Fliehkräfte der Moderne: Zur Ich-Konstitution in der Lyrik des frühen 20. Jahrhunderts [Reprint 2011 ed.] 3484151072, 9783484151079

Im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert verlieren traditionelle Identitätsgaranten an Bedeutung. Dabei kann es sich um

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German Pages 324 Year 2005

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Table of contents :
Einleitung
1. Das Ich in der Moderne
2. Warum Lyrik?
3. Zur Methode
4. Zum Aufbau
I. Vorläufer und Anreger - Die Subjekt-Debatte im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert
1. Nietzsches Experimente
1.1 Das unruhige Ich
1.2 Modernisierung
1.3 Erkenntniskritik
1.4 Apologie des Individuellen
1.5 Gegen Subjekte und Genies
1.6 Der Ironiker
1.7 Formen der Ironie
1.8 Ironie und Levitation
1.9Freiheitsangst - Kritik der Ironie
1.10 Die Negation des Einzelnen
2. Zweifel am Ich
2.1 Dichter, die verschwinden wollen: Paul Bourget
2.2 Der Sommertag der Subjektnegation: Ernst Mach
2.3 Die vielen Krawatten des Ich: Hermann Bahr
II. Stefan George
1. Die Dichtung als Gegenreich mit verschärften Eintrittsbedingungen
2. Der einsame Kaiser – Das Frühwerk
3. Nur schöne Reste – >Das Jahr der SeeleTeppich des LebensDer Siebente Ring< und >Der Stern des BundesDas Neue ReichBertolt Brechts Hauspostille< - Einheit mit der Natur und Angst in der Natur
3. Sozialdarwinismus – >Aus dem Lesebuch für StädtebewohnerKleine Rose< – Epilog
IV. Gottfried Benn
1. >Das moderne Ich< - Zwischen Reflexivität und Mythenwunsch
2. Die Herkunft und die frühen Prägungen
3. Der Mediziner - Das Sezieren der alten Welt
4. »Etwas ganz Allgemeines hinter einem schemenhaften Ich« – Subjektkritik in den Essays der zwanziger Jahre
5. Zwischen Immanenz und Allgemeintendenz - Die Gedichte der zwanziger Jahre
6. Verlust des Ich an das Totale - Texte um 1930 und das Bekenntnis zum Nationalsozialismus
7. >Leid der Götter< - Die Gedichte der Jahre 1930-33
8. >Das sind doch Menschen< – Epilog
V. Johannes R. Becher
1. Das leere Herz – Eine Auseinandersetzung mit dem bürgerlichen Freiheitsbegriff
2. Der Dandy mit dem Browning – Die Anfänge
3. Das Gedicht >Eingang< (1916) als Beispiel für das expressionistische Wahrheitsgemisch
4. Differenz-Erfahrung und Harmonie-Forderung
5. Das bedrohte Leben
6. Zwischen Gott und der Politik - Die Übergangsjahre 1919–1923
7. »Ich legte ab meinen Namen« – Becher als Kommunist
8. Der Kampf gegen die Weimarer Republik – Plessner als Gegenfigur
9. Der Verlust der ästhetischen Autonomie
Schluss
1. Gemeinsamkeiten in den untersuchten Lebensläufen und Denkbewegungen – Möglichkeiten der Ausweitung auf die ästhetische Moderne
2. Neuorientierungen im Kanon
3. Schwierigkeiten der ästhetischen Theorie mit dem freien Ich
Literaturverzeichnis
Werke
Forschungsliteratur
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Fliehkräfte der Moderne: Zur Ich-Konstitution in der Lyrik des frühen 20. Jahrhunderts [Reprint 2011 ed.]
 3484151072, 9783484151079

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HERMAEA GERMANISTISCHE FORSCHUNGEN NEUE FOLGE HERAUSGEGEBEN VON JOACHIM HEINZLE UND KLAUS-DETLEF MÜLLER

BAND 107

D I R K VON P E T E R S D O R F F

Fliehkräfte der Moderne Zur Ich-Konstitution in der Lyrik des frühen 20. Jahrhunderts

MAX N I E M E Y E R VERLAG T Ü B I N G E N 2005

Gedruckt mit Unterstützung der Geschwister Boehringer Ingelheim Stiftung für Geisteswissenschaften in Ingelheim am Rhein, der Union-Stiftung und der Vereinigung der Freunde der Universität des Saarlandes. Die Arbeit an diesem Buch wurde gefördert durch ein Stipendium der Deutschen Forschungsgemeinschaft.

Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar. ISBN 3-484-15107-2

ISSN 0440-7164

© Max Niemeyer Verlag G m b H , Tübingen 2005 http://www.niemeyer.de Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany. Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier. Satz: Johanna Boy, Brennberg Druck: Guide-Druck G m b H , Tübingen Buchbinder: Geiger, Ammerbuch

Inhaltsverzeichnis

Einleitung

ι

1. 2. 3. 4.

Das Ich in der Moderne Warum Lyrik? Zur Methode Zum Aufbau

ι 13 17 20

I.

Vorläufer und Anreger - Die Subjekt-Debatte im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert

25

1.

Nietzsches Experimente 1.1 Das unruhige Ich 1.2 Modernisierung 1.3 Erkenntniskritik 1.4 Apologie des Individuellen 1.5 Gegen Subjekte und Genies 1.6 Der Ironiker 1.7 Formen der Ironie 1.8 Ironie und Levitation 1.9 Freiheitsangst — Kritik der Ironie 1.10 Die Negation des Einzelnen 2. Zweifel am Ich 2.1 Dichter, die verschwinden wollen: Paul Bourget 2.2 Der Sommertag der Subjektnegation: Ernst Mach 2.3 Die vielen Krawatten des Ich: Hermann Bahr

25 25 26 31 32 35 37 42 46 48 53 58 59 65 69

II. Stefan George

75

1.

Die Dichtung als Gegenreich mit verschärften Eintrittsbedingungen 2. Der einsame Kaiser — Das Frühwerk 3. Nur schöne Reste — >Das Jahr der Seele< 4. Die Suche nach Mustern im >Teppich des Lebens< 5. Das Subjekt gründet einen Staat — >Der Siebente Ring< und >Der Stern des Bundes< 5.1 Gegen die negative Freiheit der Moderne 5.2 Maximin

75 82 91 100 108 114 115

V

5·3 Der Kreis 5.4 Die neue Sprache — Harte Fügung 6. Zweifel und Lieder am Ende — >Das Neue Reich
Bertolt Brechts Hauspostille< — Einheit mit der Natur und Angst in der Natur 151 3. Sozialdarwinismus — >Aus dem Lesebuch für Städtebewohner< . . . 161 4. Ein Mann ist wie der andere - Die Verneinung des Individuellen 172 5. Lob der Partei - Das Ich als Teil des Wir 178 6. >Kleine Rose< — Epilog 191 IV. Gottfried Benn

193

1. >Das moderne Ich< — Zwischen Reflexivität und Mythenwunsch . . 193 2. Die Herkunft und die frühen Prägungen 198 3. Der Mediziner — Das Sezieren der alten Welt 202 4. »Etwas ganz Allgemeines hinter einem schemenhaften Ich« — Subjektkritik in den Essays der zwanziger Jahre 212 5. Zwischen Immanenz und Allgemeintendenz - Die Gedichte der zwanziger Jahre 218 6. Verlust des Ich an das Totale — Texte um 1930 und das Bekenntnis zum Nationalsozialismus 227 7. >Leid der Götter< - Die Gedichte der Jahre 1930—33 236 8. >Das sind doch Menschen< - Epilog 241 V. Johannes R. Becher 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8. 9.

245

Das leere Herz — Eine Auseinandersetzung mit dem bürgerlichen Freiheitsbegriff 245 Der Dandy mit dem Browning - Die Anfänge 247 Das Gedicht >Eingang< (1916) als Beispiel für das expressionistische Wahrheitsgemisch 254 Differenz-Erfahrung und Harmonie-Forderung 257 Das bedrohte Leben 262 Zwischen Gott und der Politik — Die Ubergangsjahre 1919—1923 . . 264 »Ich legte ab meinen Namen« — Becher als Kommunist 271 Der Kampf gegen die Weimarer Republik Plessner als Gegenfigur 275 Der Verlust der ästhetischen Autonomie 283

VI

Schluss ι.

2. 3.

291

Gemeinsamkeiten in den untersuchten Lebensläufen und Denkbewegungen — Möglichkeiten der Ausweitung auf die ästhetische Moderne . Neuorientierungen im Kanon Schwierigkeiten der ästhetischen Theorie mit dem freien Ich . . . .

Literaturverzeichnis Werke Forschungsliteratur

291 297 301 307 307 308

VII

Einleitung

ι.

D a s Ich in der M o d e r n e

Ein kurzes Wochenende mit einigen Besuchen und Gesprächen genügt, um zu sehen, dass es so etwas wie Identität gibt und dass um sie gerungen wird. In den Wohnküchen, auf den Sitzlandschaften und zwischen Antik-Möbeln wird deutlich, dass verschiedene Formen von Selbstbildern nebeneinander bestehen. So stehen dem Einzelnen viele Möglichkeiten offen, sich zu definieren: über seine Seele und seine Erfolge, über Gespräche und Kleidung, Tiefe oder Geld. Man muss nicht so tun, als handele es sich bei all dem um eine Erfindung der Moderne. Denn dass der Mensch Selbstreferenz besitzt, über sich nachdenkt und dabei als von den anderen verschieden erfährt, dürfte eine anthropologische Konstante darstellen. Die Literatur verschiedenster Kulturen und Zeiten jedenfalls kennt das Ich und spricht von Selbstfindung und Selbstverlust. Gleichzeitig unterliegt dieses Ich-Gefuhl aber erheblichen historischen Veränderungen. Größen, über die man sich definiert hat, gehen verloren, und neue Räume, in denen man leben kann, öffnen sich. Um solche historischen Veränderungen wird es in dieser Arbeit gehen. Dabei lässt sich grundsätzlich sagen: Je mehr eine Gesellschaft auf starke Wahrheiten und Vorgaben verzichtet, desto größer werden die Spielräume des Einzelnen, oder, negativ formuliert, seine Schwierigkeiten. Er wird, wie es im Prozess der Modernisierung geschieht, aus einer inhaltlich und strukturell relativ festgefugten Ordnung entlassen. Er kann sich nun kaum noch als Sonderfall einer Substanz ansehen, und wenn doch, dann weiß er, dass andere an andere Substanzen glauben. Er befindet sich nicht mehr unter einem alles überwölbenden Dach, sondern hat sein eigenes Dach, das er wahrscheinlich mit anderen teilt, aber womöglich im Laufe des Lebens wechselt. Oder er eilt überhaupt zwischen verschiedenen Dächern hin und her. Gleichzeitig muss das Ich seinem Leben unter diesen Bedingungen ein Selbstverständnis abringen. Denn die Heterogenität der Umwelt und das Lebensgefuhl einer Mischexistenz entlasten ja nicht, wie es in forcierten Theorien erscheinen konnte, von notwendiger Einheit. Auch das ortlos gewordene Individuum benötigt, um lebensfähig zu bleiben, das Gefühl sich wiederzuerkennen. Deshalb wird ja gerungen, finden am Wochenende die Gespräche statt, wo die eine vom heiligen Berg erzählt, die andere aber das Material Girl geblieben ist, während Großmutter kaum versteht, wovon eigentlich die Rede ist. ι

Wenn die Entstehung und Veränderung von Selbstbildern am Beispiel mehrerer moderner Lyriker betrachtet werden soll, mag das innerhalb der Literaturwissenschaft zunächst seltsam erscheinen. Denn als gesichertes Wissen gilt, dass die moderne Lyrik seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts das Ich negiert hat, dass Subjektivität in ihr allenfalls deformiert erscheint: Das lyrische Ich ist anachronistisch geworden. Durchgesetzt hat sich diese Sichtweise mit Hugo Friedrichs Werk zur modernen Lyrik, wo von einem Prozess der »Enthumanisierung« die Rede ist, dem ein geschichtlicher Zwang zugesprochen wird, und wo es heißt: »Zu niemandem redend, monologisch also, mit keinem Wort um den Hörer werbend, scheint sie [die moderne Lyrik] mit einer Stimme zu sprechen, fur die es keinen faßbaren Träger gibt, vor allem dort, wo selbst das imaginierte Ich einer ichlosen Aussage gewichen ist.«' Wenn man allerdings, wie es hier geschehen soll, davon ausgeht, dass auch unter den Bedingungen der Moderne Subjekt-Identität erhalten bleibt, dann ergibt sich eine neue Sichtweise auf die moderne Lyrik. Ihre Behauptung vom Verschwinden des Ich wird man nicht mehr als unumstößliche Aussage ansehen, sondern als Ergebnis einer Auseinandersetzung mit den veränderten Bedingungen von Subjektivität. In der Welt der Vielheit, in der man auf seine Fragen die Antwort erhält: >Das musst D u selber wissenDu wirst getanvernünftige< Gemeinwohl ermittelnder und mit Hilfe von Gesetzen verwirklichender Bürger« definiert. Z u diesem Modell gehören die von einer Verfassung garantierten Menschen- und Bürgerrechte, die einen möglichst weiten Autonomiebereich sichern. Wahrheit wird in dieser Gesellschaft als Ergebnis einer Auseinandersetzung von konkurrierenden Ansichten verstanden und gilt als prinzipiell revidierbar. Einzige Ausnahme bildet das Prinzip der Freiheit des Einzelmenschen, dessen Streben nach Glück, nach einem oder dem guten Leben möglichst wenig eingeschränkt werden darf. Seine Grenze findet es nur an dem gleichen Recht jedes anderen. 5 D i e Durchsetzung dieser freien Assoziation vollzieht sich als langer Prozess, der aus Phasen eher vorsichtiger und geringer Veränderung und intensiven Modernisierungsschüben besteht. Eben ein solcher Schub erfasst Deutschland im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert. Daraus ergibt sich die Gemeinsamkeit der untersuchten Autoren, die sich nicht mit dem Begriff der Generation und auch nicht über eine bestimmte soziale Z u o r d n u n g (Klasse, Schicht) fassen lässt. Sie besteht darin, dass sie von einer längerfristig und durchgreifend wirkenden »historisch-sozialen Konfiguration« erfasst werden und sich mit ihr

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Stefan George wird zitiert nach: Sämtliche Werke in 18 Bänden. Hrsg. von der Stefan-GeorgeStiftung. (Bandbearbeiter: Georg Peter Landmann und Ute Oelmann). Stuttgart 1982fr. Belege mit Band-Zififer und Seitenzahl im Haupttext. Henrich: Subjektivität, S. 52. Hans-Ulrich Wehler: Deutsche Gesellschaftsgeschichte. Erster Bd.: V o m Feudalstaat des Alten Reiches bis zur Defensiven Modernisierung der Reformära. München 1987, S. 236-239.

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in individuell besonderer, aber doch vergleichbarer Weise auseinandersetzen. 6 In neueren Geschichts-Darstellungen schreibt man dem Zeitraum, in dem die Autoren geprägt wurden, ein »Janusgesicht von Moderne und Tradition« zu. Denn das Kaiserreich besaß zwar die bekannten ständisch-konservativen Uberhänge, wies aber gleichzeitig eine erhebliche Veränderungsgeschwindigkeit auf. Aus »Tempo und Intensität der Modernisierung«, die in großen Teilen der Gesellschaft herrschen, gehen gleichzeitig »Modernisierungsängste« hervor. 7 Was dies bedeutet, versteht man, wenn Gottfried Benn, der als Pfarrerssohn in der ländlichen Welt östlich der Oder erzogen wurde, in die Großstadt Berlin kommt, um dort Medizin zu studieren. Man versteht es, wenn Stefan George in einem Kalender seiner Kindheitszeit den Rhythmus einer natürlichen und religiösen Ordnung beschreibt, um sich dann in einem Staat wiederzufinden, in dem über Grundrechte, Konjunkturzyklen und Schutzzölle debattiert wird. Zu den wichtigen Faktoren der Modernisierung gehören die Urbanisierung, Industrialisierung und die damit verbundene Erhöhung der Mobilität. Deshalb schreibt Brecht ein >Tagebuch für StädtebewohnerDeutschen Doppelrevolution« bis zum Beginn des Ersten Weltkrieges. München 1995, S. 1250. Ganz aus der Perspektive der offenen Gesellschaft: Heinrich-August Winkler: Der lange Weg nach Westen. Erster Bd.: Deutsche Geschichte vom Ende des Alten Reiches bis zum Untergang der Weimarer Republik. Zweiter Bd.: Deutsche Geschichte vom »Dritten Reich« bis zur Wiedervereinigung. München 2000.

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der Religion und mit ihren Nachfolgern wie der idealistischen Naturphilosophie kaum noch zu vereinbaren ist. Keine Metaphysik garantiert mehr Moral, verbindet die Menschen; eine Ordnung ohne metaphysische Gültigkeit aber können sich die Autoren nicht vorstellen, und so erscheint ihnen die Welt als unregulierbarer Kampf aller gegen alle. »Was hier gebraucht wird, ist Hackfleisch«, schreibt Brecht in seinem >Lesebuch für Städtebewohner< (i, 164). 8 Verbunden mit der historischen Füllung des Begriffs »Moderne« wird der soziologisch-philosophische Ansatz der Systemtheorie, wie ihn vor allem Niklas Luhmann entwickelt hat. Damit wird ein höherer Grad der Abstraktion erreicht, der sich aber überraschend gut mit der Analyse literarischer Texte verbinden lässt. Bekanntlich versteht die Systemtheorie unter Modernisierung den Wandel von einer stratifikatorisch-hierarchischen Gesellschaft mit zentral regulierter Weltdeutung zu einer differenzierten Gesellschaft, in der verschiedene Teilsysteme nebeneinander agieren. Diese Teilsysteme bearbeiten mit jeweils eigener N o r m einen bestimmten Bereich der Gesellschaft, erfüllen eine spezialisierte Funktion. Sie lassen sich nur noch begrenzt durch gemeinsames Ideengut verbinden, so dass die Gesellschaft als Ganzes nur noch abstrakt, nicht mehr konkret in einer Form existiert, in der sie sich repräsentieren könnte. Für die Fragestellung dieser Arbeit sind die Bedingungen der Individuation in einer solchen Gesellschaft von Interesse; zu ihnen hat sich Luhmann an mehreren Stellen geäußert. 9 Bestimmend ist der Bedeutungsverlust traditionaler Identitätsgaranten: »Geburt, häusliche Sozialisation und schichtmäßige Lage« reichen nicht mehr aus, »um den Normalverlauf des Lebens erwartbar zu machen«, 10 und mit der Erhöhung der Variabilität des Ideengutes wird es zunehmend unmöglich, das Ich als Sonderfall einer Substanz (Gott, Natur etc.) zu begreifen. Was die Gesellschaft nicht mehr regeln kann, wird dem Einzelnen übertragen, die Notwendigkeit der Selbstbestimmung fällt ihm zu: »Er wird in die Autonomie entlassen wie die Bauern mit den preußischen Reformen: ob er will oder nicht.«11 Es wird zur Aufgabe des Einzelnen, seine Partizipation an verschiedenen

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Zitiert wird nach Bertolt Brecht: Werke. G r o ß e kommentierte Berliner und Frankfurter Ausgabe ( G B A ) . Hrsg. von Werner Hecht/Jan Knopf/Werner Mittenzwei/Klaus-Detlef Müller. Berlin und Frankfurt am M a i n 1988-1999; Band und Seitenzahl im Haupttext. Wichtig ist die Studie: Niklas L u h m a n n : Individuum, Individualität, Individualismus. In: Luhmann: Gesellschaftsstruktur und Semantik. Studien zur Wissenssoziologie der modernen Gesellschaft. Dritter B d . Frankfurt a . M . 1989, S. 149—258, hier S. 199. Eine präzise und hilfreiche Darstellung nicht nur L u h m a n n s , sondern der soziologischen Individualitätsdebatte überhaupt gibt Markus Schroer: D a s Individuum der Gesellschaft. Synchrone und diachrone Theorieperspektiven. Frankfurt a . M . 2001. L u h m a n n : Individuum, S. 232. Niklas Luhmann: Soziologische Aufklärung. Sechster Bd.: Die Soziologie und der Mensch. Opladen 1995, S. 132.

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Welten zu einem Ich zu organisieren. Dabei dient ihm zwar die Sozialisation zum Aufbau einer psychischen Ordnung, aber weil diese Sozialisation nicht in nur einem Teilbereich der Gesellschaft erfolgt, der eine feste Inklusionsidentität garantieren würde, und weil die Möglichkeit schwindet, die verschiedenen Institutionen mit ihren Sinnhorizonten zu einer Einheit zu verbinden, pluralisiert sich das Individuum. M a n lebt hier und dort, mit Ausschnitten in Umwelten, findet sich aber als Ganzes — wenn überhaupt - nur außerhalb der sozialen Systeme. Dort muss man sich, ohne auf einen gesellschaftlichen Gegenhalt vertrauen zu können, selbst beschreiben. Das Ich ist komplex und frei; in der stoisch-kühlen Sprache Luhmanns: M i t höherer »Komplexität der strukturellen Bedingungen für Autopoiesis« und der »entsprechend höheren Kontingenz aller Strukturen« können die notwendigen Selektionen »mehr psychischen und mehr sozialen Systembedingungen genügen.« 11 Damit einher geht das Risiko, dass Menschen diese Pluralität verweigern, sie als Gefährdung ansehen und die Moderne als Verlustgeschichte. Sie wollen gar keine selbstkonstruierten Welteinschnitte, sondern möchten in einem höheren Ganzen aufgehen. Was ist die Welt, gesehen von einem Punkte aus? Sie möchten die einzige, wahre und wirkliche Welt. Sie wollen Anker im Absoluten werfen, kehren aus dem Freien zurück. Weil Stefan George die ständigen Wahlmöglichkeiten und -zwänge seiner Umwelt verabscheute, schuf er sich mit dem Kreis eine Ordnung, in der Notwendigkeit herrschte. Natürlich war damit und mit dem Glauben, dieser Kreis sei Teil einer erleuchteten Wahrheitsgeschichte, eine erhebliche Komplexitätsreduktion verbunden, die manche der Kreismitglieder wiederum als Selbstbeschränkung und Unfreiheit empfanden. Jedenfalls kann man eine solche ästhetische Gruppe nur verstehen, wenn man das Bedürfnis nach einem Leben darin sieht, das wieder Gewicht und Bedeutung erlangt hat, das aus einem >Muss< hervorgeht. Die Bedingungen des Sicherheitsverlustes und der Wahlfreiheit gelten allgemein für das Leben in modernen Gesellschaften. Z u besonderen Schwierigkeiten kommt es dort, wo Modernisierungsschübe auftreten. In der Literatur des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts findet man einen solchen Schub reflektiert. Denn hier muss das Individuum nicht nur mit dem üblichen Dissoziationsrisiko umgehen und diesem eine Identität abgewinnen, sondern wird in seiner Individualität gleichzeitig temporalisiert. Hier kollidieren Alt- und Neu-Identitäten, und es ist wahrscheinlich, dass ein altes Selbstverständnis den Anforderungen einer neuen Außenwelt nicht entspricht; das erlebt der Pfarrerssohn Benn in Berlin. Dann kommt es zu Problemen in der Selbstbeobachtung, aber auch zu Veränderungen des Eigenbildes, die durch Außenurteile herbeigeführt werden. So kann ein gesellschaftliches Teilsystem ein Individuum mit nicht-funktionsgerechter, veralteter Identität abweisen. Wenn

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Luhmann: Individuum, S. 165.

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der Einzelne aber bereit ist, sich den Vorgaben des Systems anzupassen, kann dies zu einem problematischen Bruch in der Selbstbeschreibung führen, weil man nicht mehr sicher sein kann, der- oder dieselbe zu sein. Auch die kühle Systemtheorie weiß, dass derartige Ubergänge für den Einzelnen katastrophal verlaufen können. 1 3 Eine weitere Möglichkeit besteht darin, in einer neuen Welt zu einem Selbstverständnis zu gelangen, das nicht in seinen Inhalten, wohl aber in seiner Leistung der verlorenen Identität adäquat ist. So kann Benn sich als Schriftsteller in die Kette seiner Vorfahren, der Pastoren, stellen, weil er ihren Willen zur Transzendenz unter den Bedingungen der Moderne realisiert: als Metaphysik der Kunst. So kann Johannes R. Becher die Ordnungsliebe, den Willen zum Recht, den er im Elternhaus erlebte, unter neuen Bedingungen realisieren: als Teil der Partei, die Wahrheit monopolisiert, das Anders-Sein kontrolliert und überhaupt in der liederlich gewordenen Gesellschaft groß reine macht. Jedenfalls entstehen in solchen Phasen erhebliche Orientierungsprobleme. »Die innere Unendlichkeit und deren Artikulationsbedarf«, 14 die dem Zusammenbruch von Wahrheiten folgen, können ästhetisch außerordentlich fruchtbare Folgen haben: Man redet, weil man sich selbst nicht kennt, und die Welt auch nicht. Das Gleiche gilt für die Ablehnung einer fremden, unstrukturierten Umgebung. Stefan George entwarf aus der Ablehnung des pragmatistischen Bismarckstaates ein großes Gegenreich. Er zog sich in die Spätantike zurück; ebenso in ein phantastisches Land, in dem Feen landeten, ihn segneten und er mit Priestern Liebesmahle feiern konnte. Aber in der »Unendlichkeit« liegt auch die Versuchung einer Selbstsimplifikation, die Versuchung, ein als belastend erfahrenes Komplexitätsniveau zu verlassen und eine neue Notwendigkeit herzustellen. Aus diesem Willen zur Notwendigkeit lässt sich die Annäherung vieler moderner Autoren an totalitäre politische Bewegungen verstehen, die ein weiteres Erkenntnisinteresse der Arbeit darstellt. Denn die Zeit seit dem späten 19. Jahrhundert ist auch die Zeit, in der die fundamentalistischen Gesellschaftsvorstellungen entwickelt und diskutiert werden, deren Umsetzung dann einige Jahrzehnte später erfolgt. Bei der Annäherung von Autoren an diese Konzepte handelt es sich um ein internationales, zum Beispiel in Italien und Russland, aber auch bei englischsprachigen Autoren zu beobachtendes Phänomen, das über biographische Zufälle hinausgeht. Der Begriff des Totalitarismus benennt

Unter diesem Gesichtspunkt könnte man noch einmal abseits von Polemik oder HeiligenStilisierung die zahlreichen Krankengeschichten m o d e r n e r A u t o r e n diskutieren: als sich auch physiologisch niederschlagende Empfindlichkeit für den Verlust von Wahrheiten und Glaubensgeschichten; als Erschrecken über die in aller Schärfe erfahrene Angewiesenheit des modernen Ich auf sich selbst. D a f ü r müsste man das Instrumentarium der Psychologie und Psychopathologie heranziehen, das hier aus systematischen Gründen ganz außen vor bleibt. Luhmann: Individuum, S. 214.

