis personae durch Haltung, Kostüm und kodifizierte Gebärden gewonnen werden. Das historische Ereignis dient nicht nur als Anlass und Inhalt der Darstellung, sondern eröffnet zugleich eine Perspektive auf den Zeithorizont, der sowohl die Akteure im Bild als auch die Betrachter desselben gleichermaßen umfängt. Das Publikum anzusprechen und affektiv zu beeinflussen ist wie erwähnt ausgesprochenes Ziel der Rhetorik.41 Der größere Maßstab der Figuren, ihre zuweilen schlankeren Proportionen, die Dynamik ihrer Bewegungen und Gebärden sowie eine Differenzierung des physiognomischen Ausdrucks sind Stilmerkmale, die zu dieser Zeit in Tizians Malerei Raum greifen. Zugleich setzt der von Hetzer beschriebene Prozess der farbigen Vereinheitlichung verstärkt ein  : weg von den klaren Lokalfarben zu einem übergreifenden, flächendeckenden Farbauftrag und einer gebrochenen Farbigkeit, die später zu einer schimmernden Farbmaterie verarbeitet wird, die den ganzen Farbträger überzieht und alle Motive mit dem Malgrund zu einer Einheit verschmelzen lässt.

Sakrale Werke – Pathos und Ethos

Die poesie der „vier großen Sünder“ Im Jahr seines Aufenthalts in Augsburg 1548 erhielt Tizian einen Auftrag von Maria von Ungarn für zwei Wandgemälde auf Leinwand, nämlich den „Sisyphus“ und den „Tityos“, für den großen Saal der Sommerresidenz Binche der Statthalterin in Flandern. Die zwei weiteren Gemälde in dieser Serie der „großen Sünder und Verdammten“ der antiken Mythologie, ‚Tantalus‘, im Jahr 1553 noch immer nicht abgeliefert, und ‚Ixion‘, sind verloren gegangen, aber Tantalus ist in einem Stich von Giulio Sanudo aus dem Jahr 1565 überliefert.42 Kurz vor der Zerstörung des Schlosses durch die Franzosen in Juli 1554 wurden die beiden erhaltenen Gemälde aus ihren Rahmen geschnitten und später nach Spanien gebracht  ; sie befinden sich heute im Prado. In diesen großen Deckenbildern verstärkt Tizian das dramatische Helldunkel und rückt die Figuren, die nun praktisch die ganze Bildfläche einnehmen, so nah und wirkungsmächtig wie möglich an den Betrachter heran. Vor allem in der gewaltsamen Darstellung des gefesselten „Tityos“ bedient er sich erneut der schockierenden, extremen Verkürzung und der unklassischen Darstellung der Aktfigur, um die ästhetische Distanz zum Betrachter zu eliminieren (Abb. 157). Der unfärbige Grund in seiner dumpfen Materialität trägt auch zum unheilvollen mythischen Geschehen bei – vor unseren Augen tut sich der Abgrund vor den großen Sündern auf, die auf ewig verdammt sind, dort Qualen zu erleiden. Phi­ lipp Fehl hat in seinem Buch Decorum and Wit von 1992 auf den Umstand hingewiesen, dass der Bilderzyklus in seiner Ganzheit betrachtet werden sollte und nicht darauf ausgerichtet gewesen sei, Mitleid zu erwecken, sondern vielmehr Furcht oder Staunen (awe)  : „We are purged, in the contemplation of this hell, from any sense of gloating or righteousness, whether in favour of the torture or of its condemnation. … The sinner, in his ceaseless struggle, tends to become the hero of the piece, enlisting a false interest in his uniqueness, and Titian, perhaps, appears as a painter striving for painterly effects in competition with the sublimity of Michelangelo.“43 Puttfarkens Bemerkung, Fehl hätte versucht, Tizian von dem Einfluss oder dem Vergleich mit Michelangelo zu befreien, ist angesichts des Zitats schwer nachzuvollziehen, da Fehl eben den Wettstreit (paragone) mit dem Letzteren wohl zu Recht anspricht. Nicht von der Hand zu weisen ist Puttfarkens Einstufung der Darstellungen der großen Sünder und der Wirkung derselben im Lichte der aristotelischen Dramentheorie. Fehl scheint im obigen Zitat eher der „modernen“ Deutung des Katharsis-Begriffs anzuhängen, nach der wir angesichts der Tragödie von dem existenziellen Schrecken befreit, „gereinigt“

157 Tizian, Tityos, 1548–1553. Prado, Madrid.

werden. Nach ursprünglicher Lesart dürfte es eher um „Entladung“ von dergleichen Gefühlen gegangen sein.44 Puttfarkens Unterfangen, die Gemälde für Maria von Ungarn als einen Zyklus von poesie zu klassifizieren, würde einem Kunsthistoriker zunächst kaum in den Sinn kommen. Dennoch lässt sich hier der Bogen zu den eingangs behandelten „poetischen Allegorien“ schlagen  : In beiden Fällen handelt es sich um mythologische Darstellungen, im ersten Falle um entrückte Traumbilder, die zu einer unbefangenen ästhetischen Betrachtung und Verhaltensweise anhalten  ; im zweiten Fall hat sich das Gewicht zum Ernsten, Existenziellen hin verschoben. Virtuosität in der Ausführung verbindet sich nun, wie in Michelangelos Zeichnungen der Frevler aus den frühen 1530er-Jahren, mit der moralischen Feststellung der Sündhaftigkeit überhaupt. Dies ist im Zeitalter der Gegenreform wenig verwunderlich, auch nicht die Inanspruchnahme der Dramentheorie, um Schreckensbilder als „Tragödien“ rhetorisch zu legitimieren. Expressivität im Duktus und in der Farbgebung, Herausarbeitung plastischer Werte und Verzicht auf klare Lokalfarben zugunsten eines dumpferen Kolorits, das die gesamte Malfläche überzieht, lassen die großen Mythologien als Exponate der künstlerischen Neu­orientierung des Malers nach der Romreise in den 1540er-­Jahren und dem Aufenthalt in Augsburg 1548 aufscheinen.

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Tizian

Die zunehmende farbige Verdichtung, die Gegenstand von Theodor Hetzers koloristischer Untersuchung war, geht mit der Konzentration auf den signifikanten Höhepunkt eines Geschehens und dessen unmittelbare malerische Umsetzung, zuweilen auf Kosten der formalen Gestaltung, einher. Die expressive Handhabung der Farbe im geschwinden Auftrag auf den durch viele Farbschichten durchglühten dunklen Grund öffnet den Weg zu einer spontanen, freien Maltechnik, zu jener macchia, die fortan die unverkennbare Handschrift fast aller großen Maler werden sollte. Die wundersame Verschmelzung von Farbfleck und Gegenstand, Bedeutendem und Bedeutetem, in der sich nach Gombrich das Geheimnis und die Magie der Malerei bekundet, kommt in Tizians Malerei des folgenden Jahrzehnts voll zum Tragen.45 Sie fordert die projektive Fähigkeit des Betrachters heraus, den Umschaltprozess von der rein ästhetischen Wahrnehmung des farbigen Pinselstriches bzw. die Rückkoppelung des Seheindrucks mit einem im Gedächtnis aufbewahrten Motiv zu vollziehen. Das Problem der Präsenzzeit des ästhetischen Eindrucks wurde bereits in der Einleitung angesprochen  : Wie ist es möglich, im Farbfleck zugleich das Motiv zu erkennen, einen Teil zu sehen und zugleich das Ganze vor dem inneren Auge präsent zu haben (vgl. S. 20 f.)  ? Was die Identifikation eines Motivs betrifft, dürfte diese seitens des Rezipienten wohl nur in Form einer unmittelbaren aktualisierten Gedächtnisleistung zu erklären sein.

Das Martyrium des hl. Laurentius Um 1548 hat Tizian vermutlich von Lorenzo Massolo den Auftrag für ein gewaltiges Altargemälde für dessen Grabstätte erhalten. Fertiggestellt wurde das „Martyrium des hl. Laurentius“ 1559  ; heute befindet sich das Gemälde in der Jesuitenkirche in Venedig (Abb. 158). Das extreme Helldunkel, die glühenden Farben des brennenden Feuers, die starken Lichtreflexe, welche die Figuren partiell aus dem Schatten hervortreten lassen in Verbindung mit der freien Maltechnik treffen den Betrachter mit voller Wucht. Das mit wenigen Pinselstrichen angedeutete Profil des Gemarterten kann als Paradebeispiel der macchia dienen, so auch die malerische Umsetzung der brennenden Fackel. Bei aller Expressivität, welche die projektive Fantasie des Betrachters anstachelt, lässt sich das Theatralische dieser Darstellung nicht übersehen  : eine Vestastatue nach dem Vorbild einer klassischen Athena mit der kleinen Statuette einer Victoria, die riesige Säulenfront, dem Tempel von Antoninus und Faustina in Rom verpflichtet – womöglich von Serlio angeregt46 –, und nicht zuletzt die Figur des Märtyrers selbst, der

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wahrscheinlich auf die spätantike Plastik des Sterbenden Galliers in der Sammlung Grimani in Venedig zurückgeht – eine Figur, die mehrfach von Tizian eingesetzt wurde.47 Der emporgereckte linke Arm stellt die Verbindung zu dem Durchbruch im Nachthimmel her, zum Lichtschein, der in seiner Intensität auch die Fackeln und die grausige Feuerstätte des Martyriums überstrahlt – ein dramatischer Augenblick bei der Errettung der Seele, dem sich nicht einmal Vasari in seiner Beschreibung des Nachtbildes entziehen konnte.48 Inzwischen griff der Maler auf den Fundus eigener früherer Bildlösungen zurück, in diesem Fall auf den „Petrus Martyr“ und die „Danksagung Davids“ im Deckengemälde in der Sakristei von Santa Maria della Salute. In der späteren Fassung der Laurentiusmarter, die bereits 1554 von Philipp II. in Auftrag gegeben wurde, aber erst 1567 in den Escorial gelangte, wo sie über dem Hauptaltar aufgestellt wurde, ist das Bemühen um eine weitere Steigerung der Wirkung zu erkennen  : Die nächtliche Dunkelheit wurde vertieft, das künstliche Licht in Form des Feuers, der brennenden Fackeln und der kühlen Mondsichel stärker isoliert. Die Architekturkulisse ist verschwunden und die Statue der Victoria nur schemenhaft zu erkennen. Das Dunkel der Nacht, der leere Raum, Gewalt und Grauen werden hier noch stärker in Szene gesetzt. Nur die beiden herabstürzenden Engel mit dem Märtyrerkranz, von unten hell beschienen, verheißen Hoffnung  ; nach ihnen streckt der Gemarterte, wie wir es bereits vom Petrus Martyr her kennen, pathetisch den Arm aus – eine antike Pathosformel, die hier einer christlichen Heilsgewissheit Ausdruck verleiht.

Poesie Im ersten Band von Bild/Zeit (1996) wurde wiederholt auf das Phänomen der Bewegungsdarstellung verwiesen, die maßgeblich fiktionales Leben und Erlebniszeit verschmelzen lässt und wie ein roter Faden die mimetisch ausgerichtete abendländische Kunst durchzieht.49 Bei Tizian und seinem Vorgänger Giorgione wird Bewegung nicht nur auf dem Weg der Körperdarstellung und der Bezugnahme von Figuren untereinander evoziert, sondern auch im Malakt selbst  : durch die Auflösung von Konturen und die Entwicklung eines wirkungsmächtigen dynamischen Helldunkels. Lebendige Wirklichkeit wird vorgetäuscht. In den 1550er-Jahren dient die Maltechnik selbst dazu, die agierenden Figuren als bewegt erscheinen zu lassen  ; nicht nur die Körperhaltung, sondern auch der von der Charakteristik des Objekts gelöste freie Pinselstrich, die macchia, vermag diesen Eindruck der Bewegtheit zu evozieren.

Poesie 158 Tizian, Martyrium des hl. Laurentius, 1548–1559. Chiesa dei Gesuiti, Venedig.

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Diana und Aktäon

159 Tizian, Venus und Adonis, 1553. Prado, Madrid.

Venus und Adonis Die erste Fassung von „Venus und Adonis“ (heute im Prado, Madrid) wurde 1553 vom damaligen Prinzen Philipp in Auftrag gegeben (Abb. 159). Sie schließt sich der Textvorlage von Ovids Metamorphosen (Met. X, 519) an, in der die Göttin am Morgen versucht, den Jäger von der verhängnisvollen Jagd abzuhalten. Die einander widerstrebenden Positionen der beiden nehmen das Zentrum des Bildes ein  : Venus sitzend, aus der Rückenansicht in starker Drehung, den Adonis noch umschlingend. Hier konnte Tizian auf das antike Relief des sog. „Bett des Polyklet“ zurückgreifen, das sich damals in Mantua befand und von Beginn des Cinquecento an wiederholt in der Malerei als Motiv auftaucht.50 Die Warnung der Venus wird im Bild durch die Lösung aus der Umarmung und das Fluchtmotiv sichtbar gemacht  : So richtet Adonis zwar seinen Blick auf die Göttin, schreitet aber zugleich den Hunden nach voran. Im nächsten Augenblick wird er sich aus der Umklammerung bzw. der planimetrischen Flächenordnung befreien. Die Trennung der beiden Figuren führt zum Zerfall der sternförmigen Konfiguration die narrative Spannung, die sich aus der Figurenkonstellation und der Momentaufnahme ergibt, wird sich verflüchtigen. Die ikonische Struktur dient hier wie beim Reiterporträt Karls V. zur Verdichtung des geschilderten Augenblicks. In den mythologischen Gemälden der Folgezeit wird dieses Ziel weiterverfolgt und zugleich die malerische Einbettung der agierenden Figuren in das farbige Gewebe der Malfläche vorangetrieben.

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Das erste Gemälde mit Diana und Aktäon wurde von Phi­ lipp II. 1556 geordert und drei Jahre später abgeliefert (heute in der National Gallery of Scotland, Edinburgh  ; Abb. 160). Der Betrachter wohnt dem dramatischen Augenblick bei, als der Jäger Aktäon einen Vorhang im Vordergrund beiseiteschiebt und so der Göttin Diana, die soeben dem Wasserbecken entstiegen ist, gewahr wird. Mit einer geschwinden Bewegung versucht sie, ihre Blöße mit einem Tuch zu verdecken. Drei Nymphen in unterschiedlichen Stellungen vergegenwärtigen die Dauer des trauten Beisammenseins in der Waldeinsamkeit, das durch das unvermittelte Auftreten Aktäons unterbrochen wird. Der Akt Dianas kann als eine Variante der zuvor von Tizian gemalten Venusfiguren gesehen werden, ist aber auch mit Parmigianinos Rückenakt aus dem „Bad der Diana“ in der Saletta der Rocca von Fontanellato vergleichbar. Das Bemerkenswerte in unserer Darstellung ist aber die Verschiebung des Blickwinkels, der die Aktfigur einmal von der Seite, einmal aus der schrägen Rückenansicht zeigt. Wir können darin das Bemühen des Malers erkennen, mittels einer stroboskopisch anmutenden Körperdarstellung einen Bewegungsablauf, in diesem Fall eine Drehung, zu veranschaulichen. Die Dynamik der Bewegung dient zur Dramatisierung der Situation, unterläuft dabei die übliche Fixierung der Stellung und trägt somit zugleich zur Relativierung des Betrachterstandpunkts bei. Die anatomische Inkorrektheit wurde in Kauf genommen – ein Umstand, der nicht selten in den Alterswerken vieler Meister auftritt. Ungewöhnlich sind die Ausstattung der Grotte mit einem gotischen Rippengewölbe, die ruinösen, manieristisch anmutenden Pfeilerreste sowie der Schädel eines Hirsches, antikisierend und atavistisch, der als Hinweis auf das bevorstehende tragische Ende Aktäons dient. Im Rippengewölbe kommt der von Ovid vorgebrachte Gedanke, dass die Natur sich die Kunst zum Vorbild genommen habe, zum Tragen.51

Diana und Callisto Das Pendantbild mit „Diana und Callisto“ von 1556–1559, ebenfalls aus der Ellesmere Collection in Northumberland stammend (nunmehr in der National Gallery of Scotland, Edinburgh), schildert in der seitlichen Umkehrung einen ähnlichen Vorfall (Abb. 161). Hier ist es Diana selbst, welche die Nymphe links auffordert, Callisto zu entblößen. In abgewandelter Form wird das Motiv des emporgestreckten Arms, das wir mehrfach angetroffen haben, aufgegriffen, al-

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160 Tizian, Diana und Aktäon, 1556. National Gallery of Scotland, Edinburgh.

lerdings nicht, um abzuwehren, sondern um aufzudecken. Befehl, Ausführung und Vergewisserung werden hier, wiewohl sie als sukzessive Momente eines Handlungsstrangs zu verstehen sind, in einem verdichteten Augenblick miteinander verschmolzen. Diana und der sitzende Rückenakt im Vordergrund sind dem manieristischen Figurenideal angepasst. Sie verkörpern ästhetische Distanz, während die übrigen Figuren dem Leben näherstehen. Wie im Pendantbild mit „Diana und Aktäon“ nimmt der Betrachter die Rolle eines (unfreiwilligen) Voyeurs an  : Im ersten Fall sieht er die Nacktheit der Göttin, im zweiten folgt er ihrem verweisen-

den Gestus und erkennt den begangenen Frevel. Paradox erscheint indes der Umstand, dass die dargebotene nackte Gestalt der idealisierten Diana unbedenklich hingenommen wird, während das Thema der Entblößung der Callisto seine Brisanz aus der Normverletzung einer Schamgesellschaft gewinnt. In diesem mythologischen Bild erscheint somit Entblößtheit bzw. die Nacktheit thematisiert – ein Problem, das einst von Kenneth Clark in seinem Buch The Nude 1964 angesprochen wurde. Mit der Gefährtin Dianas rechter Hand, die einen Bogen hält, klingt das Thema der entwaffneten Liebe an, das Tizian

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161 Tizian, Diano und Callisto, 1556–1559. National Galley of Scotland, Edinburgh.

im Gemälde mit der „Erziehung des Amor“ (oder „Eros und Anteros“) in der Villa Borghese 1565 in Angriff nehmen sollte (vgl. Abb. 171).52 Der Brückenschlag des Callistobildes zur Gegenwart erfolgt durch die Frau in zeitgenössischer Tracht, um welche Diana stützend ihren Arm gelegt hat – sie wurde mit der Tochter Tizians (oder Aretinos), Lavinia, in Verbindung gebracht. Eine Replik der Szene, wahrscheinlich in der Folgezeit entstanden, befindet sich im Kunsthistorischen Museum in Wien. Hier ist die Verbindung mit der Göttin nicht mehr gegeben  ; sie umfasst stattdessen ihren Jagdspeer wie ein Zepter.53 Lavinia (?) hingegen wendet den Kopf dem Betrachter zu und zieht ihn so als Zeugen stärker in das Geschehen mit hinein. Dramatisiert ist in der Replik

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auch die Gruppe um Callisto  ; „das Moment der Bedrängnis und des Ausgeliefertseins wird stärker herausgestellt“ und „der Augenblick vor der Entdeckung [ist] stärker als Teil des Bildgeschehens präsent“.54 Bernard Aikema hat in einem Artikel über die „Fleckenmalerei“ den Altersstil des Malers gewürdigt und ihn mit dem in der manieristischen Kunsttheorie häufig verwendeten Begriff der sprezzatura in Verbindung gebracht.55 Der Meinung, Tizian habe selbst diese Maltechnik entwickelt, um sich dadurch als „der erste Regisseur der eigenen künstlerischen Biographie“ zu gerieren, kann ich nicht beipflichten.56 Zum einen tritt die Fleckenmalerei spätestens in den 1550er-Jahren in Erscheinung, zum anderen wird mit dieser

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162 Tizian, Der Raub der Europa, 1559/60. Isabella Stewart Gardner Museum, Boston.

Einschätzung dem Maler unterstellt, er habe sich in seiner Technik von Beweggründen leiten lassen, die nicht künstlerischer, sondern gesellschaftlicher Natur sind. Dies stellt die Authentizität seiner Malerei überhaupt infrage. Als Antipode zu der hier vorgebrachten Meinung sei auf Theodor Hetzer verwiesen, der bei Aikema keine Erwähnung findet.

Der Raub der Europa In seiner Übersetzung von Ovids Metamorphosen schreibt Lodovico Dolce, dass Tizian in seinem Gemälde „Raub der Europa“ von 1559–1560 (heute im Isabella Stewart Gardner

Museum, Boston  ; Abb. 162) es sowohl mit den Plastiken der Antike als auch mit ihren großen Malern wie Zeuxis oder Apelles und mit Raffael als Vertreter der Moderne aufgenommen habe. Keine Frage, dass für Dolce auch die geschwinde Malweise und der fleckenhafte Farbauftrag als ein wesentliches Kriterium von Tizians Kunst zu gelten hatten, die er als Kunstkenner auch mit sprezzatura umschrieb. Wie es im Dialogo della pittura von 1556 heißt, spiegeln sich in Tizians Malerei gleichermaßen die Gedanken wie die Regungen der Seele wider  ; die Wirkung seines Bildes erwächst aber, wie Fernando Checa bemerkt, „eher aus der Vorstellung des Betrachters als aus dem Bild an sich“.57 Die offene Malweise gibt somit den unmittelbaren Anstoß zu der im

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Wahrnehmungsakt sogleich einsetzenden Projektion seitens des Betrachters. Sowohl die Bewegungsdarstellung als auch der freie Pinselduktus und die unabhängige Farbwahl der Landschaft in unserem Bild tragen zu der Intensität und expressiven Vergegenwärtigung des Geschehens bei  : die „Europa“ selbst, in labiler Stellung diagonal auf dem weißen Stier (Jupiter) liegend, der den Betrachter mit weit geöffneten, wissenden Augen anblickt, ja anspricht  ; geschwind streckt die Entführte den Arm über den Kopf, sodass ein Schlagschatten dramatisch über ihr verkürztes Antlitz fällt – ein Kunstgriff, der wiederholt in den Mythologien Verwendung findet. Das flatternde, blassrote Tuch lässt auf eine schnelle Vorwärtsbewegung schließen  ; farbig hebt es sich von dem Ultramarin des Wassers und dem zwischen Violett und Ocker changierenden Himmel ab. Von oben schweben zwei Amorine mit Pfeil und Bogen herab und auf sie richtet sich der Blick der Europa. Sollte hier eine mögliche Fortsetzung der Geschichte angedeutet werden, der Umschwung gar von Gewalt und Furcht zu einer von Amor angestifteten Liebesbeziehung  ? Die Darstellung des Raubes der Europa hält sich nah an den Text von Ovid (Met. II, 833–875), während die Putten als eine poetisch-dramatische Hinzufügung zu sehen sind, die eine Perspektive in die Zukunft eröffnet. Die phänomenal gemalte traumhafte Landschaft mit den Bergen und Gestaden, die in der Ferne im blau-weißen Dunst versinken, zeigt die Potenz der offenen Malweise, die das Erbe Leonardos hier mit dem venezianischen Kolorit verbindet. Als flüchtige Flecken nur werden wir der verzweifelten Gefährtinnen der Königstochter am Strand gewahr – eine Projektion, die nur durch die Kenntnis der Textvorlage möglich ist. So tritt gerade in den Mythologien die Interaktion von ästhetischer Hingabe und der Auslotung vorgegebener Inhalte in der Präsenzzeit durch die vom Bild angefachte Imagination des Betrachters in Kraft.

Tod des Aktäon In dem letzten Gemälde der mythologischen Serie, dem „Tod des Aktäon“ (um 1559  ; Abb. 163, National Gallery, London), feiern die Bewegungsdarstellung und die Fleckenmalerei Triumphe. Die Gliederung der Bildfläche und die flächenparallele Bewegungsrichtung der Protagonisten entsprechen eigentlich noch immer den bescheidenen Holzschnittillustrationen in den Metamorphoses volgare, 1501 erschienen, denen spätere Auflagen folgten. Noch vom linken Bildrand überschnitten, stürmt Diana mit entblößter Brust wie eine Amazone ins Blickfeld.Ihre Haltung mit dem Bo-

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gen noch mit dem gestreckten linken Arm haltend und die Rechte noch angewinkelt erhoben, lässt darauf schließen, dass sie ihren Pfeil bereits abgeschossen hat. In der rechten Bildhälfte, von der Baumkulisse hinterfangen, stürzen sich die Hunde Aktäons, dessen Kopf bereits in den eines Hirschen verwandelt wurde, auf ihren Herrn, der in seiner Verzweiflung ruft  : „Akteon bin ich  ! Erkennt euren Herrn  !“ Das Motiv „Tod des Aktäon“ ist in den Holzschnittillustrationen selten vorzufinden  ; in Bernard Salomons Métamorphoses d’Ovide figurée (Lyon 1557) war der Jäger bereits bei seinem ersten Auftreten mit einem Hirschkopf versehen worden (Nr. 42). Die Verwandlung selbst wurde erst von Tizian in seinem Gemälde, dem dramatischen Text entsprechend, als dynamischer Vorgang geschildert. Als Anregung mag die von Lodovico Dolce bei Gioliti 1553 in Venedig herausgebrachte Serie Le trasformationi gedient haben. Die Figur der Diana als Rachegöttin entspricht nicht der Textvorlage, denn darin benetzt sie den Kopf Akteons, der sie nackt gesehen hat, und verwandelt ihn so in einen Hirschen, der daraufhin von den eigenen Hunden gehetzt und zerfleischt wird.58 Bemerkenswert ist die maltechnische Umsetzung der Bewegung. Das Gesicht Dianas zeichnet sich in fast verlorenem Profil vor dem aufscheinenden Himmel ab  ; die Abfolge der Baumstämme entspricht dem Bewegungsduktus Aktäons und seinem Dahinsinken  ; vor allem aber wird der vorbeihuschende schwarze Jagdhund mit dem roten Halsband nur summarisch ausgeführt. Hinter ihm fließt ein reißender Bach und die Reflexe auf dem Wasser sind in geschwinden, lockeren Pinselstrichen ausgeführt, die einem Impressionisten zur Ehre gereicht hätten.

Venusdarstellungen der mittleren Schaffensperiode Die Verschmelzung von Kunst und Leben lässt Liebe und Erotik zu einem bevorzugten Thema der poetischen Allegorien der Zeit werden. Bereits Giorgiones Concert champêtre aus dem Louvre und Tizians „Himmlische und irdische Liebe“ aus der Galleria Borghese sind als frühe Meisterwerke dieser für die venezianische Kultur so charakteristischen Bildgattung anzusehen (Abb. 13 und 20). Der Schönheitskult und die Bejahung des Sinnlichen schlagen sich auch im Kurtisanenwesen der Zeit in zahllosen Liebesgedichten, Liedern und Bildern nieder. 1543 versuchte die Serenissima, mittels einer Kleiderordnung für Prostituierte den Auswüchsen an luxuriösen Roben und Schmuck Einhalt zu gebieten, wohl vergeblich, wie wir an den Venusbildern Tizians in der Folgezeit ermessen können.59

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163 Tizian, Der Tod des Aktäon, 1559. National Gallery, London (Farbtafel XV).

Mit dem manieristischen Begriff der sprezzatura verband sich eine hochgezüchtete Kultur der Denk- und Umgangsformen und Shearman hat nicht gezögert, die in Castigliones Cortegiano von 1528 vorgebrachten Empfehlungen der Wertschätzung des Artifiziellen auch auf die ästhetische Anschauung, die im Manierismus vorherrschend war, zu übertragen (vgl. Anm. 55). Bei Tizian erfolgt aber der gestalterische Zugriff auf die Wirklichkeit direkt und unverblümt  ; der sinnliche Eindruck lässt blutleere Erklärungsversuche obsolet erscheinen  ; artifizielle Figurendarstellungen entsprechen auch nicht seinem Na-

turell. Nur gelegentlich hat er sich vom manieristischen Stilideal beeinflussen lassen, zu Beginn der 1540er-Jahre und später in einigen Gemälden wie „Perseus und Andromeda“ (heute in der Wallace Collection, London), das im Zeitraum 1553–1557 für Philipp II. geschaffen wurde. Letztendlich kann man Tizian demnach nicht als einen Manieristen bezeichnen  ; seine poesie in ihrer venezianischen Ausprägung greifen auf eine längere Tradition zurück als auf das Interregnum jener Maler vornehmlich in Florenz und Parma, die in der Nachdünung Raffaels eine spezifische maniera entwickelten.

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weger aller Dinge“ identifiziert 60   ; der Jäger wiederum könnte „Adonis“ sein, der ja ebenfalls seit der Hypnerotomachia Poliphili in Venedig Konjunktur hatte und von Tizian in den kommenden Jahren in ähnlich dramatischer Form ausgeführt wurde (vgl. S. 262  ; Abb. 159). Die Figuren links können als Vertreter der vita activa und vita contemplativa gelten, der Satyr mit der Venus rechts die vita voluptuosa repräsentieren. Wie so oft in Venedig wird der sinnlichen Lebensform breiter Raum zugestanden – platonisch abstrakte Konzepte verlieren dort nie die Bodenhaftung. So wurde die idealisierte Gestalt der Venus in der bukolischen Landschaft etwas ambivalent mit der Sinnlichkeit und Dynamik der übrigen Protagonisten in Einklang gebracht. Die Pardo-Venus Die Gestalt der Venus in unserem Gemälde steht dem Temperament Tizians eigentlich fern – wesentlich mehr seiDie sog. „Pardo-Venus“ aus dem Louvre, um 1540 entstan- nem Naturell entsprach die sog. „Venus von Urbino“, die den und 1567 an Philipp II. geschickt und im Jagdschloss El um 1538 ausgeführt wurde (Uffizien, Florenz). Tizian rekurPardo untergebracht (Abb. 164), wurde 1574 von Tizian als riert auch hier auf die liegende Dresdner Venus, aber der ide„la nuda con il paese ed il Satiro“ betitelt – ein für die Vene- alisierte Landschaftshintergrund aus Giorgiones Gemälde zianer vertrautes Thema, das bereits in der Hypnerotomachia musste einem venezianischen Interieur weichen. Die geniePoliphili eine einschlägige Bildprägung erfahren hatte (vgl. ßende Schau des Diesseitigen drängt hier zur Handlung, das Abb. 9). In diesem Gemälde macht sich noch die Beruhi- Traumhafte wird durch die erotisch geladene Gegenwart ergung bemerkbar, die das Schaffen Tizians in den 1530er-­ setzt und die Bewusstheit des Blicks, dem wir begegnen, Jahren auszeichnete. So wurde die Venus (oder Nymphe) lässt schwerlich die Assoziation an eine Göttin aufkommen. nach dem Vorbild der „Dresdner Venus“ (Abb. 8) geschaf- Tizian ist es gelungen, im Wissen um die Mittel und die fen, einem Gemälde, das von Tizian nach dem Tod Giorgio- Wirkung seiner Malerei der verfließenden Zeit Einhalt zu nes partiell übermalt wurde (vgl. S.  56 f.). Wie dort gebieten, den erotisch geladenen Augenblick im Bild festzu­erscheint die nackte schlafende Figur vor einer stimmungs- halten. vollen Landschaft. Sie wurde aber weniger dominant ins Bild gesetzt als ihre Vorgängerin und scheint kurz davor, aus ihrem träumerischen Zustand geweckt zu werden, denn ein Venus mit Cupido Bewohner der bukolischen Landschaft, ein Satyr, sucht frevelhaft, sich an der Schlafenden zu vergehen. Bereits bei der Die erste „Venus mit Cupido“ aus den späten 1540er-Jahren, Überarbeitung von Bellinis „Götterfest“ hat Tizian Verände- wahrscheinlich noch für Karl V. ausgeführt, dürfte mit der rungen in diese Richtung vorgenommen, um den erotischen Version aus den Uffizien von um 1548 identisch sein Aspekt zu verschärfen (S. 239  ; Abb. 140, 141). Was die bu- (Abb. 165). Die nackte Frauengestalt, diesmal ohne die seit kolische Landschaft in der „Pardo-Venus“ angeht, ist auf die Giorgione herkömmliche Pudicahaltung, bietet sich dem drei Bühnentypen zu verweisen, die Serlio in seinem Trat- Blick des Betrachters unverhüllt dar. Sie wendet den Kopf tato sopra le scene vorstellte (vgl. S. 253). Wir dürfen hier von nachdenklich dem kleinen Putto zu, der sie impulsiv mit der einer „satyrischen Szene“ sprechen – der Typus der Park- kleinen Hand berührt. In der lässig herabhängenden Linken landschaft wurde von Tizian bereits zu Anfang der 1530er- hält sie einen Rosenzweig. Überdies steht auf dem Beistelltisch eine virtuos gemalte Vase mit roten Rosen. Das RosenJahre in einigen Zeichnungen (heute in Bayonne) erprobt. Hinter der Venus und dem Satyr erscheinen ein Jäger, motiv war schon in der „Himmlischen und irdischen LieHunde und Hirsche, in der linken, beschnittenen Hälfte des be“um 1515 (Abb. 20) angesprochen worden  – dort breitformatigen Gemäldes ein Jäger mit Hund, der beim Er- eindeutig mit dem Mythos von Venus und Adonis verschallen eines Horns zur Jagd aufbricht. Er hinterlässt zwei knüpft, nach dem die Göttin auf Betreiben des Mars zu ihsitzende Gestalten  : eine bekleidete Frau und einen in Rü- rem tödlich verletzten Liebhaber eilt  ; sie wird dabei von den ckenansicht gezeigten dunkleren, bocksfüßigen Mann. Letz- Stacheln der weißen Rosen auf dem Boden verletzt, die sich terer wird von Panofsky mit „Pan“, dem „Enthüller und Be- nun von ihrem Blut rot färben. Seit dem Ende der 1530er-Jahre hat sich Tizian verstärkt der Darstellung des weiblichen Aktes zugewandt, die durchweg unmittelbar, sinnlich erfasst wird  : der „Venus von Urbino“ (heute in den Uffizien), um 1538 für Guidobaldo della Rovere ausgeführt (nach Hans Ost wahrscheinlich das Porträt einer Kurtisane)  ; der sog. „Pardo-Venus“ um 1540 (heute im Louvre  ; Abb. 164)  ; zwei Danaebildern, eines heute im Museo Nazionale di Capodimonte, Neapel, nach Vasari für Ottaviano Farnese in Rom 1545–1546 ausgeführt (Abb. 167), die zweite, härtere Variante, heute im Prado, eine poesia für Philipp II., befand sich 1553 noch in Tizians Atelier.

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164 Tizian, Die Pardo-Venus (Ausschnitt), ca. 1540. Louvre, Paris.

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165 Tizian, Venus mit Cupido, 1548. Uffizien, Florenz.

Wie Walter Friedländer in einem klärenden Artikel dargelegt hat, wurde das Thema (la tintura delle rose) in der allgegenwärtigen Geschichte der Hypnerotomachia Poliphili von 1499 aufgegriffen (vgl. S. 82 und Abb. 21). Die Rosen stehen für Liebe, Sehnsucht, Verlust und gar Tod. Das aus dem Sarkophag strömende Wasser, das den Rosenbusch im Vordergrund bewässert, macht deutlich, dass aus dem Tod letzten Endes neues Leben sprießt und die Liebe alsimmerfort wirkendes Prinzip der neuplatonischen Auffassung gemäß alles durchdringt. In diesem Zusammenhang sei nochmals auf die gängige Definition der irdischen Venus, der Königin der Schönheit überhaupt, in Ficinos Kommentar zu Platos Gastmahl verwiesen  : „Es gibt drei Arten von Schönheit  : die der Seele, die der Körper und die der Töne  ; die der Seele wird vom Verstand wahrgenommen, die der Körper erkennen wir mit den Augen und die der Laute durch das Gehör  ; die Liebe befindet sich immer im Einklang mit dem Verstand (oder dem Geist), der Wahrnehmung und dem Gehör.“61 Nicht zufällig sitzt in unserem Gemälde ein Perlhuhn auf der Balustrade vor der offenen Landschaft. Tizian hatte das

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Motiv in der „Verkündigung“ in der Scuola von San Rocco um 1540 bereits verwendet – galt der Vogel doch als Inbegriff der Fruchtbarkeit.62 Der obligatorische kleine Hund zu Füßen der Venus (oder der Kurtisane), wo zwei abgeschossene Pfeile über dem an die Liegestatt angelehnten Köcher liegen, ist aus seinem Schlaf erwacht und springt das Perlhuhn an. So wird die ereignislos erscheinende Szene durch zwei simultan ablaufende Bewegungsabläufe belebt  : die Hinwendung der liebenden Venus zu Amor und die Kombination von Hund und Perlhuhn, die Letztere Fruchtbarkeit verheißend. Im Hintergrund erscheint eine in summarischen Pinselzügen hingezauberte Abendlandschaft, die seitlich von einem Vorhang gerahmt wird. Man kann hier durchaus von einer sympathetischen Landschaft sprechen. Die leicht melancholische Stimmung der Venus, welche die Vergänglichkeit der Schönheit, der Liebe und alles Irdischen andeutet, entspricht der Stimmung in der Landschaft, dem schwindenden Licht und dem in Dämmerung versinkenden Tag, der wie das Leben selbst der Vergänglichkeit anheimfällt.63

Gesicht und Gehör

166 Tizian, Venus mit Orgelspieler, 1548. Staatliche Gemäldesammlung, Berlin.

Gesicht und Gehör Zu Beginn des ersten Kapitels wurde bereits auf die Affinität von Gesicht und Gehör, Malerei und Musik hingewiesen, die gleichermaßen den Betrachter bzw. den Zuhörer affizieren und im Augenblick des Kunsterlebnisses seine Seele bewegen. Aufgrund der Analogie dieser Wirkung konnte auch das Phänomen des Akustischen in die Malerei Eingang finden und thematisiert werden – ist doch Peitho, die Göttin der Überredungskunst, für Dichtung, Musik und bildende Künste gleichermaßen zuständig (auf das diesbezügliche einschlägige Fresko von Cosmè Tura im Schloss zu Mirandola wurde bereits verwiesen  : S. 67 f.). In Giorgiones „Concert champêtre“ aus dem Louvre und in der kleinen Zeitallegorie mit dem Violaspieler und dem Stundenglas aus der Philips Memorial Collection in Washington wurden die unmittelbare Wirkung der Musik und ihre Zeitlichkeit dem Betrachter vor Augen geführt (vgl. Abb. 5 und 13). Über die ethische Wirkung der Musik und der bildenden Künste überhaupt bestand in der Renaissance kein Zweifel  ; entsprechende Beispiele und deren Relevanz für den Zeitaspekt wurden bereits mehrfach angesprochen (vgl. S. 62, 69). Im Gegensatz zu den mythologischen und religiösen Bildern können die Darstellungen mit Venus und Orgel- bzw. Lautenspieler nur bedingt als Handlungsbilder bezeichnet

werden  – die Protagonisten verharren im Augenblick der Schönheit, sei sie visueller oder implizit akustischer Natur, im Zustand eines idealen, dem Alltagsleben enthobenen Daseins. Wie stark man den poetisch-allegorischen Charakter herausstreichen will, bleibt der Interpretation überlassen. Manche meinen, es gehe in erster Linie um Erotik und allzu weitschweifige musiktheoretische, gar neuplatonische Erklärungen würden über das Ziel hinausschießen. Anderseits lässt sich das vielfältig abgewandelte Motiv der Musik nicht wegdiskutieren und der Auftraggeber selbst, Philipp II., und die conoscenti im höfischen Ambiente waren sicher die Letzten, die auf solche Verbrämungen des erotischen Inhalts verzichten wollten.

Venus mit Orgelspieler In den von Philipp II. in den 1550er-Jahren in Auftrag gegebenen Gemälden wird das Thema der Schönheit, Liebe und der Vergänglichkeit in Form von großen Aktdarstellungen durch die Darstellung der Musiker auf die auditive Kunst erweitert  : zum einen in der von Otto Brendel als „Typus A“ bezeichneten Variante der Venus mit Orgelspieler, zum anderen in dem „Typus B“  : Venus und Lautenspieler.64 In den Staatlichen Gemäldesammlungen in Berlin befindet sich ein Werk der ersten Gruppe, „Venus mit Orgelspie-

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ler“, signiert 1548 (Abb. 166). Der Orgelspieler besitzt eine auffallende Ähnlichkeit mit dem jungen Prinzen Philipp, der womöglich bereits Auftraggeber des Gemäldes war (in den späteren Varianten wurde diese physiognomische Nähe beibehalten). Die feine Ausführung des Profils sowie die in heller Farbskala dargebotene Aktfigur lassen darauf schließen, dass wir es mit einem eigenhändigen Werk zu tun haben. Der Orgelspieler wendet sich von dem Instrument ab und richtet den Blick auf die schöne Venus, die sich dem geflügelten kleinen Amor zuwendet, der ihre Brust zart berührt. Ein kleiner zotteliger Hund scheint den Betrachter anzukläffen und schafft so humoristische Distanz. Wiewohl der Orgelspieler vom Musizieren ablässt, um sich dem weiblichen Anblick hinzugeben, erscheint sein Interesse nicht, wie in späteren Varianten dieses Typus, unverhohlen erotisch  ; vielmehr richtet sich sein Blick auf das Gesicht der Göttin oder auf ihre innige Beziehung zu Amor. Otto Brendel hat in diesem Zusammenhang auf die angesprochene neuplatonische Tradition verwiesen, nach der das Auditive und das Visuelle als zwei gleichberechtigte irdische Erscheinungsformen des Schönen zu gelten hätten, da sie die Seele des Menschen am stärksten berührten (vgl. S. 212, Anm. 5). In der Diskussion ist in der Folge ein Streit entbrannt, ob Tizian, der weder Poet, Literat noch gar ein Philosoph gewesen ist, auf eine derart komplexe ästhetische Doktrin wirklich Bezug genommen haben könnte.65 Ein Blick auf die früheren „poetischen Allegorien“ sowie auf seine Mythologien dürfte aber genügen, um diese Einwände zu entkräften. Gewiss haben Auftraggeber, oder besser  : Berater unter den Humanisten in seinem Umkreis tatkräftig bei der Umsetzung solcher Vorgaben mitgewirkt – wie ließe sich sonst ein so komplexes Werk wie die „Himmlische und irdische Liebe“, das der Maler im Alter von etwa 25 Jahren schuf, erklären  ? Mit der Zeit hatte sich der Meister aber auch selbst mit schwierigen mythologischen Themen wie Venus und Adonis oder Eros und Anteros sowie Beschreibungen wie denjenigen aus Philostrats Eikones wahrscheinlich vertraut gemacht. Hinzu kommt auch die zeitgenössische Tradition, die nicht zuletzt in Venedig eine vornehmliche Rolle gespielt hat. Auf die Hypnerotomachia folgten Dichter und Humanisten wie Sannazaro, Tebaldeo, Ariost und Bembo sowie Freunde und Ratgeber des Malers wie Benedetto Varchi, Pietro Aretino und Lodovico Dolce.66 Die großen Aktdarstellungen Tizians müssen auch im Licht seiner Begegnung mit der Antike bei der Reise von 1545 über Florenz und Urbino nach Rom gesehen werden. Als Ehrenbürger Roms geehrt, kehrte der Maler 1546 nach Venedig zurück. Mit der Reise in Zusammenhang zu setzen sind die beiden einschlägigen Gemälde mit „Danae“, von

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denen das erste sich im Museo Nazionale di Capodimonte in Neapel befindet – wohl kurz nach der Rückkehr für Ottaviano Farnese ausgeführt (Abb. 167). Das Aktmotiv steht hier im Vordergrund und von den harmlosen Putten abgesehen wurden keine „Störfaktoren“ eingebracht. Dramatisch zugespitzt wird die Szene in den späteren Varianten, die sich heute im Prado und im Kunsthistorischen Museum in Wien befinden. Das Bild im Prado wurde 1554 von Philipp II. in Auftrag gegeben. Als Kontrastfigur erscheint hier eine gierige alte Vettel, die den Goldregen in ihrer Schürze aufzufangen sucht. Schönheit, Jugend und Unschuld heben sich demnach von Hässlichkeit, Alter und Gier ab. Hinzu tritt überdies eine dumpfere, gebrochene Farbigkeit, ein dräuendes Helldunkel, das dem Geschehen einen schicksalhaften Unterton verleiht  ; bei der Deutung des Mythos der „Danae“ ist auch das Thema der käuflichen Liebe ins Spiel gebracht worden. Über die unmittelbare starke Wirkung dieser Danaebilder, die das erotische Thema unverhüllt zutage treten lassen, sind wir durch die zeitgenössischen Quellen bestens unterrichtet  ; die Faszination hat bis zum heutigen Tag angehalten, wenn man den Äußerungen der Fachkollegen Glauben schenken darf.67 Gerade der rezeptionsästhetische Aspekt dient als Beleg dafür, wie bedingungslos Tizian die alles beherrschende Präsenz des Aktes und die unmittelbare Schau in seiner Malerei, noch unter dem Eindruck der Eindrücke seiner Romreise stehend, umzusetzen gewusst hat. Zwei Faktoren verdienen, hier hervorgehoben zu werden  : der unbefangene, unverstellte Blick des Venezianers auf den menschlichen Körper, nicht zuletzt den weiblichen, der in der Begegnung mit der antiken Plastik seine Bestätigung gefunden hat  ; und zum anderen die Begegnung mit der Kunst Michelangelos, der den Maler in der Hinwendung zur Aktmalerei bestärkt hat  ; darüber hinaus dürfte er zur Thematisierung des Leidens und der terribilità angeregt worden sein. Diesem letzten Aspekt ist ein ganzes Kapitel in Puttfarkens Buch gewidmet.68 In den großen Venusbildern tritt die Landschaft als begleitendes und verstärkendes Element hinzu. Im Berliner Bild haben wir es mit einer pastoralen Landschaft zu tun, im Hintergrund die blauen Berge, die in ihrer diagonalen Anlage die Blickrichtung des Orgelspielers aufgreifen und zur Venus hinführen. Koloristisch trägt der Landschaftsausschnitt zur Steigerung des purpurnen Samtstoffes auf der Liegestatt bei, dessen Rot ins Blau gebrochen ist, wie dies zunehmend im Spätwerk Tizians der Fall ist.69 Die Ausführung der Figuren in den bekannten Fassungen der Venus mit Orgelspieler im Prado (Inv.-Nr. 420 und 421) reicht m. E. nicht an das Berliner Bild heran, insbesondere

Gesicht und Gehör

167 Tizian, Danae, ca. 1546. Museo Nazionale di Capodimonte, Neapel.

was den Orgelspieler betrifft. Auch fällt der formale und farbige Zusammenschluss von Vorder- und Hintergrund im Vergleich zu den beiden bereits besprochenen Venusbildern schwächer aus. Dafür wird das luxuriöse Ambiente um eine opulente Parklandschaft ikonografisch erweitert  : eine Zypressenallee, einen Satyrbrunnen mit Pfau, Hirsch, Reh und einem Liebespaar – alles Motive, die in der Dichtung von Petrarca bis Ariost, Bembo und Tasso auftauchen  ; der Garten wird überhaupt seit alters her als Metapher für die Geliebte eingesetzt.

Venus mit Lautenspieler Ein Standardmotiv der Liebesdichtung war seit Petrarca die Überhöhung der Angebeteten. Auch wenn es schwerfällt, in Tizians Venusbildern von einer Sublimierung zu sprechen, muss man in der zweiten Gruppe, „Venus mit Lautenspieler“, auf die Krönung der Göttin durch Amor, der im Begriff ist, ihr einen Blumenkranz aufzusetzen, hinweisen (heute im

Fitzwilliam-Museum, Cambridge  ; um 1560  ; Abb. 168)  ; desgleichen in der sog. „Holkham Venus“ (um 1565  ; Metropolitan Museum of Art, New York  ; Abb. 169). Die Gemälde waren zwar für die Intimsphäre des Auftraggebers, Philipps II., vorgesehen, aber das Thema der Musik trug zugleich zur Veredelung des erotischen Sujets bei. Die Verdichtung wird nunmehr verstärkt, indem der Musiker sich nicht von seinem Instrument abwendet, sondern mit der Laute näher an die Schöne heranrückt. Die Verschmelzung von Melodie und Gesang bekundet sich in den Notenblättern im Vordergrund, wahrscheinlich eine Madrigale Verdelots zeigend, auf deren Ausgabe von 1536 sich Lowinsky bezieht  : Intavolature de li Madrigali di Verdelotto da cantare et sonare nel lauto intavolati per lo ecc. Musico Addriano Vuillaert.70 Darüber hinaus verweist Brendel auf einen Passus in Marino Marinis Adone, in dem es heißt  : Quelle corde sonore sono i lacci d’Amore. Die Sinnlichkeit der Venus ist ambivalent. Die Präsenz und Fülle ihrer Erscheinung könnte zum einen durch das Attribut der Flöte den Eindruck erwecken, dass es hier um die Sinnlichkeit der

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168 Tizian, Venus mit Lautenspieler, ca. 1560. Fitzwilliam-Museum, Cambridge.

in der Antike als „orgiastisch“ eingestuften Flötenmusik gehe (vgl. S. 292). Andererseits haben wir bereits in Giorgiones „Concert champêtre“ feststellen können, dass es sich bei der Flöte auch um ein allegorisches Attribut der Poesia handeln könnte, ja gar in Kombination mit dem Krug um eine Darstellung der Muse der Überredungskunst, der Peitho, die Gesicht und Gehör gleichermaßen in ihren Bann zieht (vgl. S. 68, 268). Der abgewandte Kopf und der entrückte Blick der Venus verstärken den Aspekt der Sublimierung, sodass die Ausführungen Brendels keineswegs so ­abstrus erscheinen, wie es Christiansen in seinem Katalogbeitrag von 2007 uns glauben machen will. Bei Brendel heißt es  : „Schönheit ist essentiell, immateriell, kann aber der Welt der Materie zukommen und darin vom kognitiven Verstand durch Auge und Ohr wahrgenommen werden. In den gemalten Kompositionen interpretieren wir den Musiker als den wirklich Handelnden  ; der Rest ist nur der Gegenstand seiner Wahrnehmung.“71

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Der entrückte Blick im Zusammenhang mit der Ausübung der Musik ist bereits im „Konzert“ im Palazzo Pitti thematisiert worden, das Giorgione oder Tizian (zumindest partiell) zuzuschreiben ist (Abb. 170). Sollte die markante Wendung des Kopfes des Klavichordspielers etwa den platonischen Gedanken der abgewandten Schau der metaphysischen Schönheit repräsentieren  ?72 Das Problem der sachgerechten Interpretation der Aktdarstellungen Tizians liegt in dem angesprochenen Umstand ihrer sinnlichen Präsenz, die eben den Versuch, sie mit einem theoretischen Diskurs in Verbindung zu bringen, als übertreiben erscheinen lässt. Gleiches könnte auch für den Leitgedanken Brendels gelten, der in der Juxtaposition des Saiteninstruments und der Flöte den alten Widerstreit der Ratio mit dem Dionysischen zur Sprache bringt. Dass Tizian aber mit solchen Erwägungen sehr wohl vertraut war, ist allein schon aus der Thematik seines Spätwerks ersichtlich  : der „Erziehung des Amor“ aus der Mitte der 1560er-Jahre (Abb. 171),

Gesicht und Gehör

169 Tizian, Venus mit Lautenspieler (Holkham-Venus), ca. 1565. Metropolitan Museum, New York. 170 Tizian, Das Konzert (Ausschnitt), ca. 1515. Palazzo Pitti, Florenz.

und noch entschiedener aus der „Schindung des Marsyas“ (heute in Kromeříž  ; Abb. 184). Neben der Flöte lehnt die Viola da Gamba am Bett – der Lautenspieler schlägt den Ton an, während der kleine Amor seine Herrin krönt. In der Fassung „Venus mit Lautenspieler“, heute im Metropolitan Museum in New York, entstanden um 1565 (Abb. 169), knüpft Tizian, was die Hintergrundlandschaft betrifft, an die Berliner Venus an  : Über dem See im Mittelgrund werden wir einer Anhöhe mit einer Burg gewahr  ; im Hintergrund öffnet sich eine weite Ebene, links versperren die schroffen, bläulich gefärbten Berge die Sicht. Rechts im Mittelgrund schließt sich unmittelbar hinter dem schweren dunkelroten Vorhang ein idyllischer Hain an, wo die Utopie eines Goldenen Zeitalters vergegenwärtigt wird  : An einen

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171 Tizian, Erziehung des Amor, ca. 1565. Galleria Borghese, Rom.

Baumstamm gelehnt spielt ein Hirte auf seinem Dudelsack, während eine Nymphe und nackte Bacchantinnen einen Reigentanz aufführen. So wird das erotische Element verstärkt, während der Himmel des zur Neige gehenden Tages sich in gebrochenen saffrangelben, rosa- und graublauen Tönen verfärbt. Die Gegenwart wird von der Stimmung und der Eintracht der ruhenden Venus mit dem Lautenspieler beherrscht  ; der aktive kleine Putto hingegen bringt Leben in die beschauliche Szene, einen vitalen Anstoß im Sinne von Lodovico Dolces ènérgeia, die sich im Erfindungsreichtum der Malerei und in der spontanen, lockeren Malweise bekundet.73 Mit der unterschwelligen erotischen Glut der Venusdarstellung, die mangels dramatischer Handlung auch als zuständliches Schaubild, gleichsam als eine Revitalisierung der „poetischen Allegorie“ bezeichnet werden kann, verbindet sich ein Moment der Reflexion, eine vom Lauf der Zeit abgehobene Wahrnehmung einer idealen Schönheit. Die Ränder des Augenblicks sind also in diesen Venusdarstellungen, anders als in den dramatischen Handlungsbildern, verschliffen – dem Betrachter bleibt es überlassen, sich in der genießenden Schau mit der Schönheit des Augenblicks und seiner schwindenden Dauer unmittelbar intuitiv auseinanderzusetzen und zugleich reflektierend gar einen metaphysischen Brückenschlag zu wagen.

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Die Erziehung des Amor Die Erziehung des Amor aus der Galleria Borghese in Rom, ebenfalls etwa um 1565 entstanden, trägt zu dieser Einschätzung bei (Abb. 171). Wir haben es mit einem gemäßigten Handlungsbild zu tun, in dem die hehre Göttin in einem antikisierenden „nassen“ Gewand dabei ist, einem kleinen Amor die Augen zu verbinden, dann aber vom größeren Cupido davon abgehalten wird. Bereits im 17. Jahrhundert waren unterschiedliche Titel des Bildes in Umlauf und seitens der Kunstgeschichte wurden mehrere Deutungen vorgeschlagen.74 Eindeutig ist zunächst der von Simone Francucci 1613 vorgebrachte Titel „Venere che benda Amore“, dem 1648 der Verweis Ridolfis auf Die drei Grazien hinzugefügt wurde  : „Le Gratie con Cupidine e alcune pastorelle“.75 In der Tat lässt ein Röntgenbild darauf schließen, dass ursprünglich drei Frauen (die „drei Grazien“  ?) dargestellt waren, von denen die Vordere später übermalt wurde. In der beschnittenen Version der „Venus und Cupido“ in der Kress Collection (National Gallery, Washington) ist der gebogene Arm der vorderen Grazie oder Nymphe noch zu sehen, sodass womöglich eine weitere, verloren gegangene Version des Themas den beiden Gemälden aus Washington und Rom vorangegangen sein könnte.76 Es besteht aber keine

Prudentia – Allegorie der Zeit

Veranlassung, an der von Panofsky bereits 1939 vorgebrachten Interpretation des Gemäldes grundsätzlich zu zweifeln. Was die Datierung um 1565 betrifft, geht sie mit jener der späten Venusbilder konform.77 Der ursprüngliche Sinn der beiden Cupidini (Eros und Anteros) – eine Liebe, die Gegenliebe einfordert – beließ den ersten Eros klein, da er sich weigert, ohne Gegenliebe zu wachsen. In der Renaissance wurde nun im Anschluss an den Vergilkommentar des Servius die Rivalität der beiden herausgestellt, wonach die Liebe des blinden Amor zugunsten des sehenden Amor gelöscht wird. In dem einschlägigen Holzschnitt in Andrea Alciatis Emblematum libellus (1531) in der Pariser Ausgabe von 1542 wird der blinde Amor von seinem großen Bruder entwaffnet, Köcher und Bogen werden dem Feuer überantwortet (Taf. LXXII). Zu Lebzeiten Tizians erschienen nicht weniger als 90 Ausgaben des Emblembuches, sodass der Sinn der Geschichte wohl jedem Humanisten geläufig war.78 Der Gegensatz zwischen der blinden, irdischen Liebe mit den kleinen Flügeln und der sehenden, hellsichtigen Liebe mit den großen bedeutet aber nicht, dass es sich bei dem Gemälde in der Galleria Borghese nicht um ein Hochzeitsbild handeln könnte. Nach gängiger Auffassung waren die drei Grazien für die Erziehung von Eros und Anteros zuständig. Wenn man der Identifikation der Venus mit der Pulchritudo zustimmt, stünden die beiden übrigen Frauen als Verkörperungen der Voluptas (amor conjugalis) und Castitas als Begleiterinnen der Pulchritudo zur Disposition. Die hintere Frau mit dem Bogen und der sorgfältig hochgesteckten Frisur würde dann Castitas repräsentieren, während die vordere mit dem gelösten Haar, der entblößten Brust und dem Köcher als die hingebungsvolle Voluptas zu verstehen wäre. In der sog. „Allegorie des Alfonso d’Avalos, Marquese von Vasto“ von 1542 (heute im Louvre) ist die von Myrten bekränzte Begleiterin des kleinen Cupido, der seinen Köcher schultert, als die „Hoffnung der Ehe“ (Spes) mit ausgeschlagenem Haar, inbrünstig die Hand an die Brust legend, eindeutig als eine Vorläuferin der Voluptas (oder amor conjugalis) in dem späteren Bild zu sehen.79 Was nun die Tätigkeit der Venus im Bild mit der „Erziehung des Amor“ betrifft, ist die Unsicherheit der Lesart, die in der Literatur auftritt, schwer verständlich. Gerade hier kommt der Zeitaspekt voll zum Tragen  : Während Venus den kleinen Amor mit einer Augenbinde versieht, hält sie in ihrer Tätigkeit inne und wendet den Kopf dem recht groß gewachsenen Anteros zu, der sich an ihre Schulter lehnt und nachdenklich ihr Vorhaben betrachtet. Die Binde ist noch nicht fest angezogen, kein Knoten geschlungen  ; Pfeile und Bogen, die ihr zugetragen werden, sollen eben nicht blind-

lings eingesetzt werden. Die Neuplatoniker sahen in der Liebe das alles durchdringende generative Prinzip in der Welt. Die sehende Liebe sei letztlich jene, die als Gewähr für das Seelenheil des Menschen zu gelten habe und auch der ehelichen Liebe zugrunde liegen müsse. Bereits ein halbes Jahrhundert früher hatte sich Tizian in diesem Sinne in seiner „Himmlischen und irdischen Liebe“ mit dem Thema auseinandergesetzt  ; aber was dort affirmativ und entrückt in Gestalt der beiden allegorisch gemeinten Frauen und des kleinen Cupido verkündet wurde, wird nun in einem spannungsgeladenen Moment erfasst, an dem der Betrachter unmittelbar teilhat. Die Venus erscheint hier sinnlich präsent, nicht abgehoben, entrückt. Wir sehen sie im Augenblick der Entscheidung, deren Folge von existenzieller Bedeutung sein wird  : die Umkehr des Eros, eine mögliche Sublimierung, welche Keuschheit und Begehren der irdischen Liebe unter die Oberherrschaft des göttlichen, alles durchdringenden Liebesprinzips stellt. Die Spannung wird hier durch das retardierende Moment erzeugt. Dem Vorhaben, dem kleinen Amor die Augen zu verbinden, wird zunächst Einhalt geboten. Der Ausgang bleibt im Bild noch in der Schwebe und der Interpretation des Betrachters überlassen. Eingedenk der Komplexität der Frage dürfte er wie die Venus selbst im Bewusstsein schließlich zu dem Schluss gelangen, dass seine Seele besser daran täte, dem Memento des Anteros Gehör zu schenken. Hier kann man auf den frühen phänomenologischen Diskurs von Franz Brentano rekurrieren, auf die „normative Funktion der menschlichen Seele“ und ihre „Intentionalität“, die das Phänomen der Schönheit einbegreife und auch das Zeitbewusstsein strukturiere (vgl. S. 12).

Prudentia – Allegorie der Zeit In vielfacher Weise hat sich Tizian im Laufe seines Schaffens mit dem Phänomen Zeit auseinandergesetzt – sei es im Rahmen des Erzählerischen und der dramatischen Steigerung eines Geschehens, sei es in den mehr auf Stimmung ausgerichteten Bildern, die zu „poetischen Allegorien“ tendieren, zu denen auch die Venusdarstellungen im Zeitraum 1548–1565 zu zählen sind. Zur gleichen Zeit begegnen wir der für den Maler ungewöhnlichen emblematischen Darstellung der „Prudentia“ oder der „Zeit“ (um 1565) in Form eines Triciput, in diesem Fall dreier Männerköpfe und dreier Tierköpfe, deren Bedeutung durch eine subscriptio geklärt wird (National Gallery, London  ; Abb. 172). Die dreigeteilte Inschrift lautet  : Ex praeterito/ praesens prudenter agit/ nisi futuru(m) actionem deturpet („Aus der Vergangenheit lernen und in der

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172 Tizian, Prudentia (Allegorie der Zeit), 1565. National Gallery, London.

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Prudentia – Allegorie der Zeit

Gegenwart klug handeln, um nicht das Geschick in der Zukunft zu vereiteln“). Der Alte links starrt in die Vergangenheit  ; die Gegenwart wird von dem Mann mittleren Alters beherrscht, der den Betrachter frontal fixiert  ; der Jüngling rechts im Profil ist der Zukunft zugewandt. Jedem der drei Männer, die zugleich die drei Lebensalter repräsentieren, wurde jeweils ein Tierkopf zugeordnet  : Der Löwe unterhalb des stattlichen Kopfes des mittleren Mannes beherrscht die Gegenwart  ; der Wolf, rückwärtsgewandt, verschlingt die Vergangenheit  ; und der Hund wendet sich wie der Jüngling einschmeichelnd der Zukunft zu. Wie Panofsky bemerkt, versinkt der Kopf des Alten in den Malgrund, so wie die Vergangenheit in der Erinnerung dahinschwindet.80 Wir haben es in diesem Bild also mit einer symbolischen Darstellung der Zeit zu tun, die naturgemäß ikonographisch erklärt und in weiterem Sinn auch ikonologisch interpretiert werden kann, Die allegorische Figur mit den drei Köpfen, macht die unterschiedliche Gerichtetheit der Zeit deutlich  ; auch man muss sieals eine ingeniöse bildnerische Umsetzung des inneren Zeitbewusstseins verstehen  ;das bereits von Augustinus in seinen Bekenntnissen beschrieben wurde, auf den sich Husserl und die nachfolgenden Phänomenologen später beziehen (vgl. S. 9 und 12 ff.). Im Gemälde kommen noch drei Merkmale hinzu, die unter die Kardinaltugend prudentia subsumiert werden  : die „Erinnerung“ (memoria), der Vergangenheit zugeordnet, die „Intelligenz“ (intelligentia) zur Bewältigung der Gegenwart und die „Voraussicht“ (providentia), die natürlich auf das Zukünftige gerichtet ist. Diese Dreiteilung trat schon in der mittelalterlichen Morallehre auf, die auf Seneca und den Stoizismus zurückging. Panofsky hat in einem Artikel von 1926/1955 auf eine Reihe von Beispielen in der bildenden Kunst verwiesen, von denen das Relief von Bernardo Rossellino im Victoria & Albert Museum in London das wohl bekannteste ist. Wir finden den Triciput und seine moralisch-allegorische Ausdeutung auch in der Bodeninkrustation des Domes von Siena. Die Tierköpfe entstammen wahrscheinlich den Saturnalia des Macrobius (um 399–422 n. Chr.)81, der eine Serapisstatue beschreibt. Der Statue wurden drei Tiere hinzugefügt  : in der Mitte ein löwenähnliches Wesen, des Weiteren ein freundlicher Hund und ein gieriger Wolf. Die Tiere werden von der Gottheit mittels einer Schlange miteinander verbunden und in Schach gehalten.82 Wohl zu Recht wird die angesprochene Schlange hier von Panofsky mit dem Uroboros, der Schlange, die sich selbst in den Schwanz beißt, verknüpft, einem Symbol der sich ständig wiederholenden Zeit bzw. der Ewigkeit, die in der ägyptischen Tradition schon seit dem Mittleren Reich in der Hieroglyphik auftaucht.83 Als einschlägige Hieroglyphe findet sich der Uroboros im Ho-

173 Triciput. Hypnerotomachia Poliphili, Venedig 1499, fol. Y1; Paris 1545.

rapollo von 1419, der fortan die Bildfantasie der Humanisten anstachelte und der späteren emblematischen Verwendung zugrunde lag. Auf ihn konnte der Illustrator der Hypnerotomachia Poliphili von 1499 oder 1545 zurückgreifen, dessen Holzschnitt dem Triciput einen festen Platz in der venezianischen Ikonografie sicherte (Abb. 173). Eingedenk der prominenten Stellung Petrarcas im kulturellen Leben Venedigs ist es nicht verwunderlich, dass gerade er als Bindeglied zwischen der Spätantike (in diesem Fall

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174 Tizian Die drei Lebensalter, ca. 1512. Ellesmere Collection, National Gallery of Scotland, Edinburg.

Macrobius) und der Renaissance auftrat  ; dies betrifft auch die Interpretation der drei Tierköpfe in unserem Gemälde. In Petrarcas Africa (Buch III, Kap. 156 ff.; um 1338) ist vom Sonnengott Serapis die Rede, der durch Apoll ersetzt wurde, der fortan sowohl mit der Schlange der Ewigkeit, dem Uroboros, als auch mit den drei Tierköpfen in Verbindung stehe. Popularisiert wurde die Kombination in dem sog. Ovide moralisé und im Libellus de imaginibus deorum.84 In der Tat wird in Vincenzo Cartaris Immagini delli Dei de gl’Antichi (Venedig 1556) Apoll der Göttin „Natura“ mit ihren Kindern zugesellt. In der Mitte der Holzschnittillustration sitzt der Urgott Demogorgon, von der Schlange der Ewigkeit eingerahmt, und erklärt den Gelehrten die Geheimnisse des Kosmos und der Natur.85 Die unmittelbare Anregung zu Tizians Gemälde dürfte von Pierio Valerianos Hieroglyphica ausgegangen sein, die 1556 in Venedig erschienen war  ; dort wird sowohl das Monster des Serapis mit den drei Tierköpfen unter der Rubrik „Sol“ abgebildet und ausführlich beschrieben als auch die Prudentia erläutert. Die dreifache Entfaltung der Zeit wird dabei explizit angesprochen  : „Prudentia durchdringt (oder beherrscht) nicht nur die Gegenwart, sondern reflektiert auch die Vergangenheit und die Zukunft in Anlehnung an den Mediziner, der, wie Hippokrates sagt, ‚alles kennt,

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was ist, war und sein wird‘  ; und diese drei Formen der Zeit werden durch den Dreikopf (tricipitium) ausgedrückt, der den Kopf eines Hundes mit dem eines Löwen und eines Wolfs kombiniert.“86 (Zu den Porträts vgl. S. 281.) Wie Raffael, so hat auch Tizian es vermocht, komplexe Symbole der Gelehrsamkeit in einfache und darum suggestive Bildformen zu gießen – so wird im Londoner Gemälde dem Betrachter die Struktur seines eigenen Zeitbewusstseins einprägsam vor Augen gehalten.

Die drei Lebensalter Das Thema der drei Lebensalter, das indirekt auch in das enigmatische Porträtbild eingebracht worden war, war Tizian bereits seit den frühen Jahren vertraut. Das Gemälde der „Drei Lebensalter“ (heute in der Ellesmere Collection in der National Gallery of Scotland, Edinburgh) wird auf um 1512 datiert (Abb. 174). Es mutet wie eine sentimentale Novelle über zwei Liebende an. Im Kindesalter werden die beiden Schlafenden rechts von einem Cupido behütet, der sie vor dem bedrohlichen Sturz (?) eines morschen Baumstamms beschützt. In reiferem Alter sehen wir das Paar links im Bild  : den spärlich bekleideten Hirten auf dem Rasen sit-

Expressivität, macchia und Hell-Dunkel

zend, ihm zugeneigt die bekränzte junge Frau im festlichen weißen und roten Gewand, die zwei Flöten in ihren Händen hält. Über die erotische Konnotation der Flöte hinaus hatte zur Entstehungszeit des Gemäldes die angesprochene allegorische Bedeutung des Instruments als Attribut der Poesia in der zeitgenössischen Ikonografie Aktualität erlangt, auch in Verbindung mit der Muse der Überredungskunst Peitho wie im „Concert champêtre“ (vgl. S. 63)  ; Bandmann hat darüber hinaus die Flöte mit der „ländlichen Inspiration“ in Verbindung gebracht.87 Die Gefährdung des Lebens und der Liebe war ein Topos der Liebeslyrik und der elegischen Pastoralen der Zeit, so auch in unserem Gemälde  : Die Zweisamkeit der beiden Liebenden kann nicht ewig währen, auch die Liebe und mit ihr das junge Paar ist der Zeitlichkeit ausgeliefert und wird dem Tod anheimfallen. (Das Thema der vom Tod bedrohten Liebe wurde auch in der deutschen Grafik aufgegriffen, so etwa bei Albrecht Altdorfer und Baldung Grien.) Die von der Flüchtigkeit der Zeit bedrohten Liebe findet in unserem Gemälde im Hintergrund eine entsprechende Umsetzung  : Wir sehen dort einen alten Mann, der als Eremit – hätte er Flügel, er könnte als Chronos gelten – zwei Totenschädel hält, die den Lauf der Zeit und das traurige Ende der beiden Protagonisten ins Gedächtnis rufen. Blieb das Thema der „drei Lebensalter“ in dem frühen Bild, das sich heute in Edinburgh befindet, dem vagen, „sentimentalen“ Kontext der Pastorale verhaftet, weist die Allegorie der „Prudentia“ in der National Gallery, London, einen wesentlich stärkeren Bezug zur Gegenwart auf. Panofsky hat bereits in einem frühen Aufsatz versucht, die drei Köpfe dementsprechend zu identifizieren  : den linken als ein Altersporträt des Malers selbst, den mittleren als seinen Sohn Horatio (1525–1576) und den jüngeren als seinen Neffen Marco (geb. 1545).88 Im Katalog von 1990 schreibt Lionello Puppi  : „We find ourselves in the presence of a most unusual figurative testament, as a reflection of Time (the time of life that, on its final hours, finds fullness and hope in the ‚living generation‘ in accordance with the mercantile ‚ethics of the Venetians‘ – governed by Prudence).“89

Expressivität, macchia und Hell-Dunkel Ein wichtiger Aspekt, um den es in diesem Kapitel geht, ist die Dramatisierung der Handlung, deren Konzentration in einem Höhepunkt. In dieser Hinsicht darf Tizian zweifelsohne als ein Wegbereiter der Kunstentwicklung in der zwei-

175 Tizian, Die hl. Margareta, ca. 1556. Prado, Madrid.

ten Hälfte des 16. Jahrhunderts und des Barock gesehen werden – bereits in den 1540er-Jahren ist Tintoretto ihm diesbezüglich gefolgt (vgl. Kap. VI). Die Peripetie wird sowohl durch den Inhalt als auch auf dem Wege formaler Lösungen, etwa in der Komposition, der Farbe und der freien Maltechnik, angestrebt.. Wir werden unmittelbar von der Kraft und Substanz der Farbe angesprochen, die uns auch die Illusion von Dynamik und Bewegung vermittelt. Im Spätwerk lassen sich diese Steigerung und Wirkmächtigkeit auch an Darstellungen von Einzelfiguren wie der des „hl. Sebastian“ von um 1570 (heute in der Eremitage  ; Abb. 180) ermessen.

Die hl. Margareta Aufgrund der Quellenlage ist die Datierung von „Die hl. Margareta und der Drache“ (heute im Prado  ; um 1556) schwankend  ; im Escorial befindet sich eine frühere Fassung, die Philipp II. im Jahr 1552 in Auftrag gegeben hatte. Das Gemälde im Prado weist eine wesentlich klarere Figurenbildung auf  : Die auf einem Bein pivotierende Figur, die sich in dramatischer Drehung der Arme und des Oberkörpers dem Schlund des Drachen entwindet, kann als prominentes Beispiel einer figura serpentinata gelten (Abb. 175)  ; sie geht aber, wie Marcel Grosso zu Recht hervorgehoben hat, auf

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Tizian

gebrochene, zum „Unschönen“ tendierende Farbigkeit wurde hier durch einen dünnen, lavierenden Farbauftrag erzielt, was der pastoseren Technik des letzten Jahrzehnts nicht mehr entspricht. So geht die von Hetzer angesprochene Unfarbe des Spätwerks bereits hier doch mit einigen Werken der späten 1550er-Jahre konform – allen voran mit der dramatischen Darstellung der „Befreiung der Andromeda“ (heute in der Wallace Collection in London), die um 1556 anzusetzen ist. Hier sei auch auf die früheren Auftragswerke für Maria von Ungarn für „das Zimmer der Furien“ im Sommerpalast zu Binche verwiesen, wo die gebrochene Farbigkeit und das gleißende Helldunkel der düsteren Thematik entsprechen (vgl. Abb. 157). Unstimmigkeit besteht noch bei der Einstufung und Datierung der beiden Versionen der hl. Margareta im Escorial und im Prado, wiewohl die dramatische Faktur und Farbigkeit des letzteren Bildes eher für ein Werk der späteren Schaffensphase sprechen.91

Hieronymusbilder

176 Tizian, Hieronymus, 1557–1559. Brera, Mailand.

Raffaels Figurenprägung des „Erzengel(s) Michael“ (heute im Louvre) von 1518 zurück.90 Der Sprung auf den Realraum zu – wir begegnen ihm bereits in Tizians „Bacchus und Ariadne“ und in der „Petrus-Martyr“-Szene aus den 1520er-Jahren – war zweifelsohne ein probates Mittel, um den Betrachter in das Geschehen einzubeziehen. Die Farbigkeit erzeugt ein ungemein suggestives nächtliches Bild, in dem das aufflackernde moosgrüne Gewand, das strahlende Weiß des Untergewandes und der Kontrast mit dem rot-rosa Schleier ins Auge stechen. Der mächtige Leib des Drachens und die Felskulissen sind in Braun- und Grautönen gehalten  ; grandios der Anblick der Lagune mit brennenden Gebäuden im Hintergrund in Grün-Grau – hinter dem Kopf der Heiligen bricht der düstere Himmel in ein gedämpftes Blau auf. Bewegung ist Leben und Errettung  ; die trübe Farbigkeit und das schrille Grün wecken den Rezipienten aus der geruhsamen Position des distanzierten Betrachters. Die

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Die Hieronymusdarstellungen der letzten 20 Jahre im Schaffen Tizians können als ein Musterbeispiel dafür dienen, wie die Konzentration auf die Figur zunimmt und die Attribute und die Umgebung mit dem farbigen Grund des Bildträgers immer stärker verschmolzen werden. Als Vorgriff, für das Entstehungsjahr von 1531 eher untypisch, erscheint das breitformatige frühe Bild des „Hieronymus“ im nächtlichen Dunkel für Federico Gonzaga (heute im Louvre). Die Landschaft nimmt hier einen breiten Raum ein, insofern geht das Bild konform mit der Stilentwicklung dieser Zeit, zu der eine Beruhigung eintritt und die Figuren in die Umgebung eingebettet werden. Bereits 1506 hatte Lorenzo Lotto in einem kleinen Gemälde (heute im Louvre) sich dem Thema zugewandt und Tizian kann sehr wohl von diesem Werk angeregt worden sein. Was die Integration der Figur in die Landschaft und die abendliche Beleuchtung und Stimmung in Lottos Hieronymusbild betrifft, ist es mit den beiden vorangehenden „Allegorien“ (heute in Washington) in Zusammenhang zu sehen (vgl. Abb. 16, 17). Für die Kirche Santa Maria Nova entstand 1557–1559 ein großes, hochformatiges Altarbild mit dem „hl. Hieronymus“, das sich heute in der Brera in Mailand befindet (Abb. 176). Die plastisch sorgfältig ausgeführte Figur des Heiligen, der den Stein fest umfasst, sich an den Fels lehnt und das Kreuz anstarrt, beherrscht den Vordergrund. Das zinnoberfarbene Tuch, das um ihn geschlungen ist, steht im effektvollen Kontrast zu der wilden Parklandschaft im Hintergrund mit ihrer satten braungrünen Vegetation und den

Expressivität, macchia und Hell-Dunkel

üppigen Baumkronen. Bei der Erläuterung der herkömmlichen Ikonografie des Heiligen mit dem schlafenden Löwen, dem Efeu als Verweis auf den Erlöser und das Kreuz sowie die bedrohliche Eidechse braucht Gentili bezeichnenderweise nur auf seine eigene Interpretation der Hieronymusbilder Giovanni Bellinis zurückgreifen, die beispielhaft für die Kontinuität der venezianischen Tradition stehen.92 Seltener ist die Darstellung der Schnecke, die langsam und geduldig ist wie der Heilige selbst, der mit dem Felsen verbunden ohne Speise auskommt und besitzlos in einer Höhle lebt.93 Zeit und Vergänglichkeit werden überdies durch die Gebeine, einen Totenkopf sowie eine Sanduhr auf dem Felsbrocken links des Heiligen angesprochen. Die zweite Version des „hl. Hieronymus“ (heute im Escorial) wurde 1575 an Philipp II. gesandt, könnte aber bereits früher ausgeführt worden sein. Der Büßer ist noch näher an den Betrachter herangerückt  ; auffallend sind der Prachtband der Vulgata sowie die Sanduhr und Notizblätter auf der Felsenbank links. Landschaft und Laubwerk wurden zu einer Höhle verdichtet und in Dunkelheit gehüllt – ein kräftiges Ultramarin steht für einen Ausschnitt des Himmels, unter dem sich eine Gebirgskette und eine weite Ebene auftun. Bei der Ausführung handelt es sich um eine macchia großen Stils, die der autonomen Farbgebung den Vorrang vor der Mimesis gibt und das projektive Vermögen des Betrachters in hohem Maße in Anspruch nimmt. Der diagonal einfallende Lichtstrahl, ein kräftiger weißer Pinselstrich, lenkt den Blick auf das Kruzifix. Der freie Malduktus kommt noch stärker in der wohl spätesten Version des „Hieronymus“ von 1575 (heute in der Sammlung Thyssen-Bornemisza, Madrid) zum Tragen (Abb. 177). Die ganze Malfläche ist zu einem vibrierenden Geflecht aus warmen braunen Tönen verschmolzen, die Fels, Vegetation, Himmel und den Heiligen selbst gleichermaßen durchdringen. Die ehemals stupende Kontrastierung warmer und kalter Farben wurde hier aufgegeben  : Das Rot des Mantels dient zur Steigerung des farbigen Zusammenschlusses, während der Lichtwert des Buches herabgestuft wurde. Einige wenige Attribute mussten ausreichen, die auch noch durch das Helldunkel verunklärt wurden  : „Der Heilige ist jetzt mehr denn je absoluter Protagonist in jenem Raum der Meditation und Askese, dessen Attribute auf das notwendige Minimum reduziert sind.“94 In der Tat wird der Betrachter angehalten, sich in die Stimmung des Bildes hineinzuversetzen, das aus dem farbigen Gewebe und den fließend aufgetragenen Farbschichten von innen her mit mystischer Glut gefüllt wird. Immer deutlicher führt der Weg vom bunten Streifen der sichtbaren Welt und des Lebens zur inneren Schau einer vom Maler evozierten Vision. In diesem

177 Tizian, Hieronymus, ca. 1575. Museo Thyssen-Bornemisza, Madrid.

Augenblick der Verdichtung und Steigerung der Erlebniszeit kommt es zu einer Verschmelzung der ästhetischen und der religiösen Erfahrung. Der Altersstil Tizians konvergiert mit dem Rembrandts und nicht zufällig hat Cavalcaselle im Fall des „hl. Sebastian“ in der Eremitage auf den Holländer verwiesen. Die spätesten Werke aus den 1570er-Jahren verzichten immer mehr auf die mimetische Wiedergabe der heiligen oder mythologischen Figuren. Die Akteure wenden sich nicht mehr rhetorisch-ostentativ an den Betrachter  ; dieser wird vielmehr durch die Verdichtung und Vereinheitlichung des farbigen Grundes in den Bann der Malerei gezogen. An einem Vergleich soll diese „Umpolung“ der Erlebniszeit infolge der maltechnischen Entwicklung in den letzten Jahren Tizians deutlich gemacht werden.

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Tizian

compassio anzuhalten. Nicht zufällig wurde gerade diese Qualität in einem längeren Abschnitt von Vasari angesprochen, der das Gemälde im Haus Tizians 1566 gesehen haben dürfte  : „Eine Halbfigur einer unfrisierten hl. Maria Magdalena, der die Haare über die Schultern, um den Hals und über die Brust fallen, und indem sie das Haupt mit den starren Augen zum Himmel erhebt, zeigt sie in der Röte ihrer Augen Zerknirschung und in den Tränen Schmerz über ihre Sünden, weswegen dieses Gemälde jeden, der es betrachtet, außerordentlich bewegt, und was noch mehr ist – mag sie auch wunderschön sein – nicht zur Wollust bewegt, sondern zum Erbarmen.“96

Verkündigung

178 Tizian, Maria Magdalena, 1567–1569. Eremitage, St. Petersburg.

Spätwerke – Materialität und Vergänglichkeit Maria Magdalena In dieselbe Kategorie wie die Hieronymusbilder der 1560erJahre gehören die „Varianten der Maria Magdalena“, unter denen diejenigen im Museo Nazionale di Capodimonte in Neapel und in der Eremitage in St. Petersburg, wohl im Zeitraum 1567–1569 ausgeführt, herausragen (Abb. 178). Wie beim Hieronymusbild im Escorial wird eine unmittelbare farbige Wirkung durch das kräftige Ultramarin des Himmels erzielt, das sich von den Gelbtönen des Inkarnats, dem Rosa in dem gestreiften Schleier und den Braun- und Olivtönen abhebt. Ein Röntgenbild im Katalog von 2007 bezeugt die offene Malweise der späten Version aus der Eremitage direkt auf der Grundierung.95 Dies dürfte allerdings bei fast allen späten Werken Tizians der Fall sein. Die Magdalena zeichnet sich indes in der Fertigstellung durch eine sehr genaue Ausführung aus, was Stofflichkeit und physiognomische Charakteristik gleichermaßen betrifft. Dieses Gemälde, das vermutlich bis zum Tod im Besitz des Malers verblieb und von ihm besonders hoch geschätzt wurde, war auf dem Wege der Mimesis dazu angetan, den Betrachter zur

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1559, auf der Schwelle zur Spätphase seines Schaffens, erhielt Tizian von Antonio Cornovi, einem reichen Kaufmann, den Auftrag, ein Altarbild für dessen Begräbnisstätte in der Kapelle des hl. Augustinus in San Salvador in Venedig auszuführen (Abb. 179). Auf der Stirnseite der oberen Marmorstufe am unteren Rand des Gemäldes lesen wir  : Ignis ardens non comburens – der Ausspruch bezieht sich eigentlich auf den „brennenden Dornbusch“ (Ex 3, 2), der wiederum von den Exegeten als eine Metapher für die Jungfräulichkeit Mariens ausgelegt wurde. Das Glas mit dem Rosenstrauch, rechts auf dem Terrassenboden stehend, darf im Sinne der in den Revelationes der hl. Birgitta angesprochenen „unbefleckten Empfängnis“ gedeutet werden. Im Katalog von 2007 heißt es  : „Sowohl das Feuer als auch das Licht sind Begriffe, die für den Heiligen Geist stehen können  : und in der Tat sehen wir ihn, wie er in Gestalt einer Taube den Himmel zerteilt und sich auf die Jungfrau aus Nazareth herniedersenkt. Er bricht über sie herein wie ein heftiger Windstoß, der den purpurnen Schleier, der Maria, die hier zum Gefäß des inkarnierten Wortes wird, traditionellerweise bedeckt, in die Lüfte reißt.“97 Die Beschreibung ist insofern von Interesse, als sie sich mit früheren Exegesen und auch Darstellungen der „Verkündigung“ deckt, ohne sich explizit auf diese zu beziehen. Mit einem Windstoß wird die Ausgießung des Hl. Geistes im Pfingstfest von Ludolph von Sachsen verglichen und in Bonaventuras Lignum vitae (um 1250) kommt der Hl. Geist in Gestalt eines göttlichen Feuers über die Jungfrau (vgl. Bild/Zeit, II, 2004, S. 130). Bei Tizian wird die Dynamik des Vorgangs durch die drastischen Bewegungen der Figuren sinnfällig  : des Engels, Marias (deren Haltung auf ein antikes griechisches Relief zurückgeht), der vielen Putten und der Taube  ; hinzu treten das expressive Helldunkel, die lockere

Spätwerke – Materialität und Vergänglichkeit

179  Tizian, Verkündigung, ca. 1559. San Salvador, Venedig. 180 Tizian, Der hl. Sebastian, 1575. Eremitage, St. Petersburg.

Pinselführung und die abgestuften warmen Farbtöne, die von Gelb-Weiß über Ocker-Orange bis zum tiefen Rot reichen  ; im Karmin und im kräftigen Ultramarin des Gewandes der Jungfrau wird die Farbigkeit noch einmal gesteigert.

Der hl. Sebastian Beim hl. Sebastian (heute in der Eremitage, St. Petersburg  ; um 1575  ; Abb. 180) hat bereits Cavalcaselle auf die Vereinheitlichung und Vermengung der Farbmassen hingewiesen, auf das erdfarbene, durchglühte Helldunkel in Oliv, Ocker,

Rot und Weiß, alles fleckenhaft aufgetragen, sodass die überlebensgroße, noch der Klassik verpflichtete Gestalt sich farbig mit dem Grund verbindet, der zusätzlich noch mit Bitumen verdichtet wurde. Die negative Einschätzung des Gemäldes bei Gentili, der auf technische Mängel der Zeichnung und der Landschaft hinweist – „verschwommen, unklar, unorganisiert, ohne irgendeine Funktionalität in Hinblick auf das Sujet“98 –, ist gerade dazu geeignet, den Wandel vom äußeren schönen Schein und dessen „korrekter“ Wiedergabe zur inneren Schau, die aus der subjektiven Sicht des Malers, der offenen Malweise und der mutwillig „unschönen“ Farbenwahl erwächst, deutlich zu machen.

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Tizian

Wer nicht bereit ist, sich in diese zu versenken und den Prozess der abstrahierenden Materialisierung anzunehmen, wird den Zugang zu den letzten Werken des Meisters nicht finden. Auch der Vorwurf, Tizian habe das Sujet aus den Augen verloren, verkennt die Auslotung desselben durch rein malerische Mittel, auch wenn die Figur sehr wohl auf eine antike Statue, die sich in der Casa der Familie Nani befand (heute in der Eremitage), zurückgeht. Irina Artemieva hat sehr treffend die Konzentration und Übertragung der Ausdruckswerte auf die plastische Gestaltung des Heiligen beschrieben  : „Die Figur Sebastians tritt aus dem Dunkel, gleichsam erleuchtet vom Feuerschein oder von den rötlichen Streifen des Sonnenuntergangs. Obwohl – oder vielleicht gerade weil – es unvollendet ist, berührt das Gemälde auf besondere Weise  : durch seine Kraft und die mächtige spirituelle Energie, die sich in einer einzigen Figur konzentriert. Ein analoges Bild zu finden ist schwer  : Vielleicht sehen wir ein vergleichbares tragisches Pathos nur in den späten Werken Michelangelos. Das Heldentum eines Mannes, der sich der feindlichen Welt entgegenstellt, die ihn eingekreist hat, erreicht in diesem Gemälde seinen höchsten Ausdruck.“99

Tarquinius und Lucretia Die Dramatisierung der Handlung auf den entscheidenden Höhepunkt hin lässt sich bereits im Frühwerk Tizians, seinem Naturell entsprechend, nachweisen. Man braucht nicht immer die Dramentheorie dafür verantwortlich machen, auch wenn die Aristotelesrezeption im 16. Jahrhundert der rhetorischen Inszenierung der Bildinhalte, insbesondere im Zeitalter der Gegenreform, Nachhaltigkeit und akademische Legitimation verlieh. Wie nun in Tizians expressivem Spätwerk die dramatische Emphase zu einer Konzentration, oder besser  : Reduktion des Sujets und zu einer verstärkten Fleckenmalerei geführt hat, lässt sich gut anhand der späten Darstellungen der Gewaltszene mit Tarquinius und Lucretia verfolgen. Bereits in dem früheren, phänomenalen Gemälde aus dem Kunsthistorischen Museum in Wien (um 1515) hat sich Tizian der Schilderung des Selbstmordes von Lucretia zugewandt (vgl. S. 236, Abb. 138). Die Heldin, womöglich von ihrem Gemahl Collatinus bedrängt, hat bereits den Dolch zum Stoß angesetzt. Ihr Antlitz ist hell beleuchtet, der Blick nach oben gerichtet – entrückt, bereits einem höheren Dasein geweiht. Die Ambivalenz der Szene durch den eher bedrohlich wirkenden Ehemann dürfte dem Rollenwechsel zuzuschreiben sein. So zeigt die Untermalung, wie Ferino-Pagden hervorhebt, die vorangegangene gewaltsame Bedrohung Lucretias durch Tarquinius.100

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In den Jahren 1571–1575 hat Tizian zwei, wenn nicht gar drei Versionen der Lucretia geschaffen, die den vorhergehenden Akt der Nötigung und Vergewaltigung thematisieren. Im ersten Fall handelt es sich um ein für Philipp II. ausgeführtes Gemälde, das 1571 von Cornelis Cort gestochen wurde und später in das Fitzwilliam-Museum in Cambridge gelangt ist (Abb. 181). Flüssiger gemalt, aber in Habitus und Aussehen an die früheren Venusdarstellungen anknüpfend, sehen wir Lucretia mit emporgestrecktem Arm, die Linke in Abwehr gegen die Brust des Bösewichts gestemmt. Der prächtig Gekleidete erscheint als Verkörperung der Aggression – die Arme ausschwingend, den Arm fixierend und das Messer in der Schwebe haltend, die Hose in heißem Karmin und die Strümpfe in grellem Zinnober, das rechte, eingewinkelte Bein zwischen die nackten Frauenschenkel eingeschoben. Zwei Diagonale beherrschen das Bildfeld  : die der liegenden Frau, deren Körper durch den Vorwärtsdrang des Aggressors in die aufgestapelten Polster gedrückt wird  ; und die durch die Arme gebildete (räumlich als Kurve zu sehende) fallende Diagonale von links nach rechts, der abrupt durch den emporgestreckten Arm Einhalt geboten wird. Der Diener, am linken Bildrand nur schemenhaft zu erkennen, ist, wie Ferino-Pagden bemerkt, wohl zu Unrecht als „Voyeur“ und somit als Spiegelbild des Betrachters gedeutet worden.101 Zum einen war dem Diener nach den Texten des Livius (Ab urbe condita I, 58) und Ovids (Fasti II, 725–850) im Erpressungsplan des Tarquinius eine Opferrolle zugedacht  ; zum anderen werden wir uns als Betrachter durch den beiseitegeschobenen Vorhang bewusst, dass das, was wir sehen, eigentlich nicht für unsere Augen bestimmt ist  ; erst nachträglich wird der Frevel durch das Opfer selbst ins rechte Licht gerückt. Der Diener kann auch als reiner Verweis auf die Enthüllung des Geschehens verstanden werden. Für Tarquinius erscheint die Frau als leibhaftige Entsprechung aller vom Hörensagen kolportierten Wunschvorstellungen  ; für den Betrachter, der nolens volens in die Rolle des Zeugen (oder doch „Voyeurs“) gedrängt wird, nimmt der tragische Verlauf der istoria, die in den Gründungsmythos Roms einging, von dem Sichtbaren, Aufgedeckten visuell beglaubigt seinen Anfang. Schon früher hat sich Tizian mit dem moralischen Problem des Verhüllens und Aufdeckens oder der Profanierung eines Geheimnisses auseinandergesetzt, insbesondere in manchen mythologischen Werken wie „Diana und Aktäon“ bzw. „Diana und Callisto“. Es wäre nicht Tizian, wären nicht alle plastisch-raumgreifenden Figuren nicht zugleich auch an die Bildfläche gebunden. So wird diese von jenen praktisch zur Gänze besetzt, bis auf das dreieckige Feld unten rechts, das mit seiner horizontalen Gliederung durch die Polster den ungestüm sich

Spätwerke – Materialität und Vergänglichkeit

181  Tizian, Tarquinius und Lucretia, ca. 1571. Fitzwilliam-Museum, Cambridge.

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182 Tizian, Tarquinius und Lucretia, ca. 1575. Akademie der bildenden Künste, Wien (Farbtafel XVI).

Scuola del Santo, Padua, „Laurentius’ Martyrium“ in der Jesuitenkirche, u. a.; konnte eine verstärkte Verschränkung des Aggressors mit der labilen Rotationsfigur der Lucretia festgestellt werden  ; die Übertragung innerer Seelenzustände auf den Bewegungsablauf, die Umwandlung psychischer Energie in kinetische wird hier eindrücklicih vorgeführt. Zugleich lösen sich Körper und Gewänder in dramatische farbige Flecken auf  – das düstere Geschehen gärt in dem glühenden purpurnen Grund, in dem sich gleißende Höhungen in Ocker, Gelb, Grau, Rosa und Weiß entfalten. Die Verdichtung der Handlung auf den Augenblick kurz vor dem fatalen Umschwung hin und der emotionale Nachvollzug mittels der Bewegungsdarstellung und des Farbauftrags lassen in diesem Gemälde wie kaum in einem anderen die Äquivalenz der Malerei mit dem Inhalt zum Tragen kommen (man vergleiche etwa die Überlegungen zur „Zeitgestalt“ und zur „nachschaffenden Betrachtung“ in der Einleitung, S. 16). Noch im Fallen sucht Lucretia sich der Gewalt zu erwehren, aber schon zeichnet sich die physische Ausweglosigkeit ihrer Lage ab. Nur der Selbstmord wird sie letztendlich aus der verhängnisvollen Umklammerung des Geschehens befreien.

Nymphe und Schäfer kreuzenden Diagonalen den Bewegungsduktus bremst. Der Primat der Fläche und die relative Gleichgültigkeit des Malers gegenüber der „korrekten“ Wiedergabe der Anatomie – eine Tendenz, die bereits in der Darstellung der „Diana im Bade“ deutlich wurde – werden hier noch verstärkt. Oberkörper und Arme des Tarquinius sind dem Betrachter zugewandt, während Hüfte und Beine schräg von hinten zu sehen sind. Was die Figur an Dynamik und Illusion eines sich in der Zeit vollziehenden Bewegungsduktus gewinnt, geht auf Kosten der anatomisch korrekten Wiedergabe, d. h. der Kohärenz der räumlichen Struktur. Die Version von „Tarquinius und Lucretia“ in der Akademie der bildenden Künste in Wien von um 1570–1575 gehört aufgrund des radikalen Fleckenstils und des Ausschnitthaften ohne Zweifel zu den spätesten Werken des Malers (Abb. 182). Der besonders in England vertretenen Meinung, das Bild sei unvollendet und womöglich nur das Werk eines Kopisten, kann nicht beigepflichtet werden. Die Dynamik der nur partiell wahrnehmbaren Gestalten in der flüchtigen Manier sich überlagernder, geschwind ausgeführter Pinselstriche entspricht nicht dem Anfangsstadium, sondern dem Ende eines durch Röntgenaufnahmen beglaubigten langwierigen Entstehungsprozesses. Infolge von Rückgriffen auf frühere formale Lösungen wie etwa in der

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Trug in den bisher behandelten Werken die pastose, freie Maltechnik entscheidend zur Dramatisierung der Handlung bei, dient sie in dem bekannten Spätwerk „ aus dem Kunsthistorischen Museum in Wien zur Intensivierung der Stimmung (Abb. 183). Wie im Katalog von 2007/2008 wohl zu Recht bemerkt, kann von einer Handlung im eigentlichen Sinn nicht gesprochen werden – zumindest gehören die Akteure, der Schäfer und die auf einem Pantherfell ruhende Nymphe, zum Kontext der Pastorale, der ein bestimmter Inhalt nur schwer zuzuordnen ist  : das traute Beisammensein im Schatten der Buche, der bekränzte Hirte, der die Flöte kurz absetzt und sich der liegenden Frau zuneigt (hier könnte Sebastiano del Piombos Fresko mit Polyphem in der Farnesina als Anregung gedient haben102). Die Nymphe wirft dem Betrachter über die Schulter einen vielsagenden Blick zu  ; formal dürfte sie auf den bekannten Kupferstich mit dem Rückenakt von Giulio Campagnola aus dem Umkreis Giorgiones zurückgehen. Im Hintergrund nippt ein Ziegenbock, auf den Hinterläufen stehend, an einer Baumkrone – ein archetypisches Motiv, das die Fruchtbarkeit der Natur im Rahmen der Pastorale anspricht. Die Unwägbarkeit der inhaltlichen Bestimmung wird aus den vielen Deutungen ersichtlich, die in den letzten Jahr-

Spätwerke – Materialität und Vergänglichkeit

183 Tizian, Nymphe und Schäfer, ca. 1575. Kunsthistorisches Museum, Wien (Farbrafel XVII).

zehnten vorgebracht wurden. Keine Frage, dass es in einer späten Anlehnung an Giorgione in erster Linie um die Stimmung geht  : Das schwindende Licht des versinkenden Tages, die anhaltende Hitze in der Dämmerung – dies alles wird unmittelbar in der lockeren Malweise und der Verdichtung der ins Ocker, Oliv, Braun und Grau gebrochenen Farbtöne, in dem für das Spätwerk charakteristischen intensivierten Englisch-Rot in Kombination mit Weiß umgesetzt  : Die Stimmung ist vom Augenblick getragen und greift auf die Zweisamkeit des Liebespaares über. Wie der verschlungene Ton der Flöte vergeht, so scheint die Hitze der Erotik, von der Nacktheit der Frau auf dem „libidinösen“ Pantherfell (Ripa) angesprochen, bereits im Akkord der Schatten in der Dämmerung zu verklingen. Wie die gebrochenen Farben sich von der heiteren Präsenz der klaren Primär- und Lokalfarben verabschiedet haben, so wird die Grundstimmung

vom Bewusstsein um das Transitorische des Daseins getragen, indem die Schönheit und Wärme in das Schattenreich der Vergangenheit versinken, um allein in der Erinnerung zu überdauern. In seinem Aufsatz über die Verquickung von Gesicht und Gehör, die von Ficino nach platonischem Vorbild entwickelt wurde (vgl. S. 274), hat Otto Brendel auch das Wiener Gemälde besprochen.103 Die emphatische Stimmung, das Flüchtige und Unbestimmte, trügen zu der angesprochenen Unwägbarkeit des Themas bei. Immer neue Interpretationen, die auf mythologische Liebespaare Bezug nehmen, sind Legion  : Diana und Endymion, Daphnis und Chloë, Venus und Aeneas, Orpheus und Mänade.104 Panofsky verweist auf den mentalen Abstand, der sich zwischen den beiden Protagonisten auftut  : zwischen dem Hirten in phrygischen Hosen, von der Flöte ablassend, sich der Frau zuwendend  ; und

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dieser, ihm den Rücken zugekehrt, den Blick über die Schulter auf den Betrachter richtend.105 In der Hypnerotomachia von 1499 war das Thema Liebe, Vergänglichkeit und Tod in Anlehnung an die elegische Dichtung der hellenistischen und römischen Zeit behandelt worden. Tizian hat wiederholt darauf zurückgegriffen, so etwa in Die drei Lebensalter oder im Mythos von Venus und Adonis. Nicht nur die Metamorphosen des Ovid konnten mit einer Fülle von mythologischen Liebespaaren aufwarten, deren Glück in Tragik endet. Panofsky bezieht sich in seiner Deutung des Gemäldes auf ein weniger bekanntes Werk des Dichters, seine Briefe oder Heroïden, in denen 21 imaginäre Liebesbriefe großer Liebhaber der Vergangenheit vorgestellt werden. Der „fünfte Brief“ ist von der unglücklichen Nymphe Oenone an den Prinzen Paris gerichtet, der, vom Hof Trojas vertrieben, als Hirte eine glückliche Zeit mit ihr in den Wäldern verbrachte. Nach seiner Begegnung mit Helena nimmt das von Oenone geahnte Unheil seinen Lauf. Auf die Trennung folgen Verwundung und Tod des Geliebten  ; am Ende nimmt sie sich selbst das Leben, um auch in Paris’ Grab bestattet zu werden – ein klassisches Motiv der elegischen Dichtung Wie bereits besprochen griff Jürgen Rapp in seiner Interpretation von Giorgiones „Tempesta“ ebenfalls die Geschichte von Oenone und Paris zurück, um den enigmatischen Bildinhalt aufzuschlüsseln – vgl. S. 55.106 Bereits in den 1550er-Jahren hat Tizian wie gezeigt manchmal auf die „korrekte“ Wiedergabe der Anatomie zugunsten der Bewegungsdarstellung und der Expressivität verzichtet. In seinen Alterswerken verstärkt sich diese Tendenz. Der Betrachter ist jedoch so auf das freie Spiel des Farbauftrags und den sich verdichtenden Malgrund und die darin versinkenden Figuren fokussiert, dass derartige Unstimmigkeiten gar nicht erst ins Bewusstsein treten. Der Rückenakt in unserem Gemälde ist wie erwähnt der venezianischen Tradition verpflichtet, der Kopf der Nymphe nicht organisch mit ihrer Schulterpartie verbunden. Vollends befremdlich ist die über dem rechten Oberarm erscheinende krallenförmige Hand, die anatomisch frei stehend wirkt. Die Frage der Zugehörigkeit stellt sich hier, da wir auch den Zipfel eines Gewandes wahrnehmen, das kaum der Nymphe zuzuordnen ist. Wahrscheinlich haben wir es mit einer Änderung im Laufe der Ausführung zu tun. Suida hat bereits 1933 diese Möglichkeit in Betracht gezogen, die 1995 auch von Koos aufgegriffen wurde.107 Im Katalog von 2007/2008 wird argumentiert, dass bei einer Veränderung der Körperhaltung der Nymphe die Kontur von bleiweißhaltiger Farbe überlagert hätte sein müssen. Dies ist gerade bei der besagten Hand der Fall.108 Sie dürfte somit von Beginn an als eine Geste des Umfangens geplant gewesen um dann verworfen

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zu werden. Aus der Sicht der Zeitlichkeit hätten wir es somit mit zwei Momenten eines Handlungsablaufs zu tun  : dem unmittelbaren Gestus der Vereinigung zweier Liebender „inmitten der Herden, wo wir unter Schutz von einem Baum gerastet sind, auf unserem Hochzeitsbett aus Gras und Laub“ (Heroïdes V, 14–16)  ; oder im Nachhinein ruhend, dem verhallenden Ton in der Dämmerung des verglühenden Tages nachsinnend. Jedenfalls spricht aus dem Bild das Verlangen, den Augenblick der Sinnlichkeit und des Glücks festzuhalten, ihn quasi durch den Malakt selbst der verrinnenden Zeit zu entreißen.