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vergleichbare Strukturen nicht-demokratischer Zwangsstaaten mit verschiedener ideologischer Füllung. Als Merkmale solcher Systeme werden unter anderem genannt: eine straff ausgerichtete Massenpartei; eine entfaltete Ideologie mit Endzeitanspruch; ein Monopol der Massenkommunikationsmittel. Diese Merkmale sind in der kommunistischen Sowjetunion und im nationalsozialistischen Deutschland anzutreffen. Der Begriff erlaubt damit eine Systematisierung gegen-moderner Denkweisen und Kräfte. Für die hier interessierende Frage ist er geeignet, weil die Identitätsbildung der Autoren sich nur selten mit Fragen konkreter Politik beschäftigt. Anziehend waren jene Versprechungen der politischen Glaubenslehren, in denen es um eine grundsätzlich anders strukturierte Gesellschaft und um einen bestimmten Typ von Wahrheit, eine »geschichtsphilosophische Neo-Essenz«, ging.' 5 Das dissoziierte Individuum interessiert sich vor allem fur das Faktum einer gemeinsamen Ideologie, die als subjekt-unabhängige, nicht konstruierte Wahrheit gilt. Versprochen wird, die öffentliche Ordnung wieder von einem Zentrum aus zu kontrollieren und den einzelnen Menschen von seiner gegenwärtig pragmatischen Existenz abzulösen und nach dem Konzept eines Sinnlichkeit und Vernunft vereinenden >neuen Menschen* zu modellieren. Man will Substanz sein, nicht nur Funktion. So interessiert sich Gottfried Benn weniger flir die Rassenlehre der Nationalsozialisten als fiir die Schaffung einer neuen, die Stände auflösenden Gemeinschaft, 16 und Brechts Wendung zum Kommunismus ist nicht wirtschaftspolitisch begründet, sondern bezieht sich auf das Heils-Potential der Partei. Sie wird den Subjektivismus der Moderne, die große »Tollheit«, bändigen und kontrollieren.' 7 Aus dieser Perspektive ändert sich das Bild der modernen Literatur. Sie erkennt mit außerordentlichem Scharfblick risikoreiche und für den einzelnen Menschen gefährliche Entwicklungen ihrer Zeit. Aber die Freiheit, Unabhängigkeit, Fülle und Lust dieser Zeit finden sich nur selten und in wenigen Texten. Sie treten in Benns virtuoser Freude an der Montage des Heterogenen hervor oder in Brechts Darstellung der Antagonismen der modernen Stadt, die als großer Boxring oder als lustvoller Dschungel erscheint. Beide Autoren aber entscheiden sich schließlich für den Wahrheitsbesitz, folgen dem Ressentiment gegen das nicht-kontrollierte Leben und damit dem Hauptstrom der ästhetischen Moderne, der eine antagonistische Reaktion auf seine Umwelt, die gesellschaftlich-historische Moderne, darstellt. Die Kunst soll die Freiheit einfangen und ihr eine Richtung geben.

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Odo Marquard: Schwund-Telos und Mini-Essenz. Bemerkungen zur Genealogie einer aktuellen Diskussion. In: Identität. Poetik und Hermeneutik VIII. Hrsg. von Karlheinz Stierle und Odo Marquard. München 1979, S. 347-369, hier S. 360. Gottfried Benn: Gesammelte Werke in der Fassung der Erstdrucke. Vier Bände. Hrsg. von Bruno Hillebrand. Frankfurt a.M. 1982; Bd. II: Prosa und Autobiographie, S. 300. So die Gedichte »Lob der Partei« und »Lob des Kommunismus«, entstanden 1930/31, G B A Ii, 234.

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Unter moderner Kunst wird jene Kunst verstanden, die mit den gesellschaftlichen, wissensgeschichtlichen und mentalen Bedingungen der Moderne in Beziehung steht. Diese Beziehung kann verschiedene Formen besitzen: Kunst bringt die Bedingungen der Moderne mit hervor, bildet sie ab, reflektiert sie; sie kann diese Bedingungen bejahen, vorantreiben, kann sie kritisieren und Gegenmodelle entwerfen. Der Beginn der gesellschaftlichen und ästhetischen Moderne lässt sich plausibel auf das letzte Drittel des 18. Jahrhunderts, die sogenannte Schwellenzeit, datieren. Denn in dieser Zeit vollziehen sich Entwicklungen, die noch heute bestimmend sind, von hier bis zur Gegenwart existieren Kontinuitäten. Das gilt für die Etablierung eines Rechts, das von der Einzelperson ausgeht, für die Entstehung einer Konkurrenzwirtschaft, für die Erfindung des Verfassungsstaates mit Grundrechten. U n d das gilt auch für die Freisetzung des Ich aus traditionellen Bindungen. In der Literatur schlägt sie sich seit dem Sturm und Drang nieder. Hier artikuliert sich ein Ich, das erstaunt seine Bewegungsmöglichkeiten erkennt. Es hat seine Fesseln verloren, muss nicht mehr die Knie beugen: So verkündet Goethes >Prometheus< mit Wucht die Kraft der Selbstgesetzgebung. Aber mit Goethes >Werther< erscheint auch schon die Schattenseite der Freiheit, die Gefahr einer haltlosen Introspektion. Damit ergibt sich eine Makroepoche der Moderne, die sich in verschiedene Mikroepochen unterteilen lässt.'8 Diese Mikroepochen werden verstanden als verschiedene Typen von Antworten auf das Gesamtphänomen Moderne. Sie unterscheiden sich durch ihre inhaltliche und formsprachliche Bezugnahme auf diesen Rahmen, aber auch durch den je verschiedenen Stand von Modernisierung, mit dem sie sich auseinandersetzen. Denn es ist natürlich ein Unterschied, ob ein Autor wie Friedrich Schlegel in der noch unbestimmten Formierungsphase der bürgerlichen Gesellschaft eine >Neue Mythologie< entwirft oder ob am Anfang des 20. Jahrhunderts ein Gegenreich der Kunst projektiert wird, das sich viel schärfer mit bestehenden Faktizitäten auseinandersetzen muss. Die Unterepochen der Moderne müssen die eingebürgerten literaturwissenschaftlichen Phasenbegriffe (Romantik, Realismus etc.) nicht ersetzen. Vielmehr wäre es wünschenswert, diese bekannten Epochenbegriffe zu schärfen, zu erweitern oder auch neu zu definieren, indem man nach der jeweiligen Beziehung eines Diskurses zu den gesellschaftlichen, wissensgeschichtlichen und mentalen Bedingungen der Moderne fragt. Nicht fortführbar ist lediglich der gebräuchliche, wenn auch zuletzt schon seltener verwendete Begriff von literarischer Moderne, der diese im späten 19. Jahrhundert beginnen lässt. 19

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Vgl. dazu die Einleitung der beiden Herausgeber in dem Sammelband: Ästhetische M o d e r n e in Europa. G r u n d z ü g e und Problemzusammenhänge seit der Romantik. Hrsg. von Silvio Vietta und Dirk Kemper. München 1998, S. 1-55, besonders S. 8—21. Er ist ohnehin schwach, nämlich nur über stilgeschichtliche Veränderungen, die in dieser Zeit eintreten, definiert. Er folgt der Innovationsrhetorik der Akteure, geht aus ihren Texten und

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Stattdessen sollte man den Zeitraum um 1890, um den es hier gehen wird, in dem der älteste der Autoren, Stefan George, zu veröffentlichen beginnt, als Anfang einer neuen Mikroepoche ansehen. Dieser Einschnitt ist durch formsprachliche Neuerungen bestimmt, aber auch gesamtgeschichtlich, weil die Literatur sich hier mit jenen Umbrüchen auseinandersetzt, die Deutschland konzentriert im späten 19. Jahrhundert erfassen. N u r mit diesen historischen Veränderungen sind auch die ästhetischen Innovationen zu erklären, die schließlich nicht vom Himmel fallen oder einem Autor zufällig und plötzlich in den Sinn kommen. Der Begriff der Makroepoche besitzt weitere Vorzüge: Er lässt die Literaturwissenschaft kommunikationsfähiger werden, weil ihr Begriff von Moderne mit dem anderer Wissenschaften vermittelbar ist. Innerhalb der Literaturwissenschaft ergibt sich der Nutzen, Analogien verschiedener Phasen der Makroepoche erfassen und verstehen zu können. M a n besitzt neben ästhetisch kleinteiligen und oft immanenten Abgrenzungen von >Epochen< und neben der Vielheit der >-ismen< nun eine überwölbende Kategorie. Mit ihr lässt sich die Einheit eines großen literarischen Zeitraumes formulieren; und mit ihr lässt sich die Wiederkehr oder Variation von Phänomenen erklären. Für den Zeitraum um 1900 bestehen solche Analogien zur Goethezeit. Dort haben die in dieser Arbeit beschriebenen Auseinandersetzungen der Autoren mit den Bedingungen einer freigesetzten Identität ihre Vorläufer. A u f sie kann bei Gelegenheit verwiesen werden: wenn der junge Brecht dort, wo er sich über die Natur zu legitimieren versucht und eine rauschhafte Entgrenzung erlebt, in die Nähe des Sturmund-Drang-Habitus gerät; oder wenn George dort, wo er dem Dichter über >Weihe< und >Inspiration< einen besonderen Status zuschreibt, auf Hölderlins Dichtungs-Verständnis zurückgreift. Aber nicht nur in der Literatur, auch in der Reflexion über sie sind die Bedingungen moderner Individualität schon in der Goethezeit reflektiert worden. Ein besonders aufschlussreiches Beispiel bietet eine Rezension Hegels, in der er sich mit dem Werk des Schriftstellers und Philosophen Friedrich Heinrich Jacobi (1743—1819) auseinandersetzt. 20 Hegel erklärt, dass man an Jacobi einen großen mentalitätsgeschichtlichen Wandel beobachten kann: die Wendung von der normativen Beurteilung von Handlungen zur Suche nach einem

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ihrer Selbstdeutung hervor. Zudem befriedigt dieser Begriff nicht, weil er etwa die in dieser Arbeit untersuchten Autoren nur zum Teil erfassen kann. In dem Moment, wo Brecht und George sich auf eine Botschaft festlegen und diese in tradierten lyrischen Formen vermitteln, wären sie keine modernen Lyriker mehr; um es eventuell im jeweiligen Spätwerk aber wieder zu werden. Manchmal ginge der Riss sogar mitten durch ein Werk. »Der Siebente Ring< Stefan Georges etwa wäre, folgte man den eingebürgerten formsprachlichen Definitionen in der Nachfolge Hugo Friedrichs, zur Hälfte ein modernes Buch, zur anderen nicht. Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Werke. In 20 Bänden. Hrsg. von Eva Moldenhauer und Karl Markus Michel. Frankfurt a.M. 1969-1971, ern. 1986; Bd. 4 (Nürnberger und Heidelberger Schriften 1808-1817), S. 429-461, Seitenangaben im Haupttext.

IO

Urteil, das aus dem Selbst hervorgeht. Dieser Prozess ist Teil der Moderne, in der Wahrheit nicht mehr durch äußere Autorität verbürgt wird. Gesucht wird nach einer Stütze in der inneren Uberzeugung, nach einem unbezweifelbaren, authentischen Selbst-Sein, das die alte Gewissheit äußerer Vorgaben ersetzt. Aber Jacobis »Majestät, die im Menschen« ist (449), seine innere »Absolutheit« (448), unterliegt erheblichen Gefahren. Diese Gefahren bestehen in einer nicht mehr intersubjektiv vermittelbaren Selbsterhebung, die sich um die Welt nicht schert. So kann sich die Selbstständigkeit und Freiheit im »absolut Unbestimmten« verlieren (449), zu einer Ich-Intensität ohne Inhalt werden. Daraus aber stürzt man ab, wenn ernüchtert deutlich wird, dass die innere Gewissheit des Subjekts zahlreichen Zufällen unterliegt, bedingt ist »durch besonderes Naturell des Charakters« sowie durch »Lage und Umstände« (451). Was eben noch als höchste Würde des Subjekts erschien, kann zu einem begriffslosen Gefühl verdampfen, erscheint verkatert als willkürliche »Einzelheit« (451). Im Nachhinein ist das, was als authentische Gewissheit erschien, nur eine hochstilisierte »Begierde« gewesen (451). Dagegen setzt Hegel die begrifflich begründete, durch Gesetze gesicherte Ordnung einer Gesellschaft. Das Licht der Vernunft muss den Zufall bändigen, die »Dämmerung des Geistreichen« aufhellen (454). Nur die öffentliche Vernunft ermöglicht ein friedliches Miteinander, während Appellationen an das Gefühl zu einem wilden Antagonismus von nicht begründbaren, sich jeweils Dignität zusprechenden Behauptungen fuhren würden. Das Herz ist haltlos und schwankend, wenn es nicht außer sich Orte findet, die dauerhaft sind. Es gibt viele vergleichbare Stationen und Auseinandersetzungen auf dem Weg von der normativ geregelten Identität zur Suche nach dem Selbst-Sein, und diese Auseinandersetzungen sind bis heute nicht beendet. Beständig ist der Widerstreit zwischen der Freisetzung subjektiver Wahrheiten und der Einsicht, dass ein Dafur-Halten aus eigener Uberzeugung erheblichen Schwankungen unterworfen ist. Dem bürgerlichen Subjekt bleibt nichts anderes übrig, als die Wahrheit in die Meinung zu verlagern — und gleichzeitig damit die Last der Reflexion zu tragen. Denn der Blick ins Innere, so weiß schon Werther, kann auch ins Leere führen, von der Welt und vom Handeln entfernen. Immer wieder spricht die moderne Literatur von der Verlockung der Selbstvergötterung — und dem Absturz in ein fundamentales Schuldbewusstsein, das die Subjektwerdung als Urfehler ansieht. Das Gefühl, ohne Außenhalt in einer Welt zu leben, in der alles auch anders sein könnte, kann zur rauschhaften Entgrenzung führen - aber auch zur Angst, dass sich irgendwann alle beharrenden Formen in den zeitlichen Wandel und die Schwankungen der Psyche auflösen könnten. Immer wieder in der Moderne tritt auch ein Dichter-Typus auf, der diese Extreme in sich vereint und als Werk auslebt. Wenn man den Begriff und die Geschichte der Moderne in der hier geschehenen Weise skizziert, sieht man sich gelegentlich dem Vorwurf ausgesetzt, an einer neuen >großen Erzählung< vom Sinn und Ziel der Geschichte mitzuII

schreiben, Gericht über Teile der Vergangenheit halten zu wollen und einen gegenwärtigen Zustand umfassender Liberalisierung als >wahr< zu statuieren. Dagegen ist zunächst an die einfache Einsicht zu erinnern, dass keine Form der Wissenschaft ohne Vorannahmen und implizite Normen auskommt und arbeiten kann. Die Frage ist allerdings, ob man seine Werturteile durch die Rückbindung an erkenntnisleitende Interessen offen legt und damit auch diskussionsfähig macht oder ob man sie stillschweigend mit- und weitertransportiert (vielleicht weil sie einer offenen Explikation nicht mehr standhalten würden). Weiterhin ist die Frage, wie stark und damit eventuell einengend diese Wahrheiten ausfallen, ob sie ein rigoristisches Vorgehen nach sich ziehen. Dazu ist zu sagen, dass der Begriff der Modernisierung« nicht geschichtsphilosophisch zu verstehen ist, keinen teleologischen Prozess bezeichnet, sondern aus der Beobachtung hervorgegangen ist, dass sich die auf Grundrechten basierende offene Gesellschaft in der oben gegebenen Definition Wehlers in einer langen historischen Entwicklung gegen konkurrierende Modelle durchgesetzt hat. Allerdings möchte ich den Begriff der modernen Gesellschaft und den ihr zugehörigen Identitätstypus nicht nur evolutionistisch rechtfertigen, sondern auch mit einem Wahrheitsanspruch verbinden: Dieser besteht in der Freiheit zur Selbst- und Umweltgestaltung, die fur alle Menschen als gleich gedacht ist, die dem Menschen als solchem eigen ist. Dabei handelt es sich um eine abstrakte Forderung, die in den gegenwärtig existierenden liberalen Gesellschaften nicht vollständig erfüllt ist; doch kommt dieser Gesellschaftstyp unter allen existierenden Optionen der Freiheits-Forderung am nächsten, bietet für sie die besten Realisierungsmöglichkeiten. Diese Norm nun unterscheidet die, wenn man so will, Erzählung der Modernisierung von anderen traditionellen Sinngeschichten. Denn das Ziel der Modernisierung besteht zwar in einem Zustand, der an Bedingungen geknüpft ist. Aber aus der Erfüllung dieser Bedingungen gehen außerordentlich viele Möglichkeiten der Lebensgestaltung hervor. Dagegen kulminierten tradierte Formen geschichtsphilosophischen Denkens in Vorstellungen von sehr weitgehender Gleichheit, entwarfen relativ enge Bilder >des< richtigen und guten Lebens, sahen Abweichungen gerade nicht vor. Es ist also ein Unterschied ums Ganze, ob man mit einem weiten Wahrheitsanspruch wie >Recht zur Selbst- und Umweltgestaltung< arbeitet oder einen zu erreichenden Endzustand postuliert, in dem die Menschen über gemeinsame Glaubensgegenstände, verbindliche Rituale, Vorgaben hinsichtlich der Lebensführung verbunden sind. Zudem kann die Erzählung der Modernisierung, weil sie nicht von einem wesenhaften Geschehen spricht, ihr Ziel nicht metaphysisch legitimiert, mit Kritik gelassener umgehen, sich vom Furor der Rechthaberei (hoffentlich) freihalten. Im Haus der Moderne gibt es eben viele Wohnungen.

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2.

W a r u m Lyrik?

Wer nach Identität fragt, dem bietet sich die Lyrik in besonderer Weise an. Man muss Gattungen nicht als Naturformen ansehen, um feststellen zu können, dass sich in der europäischen Kulturgeschichte in einem lange andauernden Prozess die Lyrik als Form der Selbstaussprache und Ich-Konstitution herausgebildet hat. Das schließt Abweichungen von diesem Weg und Negationsversuche, die die Lyrik vom Ich befreien wollen, nicht aus. Doch erlangt eine Gattungsentwicklung, die sich ja nicht rein willkürlich vollzieht, sondern anthropologischen Bedürfnissen und Materialgegebenheiten folgt, irgendwann eine Evidenz, die nicht leicht zu beseitigen ist. Sie kann so stark werden, dass sie einem Status als Naturform, wie es die Goethezeit behauptet hat, durchaus nahe kommt. In einer kanonisch gewordenen Form hat Hegel in seiner >Asthetik< die Lyrik definiert, wo es in Abgrenzung zur Epik heißt: »Aus der Objektivität des Gegenstandes steigt der Geist in sich selbst nieder, schaut in das eigene Bewußtsein und gibt dem Bedürfnisse Befriedigung, statt der äußeren Realität der Sache die Gegenwart und Wirklichkeit derselben im subjektiven Gemüt, in der Erfahrung des Herzens und der Reflexion der Vorstellung und damit den Gehalt und die Tätigkeit des innerlichen Lebens selber darstellig zu machen.«21 Man sieht, dass Gedichte hier nicht auf eine weitabgewandte IchBespiegelung festgelegt werden. Es geht um Formen der Manifestation einer äußeren »Wirklichkeit« im »subjektiven Gemüt«. Als Ziel der Gattung wird damit Reflexivität unter bestimmten, kenntlich zu machenden Bedingungen genannt, und deshalb lassen sich nach Hegels Ansicht in der Lyrik die »tieferen Auffassungen durchgreifender Lebensverhältnisse« finden; eben solche durchgreifenden Lebensverhältnisse stellt der Prozess der Modernisierung her. Dass Hegel weiterhin das lyrische Subjekt keineswegs als statische Größe versteht, die unberührt Welt reflektiert, zeigt sich, wenn er den Autor als Schauspieler bezeichnet, der potentiell »unendlich viele Rollen durchspielt«,12 und Ich-Konstitution damit als Prozess beschreibt. An diesem Verständnis der Gattung soll festgehalten werden. Dabei handelt es sich nicht um eine Definition, sondern um eine Beschreibung, die aus einer Beobachtung hervorgeht, nämlich aus jener, dass in der Lyrik — nicht nur und nicht immer, aber vorrangig — Fragen der Subjektivität thematisiert werden; dies gilt, wie die folgenden Analysen zeigen werden, eben auch für die Lyrik des 20. Jahrhunderts. Eine solche Bestimmung, die sich auf den Inhalt bezieht, besitzt weniger Exaktheit und ist leichter mit Gegenbeispielen anzugreifen als formal-strukturelle Gattungsdefinitionen. Diese allerdings stehen in Gefahr, eine universelle Gültigkeit mit einer Tendenz zur Gehaltlosigkeit zu bezahlen.

21 22

Hegel: Werke. Bd. 15 (Vorlesungen über die Ästhetik III), S. 416. Ebd., S. 429.

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Dies gilt ausdrücklich nicht, wenn, darin den Definitionen anderer Gattungen vergleichbar, das Rede-Kriterium herangezogen wird. So geschieht es bei Dieter Lamping, der Lyrik als »Einzelrede in Versen« definiert hat.23 Auch wenn Lamping sich dagegen wehrt, so lässt sich doch der Begriff der Einzelrede, die Tatsache, dass in der Lyrik in der Regel nur eine Stimme spricht, nur eine Person agiert, mit dem traditionellen Verständnis von Lyrik als privilegierter Form der Selbstthematisierung verbinden: Wo nur einer spricht, liegt es nahe, dass er vom Selbst und von der Umwelt als der Umwelt eines Einzelmenschen spricht.24 Der Begriff der Selbstthematisierung oder Subjektaussprache ist so weit gefasst, dass er anders als das lange gültige und heftig befehdete Paradigma der Erlebnislyrik epochenübergreifend verwendet werden kann. Denn das Subjekt stellt keine Erfindung der Moderne dar, sondern eine Konstante, die allerdings erheblichen historischen Veränderungen unterliegt. Auch die Gedichte Walthers von der Vogelweide betreiben Selbstaussprache, und wenn die Expressionisten im frühen 20. Jahrhundert die Erfahrung ausdrücken, fragmentiert zu leben, heißt das Thema ebenfalls: Subjektivität. Die Behauptung einer gattungsgeschichtlichen Kontinuität richtet sich gegen die Tendenz der ästhetischen Moderne, das Ich zu verabschieden, und ebenso gegen die Literaturwissenschaft, die ihr darin folgt. Denn mit der Literatur und der Poetologie beteiligt sich die Wissenschaft an der Umwertung und Neudefinition der Lyrik seit dem späten 19. Jahrhundert. Sie beginnt das Verschwinden der Subjektivität, die »Entichtung« der modernen Gedichte, wie es bei Oskar Walzel heißt, zu kanonisieren. Echte Lyrik, so statuiert Walzel, zeichne sich dadurch aus, dass das Personalpronomen »Ich« mühelos durch ein »Wir« ersetzt werden kann.25 Auch Margarete Susman, auf die der Terminus lyrisches Ich< zurückgeht, zielt in die gleiche Richtung, wenn sie feststellt, dass der empirische Autor sich im lyrischen Ich vernichtet habe. Aus dieser Feststellung erwächst die Forderung, dass ein lyrischer Text Individualität überwinden, in die »ewigen Zusammenhänge des Mythos« einordnen solle.26 Wenn man aber nicht glaubt, dass im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert die Lyrik alle Bestimmungen abstreift, sondern die Moderne als Entwicklungsphase einer langen Gattungsgeschichte ansieht, gelangt man zu einer

23

24

25

26

Dieter Lamping: Das lyrische Gedicht. Definitionen zu Theorie und Geschichte der Gattung. Göttingen 1989, S. 59K Problematisch wird Lampings Definition dort, wo die Einzelrede mit dem Begriff des Monologischen verbunden wird, denn damit wird suggeriert, dass Lyrik nicht auf Adressaten gerichtet ist; ebenfalls bedenklich ist die Beschreibung lyrischer Rede als absoluter, nicht situationsgebundener Rede. Diese Vorstellungen entstammen deutlich Poetologien des 20. Jahrhunderts, besitzen historisch begrenzte Gültigkeit und leisten zudem einer Abkoppelung der Lyrik von der Wirklichkeit Vorschub. Oskar Walzel: Schicksale des lyrischen Ichs (1916). In: Lamping: Das Wortkunstwerk. Mittel seiner Erforschung. Darmstadt 1968, S. 260—276, hier S. 264; 270. Margarete Susman: Das Wesen der modernen deutschen Lyrik. Stuttgart 1910, S. 16; 20.

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anderen Perspektive. Dann handelt es sich bei der Zersplitterung und beim Fragwürdigwerden des lyrischen Ich um eine Reaktion auf die oben beschriebenen historischen Verwerfungen, auf einen Modernisierungsschub, in dem alte Ich-Garanten fragwürdig werden und neue Haltepunkte noch nicht in Sicht sind. Hier trifft sich das Verständnis der Gattung mit den Überlegungen zur Geschichte und zur Subjektphilosophie. Die Lyrik wird damit Teil der Auseinandersetzung um eine angemessene oder wahre Lebensform unter bestimmten historischen und wissensgeschichtlichen Bedingungen. W e n n die Lyrik das Ich zurücknimmt und negiert, dann hat sie damit teil an dem Versuch, der Unbestimmtheit des modernen Menschen zu entkommen: »an escape from personality«, wie es bei T. S. Eliot heißt. 27 Und wenn die Lyrik Lebensformen entwirft, in denen man nicht mehr einzeln existiert, hat sie teil an der an vielen Stellen zu beobachtenden Intention, den Menschen wieder als Teil eines großen Zusammenhanges zu verstehen. Auch das lyrische Ich sucht nach einer Macht, in deren Namen es reden kann. Und auch wo kein Ich mehr auftritt, ist immer noch jemand vorhanden, der spricht. Wenn man sich in dieser Weise entscheidet, lyrische Texte weiterhin auf die Beschreibung von Subjektivität zu beziehen, dann kann dies analytisch natürlich nicht in Form einer einfachen Zurechnung von Ich-Aussagen auf die Instanz des Autors geschehen. Zwar bilden die Personal- und Possessivpronomen des Gedichtes das Fundament der Analyse, aber die Vermittlung mit Instanzen außerhalb des Textes geschieht über das Textsubjekt oder den impliziten Autor. 18 Dieses Textsubjekt bringt eben nicht nur das lyrische Ich hervor, sondern ein Ich, das innerhalb einer Struktur agiert. Dazu gehören die Gestaltung von Raum und Zeit ebenso wie das Verhältnis des Ich zu eventuell vorhandenen anderen >PersonenHauspostille< umschließt die Natur den Menschen, der zum Fisch im See, zum Ast eines Baumes werden möchte; die Natur-Bilder drücken den Wunsch aus, Glied eines Kontinuums zu sein. Auch der Syntax kann eine Bedeutung für die Selbstkonstitution zukommen, etwa wenn hypotaktische Formen eingesetzt werden, um in einer dynamischreißenden Bewegung die differenzierenden Mittel von Verstand und Vernunft außer Kraft zu setzen. Ahnliches gilt für die klangliche Feinstrukturierung, weil ein besonders dichter Einsatz musikalischer Elemente zur Schwächung der semantischen Ebene der Sprache fuhrt. Deshalb hat Brecht, nachdem er sich als politischer Autor verstand, die Form des Liedes, der gereimten und metrisierten Rede kritisiert, die er in seinem Frühwerk so souverän gehandhabt hatte. Durch die Musik verliere die Botschaft Genauigkeit und Kraft: »Das Gedankliche schwamm so a u f W o g e n einher.« 30 Die Lyrik des politisch festgelegten Autors ist dementsprechend von einer direkten, Wissen vermittelnden, formschwächeren Sprache bestimmt. Entscheidet man sich für die Gattung Lyrik zur Analyse von Identität, dann muss man nicht nur nach dem Autor, sondern auch nach dem Leser fragen. Im Zusammenhang mit den Besonderheiten der Gattung ist darauf hingewiesen worden, dass die Ich-Position des Gedichtes aufgrund ihrer Offenheit vom Leser gefüllt werden kann, was in der praktischen Lektüre in der Tat nicht selten geschieht. 31 Voraussetzung dafür ist ein gemeinsamer ErfahrungsHintergrund von Autor und Leser. Im vorliegenden Fall könnte es sich um geteilte Verlusterfahrungen und um Bedürfnisse nach neuer Stabilität unter veränderten Bedingungen handeln. Dann kann die »Subjektfigur«, die den engen Zusammenhang von Text und Leser in der Lyrik ermöglicht, identifizierend gefüllt werden. Die Identität des Autors kann in der Lektüre mit der eigenen Person verschmelzen. Dabei geht es natürlich um Gefühle, aber auch darum, ob die Leser jene Weltbeschreibung, jene Auswahl von Kontexten, die

2

» George: S W IX, 103. 5° G B A 22, 364. 31

Kaspar H. Spinner: Zur Struktur des lyrischen Ich. Frankfurt a.M. 1975, S. 18.

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das lyrische Ich vornimmt, akzeptieren und als ihre eigene ansehen können. 32 Diese Lesesituation wird auch dort nicht außer Kraft gesetzt, wo ein Gedicht die Gefährdung oder Uberwindung von Individualität vorführt, denn auch diese Haltung lässt sich, wie erklärt, als Angebot verstehen, und auch dort, wo nur noch von Kontexten die Rede ist, ergibt sich eine Identität, die eben in der besonderen Auswahl des Kontextes besteht. Dies ist der Fall, wenn bei Johannes R. Becher nur noch von Lenin die Rede und gar kein Ich mehr zu finden ist.

3.

Zur Methode

Die Arbeit ist grundsätzlich hermeneutisch ausgerichtet und geht von der einfachen Annahme aus, dass die gegenwärtige Gesellschaft und die in ihr lebenden Menschen ein weiteres und genaueres Verständnis von sich selbst erhalten, wenn sie die ästhetisch-intellektuellen Reize zurückliegender Zeiträume auf sich wirken lassen, sich mit ihnen auseinandersetzen, sie analysieren. Voraussetzung dafür ist eine Schnittmenge zwischen den Zeiten, die hier durch den Prozess der Modernisierung und die damit verbundenen Bedingungen von Individualität gebildet wird. Diese Bedingungen wurden um 1900 in einer Phase großer Beschleunigung reflektiert und werden gegenwärtig, verbunden mit den politischen und ideengeschichtlichen Veränderungen seit dem Jahr 1989, in neuer Deutlichkeit wahrgenommen. Der Verstehensprozess ist aber nicht einfach als Auffinden und Bestätigen von Gemeinsamkeiten gedacht. Es handelt sich genauso und mehr um ein Infrage-Stellen, ein antagonistisches Schärfen von Positionen, um Ablehnung und Widerspruch zwischen Vergangenheit und Gegenwart. Das gilt in diesem Fall, weil viele und wichtige Künstler und Intellektuelle im Deutschland des 20. Jahrhunderts Positionen eingenommen haben, die mit den großen historischen Katastrophen dieses Jahrhunderts im engen Zusammenhang stehen und deshalb nur begrenzt fortsetzungsfähig sind. Hier geht es um Aufklärung und um Abgrenzung von weiterwirkenden intellektuellen Traditionen, die Freiheitsgewinne mit dem Vokabular von >Verlust< und >Entfremdung< überziehen, die anfällig für Ganzheiten und Heimaten sind; dafür sind sie erstaunlich leicht bereit, rationale und zivilisatorische Standards aufzugeben. Umso interessanter - und geschärfter - ist der Blick auf jene Werkteile von Autoren, die in eine andere Richtung wiesen, eine andere Entwicklung

μ

Karlheinz Stierle: D i e Identität des Gedichts. Hölderlin als Paradigma. In: Identität. Poetik und Hermeneutik V I I I . Hrsg. von Karlheinz Stierle und O d o M a r q u a r d . M ü n c h e n 1979, S. 505—55z, hier S. 520; 522; vgl. auch W o l f g a n g Iser: Figurationen des lyrischen Subjekts. In: E b d . , S. 7 4 6 - 7 4 9 .

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ermöglicht hätten. Solche die Freiheit annehmenden, sich ihr stellenden, sie ästhetisch fruchtbar machenden Linien, die im 20. Jahrhundert nicht dominant waren, bieten aus heutiger Sicht stärkere Anschlussmöglichkeiten; dazu finden sich einige Überlegungen im >Schluss< der Arbeit. Wenn die Arbeit also grundsätzlich hermeneutisch ausgerichtet ist, werden doch Postulate subjektnegierender Methoden in die Herangehensweise einbezogen. Denn auch wer an der Existenz von sich frei ausdrückenden und selbstverantwortlich handelnden Menschen festhält, kann zugestehen, dass Einwände, wie sie die Dekonstruktion vorgebracht hat, den Blick für die Widersprüche und den Wechsel in der Selbstbeschreibung von Personen geschärft haben. Ein auf Einheit fixierter und substantialistischer Subjektbegriff wird so abgewandelt, dass Subjektivität aus einem Widerspiel von beharrenden Kräften und Veränderungen besteht. Sie ist zwar Präsenz, aber ebenso auch Prozess, und manchmal droht dieser Prozess jede Sicherheit zu verschlingen. Was Derrida »differer« genannt hat, wird zwar nicht in seinem Sinn als >Zerlegen< verstanden, wohl aber als Temporalisieren. Bei der konkreten Lektüre erkennt man mit der Optik der Dekonstruktion Brüche in der literarischen Gestaltung von Personen besser. Die Dramatik historischer Identitätsbildungsprozesse, die im frühen 20. Jahrhundert zu extremen Entscheidungen geführt hat, sieht man klarer, wenn man sich mit der Infragestellung einer einheitlichen und souverän Zeichen setzenden Autor-Instanz auseinandergesetzt hat. Der Autor existiert dann nicht mehr einfach als sprachunabhängige Essenz, die von ihr getrennte Zeichen handhabt, sondern ist Teil seines eigenen sprachlichen Entwurfs. Er handhabt ihn, schreibt das Gedicht, aber geht daraus auch als Veränderter hervor. Er steht nicht nur außen, wie es eine vereinfachte Textlehre sich vorstellt, löst sich aber ebensowenig in ein Zeichenspiel auf, sondern steht innen und außen, ist Entwerfender und Entwurf: »a constant crossing of boundaries between self and versions of self.«33 U m solche Paradoxien und Zirkularitäten kommt man bei der Bestimmung des Selbstverhältnisses nicht umhin; 3 4 sie dürften immerhin dem Selbstgefühl der meisten sich beobachtenden Menschen durchaus nahe kommen. So wird also mit der Hermeneutik und mit der Subjektphilosophie daran festgehalten, dass ein ursprüngliches Bewusstsein von sich selbst als einem einzelnen, wahrnehmenden Wesen existiert; gleichwohl wird zugestanden,

" 34

Kinereth Meyer: Speaking and Writing the Lyric >Ipostmodernen< Toterklärung. Frankfurt a . M . 1986.

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Zustände und Eigenschaften auf sich selbst bezieht. 36 In einer damit zusammenhängenden, auf die Zeit bezogenen Bedeutung bezeichnet Identität das Gleichbleibende einer Person im Verlauf der Zeit. Habermas hat Identität als die »symbolische Struktur« definiert, »die es einem Persönlichkeitssystem erlaubt, im Wechsel der biographischen Zustände, also in der Zeit, und über die verschiedenen Positionen im Raum, auch im sozialen Raum hinweg, Kontinuität und Konsistenz zu sichern, derselbe oder dieselbe zu bleiben.« 37 Ohne in ein allgemeines Psychologisieren zu fallen, kann man davon ausgehen, dass hier Beharrungskräfte wirken, die alte Ansichten und neue, widersprechende Erfahrungen oder Wünsche so zu verbinden suchen, dass der bisherige Bestand der Person nicht radikal verändert werden muss. So kann man versuchen, eine Idee zu finden, die zwischen dem Bestand und den neuen Erfahrungen vermittelt, ohne das Alte zu gefährden, aber auch ohne das drängende Neue schlichtweg zu ignorieren; was allerdings auch nicht selten vorkommt. Gegen diesen gesamten K o m p l e x argumentiert die Subjekt-Kritik des 20. Jahrhunderts, die zu analysieren sein wird. Sie richtet sich besonders auf die Behauptung einer ungesicherten Individualität, die sie als scheinhaft ansieht oder der sie die Uberlebensfähigkeit abspricht. Nicht selten setzt die Kritik aber fundamental schon bei der Subjektivität an, bei der Trennung von Mensch und Objekt und bei der A-priori-Setzung des Bewusstseins, das der Welt vorgeschaltet wird. Die individualisierende Absonderung der Subjekte voneinander wird dann als gefährliche und besonders für moderne Gesellschaften kennzeichnende Steigerung dieser ersten Spaltung angesehen. Hinsichtlich der Identität stehen diese Strömungen der Vorstellung einer sich selbstreflexiv und autonom entwickelnden Identität skeptisch gegenüber und beziehen den einzeln existierenden Menschen auf anonyme, nicht seinem Bewusstsein entstammende >objektive< Größen zurück. Aus ihnen geht er hervor, von ihnen ist er abhängig und wird er gelenkt; und in der Regel soll er auch gelenkt werden.

4.

Z u m Aufbau

Die Arbeit ist so aufgebaut, dass zuerst als Vorlauf und Hintergrund exemplarisch Teile jener Debatte vorgestellt werden, die im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert um Subjektivität und Individualität geführt wurde. Schon bevor und während die Autoren ihr Ich entwarfen, fand eine umfassende

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J7

Dieter Henrich: »Identität«. Begriffe, Probleme, Grenzen. In: Identität. Poetik und Hermeneutik VIII. Hrsg. von Karlheinz Stierle und Odo Marquard. München 1979, S. 133-186, hier S. 175ft Entwicklung des Ich. Hrsg. von Rainer Döbert/Jürgen Habermas/Gertrud Nunner-Winkler. 2. Auflage. Königstein 1980, S. 9.

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Auseinandersetzung um diese Fragen statt. Diese Auseinandersetzung bildet einen Kontext, in dem Literatur stattfindet, in den sie hineinwirkt, aus dem sie Anregungen erhält. Hier wird also nicht einfach ein Raster über literarische Texte gestülpt, sondern geht es um Fragestellungen, die schon für die Zeitgenossen auch solche waren. Als besonders ergiebig hat sich aufgrund der Vielzahl der in ihm erprobten Möglichkeiten das Werk Nietzsches erwiesen. Die Situation, in die die Autoren eintreten, aber auch die Lösungswege, die sie erproben, sind bei Nietzsche weitgehend vorgedacht. In ihrem Kern, den Studien zu George, Benn, Brecht und Becher, ist die Arbeit biographisch strukturiert. Diese Autoren wurden gewählt, weil sie die Ich-Thematik nicht nur auf sich selbst bezogen, mental behandelten, sondern vom Ich in seiner Umwelt sprechen. Sie nahmen die Gesellschaft ihrer Zeit genau wahr, setzten sich mit den Lebensformen von Individuen zu einer bestimmten Zeit, unter bestimmten Bedingungen auseinander. Ebenso bezogen sie Wissen aus verschiedenen Gebieten in ihre Literatur ein, bedienten sich wie Benn der Sprache der Naturwissenschaft, wie Brecht jener der Ökonomie. Eine wichtige Rolle spielt die Politik: Die Autoren beobachteten sie, näherten sich ihr zumindest in Phasen ihres Lebens an oder schalteten sich in sie ein. Man kann ihr lyrisches Ich deshalb als ein öffentliches Ich bezeichnen. Diese Bezeichnung ließe sich auf Autoren wie Trakl oder Rilke, die ebenfalls der Brüchigkeit des Selbst nachgingen, nicht anwenden. Die Benennung als öffentliches Ich trifft auch die Wirkung der Autoren, denn zumindest ihre Annäherung an die Politik wurde über den Bereich der Literatur hinaus wahrgenommen und debattiert. Eine solche Wirkung hatten Brecht, Benn und Becher mit ihren Stellungnahmen auch beabsichtigt; in Georges Fall sollte die Wirkung auf die Gesellschaft zu einem großen Teil indirekt über den Kreis erfolgen. Dazu passt auch, dass sich die Autoren nicht auf lyrische Veröffentlichungen beschränkten, sondern entweder grundsätzlich in verschiedenen Gattungen schrieben (Brecht) oder über die Lyrik hinausgriffen, Prosa und Essays verfassten (Benn und Becher). Auch hier nimmt George eine gewisse Sonderstellung ein, doch hat er die literatur-vermittelnde, wissenschaftliche und pädagogische Tätigkeit des Kreises immer auch als sein Werk verstanden. Wenn die Autoren also mit ihrer besonders weltzugewandten Lyrik auch nicht die gesamte Gattung in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts repräsentieren, so können sie doch beispielhaft für die Fragen, Herausforderungen und Versuchungen jener Autoren stehen, die sich auf die spannungs-durchtobte Welt im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts einließen. Ein weiterer Grund fur die Auswahl ist anzufügen: Es ging auch, wenn man von Becher einmal absieht, um die ästhetische Qualität. Das Thema ist interessant, spannend, aber nicht immer erfreulich; da sollten es auf jeden Fall gute Gedichte sein. Die grundsätzlich biographische und hier wiederum meist chronologische Vorgehensweise entspricht der Thematik, weil sich Identitäten im Wechsel der Zeit entfalten und dieser Wechsel mit seinen Kontinuitäten und Wider21

Sprüchen klarer in Autorenkapiteln abzubilden ist als in einer systematischen Darstellung. Die systematischen Gemeinsamkeiten zwischen den Autoren werden an entsprechenden Stellen benannt. Die Vorgehensweise entspricht auch der Uberzeugung, dass die Literaturwissenschaft keine Berührungsangst vor Lebensgeschichten haben sollte. Zwar muss man den Biographie-Begriff um Kontexte erweitern, in denen ein Leben stattfindet und mit denen ein Individuum sich auseinandersetzt. Mit den Erkenntnissen der Sozial-, Ideen- und Diskursgeschichte ist es möglich, sich den lange verpönten Lebensgeschichten von Autoren zuzuwenden, statt eine oft unterkomplexe Biographik und eine bis zur Gegenstandslosigkeit hochgezüchtete Theorie nebeneinanderher laufen zu lassen. Ebenso muss man keine Sorge vor der Einsicht haben, dass es sich dabei um Menschen handelt, die in herausragender Weise in der Lage waren, die Bedingungen ihrer Zeit zu erfassen, anderen sprachlich zu vermitteln und ihnen dabei zu helfen, sich besser zu verstehen und ihr Leben zu erweitern. Solche Bewunderung schließt nicht aus, dass manche ihrer Entscheidungen als problematisch und verfehlt angesehen und klar benannt werden; ohne deutliche Urteile entsteht keine Auseinandersetzung. Der zeitliche Einschnitt im Jahr 1933 ergibt sich aus dem politischen Interesse, ist aber auch systematisch zu rechtfertigen, weil mit dem totalitären Bekenntnis, mit der Unterwerfung des Singulären unter ein Allgemeines, eine Extremform der Identitätsbildung erreicht ist. Allerdings ergeben sich daraus biographische Inkongruenzen. Das betrifft nicht Stefan George, der 1933 stirbt, und auch nicht Johannes R. Becher, der nach seinem Bekenntnis zur Partei ein im Wesentlichen unverändertes Selbstverständnis beibehält. Aber Gottfried Benn und Bertolt Brecht bleiben auf dem zu dieser Zeit eingenommenen Punkt nicht stehen. M i t einem knappen Ausblick auf ein spätes Gedicht dieser Autoren soll das Defizit wenigstens symbolisch behoben werden. Vollständigkeit kann auch in der Darstellung zuvor nicht erreicht werden; wohl aber geht es darum, die Phasen der Identitätsbildung zu bestimmen und sie durch repräsentative Gedichte und gelegentlich auch Texte anderer Art zu charakterisieren. Der Schluss unternimmt den Versuch, die gegenwärtige Perspektive auf die in den Texten vorgelebten Formen der Identität zu schärfen. Gegenwart bedeutet dabei die Zeit, in der mit dem Jahr 1989 das letzte politisch und intellektuell relevante Gegenmodell zur offenen Gesellschaft und zum Freiheitsbegriff des »pursuit of happiness« gescheitert ist. Damit stellt sich die Frage nach einer neuen Lektüre der ästhetischen Moderne. Denn ihre Wahrheiten kann man nicht, wie zum Beispiel Charles Taylor es sich vorstellt, einfach perpetuieren, als sei nichts geschehen. 38 Was sie unter >Natur< verstanden hat, ist nicht mehr

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Charles Taylor: Quellen des Selbst. Die Entstehung der neuzeitlichen Identität. 2. Auflage. Frankfurt a.M. 1996; vgl. die Bemerkungen dazu im >Schluss< der Arbeit.

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die Natur der Gegenwart, und ihr Verständnis von Gesellschaft ist mit den Auseinandersetzungen, wie sie in der Politik, Philosophie oder in den Sozialwissenschaften geführt werden, kaum noch vermittelbar. Enger, als man es lange gesehen hat, gehört die Literatur der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts zu dessen Katastrophengeschichte. In ihrer heutigen Gestalt leistet die ästhetische Moderne zwar noch Widerstand gegen etwas, das sie >Entfremdung< oder >Entzauberung< nennt; aber sie weiß gar nicht mehr, wer sich wovon entfremdet hat, und welcher Zauber eigentlich gemeint war. Sie besitzt keine intellektuellen Fundamente mehr, von denen aus sie kämpfen kann. Das lyrische Ich wird sich also erneut aufmachen müssen, sich den Weg durch Unsicherheiten zu bahnen, die nicht mit einfachen Urteilen und Etiketten zu versehen sind, deren Wahrheit oder Unwahrheit offen ist. Auf allgemein geteilte Meinungen kann es sich vorläufig nicht verlassen und schreibt auf eigene Rechnung. Der Verzicht auf Fundamental-Opposition und intellektuelle Sicherheit hat allerdings nichts mit einem Verzicht auf höchste Ziele zu tun. Wie Bertolt Brecht 1921 in sein Tagebuch notierte: »Ich bin immer noch unterwegs auf dem Weg zur Sonne« (26, 262).

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I. Vorläufer und Anreger - Die Subjekt-Debatte im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert

1.

Nietzsches Experimente

1.1

Das unruhige Ich

Nietzsches erste Autobiographie, die er 1858 als Vierzehnjähriger schrieb, endet mit dem Wunsch: »Könnte ich doch recht viel solche Bändchen schreiben!« 1 Tatsächlich hat er sich mit der Frage, wer er sei, in immer neuen Anläufen beschäftigt. Allein in der Jugendphase entstehen acht weitere autobiographische Versuche, das philosophische Werk ist durchzogen von selbstreflexiven Bemerkungen, die den geistigen Lebenslauf betreffen, und kurz vor Ausbruch des Wahnsinns entsteht die Autobiographie >Ecce homorestaurativ< klassifizierte. Manche Zeitzeugen hatten einen schärferen Blick f ü r das späte 19. Jahrhundert und sahen, wie rapide in jener Zeit Traditionen und Verhaltensformen, die einmal als natürlich galten, ihren Wert verloren. Nietzsche hat die gesellschaftlichen Bedingungen seiner Zeit überraschend genau und abseits der üblichen zivilisationskritischen Muster beobachtet. Im ersten Kapitel von »Menschliches, Allzumenschliches*, 1878 erschienen, heißt es unter dem Titel » Z e i t a l t e r d e r V e r g l e i c h u n g « :

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Hier und im Folgenden wird zitiert nach Gottfried Benn: Gesammelte Werke in der Fassung der Erstdrucke. Vier Bände. Hrsg. von Bruno Hillebrand. Frankfurt a.M. I982ff. I: Gedichte; II: Prosa und Autobiographie; III: Essays und Reden; IV: Szenen und Schriften; hier III, 503. Jürgen Habermas: Der philosophische Diskurs der Moderne. Frankfurt a.M. 1989, S. 104.