Die Schindung des Marsyas Wenn von einer übergreifenden Intentionalität im späten Schaffen Tizians gesprochen werden kann, dann im existenziellen Sinn des Malakts  : gegen Vergänglichkeit, Schmerz und Tod, gegen die schicksalhafte Verstrickung des irdischen Lebens, gegen Erdenschwere und chronische Dunkelheit anmalen  ; Befreiung von der äußeren Form und dem trügerischen Schein des flüchtigen, bunten Lebens  ; der Versuch, aus der Materie, dem Unfärbigen und Ungestalten, die Farbe in unzähligen Verbindungen substanziell hervortreten zu lassen, um eine Ahnung von der Schönheit zu vermitteln, die im Stofflichen beschlossen liegt und deren Freisetzung durch den Malakt Transzendenz verheißt. Diese Umschreibungen könnten ebenso als Charakteristik für die späten Zeichnungen, Fresken und Plastiken Michelangelos gelten. Es geht um den Kampf der Künstler gegen Zeit und Vergänglichkeit. Nicht zufällig wurde Michelangelos Anteilnahme an der innerkirchlichen Reformbewegung in den 1530er- und 1540er-Jahren angesprochen, die mehrfach erörterte neuplatonische Beeinflussung des Künstlers, die expressis verbis in seinen Sonetten beglaubigt wird. Tizian hat sich in seinem grandiosen, aber auch furchtbaren Gemälde „Schindung des Marsyas“ im Erzbischöflichen Palast in Kremsier (Umělecko historické Muzeum, Kromeříž) mit diesem Thema auseinandergesetzt, gewiss auch mit dem neuplatonischen Sinn, nach dem der Mensch sich aus seiner irdischen Hülle zu befreien habe, um der Seele den Zugang zum Himmlischen zu ermöglichen (Abb. 184). Einschlägige Darstellungen waren vorausgegangen, allen voran Raffaels Fresko an der Decke der Stanza della Segnatura 1511, das auf die römische Kopie einer hellenistischen Statue des Marsyas, die sich damals in der Sammlung della Valle in Rom befand, zurückging (heute in den Uffizien).109 Raffael war sich der tieferen Bedeutung des Motivs be-

Spätwerke – Materialität und Vergänglichkeit

184 Tizian, Schindung des Marsyas, ca. 1575. Umělecko historické Muzeum, Kromeříž.

wusst – siedelte er doch die Szene im Deckenprogramm in unmittelbarer Nachbarschaft zur geflügelten Poesia an, die den Hauch des Göttlichen als furor poeticus sive divinus spüren lässt. Die antike Plastik hat Raffael den Anstoß zu der Darstellung gegeben. Der mit Lorbeer gekrönte Apoll selbst führt die Schindung durch (Abb. 185). Er repräsentiert jene

Klarheit und Ordnung, nach der sich die Seele nach neuplatonischer Anschauung sehnt. Ficino und andere wurden nicht müde, diesen Drang nach dem Metaphysischen, Göttlichen zu verkünden.110 Die Lyra Apolls dient als Zeichen des Triumphes seiner Rationalität im Wettstreit mit Marsyas, der die Sinnlichkeit und die niederen Triebe des irdi-

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Tizian

185 Raffael, Schindung des Marsyas (Ausschnitt), ca. 1511. Decke der Stanza della Segnatura, Vatikan.

schen Daseins repräsentiert.111 In der Sala delle Metamorfosi im Palazzo del Tè in Mantua hat Giulio Romano das Thema erneut aufgegriffen – trotz vieler Abweichungen spricht vieles dafür, dass Tizian damit vertraut war oder gar eine Vorzeichnung mit dem Apoll von dem Freund erhalten hatte.112 In der Untermalung des Marsyasbildes in Kremsier spielt Apoll auf einer Lyra, die später durch eine viola da braccio ersetzt wurde. Diese Veränderung mag mit der fundamental neuartigen malerischen Auffassung des mythologischen Themas zusammenhängen, die der Klarheit und Schönheit des apollinischen Ideals diametral entgegengesetzt ist. Im dumpfen Walddickicht, von schwelendem Dunst durchzogen, sehen wir den so grausam Gemarterten kopfüber an einem Baum gefesselt hängen, während ein Skythe und Apoll (oder sein Gefolgsmann) die Häutung verrichten.113 Rechts erscheint eine bei diesem Geschehen bislang nicht gekannte Gruppe – ein Faun mit einem Eimer, der sinnierende Midas und ein Knabe mit einem Hund –, die den bestialischen aggressiven Charakter der Szene noch verstärkt (der kleine Blut leckende Hund im Vordergrund war offensichtlich nicht grausig genug). Die schummerige Beleuchtung mit ih-

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rem schwefeligen Grauton und ihren Weißhöhungen, aus denen herabgestuft der Ockerton in der Karnation der Protagonisten hervorschimmert, erweckt den Eindruck einer versteckten Lichtung im Waldesinneren, aus der kein Weg herausführt und in der kein Hoffnungsschimmer aufkommt. Der einzige Farbakzent setzt sich im bläulich gebrochenen Purpur im Gewand des Spielers der viola da braccio links und als farbiger Ausgleich im Gewand von König Midas rechts fort. Unstimmigkeit besteht, was die Ikonografie der Szene betrifft. Dies ist zum einen darauf zurückzuführen, dass Tizian zwei zeitlich auseinanderliegende Themen der istoria verschmolzen hat  : das Musizieren als Wettkampf einerseits, die spätere Bestrafung des Verlierers andererseits. Midas war eigentlich nicht Schiedsrichter im Wettspiel zwischen Apoll und Marsyas, sondern bei dem zwischen Apoll und Pan. Diese Vermengung setzt sich in der Darstellung der Panflöte fort, die am Baum hängt  – eigentlich hätte es ein aulos (manchmal in Form einer Doppelflöte) sein müssen, an dem Marsyas seine Virtuosität unter Beweis stellen sollte.114 Wie in den großen mythologischen Gemälden der 1550er-Jahre holte sich Tizian Anregung aus den einfachen Holzschnittillustrationen der Jahrhundertwende. So finden wir im Ovid volgare (Venedig 1501) eine Darstellung mit Apoll und Marsyas (fol. 49v) und eine andere mit Apoll und Pan (fol. 143r). Der Maler hat bewusst die beiden Geschichten zusammengeführt. Die Gründe hierfür dürften persönlicher Natur gewesen sein. Die Venusbilder thematisieren die Komplementarität von Gesicht und Gehör, die wiederholt in Tizians Malerei angesprochen wird (vgl. S. 68, 212, 250). Dazu gesellt sich der bereits in der antiken Musiktheorie entwickelte Gegensatz von Saiten- und Blasinstrumenten  : Die Lyra Apolls, die kithara, steht für attische Rationalität und Klarheit, der aulos des Marsyas für das aus Kleinasien stammende dionysische Element, für Leidenschaft und Ausschweifung. Es handelt sich um nichts weniger als einen kulturanthropologischen Aspekt, der von Plato im Staat (III, 399) angesprochen wird und in der Folge auch von Aristoteles (Politeia VIII, 1341a, 20  ; VIII, 1342, 6, 1) und Aristides Quintilianus in seinen Drei Büchern über Musik (3. Jh. n. Chr.).115 Gegen Attische Kitharödik steht die phrygische Auletik  ; bereits in der attischen Vasenmalerei des 5. Jahrhunderts finden sich Beispiele dieser Polarität. Die unterschiedliche Wertschätzung der beiden modi wird in der Folge auch in der Renaissance durch die Gegenüberstellung der Musikinstrumente deutlich gemacht. Vor allem geht es um die ethische Wirkung der Musik, exemplifiziert durch die unterschiedlichen Ausdruckscharaktere des strengen dorischen bzw. des leidenschaftlichen phrygischen Stils. Durch

Spätwerke – Materialität und Vergänglichkeit

die Übertragung dieser musiktheoretischen Aspekte auf die Architektur gewann der Modusbegriff eine Verbindlichkeit und Verbreitung, die der abendländischen Baukunst seit dem 16. Jahrhundert ihren Stempel aufdrücken sollte.116 Von dem Wahn des göttlich inspirierten Künstlers, jener manía oder jenem furor divinus sive poeticus, von dem Ficino in Anlehnung an Plato spricht, wurde nicht nur der Dichter befallen. In der Renaissance war man inzwischen bereit, den göttlichen Ursprung künstlerischer Inspiration überhaupt anzuerkennen und in der spätmanieristischen Kunsttheorie sollte es zu einer metaphysischen Überhöhung dieses Gedankens der göttlichen grazie kommen. In der ersten Fassung von Raffaels „Parnass“ in der Stanza della Segnatura, die in einem Stich von Marcanton Raimondi nach einer Vorzeichnung Raffaels auf uns gekommen ist, sehen wir Apoll im Kreis der Musen auf einer Lyra spielen. In dem Fresko wurde das Instrument durch die viola da braccio ersetzt (Abb. 186). Der Blick Apolls ist im Zustand der Entrückung himmelwärts gerichtet, womöglich auf die göttliche „Poesia“, die über ihm im Tondo an der Decke erscheint. Dieselbe Transformation hat nun auch Tizian in seinem Gemälde vorgenommen. Anstatt auf der Lyra spielt Apoll hier ebenfalls auf einer viola da braccio, womöglich der Zeichnung Giulio Romanos entnommen. Sein Blick ist gleichermaßen verzückt, in Trance nach oben gerichtet. Der Gegenspieler Apolls ist immer noch Marsyas, wiewohl eine Panflöte am Baum hängt. Ob der mit Lorbeer bekränzte Schinder mit dem Gott identisch ist, bleibt offen  ; die Verdoppelung eines Protagonisten in der Szene dürfte dem Maler vermutlich egal gewesen sein. Im Grunde handelt es sich um zwei Aspekte derselben Handlung  : Nicht der Wettstreit steht im Mittelpunkt des Interesses, sondern die seelenheilende Funktion der Musik und der von ihr vorgezeichnete Weg zum Göttlichen. Chastel hat darauf hingewiesen, dass die viola da braccio Apolls einen bewussten Anachronismus darstellt und in Raffaels Parnass neun Saiten aufweist, um die Korrespondenz zu den kosmischen Sphären der Musen und der himmlischen Musik herzustellen.117 Hier wäre auch auf das Frontispiz von Gafurius’ Practica musice von 1496 hinzuweisen, wo Apoll-Sol neben den drei Grazien, von den Musen begleitetet, an der Spitze der kosmischen Hierarchie erscheint – hier allerdings mit einer Lyra ausgestattet.118 Die viola da braccio von Tizians Apoll weist sieben Saiten auf. Entscheidend ist aber der tranceähnliche Zustand des Gottes. Die ethische Wirkung der Musik als ein Prozess der Reinigung der Seele und ihrer Hinführung zum Höheren schwingt inhaltlich mit. Eine Neubewertung des Dionysischen und demzufolge auch der Blasmusik als Ausdruck des Orgiastischen und der

186 Raffael, Apoll im Kreis der Musen (Ausschnitt), ca. 1511. Stanza della Segnatura, Vatikan.

„Nachtseite“ der Antike ist bereits von Dante vorgenommen worden. So wird die Schindung des Marsyas in der Divina commedia als ein Sinnbild der Reinigung und der Befreiung der Seele aus dem Kerker des Körpers und ihrer Vereinigung mit Gott, sprich Apoll, beschrieben. Der Seele werden folgende Zeilen in den Mund gelegt  : Entra nel petto mio, e spira tue Si come quando Marsia traesti Della Vagina delle membra sue. (Par. I, 13–21)

Die messianische Auslegung des leidenden Marsyas als ein Bild des Erlösers wurde von Jaromir Neumann vorgebracht und findet immer noch Zustimmung.119 Nie war aber die Kreatürlichkeit so stark betont worden wie im vorliegenden Werk, das eher die Ochsen in den Küchenstillleben Aertsens oder Rembrandts Kadaver in Erinnerung ruft. Kreatürliches Leiden, Vergänglichkeit und Tod auf der einen Seite stehen dem Verlangen der Seele nach Befreiung, Erlösung aus dem irdischen Verlies auf der anderen Seite gegenüber. So sucht Tizian die Dichotomie von Materialität und Vergeistigung in seiner Malerei zu überwinden und die Schönheit in der Materie selbst aufscheinen zu lassen. Diese Sinnfrage und die Hoffnung, aus Leiden und Vergänglichkeit doch etwas Bleibendes zu schaffen, das die

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Tizian

Transzendenz hervorzaubert. Das Urteil des Midas, der alles, was er berührt, zu Gold verwandelt, findet in der Malerei eine sinnreiche Entsprechung  : Alles wird in die Farbmaterie eingeschmolzen und der inneren Vorstellung gemäß zu Gold verwandelt.

Die Pietà

187 Tizian, Pietà, ca. 1575. Accademia, Venedig.

Endlichkeit des Irdischen übersteigt, mag Gegenstand der Reflexion des sinnierenden Midas sein. Wiederholt hat man auf seine Ähnlichkeit mit dem Maler selbst, etwa dem in Berlin aufbewahrten Selbstporträt aus dem Jahr 1562, verwiesen. Es wäre m. E. auch jenes im Prado in Betracht zu ziehen, das wesentlich später als das Berliner Porträt anzusetzen ist, etwa zeitgleich mit dem Marsyasbild. Midas wurde ob seiner Verblendung damit bestraft, im Wettstreit zwischen dem Göttlichen und dem Irdischen, Apoll und Pan, ein Urteil zugunsten des Letzteren zu fällen. Daraufhin verwandelte sich alles, was er berührte, zu Gold. Nicht viel anders ergeht es dem begnadeten Malerfürsten, der alles, was er wahrnimmt, in seiner Malerei umzusetzen versteht und den Dingen dadurch eine höhere Dignität verleiht. Wenn Tizian in der Gestalt des Midas als Betrachter des Gottesurteils in Erscheinung tritt, dürfen wir darin eine Umdeutung des Mythos vermuten. Weit entfernt von der herkömmlichen, eher belächelten Figur des Midas haben wir es mit einer Melencolia-Gestalt zu tun, die über Kunst und Vergänglichkeit, Schönheit und Leiden, Tod und Erlösung sinniert. Jene Reichtümer, die der Künstler im Laufe seines Lebens angehäuft hat, werden letztendlich seine Seele nicht retten können  ; metaphysische Vollkommenheit wird auch er in der Kunst nicht erlangen. Aber dennoch bekennt sich der Maler wie Midas zum Irdischen, zur Welt und Materialität der Dinge und Farben, aus denen er Schönheit und

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Die kniende, der Pietàgruppe hingebungsvoll zugewandte Gestalt im letzten Werk Tizians, dem Votivbild in der Accademia, das von Palma Giovane vollendet wurde (Abb. 187), ist ebenfalls als ein Selbstporträt erkannt worden.120 Das gewaltige Altarblatt war zunächst für die Cappella del Cristo in der Frarikirche an der Grablege des Meisters vorgesehen  ; kurz vor seinem Tod wurde es zusätzlich als Votivbild umfunktioniert, um Schutz vor der wütenden Pest zu erbitten. Das Selbstporträt erscheint in diesem Fall als ein Unikat, da der Maler in demütiger Haltung – man fühlt sich an Leonardos „Anbetung der Hl. Drei Könige“ erinnert – sich selbst als bußfertigen Bittsteller in die devotionale Szene einführt. Giovanna Nepi Scirè hat den komplexen Inhalt zusammengefasst  : „From the lion’s head, which could allude to Titian’s family or Saint Mark, or the resurrection or divine wisdom  ; to the spectacular statuary, entirely autograph, of Moses the Hebrew legislator, representative of the Old Testament and precursor of Christ the Redeemer, and of the Hellespontic Sibyl who prophesied both the crucifixion and the resurrection. Like Michelangelo, Titian portrayed himself in a Pietà destined for his own tomb  : the old half-naked man, variously identified as Joseph of Arimathea, Saint Jerome, and Nicodemus, but perhaps after all ,Saint Job‘, prostrate in front of the Virgin who holds Christ, is a self-portrait. The work is in the broadest sense a ,devotional‘ painting, insofar as it was originally destined for the tomb of the artist and later transformed into an immense ex voto, even before the ,Grace received‘, in which Titian genuflects twice before Mary and her Son, asking intercession by the Father in this life and the next.“121 Entscheidend ist die Selbstreferenzialität des Bildes, das die Gegenwart mit der Hoffnung auf zukünftige Erlösung und Auferstehung verbindet, die hinter der Pietàgruppe in Gestalt des Pelikans, dem Symbol für Opfertod und Erlösung, schemenhaft in der goldenen Apsis aufleuchtet. Zu Recht wurde die Ausstellung des späten Tizian im Kunsthistorischen Museum in Wien 2008 mit dem Untertitel „die Sinnlichkeit der Malerei“ versehen und entsprechend in dem Beitrag von Sylvia Ferino-Pagden eingeführt.

Spätwerke – Materialität und Vergänglichkeit

Tizians Schaffen ist in seinen letzten Jahren ein Bekenntnis zur Malerei im ureigensten Sinn  ; es bekundet sich darin eine immer stärkere Hinwendung zur Materialität der Farbe, die im langwierigen Entstehungsprozess in immer neuen Malschichten auf der Leinwand zu einer flächendeckenden, „unschönen“, gebrochenen Farbigkeit aufgetragen wird  ; dieser Malgrund verschmilzt alle Farben in einem vibrierenden Grauton, in dem gedämpfte Farbakzente wie Moosgrün, Purpur, Braun und Oliv sowie Weiß hervortreten.122 Die Sinnlichkeit hat im Spätwerk einen anderen Charakter angenommen als im Farbenfest des vorangegangenen, fünf Jahrzehnte währenden Schaffens des Malers. Prinzipiell war er stets seinem Bekenntnis zum Stofflichen, der Farbmaterie, treu geblieben. Aber die Klarheit der Form und die glänzenden Lokalfarben sind spätestens seit den 1560er-Jahren nicht mehr sein Anliegen, sondern die gärende, dumpfe Farbstruktur, die den ganzen Bildträger überzieht. In der „Schindung des Marsyas““ wird das Dunkle, Orgiastische und Affektive als ein malerisches Äquivalent zu den dionysischen Bacchanalen unter den schrillen Tönen der Flöten herausgekehrt. Hier tritt eine Lebenseinstellung zutage, die sich dezidiert der Sinnlichkeit verschrieben hat, in der sich auch das Los des Menschen und das Schicksalhafte des Daseins manifestieren. Welchen Preis hatte der Künstler für dieses Bekenntnis aus religiöser oder gar eschatologischer Sicht zu zahlen  ? Womöglich blieb ihm nur die Hoffnung auf Erlösung in Form der göttlichen Gnade, wie sie in der „Pietà“ dem Betrachter im Sinnbild des Pelikans vor Augen schwebt. Wiewohl die Zeitlichkeit in diesen beiden letzten Gemälden inhaltlich eine fundamentale Rolle spielt, wird sie gerade im Malakt selbst dauerhaft überwunden. Die Temporalität der macchia des Malers gewinnt eine neue Qualität, indem die „Echtzeit“ im Duktus des Farbauftrags und in den sich überlagernden Farbschichten und ihren Spuren der Nachwelt bleibend vor Augen steht. Die künstlerische Aussage bezieht sich auf Tizians innere Erfahrung, den autonomen Prozess der malerischen Entfaltung, die sich in der „Realisierung“ des Bildes entäußert. Die Kunst dient der Offenbarung einer inneren Schau, einer Welt der Farben und des Ausdrucks, die von der Mimesis des Sichtbaren zugunsten des freien malerischen Ausdrucks ablässt. Die Malerei ist auf dem Wege, wie in der Moderne Selbstzweck zu werden, magische Beschwörung, farbige Materie als Träger und Sinnbild eines Höheren. In diesem Sinne transzendiert die Kunst jenen Augenblick, den sie selbst gebar und in dem sie sich bekundet. Wir haben es in der Tat mit jener „Dauer“ im qualitativen Sinn zu tun, von der Bergson spricht – jenem élan vital als Lebensimpuls, der auf das Bewusstsein des

betrachtenden Subjekts sinnfällig übertragen wird, eine Ausdrucksbewegung, die nach Simmel „das ganze Nacheinander ihrer Momente in der Einmaligkeit eines einzelnen fühlen“ lässt.123

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VI Tintoretto Ebenso ambivalent wie die Positionierung Tintorettos zwischen Manierismus und Barock in der Entwicklungsgeschichte der venezianischen Malerei des 16. Jahrhunderts erscheint, ist die Bestimmung der Zeitlichkeit in seiner Kunst, denn von einer geradlinigen Entwicklung des Erzählerisch-Vielfältigen zu einer Konzentration auf den dramatischen Höhepunkt der istoria kann bei ihm nicht die Rede sein. Im Gegenteil sind ständige Rückgriffe und weitere Verästelungen bereits gefundener formaler Lösungen zu beobachten. Auf Phasen des dramatischen Ausdrucks folgen solche der Beruhigung. Nur zu Beginn seiner eigenständigen Produktion, nach Jahren der vielfigurigen und in erster Linie erzählerisch ausgerichteten Darstellung, die das dramatische Element hauptsächlich an die Konfiguration der Einzelfigur knüpft, wurde später das Augenmerk auf das Kollektiv, die Verkettung von Einzelfiguren gerichtet. So kam es zu einer Schwächung der Lokalfarbe, wie sie Tintoretto in den ersten Jahrzehnten seines Schaffens nach dem Vorbild Tizians zunächst vor Augen stand. Eine übergreifende Tonalität und eine verstärkte Hell-Dunkel-Wirkung – Tietze spricht von einer „Entwertung der Farbe“ und einer „Enteignung der Form“ –1 greifen Raum, wobei einschränkend gesagt werden muss, dass diese Tendenz in manchen Werken konterkariert wird. Ein weiterer Aspekt erschwert die eindeutige Bestimmung des Erzählerischen in Tintorettos Bildern  : der Naturalismus, der sich im langwierigen Entstehungsprozess der Gemälde bekundet  : unzählige Aktstudien vor dem lebenden Modell, die der Figurendarstellung vorangehen, sowie sorgfältige Vorbereitungen der Komposition mittels kleiner, plastischer Modelle, kleiner Bühnen, die den geplanten Szenen zugrunde lagen. Hier machen sich abstrakte Kompositionsprinzipien bemerkbar, die in Anlehnung an manieristische Gepflogenheiten und unter häufiger Verwendung von Repoussoirfiguren den Szenen nicht selten einen artifiziellen Charakter verleihen. Die Expressivität, die zu Beginn, wie Tietze bemerkt, von der Einzelfigur ausgeht, verlagert sich zunehmend auf die Ausdrucksqualität der Figurengruppen und der fast durchgängig sich aus der Seitenperspektive auftuenden Raumfluchten. Gerade diese Eigenheit verhindert in einer für die venezianische Malerei typischen Weise die Zerschlagung der Bildfläche, wie man ihr nicht selten in der toskanischen Malerei begegnet. Und auch dort, wo sich im Hintergrund großartige Raumbühnen mittels Architekturkulissen – zu Anfang in starker Anlehnung an die Vorgaben Serlios – auftun, führen diese nicht in die Tiefe, sondern erscheinen eher wie die „backdrops“ in den tiefenräumlichen

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Bühnen, die in der ersten Hälfte des Cinquecento entwickelt wurden  : fiktive Prospekte in den Hintergründen begrenzt praktikabler Bühnen.2 Zuweilen handelt es sich bei den Hintergrundszenarien um Übernahmen ganzer Ensembles, meist aber um die Verwendung einzelner Versatzstücke.3 Entscheidend ist aber das Bildhafte der Prospekte, welche nicht einmal in der Fiktion ein Eindringen erlauben  ; infolge einer oft eingesetzten seitenperspektivischen Konstruktion wird zuweilen die orthogonale Raumflucht unterbunden. Dadurch tritt Zeitlichkeit im Sinne einer dynamischen Progression nur bis zu einem gewissen Punkt in Kraft. Arnheims Unterscheidung zwischen der Illusion von Bewegung und visueller Dynamik kann hier auf die Komposition als solche angewendet werden. Gegen die Illusion von Bewegung, sei es in der Gestalt einer Einzelfigur oder durch die Verkettung von mehreren Akteuren bzw. durch in die Tiefe führende Architekturkulissen, steht die Ikonizität des Bildganzen  : Die Komposition und das Flächenmuster heben die Fiktion der Gesamtkomposition schließlich auf. Diese Überlegungen stehen durchaus mit den Wahrnehmungstheorien Arnheims in Einklang. Dieser spricht angesichts vergleichbarer Konfigurationen von der „Zeit-Form“ bzw. von der „Zeit-Gestalt“ (der letzte Begriff ist zweifellos der Gestalttheorie entlehnt).4 Im Folgenden beschränke ich mich darauf, den Aspekt der Zeitlichkeit im Werk Tintorettos anhand einiger Beispiele aus gestalttheoretischer Sicht zu erörtern, wobei die Wirkungsästhetik im Hinblick auf die persuasio der Bildinhalte, d. h. die Erlebniszeit des Betrachters, vor den rhetorisch angelegten Bildern stets mit zu berücksichtigen ist.

Der hl. Markus befreit einen Sklaven Am Anfang steht jenes Gemälde, mit dem der entscheidende Durchbruch des Malers in Venedig gelang  : „Der hl. Markus befreit einen Sklaven“, in der Accademia in Venedig, im Jahr 1547 für die Konfraternität der Scuola di San Marco nach einigen Jahren Vorbereitung vollendet (Abb. 188). Eine Ölskizze mit der „Errettung Markus’ vom Scheiterhaufen“ wurde bereits 1542 der Scuola unterbreitet (heute in den Musées Royaux des Beaux-Arts, Brüssel).5 Zuerst wurde das Gemälde in der Accademia nicht von allen Mitgliedern der Konfraternität akzeptiert und sogar vom Maler zurückgenommen, um später doch höchstes Lob zu ernten. Die Bühne ist nach römischem Vorbild (Raffael) auf

Der hl. Markus befreit einen Sklaven

188 Tintoretto, Der hl. Markus befreit einen Sklaven, 1547. Accademia, Venedig (Farbtafel XVIII).

den Vordergrund beschränkt – links befindet sich eine säulenbestückte Palastfassade in Anlehnung an Sansovinos loggetta von 1540  ; dort schwingen sich die Zuschauer nach manieristischer Art empor, um das Wunder besser mitverfolgen zu können (vgl. Raffael, Giulio Romano). Auf der rechten Seite sitzt der provenzalische Edelmann auf einem hohen Thron, die Arme in Verwunderung ausgebreitet. Der Boden ist bis auf den raumschaffenden orthogonalen Streifen der Inkrustation, die in der venezianischen Malerei häufig anzutreffen ist, ganz von den Figuren besetzt, die bogenförmig den nackten Sklaven umgeben, der in starker Verkürzung auf dem Boden liegt. Diese Figur setzt im Flächenmuster jene Diagonalbewegung in Gang, die zum Schächer im moosgrünen Gewand überleitet, der die unbrauchbaren Werkzeuge der Marter, den Holzspieß und den Hammer, ostentativ dem Gutsherrn vor Augen hält. Die anonymisierten Repoussoirfiguren rechts rufen Vorbilder so-

wohl aus Rom als auch aus Venedig in Erinnerung. Noch ist die Farbigkeit, wenn auch leicht gebrochen, lokal gebunden, wobei der Eindruck der Stofflichkeit durch virtuose Wiedergabe der Falten und kräftige Hell-Dunkel-Effekte verstärkt wird. Von oben kommt nun – in extremer Verkürzung und durch das kräftige Honiggelb des flatternden Mantels, der sich von der tief beschatteten Unterseite des Körpers abhebt  – der hl. Markus herabgestürzt  : eine Gestalt von höchster Dynamik, in Kontrast zu der passiven Figur des Sklaven. Der nach unten gestreckte, leicht gekrümmte rechte Arm leitet zu der linken Kontur des stehenden Schächers über, die wiederum in der des Liegenden ausklingt. So schließt sich, den expressiven Gebärden zum Trotz, das Ganze zu einer verflochtenen Einheit zusammen  : Die Mitte wird von dem liegenden Sklaven eingenommen, während die ansteigende Gruppe rechts die verzögerte Reaktion auf das Wunder, das sich gerade ereignet, sinnfällig macht.

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Tintoretto

Etwas überraschend erscheinen am oberen Bildrand die Blätter einer von Stangen getragenen Laube, die den Vorplatz des Palastes überdacht, während im Hintergrund die Einfriedung eines Gartens mit einem giebelbekrönten Eingangsportal und seitliche Spalierwände den weiteren Ausblick verstellen. Wir haben es mit einer Architekturkulisse zu tun, die dem Typus der späteren Villenarchitektur des Veneto vorgreift. Wenn man den Aufbau des Bildes aus der Sicht der visuellen Dynamik in Augenschein nimmt, wird diese nur zum Teil vom Tiefensog der Bodenrasterung und der Gruppierung der Figuren beeinflusst. Ebenso schnell, wie der Aktionsraum sich auftut, wird er wieder von den Protagonisten geschlossen – die Ausweglosigkeit des Sklaven scheint sich durch die Fesselung der Komposition von selbst zu ergeben. Unsere Wahrnehmung bleibt vorerst an die Gruppe mit den drastisch agierenden und reagierenden Figuren gebunden. Die gewaltsame Intervention erfolgt von oben in Gestalt des herabstürzenden Evangelisten, dem infolge seiner schockierenden Verkürzung eine überwältigende Dynamik innewohnt. Die Illusion der Bewegung geht in konzentrierter Form von dieser Figur aus, welche die mirakulöse Zerstörung der Marterwerkzeuge in Gang setzt. In der Legenda aurea ist umständlich davon die Rede, wie der Sklave, der unerlaubt das Grab des hl. Markus aufgesucht habe, dazu verurteilt wurde, geblendet zu werden, die Glieder und zu guter Letzt auch das Gesicht zerschlagen zu bekommen. Aber alle Versuche, dieses Urteil zu vollstrecken, seien durch die Zertrümmerung der Marterwerkzeuge vereitelt worden. So habe sich der Gutsherr selbst auf den Weg gemacht, um das Grab des Heiligen zu verehren.6 Der Bericht verläuft unaufgeregt und der hl. Markus ist in persona nicht zugegen. Tintoretto hat das Wunder dramatisiert, indem er zum einen Markus als leibhaftige Schwebefigur in Erscheinung treten lässt – quasi in Anlehnung an Gottvater an der Decke der Sixtina, der als primus motor die Vorgänge der Schöpfung in Gang setzt. Die Diskursivität der Beschreibung in der Legenda aurea wird durch die Simultaneität des Bildes aufgehoben – alle Stadien der Marter werden gezeigt und zugleich durch göttliche Intervention außer Kraft gesetzt, wie es die ostentativ gezeigten Marterwerkzeuge bestätigen. Mit dieser Affirmation geht die Bekehrung des Tyrannen einher. Tintoretto ist es gelungen, die einzelnen Phasen des Geschehens und die Wahrnehmung und Reaktion der Protagonisten in die vorgeformte Struktur der Komposition einzubinden. Vor den Augen des Betrachters wird der göttliche Einbruch in die Sphäre des Irdischen, bei dem alle Gesetze der Schwerkraft außer Kraft gesetzt werden, durch die hap-

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tisch-präsente Gestalt des herabschwebenden Heiligen physisch spürbar. Die Druckwelle der kinetischen Energie setzt sich in die gedrängte Gruppe um den Sklaven fort, um in letzter Konsequenz auch den Betrachter zu erfassen. Wiewohl die Posen und Gebärden der Figuren auf der Bühne rhetorisch angelegt sind, geht die eigentliche expressive Wirkung vom Evangelisten aus. Was sich in Tizians „Petrus Martyr“ (Abb. 150) ankündigte und noch stärker infolge der extremen Untersicht in den dramatischen Deckenfiguren in Santa Maria della Salute auftrat (Abb. 156a, b, c), wurde nun von Tintoretto auf die ganze Szene mit ihren vielen Protagonisten übertragen. Das Übersinnliche wird infolge der haptischen Qualität der Figuren unmittelbar präsent  ; der Betrachter nimmt den Hintergrund nur als eine lichte Folie wahr, die keine weitere Entfaltung und dementsprechende Dehnung des Zeitbewusstseins zulässt. Von großem Interesse ist die Sorgfalt, mit der Tintoretto der spezifischen Örtlichkeit des Kapitelsaals der Scuola Grande di San Marco und den Lichtverhältnissen Rechnung trug. Die Wand gegenüber der Tribüne des Vorstands war von zwei Fenstern durchbrochen. Zwischen diesen beiden sollte das Gemälde seinen Platz erhalten. Berücksichtigt wird das von rechts einfallende Licht durch die Lichtführung im Bild, das selbst zwei seitliche Architekturkulissen aufweist und im oberen Teil von der Laube überwölbt wird. Das Bild im Kapitelsaal muss dem Betrachter wie ein Blick aus dem Fenster auf die helle Außenwelt vorgekommen sein. Insbesondere am Spätnachmittag, an dem sich die Mitglieder dort zusammenfanden, dürfte das Gegenlicht besonders stark gewesen sein, sodass die Korrespondenz mit der Figur des „Crepuscolo“ von Michelangelos Medicigrab (vgl. Abb. 113), der sowohl zu Füßen des Edelmanns im Bild als auch oberhalb des Gartenportals auftaucht, nicht zufällig gewesen sein dürfte. Krischel hat auch auf das spätere Fresko Tintorettos an der Fassade von Ça’ Gussoni von 1552 verwiesen, wo der Maler ebenfalls auf das michelangeleske Motiv zurückgriff.7 In einer für Venedig bis dahin unerhörten Weise, allenfalls mit einigen Werken Tizians vergleichbar, hat Tintoretto das dramatische Geschehen nach Ort und Zeit in die Gegenwart verlegt. Dies konnte auch anhand einer weiteren Figur von Krischel nachgewiesen werden, nämlich anhand der stehenden Frau links mit dem Kind auf dem Arm. An der Außenseite der Fassade der Scuola befand sich eine „Caritas“ von Bartolomeo Buon, ebenfalls mit dem obligatorischen Kind auf dem Arm, die nun quasi als Zeugin der Szene, in der sie rückwärtig auf der Innenseite der Wand selbst agiert, als Plastik an der Außenwand das Geschehen auf den öffentlichen Raum überträgt.8

Der hl. Markus befreit einen Sklaven

189 Tintoretto, Die Fußwaschung, ca. 1548. Prado, Madrid.

Die Fußwaschung Ungefähr zeitgleich mit der Befreiung des Sklaven entstanden die beiden großen Gemälde für das Presbyterium in San Marcuola, das Abendmahl und die Fußwaschung (das letztere Werk heute im Prado). Das Abendmahl gibt mit seiner dicht gedrängten Gruppe von Aposteln um den zentral gestellten Tisch Aufschluss über die plastische Ausformung und Lebensnähe der Protagonisten, wie wir sie von dem Bild mit dem Markuswunder in der Accademia her kennen. Infolge späterer gravierender Eingriffe und einer partiellen Rekonstruktion lässt sich über die Gesamtkomposition nichts Sicheres sagen. So bleibt das Pendantbild mit der Fußwaschung aus dem Prado mit den gewaltigen Maßen von 210 x 533 cm aussagekräftiger (Abb. 189). Die „Befreiung des Sklaven“ kann als ein Unikat, ein einmaliger Wurf bezeichnet werden  ; eher richtungsweisend für die spätere Entwicklung Tintorettos war das Gemälde mit der „Fußwaschug“ aus dem Prado. Eine rückwärtig geöffnete Palasthalle in extremer Seitenperspektive bildet einen breiten Aktionsraum. Die Mitte wird von einem schräg gestellten, orthogonal ausgerichteten Tisch eingenommen, an dem vier Jünger sitzen. Rechts und links davon entledigen sich zwei weitere in dramatischen Posen ihrer Kleider – ein unverhältnismäßiger Kraftaufwand für ein alltägliches Geschäft. Im rechten vorderen Eck findet im dramatischen Helldunkel die Fußwaschung selbst statt, wobei die naturalistische Ausführung des Heilands sowie das Motiv des Waschtrogs Caravaggio um ein halbes Jahrhundert vorgreifen. Zur Austarierung der Gruppe entledigt sich auf der linken Seite ein weiterer Jünger, den Fuß auf einen Schemel

aufstützend, seiner Sandalen – eine durch und durch manieristische Figur, deren Körperdrehung die Meisterung formaler Schwierigkeiten zur Schau trägt. Hinter ihm, stark verkleinert und den abrupten Sprung in die Tiefe markierend, ein Jünger in hellblauem Gewand, an das Postament einer Doppelsäule gelehnt. Im Gegensatz zu der Verdichtung der Gruppe in der „Befreiung des Sklaven“ sind die Figuren hier relativ isoliert über die Bildfläche verteilt und dem diagonalen Tiefensog unterworfen. So liegt der Hauptakzent auf der Fußwaschung vorne rechts  ; die Verkleinerung der Figuren in der Mitte indiziert die räumliche Entfaltung, die erst mit der letzten kauernden Figur an der Arkade im Mittelgrund links zum Stillstand kommt. Die Schrägperspektive setzt sich dahinter in einer „tragischen Bühne“ nach dem Vorbild Serlios fort (vgl. Abb. 151). Infolge des hohen Lichtwertes des simulierten Marmors erscheint sie dem Tiefensog der Perspektive zum Trotz von der Szene im Vordergrund völlig losgelöst, ein Bild im Bilde, dessen Praktikabilität nicht gewährleistet ist. Der theatralische Charakter dieses Versatzstücks römischer Provenienz wird noch dadurch gesteigert, dass die Straßenflucht geflutet ist und dort ein kleines Schiff erscheint. Wir haben es mit dem fiktiven „backdrop“ einer Bühne zu tun, die mittels der spielerischen Kombination der Motive auch das venezianische Ambiente im Sinne eines der Entwicklung vorauseilenden Capriccios einbringt. Dadurch wird der Verortung des eigentlichen Geschehens in die Lagunenstadt zwecks Vergegenwärtigung Rechnung getragen. Noch ist die expressive Potenz der seitenperspektivischen Bildstruktur, wie wir sie von späteren Abendmahl- oder Marterdarstellungen her kennen, nicht ausgeschöpft. Entscheidend ist aber aus der Sicht des raumzeitlichen Konst-

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Tintoretto

190 Tintoretto, Tempelgang Mariens, 1552. Flügeltür, Santa Maria dell’Orto, Venedig.

rukts die Übertragung der Dynamik auf die Komposition als Ganzes  ; hier kündigen sich bereits jene Ambivalenz und Spannung an, die den Betrachter, der sein Augenmerk auf das Hauptereignis im Vordergrund richtet, unentwegt dem Tiefensog aussetzen  ; dieser führt zu Nebenhandlungen im Mittelgrund, die der Fußwaschung zeitlich vorangegangen sind. Das Außergewöhnliche der Szenen bürgt für den imaginären Fortgang der Handlung in der unmittelbaren Zukunft und führt zugleich zur Verklärung des Alltäglichen. Die Vergeistigung irdischer Kategorien, die hinkünftig immer stärker in Tintorettos Malerei zum Tragen kommt, deutet sich bereits in diesen frühen Werken in San Marcuola an, die ihre Wirkung auf die Besucher des Kapitelsaals nicht verfehlt haben dürften.

Der Tempelgang Mariens Auf der Außenseite der beiden Flügeltüren der Orgel in Madonna dell’Orto befindet sich eine geradezu klassische Darstellung des „Tempelgangs Mariens“ aus dem Jahr 1552, die sich von vielen vorangegangenen Versionen dadurch unterscheidet, dass der Treppenlauf und demzufolge auch die Bewegungsrichtung des Mädchens nicht wie bei Tizian und anderen flächenparallel von links nach rechts oder in einer leichten Diagonalen verlaufen, sondern strikt frontal, von der vordersten Bildebene geradewegs emporführen (Abb. 190). Der Tiefendrang wird dadurch vermieden, indem die ansteigende Treppe die Sicht naturgemäß verstellt und das Mädchen, bereits oben angelangt, sich nach links wendet,

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wo der Hohepriester es mit einem Segensgestus empfängt. In seiner Version des Themas (Abb. 152, heute in der Accademia in Venedig vom Ende der 1530er Jahre) hat Tizian Anna und ihre Begleiterin am Fuß der Treppe angesiedelt, während das Mädchen sich von der Gruppe der Verwandten löst und allein auf halbem Weg auf der Stiege erscheint. Tintoretto hat die Rolle der Begleiterin nun einer Frau übertragen, die in der Rückenansicht mit ausgestrecktem Arm ein kleines Mädchen auf Maria, die auf dem oberen Treppenabsatz steht, aufmerksam macht. Mit dieser deiktischen Geste werden zwei Stadien derselben Handlung simultan gezeigt  : sowohl der Beginn des Weges als auch der Moment der späteren Ankunft  ; der Betrachter muss die Treppe in seiner Vorstellung nachträglich abschreiten. Begleitet wird der Tempelgang durch die Reihe der Figuren auf der linken Seite, deren Verkettung zur Wahrung des Bildmusters beiträgt. Zwischen Maria und dem Hohepriester ist die Spitze eines Obelisken sichtbar  ; sowohl die Höhe der Treppe als auch das vornehme Ambiente weist darauf hin, dass wir es mit einer „tragischen Bühne“ nach dem Vorbild Peruzzis oder Serlios zu tun haben  – auch Tizian konnte auf sie zurückgreifen. Periegetik und Zeitüberbrückung sind für die räumliche Organisation von Tintorettos Tempelgang maßgeblich – das Geschehen hat eine einprägsame ikonische Umsetzung erfahren, die entsprechend vom Betrachter nachvollzogen werden kann.

Die Bergung des Leichnams des hl. Markus 1547 hatte Tintoretto sein großes Gemälde mit der „Befreiung des Sklaven durch den hl. Markus“ für den Kapitelsaal der Scuola di San Marco vollendet. 1562 leitete der Großmeister der Konfraternität, Tommaso Rangone, auf eigene Kosten die Ausführung von drei weiteren Gemälden für die Scuola des nach seinem Tod wundertätigen Heiligen in die Wege. Als Vasari 1566 Venedig besuchte, hatte Tintoretto diesen Auftrag bereits zu Ende geführt. In der „Bergung des Leichnams von St. Markus in Alexandrien“ (heute in der Accademia, Venedig) greift der Maler auf Erfahrungen der früheren Werke zurück (Abb. 191  ; bereits der erste Entwurf, für den Kapitelsaal bestimmt, heute im Musées Royaux des Beaux-Arts, Brüssel, ging von diesem Thema aus). So wird der unversehrte Leichnam in der klassischen Pose der „Grabtragung“ mit dem herabhängenden Arm, aber in starker diagonaler Verkürzung in Gegenbewegung zu den fluchtenden Orthogonalen von den „Christen“ über den weiten Platz getragen. An der vorderen Bildebene angelangt, sind die Träger gerade dabei, den Hei-

Der hl. Markus befreit einen Sklaven

191 Tintoretto, Bergung des Leichnams des hl. Markus, ca. 1562. Accademia, Venedig.

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Tintoretto

ligen aus der Gefahrenzone vor dem Scheiterhaufen im Mittelgrund in Richtung des Realraums in Sicherheit zu bringen. Während das Dromedar als Tragetier das exotische Ambiente Alexandriens ins Gedächtnis ruft, sind die Protagonisten als Mitglieder der venezianischen Konfraternität einzustufen, die an der Bergung und dem spirituellen Fortleben des Stadtheiligen aktiv beteiligt waren – allen voran Tommaso Rangone in einem langen purpurnen Mantel. Nach der Legenda aurea wollten die Heiden den Leichnam verbrennen  : „Da rauschte es in den Lüften, und fuhr Hagel hernieder, und rollten die Donner und zuckten die Blitze, also daß jedermann zu entrinnen trachtete, und ließen den heiligen Leib unversehrt liegen. Da nahmen ihn die Christen und bestatteten ihn in der Kirche mit großer Würdigkeit.“9 Die Stimmung ist virtuos umgesetzt  : Vor dem sich bräunlich verdüsternden Himmel mit den dumpfen, erdfarbenen Wolken zeichnen sich die Blitze gleißend ab. Der fantasievolle Turmbau am Ende des Platzes sowie der stark fluchtende Palast links mit seinen Arkaden, Pilastern und bifora scheinen im Widerschein ebenfalls weiß, entstofflicht auf, ebenso die flüchtenden Menschen, die im Portikus Schutz suchen. Vom Windstoß erfasst und umgeworfen liegt ein Mann in der vorderen linken Ecke, stark überschnitten, sowie ein Zeuge, der die Zügel des Dromedars noch umklammert. Eine stark fluchtende Kulissenwand rechts, von Lisenen gegliedert, verbaut die Aussicht und zieht den Blick verstärkt in die Tiefe. Wie erwähnt hat Creighton Gilbert einst die Raumstruktur von Giorgiones Tempesta als „aesthetic of emptiness“ umschrieben, d. h. im Sinne eines Leerraums, der dem Betrachter als Beteiligten die Möglichkeit der Projektion bietet.10 In unserem Gemälde ist das Phänomen des Leerraums ins Extrem gesteigert  : Die Raumflucht nimmt den Charakter einer Vision an. Die liegenden Figuren links im Vordergrund gehören in ihrer Substanzialität noch zu den Bergenden, die dabei sind, dem Sturm zu entrinnen und den „realen“ Raum zu erreichen. Die entstofflichten Figuren im Hintergrund werden von der Macht der Elemente aus der zentralen Perspektive seitlich abgetrieben, sodass die von der Bodeninkrustation indizierte Fluchtlinie, nur vom liegenden Jüngling überschnitten, freigelegt wird. So sieht sich der Betrachter selbst der Sogwirkung ausgesetzt und muss gegen diese unsichtbare Kraft wie die Protagonisten im Bild ankämpfen. Um dem Tiefensturz im planimetrischen Gefüge der Bildfläche entgegenzuwirken, hat Tintoretto auf die bereits bei der Fußwaschung angesprochene koloristische Lösung zurückgegriffen  : Die Entstofflichung von Architektur und Figuren, die vormals nur den Hintergrund

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betraf, teilt sich nun dem kohärenten, fluchtenden Aktionsraum selbst mit. Dieser erscheint im übernatürlichen Lichtschein transformiert, verliert die irdische Schwere wie auch die Figuren im Vordergrund. Die raumschaffende Architektur nimmt die Leichtigkeit eines als Negativ gesehenen Ornaments an und dient so als braungelbe Folie zu der Szene mit der wundersamen Bergung des Leichnams vor dem aufgetürmten Scheiterhaufen im Mittelgrund.

Wiederauffindung des hl. Markus Das zweite große Gemälde für die Scuola di San Marco schildert die „Wiederauffindung des hl. Markus“ (Brera, Mailand). Der Leichnam wurde wohl vor 829 von den Venezianern aus Alexandrien heimlich in die Lagunenstadt gebracht und im Vorgängerbau von San Marco „unter einer Säule von Marmorsteinen beigesetzt. (Abb. 192). Nachdem die Grabstätte in Vergessenheit geraten war, sprangen während einer Trauerprozession die Steine von der Säule und legten den Sarg frei.11 Die Darstellung folgt aber nicht eindeutig dem in der Legenda aurea kolportierten Wunder, sondern eher der Suche nach dem „richtigen“ Leichnam, der durch das Erscheinen des Heiligen selbst beglaubigt wurde. Bei der Überführung mit dem Schiff wurde ein vom Teufel Besessener vor den Leichnam geführt und sogleich geheilt – diese Episode wurde in die Szene der Wiederauffindung des hl. Markus mit eingebracht.12 Erneut hat Tintoretto sich den Tiefensturz eines aus der Seitenperspektive gezeigten opulenten Portikus zunutze gemacht, um die orthogonal ausgerichtete Konstruktion effektvoll auf das Geschehen zu übertragen. Vorne links steht der Heilige selbst und gebietet der Bergung eines Leichnams mit rhetorischer Geste Einhalt. Vor ihm, in extremer Verkürzung auf die Fluchtlinie ausgerichtet, sein eigener Leichnam, kniend dahinter Tommaso Rangone in Dogentracht, die Venezianer vertretend, die von den griechischen Priestern die Herausgabe des Leichnams erwirkt hatten. Von dem heftig gestikulierenden, vom Dämon befallenen Jüngling im Vordergrund gleitet der Blick über die parataktische Reihe der Wandgräber in die Tiefe, um dann, nach einem Moment nachlassender Spannung, wieder über die Figur des Heiligen, dessen ausgestreckte Hand den Fluchtpunkt berührt, in die vorderste Bildebene zurückzuwandern. Wir begegnen hier der von Arnheim angesprochenen „Zeit-Form“, die den Blick zirkulär wandern lässt. Die agierenden Figuren sind als Gruppe zweigeteilt  : Dominanz und Kontrolle über das Geschehen auf der linken Seite, Chaos, Affekt und Konvulsion rechts  ; zwischen den

Der hl. Markus befreit einen Sklaven

192 Tintoretto, Wiederauffindung des hl. Markus, ca. 1562. Brera, Mailand.

beiden vermittelt der kniende Großmeister. Der Betrachter befindet sich quasi in derselben Situation und versucht, aus der ästhetischen Distanz die Höhen und Tiefen der Gemütslagen in der Reflexion zu überbrücken und dem formalen Zerfall der Figurengruppen entgegenzuwirken. Zeitlichkeit tritt somit in mehrfacher Hinsicht in Kraft  : zunächst als Interaktion zwischen dem hl. Markus und den Grabschändern, die dabei sind, einen weiteren Leichnam aus einem Wandsarkophag abzuseilen  ; des weiteren in der

simultan ablaufenden Reaktion der Frau auf das Wunder der Erscheinung des hl. Markus vor dem dämonisierten Jüngling rechts im Vordergrund  ; und schließlich infolge der einprägsamen perspektivischen Struktur der Szene, die wie beschrieben die Erlebniszeit des Betrachters selbst strukturiert  : dem Zerfall der Vordergrundszene und dem Tiefensog entgegenwirkend, um den Zustand des ästhetischen und inhaltlichen Gleichgewichts wiederherzustellen. Im Hintergrund scheint ein gelbes Rechteck auf, das sich bei näherer

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Tintoretto

Betrachtung als ein beleuchteter Schacht im Boden entpuppt, in welchen zwei Figuren auf Gräbersuche eindringen.13 Der Gefahr, das „Raumkonstrukt als Ausdrucksmittel“ (Tietze) durch das ornamentale Gefüge der Flächenordnung zu zerstören und gegen das Prinzip der Flächenhaftigkeit zu verstoßen, wirkt Tintoretto entgegen, indem er den Tiefensturz durch die Seitenperspektive abmildert und durch die Farbe und den Farbauftrag die Fläche wahrt  ; unser Blick wird immer wieder auf die Flächenordnung zurückverwiesen, wo die provokante Verkürzung des aufgebahrten Leichnams erneut den inneren Kreislauf des inhaltlichen Zerfalls und der ästhetischen Wiederherstellung in Gang setzt.

Scuola di San Rocco Nach der architektonischen Fertigstellung der Scuola di San Rocco um 1549 begannen die Vorbereitungen zur Ausschmückung des Albergo, zunächst der Decke, später der Wände. Nachdem Tintoretto statt eines Entwurfs die fertige Darstellung von „San Rocco in Gloria“ für das zentrale Bild des Plafonds abgeliefert und es der Konfraternität zum Geschenk gemacht hatte, wurde er trotz heftiger Auseinandersetzungen schlussendlich mit der malerischen Ausstattung der ganzen Scuola betraut – ein Vorhaben, das sich bis 1587 hinzog, als der Maler weitere acht Gemälde für die Eingangshalle im Erdgeschoss ablieferte. Im Folgenden seien nur einige Darstellungen dieses gewaltigen Unternehmens herausgegriffen, die für den Aspekt der Bild-Zeit besonders relevant erscheinen.

Die Kreuztragung Die „Kreuztragung“ (Abb. 193) befindet sich an der Eingangswand des Albergo links des Portals. Oberhalb desselben ist die Szene der „Dornenkrönung“, rechts davon „Christus vor Pilatus“ zu sehen. Auf der gegenüberliegenden Wand befindet sich die gewaltige Szene der „Kreuzigung“, die bereits um 1565 ausgeführt wurde. Man hat darauf hingewiesen, dass die Leserichtung der drei Gemälde an der Eingangswand, die in den Folgejahren 1566–1567 entstanden sind, der Chronologie zuwiderläuft, was Tolnay zu der Hypothese veranlasst hat, die Umkehrung sei von den zwei Propheten verursacht, die an beiden Seitenwänden jeweils auf die „Kreuzigung“ bzw. auf „Christus vor Pilatus“ Bezug nehmen.14 Dass der zweite Prophet sich näher am Gesche-

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hen zu befinden scheint, macht m. E. nicht die Umkehrung der Leserichtung zwingend. Entscheidender für die Aufgabe der Chronologie scheint eher die Komposition der beiden Hauptbilder zu sein. Das hochrechteckige Format von 515 x 390 cm ist für eine Massenszene wie die Kreuztragung ungewöhnlich  – meist haben wir es bei diesem Sujet mit einem Breitformat zu tun. Tintoretto hat diesen Nachteil zu einer Steigerung der istoria zu nutzen gewusst, indem er die Prozession der Verurteilten und der Schächer unten links vor der dunklen Kulisse eines Hügels ansetzt. Die beiden Kreuze des „guten“ bzw. des „bösen“ Schächers verstärken die Diagonale des nach rechts ansteigenden Weges. Jenseits des Schächers mit der roten Mütze (eigentlich der stärkste farbige Akzent im Bild) schwenkt die Bewegungs- bzw. Leserichtung nach links um  : Der Soldat mit der aufgerichteten Fahne lässt die nur angedeutete Gruppe in der lichten Zone hinter sich und steigt den Weg empor  ; von ihm durch die Zäsur des schlanken Baumstammes geschieden, sehen wir nun oben in der Mittelachse der Darstellung Christus unter dem Kreuz gekrümmt mithilfe eines Heiden und Simeons die Anhöhe erklimmen. Die Umkehrung der Wegrichtung erfolgt nicht nur im planimetrischen Sinn von rechts nach links, sondern auch in die Tiefe hinein, vom Hintergrund wieder zurück nach vorne. Der Betrachter, der sich den Fortgang der Kreuztragung zu Gemüte führt, vollzieht im Geiste die ausgesparte Kehre im Mittelgrund und schließt sich wieder dem Gefolge an. Die einprägsame Gruppe mit Christus unter dem Kreuz, inhaltlich und formal oben die Mitte einnehmend, lenkt den Blick zum links stehenden Soldaten, der den Strick hält und sich zugleich zurückwendet, sodass der Fortgang des Menschenzuges zum unsichtbaren Gipfel des Berges zwar angedeutett, die Aufmerksamkeit aber wieder auf die Leidensgestalt Christi gerichtet wird. Diese beschriebene „Zeitform“ kommt somit in der Gesamtkomposition, der „Zeitgestalt“, zur Ruhe. Oberhalb der Eingangstür zum Albergo befindet sich die frontal dargestellte „Dornenkrönung“ Christi. Die halbkreisförmige, hell aufscheinende Gestalt des Gemarterten, von den Schächern umgeben, erscheint in Gestalt des Schmerzensmannes, denn die Dornenkrönung selbst und die Geißelung sind bereits vollzogen. Rechts vom Eingang schließt sich das zweite hochformatige Gemälde mit „Christus vor Pilatus“ an. Im Gegensatz zu dem periegetischen, dynamisch strukturierten Pendantbild der Kreuztragung ist die Gruppierung der Figuren hier eher statisch – vor allem die in Weiß hoch aufragende Gestalt Christi strahlt innere Gelassenheit aus, während Pilatus die Hände wäscht und Hilfe suchend sich an einen Heiden

Scuola di San Rocco

193  Tintoretto, Kreuztragung, 1566/67. Albergo di Scuola di San Rocco, Venedig.

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Tintoretto

194 Tintoretto, San Rocco wird im Gefängnis von einem Engel getröstet, ca. 1567. Presbyterium der Scuola di San Rocco, Venedig.

in Gestalt eines Türken wendet. Die Figur Christi wird optisch von der vertikalen Gliederung der Architekturkulisse gestützt, die dem Prospekt einer „tragischen Bühne“ entspricht. Die Seitenperspektive ist von rechts nach links angelegt und unterbindet durch die Gruppierung der Figuren jeglichen Tiefensturz. Dennoch würde die Szene, wenn sie links von der Tür hinge, eine entsprechende Öffnung ankündigen, während in der bestehenden Hängung die Komposition mit der mächtigen Säule auf dem Postament rechter Hand die Komposition schlüssig enden lässt. Diese formalen Überlegungen scheinen für die Hängung ausschlaggebend gewesen zu sein, sodass Tintoretto auf die herkömmliche chronologische Leserichtung von links nach rechts verzichtet hat. Seit dem Durchbruch mit „Der hl. Markus befreit einen Sklaven“ von 1548 hat Tintoretto sich mehrfach einer herabschwebenden Figur bedient, um die himmlische Intervention in irdischen Gefilden dramatisch zum Ausdruck zu bringen. Die schwebende Figur setzt die physikalischen Gesetze außer Kraft, bricht den historischen Ereignisstrom und hält den Zeitfluss im Augenblick des göttlichen Einbruchs an. Das Ereignis transzendiert die Zeit im Sinne von Bergsons „Dauer“ oder Kierkegaards „erfüllter Zeit“. Hier wäre auf eine Reihe von weiteren Darstellungen zu verweisen, die zuvor oder in der Folgezeit von Tintoretto geschaffen wurden  : „Augustinus heilt die Lahmen“ (1549/50  ; Museo Civico, Vicenza)  ; „Die Reise der hl. Ursula“ (um 1555  ; San Lazzaro dei Mendicanti, Venedig)  ; Der hl. „Markus rettet einen Sarazenen aus Seenot“ (um 1562–1566  ; Accademia, Venedig).

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Chiesa S. Rocco Für das Presbyterium der Chiesa di San Rocco hat Tintoretto um 1567 ein dramatisches Nachtbild geschaffen  : „San Rocco wird im Gefängnis von einem Engel getröstet“ (Abb. 194). In einem breit gelagerten Kerker (das Gemälde misst 300 x 671 cm) erscheinen die Gefangenen in unterschiedlichen Stellungen über die ganze Bildfläche verteilt. Vom Licht der überlebensgroßen Erscheinung des herabschwebenden Engels werden sie punktuell beleuchtet und heben sich vor dem Dunkel der Umgebung plastisch ab. Grell aufscheinende Wolken sind in das Verlies eingedrungen und tragen so zur wundersamen Auflösung der Grenzen von Innen- und Außenraum bei. Der in Rot gekleidete hl. Rochus wendet sich mit einer emphatischen Geste der himmlischen Erscheinung zu, welche die tiefen Schatten vertreibt. Das im Spätwerk des Malers zunehmend instrumentalisierte Helldunkel wird hier schon dramatisch eingesetzt und greift der künftigen Entwicklung der Malerei in Bologna und Rom vor. Die Handlung erfährt nicht nur durch die Figurendarstellung und die Komposition eine Steigerung, sondern zusätzlich noch durch die Schilderung des übersinnlichen Lichts. Das Geschehen wird vom Betrachter sofort erkannt und verinnerlicht  : Das Visionäre überblendet Vergangenes und Zukünftiges. Die Vergeistigung im Spätwerk Tintorettos, die in der Literatur immer wieder hervorgekehrt wird, kündigt sich bereits in diesem Werk an. Im Zeitraum 1575–1581 setzt sich die Ausmalung der Scuola di San Rocco mit den Deckengemälden der Sala

Scuola di San Rocco

Grande fort. Die großen Szenen werden perspektivisch durch die in Seitenansicht wiedergegebenen Versatzstücke gerahmt, die kleineren Tafeln räumlich von den Figuren bestimmt. Alle Darstellungen sind vom Helldunkel geprägt  : eine gebrochene chromatische Farbigkeit, welche die Figuren umhüllt und Körper und Glieder, partiell beleuchtet, hervortreten lässt. Noch radikaler als bei Tizian werden die Hell-Dunkel-Kontraste herausgearbeitet. Die Expressivität wird nicht so sehr durch die Plastizität einzelner Figuren oder die diagonal gesetzten Versatzstücke erzielt, sondern eher durch den angesprochenen Helligkeitskontrast und die gebrochenen Rottöne, gedämpftes Grün, Oliv und Braun, während die hellen Partien gelb aufleuchten. Mit der tonalen Verschmelzung der Szenen geht eine Beruhigung der Komposition einher. Dem Betrachter stehen gemalte Visionen vor Augen, die im Gemüt nachwirken.

Scoula di San Rocco, Sala Inferiore Auch in den späteren großen Gemälden in der Sala Inferiore der Scuola di San Rocco, die Flucht nach Ägypten, Maria Aegyptica in Meditation versunken oder Maria Magdalena lesend, alle in den Jahren 1583–1587 entstanden, bestimmt die Monochromie den Gesamteindruck. Die Protagonisten der ‚Heiligen Familie auf der Flucht‘, an den linken Bildrand gerückt, sind gerade dabei, den Rand zu überschreiten und in den Realraum einzudringen. Diese Dynamik wird durch die Plastizität der Figuren (und auch mittels des Stilllebens am unteren Bildrand) sowie das kräftige mittlere Rot der Gewänder noch verstärkt. Ansonsten bildet eine üppig wuchernde, von unterschiedlichsten Gewächsen suggerierte exotische Landschaft den stimmungsvollen Rahmen des Geschehens, ja die Natur umfängt praktisch gleichberechtigt die Figuren. Die fernen Höhenzüge, der flackernde Himmel im Abendrot, die Vegetation – alles wird von einem warmen Goldton durchzogen, der die Tiefe und Weite der Landschaft mit all ihren Einzelheiten zu einer farbigen Einheit verschmilzt. In der Nachfolge Tizians verbindet sich Gesehenes mit der inneren Schau, welche die sichtbare Welt ins Visionäre steigert. Dies gilt nicht zuletzt für die hochformatigen, von nächtlicher Glut durchfluteten Landschaften, die das Ambiente der „Maria Aegyptica“ und „Maria Magdalena“ bilden (Abb. 195). Die Landschaft erhält hier den Vorrang, während die Figuren relativ klein, formal und farbig eher untergeordnet, am Bildrand postiert sind. Von einer Handlung kann nicht die Rede sein. Vielmehr geht es um die Stimmung, die analog zu dem schwindenden Licht im Bewusst-

195 Tintoretto, Maria Aegyptica, ca. 1583–1587. Sala Inferiore di Scuola di San Rocco, Venedig.

sein des Betrachters nachklingt. Eine ähnliche Wirkung hat auch Tizian in seinen späten Werken erzielt, nur tritt bei ihm der Mensch in der Nahsicht und in der Substanz seiner farbigen Erscheinung stärker hervor, während Tintoretto vorrangig die Landschaft und das Helldunkel als Stimmungsträger einsetzt. In der mittleren und späten Schaffensphase Tintorettos ist im Unterschied zu den Gemälden in San Rocco auch auf

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Tintoretto

eine weitere Form der Bildgestaltung hinzuweisen, die sowohl mythologische als auch biblische Themen betrifft  : Die Verkettung von wenigen Figuren führt zu ausdrucksvollen Kompositionen. Als Vorgänger sind hier insbesondere Michelangelo und Tizian zu nennen – was den Letzteren betrifft, etwa die Deckengemälde in Santa Maria della Salute von 1542–1544 oder jene für Maria von Ungarn im Sommerpalast Binche in Flandern nach 1548 (vgl. S. 257 f. und Abb. 156a, b, c und 157). Kurz nach den Deckengemälden der sala hat Tintoretto im Auftrag für die Scuola della Trinità nach Vincenzo Borghini (Il Riposo 1584) fünf Gemälde der Genesis ausgeführt  : „Die Erschaffung der Tiere“, „Die Erschaffung von Adam und Eva“ (nur in einer Nachzeichnung von Paolo Farinati, heute in New York, überliefert), „Der Sündenfall“, „Adam und Eva vor dem Schöpfer“ sowie „Der Brudermord“. Im letzten Bild greift die Figurenkomposition auf Tizians Deckenbild in der Sakristei von Santa Maria della Salute zurück (Abb. 156b). Für beide Künstler gilt die Fokussierung auf den Moment vor der Tat.

Der Sündenfall Ganz „bei sich“ ist Tintoretto in der Darstellung des „Sündenfall(s)“, bei der die sitzenden Figuren in einprägsamer Diagonalstellung miteinander korrespondieren  ; dabei macht sich der Maler die Diagonale zur Ausdifferenzierung der Erzählung zunutze, indem Eva aus der schrägen Frontalansicht den Apfel ostentativ vorstreckt, während Adam, in der Rückenansicht, vor dem Angebot zurückschreckt und sich nach hinten beugt (die Komposition wurde ebenfalls in der erwähnten Zeichnung von Farinati festgehalten). Hinter den Ureltern breitet sich eine Waldlandschaft aus und vor dem Abendhimmel zeichnet sich nach venezianischer Gepflogenheit eine Baumsilhouette in der Ferne ab. Die Spannung hält sich trotz der Interdependenz der Figuren in Grenzen.

Susanna uns auffordernd an – der Betrachter gerät im Augenblick selbst zum Voyeur. Die Aktfigur repliziert die Formel des in Venedig beliebten, damals in Mantua sich befindenden Reliefs des sog. Betts des Polyklet, ehemals in der Sammlung K. J. Hewett, Ashford, Kent. Giorgione und vor allem Tizian haben die Sitzstellung der Figur wiederholt eingebracht.15 Die etwas schlankeren Proportionen Susannas entsprechen dem Geschmack der Zeit – im Falle Tintorettos wäre auch auf Andrea Schiavone zu verweisen, der ihm während der Lehrjahre zur Hand ging. Entscheidend ist hier aber der unmittelbare Bezug des Betrachters zum Objekt der Begierde. Gleiches gilt für eine weitere Variante der „Susanna im Bade“ von 1558 (heute im Kunsthistorischen Museum, Wien). Bei aller Plastizität bleibt der Akt doch der Fläche verhaftet und ist zugleich näher an den Betrachter herangerückt (Abb. 196). Am Rande des Wasserbeckens sitzend, in den Anblick ihres eigenen Körpers im Spiegel versunken, bietet sich die üppige Frau mit ihrer goldenen, durchleuchteten Karnation vor der dunklen Folie der Sträucher dem Blick dar. Das Schauen und Erspähen wird von den beiden Alten bewerkstelligt  : in Rot gekleidet, gequält zusammengepresst am vorderen linken Eck der eine, aus der Distanz, hinter der Hecke im Mittelgrund hervorlugend der andere. Die Voyeure können der unbefangenen Frau nichts anhaben. Aus der Betrachterperspektive lässt die Macht der Schönheit nicht Raum für blutleere Reflexionen moralischer Natur oder über den weiteren Verlauf der Geschichte. Der Gestalt Susannas, vom ornamentalen Beiwerk genüsslich eingerahmt, haftet etwas Artifizielles an, das dem Geschmack manieristischer Prägung entsprach. Tietze hat im Vergleich von Tizian und Tintoretto darauf hingewiesen, dass Ersterer aus dem packenden Zugriff und der Substanz der Farbe selbst seine Wirkungen erzielt, während die Form und das Helldunkel in ihrer Interdependenz in der Malerei des Jüngeren eine wichtigere Rolle spielen.

Susanna im Bade

Allegorien von Einheit und Eintracht

Ungefähr zur selben Zeit hat Tintoretto die „Susanna im Bade“ (heute im Louvre) ausgeführt. Die blendende Aktfigur hebt sich vor der Folie der dunklen Landschaft ab, während die beiden Alten im Hintergrund an einem (eigentlich unangebrachten) Tisch, der von einem opulenten Teppich überzogen ist, erscheinen  ; die vordere Figur fällt aus dem perspektivischen Zusammenhang heraus. Der weibliche Akt zieht die Blicke auf sich  : Wie die Venus von Urbino blickt

Für die Sala delle Quattro Porte und für den Empfangsraum des Dogen, das Anti Collegium im Palazzo Ducale, hat Tintoretto in den Jahren 1577–1578 vier Gemälde geschaffen, deren Inhalt sich nach einem zeitgenössischen Dokument unter den Rubriken der „Einheit“ und der „Eintracht“ der venezianischen Führungsschicht rubrizieren lässt (Abb. 198–201).16 Nicht zufällig befand sich im benachbarten Sala del Gran Collegio Veroneses zentrales Deckengemälde

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Allegorien von Einheit und Eintracht

196 Tintoretto, Susanna im Bade, 1558. Kunsthistorisches Museum, Wien.

„Apotheose Venedigs“, zur gleichen Zeit nach dem großen Brand von 1577 ausgeführt (Veronese und Palma Giovane waren übrigens auch mit der Schätzung der von Tintoretto gelieferten Gemälde 1578 betraut).17 Die Allegorien sind einprägsame Figurenkonstellationen im öffentlichen Raum, die sich im Gegensatz zu den emotional ausgerichteten Themen Tintorettos in erster Linie an die Ratio der Besucher richteten. Die Lesbarkeit der Figuren in der Abfolge ihrer Verkettung war hier gefragt und so verzichtete Tintoretto auf opulentes Beiwerk und legte das Hauptgewicht auf die plastische Gestaltung der Körper, welche die ganze Bildfläche einnehmen und zuweilen sogar von den Rändern überschnitten werden. In diesem Zusammenhang ist nicht nur auf Tizians „Erziehung des Amor“ (um 1565  ; heute in der Galleria Borghese  ; Abb. 171), sondern vor allem auf Veroneses vorangegangene vier allegorischen Darstellungen der „Liebe“ (heute in der National Gallery, London) zu verweisen, die ungefähr

zur selben Zeit entstanden. Dort ging es um die Qualen, die Eintracht und die Freuden der Liebe sowie ihre Vervollkommnung (Abb. 197). Die kunstvollen Kombinationen der Figuren können als paradigmatische Beispiele für das angesprochene Gestaltungsprinzip der Verkettung dienen  : Die Abfolge der Figuren selbst bringt den prozessualen Verlauf der Liebe ikonisch zum Ausdruck. Als eine zusätzlich bravourös gemeisterte difficoltà kommt noch die Wiedergabe der Gestalten aus der starken Untersicht hinzu, die auf die ursprüngliche Anbringung der Gemälde etwa in den Zwickeln eines Plafonds schließen lässt.18

Die drei Grazien und Merkur (Frühling) In der Sala delle Quattro Porte beschränkt sich Tintoretto wie erwähnt auf die Darstellung der allegorischen Figuren allein  ; im vorliegenden Fall liegt das Augenmerk auf der po-

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Tintoretto

197 Paolo Veronese, La Tripartita Vita (Allegorie der Liebe), ca. 1565. National Gallery, London.

litischen und wirtschaftlichen Macht Venedigs und der repräsentativen Selbstdarstellung der Serenissima. Es überrascht somit nicht, dass die „Drei Grazien“, die normalerweise unter dem Schutz des Amor stehen, nun unter der Kuratel Merkurs erscheinen, dem Gott der politischen Klugheit und des Handels (Abb. 198). Nach der bewährten diagonalen Anordnung geht die Bewegung von der linken, rückwärtsgelehnten, auf einen Kubus gestützten Figur aus, von der zweiten umfangen und nach rechts vermittelnd. Die leicht gebückte Gestalt rechts ist durch die Hand und den Arm mit der mittleren Figur verbunden  ; sie wurde mit einem transparenten Gewand sowie mit einem Rosenzweig und Myrten versehen. Die Anordnung der drei Grazien nach klassischem Vorbild, wie wir sie von Botticelli und Raffael her kennen, ist hier dynamisch umgestaltet worden  ; die herkömmliche neuplatonische Trias castitas – pulchritudo – voluptas wirkt inhaltlich, wenn auch formal abgewandelt, immer noch nach. Diese Auslegung der „Liebe“ war in Venedig immer präsent und wurde meist in recht sinnlicher Form malerisch umgesetzt. Eine weitere zeitallegorische Bedeutung tritt anhand der Attribute zutage  : die vier Elemente und mit ihnen die vier Jahreszeiten. So werden im vorliegenden Fall die „drei Grazien“ mit Rosen, Myrten und üppigen Gräsern vor dem klaren Himmel des Frühlings ausgestattet. Entsprechend wurde der geschwinde Merkur mit einem blauen Lendentuch versehen.

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198 Tintoretto, Die drei Grazien und Merkur (Frühling), ca. 1577. Palazzo Ducale, Venedig.

Minerva, Friede und Überfluss (Sommer) Das zweite Bild zeigt nach Ridolfi den „Frieden“ und den „Überfluss“ in Gestalt von zwei Frauen (Abb. 199). Sie werden von Minerva beschützt, die mit einer entschiedenen Geste Mars in voller Montur abweist.19 Auf Venedig übertragen, steht Minerva für die Weisheit der Serenissima, die den Krieg von der Stadt fernhält, wo Friede und Überfluss herrschen (zur Deutung der „Minerva“ bei Tizian vgl. S. 228). Nach Ripa ist die Figur des „Sommers“ mit einem Ährenkranz geschmückt und als solchen dürfen wir wohl den eigentümlichen Kranz der Abbondanzia sehen. Hinter der kräftigen Frauengestalt, die Erde und Fruchtbarkeit repräsentiert, werden links oben zusätzlich Ähren, Früchte und Trauben gezeigt, die der Jahreszeit gemäß aus der fruchtbaren Erde sprießen.20 Während Ripa die Hitze des Sommers durch das Attribut der Fackel illustriert, wird diese hier durch die Sonnenstrahlen im Hintergrund präsent und darüber hinaus mit dem Wasser kombiniert, denn die Abbondanzia ist dabei, sich mit einem Tuch, das in einer vorgehaltenen Wasserschale benetzt wurde, abzutrocknen. Zu Füßen dieser Figur werden Teile einer Rüstung sichtbar, die womöglich besagt, dass der Reichtum zur gegebenen Zeit sehr wohl imstande sei, sich gegen äußere Feinde zur Wehr zu setzen.

Allegorien von Einheit und Eintracht

199 Tintoretto, Friede und Überfluss (Sommer), 1577. Palazzo Ducale, Venedig.

200 Tintoretto, Venus, Bacchus und Ariadne (Herbst), 1577. Palazzo Ducale, Venedig.

Venus, Bacchus und Ariadne (Herbst) Der „Herbst“ bzw. das Wasser wird von der nächsten, kunstvoll zusammengefügten Dreiergruppe repräsentiert (Abb. 200). Links sitzend, von einem opulenten Vorhang hinterfangen, dessen Purpur womöglich auf den Dogen anspielt, erscheint die gelassene Gestalt der Ariadne. Ihr zur Rechten sehen wir die horizontal schwebende Figur der Venus, die mit ihrer Linken die Hand der Halbgöttin stützt, während sie mit der Rechten eine goldene Krone über ihr Haupt hält, jenes Sternzeichen, das ihr Ewigkeit verlieh. Darunter, im Wasser stehend, der Bacchus, mit Weinlaub reich bekränzt, Ariadne den goldenen Ring entgegenhaltend. Nach Ridolfi handelt es sich um die Auszeichnung Ariadnes mit der Krone der Freiheit und um ihre Begegnung mit Bacchus am Strand. Tolnay hat auch auf den Ring als Zeichen der symbolträchtigen Vermählung Venedigs mit der Adria verwiesen, die alljährlich zelebriert wurde – jener Ring des hl. Markus, der, von einem Fischer gefunden, dem Dogen überreicht wurde (das legendäre Ereignis wurde bereits 1534 in Paris Bordones einschlägigem Gemälde in der Sala Grande der Scuola von San Marco [heute in der Accademia] entsprechend gewürdigt). Über den „aquatischen“ Aspekt in Tintorettos Darstellung herrscht angesichts des Meeresspiegels im Hintergrund kein Zweifel. Auf den Herbst wird des Weiteren in den Trauben angespielt, die in diesem Fall als Attribute von Bacchus zu gelten haben.

201 Tintoretto, Die Schmiede des Vulcan (Winter), 1577. Palazzo Ducale, Venedig.

Die Schmiede des Vulkan (Winter) Die vierte Darstellung mit der „Schmiede des Vulkan“ zeigt den antiken Gott und seine Gehilfen bei der Arbeit an einer Rüstung, die zum einen die Einigkeit der Senatoren bei den Amtsgeschäften anspricht, zum anderen die militärische Potenz der Stadtrepublik verdeutlicht (Abb. 201). Mit dem Winter wurde seit alters her das mythologische Motiv der

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Tintoretto

„Schmiede des Vulkan“ verknüpft, das auch bei Ripa Erwähnung findet.22 Die jahreszeitliche Stimmung wird darüber hinaus durch die entlaubten Baumkronen und eine schneebedeckte Landschaft verstärkt angesprochen. Die Entzifferung der vier Allegorien basiert auf der Zusammenfügung der Figuren, deren Aktionen in einprägsamen Konfigurationen festgehalten werden. In ihre zirkuläre Verflechtung eingebunden, bleiben die Agierenden kunstvoll vorerst dem engen Rahmen der formalen Gestaltung verhaftet. Über die ästhetische Wertschätzung hinaus gelangt der Betrachter in den unterliegenden Sog der politisch-repräsentativen Bedeutsamkeit. Es ist symptomatisch, dass „Einigkeit“ und „Eintracht“ mit den Gesetzmäßigkeiten der Natur einhergehen – dem zyklischen Verlauf der Jahreszeiten und der Korrespondenz der Elemente –, denn nur im Einklang mit der Natur sind die Stabilität der Gesellschaft und eine gedeihliche Wirtschaft gewährleistet. Zeitlichkeit im Sinne einer fortschreitenden Entwicklung wird hier eigentlich ­aufgehoben. Die ständige Wiederkehr der prästabilierten Ordnung göttlicher Provenienz dient als Garant des venezianischen Staatswesens und seiner Legitimation. Dementsprechend dürfen wir die formale Verkettung der allegorischen Figuren, der zeitlichen Progression entbunden, als eine schlüssige bildnerische Umsetzung dieses Gedankens verstehen. Die Freiheit in diesem Weltentwurf ist nur innerhalb jener Grenzen denkbar, die von der göttlichen Ordnung der Natur und der von der Vorsehung empfangenen Macht des Stadtstaates und seiner Institutionen gesetzt wurden.

S. Giorgio Maggiore, Presbyterium Die Mannalese In den Jahren 1592–1594 gelangten zwei Gemälde gewaltigen Ausmaßes (jeweils 377 x 576 cm) für das Presbyterium von San Giorgio Maggiore zur Ausführung, die als der Höhepunkt im späten Schaffen Tintorettos bezeichnet werden können  : „Die Mannalese“ und „das Abendmahl“. Die beiden Darstellungen ergänzen sich spiegelbildlich. Die Mannalese findet in einer parkähnlichen Landschaft statt, wo die Figurengruppen gleichmäßig verteilt sind und sich bunt vom grünbraunen Boden abheben (Abb. 202). Die Bewegtheit der einzelnen Figuren kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass der Gesamtaufbau ruhig, fast statisch angelegt wurde. Von einer Dynamisierung der simultan ablaufenden Mannalese kann nicht gesprochen werden. In einer für Tintoretto typischen Weise befindet sich Moses als Hauptfigur im rechten vorderen Eck. Die rechte Hand über

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die Erde haltend, verkündet der mit einem hornförmigen Nimbus versehene Prophet  : „Das ist das Brot, das der Herr euch zu essen gibt.“ (Ex 16, 15.) Der präfigurale Bezug zum Abendmahl bzw. zur Eucharistie bewahrheitet sich in dieser fast beschaulichen historischen Szene, welche die große zeitliche Kluft zwischen dem Exodus und der Gegenwart andeutungsweise überbrückt. Von den Porträtfiguren oberhalb von Moses abgesehen, ist die Szene im Vordergrund größtenteils von ländlichen Akteuren besetzt, wie sie auch allenthalben etwa bei Bassano zu finden sind. Im Halbdunkel unter den Bäumen links tauchen spärlich bekleidete, heftig gestikulierende Gestalten auf, die womöglich auf ein früheres Stadium der Zivilisation hindeuten. Dies gilt auch für die Figuren auf dem bewaldeten Hügel im Mittelgrund, die ähnlich wie die Urmenschen in den vitruvianischen Holzschnittillustrationen um ein Feuer versammelt sind.23 Die „Vergeistigung“, die das Spätwerk des Meisters im Ganzen durchdringt, kommt hier im Mikrobereich der malerischen Ausführung zum Tragen  : eine kühl gebrochene Farbigkeit, geschwinde, aufflackernde Höhungen von Gräsern und Blättern, eine changierende, manchmal gar ins Grün weichende Karnation, anonyme, entpersonifizierte Gestalten, die sich der Mannalese zuwenden.

Vorstufen zum Abendmahl Der Kontrast zum Pendantbild, dem Abendmahl, könnte nicht größer sein  : Hier zieht der Maler noch einmal die Summa aus seinen früheren Darstellungen des Themas, das immer wieder in seinem Schaffen auftaucht  : zentral ausgerichtet, eher statisch anmutend der Aufbau der Szene in San Marcuola von 1547  ; ebenfalls zentralperspektivisch ausgerichtet, bereits in ein Helldunkel gehüllt jenes „Abendmahl“, das er 1559 für die Cappella del Sacramento von San Felice in Venedig ausführte (heute in Paris, Eglise de Saint Francois Xavier)  ; ebenfalls dunkel gehalten das „Abendmahl“ mit einem schräg gestellten Tisch in San Simeone Grande von 1562/63  ; des Weiteren eine Gruppe von Interieurs mit Tafelszenen, wie die „Hochzeit zu Kana“ von um 1561 für Santa Maria della Salute, wo der stark fluchtende Tisch seitlich nach links versetzt wurde. Das „Abendmahl“ in San Trovaso um 1566 zeichnet sich durch die sorgfältige Ausführung der Gegenstände aus – um den schräg gestellten Tisch in Rhombenform befinden sich die erregten Jünger. Das „Abendmahl“ in San Polo, auf um 1568–1569 datiert, wird als eine Fortführung von dem in San Trovaso angesehen. Die Protagonisten scheinen aber einer höheren sozialen Schicht anzugehören und die dramatische Aktion bleibt auf

S. Giorgio Maggiore, Presbyterium

202 Tintoretto, Die Mannalese, 1592–1594. Presbyterium, San Giorgio Maggiore, Venedig.

Christus und Petrus beschränkt, während andere Jünger, wie etwa der auf dem Boden liegende, späteren Figurenfindungen vorgreifen. Das Helldunkel ist hier stärker ausgeprägt  ; etwas unvermittelt tauchen rechts Versatzstücke der „tragischen Bühne“ auf. Der Tisch ist leicht schräg gestellt und die Fliesen verlaufen entsprechend diagonal. Die große Fassung des „Abendmahls“ in der Sala Grande von San Rocco wurde im Zeitraum 1579–1581 ausgeführt. Die Diagonalstellung des Tisches in der geräumigen Halle ist markant, so auch der szenische Charakter des Aufbaus mit den allegorisch anmutenden Figuren im Vordergrund. Die Gestalt Christi ist weniger auffällig  ; er wird erst durch den hellen Lichtschein, der ihn hinterfängt, in der linken Reihe der am Tisch versammelten Jünger erkennbar. Im Prinzip kann man hier von einem Vorgriff auf die spätere Lösung in San Giorgio Maggiore sprechen. Zuvor wurde das Szenarium im „Abendmahl“ für San Stefano um 1580 noch einmal durchgespielt, wiewohl Christus hier am vorderen Ende des schräg gestellten Tisches erscheint. Die Halle ist im Zwielicht nur schemenhaft zu erkennen, der Tisch auf ein dreistufiges Podest gestellt – ein Mittel der Inszenierung,

das einen niedrigen Standpunkt des Betrachters suggeriert und zugleich eine gewisse ästhetische Distanz bewirkt.

Das Abendmahl Das große „Abendmahl“ in San Giorgio Maggiore dürfte ob seiner malerischen Homogenität größtenteils eigenhändig ausgeführt worden sein (Abb. 203). Der reich gedeckte Tisch mit den Karaffen, Gläsern, dem Brot und den Früchten führt von links im Vordergrund nach rechts in die Tiefe. Er wird aus der Aufsicht des imaginären Betrachters gezeigt, der sich auf einem Podest hinter dem Bediener im Vordergrund stehend wähnt. Hier setzt die Fluchtachse an, während die Bodenfliesen wie der Tisch von links in die Tiefe fluchten. Wir stehen vor einer weiträumigen Halle, die von antiken Säulen gegliedert wird. Wie schon erwähnt, dient die dynamische Schrägperspektive zur Steigerung der Handlung. Die Jünger sind weniger auffällig als bei Leonardo zu Dreiergruppen zusammengeführt, die zum einen miteinander kommunizieren, zum anderen auf die Aktion Christi Bezug nehmen

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Tintoretto

203 Tintoretto, Das letzte Abendmahl, ca. 1592–1594. Presbyterium, San Giorgio Maggiore, Venedig.

(vgl. Bild/Zeit, II, 2004, S. 242 f.). Nach der herkömmlichen Ikonografie dürfte die isolierte Figur, die, in einen hellroten Mantel gekleidet und mit einer Kapuze versehen, Christus schräg gegenübersitzt, Judas Iskariot sein. Im Gegensatz zu der eher gehobenen Erscheinung der Jünger in der linken Bildhälfte, die von zwei Dienerinnen bewirtet werden, mutet die rechte, von einer weiteren Dienerin und zwei Dienern besetzt, eher naturalistisch an. Die Kniende im Vordergrund greift in einen Korb mit Töpfen  ; mit der Linken reicht sie dem stehenden Diener eine Schale mit Bohnen (oder Manna  ?). Die Diagonale wird hier von den Figuren gebildet, deren Posen manieristisch anmuten und bis zum Borgobrand zurückverfolgt werden können (vgl. Abb. 124). Auffallend sind die genrehaften Figuren sowie die sorgfältige Ausführung der vielen Stillleben (Körbe, Töpfe, Früchte) sowie Katze und Hund, die Stoffmalerei etc. Die rechte Bildhälfte, die infolge der Figurenverteilung in die Nähe des Betrachters rückt, ist wie erwähnt „naturalistisch“ geprägt  ; sie läutet die kurz darauf folgende, durch Caravaggio vorangetriebene Entwicklung ein. Auch die Ausführung der Jünger am Tisch evoziert Lebendigkeit und Lebensnähe. Die malerische Vereinheitlichung der gesamten Szene wird

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durch ein gemäßigtes Helldunkel bewirkt, das alle Figuren und Einzelheiten in einen warmen goldbraunen Ton hüllt. Zwei künstliche Lichtquellen in der rechten Bildhälfte sind hier maßgeblich  : die hängende Feuerschale und der starke Nimbus, der das Haupt Christi hinterfängt. Dieser befindet sich etwa in der Mitte des Tisches  ; infolge der diagonalen Ausrichtung desselben koinzidiert diese mit der planimetrischen Mittelachse des Bildes. Christus beugt sich vor und bietet dem rechts von ihm sitzenden Jünger ein Stück Brot an, dem Ritus des Sakraments entsprechend. Im Vollzug des Abendmahls, Bestätigung des Opfers und Verheißung zugleich, manifestiert sich jener entscheidende Augenblick, in dem die irdische Welt und die übergreifende Heilsgeschichte unlöslich miteinander verbunden werden und ein neuer Zeitabschnitt der Historie, die Zeit sub gratia, im Zeichen des Opfers und der Gnade sich auftut, der auf das Endziel des Jüngsten Gerichts und der Erlösung ausgerichtet ist. Im Sakrament des Abendmahls ereignet sich das Wunder der Menschwerdung Gottes, des Opfers und der Erlösung, immer von Neuem – in Zeiten der Gegenreform war dabei implizit auch die vermittelnde Funktion der Kirche angesprochen.

S. Giorgio Maggiore, Presbyterium

Bei Tintoretto nimmt das Mysterium des Glaubens eine Form der Vergeistigung an. Die bildhafte Umsetzung des Geschehens vollzieht sich im Helldunklen und äußert sich in den Lichteffekten. Die göttlichen Wesen der Engel scharen sich um die Lampe, erscheinen transparent, surreal und fast selbstleuchtend  ; von oben kommend dringen sie mit weit ausladenden Gesten in den geschlossenen Raum ein. Das Linienspiel der mit geschwinden Pinselstrichen gemalten, gelbgrün aufleuchtenden Gestalten ruft grafische Effekte des Donaustils in Erinnerung, ohne dass freilich ein unmittelbarer Zusammenhang vorzuliegen braucht (in der Bottega Tintorettos waren allerdings bekanntlich viele otramontani beschäftigt). Die übernatürliche Wirkung der schwebenden himmlischen Wesen und der dynamische Duktus ihrer Bewegungen und ausladenden Flügel lassen die Betrachter unmittelbar am Wunder der göttlichen Intervention teilhaben  ; auf der Schwelle zum Speisesaal stehend, werden sie Zeugen der Kommunion und werden sich der Transzendenz des Augenblicks bewusst. Dem Pathos der Rhetorik wirken mehrere Komponenten entgegen  : die irdische Verortung der dienenden Figuren sowie der am Tisch sitzenden Jünger  ; die Integration Christi in die Gruppe der übrigen Protagonisten, ohne dass die planimetrische Auszeichnung seiner Figur aufgegeben wäre  ; und schließlich der starke Gegensatz zwischen Erdenschwere und Lebensnähe auf der einen und der Schwerelosigkeit und Transparenz der Engel auf der anderen Seite. Der Durchbruch Tintorettos erfolgte mit der dramatischen Steigerung der Erzählung auf einen Höhepunkt hin – eine Verengung des Zeitfensters im Augenblick der göttlichen Intervention, die zur Aufhebung der physikalischen Gesetze und des zeitlichen Kontinuums führt. Mit der Unmittelbarkeit des Geschehens geht der Ausbau der Szenografie einher. Das disegno der Figuren erscheint anders als bei Tizian ebenso wichtig wie die Farbe  ; die Orchestrierung des Lichts und der sukzessive Ausbau des Helldunkels werden im Laufe der Jahre immer stärker ins Spiel gebracht. Die Dynamisierung der Handlung erfolgt nicht selten durch die Diagonalkomposition  ; sie wird zunächst auf die Figuren, in der mittleren Schaffenszeit dann auf die raumschaffende Architektur der Szenografie selbst übertragen. Dies führt zu einer Ambivalenz des Bildaufbaus und der Wertigkeit der Figuren, die als Handlungsträger den Vordergrund beherrschen, während diagonale Raumfluchten als „Störfaktoren“ auftreten und die architektonischen Versatzstücke auf die Aufmerksamkeit zunächst ablenkend wirken können. Die Wiederherstellung des „ornamentalen“ flächenhaften Bildgefüges erfolgt auf dem Weg planimetrischer Strukturelemente, sowohl durch „Schließung“ der Hintergründe als

auch infolge der übergreifenden, gebrochenen Farbigkeit der Malfläche als Ganzes. Dieser Prozess wird vom Betrachter aus seiner ästhetischen Distanz nachvollzogen, wodurch die Verinnerlichung des nicht selten komplexen Inhalts und seine nachträgliche Harmonisierung mit den widerstreitenden Kräften der Komposition in Einklang zu bringen sind. Die Vereinheitlichung in den großen Gemälden der Spätzeit wird durch das alles überlagernde Helldunkel und überraschende Lichteffekte, auch durch das freie Spiel der zuweilen fast kalligrafischen Linienführung bewerkstelligt. Das Geschehen nimmt surreale Züge an und übersteigt die zuweilen naturalistisch anmutende Darstellung. Anders als bei Tizian führt der Weg der Verinnerlichung und Vergeistigung bei Tintoretto nicht über die Verdichtung der Farbe, sondern erfolgt durch die Aufhebung gewagter Kompositionsformen mittels Lichtführung, Helldunkel und eines übergreifenden Gesamttons. Die beiden Spätwerke, die „Grablegung in San Giorgio Maggiore“ von um 1594 und die traumhafte Darstellung von „Christus am See Genezareth“ (National Gallery, London), deuten aber auch die Möglichkeit einer anderen farbig-expressiven Weiterentwicklung an, indem die stärkere Ausprägung der Lokalfarben und die aufwühlende Zusammenstellung von Rot und Blau bzw. Türkis einen sehr eigenen Ton anschlägt, der die Nähe zu El Greco nicht verleugnet.

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VII Veronese Das Gastmahl im Hause Lewis Am 18. Juli 1573 wurde Paolo Caliari aus Verona vor das Hohe Tribunal der Inquisition in Venedig geladen, um sich für das „Gastmahl im Hause Simons“ zu verantworten, das er für das Refektorium von Santi Giovanni e Paolo ausgeführt hatte (Abb. 204). Der verbale Schlagabtausch, bei dem der Maler seine eigene Verteidigung übernahm, ist bekannt  : Mit einer Mischung aus (wohl gespielter) Einfalt und Dreistigkeit suchte Veronese, die Freiheit der Kunst und zugleich seine intellektuelle Ahnungslosigkeit ins Feld zu führen. Er meinte, den Grund der Anklage zu kennen, denn der Prior des Klosters habe ihn gebeten, einen Hund durch eine Figur Magdalenas zu ersetzen. Er wisse aber aus vielerlei Gründen nicht, ob eine Magdalena in diesem Zusammenhang wirklich passend wäre. Auf die Frage, um welches Gemälde es sich denn handele, antwortete der Maler, dass es um eine Darstellung des „letzten Abendmahls, das Jesus Christus mit seinen Aposteln im Hause Simons eingenommen habe“, gehe.1 Auf die Frage nach weiteren Abendmahlsdarstellungen von ihm zählte der Maler eine Reihe von Werken auf, die er ausgeführt hatte. Unter diesen kommen diejenigen im Refektorium der Serviten in Venedig und das Abendmahl im Hause Simons von 1570 (heute im Louvre) dem Gemälde in der Accademia in Venedig am nächsten.2 Nach dieser Sondierung gingen die Inquisitoren dazu über, blasphemische oder zumindest unpassende Einzelheiten im besagten Gemälde in Santi Giovanni e Paolo zu benennen  : einen Diener mit Nasenbluten, deutsche Landsknechte mit Hellebarden, einen Zwerg mit einem Papagei, Jünger am Tisch, die mit Zahnstochern hantieren, etc. Der Maler verteidigte sich  : Er habe nur jene Freiheit in Anspruch genommen, die auch Dichtern und Narren zugestanden werde. Infolge der Größe des Gemäldes gebe es viel Platz für Nebenfiguren. Am Ende seiner Ausführungen verwies Veronese gar auf Michelangelo, der Christus, die Gottesmutter und die anderen himmlischen Gestalten im Jüngsten Gericht in der Sixtina sogar nackt dargestellt habe (vgl. S. 163)  ! Das Gericht war allerdings der Meinung, beim Jüngsten Gericht Michelangelos seien alle Kleider, Waffen und weltliche Dinge fehl am Platz, alles sei vergeistigt. Ob Veronese dabei bleibe, dass er ein gutes und anständiges Bild gemalt habe  ? Der nun unter Druck geratene Maler gestand ein, es sei nicht seine Absicht gewesen, mit solchen unziemlichen Figuren, die wohl nicht passend wären, gegen den Herrn und das decorum zu verstoßen. Viele Überlegungen

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habe er nicht angestellt und die Betrachter in Verwirrung zu versetzen, sei nicht seine Absicht gewesen. Das Ergebnis der Befragung lief darauf hinaus, dass der Maler drei Monate Frist bekam, alle beanstandeten Motive auf eigene Kosten zu korrigieren  ; wenn er dieser Anordnung nicht nachkomme, müsse er mit einer vom Hohen Gericht verhängten angemessenen Bestrafung rechnen. Die Korrekturen wurden trotzdem nicht vorgenommen  ; der Maler änderte vielmehr den Titel des Gemäldes, das nunmehr als „Gastmahl im Hause Levis“ firmierte und heute im ursprünglichen Zustand in der Accademia in Venedig zu sehen ist. So konnte Veronese den Verstoß gegen das decorum und den Verdacht der Blasphemie zumindest nach außen hin entkräften, ohne seine künstlerische Freiheit nach dem Motto des Horaz aufzugeben.

Säkularisierte Gegenwart Die Inquisitoren hatten schon recht  : Die Gastmähler Veroneses, auch jene, in denen der Heiland anwesend ist, sind mit genrehaften Motiven und einer Unzahl von Figuren bestückt, die thematisch eigentlich überflüssig sind. Noch bunter und chaotischer als die Ansammlung von Figuren im Gemälde der Accademia ist jene der „Hochzeit zu Kana“ (heute im Louvre), die der Maler um 1570 für das Refektorium der Serviten in Venedig ausführte. Der Prozess der Vergegenwärtigung setzte bereits im 14. Jahrhundert im Kontext der Andachtsbilder ein, um im folgenden Jahrhundert immer mehr ausgeweitet zu werden  ; zu guter Letzt wurden sowohl sakrale als auch profane Darstellungen, Porträts und narrative Szenen davon geprägt (vgl. Bild/Zeit, II, 2004, passim). Vergegenwärtigung und Verflechtung von Bildinhalten sakraler Natur oder von Begebenheiten der Vergangenheit, die mit denen der Gegenwart vermischt werden, treten immer häufiger in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts auf und tragen fortlaufend zur Durchlässigkeit der gattungsspezifischen Grenzen bei. Im Rahmen der Historienmalerei und der Antikenrezeption wurde bereits das Phänomen der Transplantation angesprochen (S. 226 f.). Die Protagonisten schlüpfen nicht mehr in die Rollen und das historische Kostüm längst verblichener Personen, sondern lassen die Vergangenheit als lebendige Gegenwart erscheinen. Dies kündigt sich bereits in den ­Pathosformeln des florentinischen Quattrocento an (Warburg). In den Historienbildern Tizians vollzieht sich die

Das Gastmahl im Hause Lewis

204 Paolo Veronese, Gastmahl im Hause Levis, 1573. Accademia, Venedig.

­Verschmelzung unterschiedlicher Zeiten  : In seinen Andachtsbildern tritt die Schilderung zeitgenössischer Familien praktisch ebenbürtig mit dem sakralen Thema in Erscheinung. Bei Veronese scheint dieser Prozess an ein Ende gelangt zu sein und dementsprechend haben seine großen ­Inszenierungen der Gastmähler den Unmut der Gegenreformer auf sich gezogen. In diesen säkularisierten Darstellungen oder in den Anbetungen nobler Familien, wie z. B. derjenigen der Cuccina, heute in Dresden, droht dem sakralen Thema vor der Prachtentfaltung und der festivitas das Aus. Die Verhüllung des Wesentlichen war zu dieser Zeit in Flandern, vor allem bei Pieter Bruegel dem Älteren, Teil einer sehr durchdachten bildnerischen Strategie. Veronese hingegen hat noch unverbindlich in der Schönheit der Gestalten, der malerischen Pracht der Roben, dem opulenten architektonischen Rahmen und dem hellen Blau des Himmels geschwelgt. Alles wird auf die Gegenwart gerichtet, schön und veredelt. Claudio Strinati hat einige Charakteristika von Veroneses Kunst treffend umrissen. Sie sei immer von einer licenzia poetica getragen, die eine Harmonie aus unzähligen Einzelheiten schaffe. Im Gegensatz zu Tizian und Tintoretto gebe es im Grunde keine Hierarchie der Personen, sondern nur das Kollektiv. Die Imagination des Künstlers umfasse alles und das Erzählerische und Dramatische habe hinter dem Prinzip des Komplementären zurückzustehen. Dementsprechend stünden die sakralen Arbeiten Veroneses stets im Verdacht

der Häresie und was die profanen Themen betreffe, könne zuweilen eine mangelhafte Ikonografie festgestellt werden. Die Bedeutung des Mythos und der Allegorie sei nicht das primäre Ziel seiner Malerei, sondern der konzertierte, überwältigende Eindruck der dargestellten Figuren und des Kollektivs als Ganzem.3 Auch wenn diese Einschätzung grosso modo stimmt, deckt die eingehende Analyse doch Feinheiten und bewusst durchgeführte individuelle Ausprägungen bei der Kontrastierung einzelner Figuren auf, wie aus Hetzers Beschreibungen ersichtlich wird  : So löse sich etwa die Darstellung eines Christus aus dem Kontext des Affektiven und Kontingenten durch die souveräne Charakterdarstellung  : Milde werde mit Klarheit und Festigkeit, Weisheit mit Vernunft gepaart.4 Wie die Menschenschilderung, so sei auch die der Architektur, die bei Veronese mehr als nur einen festlichen Bühnenrahmen bilde, ja eher „als Partner, als Mitklang und Abklang“ in Würde und Anstand zu verstehen sei  ; die serenen Himmel ließen zugleich Weite, Ferne und „Seligkeit der Lüfte“ erahnen.5 Ob wir es mit der „Anbetung der Familie Cuccina“ (Dresdner Gemäldegalerie), der „Hochzeit zu Kana“ (ebendort und im Louvre) oder mit dem „Gastmahl im Hause Levis“ zu tun hätten – das von Veronese geschaffene Menschenbild zeichne sich durchweg durch ein gemildertes Pathos und eine temperierte Schönheit aus  ; der Gegenwart verbunden, würden die dargestellten Menschen auf eine höhere, kultivierte Stufe des Daseins gehoben, bei der

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Veronese

Haltung, Klarheit, Geschmack, modische Eleganz, Takt und Distanz zum Ausdruck gelangten, im Andachtsbild Demut und Ehrerbietung ohne Unterwürfigkeit. In den Gastmählern herrsche eine heitere Festivität vor, ohne ins Vulgäre abzudriften. Schönheit und Geist durchwalteten alle Darstellungen  ; das religiöse Sujet entfalte sich in der Gegenwart unter Wahrung der Distanz und das Mythische trete mit einer Selbstverständlichkeit und Grandezza hervor, die auch dem Alltag Schönheit und Liebreiz verliehen.6 Veroneses Kunst fehlt das rhetorische Pathos, der Gipfel wird nicht gestürmt, sondern aus der Distanz betrachtet. Die Vergangenheit fließt in die Gegenwart mit ein, wird von den Protagonisten vereinnahmt, indem diese als Individuen, von Tradition und Gesellschaft geformt, eine hohe Stufe der Kultiviertheit verinnerlicht haben und so in der Lage sind, den Betrachtern die ideale Form menschlicher Existenz unmittelbar vor Augen zu führen. Veroneses Gemälde sind Zustandsbilder eines glücklichen Daseins, die einer eigentlichen Handlung entbehren.

Existenzmalerei Zwei Zeitaspekte treten bei Veronese zutage, die auch die fortuna critica des Künstlers in der Historiografie des 19. Jahrhunderts prägen sollten  : das Ideal im realen Leben der Gegenwart, das Existenzielle schlechthin darin durchscheinen zu lassen  ; und zweitens das Bewusstsein um diesen Sachverhalt seitens des Rezipienten aus der Erfahrung seiner genießenden Schau. „Edel sei der Mensch, hilfreich und gut“ – unter dieser Maxime Schillers ließe sich die Kunstsinnigkeit des gehobenen Publikums um die Mitte des 19. Jahrhunderts zusammenfassen  ; gerade die Malerei Veroneses entsprach dieser Auffassung der Kunst und dem vorherrschenden Menschenbild. In einem überschwänglichen Passus, der die Vorzüge der allumfassenden Malerei Veroneses vor dem diskursiven Medium der Literatur rühmt, heißt es bei Ruskin  : „I saw at once the whole life of the man – his religion, his conception of humanity, his reach of conscience, of moral feeling, his highly imaginative power  ; his physical gifts, his keenness of eyes, his sense of colour, his enjoyment of all that was glorious in nature. … I felt that painting had never yet been understood as it is, as an Interpretation of Humanity.“7 Diese immer noch gültige Eintragung erfolgte am 23. Mai 1846 in Ruskins Tagebuch. Zur gleichen Zeit wurde Jacob Burckhardt beauftragt, Franz Kuglers Handbuch der Geschichte der Malerei von 1837 zu überarbeiten. In der neuen Auflage

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(Handbuch der Malerei seit Constantin dem Großen, Bd. 2, Berlin 1847) wurde der Abschnitt über Veronese erweitert. Es heißt darin  : „Was Paolo … für seine letzte Zeit geradezu den Rang des ersten Malers der Welt aufweist, ist die schöne Vitalität, der poetische Drang, mitten in einer gesunkenen Kunstepoche Leben und Liebreiz so rein und voll darzustellen[,] als die Zeit es gestattete.“8 Im Cicerone. Eine Anleitung zum Genuss der Kunstwerke Italiens von 1855 hat Jacob Burckhardt seine Beurteilung von Veronese ausgebaut und abgerundet  : „Paolos Größe liegt darin, dass er, den wahren Genius der venezianischen Schule erkennend, nicht eine bewegte Historienmalerei auf den anders gearteten Stamm zu pfropfen suchte wie Tintoretto, sondern die Existenzmalerei auf eine letzte, unübersteigbare Stufe hob und auch das Kolorit diesem gewaltigen Problem gemäss zu steigern vermochte. Seine Charaktere sind nicht höher, erhabener als die der besseren Vorgänger, besitzen aber den Vorzug eines so freien, unbefangenen, absichtslosen, lebensfrohen Daseins wie wohl bei keinem andern Maler der Welt.“9 In der Nachfolge Forssmans, der die Rezeption von Veroneses „Existenzbildern“ im 19. Jahrhundert ins Blickfeld der Kunstgeschichte rückte, hat Wilhelm Schlink den Begriff der „Existenzmalerei“ erneut ins Auge gefasst. Es gehe dabei um die „Rückübersetzung der Bestimmung des Menschen zu harmonischer Existenz in das Bild heiterer, weltlicher Pracht, so wie wir sie in Veroneses Gastmahlen erfahren“.10 Im Untertitel des Cicerone sei ja vom Kunstgenuss die Rede und angesichts der Malerei von Veronese verbänden sich in Burckhardts Konzept des „Existenzbildes … zwei Positionen des Genusses  : die Bildwelt eines genießenden Menschengeschlechts und die sympathetische Teilhabe eines … genussfähigen Betrachters“. Im Genuss sehe der Maler Darstellungsform und Rezeptionsform in einem.11 Mit anderen Worten  : Die Malerei Veroneses zeichnet sich in den Augen Burckhardts und seiner Zeitgenossen dadurch aus, dass Gestaltung und Erlebniszeit nicht nur konform gehen, sondern in eins fallen. Die zeitliche Dimension der Darstellungsform bleibt auf die Gegenwart bezogen  ; diese wird im Akt des Schauens unmittelbar rezipiert und prägend. Die Historie wird in der Renaissance nicht vom Maler rekonstruiert, sondern historische, sakrale und mythologische Inhalte werden in die Gegenwart versetzt, transformiert und überhöht. Im 19. Jahrhundert wollte man die großen Momente der Geschichte zu neuem Leben erwecken und in Form der Malerei dem Betrachter unmittelbar vor Augen führen, um daraus Gewinn für die Gegenwart zu ziehen  ; zugleich ging es dabei darum, eine möglichst glaubwürdige Rekonstruktion einer eigentlich unwiederbringlichen Vergangenheit zu verwirklichen.12

Existenzmalerei

Das Verhältnis von Veroneses Malerei zum Publikum im 19. Jahrhundert verkompliziert sich dahin gehend, dass die Renaissance, so wie sie sich in der Malerei präsentierte und den Schönheitskult des 19. Jahrhunderts anfeuerte, zugleich aus historistischer Sicht auf eine Epoche der Vergangenheit ausgerichtet war  : diese sollte der Gegenwart und der Gesellschaft neues Leben einhauchen. Veronese hat seine Gegenwart nie verlassen. Dem Bildungsbürgertum des 19. Jahrhunderts stand das „Existenzbild“ Veroneses demnach nur als ein paradigmatisches Wunschbild einer vergangenen Epoche vor Augen, Inbegriff des öffentlichen Lebens, eines „schönen und freien Menschengeschlechts im Vollgenuss seines Daseins“13. Die „Macht des Bildes“, die eingangs anhand der „poetischen Allegorien“ des frühen 16. Jahrhunderts vornehmlich im Rahmen der venezianischen Malerei erörtert wurde, bleibt ungebrochen. Sie hat sich aber im Laufe der Zeit auch anderer Kunstgattungen bemächtigt. In Veroneses sakralen, mythologischen und profanen Gemälden erscheinen zeitliche Differenzierungen obsolet. Denn alles findet sich wie die Historie und die Vergangenheit in der Gegenwart aufgehoben. Es sind harmonische Zustandsbilder der Welt, die dem Schauen gewidmet sind  ; es fließt der Strom der Zeit unentwegt, ruhig glänzend dahin.

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VIII Vielansichtigkeit und figura serpentinata Im ersten Band der vorliegenden Reihe Bild/Zeit (I, 1996) wurde darauf hingewiesen, dass Herder in recht origineller Weise die unterschiedlichen Sinne den einzelnen Kunstgattungen zugeordnet hat. So heißt es in seiner maßgeblichen Plastik aus dem Jahr 1778  : „Einen Sinn haben wir, der Teile außer sich neben einander, einen andern nach einander, einen dritten, der sie in einander erfasset. Gesicht, Gehör und Gefühl.“ (Bild/Zeit, I, 1996, S. 134.) Auf die Künste bezogen wird somit die Malerei als Flächenkunst, welche die Teile nebeneinander darstellt, die Tonkunst als Kunst, die sie nacheinander darstellt, und die Plastik als integrativ, die Teile ineinander darstellend charakterisiert. Die Künste entsprechen, so Herder, damit den Kategorien Raum, Zeit und Kraft. Die letzte Kategorie der Kraft beziehe sich auf die integrative Natur der antiken Plastik, deren haptische Qualität alle Formen in einer Gestalt zu verschmelzen vermöge – die darstellende Plastik sei mit Realität und Wahrheit, das Bild in seiner Fiktionalität eher mit Traum und Zauber gleichzusetzen. 1 Von der Beschreibung der charakteristischen Merkmale der Künste geht Herder dazu über, die rezeptionsästhetischen Aspekte derselben zu erörtern. Der haptische Sinn des Menschen werde von der Unmittelbarkeit des Gefühls begleitet  ; die reale Plastik als integrativer Ausdruck des Künstlers entspreche der natürlichen Gegebenheit des Mediums. Hätte Herders seine Überlegungen 200 Jahre früher angestellt, hätten sie gewiss die Diskussion um die Rangordnung der Künste in neue Bahnen geleitet. Nicht von ungefähr hat man sich gerade im 18. Jahrhundert bei der formalästhetischen Bewertung der Plastik erneut des Begriffs der Vielansichtigkeit bedient  ; er wurde nicht nur auf die Komposition und Gruppierung der Plastiken, sondern auch auf die Bewegungsdarstellung, die Linienführung und die Umkreisung seitens des betrachtenden Subjekts bezogen. Allerdings bedauert Herder die Zerstückelung der Wahrnehmungszeit infolge der in der vorangegangenen Diskussion immer wieder angesprochenen Einzelaspekte, die der vollendeten plastischen Form nicht gerecht würden. 2 So ist es auch nicht verwunderlich, dass gerade Herder mit seiner Vorliebe für die klassische Plastik sowohl in seiner Anschauung als auch in seiner Terminologie so manches vorwegnimmt, was in der späteren Kunstgeschichtsschreibung zum Tragen kommt  : Wöfflin, Riegl, Brinckmann, Wittkower u. a. verwenden den Begriff der „Vielansichtigkeit“ in einem Sinn, der mit der ursprünglichen Paragonefrage wenig zu tun hat – eben aus stilkritischer Sicht. Dementsprechend darf auch hier, zumindest im Ansatz, die Freiplastik, von Donatello und spä-

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ter im 16. Jahrhundert besonders von Michelangelo vorangetrieben, in einer Darstellung des Zeitaspekts in der bildenden Kunst nicht fehlen. Zunächst soll aber die Paragonediskussion, die den Begriff der „Vielansichtigkeit“ doch zum Teil beeinflusst hat, in Bezug auf die Zeitproblematik erörtert werden.3

Zerlegung des Zeitkontinuums Leonardo lässt in seinem Entwurf zu einer Abhandlung über den Wettstreit zwischen Malerei und Plastik den Bildhauer sagen, er könne keine Figur machen, die nicht unendlich viele Ansichten aufweise, die fortlaufend zum Vorschein kämen. Nach Leonardo reduzieren sich die erwähnten Aspekte aber auf zwei, eine Vorder- und eine Rückenansicht, die in sich gut proportioniert seien  ; wiewohl die besagte Plastik nach allen Seiten eine Unzahl von Ansichten biete, sei dies kein Qualitätskriterium an sich, denn jeder Töpfer könne das Gleiche behaupten – dies sei eben aus der Natur einer Rundform (una figura tonda) zu erklären.4 Dem Zeitkontinuum, das jeder Rundplastik von Natur aus anhaftet, wird somit wenig Beachtung geschenkt. Wichtiger für den Paragonestreit war vorerst das Argument der beiden Hauptansichten, die in ein und derselben Figur zum Tragen kämen. Der Wahrnehmungsprozess wurde somit nicht direkt mit dem Phänomen des Zeitablaufs verbunden, sondern eigentlich zergliedert  ; die plastische Form wurde in ihrer Bildhaftigkeit, allenfalls als Relief, zur Disposition gestellt und dadurch eigentlich auf einen malerischen Aspekt hin reduziert. Ihres Realitätscharakters beraubt – das Hauptargument der Befürworter der Bildhauerkunst gegenüber der auf die Fiktion ausgerichteten Malerei –, konnte die Plastik natürlich nicht mit jener Kunst mithalten, die nach Leonardo mittels rilievo und Perspektive imstande sei, lebendig erscheinende Figuren auf einer Bühne zu schildern, ja, eine ganze Welt zu erschaffen. Auch in einem weiteren Sinn nahm es die Malerei mit der Bildhauerkunst auf  : Die Zerlegung der Plastik in spezifische Ansichten ging mit der Zerlegung des zeitlichen Kontinuums einher. Es ist natürlich nicht möglich, Vorder- und Rückseite einer herkömmlichen Plastik gleichzeitig zu betrachten. Der Malerei gelinge es aber nach Leonardo mittels ausgeklügelter Spiegelungen zwei, wenn nicht sogar drei Ansichten simultan darzustellen. Implizit fand somit jene temporale Wegstrecke Berücksichtigung, die als notwendig, wenn auch vernachlässigbar erachtet wurde, als es darum

Vielansichtigkeit und figura serpentinata

ging, vom einen zum anderen Hauptansicht zu gelangen. Darüber hinaus ist es in der Malerei nach Leonardo auch möglich, verschiedene Momente in Bewegungsabläufen zu veranschaulichen. Der Hauptunterschied zwischen Malerei und Plastik wurde aber in der Darstellung der menschlichen Figur gesehen. Die Wiedergabe mehrerer Aspekte des Körpers in einem Bild, etwa durch die Darstellung fiktiver Spiegel, welche dieselbe Figur simultan aus verschiedenen Blickwinkeln, meist Vorder-, Rücken- und Seitenansicht, zeigen, wurde im 16. Jahrhundert Usus. Den Anfang machte der Überlieferung nach Giorgione, der eine Figur mittels Spiegelungen und Reflexen auf einer Rüstung und einer Wasseroberfläche so wiedergegeben habe, dass sie aus unterschiedlichen Blickwinkeln zu sehen gewesen sei – nach Vasari ging es dabei darum, die Vorzüge der Malerei im Vergleich zur Plastik herauszustellen.5 Paolo Pino nahm in seinem Dialogo di pittura (1548) auf einen ebenfalls von Giorgione gemalten hl. Georg Bezug. Im Anschluss an Pino und Vasari griff dann Raffaele Borghini in seinem Il Riposo 1584 noch einmal auf die vorangehenden Beschreibungen zurück.6 Auf ein frühes Beispiel eines erhaltenen Bildes, welches das Paragoneproblem thematisiert, hat Larsson hingewiesen  : ein „Porträt des Zwerges Morante“ am Hof der Medici in Florenz, von Bronzino um 1550 ausgeführt, das ursprünglich auf der einen Seite die Vorderansicht, auf der rückwärtigen den Rücken Morgantes zeigte.7 Offensichtlich spielte die Simultaneität der Aspekte für den Maler keine Rolle  ; die Wahrnehmung – und mit ihr die Zeit – wurde nun auch beim Bild wie bei der Betrachtung einer Plastik in zwei Momente zerlegt. Was dadurch gewonnen werden sollte, bleibt offen. Charakteristisch und zukunftsträchtig erscheint aber die seit alters her praktizierte Möglichkeit der Zeichnung, mehrere Ansichten zu Studienzwecken anzufertigen. Blätter von Dürer, Marten van Heemskerck, Bandinelli und Pierre Jacques werden von Larsson als Beispiele herangezogen.8 Nicht selten handelt es sich dabei um Zeichnungen nach antiken oder zeitgenössischen Plastiken, deren prägnante Aspekte im zweidimensionalen Medium der Zeichnung festgehalten werden. So wie die Betrachtung der Plastik zum Bildhaften, auch dem Relief führt, so werden mehrere Ansichten zwar simultan, aber letztendlich doch im Sinne einer parataktischen, zeitlich unterbrochenen Folge zur Anschauung gebracht.

Vielansichtigkeit und Bildhaftigkeit Wenn wir uns nun den einschlägigen Äußerungen der Künstler und Theoretiker über den Begriff der Vielansichtig-

keit unter dem Aspekt der Zeitlichkeit“ zuwenden, ergibt sich ein ähnliches Bild  : Nicht die Plastik als vollrunde Form steht im Zentrum des Diskurses, sondern der Ansicht, des Aspekts, dem von Natur aus eher ein statischer Charakter anhaftet. In einem einschlägigen Brief an Benedetto Varchi, der übrigens direkt auf die Paragonefrage Bezug nimmt, erläutert Benvenuto Cellini 1546 die Vorzüge der Skulptur  : Sie sei siebenmal vortrefflicher als die Zeichnung, da sie acht Ansichten aufzuweisen habe, die alle von derselben Güte seien. Die acht Ansichten seien auf die vier Seiten eines Blocks bzw. eine Diagonale zurückzuführen. In Cellinis späterem Trattato del disegno findet diese Herleitung ihre Bestätigung.9 Allerdings stellt sich der Arbeitsvorgang, den er in seinem Discorso intorno all’arte del disegno beschreibt (in den Due trattati 1568 veröffentlicht), doch als wesentlich komplexer heraus. Es handelt sich demanch um einen Ablauf von vielen kleinen Schritten, denn kaum sei ein Aspekt formal und schön abgeschlossen, schon müsse der Künstler nach einer kleinen Drehung der Plastik Anatomie und Haltung der Figur erneut korrigieren. Dies ist laut Cellini nicht nur bei den acht Hauptansichten der Fall, sondern mehr als vierzigmal  : „denn wenn man die Figur auch nur einen Fingerbreit dreht, sieht man mehr oder weniger von einem Muskel  ; so entsteht der größte Abwechslungsreichtum, den man sich denken kann“. Die Durchführung dieses Werkprozesses ist so schwer, dass man nach Cellini nie eine Plastik sehen werde, die von allen Seiten gleich schön ist. 10 Wenn auch die völlige Verschmelzung eines bestimmten Punktes in einer sukzessiven, fliessenden Zählfolge mit der bewegungslosen Ansicht einer Plastik nicht gelingen will, so zielt der Werkprozess – zumindest in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts und mit Blick auch auf frühere paradigmatische Werke, allen voran jene von Michelangelo, doch auf die vollrunde Form ab, die idealerweise nur schöne Ansichten aufweise.

Figura serpentinata Es ist in diesem Zusammenhang symptomatisch, dass zu einer Zeit, als die manieristischen Plastiker danach strebten, Perfektion, Bewegung und vollrunde Formen zu erschaffen, ein Begriff in die Diskussion eingeführt wurde, der wie kein anderer diese Zielsetzung reflektiert  : die figura serpentinata. Wir finden ihn bekanntlich in Lomazzos Trattato dell’arte della pittura, scultura ed architettura von 1584, in dem der Autor unter Berufung auf Michelangelo davon spricht, dass ein Maler seiner Figur immer eine pyramidale, schlangenähnliche Gestalt geben und sie mit ein, zwei oder drei Ansichten

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Vielansichtigkeit und figura serpentinata

versehen sollte. Dies sei eigentlich das ganze Geheimnis der Malerei  ; die höchste Anmut und Gefälligkeit, die eine Figur haben könne, trete dadurch zutage, dass sie sich zu bewegen scheine. Um diese Wirkung einer Bewegung zu erzielen, gebe es keine geeignetere Form als die einer Feuerflamme, da dieses Element doch nach Ansicht Aristoteles’ und anderer Philosophen das lebendigste von allen sei und die Flamme beweglicher als alle anderen Formen sei, da sie konisch und mit einer scharfen Spitze versehen sei, durch die sie die Luft teile und sich in höhere Sphären erhebe. Da es aber zwei Typen von Pyramiden gebe, eine gerade wie der Obelisk vor San Pietro in Rom und eine um einen Obelisken gewundene Spiralform wie die einer Flamme, die von Michelangelo als „schlangenförmig“ beschrieben worden sei. Der Maler solle sich an der zweiten Form orientieren, deren Windungen denjenigen einer Schlange, die sich fortbewegt, gleichen, einer ondulierenden Flamme entsprechend. Die Figur sollte demnach die Form eines aufrecht stehenden S haben – oder die umgekehrte –, denn dadurch erlange sie ihre volle Schönheit. Und diese gelte nicht nur für die Form als Ganzes, sondern auch für jeden ihrer Teile.11 Hogarth hat bekanntlich in seiner Analysis of Beauty von 1753 diese Vorstellung einer pyramidalen Form und einer schlangenförmigen line of beauty aufgegriffen und in dem großen Stich (Plate 1) mehrfach demonstriert. So wurde die figura serpentinata von ihm sowohl in der Pflanzen- und Tierwelt als auch in Bezug auf den menschlichen Körper aufgespürt und dementsprechend die S-Linie mittels einer um einen Konus gewundenen Spirale illustriert.12 Bemerkenswert in Lomazzos Text ist zunächst der Umstand, dass es nicht um die Plastik geht, sondern um die bildhafte Form der Pyramide bzw. der figura serpentinata. Erst diese gewährleiste die Anmut (grazia), da sie wie keine andere, einer Flamme gleich, den Eindruck der Bewegung vermittele. (In diesem Zusammenhang sei auf die antike Elementenlehre und die Gestalt des Feuers verwiesen, die nach Platon durch den vierflächigen soliden Körper, den Tetraeder, der aus vier gleichseitigen Dreiecken besteht, repräsentiert wird. Die ideale Form eines Körpers wird somit auf die geometrische Flächenform eines Dreiecks übertragen.13) Die etwas eigentümliche Hinzufügung Lomazzos im ersten Satz, die pyramidale Figur sei ein-, zwei- oder dreimal zu vervielfältigen, könnte im Sinn eines dreiseitigen Tetraeders zu verstehen sein, also wiederum als drei verschiedene Ansichten desselben Körpers. Von einer vollrunden Form, die das Auge um den Körper herumführt, ist vorerst nicht die Rede  – wird doch eine bildhafte Darstellung behandelt. Nachdem aber die Bewegung selbst als die entscheidende Eigenschaft einer Flamme hervorgehoben wurde, die auch

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dem Drang nach oben folgt, wird neben dem Typus der „geraden“ Pyramide (oder des Obelisken) eben die Schlangenform angesprochen. Der erwähnte Konus mit seiner Spitze sei die beweglichste Form überhaupt  : più al moto di tutte, perchè ha il cono, e la punta acuta … Im Gegensatz zur flächenhaften Pyramide evoziere der vollrunde Konus Bewegung, Kontinuität und Drang nach oben. Auch wenn hier ein entscheidender Aspekt der figura serpentinata, wie wir ihn von einigen manieristischen Plastiken von den 1560er-Jahren an her kennen, angesprochen wird, bezieht Lomazzo die vorgestellte stereometrische Form vorerst nicht auf die Plastik – der Fortgang der Bewegung in der dargestellten Figur bleibt der Vorstellung überlassen. Im vierten Kapitel des 6. Buches geht Lomazzo dann doch auf die Körperdarstellung in der Skulptur der Antike und der Moderne ein, d. h. eindeutig auf Objekte, die dem zeitgenössischen Leser oder Künstler als Vorbilder vor Augen standen. Etwas umständlich erörtert er zum einen den klassischen Kontrapost, der mit der figura serpentinata gleichgesetzt wird  ; zum anderen werden Skulpturen in starker Bewegung beschrieben – kämpfend, kniend, ausgestreckt –, die ebenfalls einen eher lebendigen Eindruck erwecken. Ausgeglichenheit und Bewegungskontraste, die beiden Typen von Serpentinatafiguren, scheinen nach Larsson von Lomazzo als gleichwertig erachtet worden zu sein.14 So lässt sich aus der Sicht der Zeitlichkeit nicht sagen, dass es hierbei um den Ablauf und die kontinuierliche Erfassung der Form als solcher gegangen wäre  ; vornehmliches Ziel war vielmehr die lebendige Wirkung der Figur und ihre Anmut. Auch wird die figura serpentinata in diesem Zusammenhang nicht explizit mit der Mehransichtigkeit in Verbindung gebracht.15 Die Mehransichtigkeit ist allerdings von einigen Künstlern theoretisch doch mit der plastischen Rundform in Zusammenhang gesetzt worden. So spricht Francesco da Sangallo von den vielen Ansichten, die eine statua tonda dem Auge biete, im Gegensatz zur Malerei, die sich mit einem Aspekt zu begnügen habe. Demzufolge sei der Bildhauer, was das disegno betreffe, das aller Kunst zugrunde liege, höher als der Maler einzustufen, und die Skulpturmüsse als schwieriger denn die Malerei erachtet werden.16 Auch Bronzino schließt sich in einem (unvollständig erhaltenen) Brief dieser Meinung an. Vor allem hebt er den Umstand hervor, dass die Zahl der Standpunkte bei einer kreisrunden Form unendlich groß sei (rivolgendosi l’occhio intorno a detta statua, sono infinite per essere la forma circolare di tal natura  ; dove così non avviene al pittore, il quale non fa mai in una figura altro che una sola veduta).17 Noch deutlicher als bei Cellini wird hier die endlose Zahl der Aspekte, die sich beim Umschreiten der Statue ergeben, angesprochen.

Donatello

Die Frage der Vielansichtigkeit erhielt zwangsläufig eine größere Relevanz, wenn es um die Aufstellung einer Plastik im öffentlichen Raum ging. Dieses Problem wurde bereits in der Antike angesprochen, denn Plinius berichtet von der Aufstellung der berühmten Statue der knidischen Aphrodite in einem Tempel, der rundum offen gewesen sei, sodass man die Göttin von allen Seiten bewundern konnte.18 Wenn auch nicht im Wortlaut, so doch dem Sinn nach wird hier die Vielansichtigkeit angesprochen  ; nicht zufällig dürfte die Praxis des 16. Jahrhunderts, Skulpturen im öffentlichen Raum und in Gärten aufzustellen, das Augenmerk auf diese Qualität gerichtet haben. Die vollrunde Form sollte nach Borghini auch von den angehenden Bildhauern erstrebt werden, wenn es darum ging, frei stehende Skulpturen zu schaffen – che si possono con vaghezza rimirare intorno, intorno.19 Die Verdoppelung des „intorno“ dürfte Borghini Vasaris Vite entnommen haben, nämlich der Vita von Jacopo Sansovino, der um 1511/12 einen „Bacchus“ als Gartenplastik für Giovanni Bartolini (heute im Bargello) ausgeführt hatte (vgl. Abb. 211)  : l’ Sansovino mostrò in essa una difficultà, non più usata, nel fare spiccato intorno intorno un braccio in aria che tiene una tazza del medesimo marmo, trasforata tra le dita tanto sottilmente, che se ne tien molto poco.20 Im Grunde geht es hier nicht um die Rundform der Plastik als Ganzes, sondern um den freigehauenen Arm und die virtuose Wiedergabe der Tasse, ja um den lebendigen Eindruck des Körpers überhaupt. Es steht wohl außer Frage, dass Sansovino mit seinem „Bacchus“ in Wettstreit mit Michelangelo trat, dessen frühes Meisterwerk, der „Bacchus“ von 1496 (heute im Bargello  ; Abb. 210), insbesondere ob der Ausführung der Karnation, der Anatomie und des schwankenden Standmotivs, mutwillig den klassischen Kontrapost untergrabend, den benebelten Zustand des Protagonisten schlagend macht. Die theoretische Auseinandersetzung mit den Begriffen der Vielansichtigkeit und der figura serpentinata bestätigt einmal mehr, dass die Praxis der bildenden Kunst fast immer der Theorie vorauseilt. Die formalästhetische Beurteilung der Kunst war im 16. Jahrhundert nicht Gegenstand des Diskurses – nur gelegentlich klingen bei Cellini, Vasari und Bronzino solche Überlegungen an. Dies heißt aber nicht, dass die Künstler sich nicht mit solchen Problemen auseinandergesetzt hätten – sie waren implizit den Kunstschaffenden immer gewärtig. Die Fragen nach der Zeitlichkeit im Kunstwerk und seiner Wahrnehmung werden aber kaum reflektiert. Reuter versucht in seinem Buch über Statue und Zeitlichkeit von 2012 das Problem anhand von zeitgenössischen Quellentexten aufzuschlüsseln. Diese beziehen sich jedoch

fast allesamt auf das Phänomen der Bewegungsdarstellung – nur gelegentlich wird in Bezug auf Skulpturen auch die Wahrnehmung einer inhärenten Bewegung in der Form selbst angesprochen (eigentlich Arnheims „Zeit-Form“). Um eine Aussage über Zeit in der Plastik im 16. Jahrhundert treffen zu können, muss man sich wohl in erster Linie der Autopsie der Kunstwerke selbst zuwenden. Einige bekannte Freiplastiken sollen hier kurz besprochen werden, um das Spezifische des Zeitcharakters in Bezug auf die Wahrnehmung herauszustellen  : zum einen die Entwicklung einer Figur von der markanten Vorder- und Rückenansicht in den Zustand eines gleitenden Übergangs durch die Torsion der Glieder und des Rumpfes, die in einigen Fällen in eine figura serpentinata ausmündet  ; und zum anderen die Zusammenfügung von zwei oder mehreren Ansichten einer Figur, die so aus mehreren Blickwinkeln zu erfassen ist.

Donatello Bronzedavid An den Anfang sei Donatellos „Bronzedavid“ gestellt, der wahrscheinlich um 1440 im Auftrag von Cosimo de’ Medici ausgeführt wurde (zu den zeithistorischen Bezügen, der Ikonografie und der entsprechenden Wirkung der Plastik vgl. Bild/Zeit, II, 2004, S. 89–90 und Abb. 62). Die nackte Figur ist im Sinne einer Freiplastik konzipiert, die für einen Hof oder einen Garten vorgesehen war. Die ausdrucksvolle Silhouettenwirkung, die bereits von Wölfflin angesprochen wurde, der damit einen charakteristischen Beleg für die formalästhetische Betrachtungsweise der Kunstgeschichte seiner Zeit liefert, lässt die Vorder- und Rückenansicht deutlich hervortreten, dazu gesellen sich aber die beiden weiteren Seitenaspekte. Wiewohl die vier Ansichten miteinander harmonieren, kann nach Rosenauer dennoch nicht von einem fließenden Übergang zwischen ihnen gesprochen werden  : Benché libero nello spazio, non è concepito per essere visto girandogli intorno con moto continuo, come le sculture del XVI secolo. 1 Der Kopf Goliaths ist deutlich aus der Vorderansicht zu sehen, die Adlerschwingen und womöglich auch eine Viper, die mit dem Erzfeind der Florentiner, den Visconti in Mailand, in Verbindung gebracht wurde, nur von hinten. Die vier angesprochenen Ansichten dürften auf die Hauptachsen der ursprünglichen Aufstellung ausgerichtet gewesen sein.22 Die orthogonale Struktur der Aspekte entspricht der Gepflogenheit im 15. Jahrhundert und liegt auch

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Vielansichtigkeit und figura serpentinata

der späteren Diskussion um die Vielansichtigkeit zugrunde. Gleiches gilt für die Strukturierung der Wahrnehmungszeit, die, eher statisch gegliedert, dem jeweiligen Hauptaspekt zugeordnet bleibt.

Judith Auch die „Judith“, heute vor dem Palazzo Vecchio aufgestellt, dürfte für den Garten im Palazzo Medici, womöglich als Pendantfigur zum Bronzedavid, vorgesehen gewesen sein (die Öffnungen der Köpfe am Sockel lassen auf eine geplante Brunnenfunktion der Plastik schließen  ; vgl. Bild/ Zeit, II, 2004, S.116 f. und Abb. 77). Die Entstehungszeit wird auf Basis von Stilvergleichen auf 1454–1457 angesetzt.23 Als zukunftsträchtig hat sich die Kombination einer stehenden Figur mit einer sitzenden herausgestellt  ; allerdings hatte Donatello bereits in seiner Kampanileplastik „Abraham und Isaak“ von 1421 (heute im Museo dell’Opera del Duomo, Florenz) eine ähnliche Konfiguration geschaffen. Was nun die „Judith“ betrifft, richtet die Heroine mit erhobenem Schwert den Oberkörper des bewusstlosen Holofernes auf, um dem Unhold im nächsten Augenblick den Kopf abzuschlagen. Die Frage der Aspekte wird insofern verkompliziert, als der Sockel bekanntlich nur drei Seiten aufweist, das Ruhekissen darauf aber quadratisch ausladend ruht, sodass nur in der Hauptansicht Kissen und das heidnische Sockelrelief korrelieren. Judith erscheint hier frontal, mit vorgeschobenem linkem Bein, während der Kopf des Holofernes im Profil zu sehen ist und sein Rücken mit dem schlaff herabhängenden linken Arm die linke Seite der Gruppe optisch abschließt. Die rechte Seite wird von dem herabfallenden Gewand Judiths begrenzt, dessen fließende Falten in starkem Kontrast zur Binnenstruktur des oberen Teils stehen. Unterschiedliche Gusstechniken kamen in dieser Gruppe, die in Einzelteilen gefertigt wurde, zum Tragen – so wurde das Gewand der Judith in direktem Verfahren in Bronze gegossen, während die Beine des Holofernes als Naturabgüsse geformt und nachträglich indirekt gefertigt wurden.24 Nicht nur die Interdependenz und Spannung zwischen den beiden Figuren halten den Betrachter an, sich ihnen von unterschiedlichen Seiten zu nähern  : In der Hauptachse neigt sich das Antlitz Judiths dem Holofernes zu, während sein hochgezogener Kopf abgewandt ist  ; wenn wir die zweite und dritte Seite des Sockels zu betrachten, sehen wir im ersten Fall nur seinen Kopf und den nackten Oberkörper schräg von vorne  ; über ihn schwebt das horizontal gehaltene Schwert, während der Kopf Judiths abgewandt ist  ; von der dritten Seite aus sehen wir nur die He-

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roine schräg von hinten sowie links das makabre Motiv ihres Fußes, der auf der klauenähnlichen Hand steht, während das rechte Bein des Bewusstlosen schlaff herabhängt. Inwiefern wir es bei dieser Plastik infolge der Sockelform mit drei Ansichten zu tun haben, ist m. W. bisher nicht erörtert worden. Auf jeden Fall handelt es sich um eine Freiplastik, die aus zwei Figuren besteht und eindeutig eine Hauptansicht aufweist. Fließende Übergänge sind hier weniger ausgeprägt als im Bronzedavid  ; einzelne Körperteile, wie die Beine des Holofernes, sind zuweilen verdeckt und nur von einem Standpunkt aus zu sehen  : Im Prinzip müssen die Nebenaspekte durch erheblich wechselnde Positionen des Betrachters, d. h. auch durch Zäsuren im zeitlichen Ablauf der Betrachtung, nachträglich gefunden werden  : „non scorrono in successione, ma emergono invece repentivamente ogni volta che si cambia il punto d’osservazione.“25 Die beiden besprochenen Bronzeplastiken Donatellos stehen am Anfang der weiteren Entwicklung der Typen im 16. Jahrhundert  : erstens des Typus der Einzelfigur als Freiplastik, deren Kontrapost und Bewegung nach und nach sich der Rundform mit fließenden Übergängen annähern  ; und zweitens des Typus der Kombination von mehreren Figuren, deren Bewegung und Spannungsverhältnis ebenfalls einen Übergang von einer Ansicht zur nächsten bewerkstelligen.

Leonardo und die Paragonefrage Ein früher locus classicus der Paragonefrage findet sich bei Leonardo, der darauf hinweist, dass der Bildhauer immer mehr Material wegnehme, um zu einer dauerhaften Form zu gelangen, während der Maler imstande sei, durch fortwährende Hinzufügungen sich eine ganze Welt zu erschaffen. Was die unterschiedliche Ausprägungen von Zeitlichkeit in Bezug auf den Werkstoff betrifft, ist insbesondere auf folgenden Ausspruch zu verweisen  : Come la pittura è più bella, e di più fantasia e più copiosa, è la scultura più durabile che altro non ha.26 Zwei unterschiedliche Aspekte werden hier angesprochen, welche die Zeitlichkeit betreffen. Zum einen ist nur vom Material die Rede, von der Plastik als realem Objekt im Raum. Zeit wird hier unmittelbar virulent  ; die tatsächliche Existenz verquickt sich mit der „Echtzeit“, d. h. mit der Erlebniszeit des Betrachters  ; die Dauerhaftigkeit der Skulptur dient als Gewähr dafür, dass diese Situation permanent abgerufen werden kann. In der Malerei hingegen geht es um die Fiktion von Raum und Zeit  : Die Materialität wird transzendiert und die Imagination des Betrachters fortwährend bei der Betrachtung der Darstellung in die Pflicht

Leonardo und die Paragonefrage

genommen. So überwältigend der Eindruck auch sein mag, er bleibt doch stets veränderlich und die Gestaltung bleibt von der Vorstellungskraft des Betrachters abhängig. Für Leonardo geht es nicht um die Fiktion einer Einzelfigur, sondern um einen projektiven Weltentwurf. Die Plastik bleibt in ihrer reduzierten Form der Realität und der Echtzeit verhaftet  ; die Malerei hingegen strebt nach Universalität, wobei sie die engen Grenzen der Gegenwart übersteigt. Ob das Kriterium des jeweiligen künstlerischen Mediums – reale Form hier, eine durch Form und Farbe erzeugte fiktive Welt dort – wirklich als qualitative Beurteilung einer logischen Analyse standhält, ist zu bezweifeln. Fakt ist aber, dass auch in der Moderne ähnliche Argumente vorgebracht wurden, als es in den USA darum ging, Plastik und Malerei in den 1950er- und 1960er-Jahren gegeneinander auszuspielen.27 Leonardo hat die Materialität der Plastik offensichtlich nicht als Vorzug, sondern als Einschränkung erachtet. An einer anderen Stelle des Trattato weicht er von seiner eigenen Argumentation ab und stellt fest, dass auch eine Plastik nur zwei Hauptansichten aufweise. Eine Rundform besitze letztlich jede Vase, wo liege darin der Vorzug  ? Die Skulptur wird demnach wie schon erwähnt auf ihre Bildhaftigkeit reduziert, könne aber in Leonardos Augen nicht mit der Malerei konkurrieren.

Drehfiguren in der Malerei nach 1500 Etwa zur gleichen Zeit wie diese Ausführungen, um 1500, hat man in der Malerei damit begonnen, die Grenzen der Darstellung einer Einzelfigur in Richtung der Plastik zu verschieben, indem wie erwähnt mittels Spiegeln oder durch die jeweilige Haltung der Figuren Vielansichtigkeit als ein simultanes Phänomen in den Bildern erzeugt wurde. Das Erkennen solch einer „Zeitgestalt“ setzt implizit ein gewisses Abstraktionsvermögen aufseiten des Betrachters voraus, der in seiner Imagination mehrere Aspekte nachträglich zur Ganzheit einer vorgestellten Figur zusammenfügen muss. Von „Echtzeit“ kann in diesem Zusammenhang nur im Sinne des Wahrnehmungsprozesses während einer kurzen Zeitspanne gesprochen werden, in welcher die Erlebniszeit des Betrachters strukturiert wird. In der Plastik steht das Objekt aus der Sicht der Zeitlichkeit am Anfang dieses Vorgangs. Sie setzt die haptische und motorische Erschließung der Figur gemäß ihrer dreidimensionalen Materialität in Gang. Die Annäherung der Malerei an die Kategorien der Plastik, d. h. an die Vielansichtigkeit einer Figur oder die Kombination mehrerer Figuren, die unterschiedliche Haltungen

205 Raffael, Der hl. Michael, ca. 1502. Louvre, Paris.

einnehmen, wie wir es etwa von Michelangelos Cascinaschlacht (Abb. 119) her kennen, mag zum Teil auf den Paragonestreit zurückzuführen sein. Sicher ist, dass die Künstler kunsttheoretischen und rhetorischen Kriterien wie varietà, difficoltà oder invenzione zu entsprechen suchten  ; zu diesen gesellten sich im Manierismus später faciltà und sprezzatura.28 Die Bewegungsdarstellung gehört zum selbstverständlichen Repertoire der neuzeitlichen Malerei und ist insbesondere im narrativen und expressiven Kontext unverzichtbar geworden. Als eine Neuerung darf aber jenes Bewegungsmotiv bezeichnet werden, das nicht auf die Relation von Figuren untereinander abzielt, sondern die plastische Rundform einer Figur selbst ins Auge fasst und diese zum eigentlichen Anliegen der Darstellung erhebt. Die formalästhetische Sicht, die der figura serpentinata zugrunde liegt, trägt somit zur Aussonderung der Figur aus dem narrativen Kontext bei und verleitet den Betrachter dazu, sich innerlich von der istoria zu lösen und aus der ästhetischen Distanz heraus die virtuos gemalte Figur in der Zentriertheit ihrer Bewegung isoliert zu betrachten. Über die Konturen und Verkürzungen hinaus führt die Drehbewegung einer Figur das Auge auf eine Bahn, die den Körper umkreist  ; auch das nicht Sichtbare wird vom Bewusstsein ergänzt. Mag dieser Akt der instinktiv ablaufenden Wahrnehmung noch so

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Vielansichtigkeit und figura serpentinata

206 Michelangelo, Tondo Doni, 1504. Uffizien, Florenz.

207  Leonardo (Werkstatt), Leda, ca. 1506. Galleria Borghese, Rom.

schnell vor sich gehen, ein Zeitmoment wohnt ihm dennoch inne. Über die zunehmende Häufigkeit solcher selbstbezüglichen Figuren von der Jahrhundertwende um 1500 an besteht kein Zweifel. So kann man sagen, dass es die Malerei war, die sich dem Problem der Vielansichtigkeit und auch der figura serpentinata zuwandte. Einige Beispiele seien hier angeführt  : Raffaels „Hl. Michael“ aus dem Louvre von um 1502 (Abb. 205)  ; Michelangelos „Tondo Doni“ aus den Uffizien (Abb. 206) und seine„Schlacht von Cascina“ von 1504 (Abb. 119)  ; Leonardos „Leda“ von um 1506 aus der Galleria Borghese (Abb. 207), die mit ihrer Torsion und ihrem überbetonten Kontrapost zur späteren Ausprägung der Schlangenlinie in der Plastik beigetragen haben dürfte. Ebenso wäre hier in Bezug auf die Plastik eine frühe Anregung zu nennen, nämlich Verrocchios Brunnenplastik „Putto mit Delphin“ im Hof des Palazzo Vecchio in

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Florenz um 1480, mit ihrem drehbaren pivottierenden Standmotiv. In der Decke der Sixtina findet sich eine Vielzahl von Figuren in extremen, oft gedrehten Stellungen  ; in diesen Zeitraum fallen auch Raffaels hl. Katharina (1512) in der Londoner National Gallery und die Maria Magdalena im Gemälde mit der „hl. Cäcilia“ (1514) aus der Pinacoteca Nazionale in Bologna. In dem berühmten Fresko mit der Galatea in der Farnesina (um 1511) hat Raffel eine markante Kontrapostfigur geschaffen, die als paradigmatisch zu gelten hat (Abb. 208). Weitere Drehfiguren sind in Raffaels „Kindermord“, von Marcantonio Raimondi um 1512 gestochen, auszumachen  ; desgleichen stehende und sitzende Figuren im Borgobrand oder in der Vertreibung Heliodors in den Stanzen (vgl. Abb. 120 und 124). In Michelangelos Entwürfen für eine „Geißelung“ von 1516 wird der Kontrapost, wie

Plastik nach 1500

Shearman bemerkt, bereits in Richtung der fließenden Bewegung einer figura serpentinata entwickelt.29 Eine Weiterführung der frühen Drehfigur des „Hl. Michael“ findet sich in Raffaels späterer Version desselben von 1517/18 (heute im Louvre). In der Nachfolge Michelangelos und Raffaels haben die Manieristen von den 1520er-Jahren an die Vielansichtigkeit sowohl in Darstellungen einzelner Figuren als auch in der simultanen Darstellung mehrerer Gestalten fortgesetzt. Im ersten Fall wird die Zeitfolge wie angeführt implizit mitgedacht, im zweiten werden die unterschiedlichen Ansichten der bewegten Körper auf einen statischen Bezugspunkt, nämlich den Standpunkt eines präsumtiven Betrachters bezogen. In beiden Fällen geht es eigentlich nicht um die mimetisch glaubhafte Inszenierung eines Handlungsablaufs, sondern um die formale Darstellung des Körpers auf einer Bildfläche. Paradoxe Widersprüche werden dabei nicht nur in Kauf genommen, sondern sogar bewusst herbeigeführt – damit wird jene ästhetisierende Grundhaltung der maniera an den Tag gelegt, die Shearman schlicht mit dem Motto „the more art the better“ bezeichnet hat. Als bekanntes Beispiel sei hier Rosso Fiorentinos „Moses verteidigt die Töchter Jethros“ von 1523 aus den Uffizien vorgestellt (Abb. 209). Im Zentrum des Bildes erscheint der rasende Moses in den Kampf mit den Philistern verwickelt. Der untere Teil seines muskulösen Körpers ist schräg von vorne, sein Rücken zugleich aus leichter Obersicht zu sehen. Der untere Abschnitt der Bildfläche wird von den niedergestreckten nackten Kämpfern eingenommen, deren Körper in starken Verkürzungen parzelliert, flach und verfremdet sind. Hinter Moses schreitet ein Rasender, von einem aufgeblähten rosaroten Mantel hinterfangen, auf eine klassizistisch anmutende Frau mit entblößter Brust in türkisfarbenem Gewand mit erhobenen Händen zu  – womöglich Zippora, die nach dem Vorfall Moses zur Frau gegeben wurde (zur konventionellen Gestaltung des Themas, aber gerade in dieser Episode dramatisch in Szene gesetzt, sei auf Sandro Botticellis Fresko in der Sixtinischen Kapelle aus den Jahren 1481/82 verwiesen  ; Bild/Zeit, II, 2004, S. 208 und Abb. 124b). Sechs Frauen wurden in Rossos Gemälde im Hintergrund als die anderen Töchter Jethros identifiziert (vgl. Ex 2, 15–22). Außer den Schafen deutet nichts auf die spezifische Örtlichkeit der Tränke hin, wo sich das Geschehen eigentlich abspielt  ; die nackten Kämpfer sind auch nicht unbedingt als Hirten gekennzeichnet. Die biblische Erzählung dient dem Manieristen – im Gegensatz zur narrativ ausgerichteten istoria Botticellis – nur als Vorwand, um Körper in heftiger Bewegung und affektiver Entladung dem Betrachter vor Augen zu führen. Das Paradoxon sticht in

208 Raffael, Galatea, 1511. Farnesina, Rom.

diesem Fall auch durch die flächenhafte Malweise ins Auge, welche die einzelnen Figuren zu Teilen eines ornamental anmutenden Flächenmusters erstarren lässt  ; sie wirkt der Plastizität eigentlich entgegen und selbst die zentrale Figur des Moses in ihrer Doppelansichtigkeit wird im Zustand der heftigsten Bewegung gleichsam statisch eingefroren, in die Fläche eingespannt. So schwindet die Dynamik sowie die ihr innewohnende Zeitlichkeit zugunsten der Fixierung des Ornaments. Die anvisierte Vielansichtigkeit der Figuren, mit der die Malerei in den Wettstreit mit der Plastik eintreten wollte, muss letztlich doch den spezifischen Forderungen des Mediums weichen  : Form wird zu Fläche  ; warme und kalte Farben fügen sich zu einem Muster, das Tiefenbewegung unterbindet  ; statt räumlicher Dynamik wird Statik erzeugt. Die Zeit selbst, so sie in der übersteigerten Handlung auf den Höhepunkt zutreibt, kommt im entscheidenden Moment der Szene abhanden. Rosso Fiorentino hat die Flüchtigkeit und Wärme, die dem Leben innewohnt, in einem lebensfernen Bild kunstvoll ausgeschaltet.

Plastik nach 1500 Das Bemühen um die Vielansichtigkeit in der Malerei geht mit der gleichen Tendenz in der Plastik um 1500 einher.

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Vielansichtigkeit und figura serpentinata

209 Rosso Fiorentino, Moses verteidigt die Töchter Jethros, 1523. Uffizien, Florenz.

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Plastik nach 1500

Diese Konvergenz dürfte nicht so sehr auf den Paragone­ streit zurückzuführen sein, sondern erscheint eher als Bestätigung des Phänomens der Bildhaftigkeit  ; ihr müssen auch die unterschiedlichen Aspekten der Plastik infolge des kontinuierlichen Zeitablaufs bei der Erfassung der plastischen Rundform Tribut zollen. Im Folgenden sollen einige Plastiken in Bezug auf die Vielansichtigkeit bzw. auf die Verschleifung der Aspekte bei den rundplastischen Figuren erörtert werden. Michelangelos „Bacchus“ im Bargello, 1496 ausgeführt, und auch der David, vor dem Palazzo Vecchio postiert, setzen die von Donatello eingeleitete Entwicklung mit zwei Hauptansichten fort (Abb. 210). Im ersten Fall kommt noch die zweite Figur des kleinen Satyrs hinzu, der nur aus der schrägen rückwärtigen Ansicht zu sehen ist. Gerade der für die organische Durchbildung und für die Erfassung der Rundform maßgebliche klassische Kontrapost wird hier wie erwähnt konterkariert, sodass das labile Standmotiv des trunkenen Gottes in subversiver Weise herausgekehrt wird. Was den „David“ betrifft, scheint er noch stärker auf zwei Ansichten fixiert zu sein, als es bei dem „Bronzedavid“ Donatellos der Fall war  ; dies mag auf den Umstand zurückzuführen sein, dass Michelangelo mit einem bereits „verhauenen Block“ vorliebnehmen musste – das Paradespiel einer difficoltà, bei deren Bewältigung der Makel im Laufe der Arbeit gleichsam ins Gegenteil gekehrt wurde. Jacopo Sansovino trat mit seinem „Bacchus“ im Bargello im Jahr 1511/12 in den Wettstreit mit Michelangelo ein (Abb. 211). Mit ihrem starken Ausfallschritt, dem durchgebildeten Kontrapost und der triumphal erhobenen Schale kündigt sich in dieser Figur bereits jene durchgehende Torsion an, die bei der ausgereiften Serpentinatastellung noch weiter getrieben werden sollte. Abgeblockt wird jedoch die fließende Rundform durch den kompakten Satyr, der rückwärtig als Stütze dient und dementsprechend die zweite Ansicht betont (zu Sansovinos Bacchus siehe S. 323 und Anm. 20). Bei Michelangelo kann gerade diese dienende Figur durch das vorgeschobene Bein, den übergreifenden Arm und die Kopfdrehung in der Tat als Vorbote der Serpentinatafigur gesehen werden. Der Meister dürfte sich auch weiterhin mit dieser Möglichkeit der vollrunden Plastik befasst haben, zieht man den „Matthäus“ aus dem Jahr 1506 (heute im Louvre) in Betracht  ; dieser war noch im Block gefangen, doch die Torsion des Körpers und der aufwärtsgerichtete Kopf deuten eine Spiraldrehung an. Der „Gefesselte Sklave“ von um 1515 (heute im Louvre) wiederum greift mit seinem „gebückten“ Kontrapost späteren Lösungen vor (Abb. 212). Im Vergleich zu diesen Werken ist „Der auferstandene

210 Michelangelo, Bacchus, 1496/97. Bargello, Florenz.

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Vielansichtigkeit und figura serpentinata

211 Jacopo Sansovino, Bacchus, 1511/12. Bargello, Florenz. 212 Michelangelo, Der gefesselte Sklave, ca. 1516. Louvre, Paris.

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Plastik nach 1500

213 Michelangelo, Vittoria, ca. 1527/28. Palazzo Vecchio, Florenz.

214 Michelangelo, Apoll, ca. 1530. Bargello, Florenz.

Christus“ in Santa Maria sopra Minerva von 1519/20 eher nur geradansichtig – trotz des übergreifenden linken Armes und des rechten, der das Kreuz umfasst. Gerade diese von den Zeitgenossen hochgeschätzte Plastik hat Francesco Salviati in seinem Fresko des „Hl. Andreas“ im Oratorio von San Giovanni Decollato 1551 als Vorbild gedient. Bein- und Armstellung, Körper- und Kopfdrehung suggerieren eine plastische Rundform, nicht zuletzt durch den Kreuzarm, der im Bogen des Gewandes um den Körper herumzuführen scheint. Ohne den Anspruch einer Rundplastik zu erheben, war Michelangelos „Vittoria“ von um 1527/28 für das untere Register des Juliusgrabes bestimmt (heute im Sala dei Cinquecenti im Palazzo Vecchio in Florenz  ; Abb. 213). Die nach oben sich verjüngende Gestalt mit dem vorgeschobenen linken Bein, der Körperdrehung nach rechts, die durch den eingewinkelt erhobenen rechten Arm betont wird, und dem Kopf, der wiederum über die rechte Schulter hinweggedreht

ist, leitet die Serie der späteren „Viktorien“ im Cinquecento ein, denen die Besiegten als Stützen zu dienen hatten. Nach demselben Prinzip, gedreht, aber harmonisch in der Wirkung und mehr in sich versunken, erscheint Michelangelos „Apoll“ von um 1530, der bereits den formalästhetischen Anspruch einer Rundplastik erfüllt, dessen Hauptansicht nicht eindeutig zu bestimmen ist und der den Betrachter eher dazu anhält, den fließenden Übergang aus mehreren Blickwinkeln zu verfolgen (Abb. 214  ; Bargello, Florenz). Die Kombination von zwei Figuren wurde schon im Quattrocento durchgespielt, wie etwa in Pollaiuolos Kleinplastik „Herkules und Antäus“ im Bargello (vgl. Bild/Zeit, II, 2004, S. 204) oder von Donatello, der in Anlehnung an die Antike das Motiv des Sieges und der Unterwerfung in seiner „Judith“ entwickelt hat (vgl. S. 324). Hinzu kommt die vom Kontrapost her in sich zentrierte siegreiche Figur, die in der „Vittoria“ Michelangelos ihre volle Ausprägung findet. Weitere Beispiele von Kampfgruppen, die dem Au-

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Vielansichtigkeit und figura serpentinata

Wie Larsson feststellen konnte, wurde die figura serpentinata in der theoretischen Diskussion erst später mit dem Begriff der „Vielansichtigkeit“ gekoppelt, ja der Begriff taucht erst in dem bereits zitierten Passus bei Lomazzo 1584 auf, der sich wohl zu Recht auf eine Äußerung Michelangelos berief. Die Praxis geht wie gesagt der Theoriebildung voran und wir gehen wohl nicht fehl, die praktische Umsetzung der Rundform als künstlerisches Ziel bereits um 1530 anzusetzen, ehe sie dann ab 1560 ihre volle Ausprägung in der Praxis unter dem Begriff der figura serpentinata bei Giambologna ihre theoretische Begründung erfuhr. Die für den Zeitaspekt entscheidende Ausprägung der Rundform in der Plastik, die mittels der angestrebten figura serpentinata die gängige Formel von zwei bis vier Hauptaspekten und weiteren Nebenansichten aufwies, führte zur Einschleifung derselben durch einen gleichmäßig verlaufenden Bewegungsduktus und eine entsprechende Linienführung. Diese perfekte Rundform wurde von Giovanni da Bologna annähernd erreicht. In erster Linie handelt es sich um perfekte Kleinplastiken, daneben aber auch um große Einzelfiguren oder Gruppen in Marmor, wie die „Venus in Grotticella“ im Boboligarten in Florenz von um 1575 oder den späteren „Raub der Sabinerin“ von um 1582 in der Loggia dei Lanzi.

Giovanni da Bologna

215 Giambologna, Samson erschlägt einen Philister, 1561/62. Victoria & Albert Museum, London.

genblick des Triumphes vorangehen, finden sich in Zeichnungen und bozzetti aus des Meisters Hand in der Casa Buonarroti in Florenz sowie in Nachgüssen der Herkulesund der Samsongruppen, die später im öffentlichen Raum, vor allem in den Gärten der Zeit, als vielansichtige Plastiken entsprechend ausgerichtet waren.30

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Nach zwei Lehrjahren in Rom 1550–1552, wo eine Begegnung mit Michelangelo stattgefunden haben dürfte, kam der junge Flame nach Florenz. Nach einem viel bewunderten Entwurf für den Neptunbrunnen auf der Piazza della Signoria von um 1558/59 bekam er von Francesco de’ Medici den Auftrag für eine große Brunnenstatue aus Marmor für den Garten der Medici im Casino  : Samson, einen Philister erschlagend (1561/62  ; heute im Victoria & Albert Museum, London  ; Abb. 215). Das Figurenpaar in emphatischer Torsion und Bewegung greift unzweifelhaft auf Michelangelos Plastiken für das Juliusgrab, insbesondere auf die Vittoria, zurück. Weitere Werke aus dieser Zeit sind ebenfalls als Gartenplastiken einzustufen  : Florentia (oder Fiorenza) von um 1560, ein Bronzeguss für Pierinos Labyrinthbrunnen in Villa Castello, heute in der Villa Petraia31  ; ein Bacchus von um 1560, heute in der Nähe von Ponte Vecchio im Borgo San Jacopo  ; eine Venus ex balneo aus Terracotta (Museo Horne)  ; sowie eine kleine Bronzeplastik einer weiteren Venus im Bade (heute im Bargello) – beide Figuren in Sitzstellung mit einem vorgeschobenen linken Bein, einer

Giovanni da Bologna

216 Giambologna, Venus in Grotticella, 1575. Boboligärten, Florenz.

sehr starken Drehung des Oberkörpers und mit erhobenen Armen. Die stehenden Figuren zeichnen sich alle durch einen starken Kontrapost und eine den Körper übergreifende Armführung aus, sodass der Betrachter aus dem Schwung der Kontur und der durch die Arme tiefenräumlich gestaffelten Drehbewegung bereits angehalten wird, die Bewegung im Geiste nachzuvollziehen. Zwei Gründe scheinen nachhaltig zu Giambolognas formalästhetischer Auseinandersetzung mit der Rundform beigetragen zu haben  : zum einen die frühen Aufträge für große Skulpturen im öffentlichen Raum, insbesondere für die Gärten  ; zum anderen die fein ausgearbeiteten Kleinbronzen als bewegliche Liebhaberstücke, taktil zu erfassen und leicht zu bewegen, zuweilen gar auf einer rotierenden Scheibe aufgestellt und so fortlaufend zu betrachten. Ungehindert kommt der Zeitfluss hier zum Tragen, nähert sich die Ausformung der in sich zentrierten Bewegung der idealen Form einer figura serpentinata.

217 Giambologna, Astronomia, 1575. Kunsthistorisches Museum, Wien.

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Vielansichtigkeit und figura serpentinata

Kleinplastik In der Kleinplastik kommt es zur Vollendung der figura serpentinata  : in der Venus im Bade von 1565 und in der Astronomie (oder Venus Urania) von um 1575, beide heute im Kunsthistorischen Museum in Wien (Abb. 217). Bereits Ende der 1550er-Jahre dürfte Giambologna die kleine Apollofigur, den sog. Apollino, heute im Bargello, ausgeführt haben, der später als Vorbild für den Apoll (nach 1569) für das studiolo von Franz I. im Palazzo Vecchio diente (Abb. 218). Unter den Marmorskulpturen sticht die 152 cm hohe, halb sitzende Figur der Architektur (oder Geometrie) von um 1565, heute im Bargello, hervor, wiewohl hier eher von einer „Vielansichtigkeit“ gesprochen werden kann.33 Die Überbetonung des Kontraposts in den kleinen Bronzestatuetten, der Astronomie aus dem Kunsthistorischen Museum in Wien (Abb. 217) und dem Apoll für das studiolo Franz’ I. im Palazzo Vecchio (Abb. 218), ist besonders auffallend. Der Körper windet sich an einer schlanken Stütze empor, während die Arme eine imaginäre räumliche Hülle bilden, in der die Gestalt nach oben strebt.

Der Merkur

218 Giambologna, Apoll, 1575. Palazzo Vecchio, Florenz.

Die Venusstatue in Grotticella mit einer Höhe von 130 cm wurde von Giambologna um 1575 ausgeführt (Abb. 216).32 Sie kann, was das Kontrapostmotiv, Arm- und Kopfhaltung angeht, als eine Weiterentwicklung des Apolls von Michelangelo angesehen werden. Zur Drehbewegung gesellen sich die schlanken Proportionen. Nach Holderbaum weist sie bereits alle Merkmale einer vollkommenen figura serpentinata auf. Die Rundform und der Anstoß, sie betrachtend zu umrunden, sind hier gegeben. Aufgestellt wurde die Skulptur später in einem Rundbecken von Buontalenti.

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Einen Schritt weiter ging der Künstler in der Folge mit seinen Bronzegüssen des Merkur  : Ein früher Entwurf aus dem Jahr 1563 befindet sich im Museo Civico in Bologna. Wahrscheinlich als Kriegsbeute aus Prag wurde eine frühe Fassung des Merkur um 1565 vom schwedischen General Johann Gabriel Stenbock 1648 in seine Privatsammlung nach Schweden gebracht. Erst in den 1980er-Jahren wurde sie von Larsson als ein Werk Giambolognas wiederentdeckt. Die Serpentinatabewegung ist hier noch nicht so stark ausgeprägt, dafür aber die ausladende Schrittstellung der auf einer Kugel balancierenden Gestalt.34 Eine ausgereiftere Fassung von 1575–1579 befindet sich im Museo Nazionale di Capodimonte in Neapel, die „endgültige“ Lösung von um 1580, der sog. Medici-Merkur, im Bargello (Abb. 219), von dem eine spätere Variante sich im Kunsthistorischen Museum in Wien befindet.35 Die Neuerung der ohne eine Stütze auskommenden Figur des „fliegenden Gottes“, auf dem gestreckten Fuß balancierend, die Arme raumgreifend seitwärts und nach oben gestreckt, mag auf das Thema selbst zurückzuführen sein. Vasari hat den Punkt getroffen, wenn er von einem „ausbalancierten fliegenden Merkur“ spricht, den Giambologna um 1565 an den Kaiser Maximilian II. geschickt haben soll  : un Mercurio in atto di volare, molto ingegnoso, reggendosi tutto sopra una gamba ed in punta di piè,

Giovanni da Bologna

219  Giambologna, Merkur, 1580. Bargello, Florenz.

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Vielansichtigkeit und figura serpentinata

ch è stata mandata all’imperatore Massimiliano, come cosa che certo è rarissima. 36 Da nach Avery eine Identifikation des Exemplars im Kunsthistorischen Museum aus stilistischen Gründen nicht infrage kommt, dürfte es sich um eine Statuette in der Nachfolge des frühen Entwurfes in Neapel gehandelt haben. Der wesentlich größere Merkur von 1580 im Bargello mit einer Höhe von 170 cm dürfte eher für einen Palastraum oder einen Garten bestimmt gewesen sein. Die Vorwärtsbewegung des geflügelten Götterboten wird von der eleganten Armhaltung konterkariert, die von der linken Hüfte ausgehend sich über die Schulterpartie des rechten Armes fortsetzt und eingewinkelt nach oben bis in den gestreckten Zeigefinger reicht. Als Ausgleich dient das nach hinten ausgreifende eingewinkelte rechte Bein. Optisch ergeben sich mehrere Konturlinien, die den gespannten Rumpf raumgreifend umfangen und die Drehbewegung verstärken. Auch wenn die Vorderansicht der Plastik in leichter Schräge als ein Hauptaspekt zu gelten hat, bilden sich fortlaufend neue Korrespondenzen durch die Disposition der Glieder, sodass die Figur in den Augen der Zeitgenossen dem Ideal einer figura serpentinata sehr nahekam. Dementsprechend wurde der berühmte Merkur in einer Vielzahl von Kopien und Varianten nachgebildet und dient bis heute als Vorbild. Es dürfte kein Zufall sein, dass Lomazzo erst nach der Fertigstellung der Plastik den Begriff der figura serpentinata in Umlauf gebracht hat. Hinzu kommt der Umstand, dass der formalästhetische Aspekt der schwerelosen, sich nach oben schraubenden Rundform dem Charakter des dahinschwebenden, entfliehenden Götterboten ikonisch entspricht. Aus der Sicht der Zeitlichkeit wird die austarierte Figur gerade in dem Augenblick erfasst, in dem sich die Vorwärtsbewegung mit der vertikalen harmonisch verbindet, der Moment des Stillstandes, der von allen Seiten zur Geltung kommt und dessen Leichtigkeit zugleich die Flüchtigkeit des „fruchtbaren Augenblicks“ indiziert. Die Möglichkeit eines Nachvollzugs der kontinuierlichen Drehbewegung führt stärker, als es bei früheren Plastiken der Fall war, zu einer Koinzidenz der „Echtzeit“ in der Wahrnehmung des Betrachters mit der damit verbundenen Erlebniszeit.

Der Raub der Sabinerin 1581–1582 hat Giambologna die große Skulpturengruppe mit dem Raub der Sabinerin für die Loggia dei Lanzi in Florenz ausgeführt, die wohl bekannteste Raptus-Gruppe überhaupt und Vorbild zahlloser späterer Varianten (Abb. 220). Im Grunde handelt es sich um die Erweiterung des seit Mi-

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chelangelo gängigen Motivs der Vittoria durch eine dritte Figur  : die in die Lüfte gehobene Frau. Die Gruppierung der drei Figuren bot dem Künstler die Gelegenheit, nicht nur die Vorder- und Rückenpartien simultan zu zeigen, sondern quasi gleichberechtigt auch die seitlichen. Durch die drastische Drehbewegung des stehenden Römers und die ausladende Gestik der sich dramatisch nach hinten werfenden Sabinerin sind die Übergänge von einer Ansicht zur nächsten fließend, sodass man in der Tat nun bei dieser Figurenkombination von einer aufwärtsgerichteten Schraubbewegung sprechen kann. Eine Reihe von Entwürfen in Wachs, Lehm und sogar in Bronze ging der endgültigen Ausführung der Skulptur voraus, die es mit ihrer imposanten Höhe von 410 cm in der Tat mit dem benachbarten David Michelangelos vor dem Palazzo Vecchio aufnehmen konnte. Der kleine Wachsentwurf von um 1580 (heute im Victoria & Albert Museum in London) beschränkt sich auf den stehenden Römer und die Sabinerin. Er zeigt im Prinzip bereits den Ausfallschritt und den rechten Arm, der den Leib der emporgehobenen Frau umschlingt. Die Linienführung ist hier ohne Zweifel ausschlaggebend, wenn es darum geht, den Blick des Betrachters um den Kern der Plastik herumzuführen. Die zweite Wachsplastik, ebenfalls im Victoria & Albert Museum, zeigt auch den besiegten Sabiner, freilich in einer gekrümmten Haltung, die der Endfassung nicht entspricht.37 Der erwähnte Bronzeguss von 1579, 99 cm hoch, deckt sich nicht mit der Anordnung der Figuren in der Marmorgruppe, da der Römer aus schräger Vorderansicht die Frau in extremer Kontrapoststellung mit vorgeschobenem linkem Bein und emporgestrecktem rechtem Arm praktisch auf seine rechte Schulter hebt. Dadurch wird die problematische Verdeckung seines Oberkörpers durch die Frau vermieden und dieser praktisch aus der Vorderansicht gezeigt. Die Stellung führt aber zur Betonung der Hauptansicht und der Duktus der Drehbewegung wird entsprechend geschwächt. Ähnlich fällt die Lösung in Adrian de Vries’ Raub einer Sabinerin aus den Staatlichen Museen von Berlin von 1621 aus. Die Tendenz der barocken Plastik, wieder zu einer prononcierten Hauptansicht zu gelangen, wird hier deutlich.38 Im gleichen Zeitraum führte Bernini ja die plastische Umsetzung des Raptusmotivs mit seiner Pluto-und-Proserpina-Gruppe und Apollo und Dafne in der Galleria Borghese in Rom mit ähnlich formaler Ausrichtung zu einem neuen Höhepunkt. Giambolognas großes, 1  : 1 ausgeführtes Tonmodell von 1580 aus der Accademia in Florenz weist bereits alle Merkmale der späteren Marmorgruppe auf  : Die Virtuosität, mit welcher der Künstler die Idee der figura serpentinata im Mer-

Giovanni da Bologna 220 Giambologna, Raub der Sabinerin, 1581/82. Loggia dei Lanzi, Florenz.

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Vielansichtigkeit und figura serpentinata

kur umgesetzt hatte, wurde hier noch einmal in der kunstvollen Kombination der drei Figuren im Raub der Sabinerin anvisiert. Dabei hat der Künstler wohl bewusst auf den ungestörten schönen Ansicht der Einzelfigur zugunsten der Rotationsbewegung der ganzen Figurengruppe verzichtet. Eine eindeutige Hauptansicht ist nicht mehr auszumachen. Vielmehr wird die kontinuierliche Umschreitung der Gruppe durch den Betrachter eingefordert, der so die Ergänzung und Vervollständigung der einzelnen Figuren durch die sukzessive Erfassung des Ensembles in der vom Gedächtnis unterstützten Wahrnehmung zu bewerkstelligen hat (zur „primären Erinnerung“ vgl. Bild/Zeit, I, 1996, S. 14 f., und die Einleitung in diesem Band, S. 12 f.). Anders als in der Malerei, die bei der Erfassung einer plastischen Rundform auf die Imagination des Rezipienten angewiesen ist, der das nicht Sichtbare im Bewusstsein zu ergänzen hat, vollzieht sich die Betrachtung der Skulptur nun als ein Akt in der „Echtzeit“, als ein sukzessiv sich im Bewusstsein entfaltender Wahrnehmungsprozess, der die „Zeitgestalt“ dieser Gruppenskulptur erst adäquat zu erfassen vermag. Bei der figura serpentinata geht es in erster Linie um den kontinuierlichen Übergang von einem Aspekt zum anderen  ; eine andere Vorstellung von plastischer Qualität und Wahrnehmung wird später freilich von Herder aus der Sicht der Integration entwickelt, die sich gegen die Zerstückelung der Wahrnehmung und der Empfindung wendet (vgl. S. 10 f.). Der formalästhetische Aspekt der Bildhaftigkeit, welcher der figura serpentinata anhaftet, stand nach Larsson nicht im Zentrum des späteren Diskurses. Ihrer Realisierung durch Giambologna war nur kurze Dauer beschieden  ; im Barock wurde sie nicht weiterverfolgt. Was die Theorie betrifft, wurde der Begriff wieder von William Hogarth in seiner Analysis of Beauty 1753 aktualisiert  ; die ästhetische und wissenschaftliche Auseinandersetzung mit der ­figura serpentinata setzte, so Larsson, in der Kunstgeschichtsschreibung erst im 19. Jahrhundert entschieden ein.

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IX Pieter Bruegel der Ältere Innerbildliche Argumentation In seinen Bruegelstudien von 1956 geht Carl Gustaf Stridbeck von der Analyse der in der Albertina aufbewahrten Federzeichnung von Pieter Bruegel dem Älteren Der Maler und der Kenner aus (Abb. 221).1 Wir werden darin ausschließlich mit den beiden Protagonisten konfrontiert, während alle übrigen Gegenstände und das Umfeld des Ateliers ausgespart bleiben. Dominant, den größten Teil des Blattes einnehmend, sieht man den Maler/Handwerker mit der runden Kappe leicht verbissen und konzentriert bei der Arbeit. Die verknotete erhobene rechte Hand umfasst den Schaft eines Pinsels (oder einen Malstock). Der andere Arm des Malers wird vom Bildrand überschnitten  ; der eigentliche Gegenstand, das Gemälde auf der Staffelei, ist verdeckt. Dem Betrachter bleibt es überlassen, sich das Werk „in progress“ vorzustellen, was aufgrund des starren Blicks des Meisters offensichtlich mit erheblicher Anstrengung verbunden ist. Das Augenmerk ist auf den Künstler gerichtet, der seine Vorstellung auf das Bild überträgt, wobei gerade die Ausführung (der einzige Hinweis ist der Pinsel bzw. Malstock) im Zentrum der Darstellung steht. Das Sehen und die damit verbundene Vorstellung, die ihren Niederschlag in der materiellen Realisierung findet, bilden jene drei Komponenten, die das künstlerische Schaffen, auch aus der Sicht der zeitgenössischen Kunsttheorie, ausmachen. Vasari spricht in der zweiten Ausgabe seiner Vite (1566) von einer „naturunabhängigen Bildgestalt“, die als künstlerischer „Vorwurf“ (pensiero oder concetto) der Darstellung vorangehe  ;2 es handelt sich aber noch um einen bodenständigen Prozess, der später von der idea, der Eingebung einer göttlichen Macht, nach Vorstellung der Manieristen überlagert wurde.3 Immerhin wird dem Künstler bereits die Fähigkeit zugesprochen, „von sich aus intuitiv die Wirklichkeit zur Idee umzubilden, von sich aus eine Synthesis des objektiv Gegebenen zu vollziehen. … Es ist sein Recht und seine Pflicht, aus eigener Kraft die perfetta cognizione dell’ obietto intelligibile zu erwerben.“4 Der Künstler selbst ist es, welcher der Kunst die Regel gibt, und dementsprechend wird ihm wie in der Zeichnung Wertschätzung entgegengebracht und gar Bewunderung gezollt. Am linken Bildrand schiebt sich die Figur des „Kenners“ ins Bild. Mit spitzem Lächeln schaut er durch die dicke Brille dem Meister über die Schulter bei der Arbeit zu. Ob es wirklich darum geht, sozialkritisch dem Kenner

221 Pieter Bruegel d. Ä., Der Maler und der Kenner, ca.1565. Albertina, Wien.

Blindheit, Unbildung und Irrtum zu unterstellen, wie Stridbeck meint, sei dahingestellt. Der Griff zur Geldbörse wird als „Gier“ ausgelegt, aber diese Besitzergreifung mittels Erwerb war bis zum heutigen Tag immer mit der Sammeltätigkeit und dem Kunsthandel verknüpft.5 Ausschlaggebend ist die Virtuosität, mit der Bruegel mit minimalen Mitteln das ambivalente Verhältnis von Künstler und Kenner charakterisiert  ; aus der situativen Konstellation von zwei Figuren und dem unsichtbaren „Objekt der Begierde“ öffnet sich das ganze Feld des sozialen Kontextes. Der Betrachter partizipiert an diesem spannungsgeladenen Moment, der sich einer ungewissen Zukunft öffnet. Er ist angehalten, die Relation der Figuren psychologisch auszuloten, und sieht sich zugleich vor das unzugängliche, weil unsichtbare Kunstwerk gestellt. Die Frage ist, ob wir nicht selbst letztendlich die Position des Kunsthändlers teilen und somit in uns gehen sollten, um den eigenen Status zu überprüfen. Dieser Schritt von dem Besonderen der innerbildlichen Argumentation zum Allgemeinmenschlichen durch die Akti-

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Pieter Bruegel der Ältere

vierung des Bewusstseins beim Publikum und der damit verbundenen Reflexion darf als eine oft wiederkehrende Komponente der Bildstrategie Pieter Bruegels bezeichnet werden. Dementsprechend wird die innerbildliche Zeit mit der Erlebniszeit des Betrachters verschränkt und Gegenstand der fortlaufenden Ausdeutung. Die Zeichnungen und Gemälde bieten unterschiedliche Möglichkeiten der Interpretation  ; sie lassen sich weder auf einen inhaltlichen Schlüssel reduzieren noch verbirgt sich hinter der Vielfalt der Weltentwürfe Bruegels eine Wahrheit, die das Treiben in der Welt zugunsten einer obwaltenden Macht aus seiner Verstrickung lösen könnte. Bruegel dürfte nach dem heutigen Stand der Forschung entscheidende Anregungen von den Reformatoren, insbesondere von jenen in den Niederlanden, erhalten haben (zu Luther und den Lehrbildern vgl. S. 30 f.). Hier sei insbesondere auf die Modifikationen der von Stridbeck vorgebrachten Thesen durch E. J. Sluijter, Jochen Becker und Jürgen Müller verwiesen.6 Mit der bildnerischen Umsetzung, ja der Materialität seiner Kunst bringt der Maler letztendlich eine pessimistische Grundhaltung gegenüber dem Menschen und der zivilisierten Welt zum Ausdruck. Als entscheidende und unverzichtbare Quelle sind in diesem Zusammenhang die Paradoxa von Sebastian Franck, die 1534 in einer niederländischen Übersetzung erschienen, von Stridbeck und Jürgen Müller bei der Interpretation von Bruegels Bildern herangezogen worden.7 In dieser Schrift werden Widersprüche und Ungereimtheiten in den Bibeltexten aufgezeigt  ; Letztere sind nach Franck vom Dualismus der Welt geprägt, wobei die spirituelle Wahrheit, der verborgene Sinn, bereits durch die einfache Textauslegung verunklärt und ausgehöhlt zu werden drohe. Wenn aber bereits das einfache Wort die Wahrheit verstellen könne, wie täuschend sei dann erst das in die Materie verstrickte Bild  ! Nur das „innere Licht“ führe zum wahren Glauben und einem tieferen Verständnis von der Gotteswirklichkeit.8 Der Spiritualismus, wie er von Sebastian Franck und anderen vertreten wurde, wandte sich gegen Kirche und Glaubenskongregationen. Nur der persönliche Gott und der Zusammenschluss der Gläubigen in der „unsichtbaren Kirche“ seien imstande, den Widerspruch zwischen der geistigen und der materiellen Welt zu überwinden (eine Nähe zu diesem antiautoritären Glaubensbekenntnis, wenn auch unausgesprochen und schwer zu belegen, ließ sich bereits in dem Doppelporträt Die Gesandten von Holbein d. Jüngeren in der National Gallery, London erahnen  ; vgl. S. 36 f.). Bilder, von Natur aus dem Dinglichen verhaftet, seien nicht imstande, theologische Wahrheiten aufzudecken. Gott bleibe undarstellbar, verhüllt und in seinem Wesen letztlich unerkannt.9 Aber gerade die Verhüllung

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wurde als paradoxe bildkünstlerische Herausforderung von Holbein und Bruegel thematisiert  !

Verkehrtheit der Welt Um den inhärenten Widerspruch von Bruegels Malerei, welche die Verkehrtheit der Welt sich zum durchgängigen Thema macht, aufzulösen, hat Müller seinen Bruegelstudien den Titel Das Paradoxon als Bildform vorangestellt. Die ingeniöse Auflösung eines eigentlich unlösbaren Widerspruchs wird nach Müllers Analysen von Bruegel dadurch bewerkstelligt, dass „ikonographische in rezeptionsästhetische Fragestellungen überführt und aufgehoben werden“.10 Nicht die Frage nach dem „inneren Licht“ und einer spirituellen Wahrheit steht hier wie bei Sebastian Franck im Vordergrund, sondern die kritische Darstellung der Welt aus der Sicht des Beobachters, die künstlerische Umsetzung und die ästhetische Distanz des Künstlers selbst. Wo traditionelle Positionen und Glaubensfragen auf den Prüfstand gestellt werden, erfahren diese eine Rückkopplung zur jeweiligen Bildgestalt  ; es geht, wie es Jochen Becker prägnant formuliert hat, um „theologische Fundierungen ästhetischer Kategorien“.11 Eine gemäßigtere Form der Bibelauslegung, die nicht Wort und Metapher jeglichen heuristischen Wert abspricht, wurde von Erasmus vertreten – darauf wurde bereits in der Einleitung hingewiesen (S. 37 f.). Wie in der schriftlichen Form, so geht es auch in der bildenden Kunst um die innerbildliche Argumentation und die ironische Distanz als rhetorisches Stilideal und Mittel. Als führender Latinist seiner Zeit setzte sich Erasmus mit den italienischen Humanisten auseinander. Erhellend ist hier jener Brief von Pico della Mirandola an Ermolao Barbaro aus dem Jahr 1485, in dem der „dunkle Stil“ der mittelalterlichen auctores gegen das Ideal der klassischen latinitas verteidigt wird.12 Es folgt die spätere Auseinandersetzung Paolo Corteses mit Poliziano. Während Ersterer die imitatio der klassischen Autoren als den einzigen Weg sieht, sich aus der allgegenwärtigen Barbarei zu befreien, vertritt Poliziano die platonische Position, nach welcher der Dichter von der göttlichen manía befallen wird und zugleich frei ist.13 1513 hatte Picos Neffe Gianfrancesco diesen Standpunkt weiter verteidigt, während sein Widersacher Pietro Bembo sich eher für eine modifizierte Form der Nachahmung großer Vorbilder (Cicero, Petrarca) starkmachte  ; die Frage der imitatio wurde so auf die Ebene des Stils gehoben und dort ausgetragen. Unabhängig von den literarischen Gattungen gilt es nach Bembo, sich die Gesamtstruktur des Vorbildes (intera forma) anzueignen, um so einen ebenso guten stilistischen Ausdruck zu erzielen.14

Innerbildliche Argumentation

Bembos Standpunkt ist durchaus mit dem von Erasmus vergleichbar. Der philologische Streit um die vermeintlich „dunkle“ Ausdrucksweise der mittelalterlichen auctores liefert gleichsam den Schlüssel zu der erasmischen Weltsicht und Theologie  : Die Welt ist grundsätzlich eine Welt des Scheins und der Täuschung. Auch das Schöne und Gute bietet keine Gewähr für die Wahrheit. Andererseits kann sich hinter dem Unvollkommenen, Einfachen und Hässlichen doch Wahrhaftigkeit verbergen. Ohne dem Einheitsgedanken des neuplatonisch-hierarchischen Weltgebäudes anzuhängen, schließt sich Erasmus der Theologie der „Negation“ an, wie sie von Kindervätern wie Augustinus und später von Johannes Scotus entwickelt worden war. Nikolaus von Kues bediente sich ihrer als Begründung seiner (falsifikatorischen) Erkenntnistheorie. Bereits in Erasmus’ Frühschrift Handbüchlein eines christlichen Streiters von 1501, die 1503 erschien, aber erst durch die Ausgabe von 1518 volle Durchschlagskraft erzielte (zahllose Nachdrucke folgten), stellte Erasmus in einfacher, ursprünglich in Latein verfasster Form seine Weltsicht dar  : „Schein ist die Welt schlechthin, weil sie nur durch die Sinne vermittelt werden kann. Der Mensch lebt insofern in dieser Situation mangelhafter Erkenntnis der Welt, als er sie nicht transzendieren kann. Er kann lediglich in sein Innerstes schauen, um sich um Selbsterkenntnis zu bemühen.“15 Erasmus’ reformatorische Schrift sollte Gelehrte und einfache Leser gleichermaßen zu einem christlichen Leben in Nächstenliebe anhalten. Sie kann als Ausgangspunkt einer glaubhaften Interpretation von Bruegels Kunst dienen, die anhand weiterer Belege aus Erasmus’ Schriften gestützt wird. Stridbeck hat insbesondere in Bezug auf den „Spiritualismus“ in den Niederlanden (vgl. S. 340) Selbsterkenntnis, Einsicht und Willensfreiheit als maßgeblich für die Frömmigkeit in der Folge der Reformation gehalten, die auch der Stoa verpflichtet war. Darüber hinaus wird der Rationalismus des Moralisten Dirck Coornhert hervorgehoben  : Sünde und Torheit regierten die Welt. Geiz, Gier, Egoismus und Selbstbetrug des Menschen stünden Wissen, Einsicht, Ethik und der damit verbundenen Willensfreiheit entgegen.16 Der Gelehrtenkreis in Antwerpen, mit dem Bruegel in engem Kontakt stand (Hieronymus Cock, Plantin, Ortelius u. a.), hat diese Ansichten geteilt. Den Humanisten wohl vertraut war auch das bereits angesprochene Phänomen der „Verhüllung“. Im sozialen Kontext dürfte sie wohl täglich als „vorgespielte Frömmigkeit“ (dissimulatio) gegenüber der katholischen Orthodoxie und der Obrigkeit praktiziert worden sein. Aus kulturhistorischer Sicht spricht man hier vom Nikodemismus. Ob Bruegel selbst zu diesen subkutanen Häretikern zählte, ist ungewiss.17 Dass der Nikode-

mismus Einfluss auf die niederländische Ikonografie der Zeit genommen hat, nicht zuletzt, als es um die strategisch wirksame Darstellung antiklerikaler Bildinhalte ging, steht außer Frage. Hier kann auch auf die vorangehende Ikonografie und die Bildstrukturen bei Pieter Aertsen oder Joachim Beuckelaer verwiesen werden.18

Verhüllung und Wahrhaftigkeit Die Verhüllung spielte bereits im 15. Jahrhundert., etwa im Kreis der Florentiner Humanisten, eine für die Bildkunst nicht unwichtige Rolle. Nec mysteria quae non occulta, heißt es bei Pico della Mirandola  ; um Wahrheiten und Wunder vor den Blicken der Uneingeweihten zu schützen, sollten sie verhüllt werden. Umgekehrt galt es, hinter den oft widersprüchlichen und verwirrenden Bibeltexten die Wahrheit aufzudecken. Dem klassisch Gebildeten diente die in Platos Symposion angesprochene Hässlichkeit des Sokrates als paradigmatisches Beispiel für die geistigen Schätze, die sich hinter einem abstoßenden Äußeren verbergen können. Als Beispiel wurden die in den Werkstätten der antiken Bildhauer angefertigten Kultfiguren der Silenen angeführt, in deren Innerem, wenn sie aufgeklappt wurden, kleine Götterbilder zum Vorschein kamen (Müller hob als Erster ausführlich die Signifikanz der Silenusparabel aus hermeneutischer Sicht hervor). Erasmus hat die Silenen des Alkibiades in seine Sprichwörtersammlung, die Adagia von 1508, inkludiert und in der Ausgabe von 1515 ausführlich kommentiert  : Was äußerlich lächerlich erscheine, könne bei näherer Betrachtung ein Wunder bergen. Und was schön sei oder als Habitus einer Person gelte, entspreche nicht unbedingt ihrer Seele.19 Eine Übertragung des sokratischen Sittenbildes auf den Narren, der die Wahrheit spricht und zugleich die Mehrdeutigkeit und Vielfachcodierung der Sprache entlarvt, erfolgt des Weiteren in Erasmus’ Lob der Torheit von 1511. Die Ironie, möge sie noch so weltklug sein, sei letztendlich nicht in der Lage, die Ambivalenz der Wörter und die Verkehrtheit der Welt aufzuheben. Nur das Kind und der wirkliche Narr seien im Besitz jener Unschuld, die das Auseinanderklaffen von Sein und Denken zu überwinden vermöge.20 Auf das Christentum übertragen stehe der Silen beispielhaft für Christus, der sich als Mensch erniedrigt und den Tod erlitten habe, um die Menschheit zu erlösen. Von der niedrigsten Stufe kreatürlicher Existenz werde Christus als wahrer Mensch zum wahren Gott erhöht. Aus dem Niedrigsten entfalte sich das Höchste, der Tod erweise sich als Quell ewigen Lebens und was bedeutungslos erscheine, erweise sich im Nachhinein als Rettung und Ausdruck göttli-

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Pieter Bruegel der Ältere

cher Weisheit. Die humilitas Christi bildet nach Seidel Menchi, auf die sich Müller ausdrücklich beruft, das zentrale Thema in Erasmus’ Adagia.21 Ebenso wie Erasmus ein Fundament für die Bibelauslegung der Theologen und Humanisten in nachreformatorischer Zeit legte, so bieten seine Schriften auch einen Schlüssel zum Verständnis jener Weltsicht, die sich in Bruegels Bildern bekundet. Das Widersprüchliche, Inkohärente, Verhüllte und Verkehrte, Blindheit, Schein und Spiel beherrschen die Welt und das Treiben der Menschen. Dem stehen das einfache Leben, die Einfalt und echte Frömmigkeit gegenüber, die nicht selten aus ironischer Distanz geschildert werden. Wer „Frau Welt“ verfällt, erliegt einer Täuschung und hängt dem äußeren Schein an. Der verborgene Gott offenbart sich demjenigen Menschen, der in sich geht, oder demjenigen, der in unschuldiger Einfalt seinem Glauben Gehör schenkt. Christliche Nächstenliebe, Wissen und Glaube können auch im Leben des Unscheinbaren gedeihen (zur „Verhüllung“ vgl. auch Holbeins Die Gesandten  ; S. 37). Für den Künstler (und auch den Schriftsteller) sind Ironie und Satire probate Mittel, um die Verkehrtheit der Welt und die Zweideutigkeit aller Erscheinungen aufzuzeigen. Die eigentliche Bedeutung verbirgt sich jedoch unter der silenischen Oberfläche, die auch das Kunstwerk zur Schau trägt  : „Im Sinne christlicher Satire wird das Hohe erniedrigt und das Niedrige erhöht, wird die Scheinhaftigkeit der Welt und ihre silenische Verstellung aufgewiesen, weshalb auch in Bruegels Kunst die Inversion zur bestimmenden Figur werden muss.“22

Der Elck 1558 hat Bruegel die Vorzeichnung (heute im British Museum) für den Elck („Jedermann“) geschaffen, der von Pieter van der Heyden und Philipp Galle gestochen wurde (Abb. 222). Die Verbreitung und Popularität des Blattes war beträchtlich. Der allegorische Inhalt ist hinreichend von Stridbeck, Grauls und Müller erläutert worden.23 Der Mensch erstrebt Selbsterkenntnis  ; jedoch ist der im Zentrum stehende „Jedermann“, der mit der brennenden Laterne seinen Weg sucht, nicht imstande, die Dinge im „richtigen Licht“ zu sehen. Es fehlt ihm das von Sebastian Franck angesprochene „innere Licht“, das allein imstande ist, das wahre Sein hinter dem Chaos zu erkennen. In diesem Kontext ist die Brille des Elck als Attribut der geistigen Blindheit – von Cesare Ripa später als cecità della mente bezeichnet – zu verstehen.24 Der Mensch ist der Sünde und der Verblendung ausgeliefert, Geiz und Gier bestimmen

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sein Handeln, und da sein unrechtes Begehren unstillbar ist, verspielt er fortlaufend sein Glück und seine Seelenruhe. Erasmus, Franck und Coornhert werden nicht müde, diese Gier und Selbstsucht als ein Grundübel menschlicher Existenz zu geißeln. Im Gegensatz zu Luther treten sie aber als Verfechter der Willensfreiheit auf, die das Subjekt in die Lage versetze, sich zumindest ansatzweise aus Einsicht moralisch zu entwickeln. Der „Jedermann“ selbst tritt sechsmal in Bruegels Stich auf, unentwegt sein „Ich“ in Tonnen, Säcken und Gerümpel suchend, in seiner Hybris sogar Gott selbst. Müller sieht in der Figur auch Ahashver, der zum ewigen Wandern verdammt war, da er den eigentlichen Messias nicht erkennen konnte. Desgleichen würden die bebrillten Bibelexegeten einer falschen Auslegung der Hl. Schrift frönen und verlören sich in der Ausübung religiöser Riten. Simulation, Vortäuschung unwichtiger Sachverhalte und rätselhafter Motive sowie das Verbergen dessen, was eigentlich gemeint ist, seien bildnerische Strategien, die Bruegel analog zur literarischen Praxis mancher Reformatoren und der Nikodemisten seiner Zeit entwickelt habe. Aus dem Dickicht der Verrätselungen und der zweideutigen, mehrfach codierten Bildverweise (Müller) findet nur derjenige Betrachter heraus, der aufgrund seiner Gelehrsamkeit und seines kombinatorischen Vermögens die Zeichen richtig zu deuten vermag. Diogenes, dessen Präsenz im „Elck“ von Müller nachgewiesen wird, sei von Erasmus hingegen als überlegener „Menschensuchender“ charakterisiert worden.25 Die Suche des „Jedermann“ wird im Bild ins Negative verkehrt. Auf dem prall gefüllten Sack oberhalb des Akteurs steht nemo non, also „niemand nicht“, sodass der übervolle, aber inhaltsleere Sack, wiewohl vom „Jedermann“ geschieden, doch mit ihm letztlich identisch ist. Die Zeichnung bzw. der Stich sind beide etwa gleichzeitig mit den sog. „Wimmelbildern“ Bruegels um 1558/59 entstanden, die dem Betrachter als nicht enden wollende Bilderrätsel vor Augen stehen.26 Und doch ist es möglich, eine verborgene Ordnung in ihrem Tohuwabohu ausfindig zu machen, die beim Betrachter doch das Prinzip Hoffnung nährt. Auf der vertikalen Achse unter dem „Jedermann“ befindet sich die „Sphaira der Welt“. Jener versucht vergeblich, den „wahren Menschen“ (Christus) zu finden  ; über ihm und dem besagten Sack sieht man eine erloschene Kerze in der Nische, das Gegenstück zu jenem „inneren Licht“, das wirkliche Gotteserkenntnis verheißt.27 Erst in der Inversion, der Umkehrung aller Dinge, lässt sich wie von Sebastian Franck verlautbart der paradoxe Sinn der Darstellung erfassen, könne der Betrachter des Wunders gewahr werden. Als Beleg für diese Verbindung verweist Müller auf die Bildunterschrift, die fast

Innerbildliche Argumentation

222 Pieter Bruegel d. Ä., Elck (Jedermann), 1558. British Museum, London.

wortwörtlich den Schluss von Francks Paradoxa aufgreift  : Die wel anmerct die siet groot wondere („Wer aufmerksam betrachtet, wird großer Wunder gewahr“).28 Die immer wiederkehrende Gestalt des „Jedermann“, der zugleich ein „Niemand“ ist und blind und vergeblich versucht, der Welt und Gottes habhaft zu werden, lässt keine Erzählung aufkommen. Der Betrachter wird vielmehr dazu angehalten, das Sammelsurium und die Zeichen miteinander zu kombinieren und nach Möglichkeit in einen Sinnzusammenhang zu bringen. Der Prozess des Suchens und Verwerfens rätselhafter oder widersprüchlicher Zeichen und Dinge wird dem Betrachter aufgetragen. Erst allmählich tun sich beim Entziffern Zusammenhänge auf, kristallisiert sich ein Sinn heraus, der den „Suchenden“ berührt. Denn nur in Demut und aus dem Bewusstsein umdie eigene Unzulänglichkeit erlange der Mensch jene Selbsterkenntnis, die ihm zur Läuterung und moralischer Besserung führe.

Im Folgenden soll nun der Versuch unternommen werden, diesen Bewusstseinsprozess anhand der Gemälde Bruegels nachzuzeichnen, der in immer neuen Variationen – formal sowie nach Motiven und Kombinatorik  – die Erlebniszeit des Betrachters strukturiert und diesen am Ende im moralischen Sinn affiziert, wie in der Einleitung erörtert (vgl. S. 21 f.). Dieses Anliegen des Künstlers geht über den rhetorischen Gestus hinaus, denn der eigentliche Sinn entspricht meistens nicht dem ersten Eindruck  ; er erschließt sich erst am Ende der Bildbetrachtung, nach der Klärung von doppelbödigen Bedeutungsschichten und Handlungsabläufen, die eine fortlaufende Korrektur der Lesart und entsprechende Reflexion einfordern. Paradigmatisch wurde in Bild/Zeit, I, 1996, S. 22 ff., dieser Prozess der sukzessiven Inhaltsdeutung als ein zeitlich ablaufender Bewusstseinsprozess in einer Grafik veranschaulicht und anhand dreier Werke Bruegels exemplifiziert, um so die fundamentale Rolle

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Pieter Bruegel der Ältere

Jahrzehnts zu jenen „Übersichts-Weltlandschaften“ (Novotny), die Bruegel in seinen gestochenen Blättern häufig verwendete. Als das wohl bekannteste Beispiel sei die Hasenjagd von um 1560 angeführt, ein Stich, in dem der Jäger (und die Betrachter mit ihm) von einem diagonal gestellten Plateau im Vordergrund aus über ein weites Flusstal schaut und von dort den Blick über die Bergketten im Hintergrund bis zum Meeresspiegel schweifen lassen kann (Abb. 223).

Der Hafen von Neapel

223 Pieter Bruegel d. Ä. Hasenjagd, ca. 1560.

der Selbstaffektion des Betrachters im innerzeitlichen Prozess der Interpretation des jeweiligen Bildes deutlich zu machen.

Frühe Landschaften Bruegels Italienreise von um 1552/53 fand zunächst keinen Niederschlag in seinen Figurendarstellungen, sondern eher in der Darstellung meist voralpiner Gebirgslandschaften, die der Reisende zu überqueren hatte. Hier kommt nicht die ideale Parklandschaft italienischer Prägung, wie wir sie von Tizians Zeichnungen aus den 1530er-Jahren her kennen, zum Tragen, sondern die in großen Zügen erfassten Bergformationen, die lichtdurchfluteten Hänge und weiten Täler, alles mit feiner Feder ausgeführt. Dennoch zögert man, in diesen großartigen Federzeichnungen, deren Autorschaft in jüngster Zeit sogar in Zweifel gezogen wurde, topografisch bestimmte Panoramen zu erkennen, wiewohl manche Blätter von Philippe und Françoise Roberts-Jones hypothetisch lokalisiert wurden – eindeutig etwa die Federzeichnung von der Ripa Grande in Rom (heute in der Sammlung des Duke of Devonshire in Chatsworth) oder die „Gebirgslandschaft mit italienischem Kloster“, datiert auf 1552, aus dem Kupferstichkabinett in Berlin.29 Bruegel scheint nach der Rückkehr von der Reise mitten in den 1550er-Jahren den gängigen Typus des weiten Ausblicks auf Berge und Täler, der bereits durch die Manieristen in Italien zur Ausprägung gelangt war, mit der Wahrhaftigkeit der tatsächlichen, unmittelbaren Wahrnehmung verbunden zu haben. Später kombinierte er die alpinen Landschaftsausblicke mit Motiven wie Gestaden und Meeresbuchten – es kam bereits Ende des

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Das früheste Bruegel zugeschriebene Gemälde ist „Der Hafen von Neapel“, heute in der Galleria Doria-Pamphili in Rom  : Wir sehen eine aus der Vogelperspektive dargebotene Meeresfläche, von einer Vielzahl Galeassen und Galeeren belebt, die zielstrebig auf den Hafen zusteuern – eine weit geschwungene, kreisförmige Mole, die in etwa der Wirklichkeit entsprochen haben dürfte, ohne dass man, wie bereits Gustaf Glück vermerkt hat, hier von einer genauen topografischen Aufnahme sprechen könnte (Abb. 224).30 Die Transparenz der grünblauen Wasserfläche und der im satten Licht aufleuchtende Küstenstreifen, der zu den Bergen rechts und dem sich darüber verdunkelnden Himmel überleitet (es tritt in der Wolke unverkennbar ein Antlitz  – Aeolus  ?  – als Vexierbild hervor), zeugen bereits hier von der Meisterschaft des Malers, der es versteht, seinen Landschaften eine natürliche Wirkung zu verleihen. Das Interesse Bruegels für See- und Marinestücke ist angesichts der fundamentalen Rolle der Seefahrt für die Niederlande, insbesondere für seine Heimatstadt Antwerpen, nicht überraschend. Bereits in einer frühen Zeichnung von um 1550, heute in der Seilern Collection in London, hat der Künstler ein solches geschaffen. Es folgen die später von Frans Huys gestochene „Seeschlacht von Messina“ (1561) und weitere Schiffsdarstellungen in der Grafik. Ob wir es bei dem vorliegenden Gemälde aus der Sammlung Doria mit einer Seeschlacht zu tun haben, ist ungewiss  ; zumindest deuten die Rauchschwaden der Kanonen darauf hin. Mir ist nur ein italienisches Seestück, allerdings ein gewaltiges, gewärtig, das Bruegel bei seiner Italienreise, sollte er Venedig besucht haben, gesehen haben könnte  : der sog. Seesturm, von Giorgione begonnen und von Palma Giovane vollendet, im Ospedale von San Marco, ein Werk, das Vasari selbst ob der terribil movenzia delle cose in Angst und Schrecken versetzte.31 Sollte der junge Maler dieses Werk gesehen haben, dürfte der Eindruck nachhaltig gewesen sein. Der sog. „Seesturm“ im Kunsthistorischen Museum in Wien galt lange als ein Spätwerk Bruegels, wird nunmehr aber auf 1595 datiert und Joos

Frühe Landschaften

224 Pieter Bruegel d. Ä., Der Hafen von Neapel, ca. 1554. Galleria Doria-Pamphili, Rom.

Momper zugeschrieben  ; die „Moral der Geschichte“ im letzteren Werk wurde von Glück überzeugend erklärt und steht in der Tradition Bruegels, verlor doch der bedrohliche Wal infolge seines Spiels mit einer Tonne das eigentliche Ziel seines Vorhabens, sprich Lebens, aus den Augen.32 Das Seestück mit der Mole des Hafens von Neapel ist kein erzählerisches Bild im engeren Sinne. Bewegt ist es aber allemal, indem die Schiffe als anonyme Akteure auf dem leicht gewölbten Meeresspiegel dahingleiten. Die Galeassen peilen bei achterlichem Wind von links nach rechts den rettenden Hafen an, während die Galeeren im rechten Winkel dazu versuchen, sie vom Kurs abzubringen. Das Geschehen birgt einen weiteren Zeitaspekt in sich, insofern die Galeassen einer ungewissen Zukunft entgegensteuern. Vor dem Panorama der Landschaft gewinnen sie gleichsam als Vektoren auf verschiedenen Bewegungs- und Zeitachsen Dynamik und Präsenz – um mit Bergson zu sprechen  : „man entlehnt notwendig vom Raume all die Bilder …, durch die man das Gefühl beschreibt, das das reflektierte Bewusstsein von der Zeit und sogar von der Sukzession hat  : die reine Dauer muss also wohl etwas anderes sein.“33 (Vgl. S. 10.) Die angesprochene „Dauer“ kann also im vorliegenden Fall nur dem simultanen Gesamteindruck des Bildes gelten. Wir werden sehen, dass die ikonische

Struktur in Bruegels Gemälden durchweg effektvoll zur Verdeutlichung existenzieller Sachverhalte eingesetzt wird  ; der „qualitativen Dauer“ kommt aus ästhetischer und moralischer Sicht eine fundamentale Rolle zu, sie begleitet sein ganzes künstlerisches Schaffen.

Der Sturz des Ikarus „Der Sturz des Ikarus“ dürfte nach der Italienreise um 1554/55 entstanden sein. Von den zwei vorliegenden Fassungen wird hier diejenige aus den Musées Royaux des Beaux-Arts in Brüssel besprochen (Abb. 225).34 Auf den ersten Blick haben wir es mit einer Landschaftsdarstellung zu tun, die sich strukturell dem gängigen manieristischen Typus anschließt, dessen sich Bruegel auch in vorangegangenen grafischen Arbeiten bedient hat. Im Vordergrund verläuft entgegen der Leserichtung von rechts nach links ein diagonal angelegtes Plateau. Über diesem, quasi schwebend, wird der Betrachter einer weiten Küstenlandschaft gewahr  : links ein hell beschienenes Gestade mit aufragenden Felsen in der Nachfolge Patinirs, eine Hafenstadt, deren geschwungene Mole an die Ansicht von Neapel erinnert. Mit der Veste in der Bucht wird ein Motiv aufgegriffen, das in jenem Ge-

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Pieter Bruegel der Ältere

225 Pieter Bruegel d. Ä., Der Sturz des Ikarus, 1554/55. Musées Royaux des Beaux-Arts, Brüssel (Farbtafel XIX).

mälde ebenfalls auftaucht. Zwei Landzungen am rechten Bildrand sowie eine vorgelagerte Insel geben der Komposition Halt und erwecken zugleich den Eindruck einer tief eingeschnittenen Bucht oder Flussmündung, wie sie etwa den örtlichen Gegebenheiten an der Scheldemündung entspricht. Auf einem ruhigen blaugrünen Wasserspiegel steuert eine Galease rechts im Vordergrund mit geblähtem Bramsegel auf das offene Meer zu, wo sich auch andere Schiffe befinden. Die Scholle im Vordergrund wird von einem Bauern beackert. Der Pflug, von einem Pferd gezogen, fügt noch eine Furche zu dem ornamentalen Muster hinzu, das bereits den größten Teil des abschüssigen Plateaus bedeckt. Der Bauer ist also bereits länger bei der Arbeit. Die Geländestufe wird von Büschen und Bäumen gesäumt, die den Blick links verstellen und zugleich dem diagonal verlaufenden Rand einen optischen Halt geben. Virtuos schildert Bruegel das organische Wachstum der bodenständigen Sträucher, der Stämme und Äste und erzielt einen ornamentalen Effekt durch die Blätter und Kronen, die sich vor hellem Grund abzeichnen. Der Mensch, in diesem Fall der pflügende Bauer, erscheint als Gegenspieler der Natur  : Das

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helle Zinnober seines Wamses hebt sich vom Taubengrau des Arbeitskittels ab  ; die vertikalen Falten des Letzteren stehen im Kontrast zu den gewundenen Furchen. Das rote Wams bildet den einzigen eklatanten Farbwert im Gemälde und steht farbig isoliert vor dem blaugrünen Meeresspiegel. Geistig auf sich allein gestellt, erscheint der Pflüger in verlorenem Profil, anonymisiert unter dem runden Hut und dem schwarzen Haarschopf, den Blick auf den Boden gerichtet, der Scholle verhaftet und ganz seiner Tätigkeit nachgehend. Wie in der Bildgattung der Kalenderbilder, der sich Bruegel zunächst in der Grafik widmete, um später zu ihrer monumentalen Ausprägung in den Ölbildern zu gelangen, ist der Mensch zwar Gegenpart, aber nicht Beherrscher der Natur, denn was ihn nach Ansicht der Humanisten über die Natur erhebt – das Denkvermögen und die innere Erleuchtung –, kommt hier nicht zum Tragen. Die Welt des pflügenden Bauern bleibt hier auf einen begrenzten Ausschnitt der Landschaft beschränkt  ; sein Dasein ist räumlich und zeitlich mit dem Erdreich verbunden, er scheint nichts von dem zu bemerken, was gleichzeitig vor sich geht. Seiner Tätigkeit selbst werden Grenzen gesetzt, sei es vom Gelände, sei es

Frühe Landschaften

vom Tagesablauf her, denn die Sonne am Horizont wird bald untergehen. Eine kurze Frist noch bleibt dem Pflüger in einer instabilen, in Bewegung geratenen Welt, die nach den neueren Erkenntnissen der Astronomie nicht mehr Mittelpunkt des Universums war, sondern ihren angestammten Platz an die Sonne abgetreten hatte. Die innere Erleuchtung bleibt dem Bauern versagt – nicht aber dem Maler, der zum Freundeskreis der aufgeklärten Humanisten und Geografen in Antwerpen gehörte  ; an der dramatischen Entwicklung in der Astronomie sowie an der Entdeckung unbekannter Länder und der Erschließung neuer Schiffswege waren die Antwerpener maßgeblich beteiligt. Auf einer tieferen Stufe des jäh zum Wasser hin abfallenden Geländes befindet sich eine Schafherde – die weißen Rücken der Tiere verschmelzen farbig mit dem fahlen Boden. In der Mitte steht ein Hirte mit gekreuzten Beinen an seinen Stab gelehnt. Er blickt nach oben, aber was er im Himmel sieht, bleibt vorerst der Vorstellung des Betrachters überlassen. Nach der Klärung des Inhalts können wir annehmen, dass der Hirte staunend der fliegenden Gestalt des Daidalos gewahr wird, die über das Firmament zieht (Ovid, Metamorphosen, Buch VIII). Vom Geschehen in der Gegenwart bekommt der Hirte ebenso wenig mit wie der Pflüger und der Fischer, der auf einem Felsvorsprung unten rechts sitzt und ins Wasser starrt in der Hoffnung, einen Fang zu machen. Alle drei Protagonisten auf der Landzunge im Vordergrund sind von der Weite des Meeres und dem Gestade abgeschottet. Sie bleiben in ihrer eigenen Welt, gehen dem Tagesgeschäft nach und sind vom Koordinatensystem anderer Vorgänge abgekoppelt. Der Betrachter des Bildes, der in der Verinnerlichung der räumlich-zeitlichen Struktur des Bildaufbaus und der inhaltlichen Gegebenheiten sich einen Reim zu machen sucht, ist bemüht, den intuitiv erfassten Kontrast von Einengung und Labilität im Vordergrund mit der Expansion in der linken Bildhälfte sowie mit der Weite und Ruhe des Meeresspiegels in Einklang zu bringen. In der Einleitung zum ersten Band von Bild/Zeit (1996, S. 23 f.) steht die Vergegenwärtigung der Bildstruktur im „Sturz des Ikarus“ beispielhaft für das Streben nach Vereinheitlichung in der „primären Erinnerung“, die im dynamischen Prozess der Gestaltwahrnehmung in Kraft tritt. Gegensätze struktureller, aber auch inhaltlicher Natur werden durch die Aufdeckung eines übergreifenden Sinnzusammenhangs erklärbar und somit zum Ausgleich gebracht. Der Maler hält den Betrachter zu einer ästhetischen und zugleich existenziellen Bewusstseinsbildung an. Dieser innere Vorgang, dessen Zeitcharakter in den späteren sog. „Wimmelbildern“ noch ausgebaut werden sollte, lässt bereits in diesem Frühwerk das Spezifische von Brue-

gels Kunstauffassung und Weltsicht aufscheinen – denn wie kein anderer führt er den Betrachter durch fortlaufende Modifikationen seiner Erlebniszeit zu einem vertieften Bildund Seinsverständnis. Im Wechselspiel von Wahrgenommenem und dessen Kompatibilität mit hypothetischen Sinnzusammenhängen tastet dieser sich durch die Auslotung ikonografischer, im Gedächtnis aufbewahrter Bildprägungen voran, um schließlich im Falle des vorliegenden Bildes der beiden Beine und der Hand auf der Wasserfläche hinter dem Heck der Galeasse (eigentlich des Hulks) gewahr zu werden. Im Augenblick seiner Auslöschung ist der Mensch auf sich allein gestellt, ob seiner Hybris zufolge schuldig oder auch nicht. Diese Wirkung wird durch das Schiff noch verstärkt, denn dieses segelt unberührt an dem Herabgestürzten vorbei und davon, ihn blind seinem Schicksal überlassend – teilnahmslos, wie es auch bei den drei Protagonisten im Vordergrund der Fall ist. Handlungen laufen im räumlichen Gefüge nebeneinanderher und werden infolge ihres Ablaufs und der Relativierung ihrer Position auf unterschiedlichen Zeitachsen der Bildfläche in ihrer Disparatheit erkannt. Der Sturz des Ikarus hat sich bereits vollzogen – einige Federn fallen noch vom Himmel auf die Wasserfläche. Dieses flüchtige Detail führt uns den vorangegangenen Sturz noch eindringlicher vor Augen. Dem Augenblick des Aufschlags steht die lange Dauer des hohen Falls vom Himmel entgegen, der dem Kundigen auch anhand der versinkenden Sonne ersichtlich wird. Wir haben es also mit einer Verstärkung des Zeitaspekts zu tun, denn im Brüsseler Bild wurde – womöglich erst nachträglich – die Sonne hinzugefügt. Die Spiegelung auf der Meeresfläche scheint in der Tat dem Widerschein einer darüber stehenden Lichtquelle zu entsprechen, während die weißen Reflexe vor dem Halbrund der Sonnenscheibe ebenfalls erst später dazugekommen sein könnten. Gustav Glück hat sich über die Zeitlichkeit im Bild wenig Gedanken gemacht, denn er bemängelt Ungereimtheiten  : Es sei der Sturz des Ikarus doch weder morgens noch abends vor sich gegangen, sondern zur Mittagzeit, als die Sonne im Zenit stand.35 Ebenso unerklärlich erscheint Glück das Fehlen des Daidalos – hatte sich doch Bruegel bereits 1553 mit diesem Thema auseinandergesetzt, wie aus der späteren, 1595 von Georg Hoefnagel gedruckten Radierung hervorgeht.36 Zu Recht weisen Roberts-Jones auf den Umstand hin, dass gerade die Abwesenheit des Daidalos die Tragik des Schicksals des Ikarus verstärkt, dabei zugleich den moralischen Aspekt der verhängnisvollen Hybris und ihre Bestrafung verdeutlichend. Die Hybris war ja seit alters her mit der Geschichte von Daedalus und Ikarus, wie sie von Ovid beschrieben wurde,

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verknüpft. Bereits 1484 hatte der in Brügge tätige Verleger Colard Mansion eine opulente Ausgabe der Metamorphosen herausgebracht, die ihn praktisch ruinierte. 1497 folgte die mit Holzschnitten versehene venezianische Edition bei Manutius. Die moralische Bedeutung des Ikarus war den Humanisten in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts demnach wohl gewärtig  ; bereits während seiner Lehrjahre in der Offizin von Hieronymus Cock, „Zu den vier Winden“, hat sich der junge Bruegel mit dem Thema befasst. Von besonderem Interesse scheint mir der Umstand, dass Sebastian Brant in seinem Narrenschiff von 1494, von Olpe in Basel gedruckt und mit zahlreichen Holzschnittillustrationen, u. a. von Dürer, versehen, auf Ikarus Bezug nimmt. Mit der einschlägigen Schilderung des „Narrenschiffs“ von Hieronymus Bosch, einer monumentalen Darstellung von Dummheit und Sünde, die der große Vorgänger Bruegels um die Jahrhundertwende ausführte (heute im Louvre), setzte die moralisierende Darstellung von der Torheit der Welt im Norden Europas ein. Die Diskontinuität der zeitlichen und räumlichen Bezüge in Bruegels Gemälde findet somit in der Bildstruktur ihren ikonischen Niederschlag  : Das wirklich Bedeutsame wird versteckt und zeitigt keine Wirkung. Die Komposition zerfällt in zwei Teile, die nicht miteinander in Beziehung stehen, wiewohl die Protagonisten im Bild sehr wohl im Text des Ikarusmythos Erwähnung finden  : der Fischer mit seiner Angel, der Hirte, auf seinen Stab gestützt, sowie der Pflüger. Sie werden Daidalos’ und Ikarus’ gewahr und glauben, diese wären Götter, die über den Himmel flögen (Ovid, Met. VIII, 217–220). Ein weiteres Detail in Bruegels Bild, das Rebhuhn, welches auf einem Zweig neben dem Fischer sitzt, ist ebenfalls aus einem späteren Passus in Ovids Text zu erklären. Denn als Daidalos seinen Sohn begrub, erschien ein schnatterndes Rebhuhn, später zum Vogel gemacht, als ein wandelnder Vorwurf an den Vater (Met. VIII, 237–240). Dieser hatte den Sohn gewarnt, nicht zu tief zu fliegen, da die Flügel durch Nässe gefährdet würden, und nicht zu nah an die Sonne, da sie Feuer fangen könnten (Met. VIII, 204– 207). Das Rebhuhn zeichnet sich nach Ansicht der Gelehrten zur Zeit Bruegels dadurch aus, dass es geschickt versteht, seinen Flug den Unebenheiten des Terrains anzupassen – d. h. eben nicht den Fehler des Ikarus zu begehen.37 Die „goldene Mitte“ im Flug mag als Metapher und Maxime eines gottgefälligen glücklichen Lebens gegolten haben. Roberts-Jones verweisen auf eine weitere Gefährdung, die wie die Hybris das Dasein des Menschen bedrohe  : Auf der obersten Stufe des Berghangs, links neben dem pflügenden Bauern, liegen ein Geldbeutel und ein Degen. Gier und Gewalt sind wie der Hochmut Verursacher der Torheit und

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Sünde in der Welt. Wie es um die drei Protagonisten bestellt ist, bleibt der Imagination des Betrachters überlassen. Der Pflüger zieht gesenkten Hauptes seine Bahn. Von einem aufgeklärten Geist und einer Willensfreiheit kann hier ebenso wenig die Rede sein wie beim Hirten, der beim Anblick des (für uns unsichtbaren) Daidalos sich dem Trug einer Göttererscheinung hingibt und darob die Welt und das Geschick der Menschen vergisst.