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Je weniger die Menschen durch das Herkommen gebunden sind, um so grösser wird die innere Bewegung der Motive, um so grösser wiederum, dem entsprechend, die Polyphonie der Bestrebungen. Für wen giebt es jetzt noch einen strengeren Zwang, an einen Ort sich und seine Nachkommen anzubinden? Für wen giebt es überhaupt noch etwas streng Bindendes? Wie alle Stilarten der Künste neben einander nachgebildet werden, so auch alle Stufen und Arten der Moralität, der Sitten, der Culturen. - Ein solches Zeitalter bekommt seine Bedeutung dadurch, dass in ihm die verschiedenen Weltbetrachtungen, Sitten, Culturen verglichen und neben einander durchlebt werden können; was früher, bei der immer localisirten Herrschaft jeder Cultur, nicht möglich war, entsprechend der Gebundenheit aller künstlerischen Stilarten an Ort und Zeit. (2,44) Die Geschichtsschreibung nennt das nüchtern Modernisierung. Beschrieben ist der Verlust von Bezügen, aus denen der Lebensvollzug unbefragt und selbstverständlich hervorging; der Verlust von Räumen und Milieus, die Mentalitäten prägten und Einstellungen vorgaben. Dem entspricht ein Gewinn: wenn man die gestiegene Beweglichkeit sieht, die neue Möglichkeit, zwischen Lebensformen zu wählen, Häuser zu wechseln. Die moderne Gesellschaft ist durch äußere und innere Unruhe gekennzeichnet, weil den freigesetzten Individuen verschiedene Welt- und Selbstbetrachtungen offen stehen, die sie leben können, auch probeweise und vorläufig. Diese Gesellschaft stellt immer weniger Selbstverständlichkeiten bereit, der Grad ihrer Heterogenität steigt. Und der moderne Mensch ist unentwegt damit beschäftigt, sich zu vergleichen. Das ist ein allgemeines Kennzeichen der Moderne, die sich aber in Schüben durchsetzt und deren Unruhe dort besonders stark wird, wo ein solcher Schub auftritt und wieder eine Schwelle überschritten wird. Nietzsche spricht von seiner Gegenwart als einer solchen Zeit, w o Altes und Neues einen » C o n t r a s t « bilden, weil sie »noch zu nahe gestellt« sind. Gegensätze stehen nebeneinander, führen zu einem »aufgeregten« Dasein, das die Reizbarkeit der Individuen erhöht (2,43; M A ) . Denn es ist ja nicht so, dass Traditionen einfach abgeschnitten werden und beseitigt sind. Sie verlieren nur ihre fraglose Normativität, existieren aber weiter und treten in Konkurrenz mit Neuentwicklungen. Dadurch ist der Einzelne verschiedenen Ansprüchen ausgesetzt, und Nietzsche kann einen durchschnittlichen Zeitgenossen beschreiben, der sich nach einer religiös bewegten Kindheit einem jugendlichen Pantheismus zuwendet; von dort gelangt er zu einer metaphysischen Philosophie und sucht sein Heil dann in der Kunst; schließlich landet er beim Glauben an Naturwissenschaft und Historie ( 2 , 2 2 4 ^ M A ) . Ein Leben verbindet konkurrierende Weltdeutungen, alte und neue, so dass der K a m p f der Generationen auch im Inneren stattfindet (2,222; MA). Damit geht jenes Gefühl der Beschleunigung einher, das schon aus der Moderne des späten 18. Jahrhunderts bezeugt ist: Es ist, »als ob die Jahreszeiten zu rasch aufeinander folgten« (2,232; M A ) . Für diese mentalen Veränderungen werden historische Ursachen benannt. Dazu zählt die gestiegene Mobilität durch Handel, Industrie und Verkehr. Räume und Grenzen bieten jetzt weniger Orientierung (2,309; M A ) . Mit der

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Urbanisierung gehen »feste, ruhige Linien« der Natur verloren (2,234; M A ) , mit denen man lebte. Auf politischem Gebiet setzt sich Nietzsche überraschend präzise mit der langsamen, aber mächtigen Demokratisierung des 19. Jahrhunderts auseinander. Sie führt zu einem Abbau von Hierarchien, von Oben und Unten, von normierenden Größen (2,292; M A ) . Stattdessen herrscht die »Concurrenz« von Menschen und Parteien, die sich rasch ablösen und denen die »Bürgschaft ihrer Dauer« fehlt (2,305; M A ) . M i t der Konkurrenzsituation ist die Verpflichtung zum Gewaltverzicht verbunden (2,359; M A ) . So ändern sich die Formen des Zusammenlebens, vor allem aber die Basis des Staates. Denn die demokratische Regierung als »Function des alleinigen Souverains, des Volkes«, kann, wenn das Volk »mannichfach über religiöse Dinge denkt«, keine glaubensähnlichen Vorgaben mehr formulieren (2,303; M A ) . Der Staat bildet keine mythologische Einheit mehr ab, er ruht nicht mehr auf einem gemeinsamen mentalen Fundament. Damit wird die Sphäre des Politischen vom » u n b e d i n g t e n Gefühle« gelöst (3,148; M). 5 Sie erfüllt Funktionen, organisiert Konflikte, vermittelt aber keine Wahrheit. Deshalb kann Nietzsche zuletzt die »Entfesselung der Privatperson« als »Consequenz des demokratischen Staatsbegriffes« ansehen (2,305; M A ) . Natürlich lebt auch diese Privatperson noch in Zusammenhängen, in denen man Aufgaben wahrnimmt, aus denen man sein Selbstverständnis bezieht. Aber diese Zusammenhänge werden nicht mehr als natürlich erfahren, sie entstammen nicht mehr einer großen, im Wesentlichen als gegeben angesehenen Ordnung. Der alteuropäische Glaube an Vorherbestimmung geht verloren: »Stände, Zünfte, erbliche Gewerbs-Vorrechte haben mit Hülfe dieses Glaubens es zu Stande gebracht, jene Ungeheuer von breiten Gesellschafts-Thürmen aufzurichten«, deren Qualität in ihrer Schutzfunktion und Dauer besteht. Dagegen entdeckt man in den neueren, »eigentlich demokratischen« Zeitaltern das »Willkürliche« in allen Zusammenhängen, ihren Konstruktcharakter. Das wirkt zurück auf den Lebensweg, der dort nicht mehr vorgezeichnet ist, »wo der Einzelne überzeugt ist, ungefähr Alles zu können, ungefähr j e d e r R o l l e g e w a c h s e n zu sein, wo Jeder mit sich versucht, improvisirt, neu versucht, mit Lust versucht, wo alle Natur aufhört und Kunst wird.« Nietzsche sieht, dass es sich bei dieser Freisetzung des Individuellen um einen Z u g zur Verwestlichung handelt. 6 Dieser »Amerikaner-Glaube« wird immer mehr auch »Europäer-Glaube«, und die alten europäischen Türme zerfallen: »Wir Alle sind kein Material mehr für eine Gesellschaft« (3,595ff.; F W ) .

Im Zuge solcher Überlegungen nimmt Nietzsche auch ungewöhnliche Bewertungen vor, zum Beispiel, wenn er Bismarck als beweglichen Geist lobt. Bismarck sei » o h n e G r u n d s ä t z e « — »das sollte an einem Staatsmanne nichts Auffälliges haben« (3, 149; M). Die Geschichtswissenschaft hat erst neuerdings diese Perspektive eingenommen: Heinrich August Winkler: Der lange Weg nach Westen. München 2000. Die Darstellung konzentriert sich allerdings auf den Bereich der Politik, während eine Mentalitätsgeschichte der Aneignung des Westens und der Auseinandersetzung mit ihm noch aussteht.

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Als entscheidendes Kennzeichen der Moderne sieht Nietzsche aber die Säkularisierung an, den Verzicht auf eine religiöse Legitimation der bestehenden Ordnung und ihrer Normen. Der Bedeutungsverlust der Religion hat eine Ursache in der Ausweitung des wissenschaftlichen Denkens, in der allgemeinen Rationalisierung, die Bestände der Metaphysik angreift. Der Charakter der modernen Wissenschaft ist »Verdächtigung« (2,209; M A ) . Aber Säkularisierung bezeichnet vor allem einen gesellschaftlichen Wandel, in dem eine offene Ordnung entsteht, mit einer Vielheit von Wahrheitsansprüchen. Die alte gebündelte »Volksleidenschaft« ist in viele »Privat-Leidenschaften« auseinandergefallen (3,396; F W ) , so dass der Einzelne nicht mehr in einem »religiös umgränzten Horizont« aufwächst (2,195; M A ) . M i t der Metapher des Horizontes bezeichnet Nietzsche die Orientierungsleistung der Religion. D e n n während sich das Individuum in einer metaphysisch begründeten Gesellschaft als Sonderfall einer Substanz begreifen kann, aus der Normen hervorgehen, fällt jetzt ein immer größer werdender Bereich der Lebensführung eigenen Entscheidungen zu. Diesen mit der Säkularisierung verbundenen Orientierungsverlust hat Nietzsche f ü r einschneidend gehalten - im Gegensatz zu einem Denken, das sich >postmetaphysisch< nennt, aber nach der Herkunft und Begründbarkeit seiner Behauptungen lieber nicht fragt. Der »tolle Mensch«, der den Tod Gottes verkündet, hat dieses Ereignis, das »noch unterwegs ist«, als Einziger schon begriffen und ist eben deshalb toll geworden. Wie mit einem Schwamm ist ein Horizont ausgewischt, sind jene unbefragten höchsten Gegenstände verschwunden, die überhaupt erst Entscheidungen und damit den Lebensvollzug ermöglichen: »Wohin bewegen wir uns?« (3,48of.; F W ) . Denn aus der Religion ging anderes hervor, zum Beispiel »unsre ganze europäische Moral«, die nun, wenn der Verlust der Axiome erst einmal bewusst geworden ist, in einen Erosionsprozess gerät (3,573; FW). 7 Der Verlust der Religion wiegt für Nietzsche auch deshalb so schwer, weil er sich weigert, ihre Unbedingtheitsansprüche auf andere Bereiche zu übertragen, diese religiös aufzuladen, der Zeitlichkeit und dem Perspektivismus zu entziehen. Scharf ist sein Blick für jene Ersatzreligionen, denen sich die Intellektuellen des 19. und 20. Jahrhunderts hingaben. Sie versuchten, Absolutheit herzustellen, und Kandidaten dafür waren die Geschichte, die Natur und die Kunst. Durch Teleologie und eine mysteriöse Selbststeuerung geriet die Geschichte zur Geschichtsphilosophie. Nietzsche setzt sich hier vor allem mit Hegel auseinander, der mit Hilfe des »historischen SinnesUeber Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinneda draußen< ist nicht möglich, >die< Realität nicht abbildbar. Die Bezeichnungen der Sprache sind Erfindungen, die ein gesellschaftliches Miteinander ermöglichen, indem sie verbindliche Bezeichnungen und Deutungen der Dinge festlegen. Nietzsche vertritt damit einen weitgehenden Nominalismus, der die Erschließungs-Leistung der Sprache bezweifelt und nach ihrer intersubjektiven Funktion fragt. Dieser Nominalismus untergräbt den Glauben an unbedingte, nicht konstruierte Wahrheiten, die im »Alter der theoretischen Unschuld« versinken (2,356; M A ) . Normen gehen aus Behauptungen und Annahmen hervor, die sich als nützlich erwiesen haben. M a n kann hier von einer großen Verunsicherung sprechen, aber auch von einer großen Befreiung. Denn man wird frei von Unbedingtheitsansprüchen und ihrem Furor: »Es ist nicht der Kampf der Meinungen, welcher die Geschichte so gewaltthätig gemacht hat, sondern der K a m p f des Glaubens an Meinungen« (2,356; M A ) . In der Moderne ist man von der » T y r a n n e i des W a h r e n « befreit (3,297; M), und die Erkenntnis soll fortan als Gegengift dienen, um die Wirkung neu auftretender Wahr-

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heiten zu begrenzen (2,323; ΜΑ). Befreit von den »Bezauberungen«, welche in »jedem unbedingten Ja und Nein« liegen (3,627; FW), kann der Einzelne die Lebensformen wechseln; er wird nicht festgehalten. So schließt die Einsicht, dass individuelle Willensentscheidungen in jedem Erkenntnisakt mitwirken, eine Aufforderung zum Experimentieren ein. Wenn alles Erkennen nur einem Tanz gleicht, kann man diesen auch neu, elegant und schön tanzen (3,417; FW). Natürlich kann man diese Erkenntniskritik wiederum kritisieren. Sie erklärt nicht, wie die jeweiligen Konstruktionen der Realität entstehen, warum einige Plausibilität erlangen und andere nicht, und sie sagt auch nichts zur historischen Abfolge der Weltbilder. Man kann auf jenen Selbstwiderspruch hinweisen, in dem sich universale Vernunftkritik und eigener (vernunftgebundener) Erkenntnisanspruch befinden. 9 Ebenso berechtigt ist der Hinweis, dass Nietzsche, anders als Kant, das autonom gewordene Subjekt auch von der Moral befreit und damit in erhebliche Folgeprobleme gerät. 10 Denker in der Nachfolge Nietzsches würden darauf antworten, dass eine derartige Kritik weiterhin metaphysische Annahmen benötigt, um dem Subjekt einen sichernden Rahmen zu verschaffen." Womöglich sind solche Annahmen tatsächlich notwendig, um die Auseinandersetzung zwischen den auf die Welt zugreifenden Subjekten zu zivilisieren; womöglich besitzt auch der Liberalismus einen metaphysischen Kern. Das ist ein offenes Problem der Moderne. Wer Nietzsches Denkbewegungen nachvollzieht, sieht dieses Problem zumindest schärfer.

1.4 Apologie des Individuellen Die Auseinandersetzung mit den Bedingungen der Moderne wird in der deutschen Literatur und Philosophie spätestens seit dem letzten Drittel des 18. Jahrhunderts geführt. Nietzsche fand hier Punkte, an die er anknüpfen konnte. Ein ungehörter Ton ergibt sich aber aus der Emphase, mit der Nietzsche die Freisetzung des Individuums betreibt. Lebensgeschichtlich findet sich diese Feier der Individualität vor allem im mittleren Werk, in den Aphorismen-Sammlungen >Menschliches, Allzumenschliches*, >Die fröhliche Wissen-

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Habermas: Diskurs der Moderne, S. 120. Himmelmann: Freiheit und Selbstbestimmung, S. 114. Ein aktuelles Beispiel für die entsprechenden Auseinandersetzungen bietet Jürgen Habermas: Wahrheit und Rechtfertigung. Philosophische Aufsätze. Frankfurt a.M. 1999. Habermas gesteht in Auseinandersetzung mit seinen Kritikern ein, dass wesentliche Teile seiner Diskursethik der Tradition metaphysischen Denkens entstammen. Sie sind von sprach- und handlungsfähigen Subjekten, wie wir sie kennen, auch nicht annäherungsweise zu realisieren; ihre Umsetzung würde auf das Ende der Geschichte und der menschlichen Natur in ihrer bisherigen Ausstattung hinauslaufen; vgl. S. 48ff., 256fr. 32

schaft< und >MorgenrötheGeburt der Tragödien um dann mit dem — entschieden Tiefe reklamierenden - >Zarathustra< fortzufahren; schon ist man bei der Vernunftkritik des Spätwerkes angelangt. In der mittleren Phase seines Werkes setzt sich Nietzsche deutlich von jener Zivilisationskritik ab, die Modernisierung als Verfall ansieht, die intensiv vor den Gefahren zu großer Freiheit gewarnt, aber selten Angst vor zu wenig Freiheit geäußert hat. Gegen deren Bewertungen wendet er sich, zum Beispiel dagegen, Zeiten, in denen es »schon viele Individuen und Lust am Individuellen giebt«, als Zeiten des Niedergangs, der »Corruption« zu bezeichnen. Nietzsche sieht, dass starke Kollektiv-Identitäten der Entwicklung neuer Ideen hinderlich sind. Wo die eine Leidenschaft der Groß-Gemeinschaft in viele Leidenschaften zerfällt, steigt die Gesamtmenge der »verbrauchten Energie eines Volkes«, und das Individuum gibt »so verschwenderisch« Energie aus, »wie es ehedem nicht konnte«. Während die Verteidiger des sozialen Bandes von »Erschlaffung« sprechen, schlägt »die Flamme der Erkenntniss lichterloh zum Himmel« (3,395^-; F W ) . Die verbreitete Skepsis, die der Schwächung von Grenzen und Zusammenhängen entgegengebracht wird, sieht Nietzsche in einem tief verwurzelten Schutzbewusstsein des Menschen begründet, der in seiner Anfangszeit Sicherheit nur in größeren Verbänden fand. Daraus stammt ein »HeerdenGewissensbiss«, geht die Gleichsetzung von »böse« und »individuell« hervor (3,22; M). A n dem Willen, das Individuelle dem Allgemeinen zu opfern, leidet noch die Gegenwart mit ihrer fortwährenden »allzugeringen Beachtung des Persönlichen« (2,92; M A ) . Gegen diese Denkweise wendet sich Nietzsche mit einer Umwertung historischer Ereignisse. Wo die Veränderung einer großen Einheit, zum Beispiel die Reformation eines ganzen Volkes misslingt, kann man daraus schließen, dass dieses Volk »schon sehr vielartig in sich ist« und die Individuen sich nicht mehr reduzieren lassen. Je stärker dagegen ein Einzelner auf eine ganze Gemeinschaft wirken kann, »um so niedriger muss die Masse sein, auf die da gewirkt wird.« A u f die Vielfalt einer individualisierten Welt und deren »verschiedenartige Noth« kann nicht mehr »mit einem einzigen Recepte des Glaubens und Hoffens« geantwortet werden (3,493f.; F W ) . Aber Nietzsche setzt Individualisierung nicht mit Beziehungslosigkeit oder Gesellschaftsferne gleich. Auch die »ungebundneren« und »unsichereren« Individuen {2,187; M A ) , die den Boden des Allgemeinen lockern, leben noch in Zusammenhängen. Diese gestalten sich aber anders. Interessanterweise findet man hier schon die Vorstellung einer differenzierten Gesellschaft, die 33

aus verschieden organisierten Teilbereichen besteht. In der Moderne muss ein Individuum »überaus vielartigen Ansprüchen der Cultur angepasst werden, ohne dass diese es beunruhigen und seine Einartigkeit zersplittern« (2,203; MA). Damit wird Heterogenität festgestellt, ohne Identität für obsolet zu erklären. An einem einheitlichen, kontinuierlichen Selbstbezug wird festgehalten, dieser aber als Integrationsleistung bestimmt, als Fähigkeit, verschiedene Welten und ihre Ideen zu verbinden. Das moderne Ich ist nicht losgelöst, sondern in den »Contrapunct der privaten und öffentlichen Cultur eingereiht.« Es ist weiter Teil einer Ordnung, aber weil es sich um eine bewegliche Ordnung handelt, gestaltet es diese auch mit. Im Bild der Musik: Man soll »als Melodie begleiten« und »die Melodie führen« (2,203; MA). Dabei kann es, weil die Moderne aus schwer zu vereinbarenden Gegensätzen besteht und der Mensch in sich »heterogene Mächte waltend findet«, zu heftigen Spannungen im Inneren kommen. Auch hier flüchtet sich Nietzsche nicht in einfache, extreme Lösungen, sondern skizziert ein Modell: Das Innenleben sei als Gebäude zu gestalten, in dem widerstrebende Ideen, »wenn auch an verschiedenen Enden«, wohnen können, »während zwischen ihnen versöhnende Mittelmächte« angesiedelt werden, um gegebenenfalls Streit zu schlichten. Dieses Modell dürfte der Lebenspraxis vieler gegenwärtiger Menschen nahe kommen (2,227f.; MA). 1 2 Eine Rechtfertigung des modernen Ich wird aus solchen Überlegungen deshalb, weil Differenzierung hier nicht als Verlust, sondern als Stärkung angesehen wird. Das neue »dividuum« (2,76; MA) kann »auf mehr Saiten spielen« (2,230; MA) als der alte Mensch. Der Modernisierungsschub des späten 19. Jahrhunderts hat eine Ordnung zerbrochen. Man lebt ein » v o r l ä u f i g e s Dasein oder ein n a c h l ä u f i g e s Dasein«, in dem alte Gesetze noch wirken,

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Überlegungen zur parallelen Organisation des modernen Ich und der modernen Gesellschaft finden sich auch in den Nachlassnotizen, zum Beispiel in Bd. 9 der K S A . Aus grundsätzlichen Überlegungen, das Verhältnis von veröffentlichten Texten und Notizen betreffend, und im Hinblick auf die Rezeption beschränke ich mich auf die von Nietische zur Veröffentlichung gegebenen Schriften. Grundsätzlich sollte man den Unterschied zwischen Werken, die von einem Verfasser zu einem bestimmten Zeitpunkt als abgeschlossen, als formal und gedanklich durchgearbeitet angesehen und deshalb für die Öffentlichkeit freigegeben werden, und Aufzeichnungen, die den Charakter von Notizen, Überlegungen, auszubauenden Ideen und Lesefriichten tragen, nicht nivellieren. In einigen Bereichen der Literaturwissenschaft hat die Aufwertung von Vorüberlegungen und Skizzen gegenüber den veröffentlichten Werken zu paradoxen Situationen geführt. Beispiele sind Teile der Frühromantik- und HölderlinForschung, die sich in hochspezialisierten Detaildiskussionen über Sätze verlieren, die in der Regel keinen oder nur einen geringen Kontext besitzen. Insofern laden sie zu spekulationsund interpolationsfreudigen Deutungen ein, die nicht zu falsifizieren sind. So kann man in fragmentarische Textstücke dann ganze Philosophien hineinlesen, geheime Lehren, von denen in den veröffentlichten Texten des Verfassers leider nichts zu bemerken ist. Hinter dieser Verschiebung des Interesses steht auch ein Glaube: dass das Rohe und Ungeschliffene wertvoller ist als das Geformte, dass Fragmente der Wahrheit näher stehen als Werke.

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neue erst erprobt werden. Für die Versuchs-Individuen, die dabei herauskommen, die nicht mehr Teil einer großen Erzählung sind, schreibt Nietzsche: »Wir sind Experimente: Wollen wir es auch sein!« (3,274; M).

1.5

Gegen Subjekte und Genies

In der Entwicklung der Moderne hat es Versuche gegeben, die Einsicht, dass der Einzelne nicht mehr über ständische Schichtung, Religionszugehörigkeit und Herkunft, ja überhaupt nicht mehr aus einem sozialen Zusammenhang eine feste Identität erhält, abzumildern. Dabei hat man an der Unhintergehbarkeit des Bewusstseins und seiner welterschließenden Funktion zwar festgehalten, gleichzeitig aber naturale oder transzendentale Prämissen im Inneren des Menschen postuliert, die ein Mindestmaß an Ubereinstimmung garantieren und vor einem Übermaß an Kontingenzbewusstsein schützen sollen. 13 So gelangt man zur philosophischen Vorstellung des >Subjektsnur empirisch< verschieden ausfällt«.' 4 In jedem besonderen Ich existiert ein Allgemeines, das aber gleichwohl modern ist, weil es aus dem Appell an die Selbstreferenz hervorgeht: M a n ist Individuum und Menschheit zugleich. 15 Diese Versuche, eine Substanz zu retten, überzeugen Nietzsche nicht. Er vertritt einen starken Begriff von Individualität und definiert »individuell« als das, wovon »kein allgemein gültiger Begriff aufgestellt« werden kann (2,233; M A ) . Z w a r besitzt jeder Mensch ein höheres Selbst, aber dabei handelt es sich nicht um ein generalisiertes Subjekt, sondern um »sein höheres Selbst«: das, was jemand bei Ausnutzung seiner Möglichkeiten werden kann (2,35if.; M A ) . Ein philosophisch oder lebenspraktisch definiertes Abstractum >Mensch< würde diese Entwicklungsmöglichkeit nur behindern. Das individuelle Glück geht aus eigenen, der Allgemeinheit nicht zugänglichen Gesetzen hervor, und die Idee einer allgemeinen N o r m (»Menschheit«) führt vom Weg der eigenen Vervollkommnung ab (3,95E; M ) .

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L u h m a n n analysiert diese ideengeschichtliche B e w e g u n g und nennt sie »die Flucht ins Subjekt«; N i k l a s L u h m a n n : D i e G e s e l l s c h a f t der Gesellschaft. F r a n k f u r t a . M . 1998, S. i o i 6 f f . E b d . , S. 1023. L u h m a n n sieht dieses Denken in der Kommunikationstheorie von H a b e r m a s fortentwickelt. D o r t w i r d das Subjekt z u m »Teilnehmer an K o m m u n i k a t i o n « ; zu diesem Z w e c k muss es bestimmte B e d i n g u n g e n erfüllen, die aber aus ihm selbst hervorgehen sollen; ebd., S. 1031.

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Hinter der Vorstellung des Subjekts sieht Nietzsche daher nur einen neuen Versuch, sich von einer größeren Macht bestimmen zu lassen, sich selbst zu entkommen. Versteht man das Subjekt als Träger von Moral, dann will man den Menschen auf bestimmte Taten festlegen (3,319; M). Schreibt man ihm eine beständige »Haltung« zu, will man seine Bewegung einschränken (2,349; MA). Betreibt man also eine Genealogie des Subjekts, dann erkennt man darin den Wunsch, sich als Diener und Werkzeug »irgend eines letzten indiscutabeln und an sich erhabenen Gebotes« zu fühlen (3,377; FW). Nietzsche denkt in strukturellen Analogien und versteht das Subjekt als vorerst letzte Gestalt dieses Wunsches nach einem, der befiehlt, »nach einem Gott, Fürsten, Stand, Arzt, Beichtvater, Dogma, Partei-Gewissen« (3,582; FW). Diese Größen entbinden von der Aufgabe der Selbstregulierung, der Einnahme und Revision von Positionen, und sie mindern das Gefühl der Instabilität und Zeitlichkeit des Individuums. Jene Philosophen, die sich »Unpersönlichkeit und Dauer ohne Wechsel andichten« (3,470; FW), setzen daher, auch wenn sie sich selbst als säkularisiert ansehen, das Denken monotheistischer Religionen fort. Auch bei ihnen gibt es die Lehre »von Einem Normalmenschen«. Sie versuchen zu vergessen, dass es für den Menschen »keine ewigen Horizonte und Perspectiven« gibt, dass er also mit der Veränderung auch in seinem Inneren leben muss ( 3 , 4 9 0 ^ FW). In der ästhetischen Theorie gibt es einen inhaltlich zwar verschiedenen, strukturell aber dem >Subjekt< vergleichbaren Versuch, von der Individualität und Autonomie des Menschen auszugehen, gleichzeitig aber im Inneren, hier des Künstlers, eine nicht-kontingente Substanz zu bewahren. Dafür bürgt das >Geniewahr< zu behaupten. Motive des Handelns geraten unter Verdacht, Leidenschaften, die zur Zukunft drängen, werden bezweifelt. Aber Nietzsche will die darin liegende Befreiung lehren: Man wird von Affekten frei, weil man ihre Begrenztheit verstanden hat. Man verliert die Furcht und den Zorn, und manche Fragen stellt man einfach nicht mehr. Dem Menschen, der immer vollständiger erkennt und deshalb auf vieles Einzelne verzichtet, wird »als der wünschenswertheste Zustand jenes freie, furchtlose Schweben über Menschen, Sitten, Gesetzen und den herkömmlichen Schätzungen der Dinge« erscheinen (2,53ff.; MA).