Argumentatio, Deutung und Selbsterkenntnis Wie Müller geistreich am Ende der Einleitung seines Buches Das Paradoxon als Bildform bemerkt, geht es nicht darum, noch „ein weiteres Mal … den vermeintlichen Tief- und Hintersinn“ in Bruegels Werk zu hinterfragen, sondern um die „innerbildliche Argumentation …, die einen solchen Hintersinn überhaupt erst hervorbringt“38, womit wir wieder bei der raumzeitlichen Bildanalyse und der damit verbundenen fortlaufenden Reflexion angelangt wären. Die Erlebniszeit, die von der Interpretation der Werke Bruegels in Gang gesetzt wird, ist davon geprägt, die hypothetischen Bedeutungen der einzelnen Bildelemente mit der steten Repräsentation vorhergegangener Bewusstseinszustände abzugleichen, um so zu einer plausiblen Deutung der ikonischen Struktur in Bezug auf die inhaltliche Aussage, d. h. zur Einsicht in die sich darin bekundenden Gestaltungsprinzipien zu gelangen. Formen und Figuren dienen als Bedeutungsträger moralischer Inhalte  : die Beziehung von Göttlichem und Irdischem  ; die Blindheit und Gleichgültigkeit der Welt gegenüber dem Schicksal des Einzelnen und dem historisch Bedeutsamen  ; die Realität von moralischen Werten und der Weg zur Erkenntnis und Selbstfindung. Die bildende Kunst hat hier wie das Wort und die Wissenschaft eine hermeneutische Mission zu erfüllen  : Der Akt des Verstehens und die Auslegung des Bildinhalts werden erst durch die sinnfällige ikonische Gestaltung ermöglicht. Die Reflexion und Ichbezogenheit, die mit dieser Form der „ästhetischen Erziehung“ einhergeht, sind unlösbar mit der Präsenzzeit der (auch ästhetisch ausgerichteten) Betrachtung verbunden, die angesichts der „qualitativen Dauer“ des Kunstwerks fortlaufend auf unser eigenes Leben und Bewusstsein einwirkt.

Stilus humilis und existenzielle Fragen Noch ein weiterer Aspekt der Bilderfahrung und der Erlebniszeit sei am Ende dieser Betrachtung angefügt, eine weitere Besonderheit in Bruegels Schaffen angesprochen  : die

Wimmelbilder

Stillage seiner Bilder und der Stellenwert des Niederen oder gar Hässlichen. Im Gegensatz zur strengen Hierarchie der aus der antiken Poetik und Rhetorik abgeleiteten Stillagen stellt sich das decorum für den sermo humilis im christlichen Kontext anders dar, denn für die Christen sind nach Augustinus ja im Grund „alle Gegenstände groß“, da es ja um das Heil des Menschen, nicht nur um das Zeitliche, sondern um das Ewige, geht.39 Wenn auch der Versuch, die Begriffe Ethos und Pathos, die der antiken Poetik entstammen, der Wirkungsästhetik des 16. Jahrhunderts zuzuordnen, im Falle der nordeuropäischen Kunstformen nicht restlos gelingt, kann das Pathos doch zur Charakteristik der reformatorischen Kunst dienlich sein – vor allem was die Wirkung und die mit ihr verbundene Reflexion betrifft.40 Es besteht kein Zweifel darüber, dass die moralische Belehrung wie erwähnt bereits seit dem Beginn des 16. Jahrhunderts in den Niederlanden als maßgeblich zu gelten hat und im Einklang mit der augustinischen Gnadenlehre – und in der Folge mit der der Reformation – ihre Wirkung entfaltete. Wir haben ja gesehen, dass gerade dem Niedrigen, Unbedeutenden und gar Verhüllten nach Erasmus eine eminente Bedeutung zukommt und diese Weltsicht wohl auch für Bruegel maßgeblich und für seine künstlerische Strategie bestimmend gewesen sein dürfte (vgl. S. 341 f.). Es geht m. E. zu weit, wenn man dem Grotesken und Hässlichen eine Vormachtstellung im Werk des Malers zuspricht, aber man wird sehr wohl mit einer ungeschönten Schilderung des „einfachen“ bäuerlichen Lebens konfrontiert, die gelegentlich durch karikaturhafte Überzeichnung den Betrachter zur moralischen Reflexion anhält – also zur mentalen Verknüpfung des Gesehenen mit dem moralisch-didaktischen Überbau. Eine realistische Schilderung ist nicht das primäre Ziel, sondern das Gleichnishafte und die Übertragung der Bildinhalte auf existenzielle Fragen, die letztlich auch den präsumtiven Betrachter und das Zeitliche berühren. Die Erlebniszeit wird durch die gezielte Mehrdeutigkeit angestachelt, die an Komplexität zunimmt, je höher der Bildungsgrad der Rezipienten anzusetzen ist. Wenige Künstler haben in so hohem Maße ihre Bildstrategie auf den Akt der Rezeption ausgerichtet, nicht als Selbstzweck oder im Sinne eines genussreichen ästhetischen Spiels, sondern vielmehr, um die Erlebniszeit selbst und den damit verbundenen Prozess der Bilddeutung als Weg zur Selbstfindung vorzugeben. 41 Erstaunlich ist, wie schnell Bruegel zu dieser Richtschnur seines Kunstschaffens gelangt ist, in dem in den folgenden 15 Jahren vielfältige unterschiedliche Gestaltungsvarianten zur Ausprägung kamen.

Wimmelbilder Ende der 1550er-Jahre schuf Pieter Bruegel eine Reihe von Gemälden, die mit der Rubrik „Wimmelbilder“ trefflich charakterisiert wurden, handelt es sich doch um eine unübersehbare Fülle von Figuren und Einzelszenen, die auf der aufgeklappten Erdplatte aus der Vogelperspektive sich dem Auge darbieten. Dem Künstler ist es dabei virtuos gelungen, die Figuren aus der Draufsicht in ihren Verkürzungen wiederzugeben. Auch ihrer Plastizität wird weitgehend Rechnung getragen. Infolge des steten Wechsels des Kostüms – zum einen mutet es zeitgemäß an, zum anderen konnte der Maler auch seiner Fantasie freien Lauf lassen – war es Bruegel möglich, einzelne farbige Akzente durch ein kräftiges Lokalkolorit vor dem braungelben Grund des Bodens ausgewogen zu verteilen, sodass sich dem Auge ein farbiges und zugleich harmonisches Wechselspiel darbietet. Im Falle der „Kinderspiele“ aus dem Kunsthistorischen Museum in Wien hat Sedlmayr auf die unterschiedliche Ausführung der Figuren und des Landschaftsausschnitts im linken oberen Eck verwiesen (Abb. 226). Die flach ausgeführten Figuren erscheinen anonym, puppenhaft auf der Bodenplatte, während die Vegetation unter dem dichten Himmel einen organischen Eindruck hinterlässt.42 Im Vergleich zu den anderen Wimmelbildern ist aber die Verflachung nicht so weit gediehen, dass man hier wie Sedlmayr von einer Entseelung und Verflachung sprechen könnte – wohl aber erscheint das Individuum auf der Bühne der Welt nur als Akteur in einem vielstimmigen Ensemble. Zum Gleichnishaften des Rahmens, dem Topos des theatrum mundi entsprechend, gesellt sich die Rollenverteilung der Einzelfiguren und der kleinen Gruppen, die sich eben nicht frei als Individuen auf der Bühne bewegen, sondern als Akteure den Regieanweisungen unterworfen sind. Der Begriff der „Bühne“ ist hier als Metapher zu verstehen und entsprechend findet sie auch später Eingang in die Literatur, z. B. bei Calderón. Von einem tatsächlichen Theater kann keine Rede sein, denn die zeitgenössische Praxis in den Niederlanden mit kleinen Bretterbühnen, die auf den Marktplätzen im Freien errichtet wurden, sah anders aus.43 Vielmehr werden die mehr oder weniger realistisch wiedergegebenen Häuser, Plätze und Gassen der kleinen Städte in den Gemälden durch die Vogelperspektive in Spielstätten transformiert, auf denen das törichte Treiben der Einwohner und die Torheit der Welt stattfinden. Der ephemere Charakter der Einzelszenen wird insofern aufgegeben, als die exempla auf übergreifende Lebensweisheiten und Sinnsprüche Bezug nehmen, die allgemeine Geltung beanspruchen. Von den drei einschlägigen Wimmelbildern – „Die flämischen

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Sprichwörter“ von 1559 aus der Gemäldegalerie der Staatlichen Museen in Berlin, „Der Kampf zwischen Karneval und Fasten“ von 1559 und „Die Kinderspiele“ von 1560, beide im Kunsthistorischen Museum in Wien – sei das letztgenannte Werk in Bezug auf die „Rezeptionszeit“ hier besprochen (Abb. 226).

Die Kinderspiele Gustav Glück listet nicht weniger als 84 Einzelszenen auf, die nach Erika Tietze-Conrat 1934 als Beispiele des ersten Lebensabschnitts, der infantia, zu verstehen sind  ; 1577 fanden sie erneut, womöglich durch Bruegels Darstellung angeregt, noch einmal Eingang in Wierix’ Theatrum vitae humanae.44 Aus der Vogelperspektive des Wiener Gemäldes ergibt sich die Distanz zu den scheinbar zufällig zusammengewürfelten Einzelszenen, die alle als Momentaufnahmen von Kinderspielen gelten können – eine Sichtweise, die sich bis heute erhalten hat. Es liegt in der Natur des Spiels, dass es keinen unmittelbaren Zweck verfolgt. Es spiegelt sich darin die unverfälschte Lebensfreude wider, das von Zwängen und Zielen unbelastete Dasein, das nur dem Augenblick verhaftet bleibt. Andererseits liegt gerade darin das Problem aus der Sicht der Erwachsenen, da die Selbstbezogenheit und Selbstvergessenheit der Kinder für die spätere Eingliederung in die Gesellschaft und in die von Pflichten und Normen geregelte Lebenswelt hinderlich sind. Stridbeck hat dementsprechend die Kinderspiele im Sinne des barocken Vanitasbegriffs gedeutet und in ihnen eine versteckte Kritik an der törichten Welt sehen wollen, die auch nicht vor dem Kult der Kirche und den Sakramenten haltmacht.45 Die Spiele scheinen in ihrer Vielzahl kein Anfang und Ende zu haben, das bunte Treiben auf dem Marktplatz unter dem heiteren Himmel eines Sommertages mutet „zeitlos“ an. Aus der mikroskopischen Sicht gewinnt der Betrachter den Eindruck, dass ein Spiel sich an das nächste reiht und sich so fortsetzt. Viele sind gewiss dem Leben abgeschaut und haben ihre Aktualität bis heute bewahrt. Sie werfen dabei die Frage nach dem „Wirklichen“ auf, schafft das Kind sich doch im Augenblick des Spiels seine eigene Welt mit einer eigenen Zeitlichkeit, deren Anspruch auf Authentizität und Realität ebenso berechtigt sein dürfte wie der der Erwachsenenwelt. Die Unterscheidung zwischen Schein und Wirklichkeit wird letztendlich aus der Sicht des Subjekts gefällt. So gibt die Darstellung als Ganzes trotz ihrer Lebensnähe im Kleinen doch ein Bild der „verkehrten Welt“ ab, in der die Menschen ziellos und ohne eigentlichen Zusammenhang ihren Einfällen nachgehen.

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Die Betrachterzeit wird in hohem Maße gefordert, wenn es gilt, die jeweilige Tätigkeit oder Rolle der mehr als zweihundert Figuren zu eruieren. Solche Auflistungen auf der mittleren, ikonografischen Ebene sind natürlich vorgenommen worden, zuletzt von Sandra Hindmann 1981.46 Der Titel ihrer Studie, „Children’s Games, Folly and Chance“, verrät aber auch, dass es sich keineswegs um eine kompilatorische Aufzählung kontingenter Szenen handelt, sondern dass sich hinter der Fülle derselben und über die Systematik der Spielformen hinaus auch eine andere Ordnung auftut, die sich in der Verteilung der Kinder auf der Spiel- bzw. Bildfläche manifestiert. Ansonsten würde die aufgewendete Zeit des Betrachters, alle Tätigkeiten zu entschlüsseln, letztendlich als verlorene Müh’ anmuten und die Frage nach dem eigentlichen Sinn des Ganzen unbeantwortet bleiben. Die formale Anordnung lässt bei neuerlicher Betrachtung ausgeklügelte Bezüge und mögliche Bedeutungsschichten in Erscheinung treten, die als Kritik an der Welt, nicht zuletzt an den religiösen Institutionen und Volksbräuchen, verstanden werden können. Auf dieser höheren Ebene der Bildinterpretation ergeben sich überraschende Aspekte, die gerade in der Ikonizität, d. h. durch die Lage der jeweiligen Szene auf der Bildfläche, ihre nachträgliche Bestätigung finden. Etliche Szenen fallen in die Kategorie der Verkleidungs- und Rollenspiele, die als Nachahmung der Erwachsenenwelt und ihrer Rituale zu gelten haben. Stridbeck, van den Branden, Hindmann und Müller ist es überzeugend gelungen, eine Vielzahl solcher Beispiele, nicht selten mit satirischem Biss, auszumachen  : Im Zentrum der Bilddiagonalen sehen wir eine „Hochzeitsprozession“  : Zwei Mädchen mit einem Blumenkorb schreiten der „Braut“ voran, gefolgt von zwei „Brautjungfern“.47 Links unten findet eine Prozession von verhüllten Mädchen statt, die ein Neugeborenes, in ein blaues Tuch gewickelt, das vor bösen Geistern schützen soll, zur Taufe tragen.48 Durch die offene Tür des Hauses sehen wir weitere Mädchen mit ihren Puppen vor einer Krippe und einem Altar stehen. Noch tiefgründiger erweist sich eine Entschlüsselung von Hindmann  : Auf der Straße im Hintergrund wurde ein Feuer entfacht, das sich wahrscheinlich auf das Johannisfeuer bezieht, welches traditionell am 24. Juni entzündet wurde. Wie gebräuchlich erbitten die Kinder in den Häusern Holzscheite für das Feuer. Weiter im Vordergrund schreitet eine „kirchliche“ Kinderprozession voran, bei der Stöcke mit Papier- und Stoffbahnen getragen werden. Die Körbe, die aus dem Fenster des zentralen Gebäudes an der Wand hängen, dürften mit Heilkräutern gefüllt sein, denen eine besondere Wirkung sowie Schutz vor Brand und Ge-

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226 Pieter Bruegel d. Ä., Die Kinderspiele, 1559. Kunsthistorisches Museum, Wien.

witter am Johannistag zugeschrieben wurde.49 Darüber hinaus hat Müller anhand des Handwörterbuches des deutschen Aberglaubens auf die aberwitzige Vorstellung hingewiesen, dass der hl. Johannes am Johannistag einen „tiefen Schwimmer“ und einen „hohen Klimmer“ als Opfer fordert. So könnten die beiden spielenden Knaben, die im friedlichen Landschaftsausschnitt oben links auszumachen sind, der eine am Baum kletternd und der andere im Wasser, hypothetisch als die potenziellen Opfer gesehen werden. Die angesprochene „Zeitlosigkeit“ des Bildes entpuppt sich bei näherer Betrachtung eben doch als eine Täuschung oder als ein frommer Wunsch  : „Über den ganzen Bildraum verteilt finden sich an markanten Stellen … also immer zugleich Hinweise auf abergläubische und kirchliche Riten, die im Kinderspiel als bloß äußerliche Tat des Menschen denunziert werden.“50 In einem Brief von Sebastian Franck an Johannes Campanus vom 2. Februar 1531 werden gerade die Kinderspiele beispielhaft herangezogen, um den Missbrauch der Sakra-

mente seitens der Kirche zu geißeln  : Es handele sich im letzteren Fall um Gelehrte, die von Johannes als Antichristen gebrandmarkt werden  : „Denn das beweisen ihre Bücher …, die voll von eitlem Kinderspiel sind und ganz ungleich dem Geist der Apostel, das heißt ganz voll mit Geboten, Gesetzen, Elementen und allerlei Menschensündlein …. Gleich darauf sind alle Dinge verkehrter Weise zugegangen  : Die Taufe ist in die Kindertaufe … verwandelt worden, des Herrn Nachtmahl…in Missbrauch und Opfer“.51 An einer Reihe von weiteren Einzelszenen hat Müller die falsche imitatio, die nicht zum Seelenheil führt, festmachen können  : am rechten Bildrand das „An-den-Haaren-Zupfen“, das an die „Dornenkrönung“ erinnert  ; das „Hin-undher-Schaukeln“ links erweckt Assoziationen an die „Grablegung“  ; die beiden knienden Jungen vor den kreisförmig gelegten Ziegeln wecken die Erinnerung an die Wächter vor dem hl. Grab  ; in den Arkaden des Rathauses links agieren Kinder, deren Haltung und Schlagen der Kreisel an die Geißelung gemahnen.52 Die buchstäbliche Nachfolge Christi

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wird demnach persifliert und der Betrachter zunehmend über das hoffnungslose Unterfangen, auf diesem Weg das Seelenheil zu erlangen, in Kenntnis gesetzt. Die Beliebigkeit und Mehrdeutigkeit verflüchtigen sich im Laufe der Betrachtung durch die vielen Anspielungen. Gerade der zeitlich ablaufende Deutungsprozess, dessen Ende bei der Fülle der Einzelszenen nicht auszumachen ist, entspricht dem steinigen Weg der Wahrheitsfindung. Die ikonische und inhaltliche Struktur der Kinderspiele machen die fundamentale Rolle der Erlebniszeit, die vom Thema und der Bildstruktur dem Betrachter aufgezwungen wird, deutlich. Müller hat es im Anschluss an einem Aufsatz von Frank Olaf Büttner prägnant formuliert  : „Die vielfigurigen Kompositionen Bruegels bringen es mit sich, dass man nicht alles zugleich erkennt. Vielmehr erschließt sich das Bildgeschehen für den Betrachter erst nach und nach. Er sieht sich aufgefordert, die eigene sukzessive Wahrnehmung der Bildszenen in deren Deutung und inhaltliche Verknüpfung einzubeziehen und den innerbildlichen Kommentar zu erkennen.“53

Trionfi und Tugenddarstellungen 1574 stach Philipp Galle einen Kupferstich nach „Petrus Bruegel“, dessen Urheberschaft von Philippe Roberts-Jones angezweifelt wird, da es sich um eine konfuse Akkumulation von Allegorien und Symbolen handele, welche die Eitelkeit alles Irdischen anprangere, und Bruegel schwerlich dafür als Urheber infrage komme.54 Sollte es sich um den Nachstich eines Gemäldes mit dem Titel „Triumph der Wahrheit“ handeln, das von Karel van Mander als eines der bedeutendsten Werke des Meisters eingestuft wurde  ?55 Etwa zur selben Zeit hat Bruegel die Vorlage für die allegorische Darstellung „Triumph der Zeit“ geschaffen und so wäre der „Triumph der Wahrheit“ als Pendant auch in unserem Kontext von Interesse. Etwa zur gleichen Zeit, in den Jahren um 1556/57, hat Bruegel eine Reihe bemerkenswerter Federzeichnungen in Sepia mit den „Sieben Todsünden“ und den „Sieben Tugenden“ ausgeführt, die der christlichen Tradition entsprechen.56 Die erste Folge wurde von Pieter van der Heyden 1558 gestochen und von Hieronymus Cock verlegt. Die Nähe zu Hieronymus Bosch ist in diesen erschreckenden und grotesken Blättern unverkennbar, auch wenn Bruegel mit eigenen Bildfindungen und Landschaftsausblicken aufwartet. Zu Recht wird auf den enzyklopädischen Charakter der Szenen und die Fülle ihrer Einzelelemente verwiesen, die dem Schatz des Volkstümlichen und der religiösen Ikonografie entstammen. Wenn auch vieles wie bei Bosch rätsel-

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haft, pervertiert und skurril erscheint, ist die abschließende Bemerkung von Roberts-Jones, der Sinn lasse sich wohl kaum mehr eruieren, wohl zu defätistisch.57 Viele Details finden Eingang in andere „entzifferte“ Werke von Bruegel. Im Grunde entkräften die Autoren selbst ihr Argument, denn im Folgenden schlagen sie den Bogen zu der Furcht einflößenden Dulle Griet von 1561 aus dem Museum Mayer van den Bergh in Antwerpen, in der die Ikonografie des „Zorns“ derjenigen Zeichnung, die in den Uffizien aufbewahrt ist, entnommen ist. Als Gegenstück zu den „Sieben Todsünden“ schuf Bruegel die Folge mit den Sieben Tugenden, von Philipp Galle 1559/60 gestochen. Die christliche Thematik findet eine Fortsetzung in den Darstellungen „Christi Abstieg in die Vorhölle“ und „Das Gleichnis von den klugen und törichten Jungfrauen“ – die erste Serie wurde von Pieter van der Heyden um 1561, die zweite von Philipp Galle etwa zur gleichen Zeit gestochen. Die Federzeichnung in Sepia mit dem „Abstieg Christi in die Vorhölle“ befindet sich in der Albertina und entstand etwa zeitgleich mit einer Darstellung des „Jüngsten Gerichts“, die mit ihren kräftigen Umrisslinien und fehlenden Zwischentönen jene atmosphärische Wirkung vermissen lässt, die ansonsten ein Markenzeichen von Bruegels Grafik ist. Komposition, Stil und Inhalt dieser Blätter muten traditionell an, d. h. sie entsprechen einer „gehobenen Stillage“, die mit der christlichen Tradition konform geht.

Todesfugen Aus der Zeit um 1560 stammt die 1574 von Philipp Galle gestochene Darstellung „Triumph der Zeit“ nach einer verloren gegangenen Vorlage von Bruegel (Abb. 227). Wir haben es mit einem „klassischen Thema“ zu tun  : Stil und Inhalt sind konventionell und stehen nicht im Widerspruch zueinander. Die Frage bleibt aber, ob Bruegel, wie Sullivan meint, das Thema im humanistischen Sinn gedeutet hat, wonach der Ruhm und die Würde des Menschen verherrlicht werden, oder ob diese nicht gerade in ihr Gegenteil verkehrt worden sind  ?58 Dadurch würde der Triumph der Zeit einer fatalistischen, auch moralisierenden Weltsicht Vorschub leisten. Es sei daran erinnert, dass die Darstellungen der trionfi zum einen auf die literarischen Vorbilder Petrarcas von 1376 und Boccaccios Amorosa visione und seine De viris illustribus zurückgehen  ; zum anderen ist der praktischen Umsetzung des Themas im Festwesen sowohl in Italien als auch im Norden Rechnung zu tragen.59 Miniaturen und Cassonetafeln

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227 Pieter Bruegel d. Ä., Triumph der Zeit, ca. 1560. Nachstich von Philipp Galle 1574.

schlossen sich zunächst den Textvorlagen an. Auf die Triumphe von Amor (oder Cupido) und Castitas folgen jene des Todes, des Ruhms und der Zeit, in denen die allegorischen Figuren auf ihren Karren stehend abgebildet sind. Das Ganze gipfelt in der Dreifaltigkeit und der Ewigkeit, deren Darstellungen eher einen statischen Charakter aufweisen. Bei der späteren Umsetzung der trionfi werden diese zunehmend von Figuren in zeitgenössischen Gewändern begleitet. In den großen Fresken von Lorenzo Costa in der Bentivogliokapelle in San Petronio in Bologna von um 1490 mit dem „Triumph des Todes“ und dem „Triumph des Ruhms“ wird der unumgängliche Tod als Repräsentant der Vergangenheit bereits von der himmlischen Vision des kommenden „Jüngsten Gerichts“ überstrahlt  ; der „Ruhm“ wiederum triumphiert über das wechselhafte irdische Geschick und den leiblichen Tod.60 Die Auslegung der trionfi, die ihren Niederschlag in der formalen und inhaltlichen Umsetzung des Themas findet, erhielt im Norden eine andere Ausprägung, wenn man von den triumphalen entrées der Würdenträger absieht, die eher der politischen Ikonografie zuzurechnen sind. Man halte

sich etwa den „Heuwagen“ von Hieronymus Bosch aus dem Prado vor Augen, der die Nichtigkeit des Lebens und das Treiben der Welt zwischen der Vertreibung des Menschen aus dem Paradies und seiner Bestrafung in der Vorhölle schildert und die ewige Wiederkehr des immer Gleichen in der Welt in Form eines fatalen Kreislaufs ausmünden lässt (vgl. Bild/Zeit, II, 2004, S. 281 f.).61 Nach Sebastian Franck hat das Böse überhaupt als Prinzip der in die Zeitlichkeit verstrickten Welt zu gelten, der das Reich Gottes gegenüberstehe. Vor diesem Hintergrund besteht keine Veranlassung, Bruegels Darstellung vom „Triumph der Zeit“ verklärt zu interpretieren. Der Begleittext unter der bedrückenden Darstellung klärt uns auf  : „Die Pferde der Sonne und des Mondes ziehen die Zeit vorwärts, die getragen von den vier Jahreszeiten, den zwölf Sternkreiszeichen des sich drehenden Jahres alle Dinge hervorbringen. Was sie nicht ergreifen kann, lässt sie dem Tod zurück. Auf diese beiden [Zeit und Tod] folgt der Ruhm, einziger Überlebender aller Dinge, getragen von einem Elefanten, die Welt mit dem Ruf seiner Posaune erfül-

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lend.“62 Bemerkenswert ist die in der Darstellung und in der Inschrift angesprochene Umstellung der allegorischen Figur der „Zeit“, denn während sie in den herkömmlichen trionfi als letzte irdische Kategorie auf „Tod“ und „Ruhm“ folgt, tritt sie hier bereits vor dem „Tod“ und dem „Ruhm“ in der Abfolge der Prozession auf. Für den Ruhm bleibt nichts übrig, denn als Motto des Blattes gilt  : Tempus omnia et singula consumens („Die alles und alle Dinge verschlingende Zeit“). Auf dem klapprigen Karren sehen wir Chronos-Saturn, der gerade dabei ist, sein Kind zu verspeisen. Er sitzt auf einem Stundenglas und in der Rechten hält er die Schlange, die sich selbst in den Schwanz beißt, den Uroboros, als Zeichen der Ewigkeit. Panofsky hat die verschiedenen Varianten der Darstellung von Chronos als „Vater-Zeit“ erörtert  : mal steht Chronos für den Lauf der Monate, Jahre oder Jahrhunderte, mal tritt er als der große Zerstörer oder Erneuerer auf den Plan.63 Es ist wohl keine Frage, dass Bruegel sich der Zeit als der großen Zerstörerin zuwendet, welche dem Tod die Opfer liefert und in diesem Fall in Gestalt des Uroboros – Symbol der Ewigkeit und Sinnbild der ewigen Wiederkehr – für sich selbst in Anspruch nimmt. Die Flügel des mittelalterlichen Tempus hat Chronos nicht angelegt, er bedient sich auch nicht der Krücken oder der Sichel, aber er schlüpft in die Rolle Saturns. Die Landschaft, an welcher der Karren des Chronos vorbeizieht, ist dem ständigen Wechsel der Jahreszeiten, aber auch den Katastrophen unterworfen. Im Hintergrund rechts sehen wir ein friedliches Dorf mit einer Kirche. Hinter einem Paar im Mittelgrund erscheint der Marktplatz mit einem Maibaum, um den getanzt wird. Im Gegensatz zu den blühenden Baumkronen auf der rechten Seite sehen wir auf der linken die kahlen Äste, die sich vor dem Himmel abzeichnen. Hinter dem entlaubten Wald erscheint eine brennende Stadt und auf dem Wasser geht gerade ein Schiff unter. Die Vergänglichkeit greift auf den Vordergrund über, wo die Geräte der Wissenschaften und der Künste unter die Räder des Wagens geraten. Nichts bleibt von der Zeit verschont, auch nicht die hohen Herren, denn ein Kardinalshut, ein Zepter, ein Helm und eine Krone befinden sich als Hinweise ebenfalls dort. Der Gegensatz von kahler und blühender Vegetation, Tod und Leben, wird auch am Wagen selbst zur Schau gestellt. Bei näherem Hinsehen erkennt man, dass die Sphaira der Welt sich auf dem Wagen der Zeit befindet  : Es handelt sich um den Kosmos, denn mit der Kugel sind die Sternkreiszeichen des Zodiakus verbunden. Aus der Kugel wächst wie aus einem Ei der knorrige Baum des Lebens. In einer Astgabelung befindet sich eine mechanische Uhr mit Schlagwerk  ; die Metrik der Zeitmessung wird der Dynamik der unerbittlich ablaufenden Naturzeit entgegengestellt. An einem Ast

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hängt das Sternzeichen der Waage und vor dem Baum ist der Skorpion zu sehen. Der Waage kann hier eine zusätzliche Bedeutung zugesprochen werden, denn wahrscheinlich spielt sie auf die Seelenwaage des Jüngsten Gerichts an. Die Lebenszeit verrinnt, die Welt und mit ihr die Zeit rollen müde dem Ende zu. Noch richtet der Ruhm seine Posaune der Waage entgegen  : In gleicher Weise werden einmal die Engel das Gericht einläuten. Wir als Betrachter des Bildes, die vielen Vanitassymbole entziffernd, werden selbst dabei unbewusst von der Zeit verschlungen.

Imitatio und christlicher Stil Die Beredsamkeit der Bilder und ihre Wirkung gingen Ende der 1550er-Jahre nicht selten von einer sehr komplexen Anordnung einzelner Motive und Szenen aus, deren eigentliche Signifikanz erst nachträglich mit der Entschlüsselung und in der Anordnung der jeweiligen Komposition ihre nachträgliche Bestätigung fand. In der kleinteiligeren Grafik wird „die Moral der Geschichte“ ebenfalls erst im Nachhinein deutlich. Die innerbildliche Argumentation tritt hierbei als Gestaltungsmittel eher zurück, aber der Betrachter erhält stattdessen in der subscriptio des jeweiligen Bildes einen Leitfaden, der einen Leitfaden für die Auslegung des Bildinhalts bietet. In den großen Gemälden dieser Schaffensperiode weicht Bruegel nunmehr vom Konzept der „Wimmelbilder“ ab, indem er eine erkennbare Figur oder Szene in den Mittelpunkt stellt, um dann den Betrachter mit einer schlagenden Bildfindung zu konfrontieren. Es lag im Trend der Gegenreformation, sich einer deutlichen rhetorischen Bildsprache zu bedienen, um die religiöse Botschaft zu vermitteln. Als vornehmlicher Träger des emphatischen Ausdrucks diente dabei die meist in klassischer Tradition stehende menschliche Figur. Bei Bruegel ist die Botschaft jedoch ambivalent, doppelt codiert  : Die Figuren entsprechen nicht der klassischen Norm, sind weniger dominant und fügen sich eher in die gesamte Komposition ein, die vor allem von der Landschaft und deren Stimmung getragen wird. Diese Stilproblematik lässt sich anhand einer Gegenüberstellung der beiden „Höllenflügel“, die Frans Floris 1554 für die Kathedrale Saint Michel in Antwerpen ausgeführt hat (heute im Koninklijk Museum voor Schoone Kunsten in Antwerpen  ; Abb. 228), mit Bruegels „Engelsturz“ aus dem Jahr 1562 (heute in den Musées Royaux des Beaux-Arts de Belgique in Brüssel  ; Abb. 229) exemplifizieren.64 Bei Frans Floris, einem von der Kirche und der Öffentlichkeit hochgeschätzten Maler, geht es um die Verehrung des hl. Michael,

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der heroisch im Zentrum der Szene gegen die muskulösen Gestalten der gefallenen Engel, die nicht einmal als solche zu erkennen sind, ankämpft. Der Stil orientiert sich manieristisch überzeichnet an der klassischen Formensprache und entsprach dem offiziellen Status des Auftrags und dem Geschmack des Publikums. Von einem „christlichen Stil“, wie er den Reformatoren in den Niederlanden vorschwebte, kann hier keine Rede sein. Was nun die Figurendarstellung in Bruegels „Engelsturz“ von 1562 betrifft, hat sich der Maler dem spätgotischen Idiom von Memling angeschlossen, das uns etwa im Höllensturz im rechten Flügel des Triptychons in der Marienkirche zu Danzig vor Augen steht. In Bruegels „Engelsturz“ steht der zarte Held im Zentrum des Schlachtengetümmels und wird tatkräftig von anderen Erzengeln in weißen Gewändern, die mit ihren Schwertern auf die monströsen Figuren einschlagen, unterstützt (Abb. 229). Die vielen Monster, Kröten und Fische schließen in Bruegels Bild nahtlos an Hieronymus Bosch an, der 1504 ein großes Triptychon mit dem „Jüngsten Gericht“ im Auftrag Philipps des Schönen geschaffen hatte (heute in der Akademie in Wien). Ob Bruegels Rückgriff auf die Spätgotik bewusst erfolgte, um einem „christlichen Stil“ nach reformatorischer Vorstellung zu entsprechen, sei dahingestellt. Zumindest wich er dabei auch selbst von seiner „eigenen“, empirisch gegründeten und vereinfachten Darstellung der menschlichen Figur ab. Womöglich kam der Künstler mit diesem Werk, das eher als Solitär erscheint, dem Wunsch des Auftraggebers oder der Mentalität eines breiteren Publikums entgegen. Auf die Problematik der Stilfrage ist bereits mehrfach verwiesen worden – nicht zuletzt, als es um die imitatio der klassischen Vorbilder ging (vgl. S. 348). Müller ist in einem längeren Exkurs im Zusammenhang mit dem „Triumph der Zeit“ darauf eingegangen.65 Wie bereits angesprochen, kam auch unter den Vertretern des „klassischen Lagers“ die Frage auf, wie denn die imitatio zu verstehen sei. Nach Paolo Cortese war die direkte Anlehnung an den von Cicero gepflegten klassischen Stil der einzige Weg, um der Barbarei entgegenzuwirken. Im Gegensatz zu ihm verstanden Pietro Bembo und Erasmus die Nachahmung allgemeiner und sahen auch die Klassik nicht uneingeschränkt in allen Belangen und Kunstgattungen als allein selig machend an (so Pietro Bembo in seinen Prose della volgar lingua von 1513  ; vgl. hierzu auch S. 340).66 Erasmus hat sich in den Adagia und vor allem in seinem Ciceronianus von 1528 entschieden gegen eine übertriebene Nachahmung Ciceros gewandt und die Vorbildlichkeit der antiken Rhetorik für den christlichen Redner bestritten.67

228 Frans Floris, Höllenflügel, 1554. Koninklijk Museum voor Schoone Kunsten, Antwerpen.

229 Pieter Bruegel d. Ä., Engelsturz, 1562. Musées Royaux des Beaux-Arts, Brüssel.

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230 Pieter Bruegel d. Ä., Dulle Griet, 1561. Museum Mayer van den Bergh, Antwerpen.

Dulle Griet Zwei weitere große Untergangsvisionen mit christlicher Thematik, die den Betrachter durch das düstere Helldunkel eines Weltenbrandes in Angst und Schrecken versetzen sollten, sind ebenfalls in dieser Schaffensphase Bruegels entstanden  : die sog. „Dulle Griet“ aus dem Museum Mayer van den Bergh in Antwerpen von 1561 und der „Triumph des Todes“ von um 1562, heute im Prado in Madrid.68 Keine Frage, dass auch hier zumindest Boschs Höllenvisionen, ob „christlich“ oder nicht, bei der Bildfindung Pate gestanden haben. Im ersteren Fall steht uns eine überlebensgroße Megäre in Helm und Brustpanzer mit gezücktem Schwert, einem Sack und Körben mit allerlei Hausrat vor Augen (Abb. 230). Sie ist dabei, vor den Toren der Hölle ihr Beutegut zusammenzuraffen  ; niemand in diesem Höllenszenario scheint ihr ebenbürtig zu sein. Wie Marijnissen gezeigt hat, besaß diese Gestalt besondere Aktualität, da 1561 eine Posse mit der Dulle Griet in der Rhetorikkammer in Mechelen aufgeführt

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wurde.69 Ob eine ikonografische Affinität zwischen Spieltext und Bild vorliegt, wäre eine Untersuchung wert. Der düsteren Schilderung des Weltunterganges kann sich niemandr entziehen. Ein Wimmelbild ist die Dulle Griet insofern, als eine Vielzahl von Motiven auf die Sünden des Menschen anspielt  : Dämonen und erschreckende Monster werden wie bei Bosch zuhauf gezeigt. Der übergreifende Weltenbrand, der den Himmel in gleißendem Gelb und glühendem Rot leuchten lässt, lässt kaum einen Zweifel daran aufkommen, dass diese höllische Welt ohne Gnade dem Untergang geweiht ist. Es handelt sich um die bedrückende Perspektive einer Endzeit ohne Erlösung. H. J. Niewdorp hat diesbezüglich auf das neunte Kapitel der Apokalypse verwiesen  : Auch wenn die Menschheit auf der Erde nach dem Lösen des siebten Siegels von den Heerscharen erschlagen werde und durch Feuer, Rauch und Schwefel und Krankheiten umkomme, „hörten die Menschen nicht auf, sich niederzuwerfen vor ihren Dämonen. … Sie ließen nicht ab von Mord und Zauberei, von Unzucht und Diebstahl“ (Off. 9, 20 und 21  ; vgl. S. 94).70

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231 Pieter Bruegel d. Ä., Triumph des Todes, 1562. Prado, Madrid (Farbtafel XX).

Man könnte zunächst meinen, dass die Menschen in der Darstellung der Dulle Griet nicht mehr aus innerem Antrieb handelten, sondern sich ganz in der Gewalt der Dämonen befänden, welche sie in die Unterwelt und in die Hölle hineintreiben, während die hexenhafte Marketenderin über dieses Geschehen hinweggeht. Wenn man aber die Figuren auf der Brücke zur Hölle näher betrachtet, scheinen sie in der Tat allesamt Frauen mit weißen Kopftüchern zu sein, die plündernd aus einem Haus kommen und mit Schwert, Speer und anderen Waffen Männer und Dämonen angehen, sie fesseln, töten oder in Richtung Hölle treiben. Ausnahmslos sind es Männer, die der Unterwelt überantwortet werden. Sollte die Dulle Griet in den Frauen rächende Kräfte freigesetzt haben  ? Oder haben wir es mit einer weiblichen Gefolgschaft zu tun, die das Werk der Dulle Griet im Kleinen verrichten  ? Die höllische Frau geht auf Bruegels Darstellung des „Zorns“ in den Sieben Todsünden zurück, die in der Zeichnung aus dem Jahr 1557 (heute in den Uffizien) auf uns gekommen ist.

Triumph des Todes Zu Recht haben Roberts-Jones auf den allgemeinen Charakter der Darstellung mit dem „Triumph des Todes“ aus dem Prado hingewiesen (Abb. 231). Die Datierung auf 1562 wurde trotz gegenteiliger Meinungen von der Mehrzahl der Forscher akzeptiert. Ganz anders als in dem eher spröden, auf Interpretation allegorischer Elemente angewiesenen „Triumph der Zeit“ entwirft Bruegel hier ein gewaltiges Panorama der Welt. Es handelt sich nicht um eine Unterwelt, wie man sie hautnah im Bild der „Dulle Griet“ erlebt, sondern um den Untergang der irdischen Welt und aller Völker, die dem allgegenwärtigen Tod ausgesetzt sind. Der Tod tritt hier nicht in der herkömmlichen Form einer alles dominierenden Gestalt auf, sondern taucht allerorts als Gerippe auf, einzeln oder zu ganzen Heerscharen zusammengerückt. Die noch Lebenden auf der wüsten Erdenplatte im Vordergrund werden ohne Rücksicht auf Stand und Ansehen umgebracht oder zusammengepfercht und unter Trommelwirbeln durch eine geöffnete Luke in das Erdinnere dem Ende entgegenge-

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trieben. Erst bei näherem Hinsehen erkennt man „den Tod“ selbst, im Schnittpunkt der Bilddiagonalen auf einer ausgemergelten Mähre reitend. Er schwingt eine große Sichel und treibt noch Lebende in einen sargähnlichen Verschlag hinein. Gerippe führen das grausige Geschäft zu Ende und karren eine ganze Wagenladung mit Totenköpfen in Richtung des Verschlages, der in die Unterwelt führt. Man könnte die Szene für die Ausgeburt einer zur Übersteigerung neigenden Fantasie halten, aber leider fällt es uns heute nicht schwer, in diesem fürchterlichen Panorama die Realität der Katastrophe und den damit verbundenen Schrecken nachzuvollziehen. Das brennende Gestade und die verwüstete Küste im Mittel- und Hintergrund wurden bereits von Menschen gesäubert  ; nur einzelne Galgen, Räder und die Enthauptung eines Missetäters rechts sind als Nachdünungen des Strafgerichts zu erkennen  ; auf dem weiten Meeresspiegel brennen die ausgelieferten Schiffe und versinken. Der Vordergrund, in dem das Rot, Blau und Weiß der Gewänder dominieren, ist von den Lebenden besetzt, die nun auch dem Tod überantwortet werden  : Dem sterbenden König unten links wird von einem Gerippe ein Stundenglas vor Augen gehalten, während das ins Spiel versunkene Liebespaar rechts von einem Skelett mit einer großen Viola begleitet wird. Eine Erlösung wird in dieser Todesfuge nicht in Aussicht gestellt. Nur die Zeit schreitet unerbittlich unter dem Getöse der Glocke, die sich vor dem brennenden Himmel oben links abzeichnet, und unter Fanfarenklängen voran. Ein Gerippe auf einer weißen Mähre hält in einer Hand ein großes Stundenglas und schwingt mit der anderen eine Glocke  ; darüber werden wir oberhalb eines Prozessionskreuzes an der Mauer des runden Gebäudes links einer Uhr gewahr, deren Zeiger in Form eines Gerippes die Todesstunde kurz vor Mitternacht anzeigt.71 Niemand wird verschont. Auch bereits Verstorbene werden aus ihren Gräbern gerissen und der namenlosen, endgültigen Vernichtung zugeführt. Diese Schilderung der Auslöschung allen Lebens und auch der Vergangenheit überhaupt übersteigt in ihrer Radikalität alle vorangegangenen Endzeitvisionen, nicht zuletzt, weil die herkömmlichen Gefolgsleute des Todes im Dienst einer allgegenwärtigen realen Macht hier und jetzt agieren. Der kollektive Untergang der diesseitigen Welt ist umso bedrückender, weil sich kein Hoffnungsschimmer oder gar die Aussicht auf ein Urteil Gottes auftut. Gott ist tot, Heilige und Engel treten nicht in Erscheinung. Im Vergleich zu Bruegels „Triumph des Todes“ mutet Michelangelos „Jüngstes Gericht“ selbst in seiner terribilità wie ein Triumph der Gerechtigkeit und des Glaubens an. Bruegel schildert das Ende der Menschheit und der Welt als einen Schrecken ohne Erlösung, unerbittlich wie die strengs-

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ten Moralisten seiner Gegenwart. Mit einer Spätdatierung des Gemäldes als Vorahnung des eigenen Todes des Malers haben sich die Kunsthistoriker wohl zu Recht schwergetan.72 Woher sollte der Meister denn selbst wissen, dass seine Uhr abgelaufen war, zumal die Ausführung des großen Werkes sicher eine längere Zeit in Anspruch genommen haben dürfte  ? Wenn man hingegen an der herkömmlichen Datierung auf 1562 festhält, stellt sich die Frage, wie es dem Maler möglich war, nach solch einem Werk wieder zur Tagesordnung überzugehen  ? Allerdings sind auch fürderhin keine Sonntagsbilder zu erwarten. Die Nichtigkeit des Einzelschicksals und die Blindheit, mit der die Menschen gegenüber der Wahrheit und dem wirklich Bedeutsamen in der Welt geschlagen sind, gaben weiterhin den inhaltlichen Ton in Bruegels Schaffen an. Im gleichen Zeitraum wie „Der Triumph des Todes“ hat der Maler drei Gemälde biblischen Inhalts ausgeführt, die sich im Kunsthistorischen Museum in Wien befinden  : „Der Selbstmord Sauls“ von 1562, „Der Turmbau zu Babel“ von 1563 und „Die Kreuztragung“ von 1564.

Blindheit und Hybris Der Selbstmord Sauls Saul war der erste von Samuel gesalbte König der Israeliten. Sein Leben nahm ein tragisches Ende, denn bei der Schlacht gegen die Philister am Berg von Gilboa erlitt er mit seinem Heer eine vernichtende Niederlage (Abb. 232). Drei seiner Söhne wurden erschlagen, und als sein Waffenträger sich weigerte, ihn umzubringen, um noch Ärgeres zu vermeiden, stürzte sich der König selbst in sein Schwert und der Waffenträger mit ihm (1 Sam 31, 1–6  ; 1 Chr 10). Für den rechtgläubigen Juden war der Freitod eine Sünde, sodass der Selbstmord, von Bruegel spektakulär links im Vordergrund in Szene gesetzt, auch eine moralische Katastrophe verbildlicht. Der Maler gibt die ausführliche Schilderung des Bibeltexts genau wieder. Die übrigen Israeliten gehen als Kollektiv beim Aufeinandertreffen der Heere unter  ; wir sehen sie wie Ameisen zusammengepfercht auf dem steilen Berghang, gleichsam im Würgegriff der Topografie. Bruegel bedient sich hier des herkömmlichen Schemas der Übersichtslandschaft. Die Schlacht gelangt auf einem Felsplateau in der Mitte des Bildes zu ihrem Ende  ; etliche Reiter und Fußvolk flüchten in den dunklen Wald rechts. Im Hintergrund öffnet sich der Ausblick auf ein liebliches Flusstal, eine Stadt am Fuße eines gewaltigen Bergmassivs und eine Burg  ; eine Feuersbrunst hinterlässt am Himmel dunkle Rauchschwa-

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232 Pieter Bruegel d. Ä., Der Selbstmord Sauls, 1562. Kunsthistorisches Museum, Wien.

den  ; an einer Furt setzen winzige Figuren über den Fluss und ein Strom von Menschen verlässt die Stadt in Richtung des fernen hügeligen Landes. Dies entspricht dem Bibelbericht, in dem es heißt  : „Da die Israeliten auf der anderen Seite der Ebene und jenseits des Jordan sahen, dass Saul und seine Söhne tot waren, verließen sie ihre Städte und flohen …“ (1 Sam 31, 7.) Die zeitliche Abfolge wird im Bild gerafft, zu einer simultanen Darstellung zusammengeführt – allerdings können nur jene Betrachter des Bildes, die über den Sachverhalt aufgeklärt sind, den Zusammenhang der Massenszene und der winzigen Figuren im Hintergrund mit dem biblischen Bericht erkennen. Hier besteht in der Tat eine Verwandtschaft mit der Alexanderschlacht Altdorfers, wo in noch höherem Grad der Ablauf des Geschehens nach Zeit und Ort auf den historischen Bericht abgestimmt ist (vgl. S. 221 und Abb. 127a). Wie bei Bruegel sind dort die beiden Hauptakteure, Alexander und Darius, erst bei näherer Betrachtung im Zentrum des Getümmels auszumachen, aber im Gegensatz zum Selbstmord Sauls wird der Augenblick des Sieges von Altdorfer kosmisch überhöht. In unserem Gemälde wird uns die physische und moralische Niederlage vor Augen geführt. Das historisch Bedeutsame verkommt zu einer schändlichen, banalen Episode. Der Betrachter wird also in subversiver Weise mit der Historie konfrontiert  ; das Geschehen mutet wie ein blindes Naturereignis an, in dem das Individuum nichts zählt und auch dem

König am Ende keine Freiheit der Entscheidung bleibt. Nach Grossmann steht der Selbstmord Sauls für den bestraften Hochmut (punished pride) des Menschen.73 Stridbeck geht in seiner Deutung der Moral der Geschichte darüber hinaus, indem er auf Sebastian Franck verweist  : Unglück widerfahre demjenigen Menschen, der nicht bereit sei, sich Gott anzuvertrauen. In den Paradoxa heißt es  : „Es überwindet uns also der unwandelbare, unbewegliche Gott mit Geduld. Ja, er überwindet uns nicht, sondern wir selbst laufen uns an ihm zu Tode und werden also von uns selbst überwunden. Dieser Kampf wird vielfältig dargestellt in der Bibel  : in Saul, Goliat und in den Kindern Moab und Ammon.“74 Der Hochmut (superbia), der für den Selbstmord Sauls als exemplum dient, hat also seine Ursache im moralischen Defizit des Menschen überhaupt. Durch die selbst verschuldete Torheit des Menschen gerät die Natur zum Vollstrecker, indem sie das ganze Kollektiv ins Verderben stürzt. Das biblische Ereignis führt uns gleichnishaft die Todsünde der superbia vor Augen  : Selbstbetrug, Egoismus und Torheit sind die Folgen, die dem Wissen, der Selbsterkenntnis und auch der Willensfreiheit nach der Moralphilosophie eines Erasmus oder Sebastian Franck diametral entgegenstehen.75 Saul wird, wie Grossmann hervorhebt, auch in Dantes Divina commedia mit Luzifer und Nimrod, der den Turm von Babel erbauen ließ, gleichgestellt.76

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233 Pieter Bruegel d. Ä., Der Turmbau zu Babel, 1563. Kunsthistorisches Museum, Wien.

Der Turmbau zu Babel Die Schlüssigkeit dieser Interpretation lässt sich aus dem Umstand ermessen, dass Bruegel ein Jahr später, 1563, den „Turmbau zu Babel“ (heute im Kunsthistorischen Museum, Wien) vollendete (Abb. 233). In den Jüdischen Altertümern (Antiquitates Judaicae) des Flavius Josephus von um 94 n. Chr. wird der Turmbau mit dem König Nimrod, dem Urenkel Noahs, in Verbindung gebracht.77 In der Genesis (Gen 11, 1–9) ist nur von den Nachfahren Noahs die Rede, die aus Ziegeln eine Stadt und einen Turm mit einer Spitze bis in den Himmel erbauten, um sich „einen Namen zu machen“.78 Um die Tatkraft der Menschen einzudämmen, habe Gott die Sprachverwirrung herbeigeführt und die Beteiligten über die ganze Erde zerstreut. Der tiefere unausgesprochene Sinn der Geschichte liegt darin, dass ein hoher Grad an Zivilisation ohne Bindung an Gott die Völker nicht eint, sondern entzweit. Ausführlicher führt Josephus den Turmbau auf die Vermessenheit Nimrods zurück, der dem

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Volk eingeredet habe, nicht Gott, sondern die eigene Tüchtigkeit liege Glück und Wohlstand zugrunde. Mit dem Turmbau habe er sich an Gott rächen und einer zweiten Überflutung der Welt vorbeugen wollen. So hätten die Menschen im Ungehorsam gegen Gott den Turm gebaut, der in den Himmel strebte. In Bruegels Gemälde wie auch in spätmittelalterlichen Darstellungen steht der König als Erbauer auf dem Plateau links im Vordergrund. Einige Bauleute knien vor ihm nieder, andere sind mit dem Behauen der Steine beschäftigt, die als Verkleidung der Wände dienen sollten. Hier wäre auf Fouquets Illustration von um 1470 zu den Jüdischen Altertümern des Flavius Josephus zu verweisen  : In der Darstellung der „Einnahme Jerusalems durch Nebukadnezar“ sehen wir die Bauleute ebenfalls vor dem salomonischen Tempel, im gotischen Stil erbaut, mit dem Behauen der Steine beschäftigt.79 Recht genau ist Bruegel dem Bericht gefolgt, in dem von gebrannten Ziegeln die Rede ist. So sehen wir auf dem Feld vor dem Turm solche aufgestapelt sowie im inneren Kern

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des halb fertigen Turmes aufgemauert. Als ein Vorbild für die mehrschalige Konstruktion hat man auf Hieronymus Cocks Ansicht des Kolosseum aus seiner Stichfolge „Römische Ruinen“ von 1551 verwiesen, die Bruegel natürlich vertraut war  ; zum anderen werden wir im Turm selbst einiger Felsen gewahr, die dem Gebäude Stabilität verleihen. Bereits Patinir hatte in manchen seiner fantastischen Landschaften eine ähnliche Vermengung von Felsformationen und Architektur vorgenommen.80 Der Gedanke, die Natur selbst als Künstler und Baumeister zu apostrophieren, war im Zeitalter des Manierismus ein beliebter Topos, der seine praktische Umsetzung in Palästen und Grotten fand. Im Gemälde ragt der gewaltige Baukörper bis in den Himmel. Links wird eine Stadt aus der Vogelperspektive sichtbar, dahinter die weite Ebene einer flämischen Flachlandschaft. Rechts blicken wir auf den Hafen an einer Flussmündung, den topografischen Gegebenheiten Antwerpens entsprechend, und wenn der Blick aus dem Schlagschatten des Turms in die Ferne schweift, öffnet sich jenseits der Gestade der Blick auf das offene Meer. Wurde die Historie im „Selbstmord Sauls“ mit dem zeitgenössischen Typus der zusammengesetzten Übersichtslandschaft kombiniert, handelt es sich hier eindeutig um die dem Betrachter vertraute Topografie der flandrischen Küste. Der moralisierende Hintergrund des wahnwitzigen Unterfangens wird gleichsam als Fußnote von der Gruppe um Nimrud geliefert, während das Bauvorhaben in actu unbeirrt vorangetrieben wird. Unzählige ameisenhafte Figuren sind mithilfe von glaubhaften Kränen damit beschäftigt, den spiralförmigen Turm gen Himmel voranzutreiben. Das oberste Stockwerk hat bereits die Wolken erreicht, aber der Bau ist bei Weitem nicht vollendet, das Ende nicht abzusehen  ; unfertig wird er auch bleiben, da Gott mittels Sprachverwirrung und Zwietracht das Vorhaben scheitern lassen wird.81 Die zweite, kleinere Version des „Turmbaus zu Babel“ aus dem Museum Boijmans Van Beuningen in Rotterdam, die wohl in der Folgezeit entstand (von Roberts-Jones gar auf 1568 datiert), zeigt den Turm in einem fortgeschritteneren Stadium (Abb. 234). Der König ist verschwunden und mit ihm die vielen technischen Details. Überhaupt ist der Maßstab des Bildes kleiner, die Figuren nur als winzige schwarze Punkte zu erkennen, die Schiffe verkleinert und die Draufsicht verstärkt und der Horizont auf die halbe Höhe herabgesenkt, sodass die Dynamik der Spiralform noch markanter hervortritt. Infolge der Vertiefung der Schattenseite gewinnt der Baukörper an Plastizität und erscheint stärker isoliert, als surrealer Fremdkörper in der heimischen Landschaft. Es ist, als ob das Bauvorhaben nun zum Stillstand gekommen sei  : ein übermächtiger Turm, dessen gigantische Maße erst an-

234 Pieter Bruegel d. Ä., Der Turmbau zu Babel, nach 1564. Museum Boymans van Beuningen, Rotterdam.

hand der verschwindend kleinen Figuren deutlich werden. Er könnte als Triumph der Technik gelten, wäre da nicht die Sinnlosigkeit des ganzen Unterfangens  : Die Eigenliebe, der Selbstbetrug und die Zwietracht werden bald alle Bestrebungen der Gesellschaft zunichtemachen. In der ersten Version wird die Erlebniszeit in hohem Maße von der Geschäftigkeit und der technischen Bewältigung des Bauvorhabens in Anspruch genommen  ; in dem zweiten, höheren und fast zu Ende geführten Turm, der oben bereits verlassen zu sein scheint, steht uns ein steinernes Mahnmal der vanitas, eine rückwärtsgewandte, leere Utopie vor Augen, die weder dem Individuum noch der Gesellschaft einen Weg in die Zukunft weist – ein Menetekel, das für die Fortschrittsgläubigen auch unserer Zeit seine Aktualität behalten hat.

Die Kreuztragung Mit der „Kreuztragung Christi“ (oder dem Aufstieg zum Kalvarienberg) von 1564 (heute im Kunsthistorischen Museum in Wien) schließt die Folge der biblischen Bilder (Abb. 235). Auch bei diesem neutestamentlichen Sujet darf man erwarten, dass sich dahinter eine moralische Botschaft im reformatorischen Geist verbirgt. Dies ist auch der Fall, nur hat der Maler nach einer neuen Lösung gesucht, um sie den Betrachtern nahezubringen  ; dabei kommt dem Zeitaspekt eine bedeutsame Rolle zu. Die Anlage der Komposition ist nicht neu. Bereits 1530– 1535 hatte Jan van Amstel den „Aufstieg zum Kalvarienberg“ (heute im Louvre) in ähnlicher Weise geschildert  : Von

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einer umwallten Stadt (Jerusalem) im Hintergrund links gelangt ein Zug mit Verurteilten auf eine Hochebene im Vordergrund. In der Mittelachse des Bildes befindet sich Christus unter dem Kreuz. Die Prozession setzt sich nach rechts in die Tiefe fort, wo sich die Richtstätte befindet. Bruegel hat die Szene insofern vereinfacht, als er den eigentlichen Zug der Figuren verkürzt und die Reiter in ihren zinnoberfarbenen langen Röcken über das breite, leicht schräg gestellte Plateau verteilt hat, das so an Prägnanz gewinnt und den gelbbraunen Grund für die farbig markanten Figuren bildet. Der souveräne Umgang mit der Perspektive erlaubt es dem Künstler, die Protagonisten in vielfältigen Variationen aus der leichten Draufsicht, einmal schräg von vorne, einmal von der Seite her, gelegentlich mit einer Drehung des Oberkörpers und vielfach in Rückenansicht wiederzugeben. Diese vielen Spielarten bewegter Figuren, nicht selten von der Vorwärtsbewegung abgelenkt und in unterschiedliche Händel miteinander verwickelt, erwecken den Eindruck des Natürlichen. Die Diversifikation führt zu einer Verlangsamung des Zuges, der sich zäh fließend nach rechts auf den Hintergrund zubewegt. Die Reiter in ihren roten langen Röcken spielen auf die wallonischen Gendarmen, de rode bende oder de roode rocx, an, die im Dienst der Spanier in den Niederlanden Angst und Schrecken verbreiteten. In der Historie der „Kreuztragung“ sind sie als verlängerter Arm der römischen Exekutive entsprechend schlecht konnotiert (auch in dem etwas umstrittenen Gemälde mit dem „Bethlehemitischen Kindermord“ in Hampton Court leiten die berittenen Rotröcke den Überfall). Um diese optisch lockere rote Achse sind zahlreiche Gruppen und Einzelfiguren verteilt, alle in Bewegung  : aus der Tiefe kommend, laufend, und miteinander redend, dann wieder sich dem Zug anschließend, der sich auf die Richtstätte, die sich im Hintergrund rechts oben als verkürzter, dunkler Ring abzeichnet, zubewegt  ; erst aus der Nahsicht stellt dieser sich als eine Ansammlung von Schaulustigen heraus, die das kommende Spektakel an der Richtstätte erwarten. Die Figuren im hinteren Bereich des Feldes, vielfach Reiter auf buckelnden Pferden, tragen zur Belebung der Szene bei. Der in satten Erdfarben gehaltene Boden und der üppige Baumwuchs im Hintergrund neben dem aufragenden Felsen im Mittelgrund sind dunkler gehalten. Der Boden lichtet sich erst zu einem hellen Ocker auf der Anhöhe der Richtstätte. Er erstrahlt dort umso heller, als der bewölkte Himmel darüber sich verdüstert, während er auf der linken Seite des Gemäldes noch in hellen Weißtönen über dem blauen Dunst der Stadt erstrahlt. Ein orientalisch anmutender Zentralbau mit einer blauen Zwiebelkuppel dürfte auf den salomonischen Tempel (eigentlich den Felsendom) anspielen. Erhard Reuwich hat den Bau in Bern-

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hard Breydenbachs Reise in das Heilige Land (Mainz 1486) abgebildet  ; wir finden ihn auch in der Schedel’schen Weltchronik von 1493 (fol. 48v) oder in der Cosmographia universalis Sebastian Münsters (Basel 1550). Bruegel dürfte einige dieser Holzschnittillustrationen gekannt haben. 82 Dennoch wurde das Geschehen zeitlich und räumlich aus der Vergangenheit in die Gegenwart verlagert und so der Bezug zum Betrachter verstärkt, der sich auf das bunte Treiben im Gemälde einen Reim zu machen hatte. Zu Recht hat Müller (mit Verweis auf Falkenberg) die fundamentale Rolle des Zuschauers betont, der erst aus der Beobachtung des Geschehens und der damit verbundenen Reflexion einen tieferen Bildsinn herzustellen vermag.82 In der Tat wird das Betrachten bzw. die Erlebniszeit selbst thematisiert  : Der Bildsinn wächst über die reine Ikonografie hinaus, indem der Inhalt auf das moralische Defizit des Menschen Bezug nimmt, auf die Blindheit und Torheit der Welt, um zugleich dem sinnierenden Betrachter einen Weg aus seiner eigenen misslichen Lage aufzuzeigen. Um dies zu bewerkstelligen, spielt nicht nur die Ikonografie, sondern vor allem auch die formale Gestaltung des Gemäldes, die Ikonik, eine maßgebliche Rolle. Vier auffällige Haltepunkte tragen zur Strukturierung der „Kreuztragung“ bei, die ansonsten von dem übergreifenden Bewegungsduktus der über die Bodenplatte verstreuten Einzelfiguren und Gruppen beherrscht wird. Optisch stützend steht vom Bildrand überschnitten links ein belaubter Baum  ; an der rechten Seite befindet sich ein kahler Stamm mit einem Rad. Das Dasein des Menschen spielt sich zwischen Geburt und Tod ab – eine kurz bemessene Zeit, deren Sinn vorerst nicht erkennbar ist. Das Folterwerkzeug verheißt kein gutes Ende, denn aus der Sündhaftigkeit des Menschen erwachsen die bösen Taten, die mit Strafe und Tod bereits im irdischen Dasein abgegolten werden. Ob diese Strafe zu Recht verhängt wird, ist wie alles im Menschenleben ungewiss, denn auch ein Urteilsspruch kann aus Blindheit oder aus niederen Beweggründen erfolgen. Dies wird sogleich aus der formalen Äquivalenz des Rads mit der zeichenhaften Eintragung der Richtstätte ersichtlich. Dort hat sich bereits eine Menschenmenge eingefunden, um des grausigen Schauspiels, wie es damals üblich war, in freudiger Erwartung zu harren. Die Menge wird durch eine perspektivische Verkürzung auf einen dunklen Ring reduziert, dessen Deutung nur aus der Kenntnis über den Ablauf der Kreuztragung möglich ist. Auch die Kinder, die auf der Bodenplatte in großer Zahl geschildert werden, partizipieren bereits lustvoll am Geschehen. Die Frage nach Recht und Unrecht, Unwissenheit und Klarsicht stellt sich den Beteiligten nicht  ; in ihrer Blindheit haben sie sich bereits zu Helfershelfer

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235 Pieter Bruegel d. Ä., Die Kreuztragung, 1564. Kunsthistorisches Museum, Wien (Farbtafel XXI).

e­ iner der größten Schandtaten der Menschheitsgeschichte gemacht. Nichts kann die bevorstehende Vollstreckung des Urteils aufhalten, das mit dem Aufstieg zum Kalvarienberg bereits seinen verhängnisvollen Lauf genommen hat. Diese Spannung zwischen dem Momentanen, das sich in den vielen, oft nebensächlichen Einzelszenen niederschlägt, und dem unerbittlichen Ablauf der Kreuztragung selbst wird in der Darstellung der metaphorischen Mühle auf dem aufragenden Felsen sinnfällig  ; sie entbehrt eigentlich einer Funktion – ihre Bedeutung dürfte nur sinnbildlicher Natur sein.83 In der späteren Emblematik steht die Mühle als Sinnbild für die Nichtigkeit des menschlichen Treibens, als Ausdruck der Eitelkeit und der Gier, die auf dem höchsten Punkt der Welt ihren Wohnsitz sucht und Tag und Nacht mahlen lässt, um mithilfe des Windes und zur Unzeit ein Vermögen anzuhäufen.84 Ohne hier einen direkten kausalen Bezug das Wort zu reden, besteht wohl kein Zweifel darüber, dass die moralische Auslegung sehr wohl der Anschauung der früheren Reformer entsprach. Darüber hinaus

könnte die Mühle aus dem Blickwinkel der Zeitlichkeit als ein Bild der ständigen Wiederkehr des immer Gleichen, ja als „Zeit“ schlechthin verstanden werden. Die Mühle dreht sich beständig und bewegt sich doch nicht, sie begleitet wie ein sichtbar gemachtes Naturgesetz den Gang der Dinge, blind und abgehoben vom Geschick des Einzelnen und der Menschheit überhaupt. In unterschiedlicher Form hat Bruegel immer wieder diese Dichotomie des Daseins in einer mechanistischen Welt beschworen, aus der es kein Entrinnen gibt, es sei denn, der Mensch gelangt zur Selbsterkenntnis und einer grundlegenden inneren Erneuerung. Bereits in den alttestamentlichen Historienbildern, den Babeltürmen oder dem „Selbstmord Sauls““, geraten das eigentliche Thema und die Handlung zu einer ephemer erscheinenden Episode auf der Bühne des Welttheaters. Auch in der „Kreuztragung“ werden die Relativität des Ereignisses und das Unvermögen des Menschen, das wirklich Bedeutsame zu erkennen, thematisiert. Im Schnittpunkt der Bilddiagonalen werden wir wie bei den früheren Darstellungen

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eines Herri met de Bles oder Jan van Amstel Christi gewahr  : In einen langen hellblauen Mantel gekleidet ist er unter der Last des Kreuzes eingesunken. Vor ihm befindet sich der Einspänner mit den beiden Missetätern als Blickfang. In der Verlängerung des Kreuzstammes und in der Blickrichtung eines rückwärtsgewandten Reiters öffnet sich eine Schneise in der Zuschauermenge, die linker Hand zum Intermezzo mit Simon von Kyrene führt  : Dieser sträubt sich, wird aber von den Soldaten gewaltsam bedrängt, das Kreuz auf sich zu nehmen. Indessen versucht seine Frau, ihren Mann zurückzuhalten. Sie ist mit einem Rosenkranz und einem Kreuz versehen, aber diese Devotionalien, die auf eine äußerliche imitatio abzielen, halten sie nicht davon ab, die Hilfe für den Heiland nach Möglichkeit zu vereiteln. Sie bietet ein Bild der „falschen Frömmigkeit“, die das Evangelium nur am Hals statt im Herzen trägt.85 Die Devotionalien schützen auch nicht vor Blindheit dem eigentlichen Geschehen gegenüber, wie Falkenberg betont.86 An dieser Episode wird auch der freie Umgang Bruegels mit den historischen Zeiten ersichtlich. Der Vordergrund der rechten Bildhälfte wird von einer Trauergruppe beherrscht, die sich neben einem Felsen, auf dem in Anspielung auf Golgatha ein Stierschädel und Knochen liegen, zusammengefunden hat  : Maria, Johannes, Maria Magdalena, Veronika und andere Frauen heben sich im Habitus und in ihrer Gruppierung von den übrigen Figuren der Darstellung ab. Hier tritt ein formaler Topos zutage, wie wir ihn aus dem Schaffen eines Rogier van der Weyden oder Hans Memling, aber auch von den sog. Antwerpener Manieristen (Cornelius Engebrechtszen u. a.) her kennen. Stilempfinden und damit verbundenes historisch gebundenes Zeitverständnis konnten auch in der frühen Neuzeit beim kundigen Betrachter vorausgesetzt werden. So wird die Einheit von Zeit und Raum bewusst durchbrochen und sieht sich der Betrachter angehalten, diesen Verstoß gegen die Stileinheit und das decorum rational zu erklären. Johannes, der die in Trauer zusammengesunkene Muttergottes stützt, und die aufwendig, im Stil der 1520er-Jahre herausgeputzte Maria Magdalena sowie eine weitere Trauernde rechts, die ihre compassio bekundet, nehmen als Gruppe das Geschehen der Kreuzigung vorweg, dem sie in der vorliegenden Form als Gruppe am Fuße des Kreuzes zugehörig sind  ; sie repräsentieren darüber hinaus in ihrer Formelhaftigkeit die Institution der imitatio Christi oder der imitatio pietatis, die in Form der devotio moderna in den Niederlanden schon lange Tradition hatte und den Reformatoren den Boden bereitet hat (vgl. Bild/Zeit, II, 2004, S. 34–62).87 Die Versenkung in das Wirken und das Leiden Christi sollte fortlaufend der Verinnerlichung des Geschehens, der echten Läuterung und

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Annäherung des Gläubigen dienlich sein. Müller ist es gelungen, die Trauergruppe in einen Sinnzusammenhang mit der reformatorischen Lehre zu bringen, wonach die Äußerlichkeit der Devotionalien im Grunde nichts zum Geheimnis des Kreuzes beiträgt, das der Gläubige in sich trage. Stridbeck hat darauf verwiesen, dass Simons obstinate Frau einen Rosenkranz mit Kreuz besitzt, der sie aber nicht in die Lage versetzt, den Heiland zu erkennen oder ihm Hilfe zukommen zu lassen. Keiner in der geschäftigen Menge, die Trauernden im Vordergrund ausgenommen, die einer anderen Zeitschicht angehören, ist bereit, dem Beispiel des historischen Christus zu folgen. Für die Nachwelt, die von den trauernden Frauen repräsentiert wird, und natürlich auch für die Betrachter des Gemäldes gilt das Wort Sebastian Francks, „dass wir uns ernstlich beschließen, seinem Vorbilde zu folgen, sein Leben zu leben“.88 Nur auf den „inneren Christus“, auf das von Erasmus im Handbüchlein angesprochene „unsichtbare Kreuz“ („das Geheimnis des Kreuzes in dir“), komme es an  ; noch schärfer formuliert es Franck in seinen Paradoxa 133 und 134  : „Christus außerhalb von uns bringt keinen Nutzen“.89 Müller ist der Meinung, man solle sich das fehlende unsichtbare Kreuz buchstäblich zur Vervollständigung der Trauergruppe vorstellen. Ob der heutige Betrachter bereit ist, dieser Aufforderung Folge zu leisten, bleibt fraglich. Sicher ist, dass die Trauergruppe als devotionales tableau dem historischen Geschehen, der „Kreuztragung“, den Rücken kehrt und innerlich auf das im Bild noch nicht vollbrachte Opfer, auf den Tod Christi am Kreuz, und die darauf folgende Trauer ausgerichtet bleibt. Die Kreuzigung hat eigentlich, zumindest was die Trauergruppe in ihrer Ausformung betrifft, bereits stattgefunden  : Es ist, als würde uns die Vergangenheit aus der Zukunft entgegenkommen und als hätte die Zukunft immer schon stattgefunden. Dieser schwindelerregende Gedanke einer ewigen Wiederkehr unter dem Vorzeichen der Passion findet sich im 106. Paradoxon Francks, das sich auf den Aufstieg zum Kalvarienberg übertragen lässt  : „Es treibt ein Tag den anderen, die Welt ist rund und gehen alle Dinge in einem Zirkel wie die Sonne, nichts Bleibendes oder Stetes ist auf Erden. Darum spricht man  : omnium rerum vicissitudo  ; was geschehen ist, ist nimmer, wird aber wieder. Darum muß die ganze Bibel für und für wiederholt und in einem Wesen gehen. … Es hat seine Pharaone, Pilatos, Pharisäer, Schriftgelehrte alle Welt, die Christum für und für in ihnen selbst, obwohl nicht äußerlich nach dem Buchstaben und der Historie, kreuzigen. Es geht in und innerlich alles daher, und wenn es sich begäbe, dass Christus äußerlich wiederkäme, wie er noch täglich in seinen Gliedern kommt und leidet, so kreuzigen wir ihn im-

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236 Pieter Bruegel d. Ä., Die Bekehrung des Paulus, 1567. Kunsthistorisches Museum, Wien.

merzu wieder, unserer Väter Maß an ihm erfüllend (Mt. 23). Welt ist alleweg Welt und muß sich die Kugel und der Klotz der Welt immerzu herumwälzen, damit was heute gewesen ist, morgen nimmer sei und wiederkomme.“90 Müller rückt am Ende seiner Interpretation der „Kreuztragung“ die zeitliche Problematik der Sünde und der Erlösung in den Fokus der Betrachtung  : „In Bruegels unerlöster Welt zeichnet sich die Vergangenheit dadurch aus, dass sie in der Zukunft stattfindet, und die Zukunft wiederum dadurch, dass sie immer schon in der Vergangenheit stattgefunden hat, wobei sich Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft als finite Größen auflösen. Die noch unerlöste Welt ist ihrer Gegenwart beraubt und stellt eine rasende, sich selbst beschleunigende Allegorie dar, die immer lauter von der Abwesenheit Gottes spricht.“91 Allerdings steht dem Betrachter hier zumindest die Trauergruppe als ein Vorbild echter Einkehr und compassio vor Augen. Dem ewigen Kreislauf des irdischen Daseins in der emblematischen Figur der Mühle bietet der „innere Christus“ dauerhaft als Weg der Erlösung Einhalt – die echte Nachfolge verbleibt als Option. In der

Tat scheint sich Bruegel diesbezüglich selbst als Figur in das Bild eingebracht zu haben, denn er steht unterhalb des Todesstammes rechts unten im weißen Arbeitskittel, vom Bildrand überschnitten, und betrachtet mit gefalteten Händen das Schauspiel des Aufstiegs zum Kalvarienberg. Ihm zur Seite befinden sich zwei Beginen, die händeringend ihrer Verzweiflung Ausdruck verleihen. Eine weitere hochgestellte Bürgerin verdeckt ihr Antlitz mit einem Tuch – womöglich handelt es sich um die hl. Veronika. Die eigentliche Szene mit dem Schweißtuch wurde ausgelassen, vielleicht um nicht das „äußerliche Bild“ des historischen Christus thematisieren zu müssen.92 Die kleine Schar der Gläubigen, Erkennenden wendet sich vom weltlichen Treiben, dem historischen Geschehen ab. Dies gilt auch für die kniende, betende alte Frau mit dem Kind hinter Maria Magdalena. Wie bereits erwähnt, kommt auch der Natur in einer für Bruegel untypischen Weise eine aktive Rolle im Trauerspiel zu. Der begrünte Baum links und der kahle Stamm mit dem Rad rechts stecken als Rahmen den Anfang und das Ende des irdischen Daseins ab  ; der Himmel verdüstert sich bereits

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über der Richtstätte  ; an den beiden Ecken im Vordergrund sind Pflanzen mit emblematischem Charakter angebracht  : links eine Lilie als Sinnbild der Reinheit und des Glaubens unter einem stacheligen Gewächs, das Schmerz und Reue repräsentiert  ; die Distel rechts steht womöglich für Trauer und Kummer.93

Die Bekehrung des Paulus 1567, drei Jahre nach der Kreuztragung, hat sich Bruegel mit seiner „Bekehrung des Paulus“ (eig. Saulus, heute im Kunsthistorischen Museum in Wien) erneut mit der neutestamentlichen Geschichte befasst (Abb. 236). Wir sehen in diesem Bild eine Marschkolonne im unwegsamen Gelände eines steilen Berghangs über eine enge Schlucht auf eine Passhöhe gelangen. Dominant ist der elegante Reiter in Rückenansicht in gelbem Mantel und rotem Hut mit einem Federbusch, der auf einem Schimmel sitzt. Formal schließt er den Bildraum zum Betrachter hin ab und vollzieht dabei auch den Schwenk der Truppe, die auf dem Plateau anlangt, um dann weiter in die Tiefe zu ziehen. Ob wir es mit einer Anspielung auf die Gegenwart zu tun haben, bleibt eine Hypothese, aber immerhin hatte Herzog Alba im selben Jahr mit seinen Truppen die Savoyer Alpen überquert, um in die Niederlande einzufallen. Eigentümlicherweise ist Gustav Glück der Meinung, dass Paulus nichts mit Alba zu tun haben könne, geht aber nicht auf den dominanten Reiter im Vordergrund ein, dessen Pferd die Namensgleichheit ins Gedächtnis ruft. Auf die Hoffnung eines Sinneswandels des Tyrannen hat Bruegel sicher nicht gesetzt – im Gegenteil erscheint der Stutzer auf dem Schimmel als ein Inbild der Hoffart und zugleich als ein willfähriges Werkzeug irdischer Macht. Ähnlich wie bei der „Kreuztragung“ nimmt die verrinnende Zeit im mühsamen Zug der Marschkolonne konkrete Gestalt an. Dass es sich dabei um einen Tugendpfad handelt, lässt sich ausschließen, wohl aber mag der steile und steinige Weg ein Bild des Lebens und der Mühsal, die zu nichts führt, abgeben. Bruegel hat es hier verstanden, seine Souveränität als Landschaftsmaler einzusetzen und den von ihm geschaffenen Typus der Übersichtslandschaft noch dramatisch zu steigern. Die enge Verzahnung von Mensch und Natur, oder besser  : der Mensch im Würgegriff der Natur, wie er bereits im „Selbstmord Sauls“ thematisiert wurde, wird auch hier sinnfällig. Das wilde Hochgebirge bildet die Bühne für das dramatische Geschehen, wie es von Klaus Demus beschrieben wird  : „Das Bild ist somit – und das allein erklärt die Wahl des Alpenlokals – die symbolische Veranschaulichung

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des menschlichen Sichversteigens, Sichverrannthabens ins Unmögliche und Sinnlose, es ist eine Metapher der Krise und Peripetie  : Conversio, die Umkehr.“94 Noch deutlicher und bedeutungsschwerer als in der Kreuztragung wird das in der Präsenzzeit ablaufende Kontinuum der Bewegung von einem schicksalhaften Ereignis unterbrochen  : „Unterwegs aber, als er sich bereits Damaskus näherte, geschah es, dass ihn plötzlich ein Licht vom Himmel umstrahlte. Er stürzte zu Boden und hörte, wie eine Stimme zu ihm sagte  : Saul, Saul, warum verfolgst du mich  ? Er antwortete  : Wer bist du, Herr  ? Dieser sagte  : Ich bin Jesus, den du verfolgst.“95 In der „Kreuztragung“ ging es um den fortschreitenden Leidensweg Christi sowie um die wahrhaftige Nachfolge im Glauben  ; hier handelt es sich um den plötzlichen Umschlag der Handlung infolge göttlicher Intervention. Im Gegensatz zu den herkömmlichen Darstellungen des dramatischen Falls und der plötzlichen Erleuchtung, wie wir sie etwa vom Fresko Michelangelos in der Cappella Paolina im Vatikan her kennen, wo die Umgebung ausgeblendet wird und die ganze Aufmerksamkeit dem Gestürzten gilt, wird dieser in Bruegels Darstellung zu einer Randfigur degradiert, zu einem „Störfaktor“ im Marschzug der Kolonne. Nur der Bibelkundige ist überhaupt in der Lage, den vom Pferd gestürzten Saulus im Mittelgrund zu erkennen. Und nur aus der Kenntnis der zeithistorischen Situation heraus bietet sich eine mögliche Erklärung für die Gestaltung des anonymen Reiters im vorderen Bildfeld. Die Ikonik selbst ist es, die dem Betrachter mithilfe der (sekundären) Erinnerung die Moral der Geschichte nahe bringt. Der buchstäblich Aufgeklärte erkennt im ephemeren Augenblick des Geschehens ein bedeutsames heilsgeschichtliches Ereignis. Die Figur des Paulus ist wie wenige geeignet, uns die Lehre von der Erleuchtung und der Nachfolge des „inneren Christus“ vor Augen zu führen. Dementsprechend beruft sich Erasmus in seinem Handbüchlein immer wieder auf den Apostel als Verkünder und Vorbild eines christlichen Streiters. Die Berufung und innere Umkehr des Saulus erfolgt durch göttliche Intervention, ein übernatürliches Ereignis, das die Gesetzmäßigkeit der irdischen Zeit durchbricht und den normalen Gang der Dinge für einen Augenblick außer Kraft setzt. Die Auserwähltheit des Paulus wird im Bild durch das Hellblau seines Mantels, das den Bezug zum Himmlischen herstellt, angedeutet (auch das Kleid Christi wurde mit dieser Farbe entgegen dem biblischen Bericht in der Kreuztragung versehen). Auf die zentrale Stellung von Paulus aus reformatorischer Sicht ist im Zusammenhang mit Holbeins Reformationsbild in Edinburgh eingegangen worden (siehe S. 328 f.).

Blindheit und Hybris

237 Pieter Bruegel d. Ä., Bußpredigt Johannes’, 1566. Szépmüvészeti Múzeum, Budapest.

Die Bußpredigt des Johannes In einem weiteren Gemälde, nämlich der „Bußpredigt des Johannes“ aus dem Jahr 1566 (Szepmüveszeti Museum, Budapest), hat sich der Maler einem sehr beliebten Thema zugewandt (Abb. 237). Die Tradition reicht bis Herri met de Bles zurück, dessen Fassung sich im Kunsthistorischen Museum in Wien befindet.96 Auch Pieter Coecke van Aelst, der ehemalige Lehrer Bruegels, hatte sich dem Sujet gewidmet, dessen zeithistorischer Bezug von Gustav Glück betont wird. Die reformierten Gemeinden in den Niederlanden kamen außerhalb der Städte unter freiem Himmel zusammen, um dort Predigten zu lauschen, die nicht nur die Sündhaftigkeit des Menschen und der Welt, sondern auch die Macht der Kirche mit ihren Auswüchsen und Dogmen anprangerten.97 Trug die Redekunst im Zeitalter der Reform und Gegenreform maßgeblich dazu bei, mittels Bildinhalten und klassischer Bildformen sowie deiktischer Gestik Überzeugungsarbeit zu leisten, haben wir es hier mit einem subversiven Gegenstück zur rhetorischen Emphase zu tun. In einer Lichtung im Wald hat sich eine dicht gedrängte Menschenmenge aus allen Schichten der Bevölkerung, darunter auch Humanisten und Mönche, zusammengefunden, um den Worten des Täufers zu lauschen. Dieser steht im braunen

Büßergewand im Kreis der Zuhörer, die vorwiegend in eine zeitgenössische dunkle Tracht gekleidet sind. Die Figuren im Vordergrund sind fast allesamt aus der Rückenansicht wiedergegeben, sodass der Betrachter selbst sich in der hintersten Reihe der Zuhörer wähnt. Sie ziehen seine Aufmerksamkeit zunächst auf sich und lenken vom eigentlichen Geschehen ab. Eine porträtähnliche Figur – für Bruegel eher ungewöhnlich und von Gustav Glück hypothetisch mit dem Nürnberger Kaufmann Hans Franckert identifiziert, der sich nach Mander mit dem Künstler heimlich unter das Volk gemischt hat – lässt sich von einem auffallenden Zigeuner (?) aus der Hand lesen, d. h. die Zukunft weissagen. Das Handlesen war eigentlich bei allen Konfessionen verpönt und zeugt hier von der Gleichgültigkeit gegenüber der Predigt. Über Johannes heißt es im Lukasevangelium (Lk 3, 7–8)  : „Das Volk zog in Scharen zu ihm hinaus, um sich von ihm taufen zu lassen. Er sagte zu ihnen  : Ihr Schlangenbrut, wer hat euch denn gelehrt, dass ihr dem kommenden Gericht entrinnen könnt  ? Bringt Früchte hervor, die eure Umkehr zeigen.“ Die Ermahnung zu Einkehr und Umkehr könnte nicht deutlicher ausfallen, wie denn die conversio ein Dauerthema der Reformatoren gewesen ist. Die Rechte zum Segen erhoben, mit der Linken auf die Erde zeigend tritt der Täufer als Mittler zwischen Himmel

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Pieter Bruegel der Ältere

die Gemeinschaft und Gewähr zukünftiger Erlösung. Wenn auch praktisch nur in der Imagination des Betrachters vorhanden, der sich der Schar anschließt, um der Bußpredigt des Täufers zu lauschen, wird dieser wie die Protagonisten im Bild innerlich auf den Wandel vorbereitet, der sich in Wort und Tat unter freiem Himmel vollzieht, wie es zu Bruegels Zeiten unter den Reformern Brauch war.

Die Anbetung der Hl. Drei Könige

238 Pieter Bruegel d. Ä., Die Anbetung der Hl. Drei Könige, 1564. National Gallery, London.

und Erde auf. Rechts von ihm steht in der Menge ein Mann in hellblauem Gewand mit gekreuzten Armen. Man wird nicht fehlgehen, in ihm den kommenden Messias zu sehen, der von Johannes angekündigt wird. Im folgenden Abschnitt des Evangeliums wird auch über Jesus berichtet, der sich mit dem ganzen Volk taufen ließ (Lk 3, 21–22). Rechts bietet sich dem Blick nach bewährtem Muster eine liebliche Flusslandschaft mit einer Stadt und einer Kirche im Hintergrund dar. Am Ufer der Flussbiegung sehen wir mikroskopisch kleine weiße Punkte und im Wasser zwei schwarze. Es dürfte sich um den Vollzug der Taufe, der im Bibeltext angesprochen wird, handeln. Diese Vermutung stützt sich vornehmlich auf den Textzusammenhang und der Betrachter sieht sich erst nachträglich durch die Ausdeutung der mikroskopischen Zeichen bestätigt. Die projektive Fähigkeit des Betrachters wird durch die Anlage des Bildes extrem gefordert. Die Prophetie und ihre Erfüllung zeigen sich durch die Zusammenschau der beiden Bildteile und Zeitebenen  : Zum einen sieht man die Bußpredigt und die Ankündigung des Messias, der bereits in persona zugegen ist, zum anderen die Bewahrheitung der Messiasprophetie durch die Taufe, das Zeichen der Umkehr, Eingliederung in

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Bereits 1555–1557 hat Bruegel ein großes, wahrscheinlich für den Export bestimmtes Gemälde in Tempera mit der „Anbetung der Hl. drei Könige“ (heute in den Musées Royaux des Beaux-Arts, Brüssel) geschaffen. Auch in unfertigem Zustand weist es ein großes Personal auf, das aus der Nahsicht gezeigt wird und sich nach dem Vorbild Boschs um den verfallenen Stall schart, der aus der Draufsicht geschildert wird. Den niederländischen, aber gelegentlich auch jüdischen Akteuren wurden exotische Tiere wie Dromedar und Elefant beigefügt, um dem fremdländischen biblischen Ambiente Genüge zu tun. 1564 folgte eine hochformatige Darstellung der „Anbetung der Hl. Drei Könige“ (heute in der National Gallery, London  ; Abb. 238). Alles Beiwerk wurde eliminiert. Der Betrachter rückt in die unmittelbare Nähe der Figuren  ; nur ein Ausschnitt des Bodens bleibt im Vordergrund ausgespart, sodass der optische Zugang zum hl. Paar, Maria mit dem Kind und Joseph dahinter, dem ein Mann etwas ins Ohr flüstert, gewährleistet bleibt. Dieser Versuch, den Betrachter stärker in das Geschehen mit einzubeziehen, ist von Stridbeck auf den italienischen Einfluss auf Bruegels Schaffen nach dessen Übersiedlung nach Brüssel im Jahr 1563 zurückgeführt worden.98 Man sollte dabei aber nicht die Vorreiterrolle der Altniederländer selbst außer Acht lassen. Die bewegten Könige, deren Präsenz so unmittelbar und stark ist wie etwa die in Hugo van der Goes’ Monfortealtar (vgl. Bild/Zeit, II, 2004, S. 266 ff.), unterscheiden sich hier allerdings dadurch von den früheren Darstellungen der Altniederländer, dass die Akteure manieristisch überlängt, in fantasievolle Kostüme gekleidet und in ihren Physiognomien karikaturhaft überzeichnet sind. So entsteht eine subversive, drastische Wirkung, die verunsichert. Die staunenden Gesichter der Gaffer am rechten Bildrand scheinen das Wunder nicht zu begreifen und ein anderer mit dicken Brillengläsern vermag nichts zu erkennen. Es handelt sich hier um die verunklärte Sicht, verursacht durch schlecht geschliffene Gläser als Synonym für geistiges Unvermögen.99

Jahreszeitenbilder

Wie bei den meisten „Anbetungen der Hl. Drei Könige“ vollzieht sich die Darbringung der Geschenke selbst im Sinne einer „Zeitgestalt“, die den Vorgang in einzelne Abschnitte unterteilt und somit ikonisch als konsekutive Abfolge erkennbar macht – allerdings nicht wie früher flächenparallel gestaffelt, sondern durch die Verteilung der Protagonisten auf engem Raum, die nach H.-H. Mann eine Spiralbewegung nach außen vollziehen.100 Vor allem schält sich bei der von Mann durchgeführten genauen formalen Analyse der Umstand heraus, dass eigentlich alle Zuschauer, deren schrullige Charakterköpfe links oben die Szene schließen, nicht Mutter und Kind betrachten, sondern vielmehr die Geschenke – vor allem den prächtigen Nautiluspokal des Mohrenkönigs. Letztendlich gehe es nicht um innere Erleuchtung, sondern um Gier, die den Blick auf das Wesentliche verstelle (dies gilt auch für den sauertöpfischen König mit dem Goldpokal, der das Dreipassgefäß des „Kollegen“ betrachtet). Altmeisterlich und zugleich verfremdet ist die grandiose Darstellung des Mohren rechts, bei dem zunächst nur der elegante rote Schnabelstiefel ins Auge fällt – erst nachträglich erkennt man das verkürzt wiedergegebene Gesicht sowie den von ihm dargebrachten, fast schwebend wirkenden Nautiluspokal. Die skurrile Trias der Hl. Drei Könige erscheint in ihrer manieristischen Extravaganz inmitten des umgebenden bodenständigen Personals, bei dem man fast von einer „Ästhetik des Hässlichen“ sprechen kann fast surreal. Nah und doch ins Allgemeinmenschliche hochgestuft bewahrheitet sich so das Wunder vor unseren Augen, die wir uns der Schar der Schaulustigen anschließen. Mutter und Kind bewirken in diesem Bild einen Stilbruch – entsprechen sie doch eher dem spätgotischen Madonnentypus des frühen 16. Jahrhunderts. Die zeitliche Differenz lässt die Vergegenwärtigung der Anbetung selbst problematisch erscheinen  ; die Akteure im Habitus früherer Jahrzehnte fallen stilistisch aus der Gegenwart heraus  ; die Gaffer, die dem Geschehen beiwohnen, scheinen sich über das Geschehen auch nicht im Klaren zu sein. In der Tat sieht sich der Betrachter in diesem Bild auf das Niveau jener Staunenden und Gaffer herabgestuft, die dem Wunder beiwohnen, ohne seine eigentliche Bedeutung zu erkennen. Der Szene haftet etwas Karikaturhaftes an, das die Schicksalhaftigkeit der Szene untergräbt und das „zeitlose“ Ereignis auf einen ephemeren Spaß reduziert. Dem Betrachter obliegt es, diese Kluft durch Reflexion zu überwinden und den „inneren Christus“ anzunehmen. Die Konvergenz von Handlungs- und Ereigniszeit, die uns in diesem Bild ohne Zweifel infolge der für Bruegel ungewöhnlich konventionellen Ausführung und der Reduktion der dramatis personae vor Augen steht, wird somit un-

terlaufen, indem das Bedeutsame der Handlung von dem „niederen“ Darstellungsmodus der Protagonisten konterkariert wird. Fast noch radikaler als in der „Kreuztragung“ werden Verblendung und geistige Blindheit hier thematisiert  – dem Unaufgeklärten wird die Erfahrung der Transzendenz und der damit verbundenen Befreiung aus Zeitlichkeit und irdischer Kontingenz versagt. Das hochformatige Gemälde in London greift den Bildern der letzten Jahre mit ihren großen, sinnbildhaften Figuren vor. Die übrigen Gemälde dieser mittleren Schaffensphase, welche biblische Begebenheiten mit dem vertrauten heimatlichen Ambiente verknüpfen, setzen ganz auf den Charakter der Landschaft, das dörfliche Milieu und die Stimmung der winterlichen Jahreszeit. Die eher kleinen Figuren sind darin voll integriert, sodass die Stimmung der Natur beträchtlich zur „Erlebniszeit“ beiträgt.

Jahreszeitenbilder Weihnachtsbilder In den Jahren 1564–1567 schuf Bruegel eine Reihe von Gemälden, welche die Geburt Jesu zum Thema haben. Dies gab ihm die Gelegenheit, das heimische Milieu eines Dorfes im Winter zu schildern und das biblische Geschehen somit nach Zeit und Ort damit in Einklang zu bringen. Die Aufhebung der kulturellen Differenz und die Vergegenwärtigung der biblischen Vergangenheit werden so glaubhaft durchgeführt, dass der eigentliche Bildinhalt hinter der Schilderung des Alltags und des vertrauten Milieus verloren zu gehen droht. Im Gegensatz zur Tendenz der Vergegenwärtigung in der früheren altniederländischen Malerei, bei der einzelne Motive wie Gegenstände, Kostüm und architektonische Versatzstücke der unmittelbaren Gegenwart des Subjekts und nicht der historischen Vergangenheit entsprachen, steht uns nunmehr die ganze zeitgenössische Szene als Einheit von Raum und Zeit vor Augen. Der Landschaftstypus selbst nähert sich der tatsächlichen flämischen Topografie an (die gelegentlichen, der Übersichtslandschaft entlehnten Berge im Hintergrund ausgenommen) und die Dörfer nehmen einen realistischen Charakter an  ; dies ist auch in Bruegels grafischen Blättern, etwa in jenen der Jahreszeiten, die sich großer Beliebtheit und Verbreitung erfreuten, der Fall. Die Figuren in den Gemälden sind integrale Bestandteile dieser heimatlichen Schilderungen. Erst nachträglich erkennen wir, dass es sich um Begebenheiten aus der Zeit der Geburt Jesu handelt. Die flandrische Landschaft in ihrer winterlichen Pracht strahlt Geborgenheit aus – die Stim-

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Pieter Bruegel der Ältere

239 Pieter Bruegel d. Ä., Die Volkszählung zu Bethlehem, 1566. Musées Royaux des Beaux-Arts, Brüssel.

mung verankert die Weihnachtsgeschichte in der Gegenwart und verleiht der Szene Lebensnähe und Authentizität, mehr als es bei einer historischen Rekonstruktion der Fall wäre  ; in erster Linie geht es um Vergegenwärtigung eines längst vergangenen Geschehens, um das Erkennen von Begebenheiten aus dem vertrauten Kontext des Alltäglichen, die daraufhin überzeitliche Bedeutung erlangen. Die „Volkszählung zu Bethlehem“ (um 1566  ; Musées Royaux des Beaux-Arts, Brüssel) findet in einem tief verschneiten flämischen Dorf statt (Abb. 239). Vermummte Gestalten tragen Säcke über den vereisten Teich. Die Leute scharen sich vor dem Haus links, wo ihre Personalien von einigen Schreibern erfasst werden, während im Vordergrund ein Sauschneiden im Gange ist. Das heilige Paar in der Bildmitte mit Joseph, der den Esel mit Mutter und Kind führt, gelangt gerade unbemerkt an sein Ziel. Wie immer bei Bruegel geht das Bedeutsame, das Eintreffen der hl. Familie in Bethlehem und die bevorstehende Niederkunft, im alltäglichen Trubel unter. Die Menschen hasten vermummt und

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bepackt an der Familie vorbei und sind sich nicht der heilsgeschichtlichen Tragweite der Stunde bewusst. In der Bildmitte und im Hintergrund ist eine Vielzahl von Rädern auszumachen. Sie sind zwar Karren zuzuordnen, stehen aber allesamt still. Herbert Mann hat im Rad ein „Symbol des Weltlaufs“, des „Werdens und Vergehens“ geortet.101 Man könnte aber den Stillstand der Räder auch als ein Zeichen dafür deuten, dass die hl. Familie nun angelangt, „die Zeit erfüllt“ ist (Mk 1, 15), so wie die Zeit im Augenblick dieses Ereignisses im göttlichen Heilsplan Dauer erhält.102 Ob in Bethlehem oder im flämischen Dorf, die Heilsgeschichte bewahrheitet sich immer wieder und überall, tritt ins Bewusstsein erleuchteter Christen  ; sie ist der zeitlichen Logik entbunden, nur wird das Wunder als solches von den meisten Menschen nicht wahrgenommen. Die kahle Krone einer Eiche steht erstarrt vor dem eisblauen Himmel, während die rote Sonnenscheibe gerade in der Ferne versinkt. Nur die Konfiguration mit der Ansammlung der Menschen im Dorf lässt den ikonografischen Zu-

Jahreszeitenbilder

sammenhang mit der „Volkszählung“ erahnen. In noch höherem Grad, als es in der altniederländischen Malerei der Fall war, kann man von einem „verborgenen Symbolismus“ sprechen, nur ist die Doppelcodierung noch ungewisser. Die Schilderung des Dorfes mutet genrehaft und beschaulich an, die Winterlandschaft ist uns wie in der gleichzeitig entstandenen „Winterlandschaft mit Eisläufern und Vogelfalle“ von 1565 (heute ebenfalls in Brüssel) vertraut.103 Aber es wäre wohl nicht Bruegel, wenn nicht im letzteren Bild inmitten der Idylle sich ein ominöser grauer Fleck auf dem Eis abzeichnete. Gefahr droht auch hier  : Wie bei der Vogelfalle, die noch nicht zugeklappt ist, könnte unter den Kindern das Eis brechen. Beruhigend legt sich über Dorf und Bewohner wohlig einlullend der gelbliche Sonnennebel – nur dem Sehenden schwant Böses.104 Die „Anbetung der Hl. Drei Könige im Schnee“ von 1567 (heute in der Sammlung Oskar Reinhart, Winterthur) gehört zu den frühesten Darstellungen eines Schneegestöbers überhaupt, wiewohl einige Bilder vorangehen – das prominenteste wohl die Miniatur mit dem „Januar“ von Pol de Limbourg in den Très riches heures de Duc de Berry von um 1416 (heute im Musée Condé, Chantilly).105 Nur schemenhaft ist in unserem Bild der Bildinhalt auszumachen. Das Gefolge der Könige mit den schwer bepackten Eseln befindet sich noch auf der Dorfstraße. Wären da nicht die beiden knienden Gestalten vor der Gottesmutter mit dem Kind in dem offenen Stall auf der linken Seite, würde man sich im rein Genrehaften wähnen. Der Mohr wird fast vom Schatten der Mauer „verschluckt“. Wie immer wird der Betrachter erst nach der Suche eines Sinnzusammenhanges über den wahren Sachverhalt aufgeklärt  : Das Eintreffen der berittenen Truppe im Hintergrund des beschaulichen Fleckens gibt bereits einen Fingerzeig auf die kommende Katastrophe. Das Wissen um den Fortgang der Geschichte ermöglicht wieder die Entzifferung des Bildinhalts  : Die genrehafte Gegenwart wird sich zum bedeutungsschweren historischen Ereignis wandeln. Nicht viel anders verhält es sich bei der Darstellung des „Bethlehemitischen Kindermordes“ selbst. Das Gemälde, von dem es mehrere Varianten gibt, dürfte im Zeitraum von 1566–1567 entstanden sein. Das im Kunsthistorischen Museum in Wien aufbewahrte Bild gilt infolge einer dendrochronologischen Untersuchung als eine spätere Kopie von Pieter Brueghel dem Jüngeren (Abb. 240). Die Bestimmung ist in diesem Falle eindeutig  : Soldaten unter der Führung der berüchtigten „Rotröcke“, die als verlängerter Arm der Obrigkeit zu verstehen sind, dringen in ein verschneites Dorf ein. Dramatische Szenen von Furcht und Gewalt spielen sich auf dem Platz ab, wo die Dorfbewohner

240 Pieter Bruegel d. J. (?), Der bethlehemitische Kindermord, nach 1566. Kunsthistorisches Museum, Wien.

versuchen, ihre Kinder zu beschützen, und um Gnade flehen. Ein zweites Gemälde befindet sich in der Königlichen Sammlung in Hampton Court. Es dürfte sich womöglich um ein Original handeln, das rund hundert Jahre später von König Charles II. erworben wurde, aber bereits zu jener Zeit starke Veränderungen erfahren hatte. Dies ist für die Zeitanalyse insofern von Belang, als man durch die Veränderungen der Motive darin einen Kommentar zur politischen Gegenwart auf Kosten des biblischen Inhalts erkennen kann.106 So wurden die Kinder übermalt und durch Bündel und andere Gegenstände sowie Tiere ersetzt. Das Banner und das Schild der Herberge „Zum Stern“ (dit is inde ster) wurden geändert, die gewalttätigen Akteure blieben erhalten. Die säkularisierte Botschaft dürfte dem politischen Tagesgeschehen gegolten haben, dem Widerstand der niederländischen Bevölkerung gegen die Spanier und Habsburger  : „Die Absicht hinter alledem war wohl, das wirklich dramatische Sujet zu verbergen, um daraus eine Szene zu machen, die sicherlich ebenfalls gewalttätig, aber jedenfalls ihrer religiösen Bedeutung entkleidet war.“107 Diese Schlussfolgerung ist insofern problematisch, als eine offene Thematisierung der tagtäglichen Gewalt der Habsburger gegen die Bevölkerung sicher wesentlich gefährlicher war als die Verbrämung der aktuellen Situation durch einen biblischen Stoff – eigentlich ein typischer Fall von Nikodemismus. Infolge der Übermalung der Kinder sind die Darstellungen der übrigen Akteure nicht mehr in sich konsistent. Die Änderungen könnten später erfolgt sein.108

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241 Philipp Galle nach Maerten van Heemskerck, Der Frühling, 1563. Staatsgalerie, Stuttgart.

Die großen Jahreszeitenbilder Kalenderbilder erfreuten sich im 16. Jahrhundert großer Beliebtheit. Die Gattung lässt sich bekanntlich bis ins Mittelalter zurückverfolgen.109 Durch die Druckgrafik wurden sie für breitere Bevölkerungsschichten zugänglich, wie die Kalender seit Beginn des 15. Jahrhunderts überhaupt.110 Auch wenn der astrologische Bezug noch gewahrt blieb – am Hof Rudolfs II. in Prag kann man gar von einer neuen Blüte dieser „Wissenschaft“ sprechen –, wurden die Darstellungen der Jahreszeiten doch zunehmend aus dem christlich-metaphysischen Kontext einer obwaltenden göttlichen Macht herausgelöst – die Natur selbst und ein mechanistisch konzipiertes Universum, in dem die Erde nicht mehr im Zentrum stand, bildeten nunmehr den Überbau des Geschehens in der Natur, dem sich der Mensch zumindest im ländlichen Leben zu beugen hatte. In den Niederlanden kann man von der Mitte des 16. Jahrhunderts an von zwei Varianten der Kalender- oder Jahreszeitenbilder sprechen  : So gab es die von den Romanisten bevorzugte klassische Darstellungsform, in der die Jahreszeiten in Gestalt von allegorischen Figuren auftreten, denen kleine genrehafte Szenen mit entsprechenden Tätigkeiten zugeordnet sind.111 Darüber hinaus wurden die Motive der Lebensalter den vier Jahreszeiten angepasst und manchmal versehen mit entsprechenden Sternzeichen hinzugefügt. Als einschlägiges Beispiel sei hier auf den Romanisten Marten van Heemskerck verwiesen, der die Vorlagen für den später von Philipp Galle gestochenen Zyklus der „Vier Jahreszeiten“ von 1583 lieferte (Abb. 241).112

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Die andere, neu etablierte Tradition ging von den tatsächlichen topografischen und meteorologischen Gegebenheiten aus. In dem Verlag „Zu den Vier Winden“ des Hieronymus Cock, für den Bruegel anfangs tätig gewesen war, entstanden in der Folge glaubwürdige Darstellungen der Dörfer und der landwirtschaftlichen Tätigkeiten im Verlauf des Jahres. Bruegel selbst hat maßgeblich zu dem neuen Typus der Jahreszeitenbilder beigetragen, sowohl mit kleineren grafischen Arbeiten als auch durch den großen gemalten Zyklus, von dem fünf Gemälde noch erhalten sind. Die Verbreitung wurde durch die gestochene Folge von Pieter van der Heyden von 1570 gesichert, zu der Bruegel die Federzeichnungen um 1565 lieferte.113 So diente etwa das in der Albertina aufbewahrte Blatt des „Frühlings“ von 1565 als Vorlage für den entsprechenden Stich van der Heydens (Abb. 242).114 Die von Roberts-Jones vertretene These, dass es sich bei der Zeichnung um einen Vorentwurf für ein verloren gegangenes Gemälde mit der Darstellung des „Frühlings“ handele, erscheint insofern fraglich, als alle Einzelheiten der Zeichnung seitenverkehrt mit Heydens Stich korrespondieren. Auch Heydens Stich mit dem „Sommer“ geht auf eine exakte Zeichnung Bruegels von 1568 (heute in der Hamburger Kunsthalle) zurück.115 Es ist demnach anzunehmen, dass Heyden auf genaue zeichnerische Vorlagen Bruegels zurückgreifen konnte, von denen die von „Herbst“ und „Winter“ verloren gegangen sind. Der Maler dürfte seinerseits zumindest partiell auf die Vorzeichnungen für seine eigenen Gemälde zurückgegriffen haben, denn etliche Figuren im „Sommer“ (Národní Galerie, Prag) oder in der „Kornernte“ (Metropolitan Museum, New York) stimmen mit den Zeichnungen überein. Die Zuordnung der großen Jahreszeitenbilder, die auf 1565 datiert werden, gestaltet sich schwierig. Aus einem Dokument im Stadtarchiv Antwerpen vom 21. Februar 1566 (die Kalenderreform, nach welcher der Jahresbeginn auf den 1. Januar festgelegt wurde, greift hier noch nicht, sodass man eigentlich 1565 schreiben müsste) geht hervor, dass der Kaufmann Nicolas Jonghelinck, der dem Kardinal Granvella nahestand, sechzehn Gemälde von Bruegel besaß, darunter eine Kreuztragung, einen Turmbau zu Babel und zwölf „Monatsbilder“.116 Von den zwölf Gemälden sind fünf erhalten  : „Der düstere Tag“, „Die Heimkehr der Herde“ und „Die Jäger im Schnee“ im Kunsthistorischen Museum in Wien (Abb. 244) sowie die „Die Heuernte“ in Prag und „Die Kornernte“ im Metropolitan Museum in New York (Abb. 243). Da Bruegel recht frei mit dem starren System der Monatsbilder umgegangen ist, bereitet die Reihung derselben gewisse Schwierigkeiten. Klaus Demus ist der Meinung, dass es sich nicht um „Monatsbilder“ im en-

Jahreszeitenbilder

242 Pieter Bruegel d. Ä., Der Frühling, 1565. Albertina, Wien.

geren Sinn handelt, sondern um „Zeiten des Jahres“.117 Dies entspricht auch der vorgebrachten Benennung derselben als „Jahreszeitenbilder“. Die Stimmung, der Zustand der Natur und die vorherrschenden atmosphärischen Verhältnisse werden so suggestiv wiedergegeben, dass man als Betrachter sich sogleich in sie hineinversetzt, wiewohl die Landschaften (mit Ausnahme jener der Heu- und Kornernte) sich dem Typus der universalen Übersichtslandschaft anschließen und mit der niederländischen Topografie nicht gerade übereinstimmen. Wenn hier von einem „charakteristischen Moment“ die Rede ist, warum sollte sich dieser nicht auch auf einen Monat beziehen können  ? Wenn wir dem Dokument Glauben schenken, fehlen sieben Gemälde eines gewaltigen Zyklus. Die Tätigkeiten der Menschen werden von der übergeordneten Macht der Natur gesteuert, das Leben mehr oder weniger vom Wechsel der Monate und Jahreszeiten bestimmt.

Hier sei auf die von Müller angeregte Unterscheidung zwischen „Handlungszeit“ und „Ereigniszeit“ verwiesen  : „Die Tätigkeiten werden, im Gegensatz zu früheren Bildern Bruegels, zusammengefasst und als solche wahrgenommen. Sie konvergieren gegen die von der ‚klassischen Kunst‘ vorgeschriebene ‚Ereigniszeit‘  : der Einheit von Zeit, Ort und Handlung entsprechend.“118 In den herkömmlichen, früheren Kalenderbildern werden meist schematisch gewisse Tätigkeiten jeweils einem Monat zugeordnet  ; die Stimmung ist vom Ambiente geprägt und gleichbleibend – sie kann wie in den kleineren Grafiken als „vertraut“ bezeichnet werden. In Bruegels Gemälden ist die Stimmung von der Natur und der jeweiligen Jahreszeit geprägt und freier weiterentwickelt. Sowohl die „Heuernte“ als auch die „Kornernte“ ist dem Sommer zugeordnet. Womöglich gab es noch eine dritte Szene, die Ähnlichkeiten mit jener Federzeichnung in der Hamburger Kunsthalle aufwies, die van der Heyden als Vorlage des „Sommers“ diente  ?

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Pieter Bruegel der Ältere

243 Pieter Bruegel d. Ä., Die Kornernte, 1565. Metropolitan Museum, New York.

Fast durchweg greift Bruegel in diesen großen Landschaftsbildern auf den erwähnten Typus der universalen Übersichtslandschaft zurück (Abb. 223). Von einem diagonal angelegten Plateau im Vordergrund aus blicken wir auf eine Ebene oder auf ein Flusstal hinunter. Der Fluss führt durch eine Biegung weiter in die Tiefe. Eine Landzunge, etwa in der Höhe der horizontalen Bildmitte, schiebt sich keilförmig ins Bild hinein, während Bergmassive sich in der Ferne auftürmen. Am Horizont wird der Blick auf das weite Meer freigegeben. Die Himmel sind unterschiedlich gestaltet – mal tiefenräumlich mittels Luftperspektive, zuweilen bedrohlich wirkend durch dunkle Wolkenballungen, mal als monochrome Flächen, manchmal transparent und lichtdurchflutet wie in der „Kornernte“ (Abb. 243) oder erstarrt, betont flächenhaft im gefrorenen Eisgrau des Winterbildes. Der bewährte allgemeine Typus der Übersichtslandschaft drängt den Betrachter verstärkt zur Partizipation. Die genrehaften Figuren der früheren Kalenderbilder, um nicht von

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den Wimmelbildern und den biblischen Dorfszenen zu sprechen, werden nun größer gehalten und rücken in die vorderste Bildebene. Sie gehen ganz in ihren Tätigkeiten auf und schenken ihrer Umgebung keine Beachtung  ; noch weniger nehmen sie Bezug auf einen imaginären Betrachter. Im Gegensatz zu den frühen Bildern Bruegels ist kein Zerfall in Einzelepisoden zu verzeichnen (es sei denn, man stufte die winzigen Figuren in den Hintergründen so ein). Die Akteure tragen konstitutiv zum beherrschenden Duktus der Komposition bei. Farbig werden sie von einigen Akzenten abgesehen mehr oder weniger dem vorherrschenden Farbton der Landschaft angepasst. Dieser Eindruck wird zusätzlich durch den Habitus und die oft überraschende Anonymisierung und Verfremdung noch verstärkt – so etwa in dem Bild „Heimkehr der Herde“, in dem „Düsteren Tag“ oder in dem Winterbild „Heimkehr der Jäger“. Die Distanz zu den agierenden Figuren bleibt gewahrt und diese werden in die umgebende Natur mit ihrer Stimmung eingefügt. Mehr oder

Jahreszeitenbilder

244 Pieter Bruegel d. Ä., Heimkehr der Jäger, 1565. Kunsthistorisches Museum, Wien (Farbtafel XXII).

weniger unbewusst (oder blind) geht der Mensch seinem Alltagsgeschäft nach – die Frage nach der Willensfreiheit, der Würde oder gar dem „Sinn des Daseins“ scheint sich nicht zu stellen. 1543 hatte Vesalius in Padua sein anatomisches Lehrbuch De fabrica corporis humanae vorgestellt und in demselben Jahr trat Kopernikus mit seiner Schrift De revolutionibus orbium coelestium hervor, in der das schon länger von Astronomen und Geografen erahnte heliozentrische Weltbild das ältere ersetzte. Wie Lovejoy pointiert gesagt hat, war es nicht nur der Heliozentrismus, der die Gemüter erregte, sondern auch der sich daraus ergebende Bruch mit der Vorstellung eines geschlossenen Universums  ; damit nämlich schien die Möglichkeit anderer Welten gegeben zu sein. Wo blieb in einem solchen aus den Angeln gehobenen Kosmos die Frage nach der Ursünde und der Erlösung  ? Was war die Aufgabe der Kirche in einem fragwürdig gewordenen heilsgeschichtlichen Prozess  ? Entseelung der Welt und Entfremdung des

Menschen von Gott standen zur Debatte.119 Die Natur dürfte den aufgeklärten Geografen und Humanisten, in deren Kreisen auch Bruegel verkehrte, als ein gewaltiges organisches und zugleich mechanisches Gebilde vorgekommen sein. In diesem theatrum mundi war das Individuum nur kontingent, aber schicksalhaft eingebunden. Eine Rettung tat sich ihm in der christlichen Morallehre auf  : Das aufgeklärte Bewusstsein, der freie Geist, die innere echte Nachfolge Christi im praktischen, täglichen Leben boten sich als Ausweg in einem Dasein an, das ansonsten materialistisch, sündhaft und, was das Gemeinwesen betraf, von Grund auf als „verkehrt“ zu gelten hatte. In den grandiosen Jahreszeitenbildern Bruegels ist es schwierig, diesen pessimistischen Grundton zu erkennen. Die Natur nimmt ihren Gang und die Unterordnung der Bauern bei ihren Tätigkeiten – bei der Heu- und Kornernte, beim Heimtrieb der Herde oder beim Baumschneiden – scheint im Gegensatz zu früheren Werken des Malers wenig

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Gelegenheit zu bieten, den moralischen Zeigefinger zu erheben. Die Gefährdungen des Lebens werden nur am Rande angedeutet. So blicken wir in dem „Düsteren Tag“ auf den Weiler an der Flussmündung hinab und werden dabei einiger Schiffe in der Ferne gewahr, die von Sturmböen erfasst werden und unterzugehen drohen. Bei der „Heimkehr der Jäger“ (Kunsthistorisches Museum, Wien), deren Kleider ganz die Farben der Gebäude und der erstarrten kahlen Stämme annehmen, werden wir im Mittelgrund einer winzigen Vogelfalle gewahr, den Tod andeutend, der stets gegenwärtig ist (Abb. 244). Belebt wird die in winterlicher Pracht erstarrte Landschaft – der Himmel, die Teiche und die weite Ebene, die sich bis zu den wilden Bergketten hinzieht – durch die schwarzen Vögel und die vielen sich schwarz von dem Eis abhebenden spielenden Kinder. Die Jäger stapfen den steilen Hang in Richtung des aus der Vogelperspektive gezeichneten Dorfs hinunter und wir im Bewusstsein mit ihnen, den Rhythmus der in die Tiefe gestaffelten Baumstämme aufnehmend. Links vor einem Gasthaus wird ein wärmendes Feuer entfacht  ; das Schild hängt verwahrlost an nur einem Haken  : Dit is in den Hert („Zum Hirschen“). Dargestellt ist der hl. Eustachius mit Nimbus. Das Thema der Jagd wird demnach wieder angesprochen, aber die ehemals sakrale Bedeutung der wundersamen Erscheinung des Gekreuzigten im Geweih des Hirsches scheint in Vergessenheit geraten zu sein, wie denn auch die Jäger in sich versunken und ohne „innere Erleuchtung“ von der Jagd heimkehren. Was für einen Kontrast in der Stimmung bietet dagegen die „Kornernte“ (Metropolitan Museum, New York  ; Abb. 243)  ! Das in sattem Gelb stehende Kornfeld ist verblüffend kompakt, mutet fast kubistisch an. Einige Feldarbeiter machen sich noch am Schnitt der Ähren zu schaffen, während eine Gruppe sich zur Jause im spärlichen Schatten eines Baumes im Vordergrund niedergelassen hat  ; ein Schnitter ist in der sengenden Mittagshitze eingeschlafen – ein Vorgriff auf den Müßiggänger im „Schlaraffenland“ (Alte Pinakothek, München), ein Gemälde, das Bruegel etwa zwei Jahre später ausgeführt hat. Wie bei den biblischen Winterbildern wird der Betrachter auch in den monumentaleren Jahreszeitenbildern angehalten, sich in die Szene als Ganzes und ihre Stimmung hineinzuversetzen – allerdings nicht, um darin einen hintergründigen, moralischen Sinn zu erkunden, sondern um den Anblick der weiträumigen Landschaften und des sich darin abspielenden Lebens der emsigen Menschen, die ihr Dasein im Einklang mit der Natur sorglos fristen, zu genießen – Roberts-Jones sprechen vom „kreatürlichen Menschen, der dem Rhythmus der Jahreszeiten folgt und Regen und Sonne sowie die dramatischen und

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freudigen Ereignisse seines Alltags erlebt“.120 In den bald folgenden großfigurigen Gemälden Bruegels sollte sich diese Harmonie bald als trügerisch erweisen.

Stilentwicklung Stridbeck hat die Frage aufgeworfen, ob nicht der Umzug Bruegels von Antwerpen nach Brüssel im Jahr 1563 zu der stilistischen Veränderung beigetragen haben könnte, die sein Spätwerk auszeichnet  ? Die Figuren werden nun entschieden größer und treten in die vorderste Bildebene, wodurch der Betrachter verstärkt in die Handlung mit einbezogen wird. Ob die italienische Malerei und die von ihr geprägten Romanisten in den Südlichen Niederlanden, mit denen Bruegel in Brüssel nun in engeren Kontakt getreten sein dürfte, hierzu beigetragen haben, lässt sich schwer sagen. Es gibt ja bereits in der altniederländischen Malerei gute Beispiele dafür, wie der Betrachter durch monumentale Darstellungen von Figuren und Gruppen angehalten wird, an dem biblischen Ereignis, das sich zeitlich und örtlich vor den Augen des Betrachters abspielt, zu partizipieren (zu Hugo van der Goes vgl. Bild/Zeit, II, 2004, S. 266 ff.). Die Vertrautheit Bruegels mit dem Stilidiom der Spätgotik lässt sich an den Anleihen ermessen, die er bewusst, nicht zuletzt zwecks zeitlicher Differenzierung, vornahm  : Ging es doch darum, die auf Dauer ausgerichtete Ereigniszeit der biblischen Geschichte von der Handlungszeit der unmittelbaren Gegenwart abzugrenzen. An der Stildifferenz, wie wir sie etwa in der „Kreuztragung“ oder in der „Anbetung der Hl. Drei Könige“ sehen konnten, wird diese Unterscheidung sinnfällig. Auch die Antwerpener Manieristen, in deren Umfeld der junge Bruegel seine Lehrjahre verbrachte, dürften ihm wohl vertraut gewesen sein. Einer der Ihren ist er nie geworden  ; allenfalls hat er Anleihen genommen, um eben Stilbrüche in seinen Bildern strategisch zu nutzen. Als ein Beispiel, das diese Regel bestätigt, ist die „Anbetung der Hl. Drei Könige“ von um 1564 besprochen worden (Abb. 238)  ; sowohl Max Dvořák als auch Gustav Glück haben darin den Einfluss der Antwerpenschule erkannt, was zu dem kritischen, karikaturhaften Eindruck der Protagonisten in dem besagten Bild beigetragen haben dürfte. In den Monats- oder Jahreszeitenbildern ist die Tendenz zur monumentalen Darstellung der Figuren noch nicht so weit gediehen wie im Spätwerk. Aber hier kann zumindest die Konvergenz von Handlungs- und Ereigniszeit festgestellt werden. Letztere entbehrt aber nunmehr jeglicher metaphysischen Bedeutung. Das „Ereignis“ ist die Jahreszeit selbst im weitesten Sinn, Ausdruck des zyklischen Verlaufs der Natur in einem

Die großen Bauernbilder

245 Pieter Bruegel d. Ä., Hochzeitstanz im Freien, 1566. Detroit Art Institute, Detroit.

kosmischen Räderwerk, dessen Kräfte nicht unbedingt von der göttlichen Vorsehung gesteuert zu sein brauchen. Das Bedeutungsträchtige geht in diesem Falle nicht über die Kategorien des Irdischen und der Zeitlichkeit der Natur hinaus.

Die großen Bauernbilder Die Spätzeit in Bruegels Schaffen ist unlöslich mit den Darstellungen des bäuerlichen Lebens verknüpft, was ihm durch Karel van Mander den Beinamen des „Bauern-Bruegel“ eingebracht hat. Bis in die 1950er-Jahre ist diese Einschätzung des Malers als eines Realisten, der praktisch der späteren holländischen Genremalerei vorgegriffen habe, gängig gewesen. Mit der ikonologischen Analyse von Stridbeck u. a. setzte eine Neubewertung ein, die vor allem auf das reforma-

torische und moralisierende Gedankengut der Zeit sowie auf die Humanisten in Antwerpen im Kreis um Abraham Ortelius Bezug nahm. Dennoch gibt es immer noch Vertreter der älteren Anschauung, wenn auch in einer gemäßigteren Form. So wenden sich Roberts-Jones wiederholt gegen die moralisierende Auslegung der Bauernbilder. Es wäre aber merkwürdig, wenn der Künstler nach seiner Hinwendung zu einer monumentalen Darstellungsform der Figuren, die im unmittelbaren Zugriff auch von naar het leven stand und jeden Anflug des akademischen decorum vermissen lässt, zugleich seine kritische Sicht der Welt, des Menschen und der Gesellschaft aufgegeben hätte. Es geht immer noch um die fehlende Moral bzw. die Blindheit des Menschen, aber nun ist das Augenmerk von der biblisch-religiösen Thematik, die in den Jahren 1560–1565 vorherrschte, auf die Schilderung der Befindlichkeit der einfachen Menschen und deren Tätigkeiten in der ländlichen Umgebung gerichtet. Roberts-Jones

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argumentieren hingegen für die genießerische Schau des Malers, der das unbeschwerte Leben der Bauern unmittelbar sinnfällig zu machen verstehe. Kirmes und Hochzeit, so ihre Meinung, sind fröhliche Ereignisse, die sich dem gestrengen Blick der Moralisten entziehen. Das Ereignis würde in diesem Fall aus der Sicht der Zeitlichkeit nicht über den Augenblick hinausgehen.

Hochzeitstanz im Freien Dies mag mit einigem Recht für den grandiosen „Hochzeitstanz im Freien“ von 1566 (heute in The Detroit Institute of Art) gelten, in dem das bunte Treiben vorgestellt wird (Abb. 245). Eine Anregung dazu mag der Kupferstich von Pieter van der Borcht mit der „Bauernkirmes“ von 1559 geliefert haben,121 in dem auf der linken Hälfte die Bauern ausgelassen auf einem Dorfplatz tanzen, während auf der rechten Seite ein Saufgelage und eine Rauferei stattfinden. Dazu heißt es u. a.: „Die Trinker kommen häufig zu solchen Festen, streiten und fechten und betrinken sich so viel wie möglich, zur Kirmes gehen sie, Männer wie Frauen  ; darum haben die Bauern solche Feste“.122

Die Verteilung der Figuren, Paare und größeren Gruppen geht mit der genüsslichen Anwendung von Weiß, Ocker, Zinnober und Hellblau zu Erdfarben, Braun und Oliv bis Schwarz einher, eingebettet in den Teppich des gelbgrünen Bodens. Wohl in keinem der bisherigen Gemälde Bruegels ist das Augenmerk so stark auf die Figuren gerichtet, auf deren Bewegungen und Verschränkungen – der Zeichner und Kolorist feiert hier Triumphe. Mit der überbordenden Lebenslust geht die Sexualität einher, die hier unverhohlen geschildert wird. Stridbeck zitiert in diesem Zusammenhang Huizinga, der den erfolglosen Kampf der Kirche gegen die losen Sitten bei den Hochzeiten schildert  : „Kein puritanischer Sinn konnte die schamlose Öffentlichkeit der Hochzeitsnacht aus den Sitten verschwinden lassen, sogar das 17. Jahrhundert kennt sie noch in ihrer vollsten Blüte.“123 Dies wird nicht nur anhand der für die Puritaner geradezu schockierenden Figuren im Vordergrund deutlich, sondern zieht sich mehr oder weniger durch das ganze Bild. Dem Betrachter wird es überlassen, versteckte Hinweise zu suchen und die moralischen Schlüsse in Bezug auf diese conditio humana zu ziehen. Handlungszeit und Ereigniszeit fallen in eins  : Der Hochzeitstanz bleibt in seiner Vitalität dem Augenblick verhaftet – aber das Bild verleiht ihm Dauer.

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Bauerntanz Ganz anders liegen die Verhältnisse in Bruegels beiden Bauernbildern, die sich heute im Kunsthistorischen Museum in Wien befinden (Abb. 246). In dem „Hochzeitstanz“ aus Detroit ist trotz allem eine gewisse Distanz zum Betrachter gewahrt. Man sieht die wogende Menge der Figuren, die in einer leichten Draufsicht über die Bildfläche verteilt sind. Die Bodenplatte ist dementsprechend ansteigend und zieht sich in der Flachlandschaft dahinter bis zum Horizont hin – nur ein schmaler, heller Streifen des Himmels bildet den Abschluss. In dem „Bauerntanz“ von 1568 aus Wien ist der Betrach­ terstandpunkt auf den Boden der Figuren abgesenkt. Diese erscheinen groß in der vordersten Bildebene und verdecken so auf natürliche Weise die dahinter nur partiell sichtbaren Figuren. Wir schauen zu den Häuserdächern und zur aufragenden Dorfkirche im Hintergrund empor  ; der untere Teil des Baumstammes mit einem angehefteten Marienbild schließt die Szene am rechten Bildrand ab. Die Anzahl der Figuren wurde erheblich reduziert  : Im Vordergrund stürmt ein Bauer mit seiner Frau im Schlepptau auf den offenen Dorfplatz, wo bereits zwei Paare einen Springtanz aufführen. Auf einer Bank links sitzt mit verkniffenem Gesicht und aufgeblasenen Backen der Dudelsackpfeifer, dem ein Krug von dem Mann mit der Mütze mit der aufgesteckten Pfauenfeder gereicht wird. Vor ihm befinden sich zwei Mädchen, die den Tanz der Erwachsenen nachahmen und somit dem „schlechten Beispiel“ folgen. Am Tisch daneben bahnt sich eine Rauferei unter zwei Saufkumpanen an, dahinter gibt sich ein Paar ein kräftiges Busserl. Deutlicher als im Detroiter Bild, das Sinnlichkeit und Schamlosigkeit im Allgemeinen zur Schau stellt, wurden hier moralisierende Hinweise eingebracht  : Nach Grossmann war der Dudelsack grundsätzlich mit Liederlichkeit konnotiert  ; auch der Tanz galt häufig als Ausdruck der Sündhaftigkeit und Torheit – die Festivitäten in unserem Bild werden von einem Narren im Hintergrund geleitet  ; die am Tisch Sitzenden verkörpern nach Grossmann „Zorn“ und „Gier“  ; die Pfauenfeder des kredenzenden Mannes ist ein eindeutiges Symbol der superbia, der Löffel, der im Hut des hereinstürzenden Bauern steckt, ein Attribut der gula (Gier, Maßlosigkeit)  ; das lange Messer könnte auf ira, den Zorn, hindeuten  ; die Frau wiederum wurde mit Geldbörse und einem Schlüssel versehen, die als Habgier und Geiz ausgelegt werden. Eine besondere Note erhält der Bauerntanz durch einige Details, die den profanen Charakter des ursprünglich religiösen Festes unterstreichen  : Der Dorfplatz wird von der Kirche im Hintergrund geschlossen, ein Rahmenmotiv, das im Kontrast zur

Die großen Bauernbilder

246 Pieter Bruegel d. Ä., Bauerntanz, 1568. Kunsthistorisches Museum, Wien.

Ausgelassenheit der Szene steht. Am Baum rechts hängt wie erwähnt ein Marienbild. Das Haus links gehört einer Schützengilde, deren Würde inzwischen verloren gegangen zu sein scheint, denn eine Frau ist gerade im Begriff, einen Mann ins Haus zu zerren. Der Bauer im Vordergrund tritt auf zwei Strohhalme, die ein Kreuz bilden  ; die Nussschalen am vorderen Bildrand sind „ein Sinnbild materieller Versuchungen, die den Menschen dazu bringen, sein Seelenheil zu vergessen“.124 Der lose Henkel mag auf sinnlose Vorhaben und eine lockere Lebensführung anspielen, die als „Stückwerk“ zerfallen.125 In Anbetracht dieser versteckten moralischen Hinweise lässt sich die These von der unbefangenen, realistischen Schilderung des bäuerlichen Lebens schwerlich aufrechterhalten. Als Betrachter werden wir dennoch vorerst vom Strudel des Tanzes mitgerissen, sind wir selbst Beteiligte. Handlungszeit und Erlebniszeit sind der klassischen Norm gemäß eins, zumal auch die Zahl der Protagonisten, von den kleinen Figuren im Hintergrund abgesehen, auf vier Paare und die Akteure am Tisch reduziert wurde. Aber gerade

diese Angleichung an ästhetische Vorgaben, die der theatralischen Wirkung dienlich sind, lässt den Bruch mit dem decorum noch stärker ins Auge fallen, denn der Inhalt selbst, der Bauerntanz, entspricht so gar nicht der Würde einer istoria und stellt die Gattungshierarchie auf den Kopf. Die nachträgliche (retentive) Auslotung der agierenden Figuren lässt die Fragwürdigkeit des Geschehens aufscheinen, denn der Tanz hat seinen ursprünglichen Sinn verloren und entlarvt die Jagd nach Lust als ein sinnloses Vergnügen in einer Welt des hohlen Scheins.

Die Bauernhochzeit Nicht viel besser ist es um die „Bauernhochzeit“ aus dem Kunsthistorischen Museum in Wien bestellt, die ebenfalls auf um 1568 datiert wird und eventuell als ein Pendantbild zum „Bauerntanz“ zu sehen ist, das die gleichen Maße aufweist (114 x 164 cm  ; Abb. 247). Ein inhaltlicher Unterschied der beiden Gemälde ist bei näherer Betrachtung

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kaum gegeben, denn in beiden Fällen geht es um Maßlosigkeit und Liederlichkeit in einer sinnentleerten Welt. Wenn man die Schrägperspektive der beiden Darstellungen berücksichtigt, ergänzen sich der Bauerntanz und die Bauernhochzeit durchaus zu einem stimmigen Paar. Wir haben es mit einer für Bruegel ungewöhnlichen Darstellung eines geschlossenen Interieurs zu tun, in dem die räumlichen Verhältnisse klar strukturiert und die Figuren der perspektivischen Ordnung unterworfen sind. So befinden sich die Köpfe aller am Tisch Sitzenden fast isokephalisch auf einer Horizontalen, etwa um ein Drittel der Höhe vom oberen Rand entfernt. Die Diagonale der Sitzbank endet annähernd im unteren rechten Eck, so auch die Orthogonalen der Trage, einer ausgehängten Tür. Die Betrachterperspektive setzt dort an und folgt der Schräge nach links  ; der Fluchtpunkt liegt etwas außerhalb des linken Bildrandes unterhalb der Fortsetzung des Türbalkens im Hintergrund. Wiederholt hat man bei der formalen Analyse der Komposition auf Tintoretto verwiesen. In der Tat hat dieser, etwa in der „Hochzeit zu Kana“ in San Simone Grande, einige Jahre zuvor, um 1562/63, ausgeführt, eine noch markantere Schrägperspektive entwickelt, die er fortan mehrfach verwendete, um sie im Abendmahlbild in San Giorgio Maggiore in den 1590er-Jahren ins Extrem zu steigern (vgl. S. 314). Wie bei Bruegel wurde das ausgesparte Dreieck im Vordergrund mit Repoussoirfiguren besetzt, die bei Tintoretto allerdings ikonografisch weniger aussagekräftig sind. Trotz dieser Parallelen lässt sich ein kausaler Zusammenhang zwischen den beiden Künstlern schwer nachweisen, auch wenn der Venezianer mehrfach dazu tendierte, Christus als Hauptperson durch die Schrägperspektive an den Rand des Blickfeldes zu rücken und so seine zentrale Position zu verunklären. Vergleichbare Intentionen können zu ähnlichen formalen Lösungen führen. Der bewusste Bruch mit symmetrischen Kompositionsprinzipien mag sowohl den Eindruck des „Realistischen“ erwecken als auch Ausdruck der persönlichen maniera eines Künstlers sein. Als Blickfang in der „Bauernhochzeit“ stapfen die beiden Träger mit der ausgehängten Tür als Bahre in den Bildraum hinein. Stridbeck hat sie formal überzeugend mit einem Trägerpaar in Barend van Orleys „Die Legende des hl. Michael“ aus den Musées Royaux des Beaux-Arts in Brüssel in Verbindung gebracht.126 Über die Fußstellung des vorderen Trägers herrscht Unklarheit, da drei Füße zu sehen sind. Womöglich hat Bruegel zuerst in Anlehnung an Barend van Orleys Trägerfigur den linken Fuß in der Fortbewegung gemalt, der übrigens auch hier von der Seite dargestellt wird und infolge der Verkürzung anatomisch nicht so ganz zum Träger passt. Vielleicht ist Bruegel dabei die Idee eines Innehaltens in den Sinn

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gekommen, denn der Mann am Kopfende des Tisches ist gerade dabei, noch einen Teller Brei von der Trage zu nehmen. Auch der hintere Träger steht breitbeinig mit beiden Füßen auf dem Boden und bewegt sich nicht vorwärts. Der Bewegungsablauf der Figuren ist keineswegs nebensächlich, denn nun setzt das Weiterreichen der Teller mit der Speise ein. Das Motiv findet sich übrigens in einer Illustration in Coornherts Emblembuch Recht Ghebruyck ende Misbruyck van tydlycke have (lat. De rerum usu et abusu), erschienen in Leiden 1585, das „schmarotzende Bettler“ zum Thema hat. Die Gastgeberin der Bettler am Ende einer Tafel, mit einer Krone versehen und vermutlich als Luxuria oder Gula zu verstehen, verteilt Teller für die Gäste. In einem riesigen Heuhaufen im Hintergrund befinden sich ein Dudelsackpfeifer, ein Liebespaar sowie eine schlafende nackte Gestalt.127 Stridbeck hat zu Recht auf die vielen Parallelen der Motive hingewiesen, welche auch Bruegels „Bauernhochzeit“ in die Nähe der Gula- und Luxuriadarstellungen rücken. Jürgen Müller spricht in diesem Zusammenhang von einer in unser Bild eingebauten möglichen (kleinen) Katastrophe, denn bei einer fortlaufenden Wegnahme der Teller von der Trage, die asymmetrisch auf den Stangen aufliegt, dürfte diese bald unweigerlich kippen  !128 Immer wieder hat Bruegel in seinen späten Werken den Augenblick vor dem Höhepunkt der Handlung geschildert. Dem Betrachter bleibt es überlassen, den sich abzeichnenden fatalen Umschwung (metabolé) im Geiste auszumalen. Bewegungsablauf und Zeitpunkt, in dem eine Figur aus dem Lot gerät, spielen dabei eine besondere Rolle. In dem für einen Augenblick freigegebenen Blick zwischen den beiden Trägern hindurch, von denen der hintere eine Schleife, der vordere den ominösen Löffel der Maßlosigkeit am Hut trägt, sehen wir die Braut, mit geschlossenen Augen selbstzufrieden lächelnd, vom turbulenten Geschehen ringsum abgehoben. Hinter ihr befindet sich ein grünes, am Strohballen befestigtes „Ehrentuch“, über ihrem Kopf eine Pappkrone, womöglich eine parodistische Anspielung auf die ­l uxuria  ; zuweilen wurde die Braut auch im Sinne der „Großzügigkeit“ interpretiert, allerdings eher im negativen Sinn als „narrenhafte Mildtätigkeit des Volkes“, wie von Coornhert bekrittelt. Rechts an der Strohwand hängt ein weiteres auffallendes Zeichen  : zwei übereinandergeschlagene Garben  ; sie sehen fast wie zwei Figuren aus, die durch einen Rechen zusammengehalten werden  ; von Demus sind sie als „Segenszeichen“ interpretiert worden.129 Man könnte es hier auch mit einer sexuellen Anspielung auf den Bei­ schlaf zu tun haben, allerdings nur aus Stroh, so flüchtig wie das Leben selbst.

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247 Pieter Bruegel d. Ä., Bauernhochzeit, 1568. Kunsthistorisches Museum, Wien (Farbtafel XXIII). 248 Pieter van der Borcht IV., Bauernhochzeit, 1560. Bibliothèque Albert Ier, Cabinet des Estampes, Brüssel.

Auch in dem Kupferstich mit der „Bauernhochzeit“ von Pieter van der Borcht IV. sitzt die Gastgeberin am Kopfende einer Tafel (wahrscheinlich eine Verkörperung der erwähnten „narrenhaften Mildtätigkeit des Volkes“)  ; hinter ihr ist das obligate Ehrentuch aufgespannt (Abb. 248). Vor dem Tisch befinden sich Trommler und ein Dudelsackbläser. Wie in Bruegels Gemälde sind fast alle Gäste ausschließlich damit beschäftigt, zu fressen und zu saufen. Über die Hochzeitssitten heißt es bei Sebastian Franck  : „An diesem Tag kommen allerlei Spielleute, Verlotterte und Freigeister, sie kommen auf der Hochzeit voll auf ihre Kosten“.130 Rechts neben der Braut sitzen in unserem Gemälde die Brautmutter und der Vater in einem Sessel mit hoher Lehne, rechts von ihm ein Franziskaner in hellbrauner Kutte, der sich mit beredter Geste einem Mann höheren Standes zuwendet, der einen schwarzen Filzhut trägt, in einen schwar-

zen Wams gekleidet und mit einem Degen versehen ist. Er sitzt mit gefalteten Händen und gesenktem Haupt am Tisch und lauscht in sich gekehrt. Müller deutet die Figuren folgendermaßen  : „Die Mahnung des Mönchs und die Bußfertigkeit des Mannes, der mit seinen herabgesenkten Lidern den Blick nach innen gelenkt hat, formulieren damit eine bildinterne Alternative zur selbstvergessenen Welt. Sie schei-

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nen als einzige auf ein Ende des bunten Treibens spirituell vorbereitet zu sein.“131 Wie problematisch es ist, auf die seelische Verfasstheit der Protagonisten zu schließen, lässt sich allerdings aus den höchst unterschiedlichen Deutungen eben dieser Person am Tischende zeigen. Stridbeck hat sie nämlich Grossmann folgend durchweg negativ beurteilt. Der zuweilen für einen Richter oder den Schultheißen des Dorfes gehaltene Mann sitzt auf einem umgedrehten Bottich, nicht auf der Bank der Ehrengäste  ; dieser Trog beziehe sich auf Völlerei, wie das Sprichwort „diner au fond de cuvé“ besagt. Das Schwarz seiner Jacke könne, müsse aber nicht mit Sünde und Lasterhaftigkeit konnotiert sein. Es könne auch als ein Hinweis auf einen höheren geistlichen oder gesellschaftlichen Status gedeutet werden. Das grauschwarze Band um den Filzhut muss nach Stridbeck als Attribut des Müßiggangs (De Ledighet) gelten  ; auch der Hund wird mit Schlemmerei und Trunksucht in Verbindung gebracht  ; die Würfel auf der Bank neben dem Mann sprächen nicht für eine spirituelle Gesinnung. Die übrigen Gäste am Tisch und im Hintergrund sind, wie gesagt, ausschließlich damit beschäftigt, zu essen und zu trinken. Die zwei Figuren im Vordergrund links dienen der Versinnbildlichung dieses Umstands  : Der Mann, der aus einem großen Krug Bier in einen Humpen schüttet, und das Kind mit dem zu großen aufgestülpten Hut, das gerade einen Kuchen vernascht und den Finger in den Mund steckt, sind unverfängliche Personifikationen der Schlemmerei, der Gier und der Hoffart. Weitere leere Krüge in einem Korb und am unteren Bildrand warten darauf, gefüllt zu werden. Müller hat auf das Paradoxon des Motivs mit dem Mann, der den Bierkrug füllt, hingewiesen, denn wenn der Strahl voll und geschwind herausschießt, ist es für den Betrachter unmöglich, darin eine Bewegung zu erkennen  : „Die größte Bewegung wäre zugleich die kleinste und gar keine“, wie es bei Nikolaus von Kues in einem anderen Zusammenhang heißt.132 Die Beschäftigung mit dem Paradoxon als Phänomen im Glauben und in der Welt verwundert beim Kardinal nicht – zudem kann auf die antike Philosophie, auf Zenon u. a. verwiesen werden und nicht zuletzt auf Augustinus, der das Paradoxon der Zeit im Bewusstsein des Menschen selbst aufspürt.133 Es gibt ein Bildthema, in dem dem Füllen der Krüge besondere Bedeutung geschenkt wird, nämlich die Hochzeit zu Kana. In seiner einschlägigen Darstellung der Szene in der Scrovegnikapelle in Padua hat Giotto jenen Augenblick geschildert, als die Diener auf Geheiß Jesu die Hydren mit Wasser füllen, und zugleich den darauffolgenden Schritt, als der Mundschenk den Inhalt kostet  ; da ist das Wunder der Verwandlung bereits geschehen  : Das Wasser ist zu Wein gewor-

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den (vgl. Bild/Zeit, I, 1996, S. 250, Abb. 233). Im Zentrum sitzt dort die Braut, zugleich Ecclesia, die den Akt der Verwandlung in der Eucharistie immer aufs Neue nachvollzieht. Handlungszeit und Ereigniszeit sind eins, sie verweisen beide auf die ständige Wiederholung des historischen Ereignisses im Ritus der Eucharistie, der überzeitliche Signifikanz besitzt. Hieronymus Bosch zeigt in seinem Frühwerk „Die Hochzeit zu Kana“ (Museum Boyjmans – Van Beuningen Museum, Rotterdam) die Braut neben Maria als Gastgeberin einer vornehmen Tischgesellschaft  : Gelehrte, Christus auf der rechten Seite flankierend, sowie Bürger und eine Nonne auf der linken Seite des Tisches (Tolnay hat die Personen als Ketzer eingestuft, was schwer nachvollziehbar ist).134 Am Tisch vor der Braut steht in Rückenansicht ein prächtig gekleideter Page, einem Ministranten ähnlich, mit dem Kelch in der erhobenen Rechten. Im Vordergrund ist ein Diener dabei, Wasser in die Krüge zu gießen, während die orientalisch (oder tatarisch) anmutende Dame im strengen Profil mit Haarknoten und Zopf dabei ist, eine Weinschale an die Lippen zu führen. Wie bei Giotto haben wir es also mit konsekutiven Momenten desselben Geschehens zu tun, welche die Verwandlung deutlich machen  ; auch hier wird ein Handlungsstrang durch die simultane Darstellung von Einzelepisoden gezeigt, die auf die Eucharistie abzielen. In Bruegels „Bauernhochzeit“ scheint ein deutlicher Hinweis auf das Ereignishafte nicht auf. Der sauber gekleidete Mann im Vordergrund ist dabei, die Bierkrüge zu füllen (zuweilen ist er mit dem Bräutigam identifiziert worden, was fraglich erscheint, da dieser nach damaligem Brauch nicht unbedingt beim Hochzeitsschmaus zugegen sein musste). In seiner Aktion erinnert er an den einschenkenden Mann in Boschs Gemälde, nur findet hier kein Wunder statt. Bier bleibt Bier  ; eschatologische Relevanz wird der Hopfen nicht erlangen. Die Säkularisierung ist so weit fortgeschritten, dass die sakramentale Bedeutung der Hochzeit nicht nur entschwunden ist, sondern diese selbst parodistische Züge angenommen hat. Hier sei darauf hingewiesen, dass der einschenkende Mann nach Lage und Haltung in hohem Grad den „Wirt“ in Dürers Holzschnitt des Abendmahls in der Großen Passion von 1510 reflektiert (vgl. S. 103, Abb. 39). Wenn dem so ist, nimmt die Figur in Bruegels „Bauernhochzeit“ den Zug einer verhüllten Provokation an. Wenn man von einem Wunder sprechen kann, dann im Sinne von Jedlicka, der darauf hinweist, dass das Bier unbegrenzt zu fließen scheint  ; der Strahl selbst nimmt die Form eines immerwährenden Zustandes an und beim Nachfüllen ist wie beim Gelage überhaupt kein Ende in Sicht.135 Unmäßigkeit und Gier erscheinen als Triebfedern in einer unbotmäßigen Welt, die letztlich ein Bild der Vergänglichkeit selbst abgibt,

Späte Parabeln

denn das Ambiente der Bauernhochzeit entpuppt sich als ein Heustadel, der selbst größtenteils aus Heu- oder Strohballen besteht, und das angesprochene „Emblem an der Wand“ besteht ebenfalls nur aus Stroh. Bruegel hat noch eine weitere Zeitebene in seine Darstellung eingebaut, die den metaphorischen Charakter der Szene zusätzlich verstärkt und einen Spalt auf das Jenseits hin öffnet. So unterbricht der Dudelsackpfeifer, der an der Hochzeitstafel steht, jäh sein Spiel und blickt in Verwunderung unverwandt nach rechts oben aus dem Bild heraus. Dies ist auch bei dem Mann auf dem Schemel am Tisch der Fall, der gerade seinen Humpen gehoben hat  : Er starrt nach oben und kommt nicht zum Trinken. Das Eschatologische ist von Annabella Weismann in der Bauernhochzeit auch in Analogie zur Hochzeit zu Kana, bei welcher der Wein himmlische Freuden vorwegnimmt, ins Spiel gebracht worden. Die Perspektive auf das Jenseitige schließt das Jüngste Gericht mit ein, das den irdischen Freuden ein jähes Ende bereiten wird. Die Reformatoren wurden nicht müde, auf das Ende der Zeiten hinzuweisen und den einzelnen Menschen ins Gewissen zu reden, ihren Lebenswandel dementsprechend zu ändern.136 Nach Müller kündigt sich in der „Bauernhochzeit“, wie aus der Reaktion einiger Figuren ersichtlich, das unerwartete und erschreckende Ende des Irdischen an, jener Augenblick, in dem die innerweltliche Zeit ausgelöscht wird  : „Das Spiel mit dem nicht enden wollenden Bier ist ein Hinweis darauf, dass das Maß noch nicht voll, die Zeit noch nicht erfüllt ist. Auch das unmittelbar neben dem stehenden Mann sitzende Kind darf man als allegorischen Hinweis auf die im Genuss sich selbst vergessende Menschheit deuten.“137 Als Gegengewicht zu der kollektiven Ausschweifung sieht Müller die beiden ins Gespräch vertieften Gäste am Tischrand rechts  : den Franziskanermönch und den hochgestellten Mann (eventuell Bruegels Freund, der deutsche Kaufmann Hans Franckert), als Vertreter einer moralischen Lebenshaltung, die sich im Geiste bereits auf das Ende vorbereitet, die Ankündigung desselben aber nicht wahrgenommen zu haben scheint (allerdings sind diese Protagonisten von Grossmann und Stridbeck wie erwähnt sehr negativ gedeutet worden). Man könnte auch geltend machen, dass die beiden in ein so hochgelehrtes theologisches Gespräch vertieft sind, dass sie die Welt um sich herum vergessen haben und deshalb die unvermutete Ankündigung des Jüngsten Gerichts nicht einmal zur Kenntnis nehmen. Der übergreifende Aspekt der Endzeit bleibt, was die „Bauernhochzeit“ betrifft, eine Hypothese, auch wenn man nicht umhinkann, die Szene in ihrer Ganzheit als einen Ausdruck der vanitas, der Völlerei und der Vergänglichkeit zu

interpretieren. Ob das Ende hier nur als ein mögliches, aber noch nicht eingetretenes Ereignis indirekt zur Darstellung gelangt, bleibt der Imagination des Betrachters überlassen. Zumindest lässt sich die Reaktion der beiden erwähnten Figuren nur auf etwas beziehen, das sich außerhalb des Bildraumes befindet und für uns unsichtbar bleibt. Sollte sich das Ende tatsächlich ankündigen, stünde uns die Peripetie des Weltendramas vor Augen, jener Augenblick, bevor die aus den Fugen geratene Welt in die Katastrophe stürzt. Der didaktische, moralisierende Kern, der praktisch allen Bildern Bruegels zugrunde liegt, richtet sich an den Betrachter, welcher der Vielfalt der visuellen Eindrücke und den fortlaufenden Deutungsversuchen seinerseits einen Sinn zu geben sucht (vgl. Bild/Zeit, I, 1996, S. 22, Fig. 6). Die gelenkte Erlebniszeit dient der Reflexion und der Bewusstseinsbildung. Sie stellt den Betrachter stets vor die Unwäg­ barkeit des Urteils in einer undurchschaubaren Welt. Letztendlich bleibt dem Individuum im unaufhaltsamen und zugleich dem Zufall überlassenen Fluss des Daseins nur die Besinnung auf jene unverfälschten Glaubenssätze und moralischen Prinzipien, die seinem Handeln und Bewusstsein einen Halt und eine gewisse Willensfreiheit ermöglichen. Diese Einsicht erwächst stufenweise aus der Betrachtung der Bauernhochzeit, die sich als eine negative Metapher des menschlichen Lebens herauskristallisiert.

Späte Parabeln Bruegels Gemälde der letzten Jahre stellen die conditio humana gleichnishaft, in reduzierter Form vor. Sprichwörter oder Parabeln werden auf einige dominante Figuren reduziert, welche die Befindlichkeit des Menschen in der letztlich feindlichen oder zumindest gleichgültigen Umgebung der Natur schildern. Dem Individuum widerfährt ein Unglück oder ein Missgeschick und in diesem Augenblick offenbaren sich die ganze Brüchigkeit seiner Existenz und die Ausweglosigkeit seiner Handlungen. Kein Weg oder gar das Eingreifen einer metaphysischen Macht führt aus dieser Situation heraus. Bei aller Drastik und Bewegtheit der Szenen bleiben diese der Gegenwart verhaftet, in der sich der bevorstehende „Umschlag“ in ein Desaster bereits abzeichnet. Aus der sicheren Distanz bleibt es dem Betrachter überlassen, sich den Fortgang der Geschichten im Geiste auszumalen. Von einer Peripetie im Sinne der klassischen Poetik kann nicht die Rede sein, eher von einer Parodie auf die Tragödie in der Mundart der niederen poetischen Gattung. Ob Bruegel hier ein bewusstes Spiel mit dem „hohen Stil“ und der Dramen-

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Pieter Bruegel der Ältere

249 Pieter Bruegel d. Ä., Der ungetreue Hirte, 1569. John G. Johnson Collection, The Philadelphia Museum of Art, Philadelphia.

theorie betreibt, sei dahingestellt. Die Moral der Geschichten, die hinter den einfachen Handlungen leicht zu erkennen ist, gibt den recht komplexen Beweggrund für die Bildgestaltung. Bruegel konnte sich der nachhaltigen Wirkung seiner Kurzgeschichten in der vorliegenden Form sicher sein.

Der ungetreue Hirte Vier großfigurige Bilder sowie eine Idylle sollen am Ende dieses Kapitels über die Bild-Zeit bei Bruegel besprochen werden. Zwei wurden bereits im ersten Band (Bild/Zeit, I, 1996, S. 4 und Fig. 6) als Beispiele für das Vorgehen der phänomenologischen Zeitanalyse erörtert. Das Gemälde der „Ungetreue Hirte“ befindet sich in der Sammlung John G. Johnson in The Philadelphia Museum of Art (Abb. 249). Auch wenn die Zuschreibung an Pieter Bruegel d. Ä. um 1569 nicht einhellig ist, fallen zumindest

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die Bilderfindung und die Bewegungsdarstellung so überzeugend und überraschend aus, dass niemand sonst aus seinem Umfeld für das Werk infrage käme. Im vollen Lauf kommt uns ein Hirte entgegen, kurz davor, sich aus dem Bild in den Realraum herauszukatapultieren. Hinter dieser monumentalen Figur tut sich die weite Ebene der niederländischen Flachlandschaft auf, die aus ihrer natürlichen Passivität herausgerückt wird, denn die Orthogonalen des Feldweges dienen gleichsam als „Fahrspuren“ der Figur und lenken den Blick in die entgegengesetzte Richtung auf den Horizont hin. Die gleiche Beobachtung wurde bereits von René Huyghe gemacht, der die „Wiedergabe der Geschwindigkeit“ des in Panik vor dem Wolf fliehenden Schäfers mit Werken der Moderne verglich.138 Die Interdependenz von Bewegung und Raum dient zugleich als ein äquivalenter Ausdruck für Zeitverlauf und Dauer. Zugleich tritt in der psychologischen Auslotung der Figur das Phänomen der „Zeitdehnung“ in Kraft, das den Augenblick der panischen Angst des Hirten in

Späte Parabeln

250 Pieter Bruegel d. Ä., Der Überfall, ca. 1567. Stockholms Universitets Konstsamling, Stockholm.

die Länge zieht, quasi proportional zur Entfernung des ungeschützt Fliehenden von jenem Ort, an dem der Wolf die Schafe angreift (vgl. S. 15).139 Die Polarität von Figur und Flachlandschaft wird durch die konträren Bewegungsrichtungen verstärkt, das Gefühl des Ausgeliefertseins auf den Betrachter übertragen, der den Angstzustand des Hirten nachempfindet. Die Erlebniszeit gleicht sich somit der raumzeitlichen Struktur des Bildes an, das eben auf solch einen Affekt hin angelegt wurde. In der Gestalt des Hirten erkennen wir, was kurz zuvor passiert ist  : der Angriff des Wolfs auf die Schafsherde. Der Hirte entzieht sich seiner Verantwortung und sucht in Panik das Weite. Aus der Bewegung sucht er jene Sicherheit zu erlangen, in der wir uns als Betrachter bereits befinden. Für ihn ist die Zukunft aber noch ungewiss, wie das Leben selbst in seiner existenziellen Geworfenheit. Das Gemälde „Der ungetreue Hirte“ spiegelt somit in formaler Hinsicht die Erlebniszeit des Protagonisten selbst  ; wir können sie als Betrachter reflexiv und auch projektiv

mitgestaltend nachvollziehen. Der Intellekt ist in der Lage, durch sein retentives (mnetisches) und protentives (vorausschauendes) Vermögen sich auch fremde Bewusstseinsinhalte anzueignen, denn im Augenblick der Wahrnehmung wird auch der Erfahrungshorizont der je eigenen Vergangenheit und Zukunft mit eingebracht  : „Zu der Reflexion, die in der ästhetischen Betrachtung im Sinne der Selbstaffektion enthalten ist, treten das Bewusstsein um die Fremdheit der sich im Kunstwerk erschließenden Bewusstseinssphäre und der Drang des Betrachters, sich damit zu identifizieren oder davon abzuschirmen, modifizierend hinzu.“140 Die Angst und das Ausgeliefertsein, die aus diesem Bild sprechen, werden emphatisch erkannt und nachempfunden, zugleich aber aus der Distanz jenem Imperativ gegenübergestellt, der die Beherrschung des Affekts als zivilisatorische Leistung einfordert (Elias). Die Selbstkontrolle sichert das Überleben und die Fortdauer der Gesellschaft, zuweilen auf Kosten des Individuums. So kommt man bei der Betrach-

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tung des Ungetreuen Hirten schlussendlich zu der Erkenntnis, dass gerade die zeitliche Bildstruktur in diesem Bild den menschlichen Makel aufscheinen lässt. Es liegt in der Natur eines Gleichnisses, dass das vorgebrachte Beispiel Allgemeingültigkeit beansprucht. Die Ikonizität des Bildes führt uns auf rein visuellem Weg eine Lebensführung und Bewusstseinshaltung vor Augen, die wir selbst im Leben stehend moralisch zurückweisen müssen.

Der Überfall Nicht viel anders stellt sich das Motiv des Ausgeliefertseins in dem etwa gleichzeitig entstandenen Gemälde „Der Überfall“ (heute in der Kunstsammlung der Universität Stockholm) dar (Abb. 250). Da Reste einer Signatur von 1567 zum Vorschein gekommen sind, wurde das Gemälde Pieter Brueghel dem Jüngeren aberkannt und wieder seinem Vater zugewiesen. Die Figuren sind sicher gezeichnet, der Farbauftrag ist dünn und lasierend, die Schilderung der Physiognomien und der weiten Landschaft überzeugend, sodass die Zuschreibung, der bereits Gustav Glück zugestimmt hat, wohl Bestand haben wird.141 Die Anlage der Szene steht jener des Ungetreuen Hirten nahe  : Ein Bauernpaar im Vordergrund wird von drei Wegelagerern attackiert. Von einigen Bäumen rechts und links führt der zurückgelegte Weg, der an den orthogonal in die Tiefe führenden Radspuren erkennbar ist, über eine endlos erscheinende weite Ebene bis zum hellen Horizont. Das Bauernpaar ist demnach den Räubern schutzlos ausgeliefert, Erstarrung und Entsetzen spiegeln sich in den Gesichtern. Das Unglück des Menschen kann in diesem Fall nicht auf allgemeine Blindheit und Lasterhaftigkeit zurückgeführt werden, sondern vielmehr auf den Umstand, dass manche Menschen Verbrechen an Unschuldigen begehen. Von seinem Fatalismus ist der Künstler nicht abgewichen. Die Räuber erscheinen als Verkappte, im Geiste Blinde. Der helle Schein des versinkenden Tages kann nicht als Hoffnungsschimmer gedeutet werden – vielmehr trägt die trostlose Weite der Flachlandschaft antagonistisch zur Fährnis des Daseins bei und auch die Schönheit der Natur und der Abglanz des Tages bieten keinen Trost oder Ersatz für Furcht und Gewalt. Die Kontrastwirkung lässt die Verlassenheit und das Unglück der Menschen noch stärker zum Tragen kommen.

Der Vogeldieb Das relativ kleinformatige Gemälde „Der Vogeldieb“ von 1568 (heute im Kunsthistorischen Museum, Wien) zeigt

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nur zwei Figuren  : einen Jungen, der sich an einem Ast festklammert, um ein Vogelnest auszurauben, während sein Hut herunterfällt, und die tölpelhafte Gestalt eines selbstgefälligen Bauern, der sich auf den Betrachter zubewegt und zugleich nach oben schielt  ; mit der Linken zeigt er auf den Jungen und das Nest in der Baumkrone (Abb. 251)  ; dabei steht er aber selbst bereits mit dem rechten Fuß am Rand des Baches, der uns von ihm trennt. Mit dem nächsten Schritt wird er ins Wasser fallen. Die perspektivische Wiedergabe der Figur, die etwa zwei Drittel der Bildhöhe einnimmt, ist virtuos, indem wir den Kopf, von dem Arm umrahmt, in leichter Untersicht, das vorgestellte rechte Bein in Verkürzung von oben sehen. Dem Betrachterstandpunkt wird somit in hohem Maße Rechnung getragen, wie dies ja auch bei den Altniederländern zuweilen der Fall war. Dieser Umstand wird selten in Betracht gezogen  ; vielmehr wird stets auf die Kontraposthaltung der monumentalen Standfiguren in der italienischen Kunst hingewiesen  ; die Schrittstellung und die Torsion des Körpers könnten mit der ­gängigen klassischen Figurendarstellung in Verbindung stehen – in Brüssel ist Bruegel ja verstärkt mit den Romanisten in Kontakt gekommen (vgl. S. 141). Sollte es sich um einen parodistischen Kunstgriff des Niederländers handeln, der den „hohen Stil“ nun auf eine Figur bezieht, für die nach Statur und gesellschaftlichem Status eher der stilus humilis angebracht wäre  ? Mir erscheint ein solcher kausaler Zusammenhang unwahrscheinlich. Wichtiger ist die perspektivische Bezugnahme auf den Betrachter, der sich in die Labilität des Bauern, der sich auf ihn zubewegt, einfühlen muss. Im Wasser vor dem Bauern steht eine Iris. Über die herkömmliche Bedeutung derselben als Symbol der Tugend und der Reinheit hinaus ist sie auch von Vlaanderen mit „Leichtsinnigkeit“ und „Neid“ in Verbindung gebracht worden. Bruegel hat sie zusammen mit dem Dornbusch in den Vordergrund der „Kreuztragung“ eingebracht, wohl in Bezug auf das Hohelied (Hld 2, 2), in dem es heißt  : „Ja, wie die Lilie unter den Dornen, so ist meine Freundin unter den Töchtern.“142 Was den „Vogeldieb“ betrifft, ist aber eher der anderen Bedeutung der Iris zuzustimmen, da Leichtsinnigkeit und Neid dem Inhalt des dargestellten Sprichwortes entsprechen. Die verwelkende Eintagslilie konnte überdies ein Symbol für die Kürze des Lebens sein  : „Jeder Tag kann aber der letzte sein, dazu sei Dir eine treue Gemahnerin die Eintagslilie.“143 Glück hat einen Spruch von Sebastian Brant ins Spiel gebracht  : „Wer infolge seines Eigensinnes hoch hinaus fliegt, der nimmt sein eigen Vogelnest aus, wodurch er oft auf der Erde liegt“ (Wer off syn eygen synn vszflügt, Der selb zun vogel nater stygt, Das er offt vff der erden lygt).144 Das von George Hulin de Loo bereits 1907 zitierte Sprichwort

Späte Parabeln

„Wer weiß, wo das Nest ist, hat die Kenntnis, wer es raubt, den Besitz“ (Dijede nest west, dije weeten, dijen rooft, dije heeten) sagt zwar etwas über die Beziehung der beiden Protagonisten aus, entzieht sich aber der moralischen Beurteilung. Die auffällige Weide im Mittelgrund rechts, die übrigens auch in einem Stich von David Vinckboons von 1606 auftaucht, nimmt auf unnütze und sündhafte Menschen Bezug  ; der Vogeldieb ist dementsprechend von Boström als Vertreter der neglecta iuventus in einem Artikel von 1949 eingestuft worden.145 Leichtsinnig ist der am Ast hängende Nesträuber allemal und wenn man Sebastian Brants Spruch Glauben schenkt, dürfte der Nesträuber demnächst auf die Erde stürzen. Aber auch den Bauern, der als Guck-in-dieLuft nicht darauf achtet, wohin er tritt, wird im nächsten Augenblick Böses ereilen. Zur Raffgier des kleinen Diebes gesellt sich womöglich auch der Neid des Bauern, nicht selbst ans Nest zu gelangen, wie es das Sprichwort sagt. Die Schadenfreude, die sich beim Betrachter angesichts der Szene wohl oder übel einstellt, wird allenfalls durch die moralische Belehrung in die Schranken gewiesen. Denn der Bauer, der infolge seiner Rotationsbewegung unweigerlich ins Wasser fallen wird, ist selbst ein Exponent der Schadenfreude  – wartet er doch nur darauf, den unachtsamen Nesträuber zu erwischen, der, wie sein Hut, im Begriff ist, vom Baum zu fallen  ; daraufhin könnte er selbst die geraubten Eier an sich nehmen und in den abgelegten Sack stecken. Wer unreflektiert nur in seiner eigenen Gegenwart dahinlebt und sich am Schaden anderer erfreut, läuft Gefahr, im nächsten Augenblick selbst ein Opfer der Umstände zu werden. Die Natur, hier durch eine idyllische Dorflandschaft mit einer grünen Wiese und einem Wasserlauf repräsentiert, die auch infolge der harmonischen, eher statischen Komposition Ruhe und Geborgenheit vortäuscht, stellt dem Menschen ein Bein. Sie bleibt indifferent gegenüber seiner Bosheit und seinem selbst verschuldeten Unglück und macht ihn zugleich ob seiner zügellosen Lebensführung lächerlich.

Das Gleichnis von den Blinden Das monumentale Gemälde mit dem „Blindensturz“ (heute im Museo Nazionale di Capodimonte, Neapel) stellt den Höhepunkt der späten Sprichwortbilder dar (Abb. 252). In diesem Werk hält Bruegel uns noch einmal die Schuldhaftigkeit des Menschen und die ausweglose Verstrickung ihres Lebens vor Augen. Bereits im Sturz des Ikarus und im Elck wurde die Blindheit gegenüber dem eigenen ziellosen Dasein als ein Grundübel des menschlichen Geschicks ange-

251 Pieter Bruegel d. Ä., Der Vogeldieb, 1568. Kunsthistorisches Museum, Wien.

prangert. Hier schließt sich nun der Kreis. Eine fundamentale Rolle spielt dabei die Zeitlichkeit, die nicht nur dem Dasein des Einzelnen ein Ende setzt, sondern ständig einen Menschen ins Unglück zu stürzen vermag, insbesondere jemanden, der von Blindheit geschlagen ist. Im ersten Band dieser Untersuchung diente die Strukturanalyse des „Blindensturzes“ zur Aufdeckung der Interdependenz von formaler Gestaltung und dem Prozess der hermeneutischen Bildauslegung, ging es zum einen um die Umsetzung des Bildinhalts in eine ikonische Form und zum anderen um die Vereinnahmung all dieser Aspekte, ihre Relevanz für das Seinsverständnis des betrachtenden Subjekts überhaupt (Bild/Zeit, I, 1996, S. 22 ff.). Die Erlebniszeit, so sie als Träger der formalen und inhaltlichen Analyse begriffen wird, spiegelt sich in der phänomenologischen Werkinterpretation, die sowohl der Jetztzeit des betrachtenden Subjekts und seiner Affektion infolge der Bildgestalt als auch der inhaltlichen Auslotung in Bezug auf die Vergangenheit Rechnung trägt, die schließlich auch auf den Fortgang des eigenen geistigen Lebens Einfluss nimmt. Durch die Verkettung der sechs Figuren werden wir unmittelbar der Abfolge des Falls gewärtig, der sich phasenweise, quasi stroboskopisch vollzieht  : Wir durchleben die Zustände des „Noch-nicht“ – „Jetzt-gerade“ – „Schon-geschehen“. In der fallenden Diagonalen von links nach rechts tasten sich die Blinden, jeweils am Vordermann Halt suchend, voran und werden im Verlauf immer stärker vom Sog der fallenden, verketteten Figuren ergriffen. Das Schicksal des Strauchelnden und desjenigen Mannes, der bereits im

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252 Pieter Bruegel d. Ä., Das Gleichnis von den Blinden, 1568. Museo Nazionale di Capodimonte, Neapel. 253 Zeitstruktur des Blindensturzes (nach Rudolf Arnheim).

Graben liegt, ist auch den Nachfolgenden gewiss. Aus der Vorhersehbarkeit des Ablaufs und infolge der Blindheit der Protagonisten erkennen wir die Tragik der conditio humana. Der Labilität der schwankenden und stürzenden Figuren wirkt der feste Aufbau der idyllischen Dorflandschaft mit ihren Vertikalen und Horizontalen entgegen. Wie lässt sich dieser friedvolle Rahmen mit dem Geschick der Menschen vereinbaren, deren Verkettung und Blindheit gleichermaßen zu ihrem Unglück beitragen  ? Der Betrachter sucht den ersten Eindruck des Sturzes mit seiner Erfahrung reflektierend in Einklang zu bringen. Die tatsächliche Ursache der Blindheit der sechs Männer mag sowohl angeboren als auch selbst verschuldet sein – einige von ihnen sind offensichtlich geblendet worden, sind also Opfer eines furchtbaren Strafvollzugs. Die metaphorische Auslegung von Blindheit wird im

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biblischen Gleichnis angesprochen, das der Bildidee überhaupt zugrunde liegt  : „Lasst sie, es sind blinde Blindenführer. Und wenn ein Blinder einen Blinden führt, werden beide in eine Grube fallen.“ (Matth. 15, 14.) In dem Blindensturz wird ein Ablauf in Form einer Gestalt erfasst, die bei Arnheim übrigens als Beispiel für eine „prägnante Gestalt“ angeführt wird (Abb. 253).146 Schon bei der ersten Präsentation werden uns in der fallenden Diagonalen die stroboskopischen Zeitphasen der Vorwärtsbewegung und des Falls gewärtig. Als Endpunkt des Bewegungsablaufs sehen wir im rechten unteren Eck den vordersten Mann in starker Verkürzung liegen. Die labile Anordnung der Protagonisten wird wie erwähnt von dem festen Aufbau der Landschaft, der Vertikalen des Kirchturms und der Horizontalen des Wiesenrandes rechts konterkariert. Erst durch diese Folie gewinnt die Konfiguration der Figuren an Prägnanz. Als Ursache der primär erfassten „Gestalt“, der diagonal fallenden Bewegung, wird auf die Blindheit der Figuren geschlossen, die alle mit diesem Makel ausgestattet sind und infolge ihrer Verkettung dasselbe Schicksal erleiden. Die ein-

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prägsame „Gestalt“ in Kombination mit dem vorikonografischen Befund lässt an diesem Sachverhalt keinen Zweifel aufkommen – er entspricht unserer Lebenserfahrung und tritt unmittelbar ins Bewusstsein. Der Vollzug des Bewegungsablaufs und die inhaltlichen Implikationen, in unserer Erlebniszeit nachträglich vergegenwärtigt, werden ästhetisch ausgekostet und die verschiedenen Phasen des Geschehens in ihrer Unausweichlichkeit im Geiste nachvollzogen. Das Sinnbildhafte des Blindensturzes spiegelt sich in der phänomenal gegebenen Struktur. Angesichts des determinierten Missgeschicks der labilen Figuren und des tragischen Gebrechens der Menschen stellt sich die Frage nach der biologischen bzw. historischen Ursache ihrer Blindheit, ergibt sich das spontane Verlangen des Betrachters, wenigstens rational die Einheit einer heilen Welt wiederherzustellen. Gegen den unerbittlichen Vollzug des Unglücks, das die unmittelbare Zukunft praktisch in ein schon Geschehenes verkehrt, steht das Verlangen des Menschen nach Freiheit, der voluntaristische Vorgriff auf das Zukünftige, das eine Gewähr für den Fortgang des Daseins bieten möge (vgl. Einleitung S. 15). Nicht im ästhetischen Akt der Wahrnehmung, sondern erst in der nachträglichen moralischen Reflexion wird das gestörte Gleichgewicht von Freiheit und Notwendigkeit wiederhergestellt. Die Zeitdehnung ist in diesem Fall auf den komplexen Decodierungsprozess zurückzuführen, welcher der Zeitstruktur einen tieferen, existenziellen Sinn verleiht. Die moralische Auswertung der Erlebniszeit – die phänomenal gegebene, unmittelbar erschaute Gestalt und die zeitliche Differenzierung des sich vollziehenden Falles hier und jetzt – ist wiederum unterschiedlich ausgerichtet  : • auf die Frage nach der biologischen und historischen Vergangenheit, • nach der Notwendigkeit in der Natur und • auf die Frage nach Schuld und tragischer Verstrickung von Individuum und Gesellschaft  ; • auf den Vollzug des unabwendbaren Falles, der sich vor den Augen des Betrachters abspielt und ihn selbst vor die existenzielle Frage der Determiniertheit seines eigenen Lebens und der Gesellschaft stellt  ; • auf den eigenen Drang, sich die Freiheit des Handelns und eine offene Zukunft zu bewahren – dieser schlägt modifizierend auf die Präsenzzeit der Bildbetrachtung zurück. Erlebniszeit bedeutet, wie in der Einleitung mehrmals betont, immer Nachvollzug der im Kunstwerk gestalteten symbolischen Form. Im Augenblick der Bildbetrachtung

geht die zeitlich-räumliche Struktur in der qualitativen „reinen Dauer“ des Erlebens und Empfindens, wie es Bergson darlegt, auf (S. 11). Die Struktur des „Blindensturzes“ entspricht in ihrer Ikonik dem „Fallen“, das als ein Äquivalent des gefährdeten Daseins selbst unmittelbar erkannt und empfunden wird. Die wahrgenommene Zeitgestalt des Blindensturzes gewinnt somit für den Betrachter eine nachhaltige existenzielle Bedeutung. Die symbolische Form, die zeitlich-räumliche Struktur des Bildes wird im Augenblick der Bildbetrachtung in ihrer Ganzheit, in der qualitativen, reinen Dauer des Erlebens und Empfindens aufbewahrt.

Die Elster auf dem Galgen In Bruegels vielleicht letztem Gemälde, „Die Elster auf dem Galgen“ von 1568 (Hessisches Landesmuseum, Darmstadt), findet ein lustiger Tanz von Bauern auf einem Galgenberg statt (Abb. 254). Wenn Manders Angabe stimmen sollte, dass Bruegel dieses Bild seiner Frau vermacht hat, 147 ist anzunehmen, dass mehr hinter dem Werk steckt als nur ein harmloses Genrebild. Es ist auch nicht vorstellbar, dass der Künstler gegen Ende seines Lebens (wiewohl man über den Gesundheitszustand des Malers nur spärlich unterrichtet ist) die Unwägbarkeiten des Daseins und die damit verbundene Reflexion plötzlich nicht mehr zum Thema gemacht hätte. Auf dem Hügel im Vordergrund steht ein Galgen, auf dem eine Elster sitzt. Diese hatte einen schlechten Ruf, galt der Vogel doch als Begleiter Satans, dem Laster zugeneigt. Auch sah man in der Elster den Inbegriff von Schwatzhaftigkeit und Torheit (Pierio Valeriano, Hieroglyphica, Basel 1556, XXIII, fol. 166v). Aber vor allem haben Klaus Ertz sowie S. und L. Dittrich der Elster in der Morallehre der Reformer einen Platz eingeräumt  : Ihre Erscheinung dränge den Menschen dazu, sich für Gnade oder Sünde zu entscheiden.148 Neben dem Galgen befindet sich ein roh gezimmertes Kreuz – die frischen Späne an dessen Fuß weisen darauf hin, dass sich an der Hinrichtungsstätte vor nicht allzu langer Zeit Schlimmes zugetragen hat (zu dieser Zeit hatte Bruegel übrigens auch die Hinrichtung des niederländischen Freiheitskämpfers Graf Egmont in Brüssel miterlebt). Vom Galgenberg aus blicken wird auf eine Wassermühle herunter, deren Rad sich ständig dreht, gespeist von einem unablässigen Strom – ein Bild der verfließenden Zeit schlechthin. Zwischen den schlanken aufragenden Bäumen mit dem frühlingsfrischen Laub in den Kronen schweift der Blick über das weite Land. Hinter dem kleinen Flecken, den wir links aus der Vogelperspektive erblicken, erhebt sich in der

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254 Pieter Bruegel d. Ä., Die Elster auf dem Galgen, 1568. Hessisches Landesmuseum, Darmstadt.

Ferne im blauen Dunst eine mächtige Festung. Ein weites Flusstal zwischen aufragenden Felsformationen schließt sich nach dem bewährten Muster der Übersichtslandschaft an, um sich im Nebel der fernen Bergmassive zu verlieren. Vielfältiger und lieblicher hatte Bruegel bislang die Natur nicht geschildert. Dem eigentlich düsteren Ort wird so der Schrecken genommen  ; die Natur steht dem Tod und dem Verderben der Menschen indifferent gegenüber, wie es insbesondere in der idyllischen Dorflandschaft im Hintergrund des Blindensturzes oder im Sprichwort vom Vogelnest der Fall ist. Dies gilt auch für die Dorfbewohner, die sich an der Richt-

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stätte versammelt haben und unter den Klängen eines Dudelsacks ein Tänzchen wagen, während im linken unteren Eck der Szene ein Mann seine Notdurft verrichtet – nach Dittrich ein uneinsichtiger „Galgenvogel“. Der Mensch, so wie er hier geschildert wird, lebt nur im engen Radius seiner Leiblichkeit und Lebenslust, dem Augenblick und seiner Lebenswelt verhaftet. Vergangenes Leid, böse Vorahnungen oder gar Tod können das Treiben und die Freuden der Gegenwart nicht trüben. Ohne Hintergedanken geben sich die Menschen dem sinnlichen Dasein auch in seinen niederen Formen hin.

Späte Parabeln

Im Gegensatz zu den späten Sprichwortbildern erscheinen die Menschen hier harmonisch in die schöne Natur integriert, ihr nicht mehr antagonistisch gegenübergestellt. Sie entwickeln in ihrem unreflektierten Dasein kein Selbstbild, das sie von der Natur abheben würde, sondern gehen in dem organischen Leben auf. Auch hier drohen Ungemach und Tod, wie am Galgen, der Elster und dem Kreuz ersichtlich, aber der Tod steht zugleich im Zeichen des Galgens mitten im Leben. Dem Menschen und der Natur ist gleichermaßen „ein Leben zum Tode“ beschieden. Und wenn man der ikonografischen Auslegung der Elster Glauben schenkt, sieht sich der Mensch erst am Ende vor die unausweichliche Entscheidung zwischen Sünde oder Gnade gestellt. Diese existenzielle Frage der religiösen Reformbewegung des 16. Jahrhunderts wird nur in verhüllter Form durch die unverdächtige Schilderung der schönen Natur, die genießende Schau der Welt im Glanz eines strahlenden Tages berührt – das malerische Äquivalent zum Darmstädter Bild entspricht in etwa dem, was die französischen Landschaftsmaler im 19. Jahrhundert mit enveloppé zu bezeichnen pflegten. Ein weiterer Aspekt könnte ebenfalls metaphorisch gedeutet werden  : Die Elstern, die zweite sitzt im Dornbusch im Vordergrund, bilden ein Paar. Beide sind freche Vorboten von Leid und Tod und reden dem Menschen ins Gewissen, ohne allerdings Gehör zu finden. Im Himmel links erscheint ein einsamer Kranich oder Reiher. Im späteren Emblembuch Bellerophon von Dirck Pietersz Pers (Amsterdam 1614) heißt es über den Kranich, der über den Regenwolken fliegt  : „Hier ist Gewühl und Wildnis, auf Gott zielt all unser Verlangen, wir leben hier in Schmerz und Elend, bei Gott soll unsere Ruhe sein.“149 Über den Reiher weiß Joachim Camerarius d. J. in seiner Symbolorum & Emblematum ex volatilibus et insectis … centuria tertia collecta (Nürnberg 1596) zu berichten  : „Der Kluge vermeidet vorausschauend die Stürme der Fortuna, so wie der emporfliegende Reiher den Regen bringenden Südwinden ausweicht.“150 Welche Bedeutung dem Vogel auch zugemessen wird, ein Bild der Freiheit gibt er allemal ab, wie es das vorangehende Motto sagt  : „Die Natur spricht und ich hebe mich empor“ (Natura dictante feror). Der Vogel erhebt sich wie der Geist des Menschen und lässt die irdische Natur zurück. Ob wir mit diesen recht vagen Auslegungen den tieferen Sinn des Gemäldes, das womöglich als ein Vermächtnis an Bruegels Frau gedacht war, erfassen, sei dahingestellt. Aber immerhin kündet der Kranich oder Reiher von der Möglichkeit, im Jenseits Ruhe zu erlangen und die Nähe zu Gott zu finden. Er repräsentiert den Lohn der im Leben getroffe-

nen richtigen moralischen Entscheidung und stellt die erhoffte Gnade und Erlösung in Aussicht. Auch ein sehr persönliches Bekenntnis könnte mit den Elstern verbunden sein, haben wir es doch hier mit zwei Exemplaren der Art zu tun  : die eine auf dem Dornbusch im Vordergrund sitzend, die andere auf dem Galgen, dem Tod näher. Sie geben womöglich ein positives Bild des Zusammenlebens ab, denn der monogame Charakter des Vogels dürfte bekannt gewesen sein. Es könnte sich im Rückblick also um eine Trost spendende Lebensweisheit handeln. Gewiss kehrt das schöne Gemälde auch die Ambivalenz des Lebens angesichts des allgegenwärtigen, bevorstehenden Todes hervor, von dem Bruegel selbst womöglich eine Vorahnung hatte. Als Maler nahm er alles auf, was die Natur ihm Schönes zu bieten hatte. Aber gerade diese Hinwendung zum schönen Schein der Welt, der ihm als Maler ein Lebenselixier gewesen sein muss, droht den Blick auf die verborgene Wahrheit und die existenzielle Entscheidung zwischen Sünde und Gnade zu trüben. Diese Problematik hatte Bruegel bereits früher in einem sehr persönlichen kleinen Gemälde angesprochen.

Die beiden Affen Der innere Zwiespalt, in dem der Mensch, insbesondere der Maler, zu leben hat, der Zeitlichkeit und Dasein überhaupt durchzieht, wurde von Bruegel bereits in dem Gemälde „Die beiden Affen“ von 1562 (Gemäldegalerie der Staatlichen Museen in Berlin) angesprochen (Abb. 255). Die kleinen Maße, 20 x 23 cm, lassen darauf schließen, dass es sich um ein privates Gemälde, vielleicht ein Geschenk handelte, das der Künstler im Jahr 1562 geschaffen hatte, bevor er aus familiären Gründen im folgenden Jahr von Antwerpen nach Brüssel übersiedelte. Ich stütze mich im Folgenden auf Müllers brillante Interpretation des Bildes, das in diesem Kontext von Erlebniszeit und Reflexion unverzichtbar erscheint. In der Fensteröffnung eines hohen Festungsturmes sitzen zwei Meerkatzen, mit schweren Ketten an einem Eisenring befestigt. Durch die Arkadenöffnung dahinter blicken wir aus großer Höhe auf eine Hafenstadt herab. Es ist anzunehmen, dass wir es dabei mit Antwerpen zu tun haben  ; gerade in diesem Zentrum des weltumspannenden Handels sind die Affen nicht fehl am Platz. Müller hat eine Vielzahl Deutungen des Bildes angeführt, die natürlich mit der ikonografischen Tradition der Tiere zusammenhängen  : Schon 1935 hat Charles de Tolnay ein flämisches Sprichwort gefunden, das der Intention des Bildes grob entsprechen mag  : „Was findet man auf der Welt doch für seltsame Menschen, und

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er sah einen Affen auf der Fensterbank sitzen.“151 Hier wird nicht so sehr der Dualismus von Mensch und Natur angesprochen als vielmehr die als Irrtum entlarvte Identifikation des Menschen mit dem Affen.152 Janson hat in seiner ausführlichen ikonografischen Untersuchung des Motivs von 1952 die beiden Affen mit den Nussschalen in Verbindung gebracht. Nach einer Anekdote Lukians sollen die dressierten Affen beim Anblick der Nüsse sofort alles Angelernte vergessen und in der Gier ihre wahre Natur offenbart haben. Sie gaben fortan ein Bild des sinnlichen und verführbaren Menschen ab.153 Bei Gregor von Nyssa ist von den lauen Christen die Rede, die sich von der Sünde wie die Affen von den Nüssen verführen lassen.154 Mehrfach ist in diesem Zusammenhang auch auf Dürers Holzschnitt Von Buolschaft in Sebastian Brants „Narrenschiff“ (1494) verwiesen worden. Dort wird der Affe als Sinnbild der Fleischeslust zusammen mit anderen Begleitern der Venus vulgaris vom Tod gefesselt. Margaret Sullivan hat in einem Artikel auf zwei weitere Affen verwiesen, die in einem Haus am Rande der Unterwelt im Gemälde der „Dulle Griet“ aus demselben Jahr hinter einem vergitterten Fenster erscheinen. Das Motiv hat Bruegel offensichtlich zu dieser Zeit beschäftigt, wiewohl es in diesem Fall nicht überzeugend zur Klärung des Bildinhalts im Berliner Gemälde hat beitragen können.155 In den 1530er-Jahren hat Tizian die Vorlage für den Holzschnitt von Laokoon in Gestalt von drei Affen geschaffen. Von der gelungenen Parodie der berühmten Skulpturengruppe abgesehen spricht er zugleich die Ähnlichkeit von Affe und Mensch an, die in der Karikatur ihren Niederschlag findet. Den Humanisten vertraut war der Spruch des „Nachäffens der Natur“  ; mit dem Affen gleichgesetzt wurde die imitative Kunst selbst  : ars simia naturae. Wir finden die Umsetzung dieses Sinnspruchs ohne negative Konnotation etwa in Giovanni Bellinis „Breramadonna“, wo der Affe auf einem antiken Sockel über der fingierten Signatur des Malers und der Jahreszahl MDX hockt. In Bruegels Gemälde ist die Signatur ostentativ an der Wand links unterhalb des Affen, der den Betrachter mit großen Augen anblickt, angebracht. Müller macht hier auf den wesentlichen Aspekt der Empathie aufmerksam, denn auch wenn die Tierhaltung zur Zeit Bruegels nicht dem heutigen Stand des Tierschutzes entsprochen haben dürfte, kann der Betrachter nicht umhin, sich der traurigen, ausweglosen Situation der beiden angeketteten Tiere zu entziehen, zumal hinter ihnen das Licht strahlt und sich die Weite von Himmel und Erde auftut. In diesem Zusammenhang hat Müller die innerbildliche Struktur des Gemäldes erörtert  : Der lichte Landschaftsausblick erscheine als Bild im Bilde und der Glanz der schönen

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Welt lasse die beiden Affen noch bemitleidenswerter erscheinen. Vor allem aber wird deren Fesselung mit der des Menschen in Verbindung gebracht, nicht zuletzt mit der des Künstlers als „Nachahmers der Natur“. Wieder sei es Sebastian Franck, der in seinem 91. Paradoxon einen Schlüssel zu einem besseren Verständnis der Analogie zwischen Affe und Mensch liefere, auf die es Bruegel womöglich abgesehen hat  : „O, es ist ein wunderbarlicher verborgener Gott, der so wunderbarlich ist unter den Menschenkindern, der alle Weltweisen und Reichen also zu Schanden und bei habenden Dingen zu Bettlern macht, ihrer Reichtümer spottet und all verkehrten Menschenkinder also auf die Affenbank (!) setzt.“156 Der Affe verhalte sich zum Menschen wie dieser zum verborgenen Gott, den er letztlich nie zu Gesicht bekomme, d. h. erkennen könne. Als irdisches Geschöpf bleibe der Mensch unweigerlich dem Sinnlichen verhaftet. Darin, dass er in seiner Kreatürlichkeit sein Dasein in lebenslänglicher Haft verbringen muss, gleiche er dem in Ketten gefesselten Affen.. Insbesondere der Künstler, dem der Affe in seinem Nachahmungstrieb sprichwörtlich vor Augen gehalten werde, sei der Sinnenwelt auf Gedeih und Verderben in seinem Schaffen ausgeliefert. Der schöne Landschaftsausblick im Hintergrund wird wie erwähnt als Bild im Bilde eingestuft. Diese Welt des schönen Scheins stehe den Affen, aber auch dem Betrachter des Gemäldes nur als Bild vor Augen – der Wahrheitsgehalt des reinen Abbildes könne ebenso infrage gestellt werden wie der Eindruck, den wir über die Sinneswahrnehmungen von der Welt erlangen. Die Kunst, so wie sie Bruegel uns hier vorführt, bestehe darin, aus einem Abbild ein Sinnbild zu schaffen.157 Wohl nicht zufällig erblicken wir über dem Affen rechts zwei Vögel im lichtdurchfluteten Himmel. Bei der Interpretation der „Elster auf dem Galgen“ wurde der von Camerarius angeführte Reiher im dritten Buch seiner Emblemsammlung als ein Vogel beschrieben, der sich über die Natur erhebt (vgl. S. 391). Im Gemälde mit den beiden Affen könnte der Reiher, der sich über die Zwänge des irdischen Daseins in die Lüfte erhebt, ebenfalls gleichnishaft als Inbegriff der Freiheit gesehen werden. Verstärkt wird dieser spirituelle Aspekt, wenn man wie Müller das Motiv des Hafens mit den Schiffen mit der herkömmlichen Allegorie der „Hoffnung“ (spes) in Verbindung bringt, die dem Menschen im Gegensatz zum Affen vor Augen steht. Die Hoffnung mag den Menschen allen irdischen Hemmnissen und Fallstricken zum Trotz doch zum Höheren geleiten. Auf die Selbstbescheidung des Betrachters, der in den beiden Affen auch ein Bild seiner eigenen, im Sinnlichen verharrenden

Späte Parabeln

255 Pieter Bruegel d. Ä., Die beiden Affen, 1562. Gemäldegalerie der Staatlichen Museen, Berlin.

Existenz erkennen mag, folgt der Weg der Einkehr in der Hoffnung, nun doch jenem inneren Licht und der Wahrheit zu begegnen, die in unserem Bild dem suchenden Betrachter als die Vision einer lichten Welt von höherer Dignität vor Augen stehen. Die Tugend der „Hoffnung“ stellt sich meist als eine Illusion heraus. Aber diese sei nicht unbedingt negativ einzustufen, wie Erasmus meint, denn gerade die Torheit, „das Unvermögen des Menschen, der Wahrheit ins Auge zu sehen, das Elend des menschlichen Daseins und das Hoffnungslose in der eigenen Situation zu erfassen …, sei seine einzige Möglichkeit, zu einem glücklichen Leben [zu gelangen]. … Alle irdischen Hoffnungen sind sicherlich nichts anderes als torhafte Illusionen, doch die trügerische Hoffnung ist not-

wendig, damit der Mensch die Widerwärtigkeiten des Daseins ausstehen kann.“158 Bruegel scheint sich früh Erasmus’ pragmatischer Sicht der Dinge und dessen „Prinzip Hoffnung“ angeschlossen zu haben. In seinem Stich mit der Tugend der Spes, datiert auf 1559, sehen wir die „Hoffnung“ mit ihren Attributen des Spatens, der Sichel und des Bienenkorbes auf dem Haupt als Inbild des praktischen, tätigen Lebens und der damit verbundenen Erwartungen und Freuden. Um sie herum und im Hintergrund tobt der Kampf der Menschen gegeneinander und gegen die Elemente der Natur. Unglück, Krankheit und der unvermeidliche Tod – wie könnte der Mensch, so Erasmus, dies alles aushalten, wenn er dies alles nicht vergäße und sich den Freuden des Lebens hingäbe  ? Bruegels Stich ist mit einem ähnlichen

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Pieter Bruegel der Ältere

Sinnspruch versehen  : „Die Überzeugung, die die Hoffnung uns gibt, ist lieblich und eine Notwendigkeit für ein Leben unter so vielen nahezu unerträglichen Prüfungen.“159 Die Hoffnung ist eine in die Zukunft gerichtete Wunschvorstellung, die eine notwendige, seelenheilende Wirkung auf die Psyche, die Befindlichkeit in der Gegenwart ausübt. Erasmus’ positive Beurteilung auch der illusorischen Hoffnung als eine Notwendigkeit im seelischen Haushalt des Menschen überrascht, zumindest aus der Sicht der strengen Reformer, für welche die Hoffnung des Christenmenschen auf das zukünftige Fernziel, die Erlösung, als unverrückbare Tatsache und Glaubensgewissheit im Vorfeld doch bedingungslosen Glauben und unerbittlichen Gehorsam einforderte. Bruegels Gemälde der letzten Jahre lösen sich von der Zeitlichkeit im engeren Sinn. Sie sind nicht mehr erzählerisch wie die früheren biblischen oder historischen Szenen, noch fügen sie sich wie die großen Jahreszeitenbilder in den Jahreszyklus der Natur ein, der das Leben des Menschen beherrscht. Die Sprichwörter und Parabeln, die in der letzten Schaffensphase Raum greifen, spielen sich nicht wie die Sammel- und Wimmelbilder der späten 1550er-Jahre auf einer Bühne der Welt ab, die wir aus der Vogelperspektive vom Zuschauerrang aus beobachten können. Wir befinden uns vielmehr auf Augenhöhe mit den Protagonisten, deren Anzahl in den gleichnishaften Bildern zunehmend reduziert wird. Die Nähe zum Ereignis führt zu einer Steigerung der Präsenzzeit  ; die Ausrichtung der Erlebniszeit, insbesondere auf Vergangenes hin, ist nun weniger ausgeprägt  ; dafür tritt die Gegenwart in ihrer Sinnlichkeit umso stärker hervor. Von einer Handlung im eigentlichen Sinn kann bei einem Sprichwort eigentlich nicht die Rede sein, denn gerade das anvisierte Ziel oder die offene Zukunft, die eine Handlung begleiten, sind Teil der Parabel selbst. Die Gegenwart bleibt selbstbezüglich und die Moral der Geschichte, die sich an den Betachter richtet und das künftige Geschick mit einbezieht, ist bereits ausformuliert. *** Zu Beginn dieses dritten Bandes von Bild/Zeit wurde das Phänomen der Bildmächtigkeit angesprochen  : Die Malerei entwickelt eine eigene Daseinsform und Autonomie, verschafft sich als „Kunst“ einen eigenen Sitz im Leben – sie hat dabei ihre Funktion als „Bedeutungsträger“ nicht aufgegeben, lässt diese aber aus der Sicht der formalen Gestaltung gelegentlich doch nachrangig erscheinen. In den „poetischen Allegorien“ wurde dem Maler eine neue gestalterische Freiheit, auch was den Inhalt betraf, zugestanden. Bruegel

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dürfte bereits in den 1550er-Jahren diese künstlerische Eigenständigkeit genossen haben. Über das Verhältnis zu den Auftraggebern weiß man nur wenig – offensichtlich handelte es sich um reiche Kaufleute, die als Sammler seiner Werke auftraten. Ebenso wichtig wie die Farbe, wenn nicht sogar primär, ist bei Bruegel die Zeichnung. Dies gilt sowohl für die Erfassung der Gebirgslandschaften oder der heimischen Örtlichkeiten als auch für die menschliche Figur, die ja stets eine fundamentale Bedeutung für ihn besitzt, nicht zuletzt als Träger des Bildsinns im engeren oder im weiteren, moralischen Kontext. Wie groß der Anteil des Künstlers an den unterschiedlichen Bildthemen war, lässt sich kaum eruieren. Was aber die akribische und zuweilen drastische Umsetzung meist dürr anmutender moralischer Lehrsätze betrifft, ist er ganz bei sich  – ja die Vitalität und die persönliche Note, die er den Protagonisten in seinen Bildfindungen verleiht, lässt ihn als einen begnadeten Erzähler erscheinen, auch dort, wo es sich nicht um eine „Erzählung“ im engeren Sinn handelt. Die Sichtbarmachung des tieferen moralisierenden Sinngehalts erfolgt durch die Darstellung des Menschen in einer spezifischen, auf die Gegenwart fokussierten Situation. Diese zeitliche Gewichtung enthält fast immer einen Hinweis auf den weiteren Fortgang der „Geschichte“ oder auf ihr jähes Ende  : auf die Hinrichtung nach der Kreuztragung, den „Selbstmord Sauls“ nach der Niederlage, die „Bekehrung Saulus“ nach dem Sturz vom Pferd, die „Geburt Jesu“ nach der beschwerlichen Winterreise, den „Triumph des Todes“ als Apokalypse am Ende der irdischen Zeit, die Taufe Christi nach der „Predigt des Johannes“. Unerwartet erfolgt das unvermittelte Ende der „Bauernhochzeit“, jäh ist der „Sturz der Blinden“, panisch die Reaktion des „ungetreuen Hirten“, der seine Herde im Stich lässt, oder die Reaktion des schutzlos ausgelieferten Paares beim „Überfall“, blind in seiner Borniertheit der Bauer im „Vogeldieb“, der stracks selbst in die Grube fallen wird. Die Brüchigkeit der menschlichen Existenz und die Niedertracht der Menschen sind immer wiederkehrende Themen, von Bruegel kühl diagnostiziert. Im Gemälde mit der Elster auf dem Galgen erscheint der Tod als Teil des Lebens. Unterschwellig wird die für jedermann zu treffende Entscheidung zwischen Sünde und Gnade, Tod und Leben angesprochen. Aber die schöne Landschaft mit den sorglosen, selbstvergessenen Protagonisten lässt die Szene zugleich wie einen Abgesang auf das unbefangene Leben erscheinen. Die Lebensfreude wird nur leise durch das Memento der Elster, des Galgens und des Kreuzes im Bewusstsein des Betrachters getrübt.

Resümee Eine Zusammenfassung der Ergebnisse in diesem Buch ist aus methodischer Sicht nur mit Einschränkungen möglich, da die Untersuchung der Bild-Zeit nicht nur die empirisch feststellbaren Erscheinungsformen in der bildenden Kunst zum Gegenstand hat, sondern auch die formalen Beschreibungen und inhaltlichen Interpretationen derselben, d. h. die reflexiven Abläufe im Bewusstsein des Betrachters oder Lesers zu berücksichtigen sucht. Die Manifestation von Zeit, sei sie formaler oder inhaltlicher Natur, ist im Kunstwerk gegeben. Schwer greifbar und unstet erscheinen jedoch Wahrnehmung, Empfindung und Zeitbewusstsein, nicht zuletzt, wenn es um die mentale Repräsentation früherer Bewusstseinsinhalte geht. Die reflexive Verarbeitung dieser psychischen Prozesse erfährt zudem eine Transformation, indem Eindrücke und Gedanken in eine sprachlich-logische und kommunikative Form gebracht werden müssen. Von der Betrachtung zur Artikulation und Reflexion – so könnte man den adäquaten Werdegang eines hermeneutischen Verständnisses von bildender Kunst und deren Vermittlung definieren. Das vorliegende Buch wendet sich im Anschluss an zwei vorangegangene Publikationen der Bild-Zeit dem 16. Jahrhundert zu. Aus der Perspektive der Erlebniszeit zeichnet sich hier ein Einschnitt in der abendländischen Mentalitätsgeschichte ab  : Man kann sowohl seitens der Künstler als auch der Auftraggeber von einer „neuen“ ästhetischen Verhaltensweise in Bezug auf Kunst und Leben sprechen, welche die kulturelle Entwicklung nachhaltig prägen sollte. Nicht alle Phänomene der Kunst und der damit in Zusammenhang stehenden Rezeptionsprozesse können mit der künstlerischen Sicht (Fiedler) von Werk und Welt in Verbindung gebracht werden  ; aber eine entscheidende Weichenstellung in der Wahrnehmung, die bis in die Moderne reicht, setzte doch um 1500 ein. Der Manierismus lässt sich als Beleg für diesen Umstand anführen  ; aber nicht der ausgefallene, manchmal provokante Stil lag dem ästhetischen Sinneswandel zugrunde, sondern vielmehr die Bereitschaft, die Kunst um ihrer selbst willen zu würdigen und den Künstlern den nötigen Freiraum für ihre Kunstausübung zu gewähren. Zuweilen lässt sich anhand von einigen bedeutenden Werken des 16. Jahrhunderts sagen, dass die Zeit selbst – nicht nur in ihrer symbolischen Form, sondern als eigentliche Existenzform des Menschen, in der Geworfenheit seines Daseins im Rahmen einer Heilsgeschichte mit unwägbaren Vorzeichen, thematisiert wird. Als schlagendes Beispiel solch einer neuen Ikonologie der Zeit wurde in der Einleitung dem

Doppelporträt „Die Gesandten“ von Holbein d. Jüngeren in der Londoner National Gallery breiter Raum eingeräumt. Gerade an diesem Werk, in der Schicht um Schicht eindringenden Betrachtung und der damit verbundenen Reflexion, wird das Phänomen Zeit in ihrer fundamentalen Bedeutung für das Dasein und die Kunst unmittelbar greifbar. Aufgehoben wird dabei nicht nur die Kategorie der zeitlichen, sondern auch die der räumlichen Distanz. Solcherart gestellte Fragen an die bildende Kunst und deren Analyse führen auch den heutigen Betrachter in den Kernbereich der existenziellen Zeiterfahrung, deren Bedeutung, so wie es Gadamer deutlich gemacht hat, evident aufscheint. Das erste Kapitel stand unter der Rubrik „Die Macht der Bilder“, denn als „natürliche“, auch mimetische Zeichen schlagen kleine, für den privaten Gebrauch ausgeführte Gemälde den Betrachter in ihren Bann. Ihre Wirkung lässt sich anhand der inhaltlich eher vagen sog. „poetischen Allegorien“ ermessen, deren freie Maltechnik zunächst in Venedig durch Giorgione zum Durchbruch gelangte. Später erhielt der malerische Ausdruck auch in den großen profanen und sakralen Werken in der venezianischen Malerei Vorrang (Tizian, Tintoretto). Grundsätzlich wurde dadurch „das künstlerische Sehen“ seitens des Betrachters verstärkt eingefordert, und dies gilt auch heute noch für die Leser des vorliegenden Buches. Die unterschiedlichen Gattungen der Malerei schöpfen ihre unmittelbare Wirkung aus der Symbiose von maltechnischer Virtuosität und rhetorischer Eloquenz. Zeitlichkeit in Form von Bewegungsdarstellung, Zeitsymbolik und Erzählstruktur sowie die „historische Zeit“ als Konstrukt der Vergangenheit kommen dabei je nach Ausrichtung der Bilder zum Tragen. Der innere Nachvollzug dieser Darstellungsformen in der Erlebniszeit des betrachtenden Subjekts wird dabei von der entsprechenden Reflexion begleitet, welche den innerzeitlichen Aspekt der Kunstbetrachtung verstärkt in den Fokus rückt. Fortlaufende Erzählzyklen waren bereit in der Antike bewährte Mittel visueller Kommunikation. In der frühen Neuzeit wurde diese Erzähltechnik von Giotto in San Francesco in Assisi und in der Arenakapelle in Padua einem neuen Höhepunkt zugeführt. Die Künstler haben sich im Tre- und Quattrocento in Freskenzyklen und Predellen immer wieder solcher kontinuierlichen Erzählweisen bedient. Mit dem Aufkommen der Radierung und des verfeinerten Holzschnitts zu Illustrationszwecken erhielt die kontinuierliche Erzähltechnik Ende des 15. Jahrhunderts zusätzliche Aktualität und Ausdruckskraft. In Dürers Apokalypse wird die Proble-

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matik einer aus Einzelblättern bestehenden Erzählfolge virulent  ; die zugrunde liegende Geschichte setzt sich aus quasi frei stehenden Szenen zusammen. In den folgenden beiden großen Zyklen, der Großen Passion und dem Marienleben, sind die Einzelszenen aneinander angeglichen, und die Handlung steuert kontinuierlich auf einen Höhepunkt zu. Im Anschluss an Dürers Große Passion kam es in der zeitgenössischen Grafik und in der Miniaturmalerei zu Erzählzyklen von ungeahntem Ausmaß – hier sind neben Dürer auch Hans Burgkmair d. Ä. und Albrecht Altdorfer zu nennen. Die drastische Entfaltung von Einzelszenen in seriellem Verbund erfolgte in den nicht enden wollenden Triumphzügen Kaiser Maximilians I.: in Burgkmairs Holzschnittfolge oder in dem auf Pergament gemalten Bilderfries von Altdorfer, Dürer und Gehilfen, der vermutlich auf zwei Trommeln aufgezogen war, sodass derFestzug in der „Echtzeit“ vor den Augen des Kaisers vorbeiziehen konnte. Zur selben Zeit, in den Jahren 1495–1528, wurde der erste große Stationsweg von Gaudenzio Ferrari u. a. in Sacro Monte bei Varallo geschaffen. In Anlehnung an die zeitgenössischen Mysterienspiele mit ihren luoghi deputati wurde das Publikum angehalten, sich selbst von einem Ort der Handlung zum nächsten zu begeben und sich fortlaufend die bekannten Szenen zu Gemüte zu führen. Der fromme Nachvollzug geht in der Zeit analog mit dem Geschehen einher. Hier ist auf die im zweiten Band von Bild/Zeit angesprochene meditative Technik der „frommen Nachahmung“ (imitatio pietatis) zu verweisen. Michelangelo hat sich grundlegend mit dem Zeitaspekt auseinandergesetzt  : in der Skulptur im Sinne Herders, indem die verdichtete plastische Gestalt aus der Erdgebundenheit des Blocks gelöst und einem imaginären Zustand der Vergeistigung zugeführt wird  ; oder in den großen „Gesamtkunstwerken“ der Sixtina und der Medicikapelle, wo es formal und auch inhaltlich um Fragen des Zeitlichen und der Erlösung geht. In der Deckenausmalung der Sixtinischen Kapelle setzt ein Regress in den Szenen der Mittelachse ein  : von der zweiten Ursünde Noahs über die Erschaffung des Menschen, der Welt der Lebewesen und der Erde bis zum Anbeginn des Kosmos, dem Augenblick der Trennung von Licht und Finsternis, Geist und Materie. Dazu ergreifen begleitend Propheten und Sibyllen in den Stichkappen und Zwickeln das Wort  : Sie stellen die Verbindung zum Heiland, der kommen wird, her. In den Lünetten, die nunmehr in stupender Farbpracht einer frühmanieristisch anmutenden Malerei erstrahlen, tritt die lange Geschlechterreihe der Vorfahren Christi hervor. Mit den vorangehenden Wandfresken, die das Wirken Moses’ sub lege und das von Christus sub gratia zum Ge-

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genstand haben, sowie mit der späteren Teppichserie Raffaels, welche die Verbreitung des Glaubens unter gentes und gentiles durch die beiden Apostelfürsten schildert, nimmt die Erlösungsgeschichte ihren Lauf. In der Ausmalung der Sixtinischen Kapelle steht uns – zunächst unabgeschlossen – ein universaler Heils- und Zeitspiegel vor Augen. Mit dem späteren Jüngsten Gericht, zu Beginn der Gegenreform an der westlichen Stirnwand geschaffen, unmittelbar unterhalb der Deckenszenen mit der Schöpfung des Kosmos und der Welt, schließt sich der Kreis der kosmischen Zeit und der irdischen Heilsgeschichte. An die benachbarte Erschaffung der Welt schließen sich Endgericht und Erlösung an, die weder Vergangenheit noch Zukunft kennen – es geht die verrinnende Zeit, wie es Augustinus formuliert, in den Zustand der Ewigkeit über. Die Neue Sakristei in San Lorenzo in Florenz war als Memorialbau der Medici konzipiert und auf den Ruhm und das Seelenheil der verstorbenen Herzöge ausgerichtet. Die Verstrickung des Menschen ins Irdische wird durch die allegorischen Figuren der Tageszeiten auf den Sarkophagdeckeln versinnbildlicht  ; unerbittlich fällt alles Lebendige der Vergänglichkeit und dem Tod anheim. Labil ruhen die Gestalten auf den abschüssigen Sarkophagdeckeln, wiewohl sie sich noch organisch von der starren Ordnung der tektonischen Wandgliederung abheben  ; unaufhaltsam scheinen aber Wärme und Leben aus ihnen zu entweichen. Die idealisierten Sitzfiguren der beiden Herzöge repräsentieren das Ende des Geschlechts der Medici. Die abstrakt gegliederte Wand strebt, sich nach oben verjüngend auf die lichte Kuppel zu, von wo aus die Strahlen sich in den stillen Raum ergießen, um in einem Zustand der kühlen Entropie zu enden. In diesem von Statik und Zeitlosigkeit beherrschten Raum wird der Ritus des fortwährenden sakramentalen Opfers vollzogen – vier Stundengebete am Tag bis zum Ende der Zeiten sollten auf Geheiß Clemens VII. für das Seelenheil der Verstorbenen sorgen. Anfänge der Gattung der Historienmalerei sind bereits im Quattrocento zu verzeichnen  : in den repräsentativen Darstellungen des venezianischen Gemeinwesens, die nur bruchstückhaft auf uns gekommen sind, oder in Piero della Francescas Zyklus der Kreuzeslegende in San Francesco in Arezzo, wo fortwährend die Brücke von der Antike zur Gegenwart geschlagen wird. Die großen Wandzyklen in der Sixtinischen Kapelle unter Sixtus IV. zu Beginn der 1480erJahre bringen ebenfalls die alt- und neutestamentlichen Szenen sub lege und sub gratia mit dem Wirken der Kirche in der Gegenwart in Verbindung. Leonardo hat in seiner Anghiarischlacht ein paradigmatisches Lehrstück eines Schlachtenbildes geschaffen, in dem

Resümee

der Kampf als ein anthropologisches Phänomen auf die Spitze getrieben wird. Die fortlaufende Handlungszeit der kämpfenden Reiter fällt im entscheidenden Moment der Schlacht, dem Kampf um die Fahne, als Ereigniszeit aus dem Kontinuum der Zeit heraus. Raffael wiederum deckt in seinen Fresken in den Stanzen, insbesondere in dem Borgobrand in der Stanza dell’Incendio, mehrere Zeitschichten auf, um die Vergangenheit im Lichte der Gegenwart und die Aktionen von Julius II. und Leo X. im Rahmen der tagespolitischen Ereignisse und der innerkirchlichen Reform in ihrer historischen Bedeutung hervortreten zu lassen. Das Nonplusultra aller Schlachtendarstellungen wurde 1528 von Albrecht Altdorfer mit seiner Alexanderschlacht geschaffen, wo das Aufeinandertreffen der Heere von Alexander dem Großen und Darius, dem persischen Großkönig, zu einer Schicksalsstunde in der Konfrontation von Abendland und Morgenland stilisiert wird  ; die Aktualität des historischen Geschehens stand den Zeitgenossen durch den fortwährenden Abwehrkampf der christlichen Länder mit den Türken praktisch stündlich vor Augen. Das Panorama der Weltlandschaft, die überdies den topographischen Gegebenheiten des östlichen Mittelmeers in etwa entspricht, und das grandiose Firmament mit der untergehenden Sonne tragen zur kosmischen Überhöhung des Ereignisses bei, in dem das Schicksal des Einzelnen nichtig erscheint. Der Augenblick des Sieges indes erhält überzeitliche Signifikanz und Dauer. Auch Tizian hat durch seinen Zugriff auf das Individuum, dessen Dominanz und Ausstrahlung einen eigenen Beitrag zur Gattung der Historienmalerei geleistet, indem der Mensch als handelndes Wesen in den Lauf der Dinge eingreift oder unter der Ägide der Vorsehung seine emphatisch vorgetragene Rolle auf der historischen Bühne erfüllt. Im Fall des Reiterporträts von Karl V. bei der Schlacht von Mühlberg macht sich ein tragischer Unterton der Vergänglichkeit als Widerhall aller Großtaten und der flüchtigen Schönheit überhaupt bemerkbar. Die Macht des Bildes und die Autonomie der Malerei, nicht zuletzt, was die Expressivität der Farbe betrifft, setzten mit der Malerei Giorgiones um 1500 in Venedig ein, um sogleich durch das Schaffen Tizians eine ungeheure Ausweitung zu erfahren. Es handelt sich um nichts weniger als eine neue ästhetische Verhaltensweise zur Welt, die fortan eine entscheidende Rolle für die Rezeption der Kunst spielen sollte. Als Indiz für die veränderte Sichtweise der Kunst und den damit in Zusammenhang stehenden Mentalitätswandel traten zunächst die sog. „poetischen Allegorien“ Giorgiones mit der freien Handhabung der Farbe und der fantasievollen Ausführung der mythologischen Stoffe auf den Plan. Mit

Tizian griff die Bildmächtigkeit auf alle Bildgattungen über  : sakrale und profane Themen, Porträts, Historienmalerei und Landschaften. Gemeinsamer Nenner war nun das übergreifende malerische Idiom, das dem Schaffen einen unverkennbaren persönlichen Stempel aufdrückte. Vergegenwärtigt wurde dabei nicht nur die ikonografische Vielfalt der historischen und mythologischen Geschehnisse, sondern auch das Individuum in der spezifischen Ausprägung und Präsenz seiner Erscheinung. Der Zugriff auf die Person verlieh zunächst den Gemälden einen unverwechselbaren Charakter  ; Vitalität und Präsenz griffen in der Folge auch auf das Porträt und die Darstellung der Akteure auf der historischen Bühne über. Zur Charakteristik der dramatis personae trug ebenfalls die im 16. Jahrhundert entwickelte Schilderung des Individuums als Exponent von Ethos und Pathos bei, d. h. die Bezugnahme der Akteure und der Handlung auf den Betrachter im Geiste der Rhetorik und Dramentheorie. Die neu gewonnene Freiheit der bildenden Kunst und die Anerkennung der virtuosen Beherrschung der künstlerischen Mittel, ihrer Selbstbezüglichkeit und Ausdruckskraft, fanden ihren Niederschlag im Manierismus, der aber nicht als Ursache, sondern eher als Symptom eines allumfassenden Prozesses der Ästhetisierung zu gelten hat  ; begriff er doch nicht nur die Künste, sondern auch gesellschaftliche Umgangsformen und den kulturellen Wandel breiter Schichten mit ein (Shearman). Tizian nahm gelegentlich manieristische Anregungen auf, ließ sich aber in seiner Malerei keinesfalls von dessen artifiziell anmutenden Formprägungen vereinnahmen. Das Schaffen Tizians wurde im vorliegenden Buch relativ ausführlich behandelt, nicht zuletzt um den von den Gattungen unabhängigen Malprozess und dessen autonome Entwicklung der Farbe herauszustreichen  : von dem starken Lokalkolorit und den Hell-Dunkel-Effekten im Frühwerk bis zur späteren Verschmelzung von Figur und Grund durch die flächendeckende farbige Textur, die praktisch alle Farben in sich birgt. Mit der Farbigkeit geht der kräftige, oft pastose Farbauftrag einher, jene sog. „Fleckenmalerei“ (macchia), die der weiteren Entwicklung der Malerei den Weg wies. Diese freie malerische Technik führte nicht nur zu einer grandiosen farbig-ikonischen Vertiefung der verarbeiteten Inhalte, sondern forderte in höchstem Grade den nachschöpferischen Prozess seitens des Betrachters, und damit implizit auch die Erlebniszeit mit ein. Der zeitliche Aspekt in den einzelnen Werken Tizians trägt somit nachhaltig zur Steigerung des Ausdrucks und der Unmittelbarkeit der Handlung bei  : die sinnliche Macht der Aktfigur, die in ihrer Präsenz zugleich überhöht erscheint  ;

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der emphatische Gestus der gen Himmel auffahrenden Assunta  ; Petrus Martyr, im Augenblick des Todes die Märtyrerpalme und das ewige Leben empfangend  ; der Zeuge als protobarocke Drehfigur, der sich dem Betrachter entgegen aus dem Bildraum herauswindet  ; die atemberaubend verkürzten Deckenfiguren im Presbyterium der Santa Maria della Salute  ; die mythologischen Szenen der 1550er-Jahre mit der Dynamik ihrer Figuren, die infolge der Fleckenmalerei zusätzlich an Vitalität gewinnen. Zunehmend versinken im Spätwerk die agierenden Figuren und der schöne Schein der Welt in der schwelenden Glut des farbigen Gewebes, auch auf Kosten der unvermischten Farben und der Klarheit der Formen. In tiefsinniger Weise hat der Maler in das grausam-tragische Gemälde mit der „Schindung des Marsyas“ sich selbst in Gestalt des sinnierenden Midas eingebracht. Es geht nicht nur um die Bestrafung der Hybris eines Künstlers im entfesselten dionysischen Rausch, sondern auch um das paradoxe Schicksal des Königs, da alles, was er berührte, zu Gold verwandelt wurde– ein Bild des Malers, der Kraft seiner Kunst der Materie eine transzendent anmutende Schönheit zu verleihen vermag. Trotzdem fristet der Künstler ein Dasein auf den Tod hin, wiewohl er zumindest durch seine Kunst dem Lauf der Zeit und der Vergänglichkeit aller Dinge kurz Einhalt zu gebieten vermag. Auch Tintoretto hat das Publikum in bislang ungekannter Weise mittels der Dynamik seiner Figuren, der rhetorischen Gebärde und des allumfassenden mystischen Helldunkels in eine imaginäre Welt und Zeit zu versetzen gewusst. Naturalismus und Expressivität gehen hier eine neue Verbindung ein, alles drängt zur Verzeitlichung der sakralen Handlung hin. Mythologien und Allegorien kommen in den großformatigen repräsentativen Gemälden im Palazzo Ducale zum Tragen. Die Imagination wird durch ausgefallene Kompositionen angestachelt und das Auge durch die Verkettung der Akteure auf eine kontinuierliche Reise in die kompositorischen Verflechtungen der „Gestaltzeit“ geschickt  : Der Ablauf des Geschehens findet in der Formgebung ein adäquates ikonisches Äquivalent. Wie bei Tizian wendet sich der Blick Tintorettos im Laufe der Jahre verstärkt nach innen  ; auch wir partizipieren im mystischen Helldunkel an der biblischen Handlung und dem Geschick der Heiligen. Wie anders stehen uns hingegen die großen Inszenierungen Veroneses vor Augen, die Opulenz der zeitgenössisch gekleideten Akteure auf der strahlenden Bühne des Lebens, durch die Malkunst auf eine höhere Stufe des Daseins gehoben  – zeitlich gebunden, aber doch dem Lauf der Zeit entronnen. Dem 19. Jahrhundert standen die Werke des Ve-

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nezianers gerade ob seiner Fähigkeit, die Historie in der Präsenz des schönen Augenblicks aufgehen zu lassen, paradigmatisch vor Augen – sollte doch die Gegenwart selbst von der Lebensnähe und Humanität seiner Malerei durchdrungen werden und an der genießenden Schau genesen. Die Malerei in ihrer Wirkungsmacht sollte nunmehr der Öffentlichkeit als Lebenselixier dienen und zur Ästhetisierung des Daseins beitragen – ein elitärer Traum, der erst im Fin de Siècle ausgeträumt war. Zu einem Dauerthema der kunsttheoretischen Debatte im 16. Jahrhundert gehörte die Frage, ob der Malerei oder der Bildhauerei der Vorrang gebühre (die sog. Paragonefrage). Erstere sei imstande, eine Figur aus mehreren Ansichten simultan darzustellen  ; die Skulptur hingegen täusche nicht eine Figur vor, sondern sei mit ihr eins. Im ersteren Fall wird die zeitliche Synthese des Wahrgenommenen positiv beurteilt, im zweiten die integrative Kraft der plastischen Form. Mitten im 16. Jahrhundert weitete sich die Diskussion auf die wesentlichen Aspekte der wahrgenommenen Skulptur aus. Um diese zu erfassen, sei der Betrachter genötigt, die Figur zu umkreisen und den Zeitfluss wiederholt an besonderen Visierpunkten zu unterbrechen. Dabei wurde auch der Plastik eine reine Bildhaftigkeit unterschoben. Keine Frage, dass diesem Verfahren im Kern ein „ästhetisches Verhalten zur Welt“ zugrunde liegt  : Aus der Zeitlichkeit, dem Ablauf der Bewegung, kristallisiert sich für den Betrachter die Erfahrung der Vielansichtigkeit heraus. Das Streben nach einer vollendeten Rundform, einer figura serpentinata, die ohne Unterbrechung vom Betrachter durch Umkreisen der Figur in ihrer Zeitgestalt (Arnheim) erfasst werden könne, ist in einigen Werken von Giambologna zu verspüren  ; diesem Ansinnen war aber nur kurze Dauer beschieden. Erst im 18. Jahrhundert brachte Hogarth das Ideal der figura serpentinata mit der spiralförmigen Linie in Verbindung, reduzierte sie also letztlich wieder auf Bildhaftigkeit und Fiktion. In der formalästhetisch ausgerichteten deutschen Kunstgeschichte des 19. Jahrhunderts (Larsson) wurden die Begriffe der Vielansichtigkeit und der figura serpentinata Gegenstand des wissenschaftlichen Diskurses, um schließlich auch mit dem Zeitaspekt in Verbindung gebracht zu werden. Das letzte Kapitel ist dem Schaffen Pieter Bruegels des Älteren gewidmet, aus dem einfachen Grund, dass dieser wie kaum ein anderer sich den Wahrnehmungsprozess und die Erlebniszeit der Betrachter strategisch zunutze machte, um die künstlerische (und auch moralische) Botschaft ikonisch umzusetzen und so auch auf formalem Weg eine ­inhaltlich vertiefte Aussage zu treffen. Hinter Bruegels Weltsicht verbirgt sich die Not eines sich in einem mechanis­ti­

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schen Kosmos befindenden Individuums, das sich seiner Existenz und seines Seelenheils zu vergewissern hat. Als irdisches Geschöpf sei der Mensch mit Lasterhaftigkeit und Blindheit geschlagen  ; Verblendung und Hybris werden von der protestantischen Rechtfertigungslehre und der zeitgenössischen Moralphilosophie gegeißelt  ; nur Gnade und in geringem Ausmaß Erkenntnis seien in der Lage, den Gläubigen sehend zu machen und eine Erlösung in Aussicht zu stellen. Die Bildstruktur bei Bruegel und im Spätwerk auch das Gleichnishafte halten uns zur Reflexion an. Mit der ästhetischen Erfahrung geht die moralische Botschaft einher. Bewusst wird der Betrachter der Bilder zunächst in die Irre geführt und erst allmählich geht ihm der Sinn der Narratio auf  ; die Erlebniszeit führt zur Hinterfragung der eigenen Position. Letztendlich gerät die Wahrnehmung eines jeden Bildes zu einem sich temporal vollziehenden Bewusstseinsakt, an dessen Ende Selbsterkenntnis und moralische Läuterung stehen. Zur Dechiffrierung der Bildstruktur und der strategisch eingesetzten Ikonik (Müller) gesellt sich bei Bruegel somit in höchstem Grade das damit verknüpfte reziproke Schauen, eine Verinnerlichung der Zeit, die das Dasein des Individuums überhaupt auszeichnet. Die „Macht der Bilder“, die Wirkung der Bild- und Zeitgestalt, Form, Farbe und Ikonizität, sind jene Mittel, durch welche die Sicht des Malers vermittelt wird. Der tiefere Sinn, der aus dieser spezifisch künstlerischen Gestaltung der Welt erwächst, erschließt sich durch das ästhetische Verhalten des Betrachters, der über das Inhaltliche hinaus die Gestaltung im Bewusstsein nachvollzieht bzw. die Zeitgestalt verinnerlicht. Hierbei kommt das verwunderliche Phänomen der Simultaneität zum Tragen  : zum einen die Anerkennung der autonomen ästhetischen Qualität, welche der „Macht des Bildes“ über das Inhaltliche hinaus den Primat sichert  ; zugleich aber auch die Fähigkeit, den jeweiligen Inhalt praktisch zeitgleich mit der formalen Gestaltung zu erfassen und zu gewichten. Beide Aspekte werden durch das Vermögen des Urhebers in der Ikonik des Bildes miteinander verwoben. Diese hebt die ursprüngliche Divergenz der Aufmerksamkeit auf  : den prozessualen Charakter des Bildschaffens bzw. des Nachvollzugs im Bewusstsein des Betrachters  ; beide sind auf die Bildgestalt zurückzuführen, die als Prägung der Nachwelt dauerhaft überantwortet wird. Dieses Resümee mag selbst als eine Zeitschleife erscheinen, die es sich zur Aufgabe gemacht hat, bereits Erkanntes und Verinnerlichtes im Gedächtnis wachzurufen. Der in der Einleitung angesprochene hermeneutische Ansatz und die Phänomenologie haben die Methode und die Reflexionen, die in die Ausführungen fortlaufend eingeflossen sind, maßgeb-

lich beeinflusst. Diese Vorgehensweise erscheint mir ein metho­disch nicht wegzudenkendes wissenschaftliches Desiderat der Kunstgeschichte zu sein. Mag der Weg der Bildbetrachtung auch konventionell erscheinen, er muss stets von neuem beschritten werden. Das Ende bleibt offen. .