1.8 Ironie und Levitation Man sieht, mit welcher Emphase Nietzsche die Ironie vertritt. Dabei wird sie nicht nur als Lebenshaltung ausgemalt und stark gemacht, sondern erscheint als höchste Freiheit, ja noch mehr: Der Ironiker gerät in die Nähe des Erlösten. Die Bilder der Höhe, der Leichtigkeit und des Schwebens haben eine religiöse Valenz, und es lohnt sich, hier noch weiter nachzufragen. Einen Prinzen, der ohne Heimat und Ziel lebt, nennt Nietzsche »Prinz Vogelfrei«. Er ist aus der Ordnung gefallen und lebt mit den Kontingenzen: »Ich lass mich von den Winden heben«; so weit spricht die Ironie. Es folgt eine weitergehende Wendung, wenn es heißt, dass dieser Prinz frei »von Furcht und Lob und Strafen« ist (3,335; >Idyllen aus Messina*). Das sind Verheißungen der Religion, und sie treten hier in neuem Zusammenhang wieder auf. Vom Identitätsverlust der Ironie heißt es an anderer Stelle, dass er zum Glück gerät, weil man keine Person mehr ist, der Schuld zugerechnet werden kann: »Wie glücklich ist man, wenn man so genährt wird, wie die Vögel, aus der Hand Eines, der den Vögeln ausstreut, ohne sie genauer anzusehen und auf ihre Würdigkeit zu prüfen! Zu leben als ein Vogel, der kommt und fortfliegt und keinen Namen im Schnabel trägt!« (3,282; M).

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Friedrich Schlegel: Kritische Ausgabe, Bd. II, S. 182. Novalis. Werke, Tagebücher und Briefe Friedrich von Hardenbergs. Hrsg. von Hans-Joachim Mähl und Richard Samuel. München/Wien 1978, Bd. 2, S. 177.

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A n weitere religiöse Vorstellungen tastet sich der Ironiker heran: Probehalber wird die Ironie mit einer Uberwindung der Grenzen des individuellen Lebens verbunden, wird eine Kette ironischer Heiliger entworfen. Denn der einzelne Vogel, der in das Weite fliegt, muss irgendwo enden, heißt es am Schluss der >Morgenröthebedingt< sagt, muss, um diesen Begriff gebrauchen zu können, davon ausgehen, dass etwas Unbedingtes existiert, denn ohne sein Gegenteil erhielte der Begriff keinen Sinn. Deshalb kann gerade eine starke Vorstellung von Wahrheit der G r u n d d a f ü r sein, >wahr< für undefinierbar zu halten und Ansprüche, diese Position zu besetzen, ironisch zu negieren. Dann würde das obsessive Zerschlagen des Vorläufigen aus dem Wissen um ein Absolutes hervorgehen, das jenseits der Vorstellungen und Zeichen liegt. Die Intensität, mit der Ironiker Aussagen und Verhältnisse bezweifeln, würde aus der Sorge entspringen, dass etwas Vorläufiges absolut gesetzt wird. Die Ironie hält den Platz des Absoluten frei. Ihm gegenüber sind alle Setzungen vorläufig. »Der Stein, den die Bauleute verworfen haben, der ist zum Eckstein geworden«, das ist die Ironie der Bibel. 3 ' So ist es auch nicht erstaunlich, dass die Ironie gerade bei metaphysischen Denkern auftritt. Die Ironie der sokratischen Dialoge zielt auf einen anderen, mit den Mitteln unseres Bewusstseins nicht fassbaren Bereich. Und die Romantiker verstehen Ironie als Aussicht in ein Unendliches, auf einen offenen, nicht fassbaren Horizont hin, der sich beständig verschiebt. Diese Linie setzt Nietzsche fort, wenn er Wahrheit und Weisheit mit dem Lachen verbindet (3,370; F W ) . Darin ist er religiösen Denkern verwandt, dass auch ihm die Ironie »zur Befreiung aus dem Gefängnis der Weltbilder« dient. 32 Eben deshalb stellt er sich vor, dass Götter, die philosophieren, »auf Unkosten aller ernsten Dinge« lachen würden (5,236; J G B ) . Sie wissen, dass alles hintergehbar ist, sehen, dass alles einen Hintergrund hat. U m zu dieser Einsicht zu gelangen, aus dieser Perspektive zu sehen, versucht der Ironiker —

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Matthäus 21,42. R ü d i g e r S a f r a n s k i : Nietzsche. Biographie seines D e n k e n s . M ü n c h e n / W i e n 2 0 0 0 , S. 161.

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vorläufig erst einmal in der Sprache - zu schweben. So verbindet die Ironie die Negation von Wahrheitsbehauptungen mit der Vorstellung von Erlösung. Aus der Negation erwächst Gelassenheit. Der Ironiker kann, eben weil er alles als vorläufig ansieht, gleichzeitig alles akzeptieren. Ein Zustand entsteht, in dem die Spannung der Gegensätze gemildert ist und den man als ironische Allrechtfertigung bezeichnen könnte. In einem Bild der >Fröhlichen Wissens c h a f t wird die Rechtfertigung mit einer wärmenden Sonne verglichen, und danach heißt es: »Oh dass doch viele solche neue Sonnen noch geschaffen würden! Auch der Böse, auch der Unglückliche, auch der Ausnahme-Mensch soll seine Philosophie, sein gutes Recht, seinen Sonnenschein haben!« (3,529). Diese »neue G e r e c h t i g k e i t « knüpft nicht nur wieder an ein biblisches Bild an, 33 sondern ist mit der Idee einer künftigen Rechtfertigung alles Existierenden, der Vorstellung der »apokatastasis panton« verbunden. Für den Einzelnen der Gegenwart soll die Vorstellung dieses Zustandes Anreiz sein, das ihm zunächst noch Fremde anzunehmen: »Wir werden schließlich immer für unseren guten Willen, unsere Geduld, Billigkeit, Sanftmüthigkeit gegen das Fremde belohnt, indem das Fremde langsam seinen Schleier abwirft und sich als neue unsägliche Schönheit darstellt« (3,56of.; F W ) . Dazu muss man um die eigene Begrenztheit wissen, denn nur, wer sich selber »auf Zeiten verlieren« kann, kann »den Dingen, die wir nicht selber sind, Etwas ablernen« (3,543; F W ) . Auch darin klingt das biblische Vorbild, das Sich-Verlieren als Weg zur Erlösung, vernehmbar durch. Zuletzt ist die Identität des Ironikers deshalb der eines Pilgers vergleichbar, und Nietzsche kann diejenigen loben, »welche sich selber immer wieder zurücklassen und die gar nicht daran denken, ob ihnen Jemand sonst nachkommt« (3,324; M).

1.9 Freiheitsangst — Kritik der Ironie Die Ironie ist eine Möglichkeit, mit dem Ich unter den Bedingungen der Moderne umzugehen. Sie bildet in Nietzsches Werk eine starke Linie. Ihre Möglichkeiten werden bis in die höchsten Bereiche durchdacht. Neben diesem Strang läuft auch eine Kritik der Ironie. Darin werden die Gefahren des Zweifeins und Lachens thematisiert. Ausgedrückt wird die Sorge, dass der ironische Wechsel zu einer Auflösung der Persönlichkeit führen könnte, der jedes identifizierende Merkmal verloren geht, die keine Dauer und Konstanz mehr kennt. Die Negation aller Außenbezüge führt dazu, dass das Ich sich nicht mehr definieren, der Einzelne nicht mehr sagen kann, was ihn eigentlich ausmacht. Diese Kritik der Ironie tritt einprägsam im >Zarathustra< auf. Sie wird verbildlicht als Zarathustras Schatten und damit als etwas, das zu ihm gehört.

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Matthäus 5, 45: »Er läßt seine Sonne aufgehen über Böse und Gute.«

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Zarathustra läuft zunächst vor ihm davon, um sich dann aber einer Auseinandersetzung zu stellen, in der sich der Schatten auf die moderne Wahrheits- und Erkenntniskritik bezieht. Er hat sich an Zarathustras und Nietzsches Maximen gehalten: »Mit dir zerbrach ich, was je mein Herz verehrte, alle Grenzsteine und Bilder warf ich um« (4,338ff.). Uberall sieht er Erfindungen, nach deren Genese er fragt und die er auf Interessen zurückführt. Der Schatten ist Nominalist: »Mit dir verlernte ich den Glauben an Worte und Werthe und grosse Namen.« D a er fortlaufend Gewissheiten einbüßt, die früher zu ihm gehörten, verliert er beständig an Substanz und wird immer schattenhafter: »Alles nimmt von mir, Nichts giebt, ich werde dünn.« Der beständige Zweifel betrifft zunächst die großen Fragen des Glaubens und der Weltdeutung, schlägt aber schließlich auch auf einfache Alltagsorientierungen durch. Auch kleine, alltägliche Handlungsmaximen sind an größere Werte gebunden; alle Annahmen haben Vorannahmen, und wenn diese fallen, geraten irgendwann auch jene ins Wanken. Das führt in der Lebensgestaltung zu einer hektischen Hin-und-Her-Bewegung und kann in einer Paralysierung enden, weil man nicht mehr fähig ist, Möglichkeiten zu bewerten und Entscheidungen zu treffen: »Habe i c h - noch ein Ziel? Einen Hafen, nach dem m e i n Segel läuft? Einen guten Wind? Ach, nur wer weiss, w o h i n er fährt, weiss auch, welcher W i n d gut und sein Fahrwind ist.« Interessant ist nun, wie Zarathustra mit dieser Klage umgeht. Zunächst akzeptiert er sie, weil sie aus seiner Wahrheitskritik hervorgeht: »Du bist mein Schatten!« Sodann warnt er den Schatten vor einer Reversion oder Konversion in ein festes Glaubenssystem, also vor dem Romantiker-Finale. Schließlich bietet er ihm pragmatisch für »diesen Abend eine Rast und Heimstätte« an, offensichtlich damit der Schatten sich erholen kann. Er selber aber läuft eilig davon, um den Bedrohungen der Trauer zu entgehen, nicht ohne anzukündigen: »Des Abends aber wird bei mir — getanzt!« Was ist denn das für eine Antwort? >Let's have a party!< Das ist die Problemlösung, und sie zeigt, dass es Argumente gegen den Schatten, dass es dauerhafte Befriedung nicht gibt. Die Überwindung der Angst ist nur in einer Lebensgestaltung möglich, zu der das Vergessen gehört und das Überspielen der Sorge im Tanz, in der dionysischen Bewegung; deren Wirkung auf das Nervensystem ist hoffentlich stärker als die Bedrohung. Über die Folgen der Ironie war schon in der Romantik gestritten worden. Hegel hatte die Romantiker vor dem beständigen Selbstbezug, der Unfähigkeit zum Handeln, der »Unkräftigkeit« gewarnt. 34 Brentano hatte im >Frühlingsschrei eines Knechtes aus der Tiefe< einen Menschen in einem Schacht

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G e o r g Friedrich W i l h e l m Hegel: Werke in zwanzig Bänden. A u f der G r u n d l a g e der Werke 1 8 3 2 - 1 8 4 5 neu edierte Ausgabe von Eva Moldenhauer und Karl M a r k u s Michel. F r a n k f u r t a . M . 1 9 6 9 - 1 9 7 1 , B d . X I I I (Vorlesungen über die Ästhetik I), S. 96.

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sprechen lassen, dessen Wände von einer »Angstflut« bedroht waren. 35 An diese Bildlichkeit knüpft Nietzsche in dem Gedicht >Zwischen Raubvögeln< an, wenn er einen Weg in die Tiefe beschreibt, der aus der modernen Wahrheitskritik hervorgeht (6, 389ff.; DD). Denn das lyrische Du, das hier angesprochen wird, wurde vor kurzem als Jäger Gottes gerühmt, als »Fangnetz aller Tugend«. Nun aber, nach der erfolgreichen Kritik aller Außenbezüge, ist es auf sich zurückgeworfen: »Jetzt — / von dir selber erjagt, / deine eigene Beute.« Denn jetzt zeigt sich, dass das Subjekt vom universalen Zweifel nicht unberührt bleibt: Weil es zur Selbstbestimmung Objekte braucht, wird es in deren Kritik und Zersetzung mit hineingezogen. Ein Ich, das überall Konstruktionen und deren Veränderbarkeit sieht, ist nicht denkbar. Mit dem lebenspraktisch gewordenen Perspektivismus verliert das Subjekt die Einheit, dissoziiert: »zwiesam im eignen Wissen, / zwischen hundert Spiegeln / vor dir selber falsch.« So kulminiert das Gedicht im Bild eines Menschen, der nur noch von sich selbst umgeben ist, sich mit seinem Zweifel selber verletzt und versehrt: im eignen Schachte gebückt arbeitend, in dich selber eingehöhlt, dich selber angrabend, unbehiilflich, steif, ein Leichnam - , von hundert Lasten überthürmt, von dir überlastet.

Wenn man von einem Ergebnis dieses Gedichtes sprechen kann, müsste man sagen, dass derjenige, der überall nur Zeichen sieht, die Außenbezüge zum Schein erklärt und selbstreferentiell leben will, nicht überleben kann. Der Ironiker bewegt sich auf einem schmalen Grat: Und jüngst noch so stolz, auf allen Stelzen deines Stolzes! Jüngst noch der Einsiedler ohne Gott, der Zweisiedler mit dem Teufel, der Scharlach ne Prinz jedes Übermuths!

Geht es in diesem Gedicht um ein Ich, das von außen nach innen reduziert wird, so vollziehen andere Texte die komplementäre Bewegung: Das Ich verliert sich nach außen, in die Vielzahl der Perspektiven, in die Vielzahl der Objekte, denen es sich anverwandelt. Da die Bezüge wechseln, nicht fest sind und keine Stabilität geben, ist das Ergebnis aber das Gleiche: Das ironische

35

Clemens Brentano: Werke. Hrsg. von Wolfgang Frühwald, Bernhard Gajek und Friedhelm Kemp. Erster Bd. 2. Auflage. München 1978, S. 3Z9ff.

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Ich verliert den Umriss und die Gestalt. Z u r Illustration benutzt Nietzsche das Meer. Es diente dem Ironiker als Freiheitsverheißung, jetzt aber droht er in dieser Freiheit verloren zu gehen. A m Anfang des fünften Buches der >Morgenröthe< wird ein Ich in einer Ufer- und Klippenszenerie beschrieben, das nicht mehr reden kann. Jeder Sprechakt wird vom Spott begleitet, denn jede Rede greift zu kurz. Aus der Idee einer ironischen Gegenrede ist ein Zwang zur Gegenrede geworden: »Das Sprechen, ja das Denken wird mir verhasst: höre ich denn nicht hinter jedem Worte den Irrthum, die Einbildung, den Wahngeist lachen? Muss ich nicht meines Mitleidens spotten? Meines Spottes spotten?« Auch hier steigert sich der Zweifel, wird zum Zweifel am Zweifel, führt zur Selbstaufhebung. Wer sich permanent von sich selbst distanziert, ist zuletzt gar nicht mehr vorhanden: »Oh Meer! O h Abend! Ihr seid schlimme Lehrmeister! Ihr lehrt den Menschen a u f h ö r e n , Mensch zu sein! Soll er sich euch hingeben? Soll er werden, wie ihr es jetzt seid, bleich, glänzend, stumm, ungeheuer, über sich selber ruhend? Über sich selber erhaben?« (3,2.59E; M ) . Eben das, von seinen Wertschätzungen absehen zu können, über seinen Präferenzen zu stehen, war das Ziel des Ironikers, ja sein Glück. Hier aber, aus Sicht der Ironiekritik, führt es zur Lebensunfähigkeit (»bleich«, »stumm«), zur Grenzenlosigkeit und damit zum Verlust der notwendig begrenzten Identität (»ungeheuer«). M a n sieht, welche Folgen die Ironie haben kann. Sie entstand aus dem Erkenntniszweifel der Moderne und den Bedingungen einer offenen Ordnung als dieser Situation angemessenes Lebenskonzept. Betreibt man ihren Wechsel von Selbstsetzung und Selbstvernichtung aber konsequent und revidiert permanent dasjenige, was einen ausmacht, dann verliert man Kontinuität und Kohärenz, die Bedingungen für Identität. Die Kräfte der Levitation werden stärker, das Ich droht sich zu verflüchtigen. Neben diese Auseinandersetzung mit der Subjektkonstitution tritt ein zweiter Strang der Kritik, der sich auf eine Gesellschaft bezieht, in der sich das ironische Denken durchgesetzt hat. Diese Gesellschaft hält Nietzsche zwar für lebensfähig, bezweifelt aber ihre Fähigkeit, politisch oder ästhetisch Herausragendes zu leisten. Mit dem »Aufhören metaphysischer Ansichten« und der Einsicht in die Zeitlichkeit alles Bestehenden, so die Befürchtung, verliere das Individuum das Interesse, »an dauerhaften, für Jahrhunderte angelegten Institutionen zu bauen« (2,43; M A ) . Die Frage, ob nach-metaphysische Wahrheiten jemals ein entsprechendes Fundament bilden können, das Festigkeit verleiht, beantwortet Nietzsche skeptisch. Auch daran zeigt sich noch einmal, welche K r a f t er der Religion zuspricht. Diese gesellschaftliche Diagnose ist eng mit den Fragen der Identitätsbildung verbunden. Es geht um eine Ordnung von Menschen, die sich aus festen, naturgegebenen Zusammenhängen gelöst haben und mit dem Wechsel ihrer Urteile und Einstellungen vertraut sind: »Die Individuen, diese wahren An- und Für-sich's, sorgen, wie bekannt, mehr f ü r den Augenblick, als ihre Gegensätze, die Heerden-Menschen, weil

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sie sich selber f ü r ebenso unberechenbar halten wie die Zukunft« (3, 397; F W ) . Solche Urteile treten schon gleichzeitig zur oben zitierten Apologie des Individuellen auf. Während Nietzsche die Freisetzung des Einzelnen als Energiesteigerung und Bereicherung begrüßt, beklagt er auch den Verlust der großen »>Baumeister«< in der Moderne (3, 596; F W ) und äußert Furcht vor der »tiefsten Vermittelmässigung«, die den neuen » H e i m a t l o s e n « droht (3,628f.; F W ) . Ausgeweitet zu einem Gesellschaftsbild ist diese Furcht in der Vorrede des >ZarathustraIndividuum< steht da, genöthigt zu einer eigenen Gesetzgebung, zu eigenen Künsten und Listen der Selbst-Erhaltung, Selbst-Erhöhung, Selbst-Erlösung. Lauter neue Wozu's, lauter neue Womit's, keine gemeinsamen Formeln mehr, Missverständniss und Missachtung« (5,2i4ff.; J G B ) . Selbststeigerung und Demokratie, Freiheit und Größe sind nicht vereinbar, so lautet das Ergebnis. Nietzsches Kritik der Ironie läuft auf die Forderung eines neuen Zusammenhanges und einer neuen Hierarchie hinaus. Dazu braucht er eine neue, nachmetaphysische, aber genauso unbezweifelbare, starke, nicht ironisierbare Wahrheit.

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ι.ίο Die Negation des Einzelnen Die Ironie und die Kritik der Ironie bilden in Nietzsches Werk einen Gegensatz. Solche Gegensätze sollte man nicht verkleinern, wie es einer Tendenz der neueren Auseinandersetzung mit Nietzsche entspricht. Diese entschärft den anti-individualistischen Zug in Nietzsches Denken sowie jene Teile seiner Philosophie, in denen er mit den Kategorien >Macht< und >Gewalt< operiert. In diesem Zusammenhang kann m a n lesen, dass mit »Macht« bei Nietzsche eigentlich »Vereinigung« gemeint sei.36 Wenig hilfreich ist es auch, wenn man in einem neuen Handbuchartikel zum Stichwort »Die blonde Bestie« liest, dass dieser Begriff bei Nietzsche nur zweimal vorkommt, dass es in seinem Werk Stellen gibt, wo er sich über die Germanen lustig macht, und dass der Begriff von Nietzsches gesamter Moralphilosophie nicht zu trennen sei. 37 Was ist damit erklärt? Dagegen wird in einem frühen Werk der Nietzsche Rezeption vorgeführt, wie man die Gegensätze seiner Philosophie scharf zeichnen kann, u m so ihr Wechselverhältnis zu analysieren. Ernst Bertram skizziert im Schluss-Kapitel seines Buches >Nietzsche. Versuch einer Mythologie< ein interessantes Bild: Nietzsche ist danach bestimmt vom Widerspiel einer »sokratisch zersetzenden, individualistischen Erkenntnisgier« und eines »prophetisch bauenden, gemeinschaftssüchtigen Mysterienwillens«. 3 8 E r k l ä r u n g s b e d ü r f t i g ist der Begriff des Mysteriums, den Bertram, der dem George-Kreis nahe stand, im Sinn eines vorhandenen, aber nicht bestimmbaren Zusammenhangs aller empirischen Phänomene benutzt, im Sinn eines weltbindenden, weltbewahrenden Geheimnisses, wie er es nennt. 3 9 Bertram behauptet nun, und das trifft sich mit den bisherigen Analysen von Nietzsches Moderne-Verständnis

36

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,s

»

Friedrich Kaulbach: Nietzsches Idee einer Experimentalphilosophie. K ö l n / W i e n 1980, S. X I I . Z u welchen U n s c h a r f e n m a n in dieser F o r m der N i e t z s c h e - D e u t u n g bereit ist, zeigt sich, w e n n K a u l b a c h bei der Vorstellung seiner Arbeit erklärt: »Das erste Kapitel mündet in den B e g r i f f der 'freien* N o t w e n d i g k e i t bzw. der >notwendigen< Freiheit aus« (ebd.). D a s vielzitierte Buch ist als D o k u m e n t der Nietzsche-Forschung interessant, gibt aber auch einen trefflichen Einblick in die intellektuelle Mentalität der späten Bundesrepublik. Dort glaubte m a n ja auch, jede A r t von Antagonismus im Konsens entschärfen zu können. Dort war m a n auch a u f dem Weg zu »immer höheren, überlegeneren Standpunkten« ( X I I ) . M a n hatte die Wahrheit hinter sich gelassen, und stattdessen ging es u m »Sinnmotivation« (X), und woher sie s t a m m e n sollte, w e n n nicht aus einer Wahrheit, war auch klar: Aus einem selbst, denn m a n war die »Quelle der Sinngebung« ( X I I I ) . D a s war nicht einmal allzu anstrengend, m a n musste etwas nachdenken, es sich gleichzeitig aber auch gut gehen lassen, und beides vereinen zur »Vernunft des Leibes« ( X I I I ) . D a s war die beständige Sozialpartnerschaft dessen, was voraufgeklärte Zeitalter Körper und Geist genannt hatten. U n d so synthese-süchtig ging m a n auch mit Nietzsche um, auch Nietzsche tat nicht weh: D i e U m w e r t u n g der Werte ist gar nichts S c h l i m m e s , D u ! N i e t z s c h e - H a n d b u c h . Leben - Werk - W i r k u n g . Hrsg. von H e n n i n g O t t m a n n . Stuttgart/ W e i m a r 2 0 0 0 , S.205f. Ernst Bertram: Nietzsche. Versuch einer Mythologie. 5. A u f l a g e . Berlin 1921, S. 347. E b d . , S. 341.