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Anmerkungen Einleitung 1 Eine ausführliche Einleitung mit entsprechenden Literaturhinweisen diente der wissenschaftlichen Positionsbestimmung in meinem ersten Buch  : G. Pochat, Bild/Zeit, I  : Zeitgestalt und Erzählstruktur in der bildenden Kunst von den Anfängen bis zur frühen Neuzeit. Wien, Köln, Weimar 1996. Die einschlägigen Untersuchungen und ihre unterschiedliche Ausrichtung sowie die Forschungslage und Methodik, wurden in dem ersten Band über die Bild-Zeit bereits angeführt und kurz umrissen. Später hinzugekommene Publikationen fanden Eingang in den zweiten Band  : G. Pochat, Bild/Zeit, II  : Zeitgestalt und Erzählstruktur in der bildenden Kunst des 14. und 15. Jahrhunderts. Wien, Köln, Weimar 2004. Zur weiteren Verdeutlichung der Methode und der verschiedenen Aspekte der Bild-Zeit wurden diese in der Einleitung zu diesem dritten Band noch einmal angesprochen  ; es erfolgt auch eine Vertiefung durch den Diskurs der Ikonik und der interpretatorischen Problematik, die für die konstitutive Rolle der Erlebniszeit von fundamentaler Bedeutung sind. Darüber hinaus findet nun die Darstellung der Zeit aus ikonografischer und ikonologischer Sicht am Beispiel von Holbeins Doppelporträt „Die Gesandten“ aus der National Gallery in London eine entscheidende Ausweitung. 2 E. Husserl, Zur Phänomenologie des inneren Zeitbewußtseins (1893– 1917), hrsg. v. R. Boehm, Den Haag 1966 (Husserliana, Band X). In der Existenzphilosophie M. Heideggers Sein und Zeit, in  : Jb. f. Philosophie und phänomenologische Forschung, VIII, 1927, S. 1–438, und später in zahllosen Auflagen als Buch erschienen (vgl. Tübingen 151979)  ; dazu Boehm 1987, S. 1, mit Hinweis auf H.-G. Gadamers Ausführungen  : Über leere und erfüllte Zeit, in  : Die Frage Martin Heideggers,Beiträge zu einem Kolloquium mit Heidegger aus Anlaß seines 80. Geburtstages (Hg. H.-G. Gadamer, K. Löwith, K.-H. Volkmann-Schluck – Sitzungsberichte der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, Phil.-Hist. Klasse, Jg. 1969, H. 4, S. 17–35 (abgedruckt auch in  : Hans-Georg Gadamer, Gesammelte Werke, Bd. 4, Tübingen 1987, S. 137–153, und im Sammelband  : Klassiker der modernen Zeitphilosophie (hg. von W. Zimmerli, M. Sandbothe), Darmstadt 2007, S. 281–297)  ; G. Boehm, Das Bild und die hermeneutische Reflexion, in  : Dimensionen des Hermeneutischen. Heidegger und Gadamer (Martin-Heidegger Gesellschaft, Schriftenreihe, Bd. 7), Frankfurt a. M. 2005, S. 23–35. In der neueren Phänomenologie vor allem  : M. Merleau-Ponty, Phänomenologie der Wahrnehmung (Phénomenologie de la perception, 1945), Berlin 1966, S. 460 ff. sowie S. 466–492. Zur Zeit und Gestaltwahrnehmung  : R. Arnheim, Art and Visual Perception. A Psychology of the Creative Eye, Berkeley, Los Angeles, 1954  ; ders., Toward a Psychology of Art. Collected Essays, Berkeley, Los Angeles, 1966  ; D. Frey, Das Zeitproblem in der Bildkunst, in  : Studium Generale, Bd. 8 (1955), S. 568–577 (wieder abgedruckt in  : Bausteine zu einer Philosophie der Kunst, Darmstadt 1976, S. 212–235)  ; G. Kubler, The Shape of Time. Remarks on the History of Things, New Haven, London 1962 (deutsch  : Die Form der Zeit. Anmerkungen zur Geschichte der Dinge, Einleitung  : G. Boehm, Frankfurt a. M. 1982)  ; E. H. Gombrich, Moment and Movement in Art, in  : Journal of the Warburg and Courtauld Institutes, 27 (1964), S. 293–306  ; L. Dittmann, Über das Verhältnis von Zeitstruktur und Farbgestaltung in Werken der Malerei, in  : Festschrift Wolfgang Braunfels (Hg. F. Piel, J. Traeger), Tübingen 1977, S. 93–109  ; D. Lamblin, La peinture et le temps, Paris 1983  ; Chr. W. Thomsen, H. Holländer, Augenblick und Zeitpunkt. Studien zur Zeitstruktur und Zeitmetaphorik in Kunst und Wissenschaften, Darmstadt 1984  ; darin  : G. Pochat, Erlebniszeit und bildende Kunst, S. 22–46  ; M. Baudson (Hg.), Zeit – Die vierte Dimension in der Kunst. Weinheim 1985  ; H. Paflik (Hg.)  : Das Phänomen Zeit in Kunst und Wissenschaft, Weinheim

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1987  ; darin  : G. Boehm, Bild und Zeit, S. 1–37  ; ebd.: L. Dittmann, Bildrhythmik und Zeitgestaltung in der Malerei, S. 89–124  ; H. Theissing, Die Zeit im Bild. Darmstadt 1987  ; P. Wilhelmy, Studien zur Zeitgestaltung im Werk Albrecht Dürers, Frankfurt a. M. 1995 (Kritischer Überblick  : S. 15– 44)  ; G. Boehm, Bildbeschreibung. Über die Grenzen von Bild und Sprache, in  : Beschreibungskunst – Kunstbeschreibung. Ekphrasis von der Antike bis zur Gegenwart (hg. von G. Boehm, H. Pfotenhauer), München 1995  ; S. 23-40  ; G. Pochat, Zeit/Los. Zur Kunstgeschichte der Zeit. Köln 1999  ; Ausstellungskatalog  : Chronos und Kairos. Die Zeit in der zeitgenössischen Kunst. Kuratoren Martin Glaser, René Block. Museum Fridericianum Kassel, 3. September bis 7. Oktober 1999  ; Time – CIHA – Thirteenth International Congress of the History of Art, London 2000  ; die Beiträge der 13. Sektion, Visual Narrative Time, wurden im Doppelband 29/30 des Kunsthistorischen Jahrbuchs Graz veröffentlicht  : Erzählte Zeit und Gedächtnis. Narrative Strukturen und das Problem der Sinnstiftung im Denkmal (hg. von G. Pochat, B. Wagner), Graz 2005  ; G. Reuter, Statue und Zeitlichkeit 1400–1800. Petersberg 2012. 3 Vgl. Wolfgang Deppert, Zeit. Die Begründung des Zeitbegriffs, seine notwendige Spaltung und der ganzheitliche Charakter seiner Teile. Stuttgart 1969, Einleitung. Die von Deppert ausgearbeitete Unterscheidung von „ontologischer“ und „erkenntnislogischer“ Begrifflichkeit der Zeit dient zur Klärung des Sprachgebrauchs in den Naturwissenschaften, der Philosophie, Psychologie und anderen Geisteswissenschaften. Zur Zeit als „Orientierungsmittel“ und sozialer Kommunikationsform  : N. Elias, Über die Zeit, Frankfurt (1984) 1988. Zeit aus philosophischer Sicht  : W. Ch. Zimmerli, M. Sandbothe (Hg.), Klassiker der modernen Zeitphilosophie, Darmstadt 2007. Über einige verständliche Darstellungen der Naturwissenschaften hinaus (Anm. 12) sei noch auf einige geisteswissenschaftliche Arbeiten verwiesen, welche die Relativität und Unterschiedlichkeit von Zeitvorstellungen dokumentieren  : Das Zeitproblem im 20. Jahrhundert (hg. von R. W. Meyer), Bern, München 1964. Zur Krisis der historischen Wissenschaften in den 1920er-Jahren  : E. Troeltsch, Der Historismus und seine Probleme (Ges. Schriften, III), Tübingen 1922  ; J. Strzygowski, Die Krisis der Geisteswissenschaften, Wien 1923. Über die unterschiedliche Ausrichtung der Zeitentwürfe in den historischen Wissenschaften  : Reinhart Koselleck, Vergangene Zukunft, Zur Semantik geschichtlicher Zeiten, Frankfurt a. M. 1979. Zur Relativität der biografischen Zeit  : W. Pinder, Das Problem der Generation in der Kunstgeschichte Europas, Berlin 1926. Weitere Literaturhinweise in  : Bild/Zeit, I, 1996, S. 291, Anm. 2. 4 Deppert 1969, S. 248 f. 5 Boehm 1987, S. 6. Auf die Phänomenologie und Gestaltpsychologie rekurrierend (Bergson, Brentano, Husserl und Arnheim) sei hier festgehalten, dass der „Raum an sich“ kein Gegenstand der bildenden Kunst sein kann, sondern vielmehr aus den Formen und Gegenständen bzw. ihrer gedachten Bewegung und Dynamik, ihrer Lage auf der Bildfläche zueinander als Vorstellung erwächst. Schon Kurt Badt hat darauf hingewiesen, dass die Perspektivkonstruktion in der Renaissance ein dynamisches Gebilde darstellt, das mit der Isotropie eines vagen Raumbegriffs wenig zu tun hat  : „Von den Dingen her begriffen wurde der homogene Raum in der Malerei zum Ausdrucksraum, dessen Gleichartigkeit dann bis zum Zerreißen gespannt werden konnte.“ (K. Badt, Raumphantasien und Raumillusionen. Wesen der Plastik, Köln 1963, S. 81.) Die räumliche Wirkung sei vielmehr darauf ausgerichtet, den Betrachter in den dynamischen Prozess der Sichtbarmachung und des Bewusstwerdens mit einzubeziehen.

Anmerkungen 6 Als Fallbeispiele einer solchen formal ausgerichteten Bildanalyse, die implizit auch Zeitlichkeit als ein sine qua non der Ikonik mit einbegreift, sei hier auf Hetzers oder Pächts Bildbeschreibungen, Imdahls „Giottostudien“ oder auf Boehms und Bruchers Bildanalysen verwiesen. 7 Der Bildrhythmus als Zeitfaktor überhaupt war bereits von Hans Kauffmann, Erwin Panofsky und Rudolph Kuhn in die kunsthistorische Betrachtung einbezogen worden. Vgl. L. Dittmann 1977 und 1987 (wie Anm. 2)  ; Theissing 1987, S. 28 f.; Reuter 2012, S. 7. 8 Dittmann 1977, S. 165 f.; s. auch P. Wilhelmy 1995 (wie Anm. 2), S. 23 f.; Pochat, Bild/Zeit, I, 1996, S. 261, Anm. 8, 9, 10. Ähnliche Überlegungen zu Rembrandt wurden schon von Kandinsky vor den Gemälden des Holländers in der Eremitage angestellt  : Wassily Kandinsky, Rückblicke, Bern 1977, S. 16 – zit. G. Brucher, Kandinsky. Wege zur Abstraktion, München 1999, S. 143. 9 H. Theissing, Die Zeit im Bild, Darmstadt 1987. 10 M. Heidegger, Die Grundprobleme der Phänomenologie. Gesamtausgabe, Bd. 24, Frankfurt 1975, S. 331, zit. nach Theisssing 1987, S. 10. 11 Gadamer (1969) 2007 (wie Anm. 2), S. 281 f., zit. 285. Mir nachträglich bekannt wurde ein Beitrag von Frank Büttner über Die Macht des Bildes über den Betrachter von 2003 (vgl. Bibliografie), der die in diesem Buch mehrfach vorgetragene These stützt, dass wir es in der frühen Neuzeit mit einem grundlegenden Mentalitätswandel zu tun haben, der sich auch im Verhältnis des Menschen zur Kunst spiegelt. 12 Zur Relativitätstheorie vgl. die Literaturangaben in Pochat, Bild/Zeit, I, 1996, S. 262, Anm. 18. Zur Zeitvorstellung in der Antike  : J. Assmann, Die Gestalt der Zeit in der ägyptischen Kunst, in  : 5000 Jahre Ägypten (hg. von J. Assmann), München 1991  ; S. Toulmin, J. Goodfield, The Fabric of the Heavens (1961), Harmondsworth 1968, S. 27–57. Zu den unterschiedlichen Zeitentwürfen im Laufe der Geschichte in den Naturwissenschaften  : S. Toulmin, J. Goodfield, The Discovery of Time, Harmondsworth 1965. Zur „Präsenzzeit“ vgl. H. Rohracher, Einführung in die Psychologie, Wien (1946) 1960, S. 121 ff., mit weiteren Lit.-Hinweisen. Die früheren kunstpsychologischen Strömungen im Rückblick auf Basis des Kenntnisstands der 1980er-Jahre  : M. J. Kobbert, Kunstpsychologie. Kunstwerk, Künstler, Betrachter, Darmstadt 1986. 13 E. Auerbach, Mimesis, Bern 1946. 14 Zur etymologischen und historischen Bedeutung der „Figuration“  : E. Auerbach, Figura, in  : Archivum Romanicum, Bd. 22, Firenze 1938, S. 436489 (wieder abgedruckt in  : ders., Gesammelte Aufsätze zur romanischen Philologie, Bern, München 1967, S. 55–92). Diese Seinsstruktur ist für die christliche Theologie immer noch verbindlich  ; Thielicke spricht von der „Dimension der Tiefe“ – vgl. M. Weinrich, Mache unsere Augen hell. Systematisch-theologische Zuspitzungen zum Augenblick der Offenbarung, in  : Augenblick und Zeitpunkt (hg. von H. Holländer, Chr. W. Thomsen), Darmstadt 1984, S. 143–164. 15 Augustinus, Confessiones, Bekenntnisse (Einleitung und Übersetzung von J. Bernhart). Darmstadt 1984, Buch 11, Cap. 20, S. 629. 16 Ibid. 17 Zu Kants Zeittheorie und dem apriorischen Zeitbegriff  : W. Deppert 1989, S. 35–78. 18 J. G. Herder, Plastik. Einige Wahrnehmungen über Form und Gestalt aus Pygmalions bildendem Traum, Riga 1778, S. 23. 19 ebd., S. 134. 20 Zum Humanitätsgedanken bei Herder  : B. Schweitzer, Herders „Plastik“, in  : Zur Kunst der Antike, I, Tübingen 1963, S. 250 ff. 21 Schelling zit. von H. Barth, Zeit, Gesellschaft und Geschichte, in  : Das Zeitproblem im 20. Jahrhundert (wie Anm. 3), 1964, S. 335. 22 M. Merleau-Ponty, Phänomenologie der Wahrnehmung, Berlin 1966, S. 478. 23 Ebd., S. 484, Anm. 17, mit Hinweis auf Heidegger 1927, S. 181. 24 A. Gehlen, Zeit-Bilder. Zur Soziologie und Ästhetik der modernen Male-

rei, Frankfurt a. M. 1960, S. 57 ff., Zitat S. 60. Hier wären auch Empiriker wie M. E. Chevreuil, J. Müller, Th. Schwann, E. H. Weber und W. Wundt zu nennen. 25 C. Fiedler, Über die Beurteilung von Werken der bildenden Kunst (1876)  ; H. Konnerth, Die Kunsttheorie Konrad Fiedlers, 1909/1974. Köln 1977  ; vgl. auch Gehlen 1960, S. 60. 26 H. Bergson, Zeit und Freiheit, Meisenheim 1949, S. 12 ff., 62 ff. Ähnliche Darstellung auch bei Th. Lipps, Grundlegung der Ästhetik, 1, Hamburg 1903. 27 Bergson 1949, S. 69 ff.; besprochen von Peter Gorsen, Zur Phänomenologie des Bewusstseinsstroms, Bonn 1966. 28 Bergson 1949, S. 75. 29 Ebd., 78. 30 Ebd., S. 85–91, unter bes. Berücksichtigung der qualitativen Veränderung des Zeiterlebnisses bei der Umsetzung in ein sichtbares Medium oder gemäß der diskursiven Logik des Verstandes. Hier sei auf Norbert Elias verwiesen, der von Raum und Zeit im Bewusstsein als sich immer verändernden, im Fluss befindlichen „Symbole[n] der Verknüpfung“ spricht – Elias 1994, S. 112. 31 G. Simmel, Rembrandt. Ein kunstphilosophischer Versuch (1916), Leipzig 21919, Zitat S. 3  ; ders.: Henri Bergson, in  : Zur Philosophie der Kunst. Philosophische und kunstphilosophische Aufsätze (hg. von Gertrud Simmel), Potsdam 1922, S. 125–145. Dazu auch P. Gorsen 1966, S. 77 f.; A. Kölbl, Das Leben der Form. Georg Simmels kunstphilosophischer Versuch über Rembrandt (Ars Viva, Bd. 4), Wien, Köln, Weimar 1998. 32 H. Bergson, Denken und schöpferisches Werden, Meisenheim 1948, S. 42–43. 33 Ebd., S. 47. 34 Die experimentelle Erkundung der Sinneswahrnehmung in zeitlicher Hinsicht war zu dieser Zeit weit fortgeschritten. Eine Auflistung einiger einschlägiger Publikationen findet sich in Pochat, Bild/Zeit, I, 1996, S. 263, Anm. 43. 35 Zur Bedeutung Brentanos vgl. die Einleitung R. Boehms zu Edmund Husserl, 1966, S. xv ff.; weiters Chr. G. Allesch, Geschichte der psychologischen Ästhetik. Untersuchungen zur historischen Entwicklung eines psychologischen Verständnisses ästhetischer Phänomene. Göttingen, Toronto, Zürich 1987, S. 315–325  ; zu Brentano vgl. S. 316 f. 36 Zu Husserl vgl. Anm. 2. Zur Zeitwahrnehmung  : Husserl 1966 (Husserliana, X, wie Anm. 2), S. 16 ff. 37 Ebd., S. 48. Zur gesellschaftsbildenden Bedeutung des Gedächtnisses vgl. Elias 1994, S. 45 f. 38 Husserl 1966, S. 57 ff. 39 M. Merleau-Ponty, Phénoménologie de la perception, 1945  ; dt.: Phänomenologie der Wahrnehmung, Berlin 1966, zit. S. 472. 40 Ebd. 41 Ebd., S. 475/76 bzw. S. 480. Hier wird auf Heideggers Begriff der „Trans­ zendenz“ verwiesen  ; zur „Intentionalität“  ; bei Brentano vgl. Anm. 35. 42 Heidegger, Sein und Zeit, 1927 (wie Anm. 2), S. 181  ; Merleau-Ponty 1966, S. 484/85. 43 E. Staiger, Die Zeit als Einbildungskraft, in  : Das Zeitproblem im 20. Jh. (Hg.R  :W. Meyer) Bern, München, S. 90–110, Zitat S. 107. 44 Cassirer, Philosophie der symbolischen Formen, Bde. I–III, Berlin 1923– 1929  ; Bd. IV, Berlin 1931. Zu Cassirers Symboltheorie in Bezug auf Ästhetik und Kunstgeschichte  : G. Pochat, Der Symbolbegriff in der Ästhetik und Kunstwissenschaft, Köln 1983, S. 127–135. 45 S. K. Langer, Philosophy in a New Key, Cambridge, Mass. 1942. Dies.: Feeling and Form, London 1953. Auch das sprachliche Kunstwerk weist Strukturen auf, die sich dem Leser im Augenblick des Lesens simultan-einheitlich erschließen. Hier sei auf Wolfgang Kayser verwiesen  : Das sprachliche Kunstwerk, Bern 1948. Auch im Bereich der logischen Struktur der Sprache schlechthin hat man von einer protentionalen Entfaltung des Sat-

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Anmerkungen zes im phänomenologischen Sinne gesprochen, die ursprüngliche Erfahrung des Räumlichen (und damit auch der Zeit) als die Wurzel syntaktischer Strukturen überhaupt bezeichnet (N.Chomsky). 46 Staiger 1964, S. 107. 47 Ebd., S. 93 ff. Die fundamentale Rolle des „Rhythmus“ in der Lyrik wird an den Interpretationen Staigers von Meisterwerken deutscher Sprache aus dem 19. Jahrhundert oder an denen von W. Kayser (vgl. Anm. 32) ersichtlich (vgl. auch Langer 1953, S. 326–366). 48 S. Langer, Feeling and Form, 1953, II  : „The Making of the Symbol“. 49 Staiger 1964, S. 92 ff. und 108. Vgl. auch Langer 1953, S. 12–23. Ein fundamentaler Beitrag über die Beziehung von Werk und Betrachter hat Otto Baensch, Kunst und Gefühl, (Logos II), 1923, geliefert. Was die Bedeutung des Rhythmus für die adäquate Erfassung architektonischer Gebilde betrifft, sei hier an August Schmarsows Antrittsvorlesung aus dem Jahr 1905 erinnert (Das Wesen der architektonischen Schöpfung). Dittmann hat wie erwähnt die zentrale Bedeutung des Bildrhythmus für die Zeitgestalt und Formstruktur der Malerei erörtert (vgl. S. 8). Dabei konnte er natürlich auch auf vorangehende Diskussionen um Ganzheitlichkeit, etwa in der „Gestalttheorie“, zurückgreifen. Die konstitutive Bedeutung des Rhythmus in Bezug auf relationale Halte- oder Wendepunkte in Darstellungen und Körperbewegungen sowie deren Auslegung wird von Boehm (1987, S. 14 f.) erörtert. 50 O. Becker, Von der Hinfälligkeit des Schönen und der Abenteuerlichkeit des Künstlers. Eine ontologische Untersuchung im ästhetischen Phänomenbereich (Festschrift E. Husserl zum 70. Geburtstag, 1929), Tübingen 1974, S. 27–52, Zit. S. 41. 51 Zur „Fragilität“ des künstlerischen Scheins und des Ideals vgl. Becker 1974, S. 35 ff. und 42 f., mit Hinweis auf G. Lukács, Ästhetisches Erleben und seine Zeitlichkeit. Die Subjekt-Objekt-Beziehung in der Ästhetik (Logos VII), S. 1 ff., bes. S. 37 f. 52 V. von Weizsäcker, Gestalt und Zeit (1942), Göttingen 1960, S. 16. 53 Vgl. z. B. Becker 1974, S. 40  : „Schaffen und Rezipieren sind gerade in der ästhetischen Sphäre in ihrer letzten Wurzel prinzipiell ungeschieden – beide entstammen der Vision.“ Vgl. auch Bergson 1949 (Anm. 27)  ; in ähnlicher Weise auch L. Dittmann, Überlegungen und Beobachtungen zur Zeitgestalt des Gemäldes, in  : Neue Hefte für Philosophie. H. 18/19  : Anschauung als ästhetische Kategorie, Göttingen 1980, S. 133–150, bes. S. 137. 54 W. Keller, Die Zeit des Bewusstseins, in  : Das Zeitproblem im 20. Jh., hg. R. W. Meyer), Bern 1964, S. 44–69. 55 Becker 1974, S. 43 f. und 50 f. 56 V. von Weizsäcker 1960, S. 25 ff.;vgl. auch Becker 1974, S. 42 ff. 57 Keller 1964, S. 62. 58 Keller 1964, S. 58 und 64 ff. In dem Artikel „Erlebniszeit und bildende Kunst“ habe ich versucht, mittels einer Grafik die Relation von Zeitdehnung bzw. Zeitkürzung in Bezug auf Retention bzw. Protention zu veranschaulichen – Pochat 1984, S. 39, Fig. 2. 59 Keller 1964, S. 62 und 68. Als existenzielle Gewesenheit ist die Vergangenheit einmal im Menschen gegeben (z. B. durch seine Anlagen), einmal durch die äußere Situation (Anlass, Reiz, Problemlage). Dominant in diesem Zusammenhang erscheint die Retention, insbesondere in der Form des Erkennens, wonach die im Gedächtnis aufbewahrten Tatsachen und Erinnerungen erfasst, gedeutet und vergegenwärtigt werden. Protentiv kann dieser Vorgang in Bezug auf mögliche Bedeutung und zukünftige Verwendung beeinflusst werden. Existenzielle Künftigkeit wird nach Keller durch das Hinstreben auf einen neuen Zustand gewährleistet, wodurch auch dem Gegenwärtigen eine neue Bestimmtheit zuteilwird (zu den indeterminierten Momenten im biologischen Bereich vgl. o. S. 36). Das Wollen und das Handeln spielen hierbei eine entscheidende Rolle. Die ­Verschränkung mit der Retention liegt auf der Hand  : Erst die Vergegenwärtigung von Geschehenem lässt das Planen und Handeln für die Zu-

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kunft sinnvoll erscheinen. Dominant bleibt der protentive Entwurf, das geistige Vorgreifen. Zum biologischen Begriff der „Prolepsis“ vgl. o. S. 36  ; vgl. auch Geigers Analyse des ästhetischen Bewusstseins 1974, bes. S. 107/08. 60 Schon 1913 hat Moritz Geiger einen wichtigen Beitrag zur Klärung des ästhetischen Genusses und seiner spezifischen Eigenschaften geleistet. In erster Linie geht es um die Einstellung des Betrachters zum Gegenstand  ; ihm werden durch die „Fülle“ seiner Erscheinung Wert und Bedeutung zugeschrieben  : Beiträge zur Phänomenologie des ästhetischen Genusses, in  : Jb. f. Philosophie und phänomenologische Forschung, Bd. 1/2, 1913, Nachdruck  :Tübingen 1974, S. 1–118, Zit. S. 97. 61 Weizsäcker 1960, S. 42  ; R. Arnheim, Toward a Psychology of Art (1966), Berkeley 1972, „Perceptual Abstraction and Art“, S. 27–50. Zu den angeborenen sprachlichen Strukturen der menschlichen Psyche vgl. Anm. 32. 62 Weizsäcker 1960, S. 42. In ähnlicher Weise Bergson 1949, S. 77 ff.; Merleau-Ponty 1966, S. 484. 63 Vgl. Anm. 53, 59, 60. 64 H. Sedlmayr, Gestaltetes Sehen, in  : Belvedere 8 (1925), S. 65–73  ; ders., Summative Stilkritik, in  : Belvedere 9 (1926), S. 21–23  ; M. Wertheimer, Untersuchungen von der Lehre der Gestalt, in  : Psychologische Forschungen 1 (1921), S. 47-58  ; 4 (1923) S. 301-350. 65 Christian von Ehrenfels, Über Gestaltqualitäten, in  : Vierteljahrsschrift für wissenschaftliche Philosophie, 14 (1890), S. 249–292  ; wieder abgedruckt in  : Gestalthaftes Sehen. Ergebnisse und Aufgaben der Morphologie (hg. von Ferdinand Weinhandl), Darmstadt 1967, S.  11–43  ; Kommentar Weinhandls ebd., S. 1–10  ; Chr. von Allesch, Geschichte der psychologischen Ästhetik. Göttingen, Toronto, Zürich 1987, S. 356 f. 66 Theodor Lipps, Grundlegung der Ästhetik, 2 Bde., Hamburg 1903, und ders. Einfühlungstheorie, in  : Psychologie des Schönen und der Kunst, I-II, Hamburg 1903/1906  ; vgl. Chr. Allesch 1987, S. 329 ff. 67 Metzger, Gesetze des Sehens (1936), Frankfurt 1975 – vgl. Allesch 1987, S. 67. 68 Jüngst erschien  : Rudolf Arnheim oder die Kunst der Wahrnehmung. Ein interdisziplinäres Porträt (hg. von Chr. G. Allesch, Otto Neumaier), Wien 2004. Zu Arnheim auch Anm. 2. 69 Vgl. Anm. 2. 70 Köhler war ja bekanntlich von der experimentellen Erkundung der Wahrnehmung bei Primaten ausgegangen. Köhler hat auch maßgeblich Gombrich bei seinen Überlegungen zur Illusion in der Kunst und der Gestaltwahrnehmung (Art and Illusion, London 1960) beeinflusst. Zur Berliner Schule der Gestaltpsychologie  : Chr. Allesch 1987, S. 357. 71 Gombrich 1960, Introduction. 72 Zur spezifischen Erfahrung des Künstlers vgl. R. Arnheim, Wahrnehmungsabstraktion und Kunst (1947), in ders., Zur Psychologie der Kunst, Frankfurt 1980, S. 25–53. 73 G. Rudolf Arnheim, Gestaltpsychologie und Kunstwissenschaft, in  : Rudolf Arnheim oder die Kunst der Wahrnehmung (hg. von Chr. Allesch, O. Neumaier), Wien 2004, S. 44. 74 Eine kritische Auseinandersetzung mit der Erkenntnistheorie Gombrichs, die auch von diesem selbst zur Kenntnis genommen wurde, wurde von Klaus Lepsky durchgeführt  : Ernst Gombrich. Theorie und Methode (Vorwort E. H. Gombrich). Wien, Köln 1991. 75 Zu Arnheims Kritik an Gombrich  : Art History and Partial God (1962), in  : R. Arnheim, Toward a Psychology of Art, Berkeley, Los Angeles1966, S. 151–161. 76 Wassily Kandinsky, Über das Geistige in der Kunst, Bern 1911/12  ; ders., Punkt und Linie zu Fläche. Beitrag zur Analyse der malerischen Elemente (1926), Bern 1964  ; Paul Klee, Das bildnerische Denken. Schriften zur Form- und Gestalttheorie. Schriften zur Form und Gestalttheorie (hg. von J. Spiller), Basel, Stuttgart 1956. 77 Vgl. Boehm 1987 (wie Anm. 2), S. 9 f.

Anmerkungen 78 M. Imdahl, Giotto. Arenafresken. Ikonographie, Ikonologie, Ikonik. München 1980  ; zur Kritik an der Ikonik vgl. Hans Huber, System und Wirkung. Rauschenberg – Twombly – Baruchello. Fragen der Interpretation und Bewertung zeitgenössischer Kunst. Ein systemtheoretischer Ansatz, München 1989  ; zur „Totalpräsenz“ und Simultaneität 1989, S. 25. 79 G. Boehm, Zu einer Hermeneutik des Bildes, in  : Hans-Georg Gadamer/ Gottfried Boehm (Hgg.), Seminar  : Die Hermeneutik und die Wissenschaften, Frankfurt 1978, S. 444–471  ; ders.: Bildsinn und Sinnesenergie, in  : Neue Hefte für Philosophie, Heft 18/19 (1980), S. 123  ; ders.: Paul Cézanne  : Montagne Saint-Victoire. Frankfurt a. M. 1988  ; ders.: Der Maler Max Weiler  : Das Geistige in der Natur, Wien, New York 2001  ; ders.: Wie Bilder Sinn erzeugen. Die Macht des Zeigens (2007). Berlin 2010. 80 G. Brucher, Kandinsky. Wege zur Abstraktion, München, London, New York 1999, S. 141 f.; M. J. Kobbert, Kunstpsychologie, Darmstadt 1986. 81 Boehm 1987, S. 11 f. Kobbert verweist darauf, dass die Wahrnehmung zwar meistens auf invarianten Schemata auf der Netzhaut basiert, diese aber nicht im dynamischen Schaffensprozess des bildnerischen Gestaltens vorhersehbar sind. Hinzu trete außerdem noch die Fantasievorstellung, die der normalen Auswertung des Wahrgenommenen nicht entspreche (Kobbert 1986, S. 61 ff.). Auch Husserl hatte der Fantasie eine Sonderrolle in der Phänomenologie eingeräumt (vgl. S. 7). Auch Bätschmann rekurriert auf Kandinskys Ausführungen in Punkt und Linie zur Fläche von 1926, anlässlich seiner Bestrebungen, den eigentlich statischen Punkt („die zeitlich knappste Form“) infolge seiner Lage auf der Bildfläche und seiner Relation zu anderen Bildelementen von einem „toten Zeichen“ in ein „lebendes Symbol“ zu verwandeln. Das Verstehen setzt hier an der Eigenart des Gegenstandes, der bildimmanenten Spannung an. Vgl. Bätschmann 1984, S. 105 ff. 82 Boehm 1987, S. 20 f. 83 Gehlen, Zeitbilder 1960, S. 192  ; vgl. auch Kobbert 1986, S. 66. Die Explikation Gehlens geht mit der romantischen Auslegungdes hermeneutischen Zirkels konform, nach der gemäß der rhetorischen Regel „das Ganze aus dem Einzelnen und das Einzelne aus dem Ganzen“ zu verstehen sei. Nach Schleiermachers schließe sich der Kreis durch das Zusammenwirken objektiver und subjektiver Kriterien im Akt des Verstehens, als Teil des Einzelnen in der ihm übergeordneten Ganzheit, als auch im subjektiven Sinn „als Manifestation eines schöpferischen Augenblicks in das Ganze des Seelenlebens seines Autors.“ Daran anknüpfend habe Dilthey von ‚Struktur‘ und von der ‚Zentrierung in einem Mittelpunkt‘ gesprochen, „aus der sich das Verständnis des Ganzen ergibt“– zit. Gadamer in  : Wahrheit und Methode (1960), Tübingen 41975, S. 275. 84 Gadamer übt aber Kritik an Schleiermachers Ansatz, da es bei ihm bereits im Vorverständnis einer Sache doch „um ein geschichtliches Bewußtsein von universalem Umfang“ gehe und der ontische Charakter des Vorverständnisses nicht gewährleistet und nur von der Subjektivität des Autors, nicht des Auslegers die Rede sei. (1975, S.276 f.). Gadamer spricht das Vorverständnis an, wo es um eine Sache selbst geht, zum anderen von der Meinung des anderen, dem Verstehen der Perspektive, aus der heraus die Meinung des anderen gewonnen wurde (Gadamer 1975, S. 276 f ). Überlieferung, Tradition und vor allem Sprache trügen dazu bei, die Fremdheit zwischen „der historisch gemeinten, abständigen Gegenständlichkeit und der Zugehörigkeit zu einer Tradition“ bewusst werden zu lassen. „Der Zeitenabstand und seine Bedeutung für das Verstehen“ gelte es ins Bewusstsein zu rücken (Gadamer 1975, 279) – Gombrich hast es einmal, in Bezug auf den Betrachter, auf die einfache Formel gebracht  : adjustment of the mental set. Von Heidegger, so Gadamer, wurde das Verstehen ontologisch als ‚Existenzial‘ vorgegeben gesehen  ; aus „der temporalen Interpretation die er der Seinsweise des Daseins widmete, …konnte der Zeitenabstand in seiner hermeneutischen Produktivität gedacht werden“. (Gadamer 1975, S.281) 85 Boehm 1987, S. 22. Nach Kobbert geht es in der Phänomenologie nicht

um die Frage nach dem Objekts hinter der Erscheinung, sondern um die Erscheinungsweise selbst  : „Die Notwendigkeit hierfür ergibt sich daraus, daß das Vorfindbare nicht identisch ist mit dem allgemein Vorgefundenen, das Sichtbare nicht mit dem allgemein Gesehenen, sondern sich erst bei eingehender Beschäftigung mit dem Gegenstand erschließt.“ (Kobbert 1986, S. 70). Was nun die Relation von Figur und Grund, Vorhandenem (‚Etwas‘) und ‚Nichts‘ im Bild betrifft, wird auch sie von Kobbert in ihrer Notwendigkeit und gleichzeitigen Paradoxie angesprochen (ebd., S. 138 ff.)  ; als Beispiel wird zu Beginn ein Vexierbild gezeigt, bei dem sich Bild und Umfeld je nach Fokus des Betrachters abwechseln. Boehm 1987, S. 20/21. Die von Boehm angesprochene „ikonische Differenz“ wird bei Kobbert gar auf die Zeitlichkeit narrativer Szenen ausgeweitet, bei denen der imaginäre „Anschauungsraum“ jene neutrale Folie (oder das „Nichts“) bildet, vor der sich die Protagonisten herausschälen  : „Schließlich gilt das ‚pars-pro-toto‘ nicht nur in räumlicher, sondern auch in zeitlicher Hinsicht. Lebensnahe Szenen wie etwa ‚die Gaukler‘ beziehen einen wesentlichen Anteil ihrer Ausdruckskraft daraus, daß die Situation als eine gegenwärtige vor dem Hintergrund einer wenn auch noch so unbestimmten Vergangenheit gesehen wird.“ (Kobbert 1987, S. 141.) Der Vergleich ist allerdings problematisch, denn bei den narrativen Bildern treten vor allem kognitive Funktionen, etwa bei der Erinnerung oder der inhaltlichen Interpretation, in Kraft. Die entscheidende Verschiebung bei der Ikonik ist vielmehr die vorangehende Annahme der formalen Struktur, die allenfalls im Nachhinein als „Repräsentation“ dem Inhalt einen besonderen, unverwechselbaren Ausdruck zu verleihen vermag. 86 Recht bemerkenswert sind in diesem Zusammenhang die von Alhazen angestellten Überlegungen zur Wahrnehmung und dem inneren Prozess der Verarbeitung, der ausdrücklich als ein zeitlicher Vorgang apostrophiert wird. Frank Büttner ist darauf ausführlich eingegangen und beschreibt ihn folgendermaßen  : „Dieser Akt wird begleitet von der Verabeitung der visuellen Eindrücke durch die inneren Sinne. Beides geschieht nicht in einem Moment, sondern braucht eine bestimmte Zeit. Deswegen wird in allen Traktaten mit großem Nachdruck betont, dass das Sehen, wenn es irrtumsfrei sein soll, Zeit benötigt.“ Eine wesentliche Rolle komme dabei nach Alhazen auch der Erinnerung zu. „Im wiederholten, das Ganze in den Blick nehmenden aspectus wird dann, je nachdem, wie intensiv die Phase genauerer Betrachtung war, ein deutlicheres strukturiertes Erfassen des Bildes möglich sein.“ – F. Büttner, Giotto und die Ursprünge der neuzeitlichen Bildauffassung. Die Malerei und die Wissenschaft vom Sehen in Italien um 1300, Darmstadt 2013  ; die Zitate auf S. 152 und 153 mit den entsprechenden Hinweisen auf Ibn-al-Haytam (Alhazen), Alhacen’s Theory of Visual Perception  : a critical edition … of the first three books of Alhacen’s De aspectibus (hg. und übers. von A. M. Smith), Philadelphia 2001, bes. Bd. I, S. 224 f.; zu Alhazens Optik und Sehtheorie vgl. auch Pochat 1986, S. 151 f., mit Verweis auf D. L. Lindberg 1976 und den weitverbreiteten Einfluss Alhazens auf die Optik der Renaissance. 87 Hans Huber, System und Wirkung. Rauschenberg – Twombly – Barucchello. Fragen der Interpretation und Bewertung zeitgenössischer Kunst. Ein systemtheoretischer Ansatz, München 1989, S. 28, unter Berufung auf Husserl und Merleau-Ponty. 88 Huber 1989, S. 28 und 31. 89 Brucher 1999, S. 141  ; dieser Meinung kann ich mich nicht zur Gänze anschließen, da die Gestaltwahrnehmung beim Schaffensprozess wohl erst schrittweise auf das ganzheitliche fertige Bild zustrebt, das am Ende repräsentativ zur Disposition steht. 90 Brucher 1999, S. 142. 91 Brucher 1999, S. 142  ; Huber 1989, S. 31, in Bezug auf Boehm 1978 und Boehm 1980. 92 Um das Schaffen zu charakterisieren, greift Viktor von Weizsäcker auf das Bild des „Gestaltkreises“ zurück  ; auch Gehlen (1960, S. 192) spricht von einem „Kreisprozess“  ; vgl. auch Kobbert 1987, S. 56 und 66.

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Anmerkungen 93 Vgl. Brucher 1999, S. 142. 94 Boehm, Beschreibungskunst – Kunstbeschreibung. Ekphrasis von der Antike bis zur Gegenwart (hg. von Gottfried Boehm, Helmut Pfotenhauer), München 1995, S. 12  ; der Passus wird auch von Brucher (1999, S. 143) zitiert. 95 Im ersten Band von Bild/Zeit (1996, S. 19–26) wird an drei Gemälden von Bruegel das Vorgehen bei der Interpretation exemplifiziert und werden darüber hinaus in Fig. 5 und 6 die Struktur der Erlebniszeit bzw. das schrittweise Vorgehen der Werkinterpretation veranschaulicht. Der Blindensturz wird dort etwas ausführlicher als in diesem dritten Band erörtert. Im Prinzip hat sich in den bisherigen Bänden über die Bild-Zeit an der Methodik der Beschreibung und der damit verknüpften Reflexion nichts geändert, auch wenn das Vorgehen nicht strikt schematisch zu verstehen ist. Aus der eingehenden Analyse der Gestaltung und der Wechselbeziehung von Ikonik und inhaltlicher Entschlüsselung erwächst dennoch im Nachhinein ein Stufenmodell, das Ähnlichkeiten mit dem ikonologischen aufweist. Primär aber bleibt immer die lebendige Auseinandersetzung mit dem Wahrgenommenen unter Einbeziehung phänomenologischer Größen wie Erinnerung und protentiver Hypothesen. Die scharfe Kritik Bätschmanns an der Strukturanalyse Sedlmayrs gerade am Beispiel des „Blindensturzes“ von Bruegel wendet sich zu Recht gegen den Primat der intuitiv wahrgenommenen Gestalt. Dies heißt aber nicht, dass sich bei der Interpretation nicht unterschiedliche Sinnschichten auftun können – eine Abfolge derselben ist nicht unbedingt vorhersehbar, aber grundsätzlich kann man davon ausgehen, dass die hermeneutische Auslegung und ihre Bezugnahme auf das Subjekt im Laufe der Interpretation an Komplexität gewinnen (vgl. Bätschmann 1984, S. 73– 76). 96 Ausstellungskatalog  : Zeit/Los, Zur Kunstgeschichte der Zeit (hg. von C. Aigner, G. Pochat, A. Rohsmann – Kunsthalle Krems 1999), Köln 1999. 97 Kobbert übt Kritik an der seit jeher (auch von Gombrich) postulierten „Projektion“ seitens des Betrachters  : „Die Aussage, der Betrachter ‚projiziere‘ in amorphes Material eine Gestalt, setzt überdies voraus, daß diese seitens des Betrachters bereits zuvor, z. B. als Erinnerungsbild, vollständig bestanden hat. Damit wird durch die Bezeichnung wieder zurückgenommen, worauf sie eigentlich verweisen will  : auf die Bildung einer Form durch die Wahrnehmung. Daß in diese Bildung zugleich Schemata des visuellen Gedächtnisses einbezogen werden, steht außer Frage.“ (Kobbert 1986, S. 60.) 98 Bergson, Zeit und Freiheit, Meisenheim 1949, S. 78  ; zit. bei Pochat, Bild/Zeit, I, 1996, S. 13 f. 99 Zur Ausstellung „Chronos und Kairos. Die Zeit in der zeitgenössischen Kunst“. Kassel 1999. 100 Ausstellungskatalog  : Zeit/Los, Köln 1999, S. 15 f. und Kat.-Nr. 6, 7, 8, 20. Wenig bekannt die Beiträge in Enrico Castelli (Hg.), Il Simbolismo del Tempo, Studi di filosofia dell’arte, Roma 1973. Zum Symbolbegriff  : G. Pochat, Der Symbolbegriff in der Ästhetik und Kunstwissenschaft, Köln 1983. 101 Ausstellungskatalog Zeit/Los 1999, Kat.-Nr. 20. Zum Werkprozess bei Polyklet und der Interpretation des Kairos bei O. Schulz (1955), F. Hiller (1965) und H. von Steuben (1973) vgl. G. Pochat, Geschichte der Ästhetik und Kunsttheorie, Köln 1986, S. 35 f. 102 Vgl. E. Panofsky, „Father Time“, in  : Studies in Iconology (1939), New York 1962, S. 69–94  ; G. Pochat, Theater und bildende Kunst, Graz 1990, S. 193 ff.; zu „Chronos“ in diesem Buch  : Bronzinos „Allegorie“ von 1538 (National Gallery, London  ; Abb. 22). 103 Ikonografie  : E. Panofsky, Problems in Titian, mostly iconographic, London 1969 – vgl. in diesem Buch S. 277 f. 104 Vgl. Ausstellungskatalog Zeit/Los 1999, Kat.-Nr. 65, 76. Immer noch aktuell  : I. Bergström, Dutch Still-Life Painting in the Seventeenth Century, London, New York 1956  ; Ausstellungskatalog  : Stilleben in Europa,

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Münster, Baden-Baden 1979/80  ; C. Grimm, Stilleben. Die niederländischen und deutschen Meister, Stuttgart 2001, 22010. 105 P. Gendolla, Die Einrichtung der Zeit. Gedanken über ein Prinzip der Räderuhr, in  : Augenblick und Zeitpunkt (hg. von Chr. W. Thomsen, H. Holländer), Darmstadt 1984, S. 47–58  ; G. Dohrn-van Rossum, Die Geschichte der Stunde. Uhren und moderne Zeitmessung, München, Wien 1992  ; H. H. Mann, Die Uhren und die Zeiten, in  : Ausstellungskatalog Zeit/Los 1999, S. 97–110. 106 P. Ricœur, Narrative Funktion und menschliche Zeiterfahrung, in  : Romantik. Literatur und Philosophie (hg. von V. Bohn), Frankfurt a. M. 1987, S. 45–79. 107 H.-G. Gadamer über die Zeitlichkeit des Ästhetischen bzw. das Beispiel des Tragischen in  : Wahrheit und Methode, Tübingen 41975, S. 115 und 124 f. Zur „Reinigung“ durch die Kunst  : W. Tatarkiewicz, Geschichte der Ästhetik, I, Basel, Stuttgart 1979, S. 178 ff. 108 Zur „Figuration“ und E. Auerbach vgl. Anm. 13 und 14. 109 So bereits bei F. Rintelen, Giotto und die Giotto-Apokryphen, München 1912  ; Th. Hetzer, Giotto, Frankfurt 1941  ; M. Imdahl, Giotto. Arenafresken, München1980. 110 Goethe, Über Laokoon, 1797, in  : J. W. von Goethe, Schriften zur Kunst, Schriften zu Literaturtheorien und Reflexionen (Goethes Werke, Bd. XII, hg. von H. von Einem, H. J. Schrimpf ), Hamburg (1953), München 1981, S. 56–66. 111 R. Koselleck, Vergangene Zukunft. Zur Semantik historischer Zeiten, Frankfurt (1979) 41984. 112 Zit. nach L. H. Buschhausen, Der Klosterneuburger Altar, Wien 1980, S.  118  ; vgl. auch die Ausführungen in Pochat, Bild/Zeit, I, 1996, S.  187–201  ; zu den sakramentalen Heilszeichen vgl. Pochat 1986, S. 141 ff., mit weiteren Lit.-Angaben. 113 Buschhausen 1980, S. 117. 114 Zur Universalhistorie vgl. z. B. J. Vogt, Wege zum historischen Universum. Von Ranke bis Toynbee. Stuttgart 1961  ; G. Pochat, Der Epochenbegriff und die Kunstgeschichte, in  : Methoden der Kunstwissenschaft (hg. von Lorenz Dittmann), Frankfurt 1985, S. 115–154. 115 Die Publikationsfolge zu Holbeins Doppelporträt aus der National Gallery setzt schon im Jahr 1900 mit der magistralen Studie von Mary Hervey ein  : Holbein’s Ambassadors, the Picture and the Men. A historical study, London 1900  ; K. Hoffmann, Hans Holbein der Jüngere, Die Gesandten, in  : Festschrift für Georg Scheja zum 70. Geburtstag, (Hg. A. Leuteritz, B. Lipps-Kant), Sigmaringen 1975  ; P. C. Claussen, Der doppelte Boden unter Holbeins Gesandten, in  : Hülle und Fülle. Festschrift für Tilmann Buddensieg (hg. von A. Beyer, V. Lampugnani, G. Schweikhart), Alfter 1993, S. 177–202  ; S. Foister, A. Ray, M. Wyld, Making and Meaning  : Holbein’s Ambassadors (The National Gallery Publications), London 1997  ; O. Bätschmann, P. Griener, Hans Holbein, London 1997  ; E. Dekker, K. Lippincott, The Scientific Instruments in Holbein’s Ambassadors, in  : Journal of the Warburg and Courtauld Institutes, 62 (1999), S. 93–125  ; J. D. North, The Ambassador’s Secret. Holbein and the World of the Renaissance. London 2002  ; keine Berücksichtigung fand hier D. Roberts, „Imago Mundi“  : Die Sicht auf die Welt. Eine ikonographische und mentalitätsgeschichtliche Studie, ausgehend von Hans Holbein d. J. „The Ambassadors“. Hildesheim 2012. 116 Hervey 1900, S. 201 f.; Claussen 1993, S. 177 f.; North 2002, S. 29–51 (ausführlich zu den beiden Gesandten). 117 R. Foster, Patterns of Thought. The Hidden Meaning of the Great Pavement of Westminster Abbey, London 1991  ; Claussen 1993, S. 182 f.; North 2002, S. 141–164. 118 Foster 1991, S. 59 f.; Claussen 1993, S. 182 f. North nimmt hier eine vermittelnde Position ein. Es bestehe kein Zweifel darüber, dass die Inkrustation in Westminster Abbey eine kosmisch-eschatologische Bedeutung, insbesondere durch die Ornamente auf Basis der Zahlen 3 und 6, habe  ;

Anmerkungen dies gelte auch für das Paviment in Holbeins Bild. Die rekonstruierten Maße entsprächen in etwa der Hälfte des Originals in Westminster Abbey. Von Interesse sei auch der Umstand, dass Holbein 1527 unter dem gelehrten Beistand von Nikolaus Kratzer in Greenwich Palace eine „astronomische Allegorie“ in einem Festgebäude, das zu Ehren des französischen Gesandten errichtet wurde, ausgeführt hat (North 2002, S. 162). 119 North 2002, S. 162. 120 Zu Kratzer vgl. O. Pächt, Holbein and Kratzer as Collaborators, in  : Burlington Magazine, 84 (1944), S. 134–139  ; North 2002, S. 53–68. 121 Augustinus, De ordine (MPL 32), II, c. 14  ; vgl. Pochat 1986, S. 100  ; Claussen 1993, S. 188, Anm. 48  ; vgl. auch in diesem Buch Kap. 1, S. 51 f. 122 Hervey hat auf William F. Dickes hingewiesen, der 1891 als Erster die Darstellung der Laute in unserem Gemälde mit derjenigen in Alciatus’ Liber emblematum von 1531, der freilich in unzähligen Ausgaben erschien, in Beziehung gebracht hat (s. etwa die Ausgabe Paris 1542, Nr. 20  : Foedera = Bundesgenossen). Hervey (1900, S. 227 ff.) interpretiert die gebrochene Saite als Warnung, eine gefährliche Allianz mit Francesco Sforza einzugehen, der zur Zeit der Entstehung des Gemäldes gerade den Mord an Merveilles anordnete (Hervey 1900, S. 100, 130). North stellt sich dazu eher skeptisch (2003. S. 202). Ohne Zweifel deutet die gesprungene Saite auf politische oder religiöse Unstimmigkeiten hin. 123 Claussen 1993, S. 181. 124 Ausstellungskatalog  : Hans Holbein der Jüngere. Die Jahre in Basel (hg. von Chr. Müller, S. Kemperdick u. a.), München, Berlin, London, New York 2006  ; darin  : Chr. Müller, Die Randzeichnungen im „Lob der Torheit“, S. 146–160, bes. S. 153, Abb.-Nr. 41 (fol. N. 4v)  : Ein Gelehrter (ein Mathematiker). Zu den Gelehrten und Philosophen heißt es im Lob der Torheit  : „Nach ihnen ziehen gleich die Philosophen einher, in ehrfurchtgebietendem Bart und Mantel. Sie rühmen sich[,] allein weise zu sein  ; alle andern seien flatternde Schemen. Und doch, wie köstlich phantasieren auch sie, wenn sie ihre zahllosen Welten bauen, wenn sie Sonne, Mond und Sterne mitsamt den Sphären auf Daumenbreite oder Fadendicke ausmessen, wenn sie den Blitz, den Wind, die Finsternisse und andere unerklärliche Erscheinungen erklären, ohne zu stocken, als hätten sie der Natur beim Weltbau als Geheimschreiber gedient. … Berghoch aber fühlen sie sich über den Laienpöbel erhaben, wenn sie ihre Dreiecke, Vierecke, Kreise und derlei mathematische Figuren eine über die andere legen und zu einem wahren Labyrinth durcheinanderwirren, dann Buchstaben in Schlachtenordnung aufmarschieren und alle Augenblicke bald in dieser, bald in jener Kolonne antreten lassen, um damit noch Dümmere zu verblüffen. Es fehlt sogar an solchen nicht, die aus den Gestirnen die Zukunft zu lesen behaupten und Wunder und Zeichen in Aussicht stellen, wie sie kein Magier prophezeite  ; und die Glückspilze finden Leute, die ihnen auch das glauben.“ (Erasmus von Rotterdam, Das Lob der Torheit, in  : ders., Ausgewählte Schriften, 2 (hg. W. Welzig) (hg. von W. Welzig), Darmstadt (1975) 32006, S. 129/130. Zum Urtext des Neuen Testaments vgl. im Ausstellungskatalog „Hans Holbein der Jüngere“ (2006)  : D. Kopplin, Zu Holbeins paulinischem Glaubensbild von Gesetz und Gnade, S. 79–95, bes. S. 87. 125 Klaus-Peter Schuster, Das 16. Jahrhundert, in  : Ausstellungskatalog  : Luther und die Folgen für die Kunst, Kunsthalle Hamburg (hg. von W. Hofmann,), München 1983, S. 115–266, zu den Rechtfertigungsbildern Gesetz und Gnade insbes. S. 210–216. Zu Recht wird die eigentümliche Bildstruktur der Lehrstücke unter der Rubrik „Abstraktion, Agitation und Einfühlung“ gestellt. Die Zuschreibung des Holzschnittes in Paris wird von D. Kopplin angezweifelt  : Ausstellungskatalog Hans Holbein der Jüngere. Die Jahre in Basel 1515-1532 (Hg. Chr. Müller, S. Kemperdick), München, Berlin, London, New York 2006, S. 83-84, Abb. 4. F.

O. Büttner hat sich in einem einschlägigen Artikel der spezifischen Struktur der reformatorischen Lehrbilder gewidmet  : ‚Argumentatio‘ in Bildern der Reformationszeit. Ein Beitrag zur Bestimmung argumentativer Strukturen in der Bildkunst, in  : Zeitschrift für Kunstgeschichte 57/1 (1994), S. 23–44. Ihr Einfluss auf die späteren Niederländer, etwa auf die Bildargumentation Pieter Bruegels des Älteren, ist auch geltend gemacht worden (S. 348). 126 Melanchthon, Loci communes, 4, 5–7 (Neuedition von Pöhlmann 1997, dort S. 106), zit. bei Kopplin 2006, S. 82. 127 Kopplin 2006, S. 82 f. 128 Vgl. die beiden Porträts von Erasmus im Ausstellungskatalog Ausstellungskatalog  : Hans Holbein der Jüngere 2006, S. 292, 293. 129 Matthias Winner, Terminus als Rebus in Holbeins Bildnissen des Erasmus, in  : Ausstellungskatalog Hans Holbein der Jüngere 2006, S. 97– 116, Zitat S. 100. 130 Winner 2006, S. 105. 131 Winner 2006, Zitat S. 104 f. 132 Winner 2006, S.  106 f. Die Rückseite von Quentin Massys’ Erasmus-Medaille von 1519 zeigte bereits die Devise mitsamt der Darstellung von Terminus (Ausstellungskatalog 2006 S. 345). Zum Scheibenriss von Holbein ebd. S. 106 und Kat.-Nr. 11. 133 North 2002, S. 169 ff. und Fig. 46. 134 North 2002, S. 22 f. 135 Hervey 1900 hat in ihrer bahnbrechenden Abhandlung bereits die Instrumente bestimmen können  : zum Himmel und dem Erdglobus siehe S. 209 ff., zu den Messinstrumenten S. 224 ff. Ihr gefolgt sind Michael Levey, The German School, National Gallery Catalogues, London 1957, S. 47–54  ; Claussen 1993, S. 177 f.; entscheidende Präzisierungen erfolgten bei E. Dekker, K. Lippincott 1999, S. 93–125  ; weitere Korrekturen durch North 2002, Kap. „Instruments for the Heaven“, S. 81–114. 136 North 2002, S. 82–89. Zu Dürers Holzschnitt ebd., Fig. 7. 137 North 2002, S. 91–93. 138 North 2002, S. 97 f. 139 North 2002, S. 99 ff. 140 North 2002, S. 108 ff. und Fig. 17. Eine Zeichnung des Instruments von Kratzer befindet sich heute in Oxford, Corpus Christi College – vgl. ebd., Fig. 16. 141 North 2002, S. 111. 142 North 2002, S. 112 f. 143 V. Gantzhorn, Oriental Carpets  : Their Iconology and Iconography from Earliest Times to the Eighteenth Century, Köln 1998. 144 Gantzhorn 1998, S. 36–42  ; vgl. North 2002, S. 152 f. 145 Aufgeschlagen ist eine Seite mit Berechnungen der beiden Zahlen 81.648 und 1.890.000, die durch Multiplikation mit der allgegenwärtigen Zahl 27 entstehen und durch 144 geteilt werden können  : 27 x 27 x 112 = 81.648 und 27 x 70.000 = 1.890.000 (vgl. North 2002, S.119). 146 North 2002, S. 121 f. 147 North 2002, S. 144. 148 Kemperdick im Ausstellungskatalog Hans Holbein der Jüngere 2006, S. 50 (Kat.-Nr. 50). 149 J. Baltrušaitis, Anamorphoses ou magie artificielle des effets merveilleux, Paris (1959) 1969  ; in Englisch  : Anamorphotic Art (hg. von W. Strachan), Cambridge 1977, S. 99–114. 150 North 2002, S. 129 ff. 151 Charles de Bouelles, Agonologiae Iesu Christi libri quatuor, Paris 1533, fol. 94–95, zit. North 2002, S. 134 und Anm. 142. 152 Thomas a Kempis, De imitatione Christi, Buch II, iv, cap. 38, zit. North 2002, S. 135, Anm. 143. 153 North 2002, S. 136 f.; zur Theologia Germanica ebd., Anm. 144, mit Verweis auf das Lexikon für Theologie und Kirche, X, c. 82.

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Anmerkungen 154 Hoffmann 1975, S. 143 f. 155 Claussen 1993, S. 187. 156 Claussen 1993, S. 183 f. 157 Claussen 1993, S. 183 158 Hoffmann 1975, S. 158. 159 Erasmus, von Rotterdam, Handbüchlein eines christlichen Streiters (Enchiridion militis christiani), in Ausgewählte Schriften, 1 (Hg. W. Welzig), Darmstadt 1968, 42006, S. 205. Sebastian Franck, Paradoxa, Nr. 133 und 134 (Hg. G. Wollgast), Berlin 1966, S. 171 f. Zu den beiden Autoren vgl. auch J. Müller, Das Paradox als Bildform. Studien zur Ikonogie Pieter Bruegels d. Ä., München 1999, S. 141-42 und Kap. IX, S. 339 f. im vorliegenden Buch.

160 North 2002, S. 344 ff. 161 Nikolaus von Kues Nikolaus von Kues, Compendium, Kap. 13, in  : ders.: Philosophisch-theologische Werke, Bd. 4. Hamburg 2002, zit. Norbert Schneider, Geschichte der Kunsttheorie von der Antike bis zum 18. Jahrhundert, Köln, Weimar, Wien 2011, S. 154. 162 Claussen 1993, S. 182. 163 Gadamer 1975, S. 279. 164 Gadamer 1975, S. 275 ff. und Zit. S. 281. 165 Gadamer 1975, S. 281. 166 Gadamer 1975, S. 282. 167 Gadamer 1975, 283.

I Die Macht der Bilder 1 G. Pochat, Der Symbolbegriff in der Ästhetik und Kunstwissenschaft, Köln 1983, S. 11 f.; zur neuen Betrachtungsweise des Symbol- und Allegoriebegriffs – nicht zuletzt in Bezug auf die Semiotik und die Systemtheorie im Fin de Siècle als Vorstufe zur Postmoderne – siehe Ulrich Tragatschnig  : Sinn und Bildsinn. Allegorien in der Kunst um 1900, Berlin 2004. 2 B. A. Sørensen, Symbol und Symbolismus in den ästhetischen Theorien des 18. Jahrhunderts, Kopenhagen 1963. 3 J. J. Winckelmann, Versuch einer Allegorie, besonders für die Kunst, Dresden 1766  ; in  : Kunsttheoretische Schriften, V, Baden-Baden 1966  ; kritisch beleuchtet von Tragatschnig 2004, S. 26 f. 4 J. G. Herder, Plastik. Einige Wahrnehmungen über Form und Gestalt aus Pygmalions bildendem Traum, Riga 1778, S. 20 und 98  ; zum „Wesenhaften“ bei Herder vgl. Tragatschnig 2004, S. 25 f. 5 Pochat, Bild/Zeit, I, 1996, S. 14 f. und 134 f. 6 R. Suntrup, Die Bedeutung der liturgischen Gebärden und Bewegungen in lateinischen und deutschen Auslegungen des 9. bis 13. Jahrhunderts (Münstersche Mittelalter-Schriften, Bd. 37), München 1978, S. 38 f.; R. Assunto, Die Theorie des Schönen im Mittelalter, Köln 1963, S. 155  ; G. Pochat, Geschichte der Ästhetik und Kunsttheorie von der Antike bis zum 19. Jahrhundert, Köln 1986, S. 143 f  ; L. H. Buschhausen, Der Klosterneuburger Altar, Wien 1980  ; Pochat, Bild/Zeit, I, 1996, S. 42 ff. 7 MPL 176, c. 814  ; vgl. E. de Bruyne, Etudes d’esthétique médiévale, 3 Bde. (Rijksuniversiteit te Gent, Werken … Bde. 97–99), Brügge 1946, zit. Bd. II, S. 212 f.; Pochat 1986, S. 142. 8 Suntrup 1978, S. 42 ff.; Pochat 1986, S. 143 f. 9 M. Imdahl, Giotto, Arenafresken. Ikonographie, Ikonologie, Ikonik, München 1980. Der Begriff der Ikonik wurde von G. Boehm aufgegriffen und weitergeführt  ; vgl. Das Phänomen Zeit in Kunst und Wissenschaft (hg. von H. Paflik), Weinheim 1987, S. 1–23, sowie spätere Arbeiten. Über den grundsätzlichen Weg vom Kultbild zum Kunstbild vgl. Belting, H., Bild und Kult. Eine Geschichte des Bildes vor dem Zeitalter der Kunst, München 1990. 10 Alanus von Lille, Anticlaudianus, MPL 210, c. 491  ; vgl. de Bruyne 1946, II, S. 298  ; zu Alanus von Lille  : E. R. Curtius, Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter (1948), Bern 61967, S. 127  ; zur Textstelle  : G. Pochat, Figur und Landschaft, Berlin 1973, S. 95 f. 11 Pochat, Bild/Zeit, II  : Zeitgestalt und Erzählstruktur in der bildenden Kunst des 14. und 15. Jahrhunderts, Wien, Köln, Weimar 2004  ; ders. 1973, S. 244 f. und 341–368. Auch Frank Büttner hat 2013 eine Studie mit mentalitätsgeschichtlicher Relevanz, diesmal in Bezug auf die ästhetische Neuorientierung um 1300, vorgelegt. Im vorletzten Kapitel mit der Überschrift „Bild und Augenblick“ geht er auf die Optik Alhazens und die dort angesprochene Zusammenführung der ganzheitlichen und der spezifischen Wahrnehmung ein – also im Grunde auf jenes Problem der Simul-

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taneität, das theoretisch der Gestaltwahrnehmung innewohnt – F. Büttner 2013, S. 152 f. (vgl. auch o. S. 20 Anm. 86). 12 E. Panofsky, Early Netherlandish Painting, New York 1971, S. 164  ; O. Pächt, Van Eyck. Die Begründer der altniederländischen Malerei, München 1989, S. 64 f. 13 Panofsky 1971, S. 131 f.; zur Vergegenwärtigung  : G. Pochat 2004, S. 9 f. und 123 ff. 14 Zur Emblematik  : K. Giehlow, Die Hieroglyphenkunde des Humanismus in der Allegorie der Reanissance, besonders der Ehrenpforte Kaiser Maximilians I. in  : Jahrbuch der Kunsthistorischen Sammlungen des allerhöchsten Kaiserhauses, Bd. XXXII, H. 1,Wien 1915, S. 1-232  ; L. Volkmann, Bilderschriften der Renaissance. Hieroglyphik und Emblematik in ihren Beziehungen und Fortwirkungen, Leipzig 1923  ; M. Praz, Studies in Seventeenth-Century Imagery (Warburg Studies, 1), London 1939  ; G. Boas, The Hieroglyphics of Horapollo (Bollingen Series, XXIII), New York 1959  ; A. Henkel, A. Schöne, Emblemata. Handbuch zur Sinnbildkunst des XVI. und XVII. Jahrhunderts. Stuttgart 1967. Zur Bewertung der Hieroglyphen aus heutiger Sicht  : Tragatschnig 2004, S. 23 f. 15 J. Lauts, Carpaccio. Paintings and Drawings, London 1962, S. 38 ff.   ;G. Pochat, Bemerkungen zu Carpaccio und Mantegna, in  : Konsthistorisk Tidskrift, Bd. 40 (1971), S. 99–106  ; ders.: The Ermine. A metaphor in Renaissance poetry and a portrait by Leonardo da Vinci, in  : Tidskrift för litteraturvetenskap, Nr. 3 (1973), S. 305–310  ; ders. Kunst, Kultur, Ästhetik. Gesammelte Aufsätze, Wien, Berlin 2009, S. 51–67. 16 Pochat 1971. Auf die Problematik der Identifizierung des Ritters ist jüngst Brucher eingegangen (Brucher 2010, S. 417 f.). Er stellt fest, dass bislang keine verbindliche Identifikation vorliegt. Was sein Hinweis auf die Verbindung zur Emblematik betrifft, sei hier festgehalten, dass in meinem Aufsatz von 1971 Carpaccios Bildprägung als der Emblematik vorgängig erörtert wird. 17 K. Dickhaut, Kytherische Liebe / Liebe auf Kythera, in  :Liebessemantik. Frühzeitliche Darstellungen von Liebe in Italien und Frankreich (hg. K. Dickhaut) Wiesbaden 1914, S.263-327  ; K. Dickhaut, Positives Menschenbild und venezianità – Kythera als Modell einer geselligen Utopie in Literatur und Kunst von der italienischen Renaissance bis zur französischen Aufklärung. Wiesbaden 2012. 18 G. Pochat, Phantasia – einige Überlegungen zur Begriffsgeschichte, in  : ders. 2009, S. 421–441, bes. S. 427 (mit weiteren Literaturhinweisen)  ; zu Ficino  : A. Chastel, Marsile Ficin et l’art, in  : Travaux d’Humanisme et Renaissance, Bd. 14, Genève 1954  ; ders. Art et Humanisme à Florence au temps de Laurent le Magnifique. Paris (1959) 21961, S. 265–288. D. P. Walker, Spiritual and Demonic Magic from Ficino to Campanella (Studies of the Warburg Institute, Bd. 22), London 1958  ; F. A. Yates, Giordano Bruno and the Hermetic Tradition, London 1964  ; E. H. Gombrich, Botticelli’s Mythologies. A Study in the Neoplatonic Symbolism of His Circle,

Anmerkungen in  : Journal of the Warburg and Courtauld Institutes, Bd. VIII (1945), S. 7–60  ; abgeschwächt in  : E. H. Gombrich, Symbolic Images. Studies in the art of the Renaissance, London (1972) 21975, S. 31–81. 19 Pochat 1973 (wie Anm. 11). Zu Bellini vgl. auch G. Brucher, Geschichte der venezianischen Malerei, 2  : Von Giovanni Bellini zu Vittore Carpaccio, Wien 2010, S. 27–186. 20 E. H. Gombrich, Renaissance Artistic Theory and the Development of Landscape Painting, in  : Gazette des Beaux-Arts, 95 (1953), S. 335–360  ; A. R. Turner, The Vision of Landscape in Renaissance Italy, Princeton 1966  ; G. Pochat, Figur und Landschaft, Berlin, New York 1973  ; Chr. S. Wood, Albrecht Altdorfer and the Origins of Landscape, Chicago 1993  ; M. Stadlober, Der Wald in der Malerei und der Graphik des Donaustils, Wien, Köln, Weimar 2006. 21 E. Wind, Giorgione’s Tempesta with comments on Giorgione’s Poetic Allegories, Oxford 1969. 22 Vgl. G. Vasari, Vite …, Bd. IV (hg. G. Milanesi), Firenze1906  ; Nachdruck  : Firenze 1973, S. 96 f.; vgl. auch Wind 1969, S. 1  ; Pochat 1973, S. 375 f. 23 F. Th. Vischer, Kritische Gänge, IV (hg. von R. Vischer), Stuttgart 1922/23, S. 324 und 431 f.; G. Pochat, Friedrich Theodor Vischer und die zeitgenössische Kunst, in  : Ideengeschichte und Kunstwissenschaft. Philosophie und bildende Kunst im Kaiserreich (hg. von E. Mai, S. Waetzoldt, G. Wolandt), Berlin 1983, S. 120 f. 24 Zum Briefwechsel Isabellas mit dem Unterhändler Lorenzo da Pavia in Venedig vgl. C. Yriarte, Isabella d’Este et les artistes de son temps, V  : Relations d’Isabelle avec Giovanni Bellini, in  : Gazette des Beaux-Arts, XV (1996), S. 215–228  ; Pochat 1973, S. 370 f.; allgemein  : Ausstellungskatalog  : Isabella d’Este. Fürstin und Mäzenatin der Renaissance. Kunsthistorisches Museum, Wien (hg. von S. Ferino-Pagden), Wien 1994, S. 17 ff. 25 Zu Bergson vgl. Pochat, Bild/Zeit, I, 1996, S. 13  ; jüngst erschien die aus der Phänomenologie und Philosophie Gadamers erwachsene tiefgründige Studie von G. Boehm, Wie Bilder Sinn erzeugen. Die Macht des Zeigens, Berlin, Darmstadt 2010. 26 Pochat 1973, S. 377 f. und 381 ff. 27 T. Pignatti, Giorgione. Catalogo ragionato. Milano, Venezia 1969  ; die kleinen Mythologien im Museo Civico in Padua, in der Phillips Memorial Gallery, Washington, und in der National Gallery, London  : Ausstellungskatalog  : Giorgione. Mythos und Enigma. Kunsthistorisches Museum Wien (hg. von S. Ferino-Pagden, G. Nepi Scirè), Wien 2004, Kat.-Nr. 22, 40, 41, 65 und 66. Die frühen Mythologien werden allerdings dort nicht erörtert, aber viele technische und inhaltliche Fragen. Auf die kleinen mythologischen Bilder ist in jüngster Zeit Brucher eingegangen. Er schließt sich der Meinung an, dass es sich um kleine Cassonebilder handeln könnte. Unser Bild aus der Phillips Gallery in Washington wird unter dem Titel Orpheus und die Zeit geführt (Brucher 2013, S. 33)  ; auf den m. E. entscheidenden synästhetischen Aspekt geht Brucher aber nicht ein. 28 G. Bandmann, Melancholie und Musik. Ikonographische Studien (Arbeitsgemeinschaft für Forschung des Landes Nordrhein-Westfalen, Bd. 12). Köln, Opladen 1960. 29 M. Bonicatti, Aspetti dell’umanesimo nella pittura veneta dal 1455 al 1515, Roma 1964, S. 89 ff. Pochat 1973, S. 424 f. 30 So bereits Lodovico Dolce, Dialogo della pittura. Venezia 1557. New York 1968 (hg. von M. W. Roskill), S. 138. 31 Marcantonio Michiel, Notizia d’opere del disegno, ca. 1525–1530, hg. Th. Frimmel in  : Quellenschriften für Kunstgeschichte und Kunsttechnik, N. F., I (hg. von A. Ilg), Wien 1888, S. 106  ; Ausstellungskatalog Giorgione 2004, Kat.-Nr. 7. 32 A. Morassi, Esame radiografico della „Tempesta“ di Giorgione, in  : Le Arti, I (1938/39), S. 567–570. 33 C. Gilbert, On Subject and Not Subject in Italian Renaissance Pictures, in  : Art Bulletin, 34 (1952), S. 202–216, Zitat S. 213.

34 J. Rapp, Die „Favola“ in Giorgiones „Gewitter“, in  : Pantheon LVI, München 1998, S.44-74, zit. S. 58 f. Eine Kurzfassung der Untersuchung im Ausstellungskatalog Giorgione, Wien 2004. S. 119-123. Brucher hat sich, bisweilen kritisch, mit dem ikonographischen Deutungsversuch von Rapp auseinandergesetzt  : G. Brucher, Geschichte der venezianischen Malerei, 3  : Von Giorgione zum frühen Tizian, Wien 2013, S. 115 und Anm. 406. 35 Pochat 1973, S. 403 (mit weiteren Lit.-Hinweisen)  ; zur Harmonie etwa  : E. Wind 1969,S. 1 f., und G. Tschmelitsch, Hamonia est discordia concors. Ein Deutungsversuch zur „Tempesta“ des Giorgione, Wien 1966. Henricus Cornelius Agrippa, De occulta philosophia libri treslibri tres, Basel, Colonia 1533, Lib. I, c. v. 36 K. Heitmann, Fortuna und Virtus. Eine Studie zu Petrarcas Lebensweisheit, Köln 1958. Zur Deutung von fortezza – caritas vgl. Wind 1969  ; daran anschließend  : G. Pochat, Giorgione’s Tempesta, Fortuna and Neo-Platonism, in  : Konsthistorisk Tidskrift, 39 (1970), S. 14–34  ; erweitert in  : ders. 2009, S. 7–34, bes. S. 25 ff. 37 P. Fossi, Di Giorgione e della critica d’arte, Firenze 1957, S. 33. Extensiv setzt sich auch Brucher mit den neueren Deutungen des Inhalts auseinander, denen es aber nicht gelungen ist (und auch nicht gelingen dürfte), Eindeutigkeit herzustellen. Die von Brucher angesprochene Gegenüberstellung von weiblich – männlich, ein alchimistisches Prinzip, das bereits bei Ferriguto 1933 anklingt, wurde nicht von Hornig, sondern eher von Wind 1969 in Bezug auf die Tempesta zur Diskussion gestellt. 38 K. Clark, Über das Nackte in der Malerei, London (1953) 1958, S. 119– 182, Zitat S. 120. 39 Michiel, Notizia (1525), in  : Quellenschriften … N. F. I (hg. von Th. Frimmel), Wien 1888, S. 88  ; H. Posse, Die Rekonstruktion der Venus mit dem Kupido von Giorgione, in  : Jahrbuch der königl. Preuß. Kunstsammlungen, Berlin, LII (1931), S. 29  ; K. Oettinger, Die wahre Giorgione-Venus, in  : Jahrbuch der kunsthistorischen Sammlungen in Wien, N. F. 13 (1944) S. 113–139. 40 P. della Pergola, Giorgione, Milano 1955, S. 39  ; G. A. dell’Acqua, Titien, Milano 1956, S. 109 ff. Schwerlich kann man der Argumentation von David A. Brown folgen, Tizian habe wiederholt auf seinen Teil der Landschaft zurückgegriffen, um seine Rolle in der Dresdner Venus herauszustreichen  ; noch weniger, er wäre für die ganze Landschaft zuständig gewesen  ; vgl. Ausstellungskatalog  : Bellini, Giorgione, Tizian und die Renaissance der venezianischen Malerei. Kunsthistorisches Museum, Wien (hg. von D. A. Brown, S. Ferino-Pagden), Wien 2007, S. 22 f.; zu den Änderungen auch Brucher 2013, S. 140 ff. 41 F. Saxl, Lectures, London 1957, I, S. 163. 42 A. Michaelis, Geschichte des Statuenhofes im vatikanischen Belvedere, in  : Jahrbuch des Kaiserlich Deutschen Archäologischen Instituts, V (1890), S. 5–72  ; C. Hülsen, H. Egger, Die römischen Skizzenbücher von Marten van Heemskerck, Berlin 1916  ; O. Kurz, Huius Nympha Loci, in  : Journal of the Warburg and Courtauld Institutes, XVI (1953), S. 171–177  ; J. Ackerman, The Belvedere as a Classical Villa, in  : Journal of the Warburg and Courtauld Institutes, XIV (1951), S. 70–91  ; H. H. Brummer, The Statue Court in the Vatican Belvedere, Stockholm 1970  ; PH. P. Bober, R. Rubinstein, Renaissance Artists & Antique Sculpture. A Handbook of Sources, Oxford 1986. 43 F. Saxl, A Heritage of Images. A selection of lectures by Fritz Saxl (1957), Harmondsworth 1970, S. 73 ff. 44 Zu Lorenzo de’ Medicis Gedicht Ambra vgl. Saxl 1957, I, S. 163, Anm. 2. 45 Saxl 1970, S. 73 f. 46 G. Pozzi, L. A. Ciapponi, La cultura figurativa di Francesco Colonna e l’Arte Veneta, in  : Umanesimo Europeo e Umanesimo Veneziano, Venezia 1963, S. 317–336, bes. S. 328 ff. Zur Quellnymphe die einschlägige Inschrift auf dem Sarkophag im Garten der Colonna in Rom, zit. O. Kurz 1953, S. 171, und Brummer 1970, S. 168 ff.:

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Anmerkungen Huius Nympha loci, sacri custodia fontis, Dormio, dum blandae sentio murmure acquae. Parce meum, quisquis tangis cava marmora, somnum Rumpere  ; sive bibias, sive lavere, tace. 47 Zum Schlafmotiv und der Armhaltung vgl. M. Meiss, Sleep in Venice. Ancient Myths and Renaissance Proclivities (Proceedings of the American Philosophical Society, 110, Nr. 5, Philadelphia 1966, S. 348–382  ; E. H. Gombrich, Hypnerotomachiana, in  : Journal of the Warburg and Courtauld Institutes, XIV (1951), S. 119–125. Über den Holzschnitt in der Hypnerotomachia Poliphili hinaus findet sich das Motiv bei Botticelli, Lotto, Bellini u. a.; weitere Beispiele bei Brummer 1970, S. 168–184. Zur Tradition des anthropomorphen Brunnens vgl. G. de Tervarent, L’Origine des fontaines anthropomorphes, in  : Acad. Royale de Belgique, Bulletin de la classe des Beaux-Arts, 38, Bruxelles 1956, S. 122–129  ; W. Deonna, Fontaines anthropomorphes. La femme aux seins jaillissants et l’enfant „mingens“, in  : Geneva, N. S., 6, Genève 1958, S. 239–296. 48 Vgl. Anm. 40. 49 Michiel 1888, S. 86 und 88  ; Ausstellungskatalog Giorgione 2004, Nr. 5. 50 J. Wilde, Röntgenaufnahmen der drei Philosophen Giorgiones und der Zigeunermadonna Tizians, in  : Jahrbuch der Kunsthistorischen Sammlungen in Wien, N. F., VI (1932), S. 141 ff. Abb. 119. 51 G. M. Richter, Unfinished Pictures by Giorgione, in  : Art Bulletin, 16 (1934), S. 272 ff.; F. Klauner, Zur Symbolik von Giorgiones „Drei Philosophen“, in  : Jahrbuch der Kunsthistorischen Sammlungen in Wien, N. F., 51 (1955), S. 166 ff.; Ausstellungskatalog Bellini, Giorgione, Tizian 2006, Nr. 30. 52 Eine Übersicht der Deutungen bis 1970 in G. Pochat, Figur und Landschaft, Berlin 1973, S. 407 ff.; ergänzt durch ders. Giorgiones „Drei Philosophen“ im Lichte der zeitgenössischen Naturphilosophie, in  : ders. 2009, S. 35–50. Hornig versucht eine Deutung der drei . Philosophen als Porträts  : Giorgiones „Drei Philosophen. Eine Neuinterpretation. Rainer Zimmermann zum 82. Geburtstag., Pantheon, 58 (2000), S. 81–89  ; der reichhaltigste kritische Durchgang der Giorgioneliteratur wurde von Ch. Hornig bewerkstelligt  : Giorgiones Spätwerk, München 1987, S. 199 f.; zu den „Drei Philosophen“ gesondert  : Th. Zaunschirm, Alte und Moderne Kunst, 148/49 (1976), S. 5–9  ; neuere Ergänzungen im Ausstellungskatalog Giorgione 2004, S. 19 ff., und im Ausstellungskatalog Bellini, Giorgione, Tizian, Wien 2006, S. 166. Weitere formale und inhaltliche Aspekte finden bei Brucher 2013, S. 118–124, Berücksichtigung. 53 G. C. Argan, Storia dell’arte italiana, 3, Firenze 1977, S. 112. Die „drei Lebensalter“ werden ebenfalls von Wilde 1932 (wie Anm. 50), S. 233, angesprochen. 54 A. Ferriguto, Attraverso i „misteri“ di Giorgione, Castelfranco 1933, S. 76 ff.; L. Baldass, Zu Giorgiones „Drei Philosophen“, in  : Jahrbuch der Kunsthistorischen Sammlungen in Wien, 50 (1953), S. 121 ff.; L. Venturi, Giorgione, Roma 1954  ; T. Pignatti, Giorgione, Milano 1978, S. 63 und 108. 55 Th. Zaunschirm 1976, S. 5 f. 56 K. Zeleny, Zur Identifizierung von Giorgiones „Drei Philosophen“, in  : Vernissage, Die Zeitschrift zur Ausstellung Bellini, Giorgione, Tizian und die Renaissance der venezianischen Malerei 2006/07, KHM Wien, Jg. 14 (2006), Nr. 12/06, S. 40–43. Die Kritik wird vorgebracht von Peter D. Moser, Drei Philosophen, zwei Lehrsätze, ein folgenschwerer Irrtum, in  : O. Neumaier (Hg.), Fehler und Irrtümer in den Wissenschaften (Austria, Forschung und Wissenschaft – Band 5), Wien 2007, S. 167–169. 57 Zum Efeu und der Menschwerdung Christi  : F. Klauner 1955, S. 152 f. und 158 f.; zur mensurierenden Tätigkeit des Menschen  : Nikolaus von Kues, De docta ignorantia, I, 5, 4  ; ders., De mente, I, und ders., De beryllo, c. 32  ; dazu  : Pochat 1986, S. 218–222. V. Rüfner, Homo secundus Deus. Eine geistesgeschichtliche Studie zum menschlichen Schöpfertum, in  : Philosophisches Jahrbuch der Görresgesellschaft, LXIII (1955), S. 269  ; E. N. Tigerstedt, the Poet as Creator  : Origins of a Metaphor, in  : Comparative Literature Studies, vol. 5, nr. 4 (1968), S. 455–488.

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58 A. Maier, Studien zur Naturphilosophie der Spätscholastik, 5 Bde., Rom 1949–1958  ; Dies. Ausgehendes Mittelalter. Gesammelte Aufsätze zur Geistesgeschichte des 14. Jahrhunderts, 1, Rom 1964/1977. Die Grundlagen für die Erforschung des italienischen Humanismus in der Nachkriegszeit haben P. O. Kristeller und E. Garin geliefert. Ersterer hat die Weichen für die Erforschung der Aristotelesrezeption in Italien gestellt und die enge Verknüpfung der Scholastik mit dem Humanismus nachgewiesen. Garin hat die Werke der Neuplatoniker, insbesondere jene von Ficino und Pico della Mirandola erschlossen sowie den Humanismus und die Naturphilosophie der Zeit beleuchtet – vgl.: P. O. Kristeller, Studies in Renaissance Thought and Letters, Roma 1956  ; ders., La tradizione aristotelica nel Rinascimento. Studi e Richerche, Padova 1962  ; E. Garin, Der italienische Humanismus, Bern 1947  ; ders. Medioevo e Rinascimento. Studi e Richerche, Bari 1954  ; ders. La cultura filosofica del Rinascimento italiano. Richerche e documenti, Firenze 1961. 59 Literaturhinweise in Pochat 1973, S. 173 f. 60 P. O. Kristeller, J. H. Randall, The Study of the Philosophies of the Renaissance, in  : Journal of the History of Ideas, II (1941), S. 491  ; S. Bettini, Neoplatonismo fiorentino e averroismo veneto in relazione con l’Arte (Estratto), in  : Memorie dell’Accademia patavina, 1955/56, Padova 1956. Eine weitere Bezugnahme auf Giorgiones „Drei Philosophen“ von Bruno Nardi in  : Il Mondo, Roma 1955, S. 11 f. 61 G. F. Hartlaub, Giorgiones Geheimnis. Ein kunstgeschichtlicher Beitrag zur Mystik der Renaissance, München 1925. 62 M. T. Casella, G. Pozzi, Francesco Colonna, biografia e opere, II, Padova 1959  ; G. Pozzi, L. A. Ciapponi 1963 (wie Anm. 46), S. 317–336  ; zur weiterführenden Literatur bei Elwert, Wittkower und Chastel vgl. Pochat 1973, S. 380 und Anm. 95, 96. 63 Die Vermutung Wildes, es handele sich bei der mittleren Figur um einen Mohren, ist später zurückgewiesen worden – vgl. Hornig 1987, S. 200 ff. Unbestritten sind hingegen das Diadem des „alten Philosophen“ und die Pelzmütze des jüngeren  ; vgl. Ausstellungskatalog Giorgione 2004, S. 63 und 272. 64 Zur apokryphen Deutung  : Wilde 1932 (wie Anm. 50)  ; R. Eisler, New Titles for Old Pictures. London 1935  ; M. Auner, Randbemerkungen zu zwei Bildern Giorgiones und zum Broccado-Porträt in Budapest, in  : Jahrbuch der Kunsthistorischen Sammlungen in Wien, 54 (1958), S. 151. Zum Buch Seth vgl. Codex Pseudepigraphus Veteris Testamenti (hg. von J. A. Fabricius), I, 1722, S. 151  ; E. Wind 1969 (wie Anm. 21)  ; Klauner 1955 (wie Anm. 51), S. 162, mit Hinweis auf das Opus imperfectum in Matthaeum, Homilie in Scriptura Seth (MPG 56, 637)  ; A. Gentili, Beitrag zum jüdischen Erbe und der Astrologie, in  : Ausstellungskatalog Giorgione 2004, S. 255–260. 65 Vgl. die Literaturhinweise in Anm. 18. 66 Pochat 2009, S. 38–48. 67 Corpus Hermeticum (hg. von A. D. Nock, J. Festugière), 4 Bde., Paris 1945–1954  ; zu Pimander  : F. A. Yates 1964 (wie Anm. 18), S. 28. 68 Picatrix, Ziel des Weisen von Pseudo-Magriti, translated from the German from the Arabic by H. Ritter and M. Plessner, Studies of the Warburg Institute 27, London 1962  ; E. Cassirer, Individuum und Kosmos in der Philosophie der Renaissance, Studien der Bibliothek Warburg, X, Berlin 1927, S. 160 f.; weitere Lit.-Hinweise in Pochat 1973, S. 289, Anm. 181. 69 Carolus Bovillus, Liber de sapiente, Paris 1509/10  ; ders. Liber de intellectu und Liber de sensibus. Paris 1510, Nürnberg 1514  ; vgl. E. Cassirer, Individuum und Kosmos in der Philosophie der Renaissance, Darmstadt 1977, S. 93 ff.; Cassirer zu Bovillus’Liber de sapiente, Paris 1510/11, S. 299–412  ; Pochat 2009, S. 338-48. 70 Asclepius in Corpus Hermeticum (hg. von Nock Festugière) II, Paris 1945, S. 298  ; Einleitung zu Bd. I und II, S. 267–275  ; P. O. Kristeller 1956, S. 221 ff.; F. A. Yates 1964, S. 1–83. 71 Pico della Mirandola, Disputationes adversus astrologiam divinatricem, 1493/94 und 1496  ; D. P. Walker 1958 (wie Anm. 18), S. 56, und Yates 1964, S. 113 f.; E. Wind 1969, S. 5 f.

Anmerkungen 72 E. Wind, Pagan Mysteries in the Renaissance, London 1958  ; Harmondsworth 1967, S. 81 ff. 73 Bovillus, Liber de intellectu, Nürnberg 1514, fol. 2v  ; vgl. Pochat 2009, S. 42 f. 74 P. O. Kristeller 1956, S. 287 ff.; D. P. Walker 1958, S. 30 ff. 75 R. Wischnitzer, The Three Philosophers by Giorgione, in  : Gazette des Beaux-Arts, N. S. I (1945), S. 193 ff.; zur Metapher des Knotens  : Marsilio Ficino, Theologia Platonica, III, ii, in  : Opera omnia, Basel 1576, c. 121  ; dazu Wind 1969, S. 5. Auf die bedeutende Rolle der 1507 in Venedig publizierten Schriften von Ramon Lull weist Brigitte Borchhardt-Birbaumer in ihrem Beitrag im Ausstellungskatalog Giorgione 2004 (S. 71–77) hin  : Zur Aktualität toleranter Dialoge  : Giorgione und Ramon Lull 76 Epitoma Joannis de Monteregio in Almagestum Ptolomei, Venetiis 1496, fol. 3v  ; Liber Quintus  : Semidiametros soli, lunae & umbrae visuales via geometrica perquirere  ; vgl. Pochat 2009, S. 47, Abb. 10  ; vgl. auch Ausstellungskatalog Giorgione 2004, S. 60, 78. 77 Paracelsus, Die Geheimnisse (Hg. W.-E. Peuckert), Leipzig 1941, S. 10. 78 Aurelio Augurelli, Vellus aureum et chrysopoeia/Gülden=Vliess und Golderzielungskunst (hg. von V. Weigel), Hamburg 1716. 79 Lodovico Dolce, Della pittura (1557) (hg. M. W. Roskill), New York 1968, S. 28. 80 R. W. Lee, Ut Pictura Poesis. The Humanistic Theory of Painting, in  : Art Bulletin, 22 (1940), S. 197–269, bes. S. 205  ; J. Bialostocki, The Renaissance Concept of Nature and Antiquity, in  : Studies in Western Art, II, Princeton 1963, S. 19–41, bes. S. 22 und 28. 81 D. Frey, Gotik und Renaissance, Augsburg 1929, S. 112  ; Imdahl sieht die Impraktikabilität der Landschaft nicht wie Frey negativ, sondern im Sinn der von ihm später thematisierten Ikonik  : M. Imdahl, Baumstellung und Raumwirkung. Zu verwandten Landschaftsbildern von Domenichino, Claude Lorrain und Jan Frans on Bloemen, in  : Festschrift Martin Wackernagel (hg. Kunstgeschichtliches Seminar der Universität Münster), Köln, Graz 1958, S. 153–184. ders.: Giotto. Arenafresken. Ikonographie, Ikonologie, Ikonik, München 1980  ; vgl. Pochat, Bild/Zeit, I, 1996, S. 239–260. Zur Impraktikabilität in den Landschaftshintergründen Pinturicchios vgl. S. Sandström, Levels of Unreality. Studies in Structure and Construction in Italian Mural Painting during the Renaissance (Figura N. S., 4), Uppsala 1963. 82 P. della Pergola, Giorgione, Milano 1955, S. 39 ff. Zu den Übermalungen  : G. Castelfranco, Note su Giorgione, in  : Bollettino d’Arte, 40 (1955), S. 298  ; M. Hours, Examen sommaire fait au laboratoire d’études scientifiques de la peinture du Musée de Louvre sur le tableau de Giorgione  : Le „Concert champêtre“, in  : Bollettino d’Arte, 40 (1955), S. 310. In den letzten Jahrzehnten neigt man dazu, das Gemälde Tizian zuzuschreiben – vgl. Ausstellungskatalog Bellini, Giorgione, Tizian 2006, Nr. 31. Dem stellt sich aber Jaynie Anderson in ihrem Buch Giorgione, The Painter of Poetic Brevity (New York 1997) entgegen. In der Literaturauflistung zum Gemälde fehlt Chr. Hornig, Giorgiones Spätwerk, München 1987, der eine akribische Analyse des Gemäldes geliefert hat. Aus ähnlichen formalen Gründen macht sich Brucher entschieden für die Autorschaft Giorgiones, auch unter Berücksichtigung der älteren deutschen Literatur, wie z. B. L. Justi, Giorgione, 2 Bde,, Berlin (1926) 1936, stark. 83 So bereits J. Gramm, Die ideale Landschaft, ihre Entstehung und Entwicklung, 2 Bde., Freiburg 1912, Zitat I, S. 341. 84 Gramm, loc. cit. Zur summarischen Ausführung, der unmitttelbaren Wirkung und den charakteristischen Änderungen während des Malvorganges selbst vgl. R. Pallucchini, La pittura veneziana del Cinquecento, Novara 1944, S. 26  ; P. della Pergola 1955, S. 40  ; K. Clark 1958, S. 126  ; Ausstellungskatalog Bellini, Giorgione, Tizian 2006, S. 168, 169 (mit Reflektogrammen). 85 R. Klein, Die Bibliothek von Mirandola und das Giorgione zugeschriebene „Concert Champêtre“, in  : Zeitschrift für Kunst und Musik, 30 (1967), S. 199–206, bes. S. 203, mit Hinweis auf Giraldis Syntagma de musis (Opere I, Basel 1580, c. 533)  ; vgl. Pochat 1973, S. 88, Anm. 18.

86 Ars Nova and the Renaissance 1300–1540 (New Oxford History of Music, Vol. III), London 1960, Einleitung, S. XVII. Aus neuerer Zeit die Studie von G. Frings, Giorgiones Ländliches Konzert. Darstellung der Musik als künstlerisches Programm in der venezianischen Malerei der Renaissance, Berlin 1999, zit. bei Brucher 2013, S. 365, Anm. 562. 87 G. Reese, Music in the Renaissance, London 1954, S. 311 ff. Zur frottola A. Einstein, Das elfte Buch der Frottole, in  : Zeitschrift für Musikwissenschaft, X (1928), S. 613–624  ; F. Torrefranca, Il segreto del Quattrocento. Musiche ariose e poesia popolaresca, Milano 1939 (mit Bibliografie)  ; B. Pratella, Le arti e le tradizione popolari d’Italia. Primo documentario per la storia dell’etnofonia in Italia, 1-2, Udine 1941  ; E. Helm, Secular Vocal Music in Italy (c. 1400–1530), in  : Ars Nova and the Renaissance 1300– 1540 (Oxford History of Music, III), London 1960, S. 390 ff. (Bibliografie S. 525)  ; Ottaviano de’ Petruccis Frottolasammlung erscheint seit 1954 in Cremona, Instituta et Monumenta. 88 E. Helm 1960, S. 391. 89 A. Einstein 1938, S. 613–624  ; zit. Helm 1960, S. 394. 90 Vasari 1973, S. 99; ed. Mil IV, Firenze 1906, S. 92. 91 Helm 1960, S. 398. Torrefrancas Identifikation der Singenden im Concert champêtre mit den berühmten Musikern Verdelot und Obrecht bleibt rein hypothetisch, zumal der Letztere in einer ganz anderen musikalischen Tradition stand. 92 Hartlaub 1925, S. 33. Die Beziehung der Frottola zu der literarischen Gattung der Pastorale liegt auf der Hand. Zur Pastorale in Venedig vgl. U. Christoffel, Italienische Kunst, die Pastorale, Vaduz 1952  ; weitere Verweise auf die Pastorale in Venedig bei Pochat 1973, S. 380 ff. 93 Die Serie mit den Spielkarten wurde vermutlich in den Jahren 1465– 1468 und 1485 geschaffen – A. M. Hind, Early Italian Engraving, 7 Bde., New York 1938–1948  ; I, New York, 1938, S. 225, und IV, New York 1948, S. 320–369  ; zur „Poesia“ Pl. 346  ; P. Egan, Poesia and the Concert champêtre, in  : Art Bulletin, 41 (1959), S. 303–313  ; R. Klein 1967, S. 199. 94 Giraldi 1580, II, c. 1–3 und 13–16  ; zit. Klein 1967, S. 203. 95 Zu den Stilarten  : Ph. Fehl, The Hidden Genre  : A Study of the Concert Champêtre in the Louvre, in  : The Journal of Aesthetics & Art Criticism, XVI (1957/58), S 152–168  ; P. Egan 1959, S.  312  ; R. Klein 1967, S. 199 ff.; zur „ländlichen Inspiration“  : G. Bandmann 1950, S. 112 ff. 96 Ch. Trinkaus, The Unknown Quattrocento Poetics of Bartolommeo della Fonte, in  : Studies in the Renaissance, XIII, New York 1966, S. 40–122. 97 G. Hayes, Musical Instruments, in  : Ars Nova and the Renaissance 1300– 1530 (Oxford History of Music, III), London 1960, S. 466–502, Zitat S. 488. 98 R. Klein 1967, S. 205 f. 99 M. Hours 1955 (wie Anm. 82), S. 310. 100 Giraldi, Opera omnia, Lugduni 1696, c. 23. 101 Marsilio Ficino, De triplici vita, III, xxi (Opera omnia, Basel 1576, c. 563)  : Memento vero’ cantum esse imitatorem omnium potentissimum. Hic enim intentiones affectionesque animi imitatur, & verba refert quoque gestus motusque corporis, & actus hominum, atque mores, tamque vehementer omnia imitatur, & agit, ut ad eadem imitanda, vel agenda, tum cantantem, tum audientes subito’ provocet. … spiritus eiusmodi Musicus proprie tangit, agitque in spiritum inter corpus animamque medium, & utrumque affectione sua prorsus afficientem. 102 Ficino 1576 (wie Anm. 101), zit. von D. P. Walker 1958, S. 10. 103 Zu Aristoteles Poetikà XXII, 78, vgl. Pochat 1973, S. 272, Anm. 147  ; weiter  : R. W. Lee 1940, S. 201  ; Egan 1959, S. 312. 104 William Pater, The Renaissance. Studies in Art and Poetry, London 1873, 1925 und 1961 (hg. von K. Clark), S. 125. 105 M. Bonicatti, Aspetti dell’umanesimo nella pittura veneta dal 1455 al 1515, Roma 1964, S. 74 f.; B. Nardi, Letteratura e cultura veneziana del Quattrocento, in  : La Civiltà Veneziana del Quattrocento, Venezia, Fi-

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Anmerkungen renze 1957, S. 99–145  ; W. T. Elwert, Il Bembo imitatore, in  : Studi di letteratura veneziana, La Civiltà Veneziana, Studi 5), Venezia, Firenze 1958, S. 111–124  ; ders. Pietro Bembo e la vita letteraria del suo tempo, (La Civiltà Veneziana del Rinascimento, Studi 5). Firenze, Venezia 1958, S. 125 ff. 106 Bonicatti 1964, S. 89 ff. Abb. 93. Brucher (2013, S. 162) schließt sich diesem Gedanken der Synästhesie im Sinne des Akustischen im Prinzip an. 107 Bonicatti, loc. cit. Die Freiheit und Meisterschaft des Malers angesichts von Stoff und Form ist später von Dolce als ein Kennzeichen großer Kunst apostrophiert worden. Neben der grazia tritt in derselben die vaghezza hervor. Der Begriff war aus der Rhetorik erwachsen und findet sich bei Bembo, Castiglione, Giulio Camillo und Aretino – vgl. Roskill 1968, S. 13, 23 und 44. Zur Dichtung und Poetik in der Renaissance grundsätzlich F. Ulivi, L’Imitazione nella poetica del Rinascimento. Milano 1959. 108 Bonicatti 1964, S. 90. 109 J. Huizinga, The Waning of the Middle Ages, London 1924, S. 29, mit bes. Berücksichtigung der imitatio im weitesten Sinne  ; zum Problem Mittelalter – Renaissance auch Huizinga, Wege der Kulturgeschichte, München 1930, passim, sowie die grundlegenden Arbeiten von P. O. Kristeller und E. Garin (wie Anm. 58)  ; zur Kulturvision in Venedig um 1500 siehe P. Francastel, La Figure et le Lieu. L’Ordre visuel du Quattrocento, Paris 1967, S. 331. 110 J. Anderson, The Giorgionesque Portrait  : From Likeness to Allegory, in  : Giorgione, Atti del convegno internazionale di studio per il quinto centenario della nascità (Castelfranco Veneto 1978), Castelfranco Veneto 1979, S. 153–158. 111 Zum Zustand des Gemäldes vgl. Ausstellungskatalog Giorgione 2004, S. 220 f. und 261, Abb. 12  ; Brucher 2013, S. 90–96. 112 B. Aikema, Giorgione und seine Verbindung zum Norden. Neue Interpretationen zur Vecchia und zur Tempesta, in  : Ausstellungskatalog Giorgione 2004, S. 85–103, bes. S. 93. 113 Zum cartellino vgl. Nepi Scirè über La Vecchia in  : Ausstellungskatalog Giorgione 2004, S. 219–223, bes. S. 220. 114 Ebd., S. 219. 115 Zum Selbstporträt Giorgiones und seiner Rekonstruktion vgl. F. del Torre Scheuch im Ausstellungskatalog Giorgione 2004, S. 237/238. 116 G. Boehm, Bildnis und Individuum. Über den Ursprung der Porträtmalerei in der italienischen Renaissance, München 1985, S. 107–110  ; Aikema 2004, S. 93. 117 P. Meller, La ‚Madre di Giorgione‘, in  : Giorgione, Atti del Convegno … 1978, Castelfranco Veneto 1979, S. 9–18. 118 Nepi Scirè 2004, S. 219. 119 Nepi Scirè 2004, S. 220  ; vgl. auch das Röntgenfoto bei A. Morassi, Giorgione, Milano 1942, bes. S. 103–106. 120 F. Anzelewski, Albrecht Dürer. Das malerische Werk, 2 Bde., Berlin 1971, 21991, S. 83  ; K. Schütz, Ausstellungskatalog  : Albrecht Dürer im Kunsthistorischen Museum, Milano 1994, S. 66–69, Kat.-Nr. 3  ; Aikema 2004, S. 90 f., auch mit Verweis auf E. Flechsig, Albrecht Dürer. Sein Leben und seine künstlerische Entwicklung, 2 Bde., Berlin 1928–1931, Bd. 1, S. 408. 121 S. Ferino-Pagden, La Vecchia, in  : Ausstellungskatalog  : Bellini, Giorgione, Washington 2006, S. 212–214. 122 Nepi Scirè 2004, S. 219. 123 Aikema 2004, S. 89  ; Nepi Scirè 2004, S. 219. Zur Provenienz  : J. Anderson, A Further Inventory of Gabriel Vendramin’s Collection, in  : Burlington Magazine, CXXI (1979), S. 647. 124 Hier könnte auf die Avaritia von Dürer oder die Allegorie der Wissenschaften in Washington, das Deckblatt zum Porträt Bernardo de’ Rossis in Neapel, verwiesen werden. Meines Erachtens bietet die Laura („Traum eines

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Mädchens“) in Washington ebenfalls ein gutes Beispiel für ein allegorisches Deckblatt, das etwa mit einem Porträt vom Typus der Laura Giorgiones im Kunsthistorischen Museum in Wien kombiniert werden könnte  ; vgl. den Abschnitt über Lottos poetische Allegorien in diesem Buch (S. 75 ff.)  ; zu den Deckbildern  : A. Dülberg, Privatporträts. Geschichte und Ikonologie einer Gattung im 15. und 16. Jahrhundert, Berlin 1990. 125 Vgl. Aikema 2004, S. 90  ; in diesem Zusammenhang greift Aikema die Hypothese von Flechsig und Anzelewski wieder auf  : Dürers Avaritia sei in Wahrheit ein Deckbild von einem verloren gegangenen Frauenporträt, einem Pendant zum Porträt eines jungen Mannes in Wien  ; ebenso könne die Vecchia von Giorgione ein timpano (Deckbild) zu einem Frauenporträt sein, das als Gegenstück zu dem im Inventar von 1601 erwähnten Bildnis eines Mannes gedient habe. Auch dieses „Hauptporträt“ sei womöglich nur Teil eines Diptychons. S. Ferino-Pagden hat sich im Ausstellungskatalog „Bellini, Giorgione, Tizian“ von 2006 von diesen gewagten Hypothesen distanziert. 126 Nepi Scirè 2004, S. 219. 127 Aikema 2004, S. 93 f., unter besonderer Berücksichtigung von Th. Döring, Bilder vom alten Menschen – Anmerkungen zu Themen, Funktionen, Ästhetik, in  : Ausstellungskatalog  : Bilder vom alten Menschen in der niederländischen und deutschen Kunst 1550–1750, Braunschweig 1993/94  ; zu La Vecchia S. 21. 128 Leonardo, Codex Atlanticus, fol. 71v – vgl. The Literary Works of Leonardo da Vinci, 2 Bde. (hg. von J. P. Richter), London 1939, 31970, Bd. II, c. 1163  ; zit. G. Nepi Scirè, Giorgione, Cristo Portacroce, in  : Ausstellungskatalog Leonardo & Venezia 1992, (Hg. G. Nepi Scirè,, P. C. Marani), Milano 1992, S. 329 und Kat.-Nr. 63  ; deutsch. in Ausstellungskatalog Giorgione 2004, S. 92 und Anm. 38  129 Aikema 2004, S. 93. 130 Zum Komischen in der Renaissance sei hier auf zwei weitere Arbeiten verwiesen  : P. Barolsky, Infinite Jest. Wit and Humor in Italian Renaissance Art, London 1978  ; Th. Fusenig, Liebe, Laster und Gelächter. Komödienhafte Bilder in der italienischen Malerei im ersten Drittel des 16. Jahrhunderts, Bonn 1997. 131 Ferino-Pagden, Giorgiones Selbstbildnis als David, in  : Ausstellungskatalog Giorgione 2004, S. 234 f. Auch Brucher scheint meiner Hypothese etwas abzugewinnen – Brucher 2013, S. 92. 132 J. Anderson 1979 (wie Anm. 110). 133 Ferino-Pagden 2004, S. 234, mit Hinweis auf Jaynie Andersons Artikel von 1979. 134 G. Boehm, Wie Bilder Sinn erzeugen. Die Macht des Zeigens, Berlin, Darmstadt 2010  ; zu La Vecchia S. 28 ff.; Zitat S. 30. 135 M. Calvesi, ‚La morte di bacio‘. Saggi sull’ ermetismo di Giorgione, in  : Storia dell’Arte 7/8 (1970), S. 179–233, bes. S. 220  ; Ausstellungskatalog Bellini, Giorgione, Tizian 2006, S. 212 und Anm. 2. 136 P. Meller, La „Madre di Giorgione“, in  : Atti … 1978 (wie Anm. 117), Castelfranco Veneto 1979, S. 9–18  ; zit. Ausstellungskatalog Giorgione 2004, S. 220. 137 G. Pochat, Two Allegories by Lorenzo Lotto and Petrarchism in Venice Around 1500, in  : Word & Image, I (hg. von M. Leslie), London 1985, S. 3–15  ; gekürzte Fassung in  : ders. 2009, S. 69–89  ; ausführliche Literaturhinweise zu den Bildern und zur kulturellen Situation Pochat 2009, S. 86, Anm. 6–11. 138 E. H. Gombrich, Art and Illusion. London 31968, S. 15. 139 P. Liberali, Lotto, Pordenone e Tiziano a Treviso. Cronologie, interpretazione ed ambientamenti inediti, Istituto Veneto di scienze, lettere ed arti (Memorie classe di scienze morali e lettere, XXXIII, Fasc. III), Venezia 1963, S. 3 ff., bes. S. 25. 140 Pierio Valeriano, Hieroglyphica, Basel 1556, c. 484  ; Ripa, Iconologia, Padua 1611, S. 183  ; G. de Tervarent, Attributs et Symboles dans l’Art Profane 1450–1600, Genève 1958–1963, Navire, III.

Anmerkungen 141 Petrarca, Rime e Trionfi, Classici Italiani (hg. F. Neri), Bd. 10. Torino 1960. Ich stand eines Tages allein am Fenster, wo ich so viele wunderliche und neue Dinge sah, dass ich allein vom Schauen gleichsam ermattete. Canzone 323, II, 1–3 142 Nicht Lorbeer noch Palme, aber der ruhige Lorbeerbaum schenkt mir Mitgefühl, der Himmel klärt sich auf, die Tränen trocknen und mein Lebenswille wird von ihm gestärkt. Canzone 230, II, 12–14 143 M. Praz, Studies in Seventeenth-Century Imagery. Roma 21964, S. 51. 144 Klares, frisches und süßes Wasser rinnt dort, wo die schlanken Gliedmaße jener Frau ruhen, die mein Ein und Alles ist  ; freundlicher Stamm, an den ich mich mit Seufzen erinnere, der ihrem Körper als Stütze dient  ; Gras und Blumen werden von ihrem duftenden Kleid bedeckt sowie ihr himmlischer Busen  ; gesegnete klare Luft, in der der schöne Blick des Amor mein Herz durchbohrte  : ich bitte, schenkt meinen süßen und schmerzerfüllten Worten Gehör. Canzone 126, II, 1–13 145 Ich sah eine junge Frau unter einem blühenden Lorbeerbaum, weißer und kühler denn Schnee, der jahrelang nicht von der Sonne berührt wurde  ; und ihre Art zu sprechen, ihr schönes Gesicht und ihre Locken haben mich so betroffen gemacht, dass ich von da an sie stets vor Augen habe, ob in den Bergen oder an der See, wo ich mich auch befinden mag. Sestina 30, II, 1–6 146 Mal als Nymphe oder eine andere Göttin, die der klaren Quelle der Sorga entsteigt und sich am Flussufer niederlässt, mal als eine sterbliche Frau habe ich ihre Spuren auf dem frischen Rasen gesehen, ihren hinterlassenen Abdruck auf den Blumen und den Ausdruck der Leidenschaft in ihrem Gesicht. Sonetto 281, II, 9–14 147 Bembo, Gli Asolani, Vinegia 1505  ; Ausgabe und Übersetzung von R. B. Gottfried, Bloomington 1954, S. 99 und 100. Vgl. Pochat 2009, S. 80. 148 Von den schönen Zweigen fiel (wie süß in meiner Erinnerung) ein Blumenregen herab in ihren Schoß, und demutsvoll saß sie da inmitten der Herrlichkeit, bereits von der Wolke der Liebe umhüllt  ; einige Blumen fielen auf das Kleid, einige auf die blonden Locken, die, mit Gold und Perlen geschmückt, so göttlich anzusehen waren  ; einige schwebten auf die Erde oder auf das Wasser herab, andere drehten sich bedächtig und schienen zu sagen  : „Hier herrscht Amor“. Canzone 126, II, 40–52 Die Parallele zur Darstellung Lottos wurde bereits 1941 im Katalog der National Gallery vermerkt, aber nicht weiter verfolgt. Auch Canova

macht darauf aufmerksam, klassifiziert den Baum aber als einen Ölbaum, dem wir zuvor schon in der Decktafel zum Porträt von Bernardo de’ Rossi begegneten (vgl. Anm. 138). 149 Wind 1967, S. 136. 150 E. Panofsky, Studies in Iconology, Oxford 1939  ; New York 1962, S. 152. 151 Wenn ich die Sonne aufgehen sehe, fühle ich das Licht, das mich mit Liebe erfüllt  ; wenn sie am Abend untergeht, wendet sie sich gleichermaßen ab und hinterlässt die Schatten dort, wo sie sich wegbewegt. Canzone 127, II, 66–70 152 Pico della Mirandola, Heptaplus, prooemium (hg. von E. Garin), Firenze 1942, S. 172  ; ders., Commento sopra una canzona de amore composta da Girolamo Benivieni, III, xi, 9 (hg. E. Garin), Firenze 1942, S. 581  ; vgl. Wind 1967, S. 10 f. und S. 123. 153 Ficino, In Plotinum I, iii ,Opera omnia, Basel 1576, p. 1559 – zit. Wind 1967, S. 37, Anm. 8, und S. 46. 154 Ficino, De amore, I, iv. Commentarium II, i, Opera omnia, Basel 1576, p. 1323. 155 Wind 1967, S. 46. 156 Zu Ficinos Auffassung von Begehren und Liebe vgl. Panofsky 1962, S. 141 f.; vgl. Pico, Heptaplus V, 1 (hg. von E. Garin 1942), S. 292. 157 Wind 1967, S. 83 f. 158 Macrobius, In somnium Scipionis, II, xvii, 183. 159 Ficino, In Platonis convivium und De triplici vita et fine triplici, 82 und 273, in  : Opera omnia, Basileae 1576, p. 919 ff. 160 Wind 1967, S. 82 f. 161 E. Fry, Titian’s Sacred and Profane Love, in  : Portfolio, Oktober/November 1979, S. 34–39. Zu den Personen und den tragischen Umständen der Vermählung vgl. Brucher 2013, S. 318. 162 Panofsky 1962, S. 142 f., mit Hinweis auf Ficino, Convivio, II, 7, Op. omnia, Basel 1576, p. 1326 und Panofsky 1962, S. 151 f. 163 Panofsky 1962, S.  151 f.; zur fortlaufenden Kritik vgl. Wind 1967, S. 144 f. 164 Panofsky 1962, S.  153. Besondere Bedeutung misst Brucher Leone Ebreos neuplatonischem Traktat Dialoghi di amore von 1502 bei, in dem das Augenmerk auf den Gegensatz zwischen der irdischen und der himmlischen Liebe gerichtet wird – Brucher 2013, S. 319, mit Hinweis auf E. von Beckerath, Die himmlische und die irdische Liebe (L’Amor sacro e profano) […], Die esoterische Darstellung eines astrologischen Lehrsatzes (Schriftenreihe der OARCA), München 1972. 165 Wind 1967, S. 148 f. 166 W. Friedländer, La tintura delle rose, in  : Art Bulletin, XX (1938), S. 322 f. 167 Wind 1967, S. 147 f. 168 Panofsky 1962, S. 150 f.; Wind 1967, S. 150 f. 169 Panofsky 1962, S. 84 f., und PL XXXV. 170 Panofsky, 1962, S. 84  ; u. a. Verweis auf R. Förster, Die Verleumdung des Apelles, Jahrbuch der königl. Preuß. Kunstsammlungen, VII (1887), S. 29–56, 89–113  ; vgl. auch die paradigmatische Darstellung Botticellis – Pochat, Bild/Zeit, II, 2004, S. 232 f. und Abb. 137. 171 Vasari, Vite (hg. 1906), Vol. VII, S. 598. 172 Panofsky 1962, S. 88, Anm. 72  ; die Konnotation des Kissens als Ausdruck der Indolenz und der fleischlichen Lust wird auch in Donatellos Judith angesprochen  – vgl. Pochat, Bild/Zeit, II, 2004, S.  117  ; zu Berchorius vgl. auch in diesem Buch Kap. VI  : Tizian, Anm. 77. 173 Panofsky 1962, S. 90. 174 Ripa, Iconologia, Roma 1603, Milano 1986 und 21992 (hg. von P. Buscaroli), S. 150.

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Anmerkungen

II Serielle Erzählstruktur 1 Zur Apokalypse  : D. J. Rohr, Der Hebräerbrief und die Geheime Offenbarung des hl. Johannes, Bonn 1932, S. 61–135  ; A. E. Harvey, The English Bible. Commentary to the New Testament, Oxford, Cambridge 1971, S. 787–842. 2 E. Panofsky, The Life and Art of Albrecht Dürer, Princeton 1943 und 1955, Princeton 1971, S. 51. Zu den frühen Bibelillustrationen spätantiker und auch jüdischer Provenienz vgl. Pochat, Bild/Zeit, I, 1996, S. 155 ff. Die Einordnung von Dürers grafischem Werk nach neueren Erkenntnissen erfolgt in dem einschlägigen Buch  : Albrecht Dürer, Das druckgraphische Werk, Bd. II (bearbeitet von Rainer Schoch, Matthias Mende, Anna Scherbaum u. a.), München, Berlin, London, New York 2002  ; zur Apokalypse siehe darin den Beitrag von Peter Krüger (S. 59– 105). 3 Panofsky 1971, S. 51  ; Krüger 2002, S. 61 f. 4 Krüger 2002, S. 61 f. 5 Panofsky 1971, S. 53. 6 Th. Arlt, Analysen zu Dürers Apokalypse, zitiert von G. Pochat in  : Zeit/ Los, Köln 1999, S. 180. 7 Panofsky 1971, S. 53  ; Krüger 2002, S. 61. 8 Eberlein 2003, S. 41. 9 Zum Autorenporträt des Johannes vgl. F. O. Büttner, Imitatio Pietatis, Berlin 1983  ; in Bezug auf Johannes als Autor der Apokalypse verweist er auf Barbara Nolan, The Gothic Visionary Perspective, Princeton 1977, S. 82  : „St. John as leader and guide would show his readers how to prepare their souls and their imagination for their own and the universal eschaton through a series of temporally ordered figures.“ 10 F. Anzelewsky, Albrecht Dürer, Das malerische Werk, 2 (1971), Berlin 1991  ; Ausstellungskatalog  : Albrecht Dürer (hg. von K.-A. Schröder, M. L. Sternath), Albertina, Wien, Ostfildern-Ruit 2003, S. 128 (Kat.-Nr. 6). 11 Das monumentale Werk wurde eingehend von R. Klibansky, E. Panofsky und F. Saxl ikonografisch und ikonologisch untersucht  : Saturn and Melancholy. Studies in the History of Natural Philosophy, Religion, and Art, Cambridge 1964. Die neuplatonisch gefärbte Naturphilosophie bildet in dieser Studie die Folie des berühmten Meisterstiches. 2004 hat allerdings Ewald Lassnig in Wien eine Dissertation vorgelegt, welche die Schriften von Ulrich Pinder, dem Leibarzt des Kurfürsten Friedrich des Weisen, zusätzlich zur Inhaltsdeutung heranzieht  : Beiträge zu Dürers Kupferstich der Melancholie (B. 74), Wien 2004. Die Nachfolge Christi erfolge auf dem Weg des Sinnlichen, Vernünftigen, des Geistigen und des Himmlischen  ; dem entsprächen im Stich der Putto als Allegorie der Erkenntnis aus der Sinneserfahrung, der Engel als die zweite Erkenntnisebene der Vernunft, der Hund als dritthöchster Denkbereich und der Polyeder als das höchste Ziel der Wahrheit. (Der Hinweis erfolgte durch freundliche Mitteilung von Prof. Kurt Woisetschläger, Graz.) 12 Panofsky 1971, S. 56. 13 Zu Carolus Bovillus vgl. Pochat 2009, S. 38–48, sowie oben Kap. I, Anm. 69 und 73. 14 Krüger 2002, S. 79. 15 Panofsky 1971, S. 58. 16 Zu Ficinos De sole vgl. Pochat 2009, S. 39 f. Auch Nikolaus von Kues’ De visione Dei ließe sich in diesem Zusammenhang anführen, der auf die Ähnlichkeit des Liebenden mit dem Gegenstand seiner Verehrung abzielt  ; vgl. E. Hempel, Nikolaus von Kues in seinen Beziehungen zur bildenden Kunst, in  : Berichte über die Verhandlungen der Sächsischen Akademie der Wissenschaften zu Leipzig, Bd. 100, H. 3, Berlin 1953, S. 1–42,bes.. S. 10. 17 Zur Bundeslade  : R. Chadraba, Dürers Apokalypse. Eine ikonologische Deutung, Prag 1964, S. 84  ; D. Price, Albrecht Dürer’s Representation of Faith. The Church, Lay Devotion and Veneration in the Apocalypse

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(1498), in  : Zeitschrift für Kunstgeschichte, 57 (1994), S. 688–696, bes. S. 693 ff. 18 Nach Chadraba handelt es sich um eine Verschmelzung von christlichem und humanistischem Gedankengut im Geiste von Konrad Celtes  : Christus und Apoll  ; zum starken Engel und Maximilian vgl. Chadraba 1964, S. 64 ff. Zum Zentrum und zur Diagonalen als Ausdruck der visionären Erscheinung Christi, omnipräsent und alles durchdringend, vgl. F. Juraschek, Das Rätsel in Dürers Gottesschau. Die Holzschnittapokalypse und Nikolaus von Kues, Salzburg 1955, S. 55  ; Krüger (2002, S. 90) verweist auf den späteren Kupferstich Sol iustitiae und Christus als Richtergestalt. 19 Panofsky 1971, S. 58. 20 Die Bibel. Einheitsübersetzung. Altes und Neues Testament, Freiburg, Basel, Wien, 1980, S. 1401, Anm. 13,3. 21 Die Bibel. Einheitsübersetzung 1980, S. 1402, Anm. 13,11–17. 22 Th. Arlt, zit. von Pochat, Zeit/Los, 1999, S. 180/183. 23 Vgl. Panofsky 1971, S. 58 f. Zur Unwägbarkeit der Abfolge bei der Entstehung vgl. Krüger 2002, S. 60 f., und die Ausführungen von W. L. Strauss, Albrecht Durer. Woodcuts and Woodblocks, New York 1980, S. 158. Auch die kurze Spanne der Entstehungszeit von zwei Jahren vermindert die Aussagekraft der stilistischen Entwicklung, die hier – zumindest hypothetisch – dennoch vorgebracht wurde. 24 Legenda aurea des Jacobus Voragine (hg. von R. Benz), Köln, Olten 1969, „Von Sanct Johannes vor dem latinischen Tore“, S. 358 f.; Krüger (2002, S. 70) verweist auf das Passional oder der Heiligen Leben, das von Koberger 1488 herausgebracht wurde. 25 A. Fröhlich, Die Große Passion, in  : Albrecht Dürer, Das druckgraphische Werk, Bd. II, New York 2002, S. 176–213. 26 Th. Hetzer, Die Bildkunst Dürers, in  : Schriften Theodor Hetzers, hg. von Gertrude Berthold, 2, Mitterwald-Stuttgart 1982, S. 229. 27 Fröhlich 2002, S. 197. 28 H. Appuhn, Albrecht Dürer. Die drei großen Bücher (Nachwort und Erläuterung von Horst Appuhn), Dortmund 1979. 29 Fröhlich 2002, S. 202. 30 Fröhlich 2002, S. 206. 31 Fröhlich 2002, S. 208, mit Hinweis auf K. Hoffmann, Dürers Darstellungen der Höllenfahrt Christi, in  : Zeitschrift des Deutschen Vereins für Kunstwissenschaft, 25 (1971), S. 75–106. 32 Zur Darstellung der Auferstehung vgl. Pochat, Theater und bildende Kunst 1990, S. 10 ff.; zu Dürers Darstellung K. Hoffmann 1971, S. 83. 33 Fröhlich 2002, S. 209/210. 34 Pochat 1990, S. 11 f. 35 A. Scherbaum, Albrecht Dürers Marienleben (Diss.), FU Berlin 2002, S. 104 f.; abgeändert im Sammelband zum druckgraphischen Werk, II, 2002, S. 218 f. 36 E. Panofsky 1971, S. 183. 37 Chr. Wiebel, Albrecht Dürer. Das Marienleben, Coburg 1995, S. 7 f. und 16 ff. 38 Scherbaum, Das Marienleben, in  : Ausstellungskatalog  : Albrecht Dürer 2003, S. 286. Vgl. auch in  : Albrecht Dürer. Das druckgraphische Werk, II, 2002, S. 214–179. 39 H. Wölfflin, Die Kunst Albrecht Dürers, München 1905, S. 67  ; zum Fantastischen und dem Kostüm  : G. Pochat, Theater und bildende Kunst 1990, S. 49 ff. 40 E. Guldan, Eva und Maria. Eine Antithese als Bildmotiv, Graz, Köln 1966, S. 35–43  ; zur madonna humilitas vgl. M. Meiss, The Madonna of Humility. Origin and Development, in  : M. Meiss, Painting in Florence and Siena after the Black Death, New York 1973, S. 132–156. 41 Appuhn 1979, S. 121. 42 Panofsky 1971, S. 102.

Anmerkungen 43 Panofsky 1971, S. 103 f.; Scherbaum 2002, S. 251 f. 44 Panofsky 1971, S. 101. 45 W. Strauss, 1980, S. 453 f. 46 G. Pochat, Der Exotismus während des Mittelalters und der Renaissance. Voraussetzungen, Entwicklung und Wandel eines bildnerischen Vokabulars (Acta Universitatis Stockholmiensis. Stockholm Studies in History of Art, 21), Stockholm 1970, S. 118–136, bes. S. 120. 47 Panofsky 1971, S. 99  ; ff. im Widerspruch dazu Scherbaum S. 164 und 262 ff. 48 Panofsky 1971, S. 97 f. 49 F. Winzinger, Albrecht Altdorfer. Die Gemälde, München, Zürich 1975, S. 15 f. Frühere Literatur zu Altdorfer  : K. Oettinger, Altdorferstudien, Nürnberg 1959  ; A. Stange, Malerei der Donauschule, München 1964  ; E. Ruhmer, Albrecht Altdorfer. München 1965. Neuere Erkenntnisse im Anschluss an Winzinger im Ausstellungskatalog  : Altdorfer und der fantastische Realismus in der deutschen Kunst. Paris 1984. 50 Winzinger 1975, S. 15  ; zur Landschaft  : Chr. S. Wood, Albrecht Altdorfer and the Origin of Landscape, Chicago 1993  ; M. Stadlober, Der Wald in der Malerei und der Graphik des Donaustils, Wien, Köln, Weimar 2006. 51 Zur Datierung  : Winzinger 1975, S. 21. 52 Pochat, Theater und bildende Kunst, 1990, S. 150 ff. 53 Pochat 1990, S. 49 f. und 150 f. 54 Winzinger 1975, S. 16 f. 55 Winzinger 1975, S. 17 und Anhang 13, 14. 56 Winzinger 1975, S. 20  ; Ausstellungskatalog  : Michael Pacher. Ein Tiroler Künstler der europäischen Spätgotik 1498–1998 (hg. von A. Rosenauer), Neustift 1998. 57 Winzinger 1975, S. 20. 58 Winzinger 1975, S. 97. 59 Zum Phänomen der „Zeitdehnung“ vgl. G. Pochat  : Erlebniszeit und bildende Kunst, in  : Augenblick und Zeitpunkt (hg. von H. Holländer, Chr. W. Thomsen), Darmstadt 1984, S. 22–46, bes. S. 37 f.; aufgenommen in Pochat 2009, S. 709–730, S. 720. 60 Winzinger 1975, S. 90 f. 61 E. Michel, „zu lob und ewiger gedechtnus“. Albrecht Altdorfers Triumphzug für Kaiser Maximilian I., in  : Ausstellungskatalog  : Kaiser Maximilian I. und die Kunst der Dürerzeit, Albertina (hg. von E. Michel, M. L. Sternath), München, London, New York 2012, S. 49–65  ; E. Thobois, Die konservatorische Bearbeitung der Triumphzugminiaturen von Albrecht Altdorfer und seiner Werkstatt, in  : Ausstellungskatalog Kaiser Maximilian I. 2012, S. 67–79. 62 Thobois 2012, S. 67 f. 63 Vgl. Ausstellungskatalog Kaiser Maximilian I. 2012, S. 224 ff. 64 Pochat, Theater und bildende Kunst, Graz 1990, S. 167–200 und S. 372 ff. (Appendix 7). Zu den trionfi darüber hinaus W. Weisbach, Trionfi. Berlin 1919  ; Ph. Helas, Lebende Bilder in der italienischen Festkultur des 15. Jahrhunderts. Berlin 1999  ; V. Sandbichler, Der Hochzeitskodex Erzherzog Ferdinands II. Eine Bildreportage des 16. Jahrhunderts, in  : Ausstellungskatalog Kunsthistorisches Museum Wien, Sammlungen Schloss Ambras Innsbruck, Wien 2010, S. 31–89  ; E. Michel Ausstellungskatalog Maximilian 2012, S. 56 f. 65 Zu den Schlachtendarstellungen  : Winzinger 1975, S. 50 f. 66 A. Martindale, The Triumphs of Caesar by Andrea Mantegna in the Collec-

tion of Her Majesty the Queen at Hampton Court, London 1979  ; R. Lightbown, Mantegna. With a Complete Catalogue of the Paintings, Drawings, and Prints, Oxford 1986  ; Ch. Hope, The Triumph of Caesar, in  : Ausstellungskatalog  : Andrea Mantegna (hg. von J. Marineau). Royal Academy of Arts, London, The Metropolitan Museum of Art. New York, London 1992, S. 357–371  ; Th. Arlt, Andrea Mantegna, Triumph Caesars (Ars Viva, hg. G. Pochat, Bd. 5). Wien, Köln, Weimar 2005 (Arlt behandelt die gut erhaltenen Kopien von 1630 nach Mantegna in der Alten Galerie, Universalmuseum Joanneum Graz)  ; zu Mantegna auch Michel 2012, S. 57. 67 Arlt 1975, S. 22. 68 Winzinger 1975, S. 50. 69 Winzinger 1975, S. 54. 70 Pochat 1990, S. 167 ff. und 185 ff.; Michel 2012, S. 61. 71 Michel verweist allerdings auf die Kopie der mittelalterlichen Straßenkarte auf Pergamentblättern in Besitz von Konrad Peutinger, die sog. Tabula Peutingeriana, die über sieben Meter lang gewesen sein soll  ; der Gelehrte hatte sie 1507 von Konrad Celtis erhalten – vgl. Michel 2012, S. 62 und Anm. 102. 72 Michel 2012, S. 62, mit Verweis auf F. Winzinger, Die Miniaturen zum Triumphzug Kaiser Maximilians I. (Veröffentlichung der Graphischen Sammlung Albertina, 5), Graz, Wien 1972 (Faksimileausgabe 1973), S. 83. Winzinger stellt den Vergleich mit einer japanischen Querrolle, einem Makimono, an. 73 Michel 2012, S. 62, Anm. 108. 74 Michel 2012, S. 62. 75 Michel, 2012, S. 268 f. 76 Ausstellungskatalog 2012, Kat.-Nr. 58, S. 258 f. 77 Ausstellungskatalog 2012, Nr. 59, 60, S. 260. 78 Ausstellungskatalog 2012, S. 272 f. 79 Michel,  : Ausstellungskatalog 2012, S. 270. 80 Th. Schauerte, Der Kaiser stirbt nicht  : Transitorische Aspekte derMaximilianeischen Gedechtnus in  : Ausstellungskatalog Maximilian 2012, S. 3647  : bes. S. 373. 81 Vgl. Pochat, Der Exotismus …, 1970, S. 155 f. 82 L. Andrew, Story and Space in Renaissance Art. The Rebirth of Continuous Narrative, Cambridge (Mass.) 1995, befasst sich vornehmlich mit italienischer Kunst und zieht in seiner Analyse nicht zuletzt auch den Raum ein. Hier ist auf Kemps ein Jahr spätere Veröffentlichung Die Räume der Maler. Zur Bilderzählung seit Giotto (München 1996) zu verweisen. Andrew zieht Vergleiche zu allgemeinen Untersuchungen literarischer Erzählformen, wie etwa jenen von Mike Bal (Narratology, Introduction to the Theory of Narrative. Toronto 1985) und S. Chatman (Story and Discourse  : Narrative Structure in Fiction and Film, Ithaca, London 1983) – vgl. Andrew 1995, S. 33 und S. 137, Anm. 46. Inzwischen hat sich der Diskurs weiterentwickelt  : vgl. Werner Wolf, Ästhetische Illusion und Illusionsdurchbrechung in der Erzählkunst, Tübingen 1993, sowie die Serie Studies in Intermediality (hg. von Werner Wolf, Walter Bernhart), Amsterdam 1996 ff. (von dieser Serie sind inzwischen sechs Bände erschienen). 83 Andrews 1995, Fig. 11. 84 Zu Gaudenzio Ferrari  : Pochat 1990, S. 150–155. 85 Zu den periegetischen Mysterienspielen mit ihren luoghi deputati vgl. Pochat 1990, S. 41–51 (mit Literaturangaben und Illustrationen).

III Michelangelo 1 Die einschlägige Literatur über die historischen Wandfresken in der Sixtinischen Kapelle wurde in Pochat, Bild/Zeit II, 2004, S. 206–216 und in den Anmerkungen 36–63 berücksichtigt. Einen Überblick schafft L. D. Ettlinger, The Sistine Chapel before Michelangelo. Religious Imagery and

Papal Primacy, Oxford 1965. Zur Ikonografie und Typologie in Bezug auf die hinzukommenden Teppichzyklen Raffaels  : J. Shearman, Raphael’s Cartoons in the Collection of Her Majesty the Queen and the Tapestries for the Sistine Chapel, London 1972.

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Anmerkungen 2 Ch. de Tolnay, Michelangelo, 2  : The Sistine Ceiling, Princeton 1949  ; F. Hartt, Michelangelo Buonarroti. Paintings, New York 1960  ; F. Hartt, G. Colalucci, Michelangelo. La Cappella Sistina I  : La Preistoria della bibbia, Milano 1989  ; dieselben  : La Cappella Sistina III  : La Storia della Creazione, Milano 1990  ; P. de Vecchi, G. Colalucci, Die Sixtinische Kapelle, (1996) München 2007. 3 C. Gilbert, On the absolute dates of the parts of the Sistine ceiling, in  : Art History, III (1980), S. 158–181  ; P. Joannides, On the Chronology of the Sistine Chapel Ceiling, in  : Art History, IV (1981), S. 250–253. 4 E. Wind, Michelangelo’s Prophets and Sibyls, in  : Proceedings of the British Academy, LI (1960), S. 47–84. 5 F. Hartt, G. Colalucci, F. Mancinelli, La Cappella Sistina II  : Gli Antenati di Cristo, Milano 1989. 6 H. von Einem, Michelangelo, Stuttgart 1959  ; H. Hibbard, Michelangelo, New York 1974, S. 121 f. 7 S. J. Freedberg, Painting of the High Renaissance in Rome and Florence, (1961) New York 1972, S. 92 f., mit Verweis auf Carl Justi, der das Juliusgrab für wesentlich für das Deckenprogramm hielt  ; H. Hibbard 1974, S. 122 f., mit Berücksichtigung von J. Wilde, The Decoration of the Sistine Chapel, in  : Proceedings of the British Academy, XLIV (1958), S. 61– 81. 8 E. Wind, Typology in the Sistine Ceiling. A critical statement, in  : Art Bulletin XXMII (1951), S. 41–47. 9 H. Pfeiffer S. J., Zur Ikonographie von Raffaels Disputà. Egidio da Viterbo und die christlich-platonische Konzeption der Stanza della Segnatura (Miscellanea Historiae Pontificiae, Bd. 37), Roma 1975. Zum Topos des „Goldenen Zeitalters“ in Verbindung mit der Sixtina und der zeremoniellen Prachtentfaltung in der Kapelle vgl. Shearman 1972, S. 1–20 (Kap. I  : Patron and Commission), bes. S. 9 (zur Ausstattung der Kapelle mit Goldtapeten, die durch Leo X. für den Weihnachtsabend 1513 angeordnet und von Paris de Grassis beschrieben  ; mit allen Mitteln galt es, die maiestas Papalis hervortreten zu lassen). Zu Egidios Lobgedicht auf Julius II. – Julii Papae II brevia Aegidio Viterbiensi directa (1507) – vgl. Traditio, 25 (1969), S. 265–338  ; zu Aegidio da Viterbo  : J. W. O’Malley, Giles of Viterbo on Church and Reform  : A Study in Renaissance Thought, Leiden 1968  ; zu Vigerio und der augustinischen Auslegung des Deckenprogramms  : E. Gordon Dotson, An Augustinian Interpretation of Michelangelo’s Sistine Ceiling, in  : Art Bulletin, LXI (1979), S. 223–255 und 405– 429. 10 R. Kuhn, Michelangelo, Die Sixtinische Decke  : Beiträge über ihre Quellen und zu ihrer Auslegung, Berlin 1975, bezieht sich über die alttestamentlichen Texte hinaus fast ausschließlich auf Ficino und Pico della Mirandola. Hartt und Wind sowie spätere Forscher haben sich wesentlich stärker auf die Texte der am Päpstlichen Stuhl tätigen Berater gestützt – vgl. R. Hatfield, Trust in God  : The Sources of Michelangelo’s Frescoes on the Sistine Ceiling. Katalog, Syracuse University, Florenz 1991. Eine Fülle von Angaben findet sich auch in den älteren Studien zu den Langhausfresken (vgl. Anm. 1) sowie bei Shearman 1972. 11 Tanaka, The Three Scenes of Noah in the Sistine Paintings by Michelangelo, in  : Art History, IX (1987), S. 1–57  ; P. de Vecchi, G. Colalucci, Die Sixtinische Kapelle (1996), München 2007, S. 103. 12 De Vecchi 2007, S. 119 f., unter Verweis auf E. Wind, The Arc of Noah  : A study in the symbolism of Michelangelo, in  : Measure, I (1950), S. 411– 421. 13 De Vecchi 2007, S. 119  ; R. Kuhn 1980, S. 141–157. 14 De Vecchi 2007, S. 129 f. 15 Zum Schrifttum  : F. Hartt, Lignum Vitae in medio Paradisi  : The Stanza di Eliodoro and the Sistine Ceiling, in  : Art Bulletin, XXXII (1950), S. 115– 145 und 181–218  ; Kuhn 1975 (wie Anm. 2)  ; de Vecchi 2007, S. 141, mit Verweis auf O’Malley, Il mistero della volta. Gli affreschi di Michelangelo alla luce del pensiero teologico del Rinascimento, in  : M. Boroli (Hg.), La

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cappella Sistina. I primi restauri  : la scoperta del colore, Novara 1986, S. 92–148. Zu Vigerio vgl. Gordon Dotson  : An Augustinian Interpretation of Michelangelo’s Sistine Ceiling, in  : Art Bulletin, LXI (1979), S. 223–255 und 405–429. 16 Zu Egidio da Viterbo vgl. Anm. 9. 17 De Vecchi (2007, S. 141) verweist auf das Exsultet in der Osterliturgie  : O felix culpa, quae talem et tantum meruit habere Redemptorem. 18 Zur fundamentalen Bedeutung des Lettners in seiner ursprünglichen Lage  : Shearman 1972, S. 21 ff.; aufschlussreich, was die Ausstattung und Symbolik der Kapelle betrifft, sind die Tagebücher der Zeremonienmeister am Päpstlichen Stuhl, Johannes Burchard (1483–1506) und Paris de Grassis (1504–1521)  : Johannis Burckardi Liber Notarum, in L. A. Muratori, Rerum italicarum scriptores, xxxii, I, Città di Castello, 1907  ; Paris de Grassis, Ms. im British Museum  : B. M. Add. MS. 8440–8443. 19 E. Guldan, Eva und Maria. Eine Antithese als Bildmotiv, Graz, Köln 1966, Zitat S. 14. 20 Guldan 1966, S. 54. 21 Guldan 1966, S. 14 und 53 ff. Der Autor bezieht sich dabei zum einen auf eine Mitschrift von Frederick Hartt von einer Vorlesung Edgar Winds über die Sixtinische Decke, abgehalten im Institute of Fine Arts in New York im Jahr 1939/40 – die hier angesprochenen Stellen wurden von Hartt veröffentlicht im Art Bulletin, 32 (1950), S. 245, und 33 (1951), S. 267  ; zur Diskussion vgl. auch H. von Einem, Michelangelo, Stuttgart 1959, S. 55 f., und unten Anm. 26  ; zur Ecclesia militans et triumphans  : Edgar Wind, Maccabean Histories in the Sistine Ceiling, in  : Italian Renaissance Studies. A tribute to the late Cecilia M. Ady, London 1960, S. 312 ff., Abb. 18 und 20. Auf die cumäische Sibylle und deren Spruch, auf welchen Vergil in der vierten Ekloge Bezug nimmt, heißt es im maßgeblichen Traktat Filippo de Barbieris aus dem Jahr 1481  : „Das letzte Zeitalter des cumäischen Spruches ist angebrochen  ; eine große Ordnung der Zeiten wird aufs neue geboren. Schon kommt die Jungfrau zurück, kehrt das goldene Zeitalter wieder, schon wird ein neues Geschlecht vom hohen Himmel gesandt.“ (Zitiert nach E. Guldan 1966, S. 53/54 und Anm. 42, aus Barbieris Discordantiae sanctorum …, ÖNB Ink. 24 G. 2, fol. 17r.) 22 E. Panofsky, Idea (1924), Berlin 1960, S. 68  ; Benedetto Varchi, Due lezioni sopra la pittura e scultura, Firenze 1546, gedruckt 1549  ; in diesem Fall die erste Rede, abgedruckt in  : Trattati d’arte del Cinquecento, I (hg. von P. Barocchi), Bari 1960. 23 M. Rohlmann, Kontinuitäten im Verschiedenen. Über koordinierendes Erzählen. In  : Erzählte Zeit und Gedächtnis. Narrative Strukturen und das Problem der Sinnstiftung im Denkmal, in  : Kunsthistorisches Jahrbuch Graz, Bd. 29/30 (hg. von G. Pochat, B. Wagner), Graz 2005, S. 43–59, bes. S. 44 f. 24 H. B. Gutman, Jonah and Zachariah on the Sistine Ceiling, in  : Franciscan Studies, XIII (1953), S. 159–177. 25 E. Panofsky, Meaning in the Visual Arts, New York 1955, S. 36 ff. 26 E. Wind, Sante Pagnini and Michelangelo, in  : Gazette des Beaux-Arts, XXVI (1944), S. 211–246  ; dazu Ch. de Tolnay, Michelangelo, 2  : The Sistine Ceiling, Princeton 1949, S. 254 f.; F. Hartt, Lignum Vitae …, 1950  ; ders.: Pagnini, Vigerio and the Sistine Ceiling, in  : Art Bulletin, XXXIII (1951), S. 262 ff.; J. Wilde 1958 (wie Anm. 7). 27 Vgl. Anm. 9, 21 und 26. 28 Zusammenfassend und weiterführend D. L. Ettlinger, The Sistine Chapel before Michelangelo. Religious Imagery and Papal Primacy, Oxford 1965  ; J. Shearman 1972  ; O’Malley 1986  ; Hatfield 1991. 29 Ascanio Condivi, Vita di Michel Angelo Buonarroti, Roma 1553, S. xlix (hg. P. d’Ancona, Milano 1928)  ; Fillitz macht jedoch geltend, dass künstlerische Gesichtspunkte zur Zeit der ersten Planung für die Umgestaltung der Westwand um 1530 nicht im Vordergrund gestanden haben können  : H. Fillitz, Papst Clemens VII. und Michelangelo. Das Jüngste Gericht in

Anmerkungen der Sixtinischen Kapelle (Österreichische Akademie der Wissenschaften. Veröffentlichungen der Kommission für Kunstgeschichte, Bd. V, hg. von A. Rosenauer), Wien 2005, S. 46, Anm. 5. Zum Fresko mit dem Jüngsten Gericht  : Redig de Campos, Il Giudizio Universale di Michelangelo, Milano 1964  ; P. de Vecchi, G. Colalucci, La Cappella Sistina IV  : Il Giudizio Universale, Milano 1995. 30 Zur Vorgeschichte des Freskos  : J. Wilde, Der ursprüngliche Plan Michel­ angelos zum Jüngsten Gericht, in  : Die graphischen Künste, N.  F. 1 (1936), S. 7 ff. 31 De Vecchi 2007, S. 219 f. 32 Condivi, Vita di Michelangiolo, Roma 1553 – zit. K. Frey, Le Vite di Michel­angelo Buonarroti scritte da Giorgio Vasari è da Ascanio Condivi, Berlin 1887  ; H. von Einem 1959, S. 120, zitiert die deutsche Übersetzung von R. Valdek, Quellenschriften für Kunstgeschichte, VI, Wien 1874, S. 71. 33 L. von Pastor, Geschichte der Päpste seit dem Ausgang des Mittelalters, Freiburg i. Br. 1886–1907  ; Bd. IV, 2, S. 567, Anm. 2 – zit. bei Fillitz 2005, S. 46, Anm. 7. 34 Fillitz 2005, S. 24–30. 35 Fillitz 2005, S. 20. 36 Fillitz 2005, S. 51 f. 37 S. Deswarte-Rosa, Vittoria Colonna und Michelangelo in S. Silvestro al Quirinale nach den Gesprächen des Francisco de Holanda, in  : Ausstellungskatalog  : Vittoria Colonna. Dichterin und Muse Michelangelos (hg. von S. Ferino-Pagden). Wien 1997, S. 349–373  ; eine deutsche Übersetzung von J. de Vasconcellos erschien als Vier Gespräche über Malerei geführt zu Rom 1538 in  : Quellenschriften für Kunstgeschichte und Kunsttechnik, Wien 1899, S. 18 ff.; eine neue portugiesische Ausgabe von Francisco de Holandas De pintura antigua erschien in Lissabon 1983 (hg. von A. Gonzáles García)  ; der Abschnitt über die vier Gespräche im Bd. II, 1, S. 225–228. 38 Diese reformatorische Position, die bereits von Savonarola und später von Luther vertreten wurde, sowie das Verhältnis Michelangelos zu den Reformern war in den letzten Jahrzehnten wiederholt Gegenstand wissenschaftlicher Untersuchungen  : R. de Maio, Michelangelo e la Controriforma, Bari 1978  ; G. Fragnito, Vittoria Colonna und die religiöse Heterodoxie in Italien, in  : Ausstellungskatalog  : Vittoria Colonna, Wien 1997, S. 225– 234, die sich ausführlich mit dem Thema der Heterodoxie in Italien zur fraglichen Zeit auseinandersetzt  ; zahlreiche Verweise zur einschlägigen Literatur. 39 Ch. de Tolnay, Corpus dei Disegni di Michelangelo, 4 Bde., Novara 1967– 1980  ; M. Hirst, Michelangelo and his Drawings, New Haven, London 1988, S. 111 ff. Die Zeichnung für Cavalieri in London, British Museum, dat. 1533, wird im Ausstellungskatalog Michelangelo, Zeichnungen eines Genies (hg. K.-A. Schröder, A. Gnann), Albertina, Wien 2010/11, S. 272 ff., erörtert. 40 Michelangelo, Die Dichtungen des Michelangelo (hg. von K. Frey). Berlin 1897, Nr. 34. Übers. des Autors  ; spätere Ausgabe  : Sämtliche Gedichte (hg. und übers. von M. Engelhard), Frankfurt a. M. 1992  ; italienische Ausgabe  : Rime (hg. von E. N. Girardi), Bari 1960. 41 H. B. Gutman, Jonah and Zachariah on the Sistine Ceiling, in  : Franciscan Studies, XIII (1953), S. 159–177. 42 A. Prater, Michelangelos Medici-Kapelle. ‚Ordine composto‘ als Gestaltungsprinzip von Architektur und Ornament, Waldsassen 1979, S. 60 f. 43 Zur Symbolik der reinen geometrischen Formen in der Architektur der Renaissance, insbesondere bei Alberti, Michelangelo und Palladio, vgl. z. B. R. Wittkower, Architectural Principles in the Age of Humanism (1949), London 1962  ; E. Forssman, Palladios Lehrgebäude. Studien über den Zusammenhang von Architektur und Architekturtheorie bei Andrea Palladio (Acta Universitatis Stockholmiensis, Stockholm Studies in History of Art, 9), Stockholm 1965  ; P. von Narei di Rainer, Architektur und

Harmonie. Zahl, Maß und Proportion in der abendländischen Baukunst, Köln 1982. 44 Prater 1979, S. 60. 45 Prater 1979, S. 61  ; J. Ackerman 1970, S. 81 f. 46 Prater 1979, S. 62  ; H. von Einem 1959, S. 94, mit Hinweis auf Vasari, Vite, V, S. 65. 47 I. Lavin, Bernini and the Unity of the Visual Arts, New York, London 1980, S. 22–49 und Abb. 12–33. 48 Prater 1979, S. 67  ; J. S. Ackerman, The Architecture of Michelangelo (1961), Harmondsworth 1970, S. 81 f. 49 Prater S. 67 f. Vgl. Th. Hetzer, Über das Verhältnis der Malerei zur Architektur, in  : Neues Jahrbuch für deutsche Wissenschaft, 13. Jg., 1937, H. 6. 50 Prater 1979, S. 124 f. 51 Prater 1979, S. 120 (im Abschnitt „Rhetorik der allegorisierten Zeit“)  ; der italienische Text findet sich bei L. Dussler, Die Zeichnungen des Michelangelo. Kritischer Katalog, Berlin 1979, S. 58  ; die deutsche Übersetzung bei H. von Einem, Michelangelo, Berlin 1959, S. 94/95  ; zu „Himmel und Erde“  : von Einem 1959, S. 94, mit Hinweis auf Vasari, Vite V, S. 65. 52 Prater 1979, S. 48–55 und 121. 53 Le Vite di Michelangelo Buonarroti scritte da G. Vasari e da A. Condivi (hg. von Karl Frey), Berlin 1897, S. 134  ; zur Beschreibung der Maus  : E. Panofsky, The mouse that Michelangelo failed to carve, in  : Essays in the Memory of Karl Lehmann, New York 1964, S. 242–251. Prater hat allerdings die Maus auf dem Schatzkästchen Lorenzos vorgefunden, sodass die Deutung einfacher ausfällt  : Auch die Reichtümer dieser Welt fallen der Zeit anheim. 54 Prater 1979, S. 118. 55 Siehe hierzu Praters Ausführungen zum Ornamentalen und Enigmatischen  : Prater 1979, S. 110 ff. und 129 ff. 56 Zum ornamentalen Charakter der eigentlich atektonischen Wandarchitektur, selbstgenügsam und frei von vorgegebenen Funktionen, vgl. Ackerman 1970, S. 81 f.; Ch. de Tolnay, Michelangelo, 3  : The Medici Chapel, Princeton 1948  ; H. von Einem 1959, S. 90 f.; H. Hibbard, Michelangelo, New York 1974, S. 190 ff. 57 Vasari, Vita Michelangelos (1550) nach P. Barocchi, I, S. 58 f.; vgl. Prater 1979, S. 44 und Anm. 69. 58 Panofsky, Studies in Iconology, 1939, S. 203  ; Tolnay, III, 1948, S. 48. 59 Von Einem 1959, S. 93  ; die Letzteren wurden von Raffaelo Montelupo und Montorsoli ausgeführt. 60 Tolnay 1948, III, S. 49  ; von Einem 1959, S. 93. 61 Hier wäre auch R. Kuhn 1975 zu erwähnen, der fast ausschließlich Ficino und Pico della Mirandola bei der Interpretation der Decke der Sixtina heranzieht. 62 Zur Miniatur als Illustration der Einteilung der Natur nach der Clavis physicae des Honorius von Autun (Bibl. Nat., lat. 6734, Paris) vgl. Pochat 1973, S. 154 f. und Abb. 26. 63 Tolnay 1948, III, S. 63 f. 64 Von Einem 1959, S. 195, mit Hinweis auf Dantes Inferno, VII, 78 f.; Grimm, II, S. 279 f. 65 Von Einem 1959, S. 95. 66 Zur Zeitproblematik aus kulturhistorischer Sicht vgl. A. O. Lovejoy, The Great Chain of Being, A study of the history of an idea (1936), New York 1965, Kap. I  : The principle of plenitude and the new cosmography.

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Anmerkungen

IV Historia 1 Zu der Heranbildung der Geschichtswissenschaft im 15. Jahrhundert ist auf die Grundlagenforschung in der Villa I Tatti (Harvard University) in Florenz/Settignano zu verweisen, insbesondere auch auf die bereits erwähnten Beiträge von P. O. Kristeller, Eugenio Garin u. a.; im deutschen Sprachraum etwa auf August Bucks Aufsatzband Die humanistische Tradition in der Romania (Berlin, Zürich 1968) und Reinhart Kosellecks Schrift Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten (Frankfurt a. M. 1979, 31984). 2 M. Aronberg-Lavin, The Place of Narrative. Mural Decoration in Italian Churches 431–1600, Chicago, London 1990, S. 167–194  ; F. Büttner, Das Thema der „Konstantinschlacht“ Piero della Francescas, in  : Mitteilungen des Kunsthistorischen Instituts in Florenz, XXXVI, H. 1–2 (1992), S. 23– 40  ; zur Zeitstruktur der Fresken in San Francesco  : Pochat, Bild/Zeit, II, 1996, S. 202–204. 3 Vgl. Büttner 1992, passim. 4 Pochat, Bild/Zeit, II, S. 206–216, mit Hinweisen auf einschlägige Literatur. 5 J. Shearman, Raphael’s Cartoons in the Collection of Her Majesty the Queen and the Tapestries for the Sistine Chapel, London 1972. Vgl. auch Pochat, Bild/Zeit, II, S. 204–216. 6 Zur Übernahme der rhetorischen Begriffe in der Kunstliteratur vgl. G. Pochat, Geschichte der Ästhetik und Kunsttheorie, Köln 1986, S. 70–72 sowie die Abschnitte über Alberti und Vasari  ; s. auch N. Michels 1988 und die Diskussion bei Tizian und Bruegel (S. 177 f. und 314 f.). 7 Eine sehr breite Übersicht der inzwischen ausufernden Literatur bietet H. F. Plett, Renaissance_Rhetorik, Berlin, New York 1993. 8 In Aristoteles’ Poetikà wird auf den feinen Unterschied hingewiesen, dass der Redner diejenigen Seelenregungen, die er dem Publikum einzureden suche, nur vortäusche, während das Drama auch als Fiktion Wahrhaftiges zum Ausdruck bringe – eine Unterscheidung, die später von Cicero und Quintilian nicht so stark betont wird. Gerade die Analyse des Gemütszustandes des Redners wird mit der Wirkung des behandelten Themas im Geiste von Horaz zur Deckung gebracht. Bei Pseudo-Longinus geht es erst recht um die überwältigende Wirkung der Rede  : vgl. E. Grassi, Die Theorie des Schönen in der Antike. Köln 1962, S. 170 f. 9 J. Bialostocki, Das Modusproblem in den bildenden Künsten, in  : Stil und Ikonographie. Studien zur Kunstwissenschaft, Dresden 1966, S. 9–35  ; das Zitat aus A. Buck 1968, S. 212  ; zum Regelkodex und decorum im Zeitalter des Manierismus vgl. auch J. von Schlosser, La letteratura artistica (hg. von O. Kurz), Firenze 1964, S. 433–454  ; N. Michels, Bewegung zwischen Ethos und Pathos  : Zur Wirkungsästhetik italienischer Kunsttheorie des 15. und 16. Jahrhunderts, Münster 1988. 10 Auf die Komplexität der Historienbilder an den Längswänden in der Sixtina wurde in Pochat, Bild/Zeit, II, 2004, S. 206–216, mehrfach hingewiesen. 11 Ausstellungskatalog  : Michelangelo. Zeichnungen eines Genius, Wien 2010/11, S. 70 f. und Nr. 15. 12 A. Chastel, Art et Humanisme à Florence au temps de Laurent le Magnifique. Etudes sur la Renaissance et l’Humanisme Platonicien, Paris 1959  ; 21961, S. 469–484  ; Shearman 1972, S. 12, 87, 113 und 118  ; H. Pfeiffer, Zur Ikonographie von Raffaels Disputà, Rom 1975. 13 V. Golzio, Raffaello sui documenti, nelle testimonianze die contemporanei e nella letteratura del suo secolo. Vaticano 1971, S. 31–33. 14 Siehe A. Chastel 1961, S. 453–455. (Zum neuen „Goldenen Zeitalter“ vgl. auch Filippo di Barbieri, zit. S. 211, Anm. 20.) 15 W. Brassat, Credas – Cernas  : Paradoxale Seinskonfigurationen in Werken Raffaels als blinde Flecken kunsthistorischer Wahrnehmung, in  : Kunsthistorisches Jahrbuch Graz, Bd. 27, Graz 2000, S. 13–14. 16 Brassat 2000, S. 14.

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17 Zu den Ereignissen vgl. R. Jones, N. Penny, Raffael, München 1983, S. 117–118. 18 M. Prisco, P. de Vecchi, L’Opera completa di Raffaello, Milano (1966) 1979, S. 108, Nr. 95. Zur Problematik der Szene und der Anpassung des Programms in Bezug auf Leo X. vgl. auch Shearman 1971, S. 18 f.; zuvor hatte Shearman sich mit dem ursprünglichen Projekt der Szene befasst  : Raphael’s unexecuted projects for the Stanze, in  : Walter Friedländer zum 90. Geburtstag  : Eine Festgabe, (hg. G. Kauffman, W. Sauerländer), Berlin 1965, S. 170 ff. 19 Golzio 1871, S. 76 f.; R, Jones, N. Penny 1983, S. 147. 20 Brassat 2000, S. 12 f., mit Verweis auf Quintilianus, De institutione oratoria, IV, 2, 25. 21 Shearman 1971, S. 58 und Anm. 151. 22 Paris 1505, fol. CXXX  ; vgl. R. Jones, N. Penny 1983, S. 148, Anm. 41. 23 Vasari, Vite, IV, S. 359. 24 Brassat 2000, S. 15. 25 Brassat 2000, S. 15. 26 Vgl. Chastel 1961, S. 469 f. 27 R. Jones, N. Penny 1983, S. 150, unter Verweis auf L. von Pastor, Geschichte der Päpste, VII, S. 71 f. 28 P. de Vecchi 1979, S. 115 (Nr. 115). 29 R. Jones, N. Penny 1983, S. 150, mit Hinweis auf Platina 1505, Vol. xxiv. 30 P. de Vecchi 1979, S. 112 f. (Nr. 115). 31 R. Quednau, Die Sala di Costantino im Vatikanischen Palast (Studien zur Kunstgeschichte, Bd. 13), Hildesheim, New York 1979. 32 Zur alten Deutung der Hunnenschlacht  : Winzinger 1975, S. 126 f. 33 Zur Ikonografie und Neubewertung des Historienbildes  : A. Schönberger, „keyser Karls streyt vor der stat regenspurg geschechen“, in  : Pantheon 1972, S. 211  ; Winzinger 1975, S. 126 f.; D. Hess, Altdorfers Weg zur Alexanderschlacht. Eine Neubewertung seiner „Tischplatte“, in  : Anzeiger des Germanischen Nationalmuseums, Nürnberg 2005, S. 27–96  ; E. Michel in  : Ausstellungskatalog 2012, S. 250 f. und Kat.-Nr. 55  : „Der Sieg Karls des Großen über die Awaren bei Regensburg“, 1518. 34 Winzinger 1975, S. 127. Zu der Vielschichtigkeit der Interpretation anhand neuer Quellenfunde vgl. E. Feistner, Geschichte im Bild. Altdorfers Gemälde vom Kampf Karls des Großen, in  : Chr. Wagner, O. Jehle (Hrsg.), Albrecht Altdorfer. Kunst als zweite Natur (Regensburger Studien zur Kunstgeschichte, Bd. 17), Regensburg 2012, S. 237–246. 35 R. Koselleck 1984, S. 18. 36 Zur Disziplin der Historie im Humanismus vgl. Anm. 1. 37 Winzinger, Albrecht Altdorfer. Die Gemälde. München, Zürich 1975, S. 45  ; Koselleck 1984, S. 21. 38 Koselleck 1984, S. 22. 39 S. Toulmin, J. Goodfield, The Fabric of the Heavens, Harmondsworth 1961  ; dieselben  : The Discovery of Time, Harmondsworth 1965  ; die Problematik der wissenschaftlichen und kulturhistorischen Situation der Zeit, die sich im Spannungsfeld von Religion und Naturwissenschaften im 16. Jahrhundert spiegelt, ist u. a. von A. O. Lovejoy, The Great Chain of Being, New York 1936, und E. Garin, Der italienische Humanismus, Bern 1947, erörtert worden. 40 Luthers Tischrede zitiert von Koselleck 1984, S. 21. 41 Luther, Tischreden, WA, 678 und 2756b. Zu Gog und Magog in der Legendenbildung und in der Kartografie des Spätmittelalters vgl. G. Pochat, Der Exotismus während des Mittelalters und der Renaissance (Acta Universitatis Stockholmiensis – Stockholm Studies in History of Art, 21), Stockholm 1970, S. 203 f., mit Hinweisen auf die ehemalige Ebstorfer Weltkarte von 1250 mit ihrer Darstellung von Gog und Magog  ; vgl. J. G. Leithäuser, Mappa Mundi. Die geistige Eroberung der Welt, Berlin 1958, S. 93 ff.; W. Rosien, Die Ebstorfer Weltkarte, Hannover 1952.

Anmerkungen 42 Winzinger 1975, S. 40. 43 Winzinger 1975, S. 102  ; J. Kaiser, Altdorfers „Alexanderschlacht“ und die antike Überlieferung, in  : Atlantis, 1940, H. 10, S. 434 ff. 44 Winzinger 1975, S. 40 ff. und S. 102. 45 C. Meckseper, Zur Ikonographie von Altdorfers „Alexanderschlacht“, in  : Zeitschrift des deutschen Vereins f. Kunstwissenschaft, XXII (1968), S. 179  ; B. Weyandt, Albrecht Altdorfers Alexanderschlacht. Zum Verhältnis von Bildinhalt und Topographie, in  : Von Altdofer bis Serra (hg. von Ingeborg Besch u. a., Schülerfestschrift für Lorenz Dittmann), St. Ingbert 1993, S. 2–9. 46 Albrecht Dürer, Etliche Underricht zu Bestigung der Stett, Schlosz und flecken, Nürnberg 1527  ; Faksimile  : Dürer, Befestigungslehre, Zürich 1971. 47 Winzinger 1975, S. 42 und 100. 48 Koselleck 1984, S. 178 f.; eine ähnliche Einschätzung wird von Prater vorgebracht (vgl. Anm. 49, bes. S. 271 f.). 49 A. Prater, Monumentale Miniatur. Bemerkungen zur Zeitstruktur in Altdorfers Alexanderschlacht, in  : Chr. Wagner, O. Jehle (Hrsg.), Albrecht Altdorfer. Kunst als zweite Natur (Regensburger Studien zur Kunstgeschichte, Bd. 17), Regensburg 2012, S. 269–278. 50 Schlegel, zitiert von Winzinger 1975, S. 46  ; zur Inschriftentafel  : G. Goldberg, Die ursprüngliche Inschriftentafel der „Alexanderschlacht“ Albrecht Altdorfers, in  : Münchner Jahrbuch der bildenden Kunst, XIX (1968), S. 121  ; E. Ullmann, Geschichte der deutschen Kunst 1470–1550, Leipzig 1985, S. 113. 51 Tizians Gemälde wurde von Giulio Fontana gestochen. Die Kreidezeichnung im Louvre (Abb. 129) sowie eine Kopie geben eine Vorstellung von der Dynamik des Originals – vgl. W. Suida, Tizian. Zürich, Leipzig 1933, Taf. CXII  ; H. Tietze, Titian. The Paintings and Drawings, 2 Bde. London 1950, fig. 105 und 302. Die ausführlichste und beste Darstellung der historischen Umstände der Schlacht bei Cadore gibt Panofsky 1969, S. 179–182. 52 E. Panofsky 1969, S. 178. 53 Panofsky 1969, S. 178 f. 54 L. O. Larsson, Nur die Stimme fehlt  ! Porträt und Rhetorik in der Frühen

Neuzeit. Kiel 2012. Zur Rhetorik  : S. 27 ff.; zur Standesrepräsentation  : S. 85 f. 55 Panofsky 1969, S. 74 f. 56 W. Braunfels, Tizians Allocutio des Avalos und Giulio Romano, in  : Mouseion, Studien aus Kunst und Geschichte für Otto H. Förster, Köln 1960, S. 108 ff.; J. Shearman, Titian’s Portrait of Giulio Romano, in  : Burlington Magazine, CVII (1965), S. 172 ff.; Panofsky 1969, S. 74–77. Zur Gestik und Rhetorik im Porträt vgl. auch Larsson 2012, S. 40 ff. 57 Panofsky 1969, S. 97. 58 Vasari, Vite, (1906) 1973, VII, S. 442. Auf die adlocutio gehen Braunfels 1960, Shearman 1965 und Panofsky 1969 ein. 59 Einschlägig die Studie von Hans Ost, Tizians Kasseler Kavalier. Ein Beitrag zum höfischen Porträt unter Karl V., Köln 1982  ; ders., Tizian-Studien, Köln, Weimar, Wien 1992, S. 62–64. 60 Vasari, Vite, VII, S. 458. 61 R. Wittkower, Titian’s Allegory of Religion Succoured by Spain, in  : Journal of the Warburg Institute, III (1939), S. 138 ff.; auch in  : Allegorie und der Wandel. Köln 1984, S. 271–276. 62 Caearis invicti pia religionis imago Christigenûm – vgl. Panofsky 1969, S. 187. 63 C. Bertelli, „Il restauro di un quadro di Tiziano“, Bollettino dell’Istituto Centrale del Restaruo, No. 31–32 (1957), S. 129 ff. zit. Panofsky 1969, S. 186/187. 64 H. E. Wethey, The Paintings of Titian, III  : the Mythological and Historical Paintings, London 1975  ; G. Tagliaferro, Spanien kommt der Religion zu Hilfe, in  : Ausstellungskatalog  : Der späte Tizian und die Sinnlichkeit der Malerei, Kunsthistorisches Museum Wien (hg. von S. Ferino-Pagden), Wien 2007/08, S. 332–334. 65 Panofsky 1969, S. 93. 66 Panofsky 1969, S. 79 und Fig. 91. 67 Panofsky 1969, S. 78 f. 68 Th. Hetzer, Tizian. Geschichte seiner Farbe. Frankfurt a.  M. 1935, S. 141 ff.; Panofsky 1969, S. 85. 69 Zu der hasta  : Panofsky 1969, S. 85 f. und Fig. 100, 101.

V Tizian 1 Vgl. F. Valcanover im Katalog Titian, Prince of Painters, Venice 1990, S. 142  ; F. Pedrocco, Tizian, München 2000  ; Ausstellungskatalog  : Bellini, Giorgione, Tizian und die Renaissance der venezianischen Malerei (hg. von D. A. Brown, S. Ferino-Pagden), National Gallery of Art, Washington, Kunsthistorisches Museum, Wien, 2006/07  ; Ausstellungskatalog  : Der späte Tizian und die Sinnlichkeit der Malerei (hg. von S. Ferino-Pagden), Kunsthistorisches Museum, Wien, Gallerie dell’Accademia, Venezia, Wien 2007/08. 2 C. Nordenfalk, Tizians Darstellung des Schauens, in  : Nationalmusei årsbok 1947/48, Stockholm 1950, S. 39–60  ; Zuschreibungen an Giorgione etwa bei E. Wind, Giorgione’s Tempesta, with Comments on Giorgione’s Poetic Allegories, Oxford 1969  ; Chr. Hornig, Giorgiones Spätwerk, München 1987. 3 Ausstellungskatalog  : Titian, Venedig 1990, S. 144 (Nr. 3). 4 Die abgewandte Schau (epistrofé) und die Umkehr zum Höheren werden in Platos Symposion und im Phaidros und später von den Neuplatonikern (Proklus u. a.) angesprochen. Ficino, Pico und Leone Ebreo haben den Gedanken entsprechend aufgegriffen. Die Umsetzung in der bildenden Kunst erfolgte durch die Darstellung der Venus verticordia oder eben im Kontext der Musik. Vgl. hierzu E. Wind, Pagan Mysteries in the Renaissance, Harmondsworth 1967, S. 143, Anm. 7, und S. 202 und 206  ; weiter unter epistrofé und conversio.

5 Der locus classicus findet sich in Ficinos Theologia Platonica, Opera omnia, Basel 1576, c. 229 f. Die Übersetzung Gombrichs lautet  : „All the works of art which pertain to vision and hearing proclaim the whole of the artist’s mind. … In the paintings and buildings the wisdom and skill of the artist shines forth. Moreover we can see in them the attitude and the image as it were, of his mind  ; for in these works the mind expresses and reflects itself not otherwise than a mirror reflects the face of a man who looks into it. To the greatest degree the mind reveals itself in speeches, songs, and skilful harmonies. In these the whole disposition and the will of the mind becomes manifest. Whatever the emotion of the artist, his work will usually excite in us an identical emotion. … For the works which pertain to vision and hearing are closest to the artist’s mind.“ (E. H. Gombrich, Botticelli’s Mythologies. A Study in Neoplatonic Symbolism of His Circle, in  : Journal of the Warburg and Courtauld Institutes, VIII (1945), S. 59  ; auch in Gombrichs abgeändertem Beitrag zu Bottticelli wird der Passus zitiert  : Symbolic Images. Studies in the art of the Renaissance, London (1972) 1975, S. 77/78.) 6 Wind 1969. Im Katalog Titian (Venice 1990, Nr. 13, S. 178) wird an der Autorschaft Tizians festgehalten, aber zugleich die Deutung von Wind akzeptiert. 7 Der Vorschlag von Bruce Sutherland wurde in einem Brief vom 9. Oktober 1989 dem Kunsthistorischen Museum unterbreitet – vgl. S. Ferino-Pagden in Ausstellungskatalog 2007, S. 178.

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Anmerkungen 8 Zwei Textstellen in Ovids Fasti sind hier zur ikonografischen Klärung herbeigezogen worden  : Fasti I, 301–440  ; Fasti IV, 319 ff. Seit J. Walkers bahnbrechender Studie Bellini and Titian at Ferrara (London, New York 1956) sind eine Reihe Arbeiten erschienen, die sich zum einen mit dem Gemälde selbst und den vielen Überarbeitungen, Änderungen und Ergänzungen befassen, zum anderen mit der Hängung im Camerino, die diese Änderungen z. T. aus dem Kontext heraus erklären. Eine rezente, aber nicht erschöpfende Präsentation bietet der Ausstellungskatalog  : Bellini, Giorgione, Tizian, Kunsthistorisches Museum, Wien, 2006/07, Kat.-Nr. 32, S. 172 ff. Die wesentlichen Vorschläge zur Hängung wurden von Ch. Hope 1971 und D. Goodgal 1987 vorgebracht (vgl. unten)  ; zu den Reliefs und Gemälden auch  : A. Ballarin, Lo studio di marmi ed il Camerino delle pitture di Alfonso d’Este, I. Padova 2002  ; zu konsultieren wäre – insbesondere zu den Um- und Zubauten der via coperta – der Ausstellungskatalog  : Este a Ferrara. Il Camerino di Alabastro. Antonio Lombardo e la scultura antica (hg. von M. Cesiana). Milano 2004  ; darin  : Ch. Hope, Il Camerino d’alabastro  : la collocazione e la decorazione pittorica, S. 83–96 (nicht genügend gewürdigt wird darin m. E. der Beitrag Goodgals)  ; weiters  : M. Borella, „Lo studio di preda marmora fina“ sopra la via coperta di Alfonso III. Duca, S. 111–118. Zur Ikonografie und Ausführung des Gemäldes  : E. Wind, Bellini’s Feast of the Gods. A Study in Venetian Humanism, Cambridge (Mass.) 1948  ; J. Walker, Bellini and Titian at Ferrara. A Study of Styles and Taste, London 1956  ; M. Bonicatti, Aspetti dell’umanesimo nella pittura veneta dal 1455 al 1515, Roma 1964  ; A. Mezzetti, Il Dosso e Battista Ferrareso, Milano 1965  ; G. Robertson, Giovanni Bellini, Oxford 1968  ; C. Gould, The Studio of Alfonso d’Este and Titian’s Bacchus and Ariadne, London 1969  ; Ch. Hope, The Camerini d’Alabastro of Alfonso d’Este, in  : Burlington Magazine, 113 (1971), I  : S. 641–650  ; II  : S. 712–721  ; E. Verheyen, The Paintings in the Studiolo of Isabella d’Este at Mantova, New York 1971  ; G. Pochat, Figur und Landschaft, Berlin 1973, S. 369–374  ; Ph. Fehl, The Worship of Bacchus and Venus in Bellini’s and Titian’s Bacchanals for Alfonso d’Este, in  : Studies in the History of Art, Washington, National Gallery of Art, 1974, S. 37–95  ; H. E. Whethey, The Paintings of Titian, III  : The Mythological and Historical Paintings, London 1975, S. 144–145  ; D. Goodgal, The Camerino of Alfonso I. d’Este, in  : Art History, III, 1987, S. 162–190  ; B. L. Brown, On the Camerino, in  : Bacchanals by Titian and Rubens (Symposium Nationalmuseum Stockholm 1987, hg. von G. Cavalli-Björkman), Stockholm 1987, S. 43–56  ; sich größtenteils auf Goodgal berufend, ebendort  : D. Bull, The Restoration of Bellini’s-Titian’s Feast of the Gods, S. 9–24  ; und  : Ch. Hope, The Camerino d’alabastro. A reconsideration of the evidence, S. 25–42  ; J. Anderson, The Provenance of Bellini’s Feast of the Gods and a New/Old Interpretation, in  : Titian ’500, National Gallery, Washington 1993, S. 265–287  ; D. A. Brown, The Pentimenti in the Feast of the Gods, in  : Titian ’500, National Gallery, Washington 1993, S. 288–299  ; D. Bull, The Feast of the Gods, Conservation, Examination and Investigation, in  : Titian ’500, National Gallery, Washington 1993, S. 366–373  ; Th. Puttfarken, Titian & Tragic Painting, New Haven, London 2005, S. 129–137  ; Ausstellungskatalog  : Bellini, Giorgione, Tizian, Kunsthistorisches Museum, Wien 2006/07, Kat.-Nr. 32, S. 172 ff. (mit weiteren Lit.-Hinweisen)  ; G. Brucher, Geschichte der venezianischen Malerei, 2  : Von Giovanni Bellini zu Vittore Carpaccio, Wien 2010, S. 180–185. 9 Zu Raffael, Fra Bartolomeo und Dosso Dossi in der Zeit vor Tizians Auftrag vgl.: M. Winner, Raffael malt einen Elefanten, in  : Mitteilungen des Kunsthistorischen Institutes in Florenz, Bd. VIII (1964), S. 100 ff.; R. Steiner, Il Trionfo di Bacco, in  : Paragone, 28 (1977), S. 85–99, Abb. 61–64  ; Katalog  : Der Triumph des Bacchus. Meisterwerke Ferrareser Malerei in Dresden 1480–1620 (hg. von G. M. Weber), Dresden 2003, Nr. 29, SD. 142  ; siehe auch B. L. Brown und Ch. Hope, Bacchanals … 1987 (wie Anm. 8). 10 E. Panofsky, Titian, mostly iconographic, London 1969, S. 139–144  ; P.

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Holberton, The choice of texts for the Camerino pictures, in  : Bacchanals …, Stockholm 1987, S. 57–66  ; Ausstellungskatalog Bellini, Giorgione, Tizian 2006, S. 180–183. 11 Panofsky 1969, S. 141  ; P. P. Bober, R. A. Rubinstein, Renaissance Artists and Antique Sculpture, A Handbook of Sources, London 1986, Nr. 106, S. 136 f.; der Orestessarkophag aus dem 2. Jh. n. Chr. stand vermutlich vor San Stefano in Cacco in Rom. 12 Panofsky 1969, S. 141, Anm. 6, und S. 142. 13 C. Gilbert, On Subject and Not Subject in Italian Renaissance Pictures, in  : Art Bulletin, 34 (1952), S. 202–216. 14 Ausstellungskatalog Bellini, Giorgione, Tizian 2006, S. 176–179. 15 Ph. Fehl, Imitation as a Source of Greatness. Rubens, Titian, and the painting of the Ancients, in  : Bacchanals by Titian and Rubens (Symposium Nationalmuseum Stockholm, March 18–19 1987 – hg. von G. Cavalli-Björkman), Stockholm 1987, S. 107–132. 16 E. Winternitz, Musical Instruments and their Symbolism in Western Art. Studies in Musical Iconology, New Haven, London (1967) 1979, S. 51 f. 17 J. Walker 1956  ; Ausstellungskatalog Bellini, Giorgione, Tizian 2006, S. 172–175. 18 Vgl. Goodgal 1987 und Ch. Hope, D. Bull und D. A. Brown 1987 (wie Anm. 8). 19 D. Rosand, Titian’s Light as Form and Symbol, in  : Art Bulletin, 57 (1975), S. 58 f.; Ausstellungskatalog Titian 1990, S. 151  ; H. Aurenhammer, Die Madonna des Hauses Pesaro, Frankfurt 1994, S. 22 f.; G. Brucher 2010, S. 88 ff. 20 Zur symbolischen Bedeutung der Beschattung  : D. Rosand 1975, S. 58 f. 21 Panofsky 1969, S. 178. 22 Panofsky 1969, S. 178 f. 23 R. Wittkower, Transformations of Minerva in Renaissance Imagery, in  : Journal of the Warburg Institute, 16, 1953, S. 292-302. deutsch  : Wandel des Minerva-Bildes in der Renaissance, in  : Allegorie und Wandel der Symbole in Antike und Renaissance. Köln 1983, S.  246–270, bes. S. 265 f. 24 Wittkower 1984, S. 271–276  : Tizians Allegorie „Spanien eilt der Religion zu Hilfe“. 25 Aurenhammer hat den langen Entstehungsprozess des Altarbildes und den Bruch mit dem herkömmlichen Typus der sacra conversazione erörtert  : Künstlerische Neuerung und Repräsentation in Tizians ‚Pala Pesaro‘, in  : Wiener Jahrbuch für Kunstgeschichte, 40 (1987), S. 13–44  ; zur Entwicklung des Gemäldes bes. S. 24 ff.; ders.: Die Madonna des Hauses Pesaro. Wie kommt Geschichte in ein venezianisches Altarbild  ? Frankfurt 1994, S. 54 f. und S. 82 (mit Literaturangaben). 26 Th. Puttfarken, Tizians Pesaro-Madonna  : Maßstab und Bildwirkung, in  : W. Kemp (Hg.), Der Betrachter ist im Bild. Kunstwissenschaft und Rezeptionsästhetik, Köln 1985, S. 62–90  ; zum Standort des Altars S. 80 ff. 27 Aurenhammer 1994, S. 54 f. 28 Wittkower 1984 (wie Anm. 23), S. 246–270, bes. S. 263 ff.; Panofsky 1969, S. 19 ff.; Aurenhammer 1994, S. 27 f. 29 Puttfarken 1985, S. 62–90, bes. S. 80 f. 30 Aurenhammer 1994, S. 60 f. 31 Zu den Säulen  : E. Forssman, Über Architektur in der venezianischen Malerei des Cinquecento, in  : Wallraf-Richartz-Jahrbuch 29 (1967), S. 108. 32 C. Cagli, F. Valcanover, L’Opera completa di Tiziano, Milano (1969) 1978, S. 84  ; zur sympathetischen Landschaft  : Pochat, Figur und Landschaft, Berlin 1973, S. 372 f. und Anm. 75, 76. 33 Pochat 1973, S. 372 und Anm. 75, 76. 34 Puttfarken, Titian & Tragic Painting. Aristotle’s Poetics and the Rise of the Modern Artist, New Haven, London 2005, S. 112 f.; Pochat, Theater und bildende Kunst im Mittelalter und in der Renaissance in Italien, Graz 1990, S. 243 ff. und 278 ff. 35 Pochat 1990, S. 291 ff.

Anmerkungen 36 Th. Kisser, Visualität, Virtualität, Temporalität, in  : Th. Kisser (Hg.), Bild und Zeit. Temporalität in Kunst und Kunsttheorie seit 1800, München 2011, S. 87–136, bes. S. 93 ff. und 109/110. 37 Vgl. Dittmann 1977, bes. S. 165 f.; H. Theissing 1987, S. 219 ff.; zum Helldunkel, das Veränderung und Vergänglichkeit impliziert, vgl. K. H. Spinner, Helldunkel und Zeitlichkeit, Caravaggio, Ribera, Zurbaran, George de la Tour, Rembrandt, in  : Zeitschrift für Kunstgeschichte, 34, München, Berlin 1971, S. 257–295. 38 J. Schulz, Venetian Painted Ceilings of the Renaissance, Berkeley, Los Angeles 1968. 39 Panofsky 1969, S. 35 und Fig. 39. 40 Zum proviso Philipps  : Panofsky 1969, S. 72. 41 J. Bialostocki, Das Modusproblem in den bildenden Künsten. in  : Stil und Ikonographie. Studien zur Kunstwissenschaft, Dresden 1966, S. 9–35  ; N. Michels, Bewegung zwischen Ethos und Pathos  : Zur Wirkungsästhetik italienischer Kunsttheorie des 15. Und 16. Jahrhunderts. Münster 1988. 42 Panofsky 1969, S. 147  ; Puttfarken 2005, S. 77–88. 43 Ph. Fehl, Decorum as Wit  : The Poetry of Venetian Painting. Essays in the History of the Classical Tradition, Wien 1992, S. 105 ff.; Puttfarken 2005, S. 86. 44 Pochat 1986, S. 49 f. 45 E. H. Gombrich, Art and Illusion (1960), London 1968  ; zu Tizian S. 162 ff. 46 R. W. Kennedy, Tiziano in Roma, Il mondo antico nel Rinascimento, Firenze 1956  ; Panofsky 1969, S. 55  ; Valcanover 1978, S. 126, Nr. 399. 47 Panofsky 1969, S. 25 f. und S. 54, Fig. 63. 48 Vasari, Vite … VII (1906) 1973, S. 453  ; Puttfarken 2005, S. 120 f. 49 E. H. Gombrich, Moment and Movement in Art, in  : Journal of the Warburg and Courtauld Institutes, 27 (1964), S. 293–306. 50 Das Relief befand sich ehemals in der Sammlung K. J. Hewitt, Ashford, Kent  ; vgl. Panofsky 1969, S. 151, Fig. 160  ; Bober/Rubinstein 1986, S. 127, Nr. 94. Bei Vincenzo Borghini heißt es  : Fingendo Adone da Venere, che sta in atto di abbraciarlo, fuggire, in  : Il Riposo (1584), Ausgabe 1730, S. 49. 51 Cuius in extremo est antrum nemorale recessu/ Arte laboratum nulla  : simulaverat artem/ Ingenio natura suo,Ovid, Metamorphosen, III, v. 155–162  ; zit. Pochat 1973, S. 468. 52 E. Panofsky, Studies in Iconology, New York 1962, S. 165 f.; ders. 1969, S. 129 ff. 53 W. Deiters im Ausstellungskatalog  : Der späte Tizian, Kunsthistorisches Museum, Wien 2007, S. 238. 54 Deiters ibid.; R. Goffen, Titian’s Women. New Haven, London 1997. 55 J. Shearman, Mannerism, Harmondsworth 1967, S. 21 ff. und 96 f.; B. Aikema, Fleckenmalerei  : Tizian zwischen Venedig und Europa, in  : Ausstellungskatalog  : Der späte Tizian, Wien 2007, S. 87–100  ; ebd. S. Ferino-Pagden, Der späte Tizian und die Sinnlichkeit der Malerei, S. 15–26. 56 Aikema, Ausstellungskatalog  : Der späte Tizian 2007, S. 97. 57 Ludovico Dolce, Dialogo della pittura intitolato l’Aretino, Venezia 1557, In  : Trattati d’arte del Cinquecento fra Manierismo e Controriforma, II (hg. von P. Barocchi), Bari 1960, S. 141–206  ; die entscheidenden Stellen zu Tizians Spätstil wurden von Fernando Checa ausgesucht  : Ausstellungskatalog  : Der späte Tizian …, Wien 2007, S. 61–67. 58 Panofsky 1969, S. 157 ff. und Fig. 166–170. Zu den Ovidillustrationen  : B. Guthmüller, Bild und Text in Lodovico Dolces Trasformationi, in  : Die Rezeption der Metamorphosen des Ovid in der Neuzeit  : Der antike Mythos in Text und Bild. Internationales Symposium der Werner Reimers-Stiftung. Bad Homburg, 22.–25. April 1991 (hg. von H. Walter und H.-J. Horn), Berlin 1995, S. 58–78. 59 G. Masson, Die Kurtisanen der Renaissance, Tübingen 1975  ; H. Ost, Tizians sogenannte Venus von Urbino, in  : Festschrift für Eduard Trier zum 60. Geburtstag,(hg. J. Müller- Hofstede, W. Spies), Berlin 1981, S. 129–149  ; J. G. Turner (Hg.), Sexuality and Gender in Early Modern

Europe  : Institutions, Texts, Images, Cambridge 1993  ; R. Goffen, Titian’s Women, New Haven, London, 1997. 60 Panofsky 1969, S. 193. 61 Panofsky 1969, S. 120–125, mit Bezug auf Ficinos Commentarius in convivium Platonis, 1, 4 (Op. omn. 1576, c. 1322 f. – Übers. des Autors). 62 Panofsky 1969, S. 298. 63 Pochat 1973, S. 459 f. 64 O. Brendel, The Interpretation of the Holkham Venus, in  : Art Bulletin, XXVIII (1946), S. 65–75. 65 Brendel 1946 (wie Anm. 64)  ; Panofsky 1969, S. 121 ff.; Ch. Hope, Problems of Interpretation in Titian’s Erotic Paintings, in  : Tiziano e Venezia (Symposium Venezia 1976), Vicenza 1980, S. 111–124  ; R. Goffen, 1997, S. 159 ff.; F. Checa im Ausstellungskatalog 2007/2008, S. 217–223  ; K. Christiansen im Ausstellungskatalog 2007, S. 252–255. 66 Eine Auflistung der einschlägigen Literatur der Pastorale um 1500 findet sich in Pochat 1973, S. 375–383. 67 Vgl. S. Ferino-Pagden, Ausstellungskatalog 2007/2008, S. 232 ff. Kat. Nrn. 2.1-2.13 68 Puttfarken 2005, S. 97–127. 69 Siehe hierzu immer noch Th. Hetzer 1935. 70 E. Lowinsky, Music in the Culture of the Renaissance, in  : Journal of the History of Ideas, XV (1954), S. 509 ff.; zu den Venusdarstellungen und den Musikinstrumenten auch E. Winternitz 1979, S. 52 f. 71 Brendel 1946, S. 69. Der Passus wurde von Christiansen im Ausstellungskatalog 2007, S. 254, übersetzt und allerdings als eine „abstruse Lesung“ des Gemäldes abgetan. Ohne den erotischen Charakter der vielen Venusdarstellungen aus Tizians eigener Hand oder denjenigen seiner bottega zu verneinen, bleibt allerdings die schöngeistige Interpretation des musikalischen Motivs, wobei die Wahl der dargestellten Instrumente für den Inhalt wesentlich ist. Eigentlich in Übereinstimmung mit Brendels Sicht hat Philipp Fehl Giorgiones Concert champêtre interpretiert  : The Hidden Genre  : A Study of the Concert Champêtre in the Louvre, in  : The Journal of Aesthetics & Art Criticism, XVI (1957/58), S. 152–168. 72 E. Wind 1967, S. 143, Anm. 7, und S. 206, Anm. 50. 73 So Checa im Ausstellungskatalog 2007/2008, S. 221 f. 74 Eine Zusammenstellung der umfangreichen Literatur von S. Albl findet sich im Ausstellungskatalog „Der späte Tizian“, Wien 2007/2008, S. 349–250. 75 Panofsky 1962, S. 165 f.; ders. 1967  ; ders. 1969, S. 129 ff.; Wind teilt nicht Panofskys Meinung, dass Venus beim Verbinden der Augen Amors innehält – vgl. Wind 1967, S. 78 f. und bes. S. 80, Anm. 96. 76 M. Falomir, Titian’s Replicas and Variants, in  : Ausstellungskatalog  : Tiziano, Madrid 2003, S. 264–265. 77 Panofsky 1962, S. 165–169  ; ders. 1969, S. 120–137. 78 Andrea Alciatus, Emblematum libellus, Paris 1542. Nachdruck  : Darmstadt 1987. 79 Panofsky 1962, S. 160 ff.; ders. 1969, S. 127 ff. 80 Eine frühe Deutung des Triciput bei F. Saxl, E. Panofsky, in  : Burlington Magazine, XLIX (1926), S. 177 ff.; später E. Panofsky, Titian’s Allegory of Prudence. A Postscript, in  : Meaning in the Visual Arts. New York 1955, S. 146–168  ; L. Puppi, Allegory of Time Governed by Prudence, in  : Ausstellungskatalog  : Titian, Venedig 1990, S. 347 f. (Nr. 67). 81 E. R. Curtius, Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter, Bern (1948) 61967, S. 442 ff.; weitere Quellenhinweise bei Panofsky 1955, S. 149 f., bes. S. 153, Anm. 26. Macrobius’ Textstelle in den Saturnalia  : I, 20, 13 ff. Als ein wesentlicher Vermittler der Triciput-Thematik wird Petrus Berchorius’ Repertorium morale, Buch XV, ins Feld geführt, das 1484 bei Colard Mansion in Brügge ohne Illustrationen erschien und illustriert dann unter dem Namen Thomas Valeys in den Metamorphosis Ovidiana moraliter, Paris 1511 bzw. in der Edition von 1515, fol. vi – vgl. Panofsky 1955, S. 157, Anm. 31–34. 82 Macrobius, Saturnalia I, 20, 13 ff.

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Anmerkungen 83 Zum Uroboros G. Pochat, Zeit/los, Zur Kunstgeschichte der Zeit, Köln 1999, Kat. Nr. 5–9, S. 120–131. 84 J. Seznec, The Survival of the Pagan Gods, Studies of the Warburg Institute, XI, London 1940  ; New York 1961, S. 170 ff., über Albrici philosophi liber ymaginum deorum und De deorum imaginibus libellus (Vat. Bibl., Reginensis 1290)  ; zur „Säkularisierung“ des ursprünglich moralisierenden Textes vgl. bes. ebd., S. 176 f.; Panofsky 1955, S. 157, Anm. 34. 85 In einer Reihe von Illustrationen hat Vincenzo Cartari in seinem Emblembuch Immagini delli Dei de gl’Antichi (Venedig 1556) den Urgott der Natur, Demogorgon, in seiner Höhle gezeigt, umgeben von dem Uroboros, der Schlange als Bild der Ewigkeit. Dem Bild beigefügt sind ferner die Schicksalsgöttin sowie die Sonne und der Mond. In einem anderen Holzschnitt sehen wir Apoll und die vielbrüstige „Natura“, von ihren Kindern umgeben. Demogorgon als Lehrmeister erläutert an einem Pult, von dem Uroboros eingeschlossen, den Gelehrten die Geheimnisse der Welt  : Alles stamme letztlich von Gott, auch die Veränderlichkeit der menschlichen Dinge. Zu guter Letzt wird auch Saturnus mit dem Uroboros gezeigt, der den Einfluss der Planeten auf die Welt und den Menschen repräsentiert. Über die Popularität dieser Figuren besteht kein Zweifel. Zur selben Zeit, als Cartaris Buch erschien, wurden in Florenz Festzüge abgehalten, in denen auch „die Höhle der Ewigkeit“ und „die Kinder des Demogorgon“ auf Wagen defilierten  ; vgl. Pochat im Ausstellungskatalog „Zeit/Los“, 1999, S. 126 f. und Abb. 7 und 8. 86 Panofsky 1955, S. 161 – zit. Pierio Valeriano, Hieroglyphica, 1556, Ausgabe Frankfurt 1678, S. 192 und 384 (Übersetzung des Autors). 87 G. Bandmann, Melancholie und Musik. Ikonographische Studien (Arbeitsgemeinschaft für Forschung des Landes Nordrhein-Westfalen, Wissenschaftliche Abhandlungen, Bd. 12), Köln-Opladen 1960. 88 Panofsky 1955, S. 167 f. 89 Ausstellungskatalog  : Titian, Venedig 1990, S. 348. 90 Ausstellungskatalog 2007, S. 290–292  ; zum Inhaltlichen  : Panofsky 1969, S. 50 f.; dort wird auf die bereits im 14. Jh. vollzogene Verschmelzung der Legende der hl. Margarethe mit der der hl. Martha, die mittels des Kreuzes den Drachen im Rhôneland besiegte, verwiesen. 91 Ausstellungskatalog 2007/2008, S. 292. 92 A. Gentili, Bellini and Landscape, in  : P. Humfrey (Hg.), The Cambridge Companion to Giovanni Bellini, Cambridge 2004, S. 167–181. 93 Ausstellungskatalog 2007/2008, S. 282, mit Hinweis auf Plinius d. Ä., Hist. nat. VIII, 139–140, und die zeitgenössische Emblematik – A. Henkel, A. Schöne 1967, col. 616–622. 94 V. Sapienza im Ausstellungskatalog Der späte Tizian 2007/2008, S. 347. 95 Ausstellungskatalog Der späte Tizian 2007/2008, S. 320. Das ursprünglich als Halbfigur konzipierte Gemälde wurde durch eine Anstückung auf eine ganze Figur erweitert, was der anatomischen Einheit aber keinen Abbruch getan hat – vgl. ebd., S. 368. 96 Carlo Ridolfi, Le Maraviglie dell’Arte, Venezia 1648  ; hg. von D. von Hadeln, 2 Bde., Berlin 1914–1924  ; Bd. 1, S. 189 – zit. I. Artemieva, Ausstellungskatalog 2007, S. 319. 97 N. Bonazza im Ausstellungskatalog 2007/2008, S. 217. 98 A. Gentili im Ausstellungskatalog 2007/2008, S. 352. 99 I. Artemieva im Ausstellungskatalog 2007/2008, S. 353. 100 Zu Lucretia vgl. Larsson 2012, S.  51 f.; weiters Ausstellungskatalog 2007/2008, S. 256 ff. 101 Ausstellungskatalog 2007/2008, S. 258. 102 Ausstellungskatalog 2007/2008, S. 270. 103 O. Brendel 1946, S. 67 ff. 104 G. Tschmelitsch, Harmonia est discordia concors, ein Deutungsversuch zur „Tempesta“ des Giorgione, Wien 1966. 105 Panofsky 1969, S. 169 f. 106 Panofsky 1969, S. 70. Jürgen Rapp hat die Oenone mit der Tempesta inVerbindung gebracht  : Die „Favola“ in Giorgiones Gewitter, Austellungskatalog Giorgione, Wien 2004, S. 119–124 (vgl. o. S. 52).

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107 W. Suida, Tizian, Leipzig, Zürich 1933, S. 121  ; M. Koos, Studien zu Tizians Nymphe und Schäfer aus dem Kunsthistorischen Museum in Wien (Dipl.-Arbeit, Kunsthistorisches Institut). Wien 1995. 108 Siehe Röntgenbild im Ausstellungskatalog „Der späte Tizian“, Wien 2007/2008, S. 114, Abb. 4, und E. Oberthaler, Tizians Spätstil anhand von Nymphe und Schäfer, S. 11–121. Was Tizians „Spätstil“ betrifft, hält Hans Ost die Verlautbarungen der Zeitgenossen, der Maler hätte sich gegen Ende seines Lebens verschlechtert, für ein Fehlurteil, das zu einem Topos geraten sei  : H. Ost, Zur Anwendbarkeit des Altersstilbegriffs, in  : ders., Tizian-Studien, Köln, Weimar, Wien 1992, S. 11 ff. 109 P. P. Bober, R. O. Rubinstein 1986, S. 72 ff. und Abb. 32  ; zum Deckenprogramm in der Stanza della Segnatura vgl. A. Chastel, Florence au temps de Laurent le Magnifique, Paris (1959) 1961, S. 472 ff. 110 Zu Ficino u. a. A. Chastel, Ficin et l’art, Genève, Lille 1954, II  ; ders. 1961, S. 279 f. 111 Eine Reihe von Forschern hat sich mit Tizians Marsyasdarstellung befasst  : E. Winternitz (1967) 1979, S. 150–165  ; Chastel 1961, S. 49 ff.; J. Neumann, Le Titien, Marsyas écorché vif, Praha 1962  ; E. Wind 1967, S. 171–176  ; Ph. Fehl, Realism and Classicism in the Representation of a Painful Scene  : Titian’s „Flaying of Marsyas“ in the Archiepiscopal Palace at Kromeriz, in  : Miloslav Rechcigl (Hg.)  : Czechoslovakia Past and Present, Vol. II, Essays on the Arts and Sciences, Den Haag, Paris 1968, S. 1387–1415  ; S. J. Freedberg, Il musicista punito. Il supplizio di Marsia, in FMR, 45 (1986), S. 139–152  ; J. Rapp, Tizians Marsyas in Kremsier. Ein neuplatonisch-orphisches Mysterium vom Leiden des Menschen und seiner Erlösung, in  : Pantheon, 45 (1987), S. 70–89  ; Gentili, Da Tiziano a Tiziano, Mito e allegoria nella cultura veneziana del Cinquecento, Milano (1980) 1988, S. 225–283  ; Ausstellungskatalog 1990, S. 370 f. (Nr. 76)  ; H. Ost, Die „Schindung des Marsyas“ – Modello, Abozzo, Spätwerk  ?, in  : Tizian-Studien. Köln, Weimar, Wien 1992, S. 111–178  ; R. Baumstark, P. Volk, Apoll schindet Marsyas. Über das Schreckliche in der Kunst. Adam Lehndhardts Elfenbeingruppe (Bayerisches Nationalmuseum), München 1995  ; Puttfarken 2005, S. 189–196  ; Ausstellungskatalog 2007, S. 272 ff., Nr. 2 mit weiteren Lit.-Hinweisen. Die kritischste Studie zum Bild, dessen Rezeption in der Kunstgeschichte und in der Moderne überhaupt hat Ost 1992 geliefert. Er weist bereits in der Einleitung darauf hin, dass Hetzer das Gemälde Tizian aberkannt und in seinem Buch über Tizians Farbe 1935 auch nicht später aufgenommen hat. Panofsky hat sich ebenfalls, allerdings eher aus emotional-ethischen Erwägungen heraus, nicht mit dem Gemälde befassen wollen, nicht zuletzt aufgrund der sadistischen Motive wie dem Blut leckenden Hündchen im Vordergrund (Ost 1992, S. 114 f.). Da Ost das Werk als ein modello um 1550 einstuft Dadurch wäre die Einstufung des Gemäldes als ein Spätwerk Tizians hinfällig – so auch die oft hervorgekehrte Porträtähnlichkeit zwischen Midas und den späten Selbstporträts des Malers iin Berlin und Madrid. Die Einschätzung von Ost hat sich aber nicht durchgesetzt. 112 Die Zeichnung befindet sich im Louvre (Inv. Nr. 3487) – vgl. Ausstellungskatalog 1990, S. 370. 113 Die antiken Textstellen werden von Winternitz 1979, S. 151, angeführt  : Apollodorus I, 4, 2  ; Ovid, Met. VI, und Plutarch, Alcib. II  ; Philostratos d. J., Imagines, 2. 114 Wie aus früheren Darstellungen bei Cima da Conegliano, Montagna, Andrea Schiavone u. a. hervorgeht, war die Zuordnung des Blasinstruments schwankend – oft wurde der Dudelsack (zampogna) zwecks Vergegenwärtigung als Blasinstrument eingesetzt – Winternitz 1979, S. 153 f. 115 Winternitz 1979, S. 152. 116 W. Tatarkiewicz, Geschichte der Ästhetik, I, Basel, Stuttgart 1979, S. 260 f.; zum phrygischen modus vgl. Bialostocki 1966, S. 19 f. 117 Chastel 1961, S. 481. 118 Chastel verweist auf den späteren Text von Gafurius  : De harmonia musi-

Anmerkungen corum intrumentorum, Milano 1512, S. 94, wo der alles umfangende Phoebus vorgestellt wird – Chastel 1961, S. 480 und Anm. 3  ; zu Gafurius’ Titelblatt der Practica musice (1496) vgl. E. Wind 1967, S. 129 f. 119 Vgl. Ausstellungskatalog 1990, S. 370 f. S. Ferino-Pagden spricht sich letztlich für die Selbstbezüglichkeit des Gemäldes aus, ja sie ist sogar geneigt, der Analogie von freigelegter Epidermis und Tizians Technik der Malschichten etwas abzugewinnen  ; womöglich handele es sich auch um eine philosophische Reflexion über Macht und Ohnmacht der Kunst – Ausstellungskatalog 2007, S. 272–275. 120 Bemerkenswert sind die vielen Anleihen, die Tizian in diesem letzten, unvollendeten Bild bei Michelangelo gemacht hat – Panofsky 1969, S. 25 ff. 121 G. Nepi Scirè im Ausstellungskatalog 1990, S. 373 f. (Nr. 77).

122 Hetzer 1935 grundsätzlich zum Spätstil  ; in Anbetracht der gebrochenen, zuweilen gar „unschönen“ Farbigkeit ist die Abqualifizierung des Marsyas aus rein koloristischen Gründen schwer nachzuvollziehen. 123 Pochat 1973, S. 475. H. Bergson, Zeit und Freiheit, Meisenheim 1949, S. 78 – zit. in Pochat, Bild/Zeit, I, 1996, S. 13  ; G. Simmel, Rembrandt, Ein Kunstphilosophischer Versuch, Leipzig (1916) 21919, S. 3 – zit. in Pochat, Bild/Zeit, I, 1996, S. 24. Zu der Farbfülle bei Rembrandt, die bei längerem Hinsehen immer mehr an Substanz und Leben gewinnt und somit „Zeit“ im Sinne von Werden, Erfüllung, Erleuchtung und „allhafter Grund“ konkretisiert, vgl. H. Theissing, Die Zeit im Bild, Darmstadt 1987, S. 224 f. Theissings Überlegungen ließen sich auch auf den Spätstil Tizians übertragen.

VI Tintoretto 1 H. Tietze, Tintoretto, 2 Bde., London 1938, 21947, S. 18  ; R. Pallucchini, P. Rossi, Tintoretto, le opere sacre e profane, 2 Bde., Milano 1982  ; C. Bernari, P. de Vecchi (Hg.), L’Opera completa del Tintoretto, Milano 1978  ; I. Emmrich, Tintoretto – Die Welt seiner Bilder, Leipzig 1988  ; R. Krischel, Tintoretto, Reinbek 1994. 2 Vgl. hierzu C. Gould, Journal of the Warburg and Courtauld Institutes, XXV (1962), S. 55–62  ; E. Forssman, Über Architekturen in der venezianischen Malerei des Ciquecento, in  : Wallraf-Richartz Jahrbuch, XXIX (1967), S. 105–139  ; G. Pochat, Theater und bildende Kunst, Graz 1990, S. 278–320  ; E. Mai, Paris Bordone 1500–1571. Motiv und Bedeutung. Architektur und Perspektive im Bild, Köln 1993. Auf den engen Bezug Tintorettos zum Komödiendichter Andrea Calmo und dem Theater überhaupt geht Roland Krischel ein  : Jacopo Tintoretto, Das Sklavenwunder, Bildwelt und Weltbild, Frankfurt a. M. 1994 (2), S. 17 f. 3 M. Frank, Architetture nelle opere die Jacopo Tintoretto, in  : Jacopo Tintoretto nel quarto centenario della morte a cura die Paola Rossi e Lionello Puppi, Padova 1996, S. 235–239. 4 R. Arnheim, Toward a Psychology of Art. Collected Essays, Berkeley, Los Angeles 1972, darin  : Perceptual and Aesthetic Aspects of the Movement Response, S. 74–89. 5 G. Monticolo, L’Apparitio Sancti Marci e i suoi manoscritti, in  : Nuovo Archivio Veneto, anno V, tomo IX, p. I (1895), bes. S. 160–163  ; vgl. Krischel 1994, S. 69, Anm. 1. Zur Kontaktnahme von 1542 und dem Brief Aretinos an den Maler vom April 1548 vgl. C. Bernari, P. de Vecchi, Tintoretto, Milano 1970, 21978, Kat. Nr. 64  ; D. Rosand, Painting in Cinquecento Venice. Titian, Veronese, Tintoretto. New Haven, London 1982, S. 182–190  ; zum frühen Entwurf des Markuswunders vgl. Krischel 1994 (2), Abb. 5. 6 Legenda aurea (hg. von R. Benz), Köln, Olten 1969, S. 312. 7 Stichreproduktion des Freskos von A. M. Zanetti 1755  ; vgl. Krischel 1994 (2), S. 24 f. und Abb. 8. 8 Krischel 1994 (2), S. 26 und Abb. 9. 9 Legenda aurea, 1969, S. 309. 10 C. Gilbert, On Subject and Not Subject in Italian Renaissance Pictures, in  : Art Bulletin 34 (1952), S. 202–216, bes. S. 211 f. 11 Legenda aurea, 1969, S. 309, wo die Jahreszahl 467 n. Chr.erwähnt wird, was angesichts der Stadtgeschichte Venedigs und der Baugeschichte San Marcos unsinnig ist.