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und Erkenntniskritik, dass der moderne Individualismus mysterienauflösend wirke. Bei Nietzsche gebe es aber auch die entgegengesetzte Bewegung, die auf die Uberwindung des Individualismus und das Ende der Dauerkritik ziele. Dabei besetze Nietzsche den Pol des Dauerhaften, Unbedingten, Unbezweifelbaren mit wechselnden Größen: »Die Gegenstände, die intellektuellen Begründungen und Äußerungen der eleusischen Scheu wechseln bei Nietzsche entsprechend der jeweils beherrschenden Vorstellung von der Möglichkeit eines neuen Mysteriums«. Bertrams in diesem Punkt nüchterner Blick reiht nun die Vorstellungen aneinander: Dazu zählen Schopenhauer, Wagner, Zarathustra, die ewige Wiederkunft, der Wille zur Macht. 4 0 Dass die Geheimnisse wechseln und etwas Dezisionistisches an ihnen haftet, erklärt Bertram damit, dass man die Erkenntnisse und Bedingungen der Moderne nicht mit Bewusstsein vergessen kann: »Jede Mitteilung des Ich, die nur aus dem Intellekt gespeist wird, die aus dem Ehrgeiz oder sehnsüchtigen Wahn kommt, nicht mehr individuell zu erscheinen, sondern eine >Mehrheit< zu sein, trägt den Fluch, aus der Inzesthochzeit des Geistes mit sich selbst gezeugt zu sein.« 41 Der moderne Geist kann sich nicht hintergehen. Er kann sich nicht am eigenen Schöpf aus dem Sumpf ziehen. Es ist auch deshalb so wichtig, auf diese gegenläufigen Bestrebungen bei Nietzsche hinzuweisen, weil die Autoren des 20. Jahrhunderts immer wieder in eine vergleichbare Konstellation geraten. Bei dem, was Bertram Individualismus und Mysterienwillen nennt, handelt es sich um zwei Möglichkeiten moderner Identitätsbildung, die Nietzsche durchläuft. Und gerade die Kritik der Freiheit und die anschließende Negation des Subjekts ist in den Modernisierungskrisen des 20. Jahrhunderts immer wieder betrieben worden. Gesucht wird die Angleichung an eine Macht außerhalb von einem selbst. Bei Nietzsche ist die Tendenz dazu schon früh vorhanden und begleitet sein Werk, jedoch in sehr unterschiedlicher Intensität. In der >Geburt der Tragödie< wird dem Dionysischen die Fähigkeit der Subjekt-Negation zugesprochen. Allerdings geschieht das Ganze weitgehend in einer ästhetisch und historisch entrückten Welt, ist mehr Traumphantasie, noch nicht Entwurf eines zukunftsharten Menschen. Immerhin aber findet sich im Frühwerk schon die These von der Scheinhaftigkeit des >principium individuationisZarathustra< auf. Gleich am A n f a n g steigt Zarathustra von den Hügeln des Ironikers hinab. D a n n sucht er sich, nachdem die Menge ihn zurückweist, eine kleine Gruppe von Gefährten, erprobt also das AvantgardeModell. Zwar bleibt Zarathustras Weisheit insgesamt eine Patchwork-Lehre, zusammengesetzt aus verschiedenen Ansprüchen und Ideen, die sich wechselseitig dementieren. Aber aussagekräftig ist die Rhetorik der Verkündigung, denn sie geht aus dem Verlangen nach einem festen, nicht ironisierbaren Prinzip hervor. Wo der Ironiker die Befreiung von immanenten Letztgültigkeiten betrieb, erscheint jetzt nur noch der Verlust. Deshalb wird der Versuch unternommen, empirische Größen mit jenen Energien aufzuladen, die durch das Ende der Metaphysik frei wurden. In den hier auftretenden Formeln wie der vom Übermenschen drückt sich die Suche nach einem Zustand aus, in dem die Bedingungen moderner Individualität überwunden sind. Im Spätwerk schließlich wird diese Tendenz dominant. Sie geht mit einer reduktionistischen Denkweise einher, deren Ausbreitung und Verhärtung man zusehen kann. Im ersten Hauptstück von Jenseits von Gut und Böse< wird noch im Konjunktiv überlegt: »Gesetzt endlich, dass es gelänge, unser gesammtes Triebleben als die Ausgestaltung und Verzweigung Einer Grundform des Willens zu erklären — nämlich des Willens zur Macht« (5,55). Im 9. Hauptstück ist aber schon alles geklärt: Der Mensch muss um sich greifen, »weil er l e b t , und weil Leben eben Wille zur Macht ist« (5,208; J G B ) . Der Weg vom Ironiker zum Reduktionisten schlägt sich im Wandel der Sprachformen 55

nieder. Wo der Ironiker fragte, revidierte und Sachverhalte in die Schwebe brachte, da wird nun festgestellt, behauptet, gefordert. »Es giebt H e r r e n M o r a l und S k l a v e n - M o r a l « , und mit diesen Kategorien erklärt Nietzsche jetzt die Geschichte und den Zustand der Gegenwart. Während der Ironiker den Konstruktcharakter und die Zeitlichkeit von Weltgesetzen betonte, glaubt der Prinzipienphilosoph an die Ubereinstimmung von Erkenntnis und Wirklichkeit; die Veränderung durch die Zeit streicht er: »Jede Erhöhung des Typus >Mensch< war bisher das Werk einer aristokratischen Gesellschaft - und so wird es immer wieder sein« (5,205; J G B ) . Während der frühe Nietzsche über die intellektuelle Einbuße nachdachte, die mit derartigen Festlegungen einherging, ergeht sich der späte in rhetorischen Entdifferenzierungen. Verschiedene Welten werden unter ein Gesetz gezwungen: Aus den Erfahrungen der Tierzüchter werden Regeln der sozialen Ordnung abgeleitet (5,214; J G B ) . In der >Genealogie der Moral· wird schließlich die gesamte Geschichte mitsamt ihren Denksystemen, Religionen und moralischen Forderungen auf das Wirken von zwei Menschengruppen zurückgeführt, die um die Vorherrschaft kämpfen. Sie firmieren als Raubvögel und Lämmer (5,278f.) Was passiert nun mit dem Subjekt? Konzentriert finden sich die entsprechenden Behauptungen und Folgerungen Nietzsches in einer Passage aus der >GeneaIogie der Moral·: Ein Q u a n t u m K r a f t ist ein eben solches Q u a n t u m Trieb, Wille, Wirken - vielmehr, es ist gar nichts anderes als eben dieses Treiben, Wollen, Wirken selbst, und nur unter der V e r f ü h r u n g der Sprache (und der in ihr versteinerten Grundirrthümer der Vernunft), welche alles Wirken als bedingt durch ein Wirkendes, durch ein »Subjekt« versteht und missversteht, kann es anders erscheinen. Ebenso nämlich, wie das Volk den Blitz von seinem Leuchten trennt und letzteres als T h u n , als W i r k u n g eines Subjekts nimmt, das Blitz heisst, so trennt die Volks-Moral auch die Stärke von den Äusserungen der Stärke ab, wie als ob es hinter dem Starken ein indifferentes Substrat gäbe, dem es f r e i s t ü n d e , Stärke zu äussern oder auch nicht. Aber es giebt kein solches Substrat; es giebt kein »Sein« hinter dem T h u n , Wirken, Werden; »der Thäter« ist zum T h u n bloss hinzugedichtet, — das T h u n ist Alles (5,279).

Es handelt sich u m eine jener Passagen, aus denen sich die Subjektkritik des 20. Jahrhunderts speist. Dabei geht es zunächst nicht um die sachliche Richtigkeit dieser Willensphilosophie, die Nietzsche aus einigen Axiomen ableitet, »die er dem biologischen Darwinismus und der Physik seiner Zeit entnimmt.« 42 Es geht um die Frage nach der Leistung dieser Theorie — und sie besteht darin, die Freiheit zu beseitigen. Denn mit der Naturalisierung des Geistes wird, und darauf kommt es an, jenes »Substrat« gestrichen, dem es freisteht, sich so oder anders zu äußern, das also zwischen verschiedenen

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S a f r a n s k i : Nietzsche, S. 303.

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Möglichkeiten wählen kann, oder negativ formuliert, wählen muss. Mit dem Tod des Subjekts verschwindet die Distanz zur Objektwelt. M a n muss die Objekte nicht mehr bezeichnen, deuten; man muss nicht mehr entscheiden, wie man sich zu ihnen verhält. Stattdessen existieren Potentiale von K r a f t , deren Verhalten zueinander allgemeinen und beständig gültigen Gesetzen folgt. Naturgesetze aber stehen nicht zur Disposition; der Blitz hat nicht die Freiheit, nicht zu blitzen. Die Rede vom T o d des Subjekts kann man damit als Entlastung verstehen. U m noch einmal zu Nietzsches ironischer Rede zurückzugehen: Wie weit war hier die Einsicht in die Begrenztheit und Vorläufigkeit aller Aussagen getrieben, welche schwindelnde Höhe hatte die Distanz zu allen Glaubensformen erreicht, wie grenzenlos erschien die VogelFreiheit. Diese Befreiung ist umgeschlagen in Freiheits-Angst. Das Subjekt wird geerdet, und zwar so kräftig, dass es dabei verschwindet. Der neue Mensch ist Teil der Natur, und der beständige Zweifel hört damit ebenso auf wie die Verantwortung. Reflektierte metaphysische Denker hüteten sich in der Regel, zu behaupten, dass der Wille Gottes aus ihnen spräche. Nietzsche aber hat jetzt eine Natur, die in ihm handelt und durch ihn redet. In der Vorrede zur >Genealogie< sagt er, dass seine Gedanken aus einer Wurzel hervorgehen, »aus einem in der Tiefe gebietenden, immer bestimmter redenden, immer Bestimmteres verlangenden G r u n d w i l l e n der Erkenntniss.« Es spricht also durch den Philosophen, und wer sich in dieser Weise an eine größere Macht anschließt, ist auch der individuellen Vereinzelung enthoben: »Wir haben kein Recht darauf, irgend worin e i n z e l n zu sein: wir dürfen weder einzeln irren, noch einzeln die Wahrheit treffen.« Der neue Philosoph bringt keine Thesen und Behauptungen mehr hervor: »Vielmehr mit der Nothwendigkeit, mit der ein Baum seine Früchte trägt, wachsen aus uns unsre Gedanken, unsre Werthe« (5, 248; G M ) . So ambitioniert also der Gedanke von der Scheinbarkeit des Subjekts sich gibt - die Komplexitätsreduktion, die damit einhergeht, ist erheblich. Sie eben führt zu jener oben zitierten Gesellschaftsdeutung, in der Raubvögel und Lämmer agieren. Wo in der modernen Gesellschaft die Regeln der Moral mühsam austariert werden müssen, wirkt nun die »Unschuld des Raubthier-Gewissens«. Wenn es keine Person gibt, an die appelliert werden kann, keine Verantwortung und keine Schuld, dann läuft die »Abfolge von Mord, Niederbrennung, Schändung, Folterung« einfach ab (5,275; G M ) . Das ist die Folge der »Subjekt-Entmündigungsstrategie«, 43 unverantwortlich zu sein, keinem Richter Rede stehen zu müssen. Das ist die große Entlastung: »Du w i r s t g e t h a n ! « (3,115; M).

43

E r w i n Schlimgen: Nietzsches T h e o r i e des Bewusstseins. B e r l i n / N e w York 1999, S. 48.

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Man sollte den späten Nietzsche, die Idee des Übermenschen, die HassAusbrüche und Gewaltphantasien ernst nehmen. 44 Sie stellen einen Versuch dar, der Situation eines nach-metaphysischen Individuums zu entkommen. Dieser Versuch ist radikal. Denn mit der Einziehung der Differenz von Subjekt und Objekt, dort, wo der neue Mensch die Realität »selbst« ist (6, 370; EH), verschwindet das freie Individuum. Gleichzeitig erhält das Ich aber, und darin liegt der Gewinn und die Pointe, ein neues Fundament. Es ersteht wieder auf - aber nicht mehr als besonderes Ich, das Entscheidungen treffen muss, sondern als Teil und Ausfluss einer großen umfassenden Macht. A n Nietzsche kann man beobachten, worauf die Figur vom >Tod des Subjekts« reagiert und welche Leistung hinsichtlich der Identitätsbildung sie erbringt. Hier nimmt Nietzsche Erfahrungen und Möglichkeiten des 20. Jahrhunderts vorweg. Wenig Fortsetzung fand dagegen seine Bejahung des freigesetzten Ich, noch weniger dessen ironische Steigerung. Die Freiheit wird als Unsicherheit erfahren, und das moderne Ich eilt zwischen den Lebens- und Deutungsmöglichkeiten hin und her. Und immer wieder wird, in unterschiedlichen Konstellationen und mit verschiedenen Bezugspunkten, der Versuch unternommen, sich als Glied in einem großen Zusammenhang zu erfahren, die Freiheitsangst zu überwinden.

2.

Zweifel a m Ich

Mit Nietzsche ist der Subjekt-Diskurs des späten 19. Jahrhunderts schon weitgehend abgesteckt. Das hängt mit Nietzsches zügiger und intensiver Rezeption zeitgenössischer Debatten zusammen: Man findet bei ihm vieles wieder, was an anderen Stellen erörtert wurde. Ebenso hat seine Funktion als Schnittpunkt mit einer besonderen, instabilen Persönlichkeitsstruktur zu tun. Denn sie ermöglichte es ihm, systematisch kaum zu vereinbarende Positionen einzunehmen und sie in ihren jeweiligen Folgen zu durchdenken. Für die hier interessierenden Fragen ist Nietzsches psychische Disposition aber weniger wichtig als seine herausragende Stellung in einem Diskurs, in dem sich eine größere Anzahl von Menschen zu einer bestimmten Zeit und unter bestimmten Bedingungen mit der Frage nach der Konstitution des Subjekts

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Weder lässt sich in den oben zitierten Passagen ein Weiterwirken der Erkenntniskritik und der Ironie erkennen, noch erscheint es als besonders förderlich, auf dem Weg des Psychologisierens die Machtphantasien des späten Nietzsche als Produkte einer >eigentlich< armen, leidenden, verletzlichen Seele zu erklären; denn solche Umdeutungen öffnen der interpretatorischen Willkür das Tor, und wo möchte man sie beenden? Wer ist denn >eigentlich< nicht arm und verletzlich? Ein anderer Weg der Deutung besteht darin, Perspektivismus und Witz aus dem Mittelwerk zu verlängern, nach dem Motto: Nietzsche kann doch unmöglich vergessen haben, was er früher einmal gesagt hat. Aber genau das versucht er, wie man den Simplifizierungen ansieht.

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beschäftigt. Die neuere Literaturwissenschaft ist sich einig, dass es sich bei der Frage nach der »personalen Kontinuität und Kohärenz« um eine wichtige »Komponente des Systems jahrhundertweltlicher Deutungsmuster von Wirklichkeit« handelt. 45 Mit Paul Bourget, Ernst Mach und Hermann Bahr wird die exemplarische Rekonstruktion dieses Diskurses fortgesetzt. Betrachtet werden drei Theoretiker, auf die sich die Zeitgenossen immer wieder beriefen und die besonders im literarischen Umfeld beachtet und zitiert wurden. Dabei sind hier nicht die teilweise schwer durchschaubaren Rezeptionswege von Bedeutung, ebenso wenig wie die Frage, wer im einzelnen von wem profitiert hat. 46 Es geht um die Beschreibung einer intellektuellen Konstellation, um das Abstecken eines Feldes. Die Literatur des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts ist Teil dieser Konstellation, aus der sie Fragestellungen und Themen bezieht und auf die sie in ästhetischer Form einwirkt. Das gilt schon für die Gedichte von Stefan George und noch für die Gedichte von Bertolt Brecht. Sie greifen in ihrer Form Fragen auf, die einen weiten Rahmen und eine Geschichte haben. Dieser Rahmen und diese Geschichte sind zu rekonstruieren, um zu verstehen, was die Autoren meinen, wenn sie vom modernen Ich sprechen.

2.1 Dichter, die verschwinden wollen: Paul Bourget »Modern ist Paul Bourget und Buddha; das Zerschneiden von Atomen und das Ballspielen mit dem All; modern ist die Zergliederung einer Laune, eines Seufzers, eines Skrupels.« 47 Die ironische Bemerkung Hugo von Hofmannsthals trifft einen Sachverhalt. Paul Bourget (1852—1935) gilt von den achtziger Jahren bis zum 1. Weltkrieg als einer der wichtigsten Zeitdiagnostiker. 48 Auch Nietzsche hat Bourget als Anreger gesehen, seine Essays ungeduldig erwartet und im Kern seiner Decadence-Definition von ihm profitiert. 49 Die >Essais de Psychologie contemporaineInneres Auslands Studien über Realismus, Tiefenpsychologie und Psychiatrie in deutschen Erzähltexten (1848—1914). Tübingen 1993, S. 395. Vgl. das entsprechende Urteil bei Jacques Le Rider: Das Ende der Illusion. Die Wiener Moderne und die Krisen der Identität. Wien 1990, S. 40. Auch Peter Sprengel geht in seiner Geschichte der deutschsprachigen Literatur 1 8 7 0 - 1 9 0 0 . München 1998, wiederholt auf diese Thematik und die im folgenden behandelten Autoren ein. Z u den Schwierigkeiten bei der Rekonstruktion von Rezeptionswegen vgl. exemplarisch Sprengel: Geschichte, S. 87f. Hugo von Hofmannsthal: Gesammelte Werke in Einzelausgaben. Hrsg. von Herbert Steiner, Stockholm/Frankfurt a.M. 1945-1959, Prosa I, S. 173 (»Gabriele d'Annunzio«). Vgl. dazu Ulrich Schulz-Buschhaus: Bourget und die imultiplicite du moiIch< so zu verbinden, dass Kontinuität und Kohärenz entstehen. Ein Beispiel stellt Baudelaire dar, bei dem sich die Verbindung und Auseinandersetzung einer starken religiösen Kindheitsprägung mit den Erfahrungen der Großstadt und mit den Gesetzen wissenschaftlichen Denkens beobachten lässt. Dieses Beispiel zeigt, dass Bourget Modernisierung als gegenläufigen Prozess ansieht, in dem nicht einfach etwas Altes beseitigt wird, sondern Ansprüche in Konflikt geraten. Baudelaire vergisst den Glauben seiner Kindheit nicht einfach, sondern distanziert sich aufgrund neuer Erfahrungen von dessen Inhalten und Formen. Die Erinnerung bleibt aber und mit ihr das Bedürfnis, unter veränderten Bedingungen »ebenso zu fühlen wie in jenen Zeiten, als er noch glaubte« (8). Solche Überlegungen Bourgets lassen sich gut mit dem Stand der zeitgenössischen Gesellschaftswissenschaften verbinden. So beschreibt Georg Simmel in seiner 1890 erschienenen Abhandlung >Uber sociale Differenzierung* die Auseinanderentwicklung der Gesellschaft in verschiedene Kreise und bezeichnet die »Zahl der verschiedenen Kreise«, in denen der Einzelne agiert, als »Gradmesser der Kultur«. 53 Das Selbstverständnis der Person ergebe sich aus der je spezifischen Verbindung und Kreuzung dieser Kreise, und je weiter sie auseinander lägen, desto höher sei die Integrationsleistung des Individuums

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s3

D i e viel beschriebene und viel gedeutete Nervosität des Fin de siecle, von der Bourget in diesem Z u s a m m e n h a n g spricht, k a n n m a n als Reaktion a u f einen Modernisierungsschub begreifen. D i e aus den V e r a n k e r u n g e n gerissenen Individuen treiben, dem Spiel der Verhältnisse ausgesetzt, hin und her. Nervosität wäre d a n n eine Bezeichnung f ü r die gestiegene B e w e g u n g s m ö g l i c h k e i t in der M o d e r n e (132), die in ihrer A n f a n g s p h a s e als f r e m d u n d erschreckend w a h r g e n o m m e n w i r d . A u c h Nietzsche behandelt ja, w o r a u f Le R i d e r (Das E n d e der Illusion, S. 5if.) hinweist, die B e g r i f f e »Moderne« und >Nervosität< in engem Z u s a m m e n h a n g . D i e »Ueberreizung der N e r v e n - und D e n k k r ä f t e « wird bei ihm a u f die gestiegene Komplexität der Gesellschaft, a u f die Vervielfältigung der Kenntnisse und E r f a h rungen z u r ü c k g e f ü h r t ( K S A 2, 204; M A ) . G e o r g S i m m e l : Gesamtausgabe. Hrsg. von O t t h e i n R a m m s t e d t . B d . 2. Hrsg. von HeinzJ ü r g e n D a h m e . F r a n k f u r t a . M . 1989, S. 239.

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zu bewerten.54 Ebenso beobachtet Simmel auch die Veränderung von Geltungsansprüchen in der Gesellschaft: Was im Rahmen der alteuropäischen Ontologie als substantiell, fest und gleichbleibend angesehen wurde, löst sich in der modernen Analyse in »Funktion, Kraft, Bewegung« auf. Wo Ansprüche auftreten, fragt man nach ihrer Entstehung, und in allem Sein erkennt man »den historischen Prozeß seines Werdens.«55 In Bourgets Fall ist zwar die Skepsis gegenüber solchen Entwicklungen stärker ausgeprägt als bei Simmel. Dies hängt mit seiner Herkunft aus der katholischen Tradition zusammen, die ihm eine distanzierte Sicht vorgibt. Dennoch betreibt er keine einfache Dekadenz-Kritik. A m Fall Baudelaire erkennt er, dass aus dem Einheitsverlust der sozialen Ordnung Vervielfältigungsprozesse im Einzelnen hervorgehen: Die »Ausgestaltung der Seele« gewinnt unter modernen Bedingungen (24). Ebenso kann Bourget statt von zerstörerischer Fragmentierung auch von einer Steigerung der »Unabhängigkeit« sprechen (131), die sich aus den neuen Wahlmöglichkeiten zwischen verschiedenen Lebensformen ergibt. Der moderne Mensch ist haltlos — und gerade deshalb kann er sich anreichern, wie Bourget am Beispiel von Ernest Renan vorführt. Renan hat das Signum seines Zeitalters, die Berechtigung verschiedener Standpunkte, erkannt und ist deshalb nicht mehr in der Lage zur Ausschließung und zum Kampf. Er kann, wie Bourget mit beträchtlicher Einfühlung schreibt, »seine Phantasie vor allen Altaren knieen lassen« (59), und er wird dadurch vollständiger, befreit sich vom Hass. So hatte auch der ironische Nietzsche gedacht: Wer an der »unendlichen Reichhaltigkeit der Dinge einen Anteil« (57) gewonnen hat, der kann sie in ihrer gegenseitigen Begrenzung anerkennen und bejahen. Aus Nietzsches Ironie ging eine Rechtfertigung hervor, die gelassen über allem stehen konnte. Weil Bourget auch in diese Richtung denken kann, gelangt er schließlich auch in ästhetischer Hinsicht zu einer Anerkennung moderner Leistungen. Auch hier geht aus

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Ebd., S. 2 4 o f f . Ebd., S. 130. Aus heutiger Sicht wird Simmel in der Regel eine moderne-freundliche Perspektive zugesprochen, und sicher ist es richtig, dass er den Verlust sozialer Kohäsion als Bedingung für den Formenreichtum moderner Individualität verstanden hat. Gleichzeitig darf man nicht vergessen, dass es auch bei Simmel gegenläufige Denkbewegungen gibt. So versucht er ein Absolutes in der kontingent gewordenen Welt zu verankern, wenn er dem Kunstwerk eine nicht nur technisch-kompositorische, sondern welterschließende »Notwendigkeit« zuspricht. Damit steht er in der Tradition der Kunstreligion, die dem Kunstwerk einen Status außerhalb der modernen Erkenntnisbedingungen zusprechen wollte. Das gleiche Bedürfnis nach einem Absoluten, das in der Immanenz Gestalt gewinnt und Ordnung schafft, äußert sich in der Emphase, mit der Simmel den Ausbruch des 1. Weltkrieges als »absolute Situation« deutet (Georg Simmel: Der Krieg und die geistigen Entscheidungen. Reden und Aufsätze. München und Leipzig 1917, S. 20; vgl. dazu Klaus Lichtblau: Georg Simmel. Frankfurt a.M./New York 1997, S. 9iff; S. H4ff.) Auch Simmel verhält sich also in einer für die Zeitgenossen typischen Anziehung und Abstoßung zum Prozess der Modernisierung, und Entsprechendes gilt, wenn auch mit anderen Akzentsetzungen, für Bourget.

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der Zersplitterung eine Erhöhung der Potenz hervor: Die moderne Seele hat »tausend Spiegelflächen« (55). Diese ambivalente Perspektive Bourgets, die bisher unterschätzt wurde, erweist sich in einem weiteren Punkt als fruchtbar, der f ü r die Entwicklung des 20. Jahrhunderts von Bedeutung ist. Denn Bourget betrachtet zwar das moderne Ich mit Skepsis, stellt seine Handlungsschwäche heraus, seine Reflexivität, die alles versteht und alles glaubt. Aber genauso fragend wie mit der Moderne kann er sich mit der Kritik an ihr auseinandersetzen. Denn er erkennt, dass die Gegner der offenen Gesellschaft, deren Widerstand sich nicht mehr aus einer natürlich geltenden, selbstverständlichen Tradition speist, zwanghafte Züge ausbilden, willkürlich Wahrheiten setzen und in der Gefahr stehen, zu Fanatikern zu werden. So könne man, schreibt er, und das weist auf das 20. Jahrhundert voraus, in Paris viele Tyrannen beobachten, die mit der »Manie der Gewißheit« auftreten (65). Aus dem Leidensdruck dessen, der von Zweifeln umstellt ist, gehen Eindeutigkeitsphantasien hervor, die die der Moderne inhärente Skepsis beseitigen wollen. Wie mit einem Schlag sollen die Ausbalancierung von Wahrheiten, der Z w a n g zur Toleranz, das Wissen um die Nicht-Absolutheit aller Texte beseitigt werden. A m Beispiel Renans: Aus dem »Wundsein des ganzen Herzens« geht die Vision einer machtvollen Oligarchie der Z u k u n f t hervor. In Gedanken entsteht ein kleiner Bund, der zerstörende Maschinen besitzt und schließlich den Planeten in der Hand hält: »Man kann fast sagen, daß sie Götter sein würden« (92). Z u diesen Wegen, auf denen die Moderne versucht, den Lasten der Reflexivität zu entkommen, gehört auch die Subjektnegation, die am Beispiel Flauberts und Taines analysiert wird. Den Hintergrund bilden die moderne Erkenntniskritik und die Ausweitung des Wissens. Daraus geht ein Zwang zur Analyse hervor, der das Subjekt zuletzt in allem, was außer ihm ist, die Spuren seiner Erkenntnis und seiner Behauptungen finden lässt. Diesen Weg geht Flaubert, bis er in Sitte, Religion und Gesetz, denen er folgen wollte, überall sich selber fand. Aus dieser Ausweitung der Subjektivität aber entsteht komplementär der Wunsch, sich von ihr zu befreien, die Reflexivität wie mit einem Schlag loszuwerden: Flaubert will zuletzt »Materie sein« (135). Gedanklich entfaltet findet Bourget die Subjektnegation bei Taine. A m A n f a n g steht die Gegenwarts-Diagnose: »Wir haben die Gesichtspunkte so vervielfältigt, die Deutungen so geschickt zugespitzt, der Entstehung und damit der Berechtigung aller Lehren so geduldig nachgeforscht« (lyif.), dass sich ein sophistisches Verständnis von Wahrheit entwickelt. Wahrheit geht aus Behauptungen hervor, die Zustimmung finden. Parallel zur Beschreibung der Welt, in der man keine »gleiche und unvergängliche« Substanz mehr erkennt (184), wird auch im Ich ein solcher Kern verneint. So gelangt Taine zu der Auffassung, dass das Ich aus einer »Reihe kleiner Fakta« bestehe (183). A n diesem Punkt aber wendet sich die Perspektive, dem späten Nietzsche vergleichbar. War bisher von der Freisetzung des Ich die Rede, so wird es jetzt

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wieder eingefangen. Denn das Innenleben des Ich, das Verhalten der kleinen Fakta, wird von Kausalitätsbeziehungen bestimmt. Diese wiederum sind Teil einer alles determinierenden Natur. Sie tritt nun hervor - als »großes Gesetz der Intelligenz, das in seinem Glänze erstrahlt und entzückt« (194). Die Metaphorik zeigt deutlich, dass es sich um ein Säkularisat handelt. Die verunsicherte Intelligenz erfährt eine Offenbarung, erhält ein neues, nicht bezweifelbares Gesetz. »Die armselige Individualität« (194), wie es mit deutlichem Ressentiment heißt, ist verschwunden und mit ihr die Perspektivität der Wahrnehmung, die Begrenztheit und der Zweifel. Die Individuen sind als Glieder der wissenschaftlich gedeuteten Natur erkannt, als Teil eines Organismus. So entkommt man den künstlichen, in beständiger Veränderung begriffenen Ordnungen der Gesellschaft. Wenn Bourget rätselt, dass Taines Theorie »in allen Punkten mit irgend einem tiefen Bedürfnis unserer Zeit übereinstimmen« muss (198), dann liegt hier eine Erklärung. Das Bedürfnis besteht darin, sich von den Kontingenzen der Moderne zu befreien; man will wieder der absolute Leser vor einem absoluten Text sein.' 6 M a n möchte vom schwankenden Boden der Moderne herunter, sucht Erdung. So wie in Bourgets Taine-Porträt sind in den zeitgenössischen Debatten die Dissoziabilität des Ich und der Wunsch, in einer größeren Einheit aufzugehen, eng miteinander verbunden. 57 Dieser Zusammenhang von Identitätsproblematik und Subjekttheorie lässt sich in Bourgets Darstellung zumindest an einer Stelle auch direkt erfassen. So schildert er in einer Passage die oben genannten Schwierigkeiten, die sich aus den zeitgenössischen Bedingungen für die Persönlichkeitsbildung ergeben. Sie können so weit gehen, dass keine kontinuierliche Selbstbeschreibung mehr möglich ist und deshalb die Existenz eines Kerns, eines Subjekts, das die Wahrnehmung und Deutung der Objekte organisiert, bestritten wird. Dann erfolgt der Brückenschlag von der Moderne-Erfahrung zu einer bestimmten Theorie von Subjektivität: Dieser moderne Mensch, in welchem sich so viele, nicht zusammenpassende Erbschaften finden, ist der lebende Beweis der psychologischen Theorie, welche unser Ich als ein Bündel von Erscheinungen ansieht, welche fortwährend sich verbinden und wieder auflösen, so daß die scheinbare Einheit unseres moralischen Lebens sich in eine Aufeinanderfolge vielfältiger, heterogener, manchmal bis zum heftigsten Sichbekämpfen voneinander verschiedener Persönlichkeiten auflöst. (136)

Die Theorie von der Nicht-Existenz des Subjekts, die Negation der Freiheit und die Delegation von Entscheidungen an Naturgesetze wären demnach glaubwürdig für ein Individuum unter bestimmten Bedingungen; für ein

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Odo Marquard: Frage nach der Frage, auf die die Hermeneutik die Antwort ist. In: Marquardt Abschied vom Prinzipiellen. Stuttgart 1981, S. 130. Thome: Autonomes Ich, S. 395f.

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Individuum, das in einem Schub konzentrierter historischer Veränderung den Verlust einer alten, als >wahr< angesehenen Identität erlebt hat und sich in einer heterogenen Wirklichkeit wiederfindet, in der es ihm nicht gelingt, ein neues Selbstverständnis zu begründen. Diesem Zusammenhang lässt sich am Beispiel von Ernst Mach weiter nachgehen. Denn die von Bourget zitierte Auflösung des Ich in ein Bündel von Erscheinungen ist in der Rezeption des deutschsprachigen Raums vor allem mit seinem Namen verbunden.

2.2 Der Sommertag der Subjektnegation: Ernst Mach Machs (1838-1916) Arbeiten kann man wissenschaftsgeschichtlich einordnen. Dann ist er Teil einer größeren Bewegung zur Reformulierung der empirischen Wissenschaften »durch die Eliminierung auch der impliziten und nichtbewußten metaphysischen Annahmen«. 5 8 Der Empiriokritizismus, der sich mit seinem Namen verbindet, reduziert die Realität auf Empfindungselemente und deren funktionale Verknüpfungen. Damit sollen herkömmliche Dichotomien wie Ich und Welt, Leib und Seele, Innenwelt und Außenwelt überwunden werden. So hofft man, zu einer Vereinheitlichung in der Beschreibung von Realität zu gelangen; Realität erscheint als Masse oder Fluidum von Elementen. Betrachtet man es aus dieser Perspektive, kann man sagen, dass es Mach um eine »möglichst ökonomische Formulierung der wissenschaftlichen Begrifflichkeit« geht, die »hemmende Scheinprobleme« beseitigt. 59 Allerdings ist bemerkenswert, in welchem Gestus diese hemmenden Probleme beseitigt werden. In dem f ü r die Frage nach dem Subjekt zentralen Werk »Die Analyse der E m p f i n d u n g e n (zuerst 1886) erklärt Mach: »An einem heitern Sommertage im Freien erschien mir einmal die Welt samt meinem Ich als eine zusammenhängende Masse von Empfindungen«. 6 0 Das ist Teil einer Theorie der Empfindungselemente; gleichzeitig handelt es sich um die Beschreibung eines glücklichen Moments. Was sich schon an der Subjektkritik des späten Nietzsche zeigte, tritt auch bei Mach hervor: Hinter der Diagnose der Nicht-Existenz des Subjekts steht mindestens die Bereitschaft, meistens der Wunsch, es verschwinden zu lassen. Das ist den Apologeten der ästhetischen Moderne entgegenzuhalten. Denn sie stellen es gerne so dar, als hätten die Intellektuellen unter einer Zerstörung des Ich gelitten, die sich aus neuen Erkenntnissen und den Mechanismen der Gesellschaft ergeben habe; als sei ihre Vorstellung einer Welt ohne Individuen von Angst besetzt. Peter Z i m a behauptet in einer neuen >Theorie

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E b d . , S. 449. E b d . , S. 451. Ernst M a c h : D i e A n a l y s e der E m p f i n d u n g e n und das Verhältnis des Physischen zum Psychischen. 6. Auflage. J e n a 1 9 1 1 , S. 24. Im Weiteren w i r d zitiert mit Seitenangaben im Haupttext.

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des SubjektsKopf< teilt vielmehr mit ihnen dasselbe räumliche Feld« (21). Diesen Ausführungen ist eine Zeichnung beigestellt, die die These illustrieren soll, dass sich der eigene Leib von anderen Leibern dadurch unterscheide, »daß er nur teilweise und insbesondere ohne Kopf gesehen wird« (15). Aus heutiger Sicht wirkt das eher obskur, aber es entspricht einem verbreiteten Selbstgefühl des späten 19. Jahrhunderts. In seinen ersten Gedichten schreibt Hugo von Hofmannsthal, dass ihm sein Ich gegenüberstehe »wie ein Hund unheimlich stumm und fremd.« 62 Auch in Machs Fall lohnt es sich, nach dem Zusammenhang von Selbst-Erfahrung und Theorie zu fragen. Auch ein Positivist hat ja Annahmen und Ziele, und in Machs Fall wird dieser Zusammenhang von Umwelterfahrungen und Wissenschaft vergleichsweise offen thematisiert. Zuerst zur Theorie: Mach versteht die Realität als Zusammenhang von Elementen, die sich zu Komplexen verbinden; in diesem beweglichen Netzwerk gibt es größere und kleinere Beständigkeiten, und zu den ersten gehört das Ich. Es wird definiert als Komplex bestimmter, zu benennender Elemente (11). Schon an dieser Stelle aber fragt und argumentiert Mach nicht weiter. Das Problem, wodurch der Zusammenhang der Elemente entsteht und wie er aufrecht erhalten wird, die Frage nach der zwar relativen, aber eben doch vorhandenen größeren Beständigkeit der Elemente im Ich wird fallengelas-

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Die armen Intellektuellen. Peter V. Zima: Theorie des Subjekts. Subjektivität und Identität zwischen Moderne und Postmoderne. Tübingen/Basel 2000, S. 167. Hofmannsthal: Gesammelte Werke. Gedichte und lyrische Dramen, S. 17 (»Terzinen über Vergänglichkeit«).

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sen. Mach relativiert die Festigkeit, Beständigkeit und Dauer des Ich und unternimmt dann einen argumentativen Sprung zu seiner Nicht-Existenz. Er schreibt: »Das Ich ist keine unveränderliche, bestimmte, scharf begrenzte Einheit« (19) und behauptet sodann, als sei dies die notwendige Schlussfolgerung: »Das Ich ist unrettbar« (20). Dass dies natürlich nicht der Fall ist, dokumentieren die Selbstwidersprüche, die bei Mach auftreten: Auch er spricht weiterhin von »unseren Empfindungen« (14), ohne die für die Subjekttheorie entscheidende Frage zu stellen, welche Bedeutung das Wort »unsere« in diesem Zusammenhang hat und wodurch sich »unsere« Empfindungen von anderen Elementen der Realität unterscheiden. N u r mit derartigen argumentativen Sprüngen gelangt Mach zu der weitreichenden Behauptung der Untrennbarkeit von Subjekt und Objekt. 63 Gerade aufgrund dieser Schwächen und einem spürbaren Voluntarismus der Theorie wird man weiterfragen dürfen: nämlich nach den Gründen für den Willen, vom Ich zu abstrahieren. Das wiederholt geäußerte Gefühl einer brüchigen Identität ist schon genannt worden. »Größere Verschiedenheiten im Ich verschiedener Menschen, als im Laufe der Jahre in einem Menschen eintreten, kann es kaum geben«, behauptet Mach (3). Als es um das Wiedererkennen von Personen geht, bemerkt er, dass ein Säugling oder ein Hund schon bei kleineren äußeren Veränderungen an der Identität eines Menschen zweifle (6). Diese Behauptungen stehen im größeren Zusammenhang einer prinzipiellen Geringschätzung und Abwertung des Individuellen und Besonderen gegenüber dem Allgemeinen. Jeder Mensch habe Züge, um die man nicht trauern müsse, wenn sie verschwinden (4); was zutreffen mag. Aber das Gegenteil, diejenigen Züge, um die es sich zu trauern lohnt, erwähnt Mach nicht. Alles Erhaltenswerte bis auf »geringfügige wertlose persönliche Erinnerungen« sei überindividuell: »Bewußtseinsinhalte von allgemeiner Bedeutung« durchbrechen die »Schranken des Individuums« (19). Wenn man von diesem Nebensächlichen (20) erst einmal absehe, gelange man zu einer »freieren und verklärten Lebensauffassung« (20). Bei dieser freieren Lebensauffassung handelt es sich um den Monismus der Jahrhundertwende, zu dem Mach zählt. 64 Er geht aus einer Kritik der alten dualistischen und metaphysischen Weltdeutungen hervor. So erklärt Mach,

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M a n k a n n sich hier auch nicht mit M a c h s eigener E i n s c h r ä n k u n g weiterhelfen, wonach das »Ich« in der A l l t a g s k o m m u n i k a t i o n weiterhin seine B e d e u t u n g und sein Recht habe (30). D e n n bei der >Analyse der E m p f i n d u n g e n handelt es sich u m einen w i s s e n s c h a f t l i c h e n T e x t , an dem deutlich w i r d , dass auch das wissenschaftliche Sprechen die Subjekt-ObjektD i c h o t o m i e nicht überwinden k a n n . Z u m ideengeschichtlichen Kontext: M o n i k a Fick: Sinnenwelt und Weltseele. D e r psychophysische M o n i s m u s in der Literatur der J a h r h u n d e r t w e n d e . T ü b i n g e n 1993. Z u r Bedeutung des Lebensbegriffs im Z u s a m m e n h a n g einer materialistischen R e f o r m u l i e r u n g des Ich: M a n f r e d Engel: R a i n e r M a r i a Rilkes »Duineser Elegien« und die moderne deutsche Lyrik. Stuttgart 1986, S. 72: Leben als Z e n t r a l b e g r i f f der Epoche.

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den Wissenschaften das »Hypothetische, Metaphysische, Müßige« (22) austreiben zu wollen, das uns der Welt entfremdet habe. Er möchte das Denken als Naturvorgang betrachten, reduziert es auf Wirkungen des Körpers und des Nervensystems (29) und nähert sich an einigen Stellen einem kruden Materialismus: »Wir sind traurig, weil wir weinen« (18). In den Strudel der Säkularisierung und den Zerfall der transzendentalphilosophischen und idealistischen Philosophie wird auch der Subjekt-Begriff hineingezogen. Die alte, auf die Schöpfungslehre oder auf idealistische Entwürfe gegründete Konstitution des Einzelnen 65 wird nicht mehr geglaubt, gerät wie alle anderen Postulate und alles Sollen zum »Spuk« (28). Aber wenn der Monismus einerseits eine Reaktion auf das Scheitern dualistischer Sinnstiftungsunternehmen, >großer Erzählungen< darstellt, so ist doch andererseits der weltdeutende, selbst wiederum konstruktive Charakter des monistischen und lebensphilosophischen Denkens nicht zu verkennen. Denn im Zusammenhang der >Natur< und des >Lebens< sind die auseinander driftenden Welten der Moderne noch einmal verklammert. Im großen Zusammenhang der Biologie existiert der Gegensatz von Subjekt und Objekt nicht mehr, ist der Einzelne wieder mit dem Kosmos verflochten. Es handelt sich also um eine Bewegung der Entdifferenzierung, mit der die Realität, wie Mach schreibt, »durchsichtiger« wird (24). Statt sich mit vorläufigen, unvollständigen und in Konkurrenz zueinander stehenden Beschreibungen der Außenwelt auseinander zu setzen, werden diese auf vorbewusste Regungen reduziert, materialisiert. Wo früher der Geist alles durchdringen sollte, ist es nun ein überhöhtes Physisches, das Einheit schafft. So wird eine neue universalistische Größe installiert. Luhmann hat darauf hingewiesen, dass es der Moderne außerordentlich schwer fällt, die Vorstellung eines Weltganzen aufzugeben. Immer wieder werde der Versuch unternommen, Prinzipien zu finden, die in Geist und Natur identisch seien, um die alte Ontologie zu erhalten oder zu erneuern, um die Welt als ein Ganzes zu verstehen, das aus Teilen oder Elementen besteht.66 Um einen solchen Versuch handelt es sich bei Machs Reduktion auf Elemente, die im Ich und seiner Umwelt gleichermaßen vorhanden sind, die einer gemeinsamen Kraft gehorchen. Deshalb kann sich an Machs Reduktionismus »das mystische Anliegen vieler Vertreter der Wiener Moderne« anschließen.67 Und

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Das Ich als »imago Dei, als Widerspiegelung der Weltseele in der individuellen Seele, als Symbol der Einheit von Gott und Kreatur in der Kreatur«; Luhmann: Die Gesellschaft, S. 915. Luhmann: Die Gesellschaft, S. 930. Le Rider: Das Ende der Illusion, S. 54. Vgl. dazu auch Fick: Sinnenwelt, die erläutert, wie die Sinnlichkeit als Äquivalent für den religiösen >Geist< auftritt und wie versucht wird, durch intensive Beschäftigung mit der Materie religiöse Erfahrungen zu gewinnen: Aus vorbewussten körperlichen Regungen soll das Wunderbare aufsteigen.

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weil man daraus einen neuen Glauben hervorgehen sah, konnte die Verabschiedung der Willensfreiheit, wie Mach, aber auch Taine und Haeckel sie vornahmen, von vielen zeitgenössischen Autoren begrüßt werden. 68 Dabei handelt es sich allerdings schon um Folgerungen, die aus Machs Schriften gezogen wurden. Einschränkend muss man darauf hinweisen, dass Mach selber am Ende seiner Überlegungen die Gültigkeit seiner Thesen einschränkt und sie der prinzipiellen Revidierbarkeit von Erkenntnissen unterstellt (29). Gleichwohl findet man die »Anthropologie des Ich-Zerfalls«, mit der Horst T h o m e in seinen Studien zur Jahrhundertwende die Rezeption Machs charakterisiert, 6 9 schon im Empiriokritizismus selbst. U n d ebenso ist bei Mach ein Verständnis der Subjekt-Negation als Befreiung vorhanden. Auch dies wird in der Rezeption ausgebaut.

2.3 Die vielen Krawatten des Ich: Hermann Bahr Der wichtigste Popularisierer für Machs Subjekttheorie ist Hermann Bahr (1863-1934), dessen Aufsatz >Das unrettbare Ich< schon im Titel Mach zitiert. Dass Bahrs Text 1904, also deutlich später als die bisher behandelten Schriften erschien, belegt die Dauer und Intensität der Debatte. Bei Bahr tritt die Verbindung von Identitätsdiskurs und Subjekttheorie in aller Deutlichkeit hervor: Für Machs wissenschaftliche Anliegen interessiert sich Bahr nicht mehr; er zitiert die Formel vom >unrettbaren Ich< als Beleg für Erfahrungen seines Lebensweges, dessen wichtigste Stationen und Brüche er schildert. Dabei stellt diese autobiographische Skizze in ihrer Anlage so vorbildlich eine Modernisierungskrise dar, dass man sich fragt, ob hier Erlebnisse nicht schon nach einem gängigen Muster vor dem Hintergrund von Erwartungen konturiert werden. U m 1900 hatte man als guter Intellektueller womöglich schon seine Moderne-Krise. Eine solche Lesart würde zu Hermann Bahrs Funktion eines »Import-Export-Agenten« der zeitgenössischen Literatur passen. 70 Andererseits steht Bahrs Lebensweg für tatsächlich vorhandene Schwierigkeiten der Identitätsbildung in einer polyphonen Gesellschaft, denn er war »nacheinander Wagnerianer und Anhänger Bismarcks, Marxist, Symbolist, Secessionist, Expressionist und schließlich 1912 Katholik.« 7 ' Die Voraussetzungen dieses permanenten Wechsels von Position und Negation werden in dem genannten Essay geschildert. Er beginnt mit einer Szenerie, die sich wie eine symbolische Darstellung der alteuropäischen Ordnung liest. Als Kind geht der Ich-Erzähler (von dem

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Vgl. Sprengel: Geschichte, S. 85!·. T h o m e : Autonomes Ich, S. 452f. Le Rider: D a s E n d e der Illusion, S. 23. E b d . , S. 34.

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man aufgrund der Ästhctisierung sprechen kann) mit dem Vater frühmorgens oder abends »durch das Landhaus mit dem wunderschönen alten Portal«; man überquert einen Strom und gelangt hinaus in die Natur: »auf den anmutigen Freinberg, wo man, vor dem Kollegium der Jesuiten, ins ganze Land und über das glitzernde sprühende Tal auf unsere mächtigen alten Berge aussieht.« 72 Die Szenerie bildet eine Einheit (»das ganze Land«) und ist als solche geschlossen, begrenzt von den Bergen. 73 Sie symbolisieren das unveränderliche Sein, das den Rahmen dieser Ordnung bildet. Der Mensch weiß sich in sie integriert, begreift sich als Teil des Ganzen. Die Zugehörigkeit wird auch dadurch möglich, dass es sich nicht um eine wilde, sondern um eine von der Religion gedeutete und kultivierte Natur handelt; man hat die Jesuiten im Rücken. Zudem befriedigt das glitzernde und sprühende Tal auch ästhetische Bedürfnisse; auch dies im traditionellen Sinn eines Auf-Scheinens von Ideen. In dieser Szenerie findet nun die Weitergabe von Wissen durch den Vater statt: »Er mußte mir alles erklären«. Die Formulierung zeigt, dass man von der Existenz einer zutreffenden Welterklärung ausgeht. Das Denken repräsentiert das Sein, und es gibt eine konkurrenzfreie Position zur Weitergabe der Ergebnisse dieses Denkens, die der Vater innehat. Z u r Vorstellung von Geordnetheit, die damit impliziert ist, passt auch, dass Vater und Sohn Pflanzen, die sie auf diesem G a n g finden, zu Hause klassifizieren, also in ein System von Gattungen und Arten einfügen. Vor diesem Hintergrund setzt die Moderne-Krise ein, und auch sie weist symbolisch über den Ich-Erzähler hinaus, der nun einen der Endpunkte des alten Europa, die Kopernikanische Wende, in seiner Biographie nachvollzieht. Als sein Vater ihm die Bewegung der Planeten erklärt und sich damit gegen die sinnliche Evidenz der Sonnenbewegung stellt, zerbricht die Einheit der Szenerie. Die Anschauung der Natur und die Lehren des Vaters treten auseinander, der Junge droht »zerrissen« zu werden (184). Er zweifelt sowohl an der Wahrheitsfähigkeit der Sinne als auch an der Autorität des Vaters, und als er die neue Weltsicht akzeptiert, zerbricht damit die Stabilität und Sinnhaftigkeit der alten Kosmologie: »daß ich in Angst geriet, hinausgeschleudert zu werden« (185). Aus dieser primären E r f a h r u n g verschiedener »Wahrheiten« geht eine erkenntnistheoretische Skepsis hervor, und die weitere Biographie erscheint dann als Steigerung der Einsicht, dass »in den Anfängen der Dinge alles unsicher« ist (185). In der Schule wird der Junge mit dem heterogenen Gedanken-

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Hermann Bahr: Zur Überwindung des Naturalismus. Theoretische Schriften 1887-1904. Hrsg. von Gotthart Wunberg. Stuttgart u.a. 1968, S. 183-191, im Folgenden im Haupttext zitiert mit Seitenangabe. Z u den hier benutzten Kategorien: Luhmann: Die Gesellschaft, S. 893ff: Die Semantik Alteuropas.

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gut der modernen Gesellschaft konfrontiert. Hier agieren zwei Lehrer, ein leidenschaftlicher Katechet und ein Materialist, und konkurrieren um die Zustimmung der Schüler. Der Ich-Erzähler versteht sich als »Sophist«, der sich verschiedenen Positionen anpasst und einen Mitschüler, der an dieser Konstellation leidet, mit den Gesetzen der Moderne vertraut machen kann: Er solle sich f ü r jene Wahrheit entscheiden, die mit seiner späteren gesellschaftlichen Funktion am besten zu vereinbaren sei (186). Die Person repräsentiert nicht mehr ein Sein, sondern verhält sich anpassungsrational, legt sich für Zwecke des sozialen Verkehrs fest. Die folgende Station der Modernisierung des Ich bildet, auch dies durchaus planmäßig, die Kant-Lektüre. Denn mit diesen Worten wie aus einer »fremden Sprache« (187) büßt das Ich den letzten Halt einer noch möglichen zutreffenden Beschreibung und Deutung der Realität ein. In zeittypischer Weise wird Kant ohne die regulativen Ideen gelesen. Das daraus resultierende G e f ü h l der Selbstbezüglichkeit und Losgelöstheit wird mit der Stellung eines Menschen auf einem Berg »hoch über allen Geheimnissen« verglichen. Die darin enthaltene Anspielung auf das Neue Testament 74 ist nicht zufällig, denn Bahr sieht das moderne Ich in einer — durchaus als Versuchung verstandenen - Situation von Herrschaft und Macht. Das Ich wird zum Schöpfer, erfindet »Schönheit« und »Schmerz«, ohne durch vorgängige Wahrheiten gebunden oder gesichert zu sein. Da dieses G e f ü h l aber mit Erfahrungen der Lebenspraxis kollidiert, kommt es wiederum zu dem Ergebnis verschiedener Gültigkeiten. Die erkenntnistheoretischen Einsichten Kants sind nicht mit den Bedingungen alltäglicher Praxis zu vereinbaren, werden aber auch nicht widerlegt, sondern existieren als Teilwahrheit weiter (188). Das damit verbundene Dissoziationsrisiko des Individuums belegt Bahr anschließend mit Beispielen aus der Literatur. Moderne Identitätskonflikte gingen, so heißt es mit Bezug auf Goethe, so weit, dass das Ich nur noch als Name für Inhalte fungiere, aus denen keine Gemeinsamkeit mehr hervorgeht (189). Als wissenschaftlicher Beleg für solche Erfahrungen wird ausführlich die schon genannte Subjekt-Theorie Ernst Machs zitiert (i9off.). Im Schlussabsatz des Essays wird folgendes Fazit gezogen: »Das Ich ist unrettbar. Die Vernunft hat die alten Götter umgestürzt und unsere Erde entthront. N u n droht sie, auch uns zu vernichten. Da werden wir erkennen, daß das Element unseres Lebens nicht die Wahrheit ist, sondern die Illusion. Für mich gilt, nicht was wahr ist, sondern was ich brauche, und so geht die Sonne dennoch auf, die Erde ist wirklich und Ich bin Ich« (192). Diese Wende kommt überraschend. Sie folgt der Erfahrung, dass die Behauptung von der Nicht-Existenz des Subjekts lebenspraktisch nicht durchhaltbar

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» D a r a u f f ü h r t e ihn der Teufel mit sich a u f einen sehr hohen Berg und zeigte ihm alle Reiche der Welt und ihre Herrlichkeit«; M a t t h ä u s 4,8.