12 Zur Ikonografie  : P. Humfrey, The Bellinesque Life of the St. Mark Cycle for the Scuola Grande di San Marco in Venice in its Original Arrangement, in  : Zeitschrift für Kunstgeschichte, 48 (1985), S. 225–242  ; E. Weddigen, Thomas Philologus – Ravennas Gelehrter, Wohltäter und Mäzen, in  : Saggi di Storia dell’arte, 9 (1974), S. 7–76 und 149–172. 13 R. Pallucchini, P. Rossi, Tintoretto. Le Opere Sacre e Profane, T. 1, Milano 1982. 14 Ch. de Tolnay, L’interpretazione di cicli pittorici del Tintoretto nella Scuola di San Rocco, in  : Critica d’Arte, VII (1960), S. 41. 15 P. P. Bober, R. O. Rubinstein, Renaissance Artists and Antique Sculpture. A Handbook of Sources, London 1986, S. 127 und Nr. 94. 16 Zu dieser grundlegenden Maxime von unitas und concordia im venezianischen Staatsgefüge vgl. H. Aurenhammer 1994, S. 47 f., mit Hinweis auf E. Muir, Civic Ritual in Renaissance Venice, Princeton 1981, S. 13 ff. und 65 ff. 17 C. Bernari, P. de Vecchi 1978, S. 116. 18 E. Wind, A Cycle of Love by Veronese, in  : Pagan Mysteries in the Renaissance, London 1958  ; Harmondsworth 1967, S. 272–275 sowie Abb. 43– 49  ; zu Panofskys Erörterung des sog. Marchese d’Avalos aus dem Louvre als ein Hochzeitsporträt und der Erziehung des Amor aus der Galleria Borghese vgl. Studies in Iconology, New York 1962, S. 161 f. und 165 f. Veroneses Darstellung der glücklichen Liebesbande war kurz zuvor, um 1560, von Paris Bordone ähnlich gestaltet worden  : Allegorie der Ehe mit Mars, Venus, Victoria und Cupido und im Pendantbild mit Mars, Venus, Flora und Cupido (Inv. Nr. 1685, Inv. Nr. 359 und Inv. Nr. 69  ; Kunsthistorisches Museum, Wien). 19 C. Ridolfi, Le maraviglie dell’arte (1648), hg. von D. von Hadeln, II, Berlin 1924, s. o. 20 C. Ripa, Iconologia (Roma [1603] 1618, (hg. P. Buscaroli), Mailand 1992, S. 420/421. 21 C. Ripa, Iconologia, 1992, S. 422, mit besonderem Hinweis auf die Trauben und das für den Herbst obligate Füllhorn. 22 Ripa, Iconologia, 1992, S. 423. 23 Vgl. Vitruvius, De architectura, Das Feuer-Machen, Nürnberg 1548, fol. 61  ; vgl. E. Panofsky, The Early History of Man, in  : Studies in Iconology, New York 1962, S. 33 ff.; G. Pochat, The Classical Tradition and the Depiction of the Indian in the Sixteenth Century, in  : Kunst, Kultur, Ästhetik. Gesammelte Aufsätze, Wien 2009, S. 310 f.

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Anmerkungen

VII Veronese 1 Vgl. Mt 26, 6–13  ; Mk 14, 3–9. Zu Veronese allgemein  : D. von Hadeln, Paolo Veronese. Aus dem Nachlass des Verfassers hg. von G. Schweikhart, Florenz 1978  ; dazu  : G. Schweikhart, La monografia Paolo Veronese di Detlef von Hadeln alla luce della ricerca più recente, in  : Paolo Veronese. Fortuna critica und künstlerisches Nachleben (hg. von J. Meyer zur Capellen und B. Roeck), Sigmaringen 1990, S. 1–5  ; R. Pallucchini, Veronese. Bergamo 1943  ; ders. Paolo Veronese. Padova 1963/64  ; Ausstellungskatalog  : Veronese, Miti, ritratti, allegorie. Milano 2004/05. 2 A Documentary History of Art (hg. von E. Gilmore Holt), II  : Michelangelo and the Mannerists, The Baroque and the Eighteenth Century, New York (1947) 1958, S. 65–70, bes. S. 67. 3 Cl. Strinati, Veronese e il manierismo, in  : Ausstellungskatalog  : Veronese, Milano 2005, S. 33. 4 Th. Hetzer, Paolo Veronese. Römisches Jahrbuch für Kunstgeschichte, Bd. IV (1940)  ; auch in Th. Hetzer, Aufsätze, Vorträge, Leipzig 1957, I, S. 75– 136, bes. S. 106. 5 Hetzer 1957, I, S. 109 und 118. 6 Allgemein zu Veronese Hetzer 1957, I, S. 78 f. 7 John Ruskin, Diary, I–III (hg. von J. Evans, J. H. Whitehouse). Oxford 1956–1959  ; zit. II, S. 437  ; vgl. E. Forssman, Venedig in der Kunst und im Kunsturteil des 19. Jahrhunderts (Acta Universitatis Stockholmiensis,

Stockholm Studies in History of Art, 22), Stockholm 1981, S. 61  ; allgemein zu Ruskins Sicht auf Veronese  : D. Rosand, Il Veronese di Ruskin, in  : Paolo Veronese (hg. von Meyer zur Capellen), Sigmaringen 1990, S. 17– 29. 8 Franz Kugler, Handbuch der Malerei seit Constantin dem Großen, 2. Aufl. (bearbeitet von Jacob Burckhardt), Bd. 2. Berlin 1847, S. 65  ; angeführt von W. Schlink, Paolo Veronese  : Existenzmalerei bis zu ihren höchsten Konsequenzen (Jacob Burckhardt), in  : Paolo Veronese, Katalog (hg. von Meyer zur Capellen), Sigmaringen 1990, S. 7–15, zit. S. 7. 9 J. Burckhardt, Der Cicerone. Eine Anleitung zum Genuss der Kunstwerke Italiens, Stuttgart 1955  ; Neudruck  : Stuttgart 1964, S. 933  ; der ganze Passus zitiert von Forssman 1971, S. 83. 10 Schlink 1990, S. 10. 11 Schlink 1990, S. 11. 12 Als repräsentatives Beispiel für die Einstufung der Historienmalerei im 19. Jh. in Bezug auf die Revitalisierung des geistigen Lebens sei hier auf Friedrich Theodor Vischer verwiesen  : G. Pochat, Friedrich Theodor Vischer und die zeitgenössische Kunst, in  : Ideengeschichte und Kunstwissenschaft. Philosophie und bildende Kunst im Kaiserreich (hg. von E. Mai, S. Waetzoldt, G. Wolandt), Berlin 1983, S. 99–131. 13 Schlink 1990, S. 15.

VIII Vielansichtigkeit und figura serpentinata 1 J. G. Herder, Plastik. Einige Wahrnehmungen über Form und Gestalt aus Pygmalions bildendem Traum, Riga 1778, S. 20  ; vgl. Pochat, Bild/Zeit, I, 1996, S. 134. 2 Herder 1778, S. 20. 3 Grundlegend für den Aspektbegriff und die ästhetische Bedeutung der Vielansichtigkeit in Bezug auf die Plastik im 15. und 16. Jahrhundert ist die Studie von L. O. Larsson  : Von allen Seiten gleich schön. Studien zum Begriff der Vielansichtigkeit in der europäischen Plastik von der Renaissance bis zum Klassizismus (Acta Universitatis Stockholmiensis – Stockholm Studies in History of Art, 26), Stockholm 1974 4 I. A. Richter, Paragone, A Comparison of the Arts by Leonardo da Vinci. Oxford 1949, § 43 f.; vgl. Larsson 1974, S. 20, Anm. 14. 5 Vasari, Le Vite, Firenze (1906) 1973, IV, S. 98. Im Vorwort zu den Viten (I, S. 41) wird ebenfalls die Paragonefrage in Bezug auf Plastik und Malerei angesprochen. 6 Vincenzo Borghini, Il Riposo, in cui della pittura e della scultura si favella, Firenze 1584, S. 31 und 371 ff.; zit. Larsson 1974, S. 55. 7 J. Holderbaum, A Bronze by Giovanni Bologna and a Painting by Bronzino, Burlington Magazine, 98 (1956), S. 439 ff.; Larsson 1974, S. 56. 8 Larsson 1974, S. 39–53. 9 Die einschlägigen Texte finden sich in P. Barocchi, Scritti d’arte del Cinquecento, I (La letteratura italiana, storia e testi, Bd. 52), Milano, Napoli 1971  ; eine Auswahl von Texten in Larsson 1974, S. 17–38 (Kapitel „Aspektkriterien und Paragone“). 10 Benvenuto Cellini, Due Trattati, Firenze 1568 (der Discorso auf S. 60/61)  ; vgl. Larsson 1974, S. 22 und S. 99, Anm. 22. 11 Der ganze Text, hier nur auszugsweise referiert, findet sich in Lomazzos Trattato, Milano 1584. Nachdruck  : Hildesheim 1968, I, S. 33 f.; vgl. weiter Larsson 1974, S. 12 und 97, Anm. 1. 12 William Hogarth, The Analysis of Beauty. Written with a view of fixing the fluctuating ideas of taste, London 1753  ; kommentierte Ausgabe von J. Burke, Oxford 1955. Nach Burke hat Hogarth seine Überlegungen zur Schlangenlinie zunächst unabhängig von Lomazzo entwickelt. Zu Ho-

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garth auch G. Pochat, Geschichte der Ästhetik, Köln 1986, S. 388 f. und Abb. 48. 13 Plato, Timaios, Teil 1  ; vgl. S. Toulmin, J. Goodfield, The Architecture of Matter, Aylesbury 1962  ; schwed.: Materiens arkitektur, Stockholm 1964. Die Illustrationen S. 74-77 wurden übertragen und adaptiert in Pochat, Geschichte der Ästhetik 1986, S. 24 /25,. Fig. 2. 14 Larsson 1974, S. 16. 15 Larsson 1974, S. 17. 16 Text in Barocchi, Trattati …, I, 1960, S. 71 ff. zit. Larsson 1974, S. 18. 17 Barocchi, Trattati …, I, 1960, S. 63 ff. zit. Larsson 1974, S. 18. 18 Plinius d. Ä., Hist. Nat. xxxvi, 20  ; zit. Larsson 1974, S. 24. 19 Vincenzo Borghini, Il Riposo, 1584  ; Borghinis Ausführungen entstammen dem Kapitel Principi di scultura, S. 25 ff. und S. 146  ; zit. Larsson 1974, S. 24, Anm.25 20 Vasari, Vite (1973), Bd. VII, S. 494  ; vgl. auch die Introduzione della pittura in Bd. 1 der Vite, 1973, S. 170, wo es um die Umrisslinien „intorno, intorno“ geht. Reuter hat sich in seiner Besprechung der Plastik auf Pomponius Gauricus’ De sculptura von 1504 berufen, der besonders „den Übergang einer Bewegung in eine Stellung“, d. h. in eine „statuarische Dauer“, als besonders lobenswert hervorgehoben habe (vgl. G. Reuter 2012, S. 39 und Anm. 150 – zit. Ausgabe Leipzig 1886, S. 213). Es geht Gauricus nicht so sehr um die plastische Rundform, sondern um die Bewegungsdarstellung in der Plastik. Dementsprechend dreht sich der Diskurs bei Reuter in seiner Habilitationsschrift Statue und Zeitlichkeit 1400–1800 (Petersberg 2012) in erster Linie um die Bewegungsdarstellung in diesem eigentlich statuarischen Medium, nicht um die Vielansichtigkeit der Form  ; deshalb spielt auch die Serpentinatafigur in seiner Studie eine untergeordnete Rolle. Die zitierte Beschreibung von Gauricus wird von Reuter auf Jacopo Sansovinos Bacchus bezogen. Hier darf einschränkend vermerkt werden, dass die Plastik erst sechs bis acht Jahre nach Gauricus’ Traktat geschaffen wurde. 21 Rosenauer, Donatello, Milano 1993, S. 176, unter Verweis auf Heinrich Wölfflin, Über Abbildungen und Deutungen. Gedanken zur Kunstgeschichte, Basel 1940, S. 66.

Anmerkungen 22 Rosenauer 1993, S. 176. 23 Rosenauer 1993, S. 249 f. 24 E. Lein, Ars Aeraria, Die Kunst des Bronzegießens und die Bedeutung von Bronze in der florentinischen Renaissance, Mainz 2004, S. 208. 25 Rosenauer 1993, S. 250, auch mit Hinweis auf Larsson 1974. 26 Leonardo, Trattato della Pittura, Treatise on Painting (Codex Urbinas Latinus 1270, hg. von Ph. McMahon), 1-2, Princeton 1956, Bd. I, S. 40–44, Abschnitte 54-58, 27 A. Schnitzler, Die Relevanz der Paragonefrage im 20. Jahrhundert (Diss.), Graz 2003, S. 81–111 (vgl. hier insbesondere die Auseinandersetzung zwischen Clemens Greenberg und Robert Morris). 28 Vgl. J. Shearman, Mannerism, Harmondsworth 1967, S. 21 ff. 29 Shearman 1967, S. 81 f. 30 Larsson 1974, S. 83 f. 31 Ausstellungskatalog  : Giambologna 1529–1608. Ein Wendepunkt der europäischen Plastik, Wien 1978, Nr. 29. Zur Dynamik der Figuren und den Übergangsstufen von der Bewegung zum Stillstand vgl. Reuter 2012, S. 42 f. Zu den Ruhe- und Wendepunkten vgl. Reuter 2012, Anm. 157, auch mit Hinweis auf Ph. J. W. Henkes Analyse der Laokoongruppe, Leipzig, Heidelberg 1862, S. 16. Zu den „Inferenzen“, d. h. der Beteiligung des

Betrachters bei der Wahrnehmung des prägnanten Moments am Beispiel des Laokoons, vgl. W. Wolf, Ein Standbild als illusionistische Erzählung. Reflexionen über Möglichkeiten und Grenzen skulpturaler Mimesis, in  : Kunst, Kritik, Geschichte. Festschrift für Johann Konrad Eberlein, Berlin 2013, S. 303–412, bes. S. 405. 32 Ch. Avery, Giovanni da Bologna, Oxford 1987, S. 107. 33 Ausstellungskatalog  : Giambologna, Wien 1978, Nr. 1, 5, 12, 36  ; Avery 1987, Nr. 52, 55, 65 und Nr. 5. 34 Ausstellungskatalog  : Giambologna, Wien 1978, Nr. 33, 34 und 35  ; L. O. Larsson, Zwei Frühwerke von Adrian de Vries, in  : Netherlandish Mannerism (Nationalmusei Skriftserie, N. S., 4), Stockholm 1985  ; Avery 1987, Nr. 30. 35 Avery 1987, Nr. 30, 68 und 72. 36 Vasari, Vite (1906) 1973, Bd. VII, S. 629. 37 Ausstellungskatalog  : Giambologna, Wien 1978, Nr. 58  ; Avery 1987, Nr. 78 und 80. 38 Ausstellungskatalog  : Giambologna, Wien 1978, Nr. 57 und 57a  ; L. O. Larsson, Adrian de Vries – Adrianus Fries Hagiensis Batavus, 1545–1626, Wien, München 1967, Abb. 169 und 171.

IX Pieter Bruegel der Ältere 1 C. G. Stridbeck, Bruegelstudien. Untersuchungen zu ikonologischen Problemen bei Pieter Bruegel d. Ä. sowie dessen Beziehungen zum niederländischen Romanismus (Acta Universitatis Stockholmiensis, Stockholm Studies in History of Art, II), Stockholm 1956. 2 Zu Vasari, der schon zwischen Naturnachahmung und Klassizismus im Sinne der bereits vorgenommenen „Reinigung“ des Naturvorbildes oszilliert und die Begriffe concetto und perfezione verwendet, vgl. J. von Schlosser, La letteratura artistica, Firenze 1964, S. 326 f. 3 G. Pochat, Geschichte der Ästhetik und Kunsttheorie von der Antike bis zum 19. Jahrhundert, Köln 1986, S. 298–305 (mit Quellen- und Literaturhinweisen). 4 E. Panofsky, Idea. Ein Beitrag zur Begriffsgeschichte der älteren Kunsttheorie (1924), Berlin 1960, S. 38. 5 Stridbeck 1956, S. 20 und 22. 6 E. J. Sluijter, Belering en verhulling  ? Enkele 17d – eewse teksten over de schilderkunst en de ikonologische benadering van de Noordnederlandse schilderijen uit deze periode, in  : De Zeventiende Euw. Cultuur in de Nederlanden in interdisciplinaer perspectief, 4 (1988), S. 3–28  ; J. Becker, Der Blick auf den Betrachter, Mehrdeutigkeit als Gestaltungsprinzip niederländischer Kunst des 17. Jahrhunderts, in  : L’Art et les révolutions, XXVIIe Congrès international d’histoire de l’art, Strasbourg 1989–1992, Bd. VII, S. 77–92. 7 J. Müller, Das Paradox als Bildform. Studien zur Ikonologie Pieter Bruegels des Älteren, München 1999, S. 21 ff. 8 Müller 1999, S. 23 ff. 9 Müller 1999, S. 27, unter Berücksichtigung des 89. Paradoxons in Sebastian Franck, Paradoxa (hg. von S. Wollgast), Berlin 1966, S. 143–144. 10 Müller 1999, S. 32. 11 Müller 1999, S. 32. 12 S. Seidel Menchi, Erasmo  : Adagia. Sei saggi politici in forma di proverbi, Torino 1980, S. 312, Anm. 3 – zit. Müller 1999, S. 100  ; vgl. auch die Bibliografie zu S. Seidel Menchi. 13 G. Santangelo, Il Petrarchismo del Bembo e di altri poeti del ’500, Roma, Palermo 1962. 14 Pochat, Ästhetik 1986, S. 265 (mit weiteren Literaturhinweisen). 15 Erasmus von Rotterdam, Enchiridion militis christiani – Handbüchlein ei-

nes christlichen Streiters, Übersetzung und Einleitung von Werner Welzig, in  : Erasmus. Ausgewählte Schriften, Bd. I, Darmstadt (1968) 42006, S. 56–374  ; zur Thematik grundsätzlich  : J. Müller 1999, S. 91 f. 16 Stridbeck 1956, S. 40 ff. 17 D. Cantimori, Eretici italiani del ’500, Roma 1939  ; dt.: Italienische Häretiker der Spätrenaissance (übers. von Wener Kaegi), Basel 1949  ; C. Ginzburg, Il Nicodemismo. Simulazione e dissimulazione religiosa nell’ Europa del ’500, Torino 1970  ; J. Müller, Pieter der Drollige oder der Mythos vom Bauern-Bruegel, in  : Ausstellungskatalog  : Pieter Breughel d.  J., Jan Brueghel d. Ä., Kunsthistorisches Museum, Wien 1997/98, S. 52 f. (dort auch weitere Hinweise). 18 F. O. Büttner, ‚Argumentatio‘ in Bildern der Reformationszeit. Ein Beitrag zur Bestimmung argumentativer Strukturen in der Bildkunst, Zeitschrift für Kunstgeschichte 57/1 (1994), S. 23–44. 19 Müller 1999, S. 94 ff., mit Verweis auf Platos Das Trinkgelage oder Über den Eros (Übertragung, Nachwort und Erläuterungen von Uwe Schmidt-Berger), Frankfurt a. M. 1985, 215a–b  ; zu den Sileni Alcibiadis in der popularisierten Fassung von Erasmus  : Müller 1999, S. 97 ff. 20 Erasmus, Das Lob der Torheit (dt.: Alfred Hartmann), in  : Ausgewählte Schriften, Bd. 2 (hg. von Werner Welzig), Darmstadt 1975, S. 1–211. 21 Die entscheidende Passage findet sich in der Adagia-Ausgabe der Opera omnia, Leyden (hg. von Clericus 1703–1706), Nachdruck 1961, II, S. 771  ; vgl. die Wiedergabe von Müller 1999, S. 98 f. und S. 99, Anm. 1. 22 Müller 1999, S. 125. 23 Stridbeck 1956, S. 43–61  ; J. Grauls, Volkstalen Volksleven in het werk van Pieter Bruegel, Amsterdam, Antwerpen 1957  ; J. Müller 1999, S. 56–76. 24 Stridbeck 1956, S. 52 ff. 25 Erasmus, Über die Notwendigkeit einer frühzeitigen allgemeinen Charakter- und Geistesbildung der Kinder, in  : Ausgewählte pädagogische Schriften (hg. von Anton J. Gail), Paderborn 1963, S. 107–168, hier S. 115, zit. von J. Müller 1999, S. 60, Anm. 3. 26 Müller 1999, S. 69. 27 Allerdings kann die erloschene Kerze auch zugleich als Verweis auf die Menschwerdung Christi und das Opfer gesehen werden  ; vgl. die Referenzen zum Mérodealtar in Pochat, Bild/Zeit, II, 2004, S. 129 f.

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Anmerkungen 28 Sebastian Franck, Paradoxa (hg. von S. Wollgast), Berlin 1966, S. 34 – zit. Müller 1999, S. 75. 29 Philippe und Françoise Roberts-Jones, Pieter Bruegel der Ältere, München 1997, S. 14 f. und Abb. 9 und 10. 30 G. Glück, Das große Bruegel-Werk, Wien, München (1932), 41963, S. 37, Nr. 1. 31 Vasari, Vite, 1550, Buch III, 7  ; vgl. Chr. Hornig, Giorgiones Spätwerk, München 1987, S. 122 f. 32 G. Glück 1963, S. 95 f., Nr. 49  ; Roberts-Jones 1997, S. 286. Der Typus der Schiffe in dem frühen Bild in der Galleria Doria in Rom entspricht dem seit 1500 gängigen Typus der Karracke, im Norden als „Hulk“ oder „Holk“ bezeichnet – ein Rundschiff mit einem abgeflachten Heckspiegel (vgl. Hornig 1984, S. 125 f.). Aus diesem Schiffstypus hat sich dann die Galeone mit einer gewaltigen Fock, wie wir sie von den späteren Stichen Bruegels her kennen, ausgebildet – vgl. Hornig 1984, S. 129, Abb. 463. 33 H. Bergson, Zeit und Freiheit, Meisenheim 1949, S. 78  ; vgl. Pochat, Bild/ Zeit, I, 1996, S. 13. 34 Roberts-Jones 1997, S. 287 ff. und 292. 35 Glück 1963, S. 44. 36 Roberts-Jones 1997, S. 286. 37 Roberts-Jones sprechen hier von „der Vorstellung der Dauer“ (Roberts-Jones 1997, S. 21), was in diesem Falle im Sinne der Unversehrtheit des Vogels im Gegensatz zu Ikarus zu verstehen sein dürfte. 38 Müller 1999, S. 39. 39 E. Auerbach, Sermo humilis, in  : Literaturansprache und das Publikum in der lateinischen Spätantike und im Mittelalter, Bern 1958, S. 25–53 – zit. S. 31. Der Begriff wird in einem ausführlichen Diskurs über den zuweilen dunklen und widersprüchlichen biblischen christlichen Stil gewürdigt  ; vgl. Müller 1999, S. 33–35. 40 Müller 1999, S. 32. Zu den einschlägigen Beiträgen zum Thema der Gattungshierarchie gehören über die vielen Beiträge zur Poetik auch die folgenden kunsttheoretischen Überlegungen  : H.-J. Raupp, Ansätze zu einer Theorie der Genremalerei in den Niederlanden, in  : Zeitschrift für Kunstgeschichte, 46 (1983), S. 401–408  ; N. Michels, Bewegung zwischen Ethos und Pathos. Zur Wirkungsästhetik italienischer Kunsttheorie des 15. und 16. Jahrhunderts, Münster 1988  ; J. Becker 1992 (vgl. Anm. 6). 41 Müller 1999, S. 38 ff. 42 H. Sedlmayr, Die „Macchia“ Pieter Bruegels, in  : Epochen und Werke. Gesammelte Schriften zur Kunstgeschichte, I. Wien, München 1959, S. 274–318. 43 Bei G. Jedlicka ist allerdings von „Bühnenrequisiten“ die Rede  : Pieter Bruegel. Zürich 1938, S. 70. 44 Vgl. Glück 1963, S. 54 (mit Literaturhinweisen)  ; weiters Müller 1999, S. 40 f. 45 Stridbeck 1956, S.  185–191  ; in ähnlicher Weise Hindmann 1981, S. 447 ff., und Müller 1999, S. 45. 46 S. Hindmann, Pieter Bruegel’s ‚Children’s Games, Folly and Chance’, in  : Art Bulletin, 53 (1981), S. 447–475. 47 Stridbeck 1956, S. 186 f. 48 Branden, J.-P. van den, Les jeux d’enfants de Pierre Bruegel, in  : Les Jeux à la Renaissance. Études réunies par Ph. Ariès et Jean-Claude Margolin, Paris 1982, S. 499–524. 49 Hindmann 1981, S. 453. 50 Müller 1999, S. 48. 51 Zitiert bei Müller 1999, S. 49, mit dem Hinweis, dass der besagte Brief in der holländischen Übersetzung sich großer Beliebtheit erfreute. 52 Müller 1999, S. 52 f. 53 Müller 1999, S. 52, unter besonderer Berücksichtigung von Frank Olaf Büttners Analyse der Konvergenz von Simultaneität und Erzählzeit  : ‚Argumentatio‘ in Bildern der Reformationszeit (1994  ; wie Anm. 18). 54 Roberts-Jones 1997, S. 297 f. 55 Mander, Karel van, Het Schilderboeck, Haarlem 1604, fol. 234r  ; Baste-

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laer, R. van, Hulin de Loo, G., Pieter Bruegel l’Ancien, son œuvre et son temps. Etude historique suivie des catalogues raisonnés, 2 Bde., Bruxelles 1907, S. 326. 56 Roberts-Jones 1997, S. 82–89. 57 Roberts-Jones 1997, S. 89. 58 M. Sullivan, Bruegel’s Peasants. Art and Audience in the Northern Renaissance, New York 1994, S. 133  ; kritisch dazu Müller 1999, S. 76 ff. 59 G. Pochat, Theater und bildende Kunst im Mittelalter und in der Renaissance in Italien, Graz 1990, S. 167 ff. (mit weiterführender Literatur). 60 Pochat 1990, S. 199 f. 61 Siehe auch Stridbeck 1956, S. 179. 62 G. Pochat, Zeit/Los, Zur Kunstgeschichte der Zeit, Köln 1999, S. 202. 63 Zu Chronos-Satzurn vgl. E. Panofsky, Studies in Iconology (1939), New York 1962, S. 81 ff. 64 G. Glück 1963, S. 59  ; Roberts-Jones 1997, S. 104. 65 Müller 1999, S. 78–81. 66 Vgl. Pochat 1986, S. 264 f. 67 Müller 1999, S. 78, mit weiteren Literaturhinweisen und Textbelegen. 68 Robert-Jones 1997, S. 89 ff. und 98 ff. 69 R. Marijnissen, Bruegel. Tout l’œuvre peint et dessiné, Antwerpen, Paris 1988, S. 192  ; Roberts-Jones 1997, S. 96. 70 Roberts-Jones 1997, S. 97–98, zit. nach H. J. Noewdorp, Over de interpretatie van Pieter Bruegel’s Dulle Griet, Venlo 1985. 71 G. Glück 1963, S. 57. 72 Roberts-Jones 1997, S. 99. 73 E. Grossmann, Pieter Bruegel. Complete Edition of the Paintings, London 1955, S. 195 ff. 74 Sebastian Franck, Paradoxa, Nr. 12 und 13  – zit. Grossmann 1955, S. 29 ff.; Stridbeck 1956, S. 249. 75 Müller 1999, S. 45 f. 76 Grossmann 1955, S. 139  ; Stridbeck 1956, S. 248. 77 Flavius Josephus, Antiquitates Judaicae, Erstes Buch, Kap. 4 (hg. von H. Clementz), Wiesbaden 51983, S. 31/32. 78 So etwa im Stundenbuch des Herzogs von Bedford von 1423 (London, British Library, Ms Add. 18850, fol. 17v  ; vgl. Roberts-Jones 1997, S. 248, und die Farbtafel ebd., S. 248, Nr. 279). 79 Fouquets Miniatur zu den Antiquités Judaïques in Bibl. Nat. fr. 247, Paris  ; vgl. dazu P. Naredi- Rainer, Salomos Tempel und das Abendland. Monumentale Folgen historischer Irrtümer, Köln 1994, S. 112 f. 80 Hier ziehen Roberts-Jones (1997, S. 249) einen Vergleich zu Patinirs Rast auf der Flucht nach Ägypten, um 1500, Staatliche Museen, Berlin 81 Naredi-Rainer 1994, S. 64, Abb. 21, und S. 85, Abb. 39 und 40  ; man siehe auch den Kupferstich von Jan Wierix nach Abraham Ortelius aus Antwerpen  : ebd., S. 168, Abb. 8. 82 Müller 1999, S. 138 f.; R. Falkenberg, Pieter Bruegel’s ‚Kruisdraging‘  : een prove van close-reading, in  : Oud Holland, 107,1 (1993), S. 17–33. 83 Vgl. Horocco y Covarrubias, Juan de, Emblemas Morales, Segovia 1589, III, Nr. 3 (Staatsbibl. Berlin, Nr. 7687)  ; A. Henkel, A. Schöne, Emblemata, Handbuch zur Sinnbildkunst des XVI. und XVII. Jahrhunderts, Stuttgart 1967, Taschenausgabe Stuttgart 1996, col. 1241  ; zur Interpretation der Mühle als „Bild der Völlerei“ vgl. Stridbeck 1956, S. 117, unter Verweis auf das einschlägige Buch von D. Bax, Ontcijfering van Jeroen Bosch, S’Gravenhage 1949. 84 Ch. de Tolnay, Studien zu den Gemälden von Pieter Bruegel d. Älteren, in  : Jahrbuch der Kunsthistorischen Sammlungen in Wien, N. F., VIII (1934), S. 105–135, bes. S. 120  ; Stridbeck 1956, S. 357, Anm. 35  ; H.-H. Mann, Überlegungen zum Thema „Zeit“ bei Pieter Bruegel d. Ä., in  : Augenblick und Zeitpunkt. Studien zur Zeitstruktur und Zeitmetaphorik in Kunst und Wissenschaften (hg. von Chr. W. Thomsen, H. Holländer), Darmstadt 1984, S. 198–207, bes. S. 200  ; Mann stuft das Mühlrad als Symbol der Zeit schlechthin ein.

Anmerkungen 85 Dementsprechend in Erasmus’ Handbüchlein (hg. von Welzig), 2006, Bd. I, S. 199  ; auch zit. von Müller 1999, S. 137  ; die Blindheit vor dem eigenen Tun wird auch von Falkenberg betont  : Falkenberg 1993, S. 27. 86 Vgl. auch F. O. Büttner, Imitatio Pietatis. Motive der christlichen Ikonographie als Modelle zur Verähnlichung, Berlin 1983, passim  ; ders. 1994, S. 23–44. 87 Stridbeck 1956, S. 250. 88 Müller 1999, S. 141. 89 Sebastian Franck, Paradoxa (hg. von S. Wollgast), Berlin 1966, S. 171 f., Nr. 106  ; zit. Müller 1999, S. 141/142. 90 Müller 1999, S. 142. 91 Müller 1999, S. 140. 92 Stridbeck 1956, S. 252. 93 Glück 1963, S. 83  ; Roberts-Jones 1997, S. 141. 94 K. Demus in  : A. Balis et al., La peinture flamande au Kunsthistorisches Museum de Vienne, Wien, Antwerpen, Zürich 1987. 95 Apostelgesch. 9, 3–5. 96 Glück 1963, S. 84  ; Roberts-Jones 1997, S. 254. 97 Die Figur des Wahrsagers wurde übrigens in vielen Kopien des Gemäldes weggelassen – vgl. Glück 1963, S. 84. 98 Stridbeck 1956, S. 274. Stridbeck sucht in seiner Abhandlung mehrfach den Einfluss der Romanisten auf den späteren Bruegel nachzuweisen. 99 Mann 1984, S. 206. 100 Mann 1984, S. 205. 101 Mann 1984, S. 200. 102 Mann 1984, S. 202  ; die Interpretation ließe sich mit Augustinus’ Definition des „Augenblicks“ vergleichen – vgl. Einleitung, S. 9. 103 Ähnlich die Beurteilung von Roberts-Jones 1997, S. 45  ; zu Pieter Bruegels Landschaften  : J. Müller-Hofstede, Zur Interpretation von Bruegels Landschaft, Ästhetischer Landschaftsbegriff und stoische Weltbetrachtung, in  : Pieter Bruegel und seine Welt, Berlin (1975) 1979, S. 73–142. 104 1586 hat Lucas van Valckenborch eine Winterlandschaft (Jänner oder Feber) im Schneegestöber ausgeführt  : Kunsthistorisches Museum, Wien, Inv. Nr. 1084  ; vgl. Die Gemäldegalerie des kunsthistorischen Museums in Wien. Verzeichnis der Gemälde (hg. von S. Ferino-Pagden, W. Prohaska, K. Schütz). Wien 1991, Taf. 342  ; erörtert von A. Wied, Lucas und Marten van Valckenborch. Freren 1990, Nr. 51. 105 Roberts-Jones 1997, S. 129. 106 Roberts-Jones 1997, S. 129. 107 Vgl. Roberts-Jones 1997, 129, mit Verweis auf L. Campbell, The Early Flemish Pictures in the Collection of Her Majesty the Queen, Cambridge 1985, S. 14. 108 Robert-Jones 1997, S. 129. 109 J. C. Webster, The Labors of the Months in Antique and Medieval Art, Princeton 1938  ; O. Pächt, Early Italian Nature Studies and the Early Calendar Landscape, in  : Journal of the Warburg and Courtauld Institutes, XIII (1950), S. 13–47, bes. S. 39 ff.; G. Pochat, Figur und Landschaft, Berlin 1973, S. 123 f. sowie Stichwort „Kalenderbilder“. 110 Pochat, Zeit/Los, Köln 1999, S.  190 ff. und Kat.-Nr. 40–45  ; K. S. Meetz, ‚Tempora Triumphant‘. Ikonographische Studien zur Rezeption des antiken Themas der Jahresprozession im 16. und 17. Jahrhundert und zu seinen naturphilosophischen, astronomischen und bild­ lichen Voraussetzungen (Diss.), Bonn 1992  ; H. M. Kaulbach, R. Schleier, ‚Der Welt Lauf‘. Allegorische Graphikserien des Manierismus. Ausstellungskatalog Staatsgalerie Stuttgart, Stuttgart 1997, S. 117–119, Kat.-Nr. 1–4. 111 Zur Neuorientierung des Menschen im 16. Jahrhundert vgl. A. O. Lovejoy, The Great Chain of Being, New York (1936) 1965, Kap. III und IV. 112 Vgl. H. M. Kaulbach, R. Schleier 1997, S. 120–122 und Kat.-Nr. 29. 113 Pochat, Zeit/Los, 1999, S. 208–210, Kat.-Nr. 43.

114 Roberts-Jones 1997, S. 176 und Fig. 193. 115 Roberts-Jones 1997, S. 49, Fig. 58 und 59. 116 Robert-Jones 1997, S. 21 und S. 152. Hinweis auf J. Denucé, De Antwerpsche ‚Konstamers‘. Inventarissen van kunstverzamelingen te Antwerpen in de 16e en 17e eeuwen, II  : „Bronnen voor de geschiedenis van de Vlaamse kunst“, Antwerpen 1932, S. 5  ; R. H. Marijnissen (Hg.), Bruegel. Tout l’œuvre peint et dessiné. Antwerpen, Paris 1988, S. 5  ; Iain Buchanan, The Collection of Niclaes Jongelinck, II  : The ‚5 Months‘ by Pieter Bruegel the Elder, Burlington Magazine, CXXXII (August 1990), S. 541–550. 117 K. Demus 1981, S. 86–94  ; Roberts-Jones 1997, S. 15  ; vgl. auch J. Müller 1997/98, S. 52. 118 Müller 1999, S. 78 f. 119 Siehe Lovejoy 1965, S. 99–143 (The Principle of Plenitude and the New Cosmography)  ; E. Panofsky, Idea (1924), 1960, S. 61 ff.; E. Garin, Der italienische Humanismus, Bern 1947 (bes. das Kapitel über die Naturphilosophie des 16. Jahrhunderts). 120 Roberts-Jones 1997, S. 256. 121 M. Dvořák, Kunstgeschichte als Geistesgeschichte, München 1964, S. 223 und 239  ; G. Glück 1963, S. 66. 122 Stridbeck 1956, Abb. 62. 123 Stridbeck 1956, S. 220. 124 Stridbecks negative Deutung der meisten Einzelheiten (Stridbeck 1956, S. 22) geht auf F. Grossmann zurück  : Pieter Bruegel. Complete Edition of the Paintings, London (1955), 31973. 125 Henkel/Schöne, Emblemata, 1996, c. 1392. 126 Stridbeck 1956, S. 220 f. 127 Stridbeck 1956, S. 225 und Abb. 66. 128 J. Müller, Bild und Zeit – Überlegungen zur Zeitgestalt in Pieter Bruegels Bauernhochzeitsmahl, in  : Erzählte Zeit und Gedächtnis. Kunsthistorisches Jahrbuch Graz, 29/30 (hg. von G. Pochat, B. Wagner), Graz 2005, S. 72–81, bes. S. 74. 129 Stridbeck 1956, S. 228  ; vgl. K. Demus in A. Balis et al. La peinture flamande, Zürich 1987, S. 96  ; Roberts-Jones 1997, S. 264. 130 Zitat bei Stridbeck 1956, S. 227, nach Sebastian Franck, Weltbuch, S. cxxviii b  ; vgl. auch Coornhert, Recht Gebruyck ende Misbruyk van tydlycke have, Leiden 1585, S. 7. 131 Müller 2005, S. 78, hat den Mann am Tischende hypothetisch mit Hans Franckert identifiziert, jenem Kaufmann, mit dem sich der Maler nach Karel van Mander angeblich unter das Volk gemischt hat, um diese Gesellschaftsschicht genauer zu studieren  : Het Schilder Boeck, Haarlem 1604 – dt.: Hanns Floerke, Worms 1991, S. 154. 132 Müller 2005, S. 76, unter Verweis auf  : Nikolaus von Kues, Gespräch über das Seinkönnen (Übersetzung, Nachwort und Anmerkungen von Hans Rupprich), Stuttgart 2000, S. 16. 133 Vgl. Pochat, Bild/Zeit, I, 1996, S. 10 ff. 134 Ch. de Tolnay, Einführung in das Werk des Hieronymus Bosch. Wiesbaden 1965, S. 70. 135 Müller 2005, S. 77 f. 136 A. Weismann, Was hört und sieht der Dudelsackpfeifer auf der Bauernhochzeit  ? Bemerkungen über ein allzu bekanntes Gemälde von Pieter Bruegel, in  : Schweigen. Unterbrechung und Grenze der menschlichen Wirklichkeit (hg. von D. Kamper, Chr. Wulf – Historische Anthropologie, Bd. 18), Berlin 1992, S. 225–245. 137 Müller 2005, S. 78. 138 R. Huyghe, Dialogue avec le visible, Paris 1955, S. 150  ; zit. Roberts-Jones 1997, S. 30. 139 Pochat, Erlebniszeit …, 1984, S. 37 ff.; ders., Bild/Zeit, I, 1996, S. 24. 140 Pochat 1984, S. 35  ; ders., Bild/Zeit, I, 1996, S. 25. 141 S. Karling, The Attack by Pieter Bruegel the Elder in the Collection of Stockholm University, in  : Konsthistorisk Tidskrift, XLV, Stockholm

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Anmerkungen 1976, S. 1–18  ; ders. The Stockholm University Collection of Paintings, Uppsala 1978, S. 62–65. 142 Tolnay 1935, S. 71, Anm. 101, verweist auf den Putto Michelangelos. Der Zusammenhang wird m. E. mit Recht von Glück (1963, S. 87) bezweifelt. Der klassische Kontrapost trägt hier natürlich grundsätzlich dazu bei, den bald folgenden Sturz der Figur als unausweichlich erscheinen zu lassen. 143 Vgl. Stridbeck 1956, S. 252  ; L. Behling, Die Pflanze in der Tafelmalerei, Wismar 1957, S. 38/39  ; Henkel/Schöne, Emblemata, 1967, c. 308. 144 Glück 1963, S. 87  ; Stridbeck 1956, S. 98, mit Hinweis auf Bax’ Deutung von Boschs Antoniusaltar, 1949, S. 198 f. 145 K. Boström, Das Sprichwort vom Vogelnest, in  : Konsthistorisk Tidskrift, 18 (1949), S. 77–89  : Accipimus per salices infructuosae sunt arbores, hominis peccatores infructuosis  ; vgl. Glück 1963, S. 86. 146 Zur Ikonik siehe H. Sedlmayr, Pieter Bruegel  : Der Sturz der Blinden, in  : Epochen und Werke, I, Wien, München 1960, S. 319–356  ; R. Arnheim, Art and Visual Perception. London 1972, S. 62, fig. 71. 147 Karel van Mander, Het Schilder Boeck, Haarlem 1604, fol. 234r  : „Er hinterließ ihr testamentarisch ein Bild mit einer Elster auf einem Galgen. Mit der Elster meinte er die bösen Zungen, die er dem Galgen weihte.“ R. H. Marijnissen, M. Seidel, Bruegel le Vieu, Bruxelles 1969  ; dt.: Pieter Bruegel der Ältere, Stuttgart, Zürich 1984  ; deutsche Übersetzung aus der Ausgabe des Schilder Boeck von 1617, mit Anmerkungen von Hanns Floerke, Worms 1991, S. 152–157. 148 Dittrich, S. und L., Lexikon der Tiersymbole. Tiere als Sinnbilder in der Malerei des 14.–17. Jahrhunderts, Petersberg 2005, S. 97 f., mit bes. Verweis auf M. Lurker, Wörterbuch der Symbolik, Stuttgart 1988, S. 814  ; K. Ertz im Ausstellungskatalog Pieter Brueghel d. J. – Jan Brueghel d. Ä., Flämische Malerei um 1600 (Museen in Essen, KHM Wien, Antwerpen), Essen, Wien 1997, S. 392–393  ; zum Verhältnis des Malers zu sei-

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ner Frau und dem Anekdotischen bezüglich ihrer Ehe vgl. auch Müller ebenda, S. 53. 149 Hier is gewoel en wildernis, By God al ons verlangen is  : Wy leven hier in smert en pijn, By Godt sal onse ruste zijn. Subscriptio des Emblems mit dem Kranich über den Regenwolken in Dirck Pietersz Pers, Bellerophon, Amsterdam 1614, S. 11  ; Henkel/Schöne, Emblemata, 1996, c. 823. 150 Prospicit atque fugit fortunae flamina prudens, Ceu fugit inbriferos Ardea celsa notos. Subscriptio des Emblems mit dem Reiher über den Regenwolken unter dem Motto Natura dictante feror aus Joachim Camerarius d. J., Symbolorum et Emblematum … collecta, Nürnberg 1596, III, Nr. 42  ; Henkel/Schöne, Emblemata, 1996, c. 826. 151 Tolnay 1935, S. 45. 152 Müller 1999, S. 114. 153 Müller 1999, S. 144, mit Hinweis auf das einschlägige Buch von H. W. Janson, Apes and Ape Lore in the Middle Ages and the Renaissance (Studies of the Warburg Institute, 20), London 1952, S. 154–156. 154 Müller 1999, S. 144. 155 M. A. Sullivan, Pieter Bruegel the Elder’s Two Monkeys  : A New Interpretation, in  : Art Bulletin, 63 (1981), S. 114–126  ; zur Kritik  : Müller 1999, S. 146 f. 156 Sebastian Franck, Paradoxon 91, in  : Paradoxa (hg. von S. Wollgast), Berlin 1966, S. 123 – zit. Müller 1999, S. 151. 157 Müller 1999, S. 154. 158 Stridbeck 1956, S. 147, paraphrasiert Erasmus’ Auführungen im Lob der Torheit (Ausgewählte Schriften, Bd. 2, hg. von W. Welzig, Darmstadt 32006, S. 69). 159 Unter Spes steht  : Iucundissima est spei persuasio et vitae imprimis / necessaria inter tot aerumnas peneq intolerabilissimas (Stridbeck 1956, S. 148, mit kleineren orthografischen Abweichungen).

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Namenregister (vor 1950) Agnello, Onorato 161 Agrippa, Heinric Cornelius 30, 56, 62, 407, 427 Aimo, Domenico 214 Alanus von Lille 45, 406, 427 Alarich 219 Alba (Herzog) 366 Alberti, Leon Battista 64, 415, 416 Albizzi, Giovanna degli..79 Albubather 63 Albumasar 63 Alciatus, Andrea 34, 46, 405, 419, 127 Aldobrandini, Pietro 229 Aleander 216 Alexander der Große 23, 219-223, 218-224 Alexander III. (Papst) 169, 224 Alexander VI. Borgia (Papst) 246, 248, 359, 397 Alhazen (Ibn-al-Haytam) 20, 403, Altdorfer, Albrecht 40, 41, 49, 122, 132-136, 139, 183, 184, 217-224, 281, 359, 396, 397, 407, 413, 416, 417, 427, 435 – 437 Amerbach 33 Antico, Andrea 334 Apelles 82, 84, 265, 411, Apian Peter 34 Aretino Pietro 254, 255, 272, 410 Ariosto Ludovico 273 Aristoteles 53, 61, 63, 69, 233, 253, 256, 292, 322, 409, 416, 427 Armenini, Francesco 215 Arnheim, Rudolf 7, 16-18, 23, 302, 388, 398, 400, 402, 421, 426, 439, 477, 448 Arrianus, Flavius 220, 230 Attila 210 211, 214 Augurelli Aurelio 61, 409, 427 Augustinus 8, 9, 24, 26, 44, 144, 151, 165, 279, 284, 306, 341, 349, 382, 396, 401, 405, 425, 427 Avalos, Alfonso d’ 236, 255, 417, 428 Avalos, Don Francesco Ferrante 227 Aventinus (Johannes Thurmayr) 220 Averoldi, Altobello 250, 251 Averroes 60, 61 Bandinelli, Baccio 321 Barbaro, Ermolao 340 Barbarossa, Friedrich (Kaiser) 224 Barbieri, Filippo de´ 156, 416 Barthes, Roland 25 Bartolini, Giovanni, 323 Bartolomeo, Fra 49, 67, 240, 298, 418 Bassano, Jacopo (da Ponte) 312 Becker, Oskar 14-16, 340, 402, 423, 424, 428 Bellini, Gentile 202, 224 Bellini, Giovanni 48, 224, 239, 240, 251, 252 Bembo, Pietro 51, 67, 75, 272, 273, 340, 355, 410, 411, 423, 428, 436 Benivieni, Girolamo 411, 434 Berchorius, Petrus 84, 411, 419, 428 Bergson, Henri 8-13, 20, 23, 50, 103, 205, 245, 389, 400 – 402, 404, 407, 421, 424, 428 Bernini, Gianlorenzo 336

Bernward von Hildesheim 147 Beuys, Joseph 23 Birgitta (hl.) 284 Bloemen, Jan Frans van 409, 432 Boccaccio 352 Bocchi, Achilles 81, 167 Boethius 66 Bonaventura 155, 442 Bonifaz VIII. (Papst) 214 Borcht, IV, Pieter van der 378, 381 Bordone, Paris 311, 421, 433 Borghini, Vincenzo 308, 321, 323, 419, 422, 428 Bosch, Hieronymus 87, 348, 352, 353, 355, 356, 382, 424, 425, 428, 436 Botticelli, Sandro 48, 51, 82, 145, 310, 408 Bovillus, Carolus (Bouelles, Charles de) 35, 36, 60, 89, 408-410, 412, 428 Bragadin, Domenico 61 Bramante, Donato 212, 253 Brant, Sebastian 348, 396 Brentano, Franz 12-14, 277,400, 401 Breu, Jörg d. Ä. 139 Bronzino, Agnolo 28, 82-85, 182, 321-323, 422, 432 Bruegel, Pieter d. Ä. 5, 28, 37, 41, 104, 195-198, 199, 220, 317, 339-394, 423-426 Brueghel, Pieter d. J. 426, 427 Bruno, Giordano 406, 408, 437 Buon, Bartolomeo 298 Buontalenti, Bernardo 334 Burckhard, Johannes 414 Burckhardt, Jacob 318, 422, 429, 433, 436 Burgkmair, Hans d. Ä. 40, 136, 137, 396 Burke, Edmund 422, 432 Caesar 220, 255, 413 Calder, Alexander 23 Calderón, Pedro 349 Calmo, Andrea 421 Camerarius, Joachim d. J. 46, 391, 392, 426 Camillo, Giulio 410 Campagnola, Giulio 49, 61, 64, 288, 444 Campanus, Johannes 351 Campin, Robert (Flémalle-Meister) 113 Cara, Marchetto 67 Caravaggio da Merisi 26, 253, 256, 299, 314, 419, 436 Carducho, Vincente 229 Carnevali, Domenico 146 Carpacci, Vittore 47, 51, 202, 406, 407, 418, 433, 435 Carracci, Annibale 253 Cartari, Vincenzo 420, 429 Casali, Fra Germano da 250 Cassirer, Ernst 13, 401, 408, 429 Castelli, Enrico 404, 429 Castiglione, Baldassare 267 Cattani da Diacceto, Fra 62, 63 Catullus 240 Cavalieri, Tommaso 164, 415 Cecco d’Ascoli 33, 64 Cellini, Benvenuto 161, 163, 321-323, 422, 429, 445

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Namenregister (vor 1950) Celtis, Konrad 413 Chelidonius, Benedictus 102, 107, 111, 118 Cicero 201, 226, 340, 355, 416 Cigoli, Lodovico 251 Cima da Conegliano 51, 420 Clemens VII. (Papst) 158, 160-163, 174, 176, 214, 215, 306, 414, 430, 445 Cock, Hieronymus 341, 348, 352, 359, 361, 372, 382, 425 Cocles, Horatius 220 Coecke van Aelst, Pieter 367 Colonna, Francesco 46-49, 51, 58, 82, 407, 408, 435 Colonna, Vittoria 163, 165, 415, 427, 429, 430 Condivi, Ascanio 158, 160-163 Contarini, Taddeo 163 Coornhert, Dirck 341, 342, 380, 425, 429 Corinth, Lovis 18 Cornaro, Caterina 52 Correggio 258 Cort, Cornelius 286 Cortese, Paolo 355 Cranach, Lucas d. Ä. 30-32, 105, 126 Creußner, Fritz 217 Cuccina (Familie) 317 Curtius,Marcus 230 Cézanne, Paul 403 Dante Alighieri 158, 293 Darius 222, 223, 359, 397 Dinteville, Jean de 28 – 30, 33-39, 177, Dolce, Lodovico 64, 224, 253, 265, 266, 272, 407, 409-410, 417, 430, 434 Domenichino, (Zampieri) 409, 432 Domitian (Kaiser) 86, 96 Donatello 74, 207, 320, 323-324, 329, 331, 422, 435 Dossi, Dosso 240, 244 - 246, 418 Du Bos, Abbé 44 Durandus 45 Dürer, Albrecht 86-123, 132-139, 222, 223, 234, 321, 348, 382, 396, 410411, 417, 430 Eakins, Thomas 440 Egidio da Viterbo 144, 146, 155, 156, 216, 414, 430, 434 Ehrenfels, Christian von 16, 402, 430, 437 Engel, Johann 33 Erasmus 30-38, 35, 340, 341 Este, Alfonso d’ 239-245, 418, 427, 428, 432, Este, Isabella d’ 240, 242, 243 Euklid 60, 61 Euripides 236 Eyck, Jan van 45, 113. 135, 235. 406, 434 Farinati, Paolo 308 Farnese, Alessandro 230, 233, 234, 253, 272 Farnese, Orazio 440 Farnese, Ottaviano 230, 268, 440 Fechner, Theodor 10 Fernando, Don 230, 265, 419 Ferrante, Don Francesco 227 Ferrari, Gaudenzio 125, 139, 140, 396, 413 Ficino, Marsilio 48, 61 – 63, 77, 78, 95, 206, 236, 289, 291, 293, 406, 408, 409, 411, 412, 414, 430, 431, 437 Fiedler, Conrad 10, 19, 20, 395, 401, 430 Floris, Frans 354, 355,

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Fontana, Giulio 224, 229, 417 Fouquet, Jean 360 Francesca, Piero della 41, 166, 200, 201, 203, 234 Francesco delle Opere 72 Franck, Sebastian 37, 219, 340, 342, 351, 353, 359, 364, 381, 392, 406, 423, 424, 426, 430 Franckert, Hans 367, 383, 425 Francucci, Simone 276 Franziskus, Hl. 45. 48, 250 François I. (König v. Frankreich) 82 Frey, Dagobert 7, 400, 409, 431 Frey, Karl 155, 415, 433 Friedrich der Weise (Kurfürst) 412 Friedrich von Sachsen (Kurfürst) 228 Froben, Johann 30 Fugger, Jakob I. 118 Gadamer, Hans-Georg 9, 24. 38. 39, 40, 172, 394, 400-406, 428, 431 Gaddi, Agnolo 200 Gafurius, Franchino 293, 420, 421, 431 Galenus 61 Galle, Philipp 342, 352, 353, 372, 373 Gauricus, Pomponius 422, 431 Geiger, Moritz 402 Ghiberti 25 Ghirlandaio, Domenico 227 Gioliti 266 Giorgi, Francesco 64 Giorgione 39-41, 48, 49-76, 81, 178, 179, 235, 236, 240, 260, 268, 274, 289, 308, 321, 322, 344, 395, 407 Giotto 20, 25, 50, 103, 118, 147, 224, 382, 395, 403, 404, 406, 409, 413, 429, 432 Giovanni da Bologna 332-337, 340, 423, 428 Giovanni da Udine 240 Giovio, Paolo 211, 216 Giraldi, Lilius Gregorius 67, 69, 409, 431 Goes, Hugo van der 117, 368, 376, Gonzaga, Federigo 282, Goya 18 Gozzo, Luigi 250, 251 Grassis, Paris de´ 156, 414, 415, 431 Gravina, Gian Vincenzo 44 Greco, El, 26, 315 Gregor von Nyssa 392 Grimani, Domenico 72, 74 Grimani, Marino 72 Gritti, Andrea 225, 226 Grünewald, Matthias 122, 124 Grüninger, Johannes 87 Hannibal 230 Heemskerck, Marten van 321, 372, 407, 432 Heidegger, Martin 8, 13, 15, 38, 400, 401, 403, 431 Heinvogel, Konrad 33 Henri II. (König) 233 Henry VIII. (König) 33 Herder, Johann Gottfried 9, 44, 45, 320, 321, 338, 401, 406, 422, 432 Herri met de Bles 364, 367 Heyden, Pieter van der 372 – 374 Hieronymus 59, 87, 108, 150, 282, 283 Hoefnagel, Georg 347

Namenregister (vor 1950) Hogarth, William 322, 338, 398, 422, 432 Holbein, Hans d. J. 28-39, 40, 340, 395, 404 – 406, 427, 428, 432, 439 Hollanda, Francisco de 432 Hollar, Wenzel 72 Honorius von Autun 174, 415 Horaz 32, 44, 316, 416 Horocco y Covarubbias, Juan de 424, 432 Hrabanus Maurus 29, 155 Huber, Wolf 49, 127 Hugo von St. Viktor 27, 44, 56, 117 368 Husserl, Edmund 7, 12 – 14, 21, 279, 400, 402, 403, 428, 432, 437 Huys, Frans 300 300, 344

Lomazzo, Giampaolo 322, 332, 336, 422, 433 Lombardo, Antonio 245, 418, 427, 428, 432 Lombardo, Pietro 245 Lorenzo da Pavia 407 Lorrain, Claude 409, 432 Lotto, Lorenzo 75-78, 410 Louis XII. (König v. Frankreich) 214 Ludolph von Sachsen 284 Lukian 80, 392 Lull, Ramon 409, 428 Luther, Martin 30, 31, 34, 35, 37, 163, 207, 219, 240, 342, 405, 514, 416, 427, 436

Innozenz III. (Papst) 45 Innozenz IX. (Papst) 244

Macrobius 51, 79, 80, 79, 280, 411, 419, 433 Mander, Carel van r52, 367, 377, 424 – 426, 433 Manet, Edouard 18 Mansion, Colard 348, 419 Mantegna, Andrea 67, 68, 406, 413, 414, 435 Manutius, Aldus 348 Marcello, Hieronymus 57 Marey, Etienne-Jules 23 Margarete von Habsburg 259, 282 Maria von Burgund 132, 137 Maria von Ungarn 233, 259, 282, 308 Marini, Marino 221 Masaccio 25 Massolo, Lorenzo 260 Massys, Quentin 32, 405 Maurer, Peter (Abt) 123, 124 Maximilian I. (Kaiser) 100, 132-139, 413-427, 433 Maximilian II. (Kaiser), 229, 334 Medici, Cosimo de’ 212 Medici, Francesco de’ 332 Medici, Giovanni de’ (später Leo X.) 211 Medici, Giuliano de´ 166-174 Medici, Giulio de´ 230, 231 Medici, Lornezo de´ 170-174 Mela, Pomponio 63 Melanchton, Philip 32, 433 Memling, Hans 235. 255. 364 Merleau-Ponty, Maurice 13 – 15, 400 – 403, 433 Michelangelo Buonarroti 40, 42, 141-176, 184, 187, 203, 205, 208, 245, 259, 294, 308, 316, 320-323, 329, 330, 332, 334, 336, 413, 414-416, 421, 422, 429, 430, 434, 435 Michiel, Marcantonio 53, 57, 58, 72, 407, 408, 434 Miller, Johannes 139 Momper, Joos de 345 Montagna, Bartolomeo 420 Montefeltro, Federigo da 56, Montelupo, Raffaello 174, 415 Montorsoli, Giovanni Angelo 174, 415 Moroni, Giovanni 163 Morus, Thomas 30, 33, 35 Muybridge, Eadweard 23

Jacques, Pierre 321 Jamblichus 63 Jan van Amstel 361, 364 Johanna von Kastilien 132 Johannes XXII (Papst) Jongelinck, Nicolas 425. 428 Josephus, Flavius 360, 361, 424, 432 Julius II. della Rovere (Papst) 34, 42, 72, 144 – 146, 151, 155-157, 174, 205, 207-211, 214, 397, 414, 430 Jung, C. G. 24 Kandinsky, Wassily 18, 19, 401, 403, 428 432 Kant, Immanuel 9, 10, 404 Karl der Große (Kaiser) 217 – 220 Karl V. (Kaiser) 162, 163, 190, 229, 230, 232, 233, 258, 268, 397, 434, Kempis, Thomas a Kirkegaard, SØren 12 Klee, Paul 19, 402, 432 Klein, Yves 23 Koberger, Anton 8 7, 412 Koffka, Kurt 17 Köhler, Wilhelm 17, 402 Konstantin (Kaiser) 200, 216 Kopernikus, Nikolaus 375 Kratzer, Nikolaus 29, 33, 405 Kugler, Franz 318, 422, 433 Langer, Susanne K. 13, 14, 18, 136, 139, 221, 346, 375, 389, 401, 402, 433 La Tour, Georges. 419, 436 Lebrun, Charles 216 Lefèvre d’Etaples 62 Lemberger, Georg 217 Leo I. (Papst) 210, 211, 214 Leo III. 27, 212 – 215 Leo IV. (Papst) 213 – 215 Leonardo 224, 313, 320, 321, 324-327, 229, 331, 396, 406, 410, 422, 423, 433, 435, 438 Leone Ebreo 74, 80, 162, 163, 411, 417, 411, Leoni, Leone 162, 153 Leopold,( Erzherzog) 59 Leo X. (Papst) 72, 157,209, 211-216, 230, 397, 414, 416 Lessing, Gotthold Ephraim 26, 44, 402, 404 Limbourg, Pol de 371 Lipps, Theodor 16, 17, 401, 402, 404 Livius 55, 286

Nani (Casa) 286 Nero (Kaiser) 96 Nikolaus V. (Papst) 162 Nikolaus von Kues 30, 38, 61, 341, 382, 406, 408, 412, 425, 431, 432, 434 Nimrod (König) 39, 360 Nitsch, Hermann 23

441

Namenregister (vor 1950)

Orley, Barend van 380 Orosius 219 Orselli, Cristoforo Ortelius, Abraham 341, 377, 424 Ovid 51, 55, 236, 262, 266, 290, 292, 347, 348, 419, 420, 431, 434, 435 Pacher, Michael 127, 131, 413, 427 Pagnini, Sante 14, 431, 437 Palladio, Andrea 165, 415, 430 Palma, Il Giovane 76, 294, 309, 344 Paracelsus 62, 64, 409, 434 Pater, Walter 69, 70, 409, 434 Patinir, Joachim 49, 361 Paul III. (Papst) 158, 163, 230, 231, 233 Paulus 32, 33, 36, 37, 122, 141, 158, 161, 202, 216, 265, 366, 367 Penni, Francesco 213, 214 Pers, Dirck Pietersz 391, 426 Perugino, Pietro 154, 158, 224 Peruzzi, Baldassare 253, 254 Pesaro, Benedetto 248, 418, 427, 435 Pesaro, Francesco 250 Pesaro, Jacopo 246-250, 248, 249 Petrarca, Francesco 51, 56, 75-78, 273, 340, 411 Petrucci, Ottaviano de’ 434 Pherekydes 60 Philipp der Schöne (Burgund), 355 Philipp II. (König) 229-233, 258, 260, 262, 2667, 268, 271, 273, 283, 286 Philologus, Thomas 421, 437 Philostratos d. Ä. 216, 217 Philoxenos 223 Pico, Gianfrancesco 340 Pico della Mirandola 67, 77-80, 89, 149, 206, 340, 408, 411, 414, 415, 417, 434 Pinder, Ulrich 400, 412 Pino, Paolo 321 Pinturicchio 154 Pius II. (Papst) 200 Plantin, Christoph 341 Platina, Bartolomeo 37, 416 Plato 46, 69, 292, 293, 420, 422, 435 Plinius d. Ä. 32, 55, 80, 329, 420, 422, 435 Plotin 442 Plutarch 236, 420 Pole, Reginaldo 163 Poliziano, Angelo 340 Pollaiuolo, Antonio 331, 442 Pollock, Jackson 18 Pordenone, Giovanni 410, 433 Porsenna 220 Porta, Giambattista della 202 Praxiteles 56, 80 Previtali, Andrea 252 Prierias 216 Pseudo-Bonaventura 442 Pseudo-Longinos 416 Pseudo-Magriti 406, 434 Ptolemaios 61, 63, 64 Pythagoras 60 Quentell, Heinrich 87

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Raffael 40, 41, 51, 63, 78, 80, 157, 162, 165, 205-216, 230, 240, 253, 265, 280, 290-293, 296, 297, 310, 325, 327, 397, 416, 418, 432, 437 Raimondi, Marcantonio 111, 293, 326 Rangone, Tommaso 300, 302, 303 Ranke, Otto von 216, 404 Regiomontanus (Johannes Müller) 63, 64, 435 Rembrandt 8, 26, 436 Reuwich, Erhard 362 Riario, Raffaello (Kardinal) 207 Ribera, José 256, 419, 436 Ridolfi, Carlo 224, 310, 311, 420, 421, 435 Ripa, Cesare 80, 84, 85, 289, 310, 312, 342, 410, 411, 431 Rogier van der Weyden 135, 158, 235 Romano, Giulio 155, 313, 314, 215, 216, 227, 258, 259, 292, 297, 417, 428, 436 Rosselino, Bernardo 279 Rossi, Bernardo de’ 75, 76 Rossi, Lodovico de’ 230, 231 Rosso Fiorentino 327, 328 Rota, Martino 36, 251, 252, Rovere, Francesco Maria della 46, 47, 442 Rovere, Guidobaldo della 268 Rubens, Peter Paul 26, 203, 226, 243, 418, 428 – 430, 432 Rucellai, Giovanni 56 Rufus, Curtius 220 Ruskin, John 318, 422, 435, 436 Salomon, Bernard 153 Salviati, Francesco 331 Sannazaro, Jacopo 51, 272 Sansovino, Andrea 254, 239 Sansovino, Francesco 224, Sansovino, Jacopo 323, 324, 329, 330 Sanudo, Giulio 259 Scaevola, Mucius 220 Schedel, Hartmann 132, 220, 230, 233 Schelling, Friedrich W. J. 9, 401 Schiavone, Andrea 308, 420 Schiller, Friedrich von 318 Schlegel, Friedrich 417 Schleiermacher, Friedrich 403 Schöner, Johannes 33, 34, 65 Schongauer, Martin 126 Scipio Africanus 220 Scotus, Johannes 174, 341 Sebastiano del Piombo 59 Selim I. (Sultan) 250 Selve, Georges de 28, 29, 33, 34, 38, 177 Seneca 279 Serbelloni, Gabriele 228,234 Serlio, Sebastiano 359, 360, 254, 260, 268, 431, Sforza, Ludovico (il Moro) 75, 405 Sidney, Philip 136 Silvester I. (Papst) 215, 216 Simmel, Georg 11, 205, 421, 436 Sixtus IV. (Papst) 27, 141, 144, 146 156 – 158, 200, 206, 396 Slevogt, Max 18 Springinklee, Hans 136 Stabius, Johannes 132, 138 Stenbock, Johann Gabriel 334

Namenregister (vor 1950) Suleiman II. (Sultan) 327 Tebaldeo, Antonio 51, 272 Thales 60 Theokrit 51 Tiberius (Kaiser) 255 Tintoretto 18, 26, 41, 194, 281, 296-315, 317, 318, 380, 395, 398, 421, 428, 430, 433 Tizian 24, 26, 29, 40, 41, 43, 47, 51, 53, 57, 58, 65, 66, 68, 73, 80-82, 188189, 190-193, 224-295, 300, 301, 307, 308, 310, 315, 317, 392, 395, 397, 398, 407-411, 415, 417-421, 427, 438 Tory, Geofroy 30 Trevisano, Bernardo 61, 63 Tromboncino, Bartolomeo 67 Tura, Cosmè 67, 271 Uccello, Paolo 203 Urban IV. (Papst) 207 Valckenborch, Lucas van 425 Valdés, Juan de 163, 165 Valeriano, Pierio 46, 256, 280, 389, 410, 420, 437 Valerius Maximus 236 Valey, Thomas 419 Varchi, Benedetto 149, 158, 272, 321, 424, 437 Vartoman, Ludovico 139 Vasari, Giorgio 49, 67, 68, 84, 158, 173, 207, 212, 214, 224, 228, 229, 235, 260, 268, 284, 300, 321, 323, 334, 339, 344, 407, 409, 411, 415, 416, 419, 422 – 424, 431, 437 Vecellio, Horatio 281

Vecellio, Marco 281 Velazquez 226 Vendramin, Gabriele 53, 72, 73 Verdelot 409 Vergil 51 Vergilius, Polydorus 60 Veronese 309, 310, 316-319, 421, 422, 427, 431-437 Vesalius, Andrea 375 Vigerio della Rovere, Marco 146 Vischer, F. Th. 50, 407, 422, 435, 437 Vitruvius 253, 421, 437 Voragine, Jacobus de 412, 433 Vries, Adrian de 336,423, 433 Warham, William 32 Weizsäcker, Viktor von 14, 15, 17, 42, 402, 403 Wertheimer, Max 17, 402 Weyden, Rogier van der 135, 158, 235, 364 Whitford, Richard Wierix, Gebrüder 350, 424 Wilhelm IV. (Herzog von Bayern) 220 Willaert, Adriaen 243 Winckelmann, Johann Joachim 44, 406, 437 Zeuxis 32, 265 Ziani, Sebastiano (Doge) 204 Zurbarán 419, 436

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Abbildungsverzeichnis 1

Hans Holbein d. J., Doppelbildnis von Jean de Dinteville und Georges de Selve: Die Gesandten, 1533. National Gallery, London (Farbtafel I). 2 Hans Holbein d. J., Der erlösungsbedürftige Mensch vor dem Gesetz und der Gnade, ca. 1535. National Gallery of Scotland, Edinburgh. 3 Vittore Carpaccio, Francesco Maria della Rovere, 1510. Museo Thyssen-Bornemisza, Madrid. 4 Giovanni Bellini, Gethsemane, um 1460. National Gallery, London. 5 Giorgione (Umkreis), Der Astrologe, um 1500. Phillips Memorial Gallery, Washington. 6 Anonymus, Caterina Cornaro und ihr Hof zu Asolo, ca. 1500. Attingham Park. 7 Giorgione, La Tempesta, ca. 1506. Accademia, Venedig (Farbtafel II). 8 Giorgione, Die Dresdner Venus, ca. 1508. Staatliche Gemäldegalerie, Dresden. 9 Quellnymphe. Hypnerotomachia Poliphili, Venedig 1499. 10 Giorgione, Die drei Philosophen, ca. 1508. Kunsthistorisches Museum, Wien (Farbtafel III). 11a Carolus Bovillus, Liber de intellectu (1510). Nürnberg 1514, fol. 60v. 11b Carolus Bovillus, Liber de intellectu (1510). Nürnberg 1514, fol. 2v. 12 Giulio Campagnola, Der Astrologe, ca 1500.. 13 Giorgione, Concert champêtre, ca. 1508/09. Louvre, Paris (Farbtafel IV). 14 Poesia. Tarocchi di Mantegna, ca. 1468. 15 Giorgione, La Vecchia, ca. 1506. Accademia, Venedig. 16 Lorenzo Lotto, Allegorie, ca. 1505. Kress Collection, National Gallery, Washington. 17 Lorenzo Lotto, Laura (Traum eines Mädchens), 1505. Kress Collection, National Gallery, Washington (Farbtafel V). 18 Raffael, Die drei Grazien, 1504/05. Musée Condé, Chantilly. 19 Raffael, Der Traum Scipios, 1504/05. National Gallery, London. 20 Tizian, Die Himmlische und die irdische Liebe, ca. 1515. Galleria Borghese, Rom. 21 Der Sarkophag von Adonis. Hypnerotomachia Poliphili, Venedig 1499. 22 Angelo Bronzino, Allegorie, ca. 1538. National Gallery, London (Farbtafel VI). 23 Albrecht Dürer, Das Martyrium des Evangelisten Johannes. Apokalypse, 1496/97. 24 Albrecht Dürer, Johannes’ Thronsaalvision. Apokalypse, 1496/98. 25 Albrecht Dürer, Vision der offenen Himmelspforte. Apokalypse, 1496. 26 Albrecht Dürer, Die vier himmlischen Reiter. Apokalypse, 1497/98. 27 Albrecht Dürer, Die Öffnung des fünften und sechsten Siegels. Apokalypse, 1497/98. 28 Albrecht Dürer, Die vier beschützenden Engel. Apokalypse, 1497/98. 29 Albrecht Dürer, Sieben Posaunenengel. Apokalypse, 1496/97. 30 Albrecht Dürer, Die vier strafenden Engel. Apokalypse, 1496/98. 31 Albrecht Dürer, Der starke Engel. Apokalypse, 1498. 32 Albrecht Dürer, Das Sonnenweib und der Drache. Apokalypse, 1497. 33 Albrecht Dürer, Der Kampf Michaels mit dem Drachen. Apokalypse, 1498. 34 Albrecht Dürer, Zwei Tiere verführen die Menschheit. Apokalypse, 1496/97. 35 Albrecht Dürer, Das Opferlamm und die 144.000 Gerechten. Apokalypse, 1496/97. 36 Albrecht Dürer, Die Hure Babylon. Apokalypse, 1496/97. 37 Albrecht Dürer, Wegsperrung des Drachens, Das himmlische Jerusalem. Apokalypse, 1497/98. 38 Albrecht Dürer, Der Schmerzensmann und der Landsknecht. Große Passion, 1511.

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39 40 41 42 43 44 45 46 47 48 49 50 51 52 53 54 55 56 57 58 59 60 61 62 63 64 65 66 67 68 69 70 71 72 73 74 75 76 77

Albrecht Dürer, Das letzte Abendmahl. Große Passion, 1510. Albrecht Dürer, Christus am Ölberg. Große Passion, 1496/97. Albrecht Dürer, Gefangennahme Christi. Große Passion, 1510. Albrecht Dürer, Geißelung Christi. Große Passion, 1496/97. Albrecht Dürer, Schaustellung Christi. Große Passion, 1498. Albrecht Dürer, Kreuztragung. Große Passion, 1498/99. Albrecht Dürer, Kreuzigung. Große Passion, 1498. Albrecht Dürer, Beweinung Christi. Große Passion, 1498/99. Albrecht Dürer, Grablegung Christi. Große Passion, 1496/97. Albrecht Dürer, Christus in der Vorhölle. Große Passion, 1510. Albrecht Dürer, Auferstehung Christi. Große Passion, 1510. Albrecht Dürer, Zurückweisung des Opfers Joachims. Marienleben, 1505. Albrecht Dürer, Verkündigung an Joachim. Marienleben, 1504. Albrecht Dürer, Begegnung von Joachim und Anna an der Goldenen Pforte. Marienleben, 1504. Albrecht Dürer, Geburt Mariens. Marienleben, 1503. Albrecht Dürer, Tempelgang Mariens. Marienleben, 1503. Albrecht Dürer, Heimsuchung. Marienleben, 1503/04. Albrecht Dürer, Geburt Jesu, Anbetung der Hirten. Marienleben, 1502/03. Albrecht Dürer, Darbringung Jesu im Tempel. Marienleben, 1504. Albrecht Dürer, Die Flucht nach Ägypten. Marienleben, 1504. Albrecht Dürer, Die hl. Familie in Ägypten. Marienleben, 1502. Albrecht Dürer, Der Abschied Christi von der Mutter. Marienleben, 1504. Albrecht Dürer, Der Tod Mariens. Marienleben, 1510. Albrecht Dürer, Mariä Himmelfahrt und Krönung. Marienleben, 1510. Albrecht Dürer, Die Verehrung Mariens. Marienleben, 1511. Albrecht Altdorfer, Die Grablegung Christi, Sebastianaltar, 1518. Kunsthistorisches Museum, Wien. Albrecht Altdorfer, Die Auferstehung Christi, Sebastianaltar, 1518. Kunsthistorisches Museum,Wien (Farbtafel VII). Albrecht Altdorfer, Christus am Ölberg, Sebastianaltar, 1509–1516. Stift St. Florian. Albrecht Altdorfer, Gefangennahme Christi, Sebastianaltar, 1509–1516. Stift St. Florian. Albrecht Altdorfer, Handwaschung des Pilatus, Sebastianaltar, 1509– 1516. Stift St. Florian. Albrecht Altdorfer, Kreuztragung Christi, Sebastianaltar, 1509–1516. Stift St. Florian. Albrecht Altdorfer, Niederknüppelung des hl. Sebastian, Sebastianaltar, 1509–1516. Stift St. Florian. Abschied des hl. Florian, um 1516. Uffizien, Florenz. Gefangennahme des hl. Florian, um 1516. Germanisches Natio­ nalmuseum, Nürnberg. Albrecht Altdorfer, Der hl. Florian vor dem Statthalter, ca. 1516. Germanisches Nationalmuseum, Nürnberg. Albrecht Altdorfer, Die Niederknüppelung des hl. Florian, ca. 1516. Narodní Galeríe, Prag. Albrecht Altdorfer, Der Brückensturz des hl. Florian, c. 1516. Uffizien, Florenz. Albrecht Altdorfer, Bergung des Leichnams des hl. Florian, c. 1516. Germanisches Nationalmuseum, Nürnberg. Albrecht Altdorfer, Die erkoren Fürsten, Triumphzug Kaiser Maximilians I., 1512–1515. Albertina, Wien.

Abbildungsverzeichnis 78a Albrecht Altdorfer, Bannerträger, Triumphzug Kaiser Maximilians I., 1512–1515. Albertina, Wien. 78b Der Sieg über Lüttich (Detail von 78a). 79a Hans Burgkmair d. Ä., Die Kapelle der süßen Melodie, Triumphzug Kaiser Maximilians I., Holzschnitt, ca. 1518. Albertina, Wien. 79b Hans Burgkmair d. Ä., Die Eingeborenen aus Indien u. die Indianer, Triumphzug Kaiser Maximilians I., Holzschnitt, ca. 1518. Albertina, Wien. 80 Albrecht Dürer, Der große Triumphwagen, Holzschnitt 1522 (nicht in den Triumphzug Kaiser Maximilians I. inkorporiert). Albertina, Wien. 81 Die Sixtinische Kapelle, Vatikan. 82 Das Programm der Deckenmalerei Michelangelos (nach P. de Vecchi). 83 Michelangelo, Die Scham Noahs, 1508. Sixtinische Kapelle, Vatikan. 84 Michelangelo, Die Sintflut, 1508. Sixtinische Kapelle, Vatikan. 85 Michelangelo, Das Dankopfer Noahs, 1508. Sixtinische Kapelle, Vatikan. 86 Michelangelo, Sündenfall und Vertreibung, 1509. Sixtinische Kapelle, Vatikan. 87 Michelangelo, Die Geburt Evas, ca. 1510. Sixtinische Kapelle, Vatikan. 88 Michelangelo, Erschaffung Adams, ca. 1510. Sixtinische Kapelle, Vatikan. 89 Michelangelo, Gott scheidet Wasser und Land, ca. 1512. Sixtinische Kapelle, Vatikan. 90 Michelangelo, Der Prophet Daniel, ca. 1510. Sixtinische Kapelle, Vatikan. 91 Michelangelo, Erschaffung von Sonne und Mond, ca. 1512. Sixtinische Kapelle, Vatikan. 92 Michelangelo, Trennung von Licht und Finsternis, ac. 1512. Sixtinische Kapelle, Vatikan (Farbtafel X). 93 Michelangelo, Ignudo, 1511. Sixtinische Kapelle, Vatikan. 94 Michelangelo, Jeremias und Begleiterin, ca. 1510. Sixtinische Kapelle, Vatikan. 95 Michelangelo, Die libysche Sibylle, ca. 1510. Sixtinische Kapelle, Vatikan. 96 Michelangelo, Der Prophet Jona, ca. 1512. Sixtinische Kapelle, Vatikan (Farbtafel XI). 97 Michelangelo, Die Bestrafung Hamans, ca. 1511. Sixtinische Kapelle, Vatikan. 98 Michelangelo, Judith und Holofernes, ca. 1511. Sixtinische Kapelle, Vatikan. 99 Michelangelo, Ignudo, ca. 1511. Sixtinische Kapelle, Vatikan. 100 Michelangelo, Das Jüngste Gericht, 1536–1541. Sixtinische Kapelle, Vatikan (Farbtafel IX). 101 Michelangelo, Der Weltenrichter und die Gottesmutter (Ausschnitt). Sixtinische Kapelle, Vatikan. 102 Benvenuto Cellini, Aufrichtung des Kreuzes durch Clemens VII. und Karl V., Avers der Gedenkmünze von 1529. Kunsthistorisches Museum, Münzkabinett, Wien (nach Fillitz). 103 Benvenuto Cellini, Die Apostelfürsten Petrus und Paulus, Revers der Gedenkmünze 1529. Kunsthistorisches Museum, Münzkabinett, Wien (nach Fillitz). 104 Michelangelo, Petrus/Clemens VII. (?), Jüngstes Gericht (Ausschnitt). Sixtinische Kapelle, Vatikan. 105 Michelangelo, Johannes/Karl V. (?) Jüngstes Gericht (Ausschnitt). Sixtinische Kapelle, Vatikan. 106 Leone Leoni, Karl V., Medaille 1536. Kunsthistorisches Museum, Münzkabinett, Wien (nach Fillitz). 107 Michelangelo, Bartholomäus, Jüngstes Gericht (Ausschnitt). Sixtinische Kapelle, Vatikan. 108 Michelangelo, Neue Sakristei, 1521–1534. San Lorenzo, Florenz. 109 Michelangelo, Nacht und Tag, Grab des Giuliano de’ Medici. Neue Sakristei, San Lorenzo, Florenz.

110 Michelangelo, Dämmerung und Morgen, Grab des Lorenzo de’ Medici. Neue Sakristei, San Lorenzo, Florenz. 111 Michelangelo, Die Nacht. Neue Sakristei, San Lorenzo, Florenz. 112 Michelangelo, Der Tag. Neue Sakristei, San Lorenzo, Florenz. 113 Michelangelo, Die Dämmerung. Neue Sakristei, San Lorenzo, Florenz. 114 Michelangelo,: Der Morgen. Neue Sakristei, San Lorenzo, Florenz. 115 Tierproton auf der Kassette von Lorenzo de’ Medici (nach Prater). Neue Sakristei, San Lorenzo, Florenz. 116 Michelangelo, Die Medici-Madonna, ca. 1524–1530. Neue Sakristei, San Lorenzo, Florenz. 117 Piero della Francesca, Vertreibung der Heiden über die Donau, 1454– 1459. San Francesco, Arezzo. 118 Leonardo, Die Anghiarischlacht, 1504 (Kopie von Rubens 1605). Louvre, Paris. 119 Michelangelo, Die Schlacht von Cascina, 1504. 120 Raffael, Die Vertreibung Heliodors, 1512/13. Stanza d’Eliodoro, Vatikan. 121 Raffael, Die Messe von Bolsena, um 1512/13. Stanza d’Eliodoro, Vatikan. 122 Raffael, Befreiung Petri aus dem Kerker, 1512/13. Stanza d’Eliodoro, Vatikan. 123 Raffael, Leo I. gebietet Attila Einhalt, um 1513/14. Stanza d’Eliodoro, Vatikan. 124 Raffael, Der Brand im Borgo, 1516/17. Stanza dell’Incendio, Vatikan. 125 Raffael (Werkstatt), Die Seeschlacht vor Ostia, 1514/15. Stanza dell’Incendio, Vatikan. 126 Albrecht Altdorfer und Werkstatt, Der Sieg Karls des Großen über die Awaren bei Regensburg, 1518. Germanisches Nationalmuseum, Nürnberg. 127a Albrecht Altdorfer, Die Alexanderschlacht, 1529. Alte Pinakothek, München (Farbtafel VIII). 127b Alexanderschlacht (Detail). 128 Albrecht Dürer, Belagerung einer Stadt. Befestigungslehre, Nürnberg 1527. 129 Tizian, Entwurf für die Schlacht von Cadore, 1537. Louvre, Paris. 130 Tizian, Allocutio des Alfonso d’Avalos, 1539. Prado, Madrid. 131 Tizian, Der Kasseler Kavalier (Gabriele Serbelloni), 1548. Staatliche Kunstsammlung, Kassel. 132 Tizian, Spanien kommt der Religion zu Hilfe, ca. 1566. Prado, Madrid. 133 Tizian, Die Seeschlacht von Lepanto, ca. 1572–1574. Prado, Madrid. 134 Tizian, Paul III. mit Nepoten, 1546. Museo Nazionale di Capodimonte, Neapel. 135 Tizian, Karl V. bei der Schlacht von Mühlberg, 1548. Prado, Madrid (Farbtafel XIV). 136 Giorgione, Der Mann im Pelz, ca. 1506. Alte Pinakothek, München. 137 Giorgione (?), Il Bravo (Trebonius), ca. 1507. Kunsthistorisches Museum, Wien. 138 Tizian, Tarquinius Sextus und Lucretia, 1515. Kunsthistorisches Museum, Wien. 139 Tizian, Der eifersüchtige Ehemann, 1511. Scuola del Santo, Padua. 140 Giovanni Bellini, Das Götterfest, 1514. National Gallery, Washington. 141 Das Götterfest (Röntgenbild). 142 Tizian, Das Venusfest, 1518. Prado, Madrid. 143 Tizian, Bacchus und Ariadne, 1523. National Gallery, London (Farbtafel XII). 144 Tizian, Bacchanal auf Andros, 1525. Prado, Madrid. 145 Tizian, Der hl. Markus thronend, 1512. Santa Maria della Salute, Venedig. 146 Tizian, Die Himmelfahrt Marias, 1516–1518. Santa Maria Gloriosa dei Frari, Venedig.

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Abbildungsverzeichnis 147 Tizian, Petrus thronend, 1508. Koninklijk Museum voor Schoone Kunsten, Antwerpen. 148 Tizian, Der Pesaroaltar, 1518–1526. Santa Maria Gloriosa dei Frari, Venedig. 149 Tizian, Die Auferstehung, 1522. SS. Nazzaro e Celso, Brescia. 150 Tizian, Petrus Martyr. Stich von Martino Rota nach dem ehem. Altarbild 1528–1530 in Santi Giovanni e Paolo, Venedig. 151 Sebastiano Serlio, Die tragische Bühne. Secondo Libro di Prospettiva, Paris 1545. 152 Tizian, Tempelgang Mariens, 1534–1539. Accademia, Venedig. 153 Tizian, Ecce Homo, 1543. Kunsthistorisches Museum, Wien. 154 Tizian, Dornenkrönung, ca. 1540. Louvre, Paris. 155 Tizian, Dornenkrönung, ca. 1570. Alte Pinakothek, München. 156a Tizian, Opferung Isaaks, 1542–1544. Deckenbild in der Sakristei von Santa Maria della Salute, Venedig. 156b Tizian, Kain erschlägt Abel, 1542–1544. Deckenbild in der Sakristei von Santa Maria della Salute, Venedig. 156c Tizian, Danksagung Davids, 1542–1544. Deckenbild in der Sakristei von Santa Maria della Salute, Venedig. 157 Tizian, Tityos, 1548–1553. Prado, Madrid. 158 Tizian, Martyrium des hl. Laurentius, 1548–1559. Chiesa dei Gesuiti, Venedig. 159 Tizian, Venus und Adonis, 1553. Prado, Madrid. 160 Tizian, Diana und Aktäon, 1556. National Gallery of Scotland, Edinburgh. 161 Tizian, Diano und Callisto, 1556–1559. National Galley of Scotland, Edinburgh. 162 Tizian, Der Raub der Europa, 1559/60. Isabella Stewart Gardner Museum, Boston. 163 Tizian, Der Tod des Aktäon, 1559. National Gallery, London (Farbtafel XV). 164 Tizian, Die Pardo-Venus (Ausschnitt), ca. 1540. Louvre, Paris. 165 Tizian, Venus mit Cupido, 1548. Uffizien, Florenz (Farbtafel XIII). 166 Tizian, Venus mit Orgelspieler, 1548. Staatliche Gemäldesammlung, Berlin. 167 Tizian, Danae, ca. 1546. Museo Nazionale di Capodimonte, Neapel. 168 Tizian, Venus mit Lautenspieler, ca. 1560. Fitzwilliam-Museum, Cambridge. 169 Tizian, Venus mit Lautenspieler (Holkham-Venus), ca. 1565. Metropolitan Museum, New York. 170 Tizian, Das Konzert (Ausschnitt), ca. 1515. Palazzo Pitti, Florenz. 171 Tizian, Erziehung des Amor, ca. 1565. Galleria Borghese, Rom. 172 Tizian, Prudentia (Allegorie der Zeit), 1565. National Gallery, London. 173 Triciput. Hypnerotomachia Poliphili, Venedig 1499; Paris 1545. 174 Tizian Die drei Lebensalter, ca. 1512. Ellesmere Collection, National Gallery of Scotland, Edinburg. 175 Tizian, Die hl. Margareta, ca. 1556. Prado, Madrid. 176 Tizian, Hieronymus, 1557–1559. Brera, Mailand. 177 Tizian, Hieronymus, ca. 1575. Museo Thyssen-Bornemisza, Madrid. 178 Tizian, Maria Magdalena, 1567–1569. Eremitage, St. Petersburg. 179 Tizian, Verkündigung, ca. 1559. San Salvador, Venedig. 180 Tizian, Der hl. Sebastian, 1575. Eremitage, St. Petersburg. 181 Tizian, Tarquinius und Lucretia, ca. 1571. Fitzwilliam-Museum, Cambridge. 182 Tizian, Tarquinius und Lucretia, ca. 1575. Akademie der bildenden Künste, Wien (Farbtafel XVI). 183 Tizian, Nymphe und Schäfer, ca. 1575. Kunsthistorisches Museum, Wien (Farbtafel XVII). 184 Tizian, Schindung des Marsyas, ca. 1575. Umělecko historické Muzeum, Kromeříž.

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185 Raffael, Schindung des Marsyas (Ausschnitt), ca. 1511. Decke der Stanza della Segnatura, Vatikan. 186 Raffael, Apoll im Kreis der Musen (Ausschnitt), ca. 1511. Stanza della Segnatura, Vatikan. 187 Tizian, Pietà, ca. 1575. Accademia, Venedig. 188 Tintoretto, Der hl. Markus befreit einen Sklaven, 1547. Accademia, Venedig (Farbtafel XVIII). 189 Tintoretto, Die Fußwaschung, ca. 1548. Prado, Madrid. 190 Tintoretto, Tempelgang Mariens, 1552. Flügeltür, Santa Maria dell’Orto, Venedig. 191 Tintoretto, Bergung des Leichnams des hl. Markus, ca. 1562. Accademia, Venedig. 192 Tintoretto, Wiederauffindung des hl. Markus, ca. 1562. Brera, Mailand. 193 Tintoretto, Kreuztragung, 1566/67. Albergo di Scuola di San Rocco, Venedig. 194 Tintoretto, San Rocco wird im Gefängnis von einem Engel getröstet, ca. 1567. Chiesa di San Rocco, Venedig. 195 Tintoretto, Maria Aegyptica, ca. 1583–1587. Sala Inferiore di Scuola di San Rocco, Venedig. 196 Tintoretto, Susanna im Bade, 1558. Kunsthistorisches Museum, Wien. 197 Paolo Veronese, La Tripartita Vita (Allegorie der Liebe), ca. 1565. National Gallery, London. 198 Tintoretto, Die drei Grazien und Merkur (Frühling), ca. 1577. Palazzo Ducale, Venedig. 199 Tintoretto, Friede und Überfluss (Sommer), 1577. Palazzo Ducale, Venedig. 200 Tintoretto, Venus, Bacchus und Ariadne (Herbst), 1577. Palazzo Ducale, Venedig. 201 Tintoretto, Die Schmiede des Vulcan (Winter), 1577. Palazzo Ducale, Venedig. 202 Tintoretto, Die Mannalese, 1592–1594. Presbyterium, San Giorgio Maggiore, Venedig. 203 Tintoretto, Das letzte Abendmahl, ca. 1592–1594. Presbyterium, San Giorgio Maggiore, Venedig. 204 Paolo Veronese, Gastmahl im Hause Levis, 1573. Accademia, Venedig. 205 Raffael, Der hl. Michael, ca. 1502. Louvre, Paris. 206 Michelangelo, Tondo Doni, 1504. Uffizien, Florenz. 207 Leonardo (Werkstatt), Leda, ca. 1506. Galleria Borghese, Rom. 208 Raffael, Galatea, 1511. Farnesina, Rom. 209 Rosso Fiorentino, Moses verteidigt die Töchter Jethros, 1523. Uffizien, Florenz. 210 Michelangelo, Bacchus, 1496/97. Bargello, Florenz. 211 Jacopo Sansovino, Bacchus, 1511/12. Bargello, Florenz. 212 Michelangelo, Der gefesselte Sklave, ca. 1516. Louvre, Paris. 213 Michelangelo, Vittoria, ca. 1527/28. Palazzo Vecchio, Florenz. 214 Michelangelo, Apoll, ca. 1530. Bargello, Florenz. 215 Giambologna, Samson erschlägt einen Philister, 1561/62. Victoria & Albert Museum, London. 216 Giambologna, Venus in Grotticella, 1575. Boboligärten, Florenz. 217 Giambologna, Astronomia, 1575. Kunsthistorisches Museum, Wien. 218 Giambologna, Apoll, 1575. Palazzo Vecchio, Florenz. 219 Giambologna, Merkur, 1580. Bargello, Florenz. 220 Giambologna, Raub der Sabinerin, 1581/82. Loggia dei Lanzi, Florenz. 221 Pieter Bruegel d. Ä., Der Maler und der Kenner, ca.1565. Albertina, Wien. 222 Pieter Bruegel d. Ä., Elck (Jedermann), 1558. British Museum, London. 223 Pieter Bruegel d. Ä. Hasenjagd, ca. 1560. 224 Pieter Bruegel d. Ä., Der Hafen von Neapel, ca. 1554. Galleria Doria-Pamphili, Rom. 225 Pieter Bruegel d. Ä., Der Sturz des Ikarus, 1554/55. Musées Royaux des Beaux-Arts, Brüssel (Farbtafel XIX).

Abbildungsverzeichnis 226 Pieter Bruegel d. Ä., Die Kinderspiele, 1559. Kunsthistorisches Museum, Wien. 227 Pieter Bruegel d. Ä., Triumph der Zeit, ca. 1560. Nachstich von Philipp Galle 1574. 228 Frans Floris, Höllenflügel, 1554. Koninklijk Museum voor Schoone Kunsten, Antwerpen. 229 Pieter Bruegel d. Ä., Engelsturz, 1562. Musées Royaux des Beaux-Arts, Brüssel. 230 Pieter Bruegel d. Ä., Dulle Griet, 1561. Museum Mayer van den Bergh, Antwerpen. 231 Pieter Bruegel d. Ä., Triumph des Todes, 1562. Prado, Madrid (Farbtafel XX). 232 Pieter Bruegel d. Ä., Der Selbstmord Sauls, 1562. Kunsthistorisches Museum, Wien. 233 Pieter Bruegel d. Ä., Der Turmbau zu Babel, 1563. Kunsthistorisches Museum, Wien. 234 Pieter Bruegel d. Ä., Der Turmbau zu Babel, nach 1564. Museum Boy­ mans van Beuningen, Rotterdam. 235 Pieter Bruegel d. Ä., Die Kreuztragung, 1564. Kunsthistorisches Museum, Wien (Farbtafel XXI). 236 Pieter Bruegel d. Ä., Die Bekehrung des Paulus, 1567. Kunsthistorisches Museum, Wien. 237 Pieter Bruegel d. Ä., Bußpredigt Johannes’, 1566. Szépmüvészeti Múzeum, Budapest. 238 Pieter Bruegel d. Ä., Die Anbetung der Hl. Drei Könige, 1564. National Gallery, London. 239 Pieter Bruegel d. Ä., Die Volkszählung zu Bethlehem, 1566. Musées Royaux des Beaux-Arts, Brüssel. 240 Pieter Bruegel d. J. (?), Der bethlehemitische Kindermord, nach 1566. Kunsthistorisches Museum, Wien. 241 Philipp Galle nach Maerten van Heemskerck, Der Frühling, 1563. Staatsgalerie, Stuttgart. 242 Pieter Bruegel d. Ä., Der Frühling, 1565. Albertina, Wien. 243 Pieter Bruegel d. Ä., Die Kornernte, 1565. Metropolitan Museum, New York. 244 Pieter Bruegel d. Ä., Heimkehr der Jäger, 1565. Kunsthistorisches Museum, Wien (Farbtafel XXII). 245 Pieter Bruegel d. Ä., Hochzeitstanz im Freien, 1566. Detroit Art Institute, Detroit. 246 Pieter Bruegel d. Ä., Bauerntanz, 1568. Kunsthistorisches Museum, Wien. 247 Pieter Bruegel d. Ä., Bauernhochzeit, 1568. Kunsthistorisches Museum, Wien (Farbtafel XXIII). 248 Pieter van der Borcht IV., Bauernhochzeit, 1560. Bibliothèque Albert Ier, Cabinet des Estampes, Brüssel. 249 Pieter Bruegel d. Ä., Der ungetreue Hirte, 1569. John G. Johnson Collection, The Philadelphia Museum of Art, Philadelphia. 250 Pieter Bruegel d. Ä., Der Überfall, ca. 1567. Stockholms Universitets Konstsamling, Stockholm. 251 Pieter Bruegel d. Ä., Der Vogeldieb, 1568. Kunsthistorisches Museum, Wien. 252 Pieter Bruegel d. Ä., Das Gleichnis von den Blinden, 1568. Museo Nazio­nale di Capodimonte, Neapel. 253 Zeitstruktur des Blindensturzes (nach Rudolf Arnheim). 254 Pieter Bruegel d. Ä., Die Elster auf dem Galgen, 1568. Hessisches Landesmuseum, Darmstadt. 255 Pieter Bruegel d. Ä., Die beiden Affen, 1562. Gemäldegalerie der Staatlichen Museen, Berlin.

Fig. 3 Edmund Husserl, Konstituierung des Zeitbewusstseins (nach Ausgabe 1966).

Fig. 1 Henri Bergson, Der gedachte Raum. Vorstellung der Sukzession. Fig. 2 Henri Bergson, Durchdringungsprozess der Bewusstseinsvorgänge.

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Abbildungsnachweis Bovillus, Liber de intellectu, Nürnberg 1514, fol. 2v und 60v, Univ. Bibl., Sondersammlung, Karl-Franzens-Universität Graz  ; The Dream of Poliphilo, New York 1950, Fig. 7  ; Ch. de Tolnay, Michelangelo, III, 1970, Pl. 10, 32  ; R. Arnheim 1972, Fig. 71  ; F. Winzinger 1975, S. 9–22, 30–34, 36  ; S. Karling, Katalog, Stockholm, Univ. Collection 1978, S. 65  ; Ausstellungskatalog  : Giambologna, 1978, Kat.-Nr. 12, 36  ; A. Prater 1979, Fig. 27  ; A. Dürer, Ramerding 1981, S. 51, 60, 61, 62, 65, 69, 218  ; R. Pallucchini, P. Rossi 1982, Abb. 198–201  ; Sebastiano Serlio, Il Secondo Libro di Prospettiva (1545), New York 1982, fol. 25v  ; R. Jones, N. Penny 1983, S. 122, 125  ; A. Paolucci 1989, S. 149  ; Ausstellungskatalog  : Titian, Venezia 1990, S. 153, 171, 179, 285, 375  ; G. Pochat, Bild/Zeit, I, 1996, Fig. 1a, 1b, 2  ; Jacopo Tintoretto, Quaderni di Venezia Arti, 3, 1996, S. 350, Fig. 6, S. 367, Fig. 3  ; P. de Vecchi 1996, S. 106, 117, 132, 174, 183, 194, 198  ; ders. 2001, S. 87  ; P. Roberts-Jones 1997, S. 113  ; Pedrocco 2000, S. 302  ; H. Fillitz, Wien 2005 (Verlag d. Österr. Akad. d. Wiss.), S. 5, 7, 9, 10, 17  ; Ausstellungskatalog  : Hans Holbein d. J., Basel 2006, S. 51, 81  ; Ausstellungskatalog Albertina 2012, S. 223, 225, 251, 260, 269. Sämtliche anderen Abbildungen entstammen dem Archiv des Kunsthistorischen Instituts der Karl-Franzens-Universität Graz bzw. dem Archiv des Autors.

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GÖTZ POCHAT

BILD-ZEIT EINE KUNSTGESCHICHTE DER VIERTEN DIMENSION, II (ARS VIVA, BD. 8)

Der Nachfolgeband des 1996 erschienenen Bandes »Bild-Zeit. Eine Kunstgeschichte der vierten Dimension« setzt die Untersuchung über die Zeitproblematik in der bildenden Kunst fort. Mit dem sich schnell entwickelnden Illusionismus in der frühen Neuzeit eröffnete sich dem Künstler ein immer breiteres Spektrum der zeitlichen Ausdifferenzierung vorgegebener Gestalten und Geschehnisse. Dementsprechend erfuhr auch die Erlebniszeit des Betrachters im ästhetischen Nachvollzug der vorgestellten Geschichte eine emphatische Vertiefung – dabei stellten das nicht Gezeigte, das implizit Gedachte und Verweisende, den Rezipienten vor neue Aufgaben zeitlicher Einordnung und Interpretation. Bei der »Eroberung der sichtbaren Welt« im 15. Jahrhundert schlugen die Künstler in Italien, Burgund und den Niederlanden unterschiedliche Wege ein. In Italien ruhte das Hauptaugenmerk auf der glaubhaften Inszenierung einer istoria, während die Niederländer die empirische Erkundung des Sichtbaren auf die Spitze trieben und den sakralen Aspekt ihrer Altarbilder weiterführen. Der Zeitaspekt in der bildenden Kunst bietet ein nie enden wollendes Betätigungsfeld kunsthistorischer Interpretation, das im Laufe der Entwicklung der abendländischen Kunst immer weitere Kreise zieht und neue Erscheinungsformen annimmt. 2004. 358 S. 179 S/W-ABB. 225 X 280 MM. GB. MIT SU ISBN 978-3-205-77223-1

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GÜNTER BRUCHER

GESCHICHTE DER VENEZIANISCHEN MALEREI

Das vierbändige Werk bietet eine umfassende und reich bebilderte Gesamtdarstellung der venezianischen Malerei von den Anfängen bis ins 18./19. Jahrhundert. Ein besonderes Augenmerk gilt dem Schaffen von Bellini, Carpaccio, Giorgione und Tizian, das in eingehenden Werkanalysen beleuchtet wird. Günter Bruchers Arbeit zeichnet sich durch neue Zugangsweisen und einen kritischen Blick auf den aktuellen Forschungsstand aus.

BAND 1 VON DEN MOSAIKEN IN SAN MARCO BIS ZUM 15. JAHRHUNDERT 2007. 375 S. 309 S/W- UND FARB. ABB. GB. MIT SU ISBN 978-3-205-77622-2 BAND 2 VON GIOVANNI BELLINI ZU VITTORE CARPACCIO 2010. 459 S. 249 S/W- UND FARB. ABB. GB. MIT SU ISBN 978-3-205-78569-9

BAND 3 VON GIORGIONE ZUM FRÜHEN TIZIAN 2013. 397 S. 126 S/W- UND FARB. ABB. GB. MIT SU ISBN 978-3-205-78889-8 BAND 4 TIZIAN UND SEIN UMKREIS 2015. 415 S. 235 S/W- UND FARB. ABB. GB. MIT SU ISBN 978-3-205-79630-5

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RAINER HOFFMANN

IM HIMMEL WIE AUF ERDEN DIE PUTTEN VON VENEDIG

Putten bevölkern Venedig. Vor allem auf Gemälden inszenieren sie ihre so bezaubernden wie bedeutenden Auftritte, doch auch in prächtigen Treppenhäusern mit Stuckgewölben und Kuppeln, an Kapitellen, Altären und Tabernakeln, an Weihwasserbecken, Brunnen und Grabmonumenten, an Giebeln, Portalen, Triumphbögen oder Kirchen- und Palazzi-Fassaden erscheinen sie – sowohl als Relief-Figuren wie auch als vollplastische Skulpturen. Ganz Venedig ist ihre Bühne. Merkwürdigerweise jedoch spielen die fast omnipräsenten Putten im Bewusstsein selbst kenntnisreicher Liebhaber und professioneller Kenner der an Kunst reichen Stadt so gut wie keine Rolle. Dass sie zu Unrecht kaum beachtet oder gar nicht ernst genommen werden, vermag dieser aufwändig gestaltete Bildband anschaulich und kurzweilig darzulegen. Auf die Spuren ihrer langen Geschichte begibt sich der erste Teil des Bandes. Verfolgt werden ihre Anfänge als antike Eroten oder Amoretten bis hin zu ihrer Wiedergeburt als christliche oder pagane Himmelswesen in der Zeit der italienischen Frührenaissance. Im zweiten Teil richtet sich die ganze Aufmerksamkeit auf die »Putti di Venezia«. Entfaltet wird ein buntes und lebendiges, gestalten- und szenenreiches Panorama ihrer vielfältigen Präsenz in Venedigs Museen, Palästen und Kirchen. Nicht nur die Meisterwerke von Künstlern wie Donatello, Tizian oder Tintoretto, sondern die Inselstadt selbst präsentiert sich dem Leser so in einem völlig neuen Licht. 2007. VI, 287 S. 11 S/W- UND 90 FARB. ABB. 210 X 210 MM. GB. ISBN 978-3-412-20056-5

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RAINER HOFFMANN

IM ZWIELICHT ZU ALBRECHT DÜRERS MEISTERSTICH MELENCOLIA I

Vor 500 Jahren hat Albrecht Dürer (1471–1528) seinen Meisterstich MELENCOLIA I vollendet, der wohl mit Recht als das am häufigsten interpretierte Werk der Kunstgeschichte angesehen wird. Und doch werden immer wieder neue Versuche unternommen, dieses unausdenkbare Denkbild, wenn auch nicht umfassend, so doch in bestimmten Aspekten adäquater zu verstehen. Auch in diesem Buch, dessen Aufmerksamkeit zunächst einmal dem geflügelten Putto im Zentrum des mysteriösen Kupferstiches gilt. Er wird ganz anders als bisher in der Melencolia-Forschung verstanden: nicht als eifrig beschäftigter, sondern als passiv untätiger Putto melancholicus. Freilich ist die eigentliche allegorische Zentralfigur im Bildgefüge des Stiches – die große geflügelte Melencolia-Gestalt – auch hier die ikonologische Hauptperson. Im ausführlich thematisierten Kontext der kunsttheoretischen Schriften Dürers wird sie – diese Hohe Frau der Melancholie – als eine Art geistiges Selbstbildnis des Künstlers gedeutet. 2014. 219 S. 33 S/W- UND 1 FARB. ABB. 1 S/W-ABB. AUF FALTTAF. GB. 155 X 230 MM. ISBN 978-3-412-22433-2

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