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ist. Erklären lässt sich dies mit Einsichten, wie sie gegen die Subjektkritik des 20. Jahrhunderts vorgebracht wurden. Der Philosoph Hans Michael Baumgartner hat der Behauptung vom Verschwinden des Subjekts entgegnet, dass zwar bestimmte Konnotationen und Aufladungen des Subjekt-Begriffs in Zweifel geraten können, nicht aber der Kernbestand von Subjektivität, und dazu zählen: 1. die Selbstreferenz des Ich, 2. das Subjekt als individuelles erkennendes B e w u s s t sein, 3. das Subjekt als verantwortliche Person in rechtlicher u n d moralischer H i n sicht u n d 4. das k o m m u n i k a t i v e Ich als B e z u g s p u n k t jeder gemeinsamen R e d e über die Welt u n d das L e b e n der M e n s c h e n in ihr: auch über das Absolute. 7 5

Weil das so ist, kann Hermann Bahr immer noch wissen, dass er in dem Essay >Das unrettbare Ich< eine Geschichte erzählt, die seine Geschichte ist, kann Erkenntnisse präsentieren, die er gewonnen hat, und kann, wenn er >Ich< sagt, davon ausgehen, dass seine Leser um die Bedeutung der Vokabel wissen, sie auf ihr eigenes Ich-Bewusstsein beziehen werden. Wenn dies zutrifft, dann bezeichnet die Formel vom >unrettbaren IchLaunischenGrundlose< gefolgert. Das synchrone G e f ü h l einer mangelnden Kohärenz geht aus dem diachronen G e f ü h l einer mangelnden Kontinuität hervor; Lebensgeschichte und Theoriebildung sind, wie Bahrs Essays zeigen, miteinander verbunden. N e b e n den Verlusten klingen allerdings auch bei Bahr die Möglichkeiten an, die m a n sich mit der Subjektnegation verschafft. In einem Essay mit dem Titel >Impressionismus< erörtert er neue ästhetische Techniken und führt sie auf ein gewandeltes Verständnis des Menschen zurück. 8 ' Im Impressionismus sei die Vorstellung von der Auflösung des Ich zur Kunst geworden. Es wird als Teil einer Umgebung angesehen, so dass die Grenzen von Subjekt und Objekt verschwinden; eines rinnt in das andere und verfließt. Aus der Einsicht in die Scheinbarkeit der Strukturen ergibt sich aber auch die Freiheit, diese neu zu gestalten. D i e Welt wird in einen »Taumel kreisender Verwandlungen« (197) geschleudert. A n dieser Stelle entsteht ein interessanter, f ü r die Subjektkritik bezeichnender, aber k a u m einmal ausgetragener Widerspruch: D e n n es stellt sich die Frage, wer die Welt eigentlich in den kreisenden Taumel schleudert, wenn keine zu Abwägungen, willentlichen Entscheidungen und zielgerichteten

ähnlich argumentieren. Ist diese Subjektkritik nicht vor allem f ü r Intellektuelle attraktiv, die ihr Selbstverständnis zunächst aus einer politischen Religion, also einem geschlossenen System mit dem A n s p r u c h umfassender Welt- und Geschichtsdeutung, bezogen haben und nach dem Verlust dieser Wahrheit tiefgreifende Identitätskrisen bearbeiten müssen? 78 79 80

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B a h r : Z u r U b e r w i n d u n g des N a t u r a l i s m u s , S. 84. S o am Beginn seiner R u s s i s c h e n Reises vgl. Sprengel: Geschichte, S. 120. Bahr: Z u r Ü b e r w i n d u n g des N a t u r a l i s m u s , S. 83.

Ebd., S. 192fr. 73

Handlungen fähigen Subjekte mehr vorhanden sind? Die Analyse der Texte des 20. Jahrhunderts wird diesen Widerspruch noch verschärfen, und sie wird zeigen: Auch nach der Entfernung des Subjekts bleiben immer noch einige Subjekte übrig. Dabei handelt es sich um die Exponenten der Subjektkritik, die ein großes Allgemeines erkannt haben, das alles Besondere durchwirkt und vor dem alles Einzelne nichtig wird. Im Namen dieser Macht handeln sie nun und erhalten dadurch eine völlig andere Legitimation, als es durch die Berufung auf einen eigenen Standpunkt, für den man andere gewinnen muss, je möglich wäre. Für Hermann Bahr trifft dies allerdings noch nicht zu. Er ist alles andere als ein Machtmensch und zudem stark religiös geprägt, und deshalb hat er auch Verständnis für die Gegner des Impressionismus, denen diese Malerei als »teuflisch« (197) erscheinen muss, weil sie darin die Dämonie der Weltbeherrschung erkennen. Der Impressionismus führt vor, dass man die Welt nach »Belieben erscheinen und verschwinden lassen« kann. Wer auf das 20. Jahrhundert zurückblicken kann, liest es nicht ohne Schaudern: In der ästhetischen Moderne wird vorgeführt, wie man die Welt in einen »flüssigen Brei« verwandelt. Diese Äußerung fällt bei Hermann Bahr noch ganz unbedacht aus. Auf das genannte Paradox aber wird zurückzukommen sein: Dass die Subjektnegation der Ermächtigung das Wort reden kann.

74

II. Stefan George

i.

D i e D i c h t u n g als G e g e n r e i c h mit verschärften Eintrittsbedingungen

M i t Stefan George fängt etwas Neues an; seine ersten Veröffentlichungen werden als Einschnitt betrachtet, als Teil jenes Paradigmenwechsels, der die Literaturgeschichte in den Jahren um 1890 erfasst. Die Veränderungen sind unstrittig und schon bei einem Blick auf die Textoberfläche zu erkennen. Bevor auf sie einzugehen ist, kann man aber auch und erst einmal nach Kontinuitäten und Gemeinsamkeiten literarischer Bewegungen oder >Epochen< fragen. Diese Gemeinsamkeiten wird es schon deshalb geben, weil die Umwelt, mit der die Kunst in einem Wechselverhältnis steht, nicht mit dem Jahr 1890 eine fundamental andere geworden ist. Eine derartige Betrachtung, die nicht den Neuheits- und Umbruchs-Verlautbarungen der Akteure folgt, erlaubt es, die Entstehung einer neuen Kunstrichtung besser zu verstehen: als Absetzbewegung von einer nicht mehr plausiblen Antwort auf eine Situation; als neue Antwort auf diese Situation, die als solche aber nicht zwangsläufig allen Schwierigkeiten des alten Paradigmas entkommt. Ebenso wie das seiner Vorgänger zählt Georges Werk zur ästhetischen Moderne, also zu jener Literatur, die mit den gesellschaftlichen, wissensgeschichtlichen und mentalen Bedingungen der Moderne in Beziehung steht. 1 Innerhalb dieses großen Rahmens findet historischer Wandel statt, bilden sich verschiedene Typen von Antworten auf das Gesamtphänomen Moderne heraus. Umbrüche finden dort statt, wo ein altes Paradigma seine Uberzeugungskraft verloren hat, wo seine inhaltliche und formsprachliche Beziehung zur Umwelt mit den Lebenserfahrungen der Zeitgenossen nicht mehr oder nur noch begrenzt zu vermitteln ist. Solche Überlegungen lassen sich an dem Einschnitt um 1890 konkretisieren. Das letzte große, ästhetisch und gedanklich entfaltete Paradigma bildet zu dieser Zeit der poetische Realismus. (Denn die politische Dichtung der Gründerzeit, Spätformen lyrisch-empfindsamen Sprechens und die noch nicht originellen Frühformen naturalistischer Lyrik müssen in diesem großen Rahmen nicht interessieren.) Die Probleme des Realismus, denn auf seine Leistungen kommt es mit Blick auf George weniger an, kann man an einem Gedicht Theodor Storms erkennen, das den Titel >Abseits< trägt. Beschrieben wird eine sonnige Heidelandschaft, versehen mit

Vgl. dazu die Ü b e r l e g u n g e n in der »Einleitung«.

75

Kräutern, D u f t , Käfern, Bienen und Vögeln. In der zweiten H ä l f t e fällt der Blick auf die in dieser L a n d s c h a f t lebenden Menschen: Ein halbverfallen' niedrig' Haus Steht einsam hier und sonnbeschienen; Der Kätner lehnt zur Tür hinaus, Behaglich blinzelnd nach den Bienen; Sein Junge auf dem Stein davor Schnitzt Pfeifen sich aus Kälberrohr. Kaum zittert durch die Mittagsruh Ein Schlag der Dorfuhr, der entfernten; Dem Alten fällt die Wimper zu, Er träumt von seinen Honigernten. - Kein Klang der aufgeregten Zeit Drang noch in diese Einsamkeit. 2 Fragt m a n nach den Ideen dieses Gedichtes, d a n n ist von der Einheit des Menschen mit der N a t u r die Rede, von der Einheit der Generationen und vom >ganzen HausAbseitsganzen Menschen« der Goethezeit ersichtlich wenig zu tun hatte, um so schwieriger wurde es, Realitätsbereiche zu finden, die sich ohne offenbare Gewaltsamkeit so abbilden ließen, dass darin eine »ganze, geschlossene« Welt aufschien; eine Welt, in der die »Mannigfaltigkeit der Dinge« noch einmal »für unsern Geist in Einheit gebracht ist.« Woher sollte die Kunst das nehmen: eine Welt, die »alle ihre Bedingungen, alle ihre Folgen« in sich selber hat und deren Gestalten wie von selbst zusammenhängen, weil eine große »Notwendigkeit« sie durchzieht?4 Wer das versucht, so zeigt das Storm-Gedicht, landet leicht im Abseits und hält sich an Teilen der Gesellschaft fest, die womöglich noch existieren, denen aber keine zukunftsweisende Kraft mehr zukommt. 5 Wie steht George dazu? Sein Anspruch an die Kunst ist mit Sicherheit nicht geringer. Den zitierten Sätzen Kirchmanns und Ludwigs hätte er zustimmen können und hätte sie wohl noch gesteigert. Auch seine Kunst sollte von Divergenzen befreien, eine strukturierte Welt hervorbringen, in der die Einzelteile an einen zentralen Sinn gebunden sind. Auch in seinen Vorstellungen von Kunst war das Erbe der Metaphysik deutlich spürbar. Kunst sollte verwandeln und erlösen, sie zielte auf ein Höchstes und Letztes. Deshalb kann die neueste umfassende Untersuchung zu George sein Werk mit der Kategorie des Rituals analysieren. 6 Rituale verweisen zeichenhaft auf einen nur begrenzt formulierbaren höchsten Sinn, und Rituale verbinden die beteiligten Individuen, heben Differenzen auf. Schon in den frühen ästhetischen Äußerungen in den »Blättern für die Kunst* findet man das entsprechende Vokabular, das den seit der Goethezeit gültigen Kunstdiskurs fortschreibt. Von einer »umkehr« durch die Kunst wird dort gesprochen, von einer Kunst, die »das leben durchdrungen hat«, und von einer dadurch zu erwartenden großen »Wiedergeburt«.7 George sieht nun aber, und darin liegt der Einschnitt, nicht mehr die Möglichkeit, diese Ansprüche mit der ihn umgebenden gesellschaftlichen

4 5

6

7

S. 75; vgl. dazu: Bürgerlicher Realismus und Gründerzeit. 1848—1890. Hrsg. von E d w a r d M c l n n e s und G e r h a r d Plumpe. M ü n c h e n / W i e n 1996 (Hansers Sozialgeschichte der deutschen Literatur, B d . 6), hier die Einleitung von P l u m p e , S. 1 7 - 8 3 . O t t o L u d w i g : Shakespeare-Studien. Hrsg. von M . H e y d r i c h . Leipzig 1872, S. 2 6 4 ^ Dass die realistische Literatur solche Postulate nur selten direkt bzw. naiv umgesetzt hat und dass die interessanteren Autoren (und natürlich auch Storm) Strategien entwickeln, die auf den A n t a g o n i s m u s von utopischer Intention und prosaischer U m w e l t reagieren (durch H u m o r , die Verzeitlichung der Versöhnung, Verlagerung in den D i a l o g ) , muss hier nicht interessieren, weil es u m eine Absetzbewegung geht, die nicht auf die Stärken des Realismus hinweist, sondern auf seine ungelösten Probleme. W o l f g a n g B r a u n g a r t : Ästhetischer K a t h o l i z i s m u s . S t e f a n G e o r g e s R i t u a l e der Literatur. T ü b i n g e n 1997. Blätter f ü r die K u n s t . Begründet von Stefan George. Herausgegeben von Karl August Klein. 1 8 9 2 - 1 9 1 9 . Abgelichteter N e u d r u c k in sechs B ä n d e n . Hrsg. von R o b e r t Boehringer. D ü s seldorf/München 1968: Dritte Folge. 5. B d . , S. 129; Dritte Folge. 1. B d . , S. 2; 1. B d . (1892), S. 2.

77

Wirklichkeit zu vermitteln. Schon in der Jugendphase kommt es zu einer schwer erträglichen Spannung, für die sich ein komisches, aber ebenso auch bestürzendes Bild in der Jugenderinnerung eines Freundes findet: Ich erinnere mich heute noch der äußeren Umstände, unter denen er [George] mich gewissermaßen in sein Weihebündnis aufnahm. [...] An der offenstehenden Tür einer Kegelbahn, bei einer Gartenwirtschaft, blieb George plötzlich stehen und sagte: »Also nimm an, das hier wäre das Heiligtum, von dem wir gesprochen haben. Wenn du das ernsthaft glauben kannst, wenn du mit so viel Glaubenskraft begabt bist, dann ist es wirklich das Heiligtum. Hast du den Mut, mit mir hineinzugehen und den Mächten standzuhalten, die ich beschwören werde?« — Erst mußte ich lachen. Als ich aber sein unheimlich strenges Gesicht ansah, verging mir das Lachen und ich erwiderte, [...] daß ich zu allem bereit sei. [...] Er murmelte nämlich, während wir unter fortgesetzten Verbeugungen und rhythmisch eingeschalteten Kniefällen in der sandigen Bahn neben dem Kegelbord nach der Platte wandelten, auf der man die Kegel aufsetzt, Sprüche in seinem Sakraldeutsch; denn als solches wollte er seine Geheimsprache eigentlich aufgefaßt wissen. In der Mitte der Bahn angelangt, mußte ich mein Gesicht mit meinem über den Kopf gezogenen Lodencape verhüllen und ihm blindlings folgen, bis er mir Halt gebot. Wo sonst beim Kegelspiel der König steht, errichtete er aus unseren aufeinandergelegten Schulmappen eine Art von >AltarDeutsche Heimaterdei, wie er mir später es erklärte. — Nun wurde die Hülle weggenommen, und ich muß verwunderte Augen gemacht haben, daß die Kegelbahn sich nicht tatsächlich inzwischen in einen Einweihungstempel gewandelt hatte. - Das Weitere ist meinem Gedächtnis entfallen; nur das weiß ich noch, daß er sagte: wenn >die anderenAbseits< findet George mehr f ü r seine Wahrheit, und deshalb gerät er schon im Frühwerk in eine entschiedene ästhetische Opposition^ zur Außenwelt. Der Realismus stellt deshalb trotz seiner utopischen Intentionen kein akzeptables poetisches Konzept mehr dar. Eine Versöhnung mit der Welt ist nicht mehr denkbar. Daraus ergeben sich Folgen für Georges Kunstverständnis, die schon in den ersten Veröffentlichungen sichtbar werden. George verschärft die seit der Goethezeit gültige Autonomie von Kunst und verringert ihre Umweltbezüge. Seine Gedichte sollen, wie es Gottfried Benn formuliert hat, »eine Welt ausschließen und an ihrer Stelle eine neue Ordnung baun.« 10 Diese entschiedene

8

9

10

Georg Fuchs: Sturm und Drang in München um die Jahrhundertwende. München 1936, S. I2 7 f. Gert Mattenklott: Bilderdienst. Ästhetische Opposition bei Beardsley und George. 2. Auflage. Frankfurt a.M. 1985. Benn: Werke III, S. 481.

78

Erhöhung der Autonomie wird in allen Bereichen vollzogen. Sie betrifft schon die Distribution von Georges Werk, das in der Frühphase nicht im Buchhandel verkauft wurde, dem Wirtschaftskreislauf entzogen war und stattdessen von Hand zu Hand weitergegeben werden sollte. Auch nachdem sich dies geändert hatte, spielten auffällig gestaltete und mit Widmungen versehene Exemplare eine besondere Rolle. Die ersten Gedichtbände Georges zeichneten sich durch Schlichtheit und eine besonders klare, schmucklose Typographie aus. Schon darin lag ein Distinktions-Signal gegenüber dem Buchmarkt. Die Exklusivität erhöhte sich, als die Gestaltung mit dem >Jahr der Seele< in die Hände des Jugendstilgraphikers Melchior Lechter überging. Die Titelblätter wirkten wie Eintrittstore, deren Ornamente signalisierten: Hier beginnt eine eigene, eine verzauberte Welt. Hinzu kamen ein Papier, das die Aura des Handwerklichen vermittelte, sowie ein eigener, von den Konventionen abweichender Satz. Zusammen mit den Eigenheiten von Georges Schreibung (Kleinschreibung, eigene Zeichensetzung, Veränderungen einzelner Laute) signalisierten sie: In dieser Welt wird eine andere Sprache gesprochen." Blickt man auf die Textgestalt, dann erhöht George die Bedeutung der Form für das Kunstwerk. Das beginnt bei einer für Gedichtbände ungewöhnlich starken Strukturierung. So beginnen die drei Bücher >HymnenAlgabal< (1890—91), die später zu einem Band zusammengefasst wurden, jeweils mit einer »Aufschrift« und einer »Widmung« (II, i28f.). 12 Statt Texte zu reihen oder zu sammeln, werden Unterabteilungen gebildet, in denen Gedichte nummeriert sein können oder durch eine parallele Titelgebung verbunden sind.13 Die Gedichte sollen nicht aufeinander folgen, sondern eine Ordnung erzeugen. Das >Buch der hängenden Gärten< beginnt mit dem initiatorischen Titel: »Wir werden noch einmal zum lande fliegen« (III, 71). Der Zyklus >Hymnen< endet mit dem Gedicht »Die Gärten schließen« (11,28). Aber auch die Strukturierung der einzelnen Gedichte dokumentiert den starken Formwillen. Man kann das zunächst an jenen Optionen erkennen, die George ausschlägt. Das sind die seit der Mitte des 18. Jahrhunderts im Lyrikarsenal vorhandenen freirhythmischen und nicht gereimten Formen.

11

11

13

Vgl. dazu die A r b e i t von M a r t i n R o o s : Stefan G e o r g e s R h e t o r i k der Selbstinszenierung. Düsseldorf 2 0 0 0 . S t e f a n G e o r g e w i r d zitiert nach: S ä m t l i c h e W e r k e in 18 B ä n d e n . H r s g . von der S t e f a n G e o r g e - S t i f t u n g (Bandbearbeiter: G e o r g Peter L a n d m a n n und Ute O e l m a n n ) . Stuttgart I982ff. Belege mit B a n d - Z i f f e r und Seitenzahl im Haupttext. U m eine von Ausgaben unabhängige Orientierung zu ermöglichen, wird bei G e d i c h t e n , die f ü r den Argumentationsgang besonders wichtig sind, der Titel h i n z u g e f ü g t . Unter d e m Obertitel >Die Lieblinge des Volkes« im B u c h der >Hirten u n d Preisgedichte< erscheinen >Der Ringer« und >Der Saitenspieler«. Unter dem Titel iPreisgedichte a u f einige j u n g e M ä n n e r und Frauen dieser Zeit« erscheint eine Reihe von G e d i c h t e n , die an Personen gerichtet sind: >An Dämon«, >An Menippa« usw. (III, 149).

79

Ihre Attraktivität bestand darin, dass ein Ich in einer Weise sprechen konnte, die besonders, nur ihm gemäß war. Freie Rhythmen signalisierten — Goethes >Prometheus< war das Fanal - die Lösung aus Traditionsbeständen, das Recht des Individuums zur Erfindung und Konstruktion einer eigenen Welt. In Georges frühen Veröffentlichungen finden sich nahezu ausschließlich gleichmäßig metrisierte und gereimte Gedichte, die in der Regel mit der Strophe als Gliederungsinstrument arbeiten. Das Subjekt, das sich in dieser Weise ausspricht, drückt einen Willen zur vorgegebenen Form, zum Gleichmaß und zu Korrespondenzen aus. Wenn Hugo von Hofmannsthal vom Buch der >Hirten- und Preisgedichte< sagt, darin sei »das Leben so völlig gebändigt«, würden »Ruhe und Kühle« vorgeführt, 14 dann ist dies wesentlich eine Leistung der Form. Was er auf das »Leben« bezieht, lässt sich auch vom Sprecher sagen. Er demonstriert vor aller Semantik den Willen, Ordnungsvorgaben zu folgen, sich eine Struktur zu geben. Dabei ist allerdings zu beachten, dass George zwar strenge, aber gleichwohl oft neue, von ihm variierte oder erfundene Gedichtformen verwendet. Er folgt Formvorgaben der Tradition, die aber subjektiviert werden, so dass etwa bekannte metrische Muster mit neuen Strophenformen verbunden werden. M a n muss also, und diese Beobachtung wird noch von Bedeutung sein, von einer selbstgesetzten Ordnung unter Rückgriff auf die Tradition sprechen. Es handelt sich um eine Ordnung, die aus dem Subjekt hervorgeht, das sich mit dieser Struktur kontrollieren und einen Halt geben will. Wieweit aber dieser Formwille reicht, dokumentiert eine Äußerung Georges im Gespräch mit Edith Landmann. Darin wird die Hoffnung ausgesprochen, dass durch die feste Form seiner Gedichte auch der Inhalt Festigkeit erlangen könne. 15 Die Strukturierung, die Bereinigung von Kontingenz, soll also von der Form her in die Semantik dringen und auch auf dieser Ebene die Willkür und die Uneindeutigkeit beseitigen." 5 Konsequent wäre dies nur denkbar in einer abstrakten, von jeder gesellschaftlichen Bedeutung gereinigten Sprache, einer Kunstsprache also, mit der George auch tatsächlich experimentiert hat. 17

14

,s 16

17

H u g o von Hofmannsthal: Gedichte von Stefan George. In: Hofmannsthal: Reden und Aufsätze 1.1891—1913. Hrsg. von Bernd Schoeller in Beratung mit Rudolf Hirsch. Frankfurt a.M. 1979, S. 214—221, hier S. 215. Edith Landmann: Gespräche mit Stefan George. Düsseldorf/München 1963, S. 42. Die Hochschätzung und Aufladung der Form ist aus den zeitgenössischen ästhetischen Diskussionen bekannt und wird in ähnlicher Weise zum Beispiel vom jungen Lukäcs vertreten; dazu Roos: Rhetorik, S. 145. In einer solchen Sprache wäre das Gedicht von allen Schlacken der abgelehnten Umwelt befreit und in der Lage, tatsächlich eine ganz neue, reine Gegenwelt zu entwerfen. George hat damit in der Jugendphase experimentiert, vgl. M a n f r e d Durzak: Der junge Stefan George. Kunsttheorie und Dichtung. München 1968, S. 22ff.; ein Interesse daran scheint bis zum Alter angehalten zu haben. Im Werk hat diese Option aber kaum Spuren hinterlassen (siehe aber das Gedicht »Ursprüngen V I / V I I , n6f.) und ist deshalb nur systematisch

80

Grundsätzlich aber verzichtet George nicht auf eine nachvollziehbare Semantik seiner Gedichte. Vielmehr trifft er auch inhaltlich eine Entscheidung, die der Erhöhung der Autonomie entspricht. Er wendet sich nämlich von seiner Umwelt, dem Deutschland des Jahres 1890, ab und verlegt seine Gedichte in eine räumliche und zeitliche Ferne, um dort jene Vorstellungen zu realisieren, die mit der Moderne nicht vereinbar sind. Wichtig ist, dass diese Entscheidung, die oft Asthetizismus genannt wird, nicht aus einer Gleichgültigkeit gegenüber der Umwelt hervorgeht, sondern aus einer entschiedenen Ablehnung. Abgelehnt wird der preußische Staat, ein »system«, das ohne »wurzeln« funktioniert, das nur aus »Oberflächen« besteht.' 8 Das pluralistische Durcheinander der Gesellschaft wird in einem frühen Gedicht als »getobe« und »irren« bezeichnet (II, 12). Auch die unmittelbar nach der Schulzeit einsetzenden Reisen sind in der Ablehnung einer Welt begründet, auf die George nach eigener Aussage »eine Bombe geworfen hätte«, wenn er geblieben wäre.' 9 1899 bezeichnet er sich als »Socialist Communard«. 2 0 Schon die ästhetischen Entscheidungen des Frühwerks sind also auf eine gesellschaftliche Realität bezogen, für die George sich immer interessiert hat. Das ästhetische Reich bildet deshalb eine Gegenwelt zum bestehenden Reich, und die Autonomie ist in ihrer Verschärfung auch als gesteigerte Gegenwartskritik zu verstehen. 21 Die genannten Titel der frühen Gedichtbände belegen diese Abkehr von der Gegenwart: >SagenSängePilgerfahrten< und >Hirten< sind Bestandteile vergangener Welten. Besonders deutlich wird diese Abkehr in der Gedichtfolge >Preisgedichte auf einige junge Männer und Frauen dieser ZeitAlgabal< nennt, also mit dem Namen eines spätantiken Kaisers bezeichnet, dann handelt es sich um eine interpretationsbedürftige Entscheidung. Generell gilt für Georges frühe Lyrik: Es gibt eine Präferenz für Sprechsituationen, die von der Gegenwart und Umwelt des empirischen Autors weit entfernt sind. So wie es der genannte Gedichttitel ankündigt: >Wir werden noch einmal zum lande fliegen< (III, 71). In diesen Landen, in die der junge George fliegt, gibt es Flurgötter, Geheimopfer und Sporenwachen; hier werden Tagelieder gesungen, und Ritter agieren in Palästen.

2.

D e r einsame Kaiser — D a s Frühwerk

Nach der Analyse der Vorentscheidungen - für die gesteigerte Form, für die Abkehr von der Gegenwart - können einzelne Gedichte aus dem seit 1890 erscheinenden Frühwerk Aufschluss darüber geben, welche Leistungen für das Selbstverständnis des Subjekts diese Entscheidungen erbringen. Anschließend wird aber auch zu fragen sein, welche Probleme sie aufwerfen, denn George ist bei den Optionen seines Frühwerks ja nicht stehen geblieben. In der >Vorrede< der >Bücher< erklärt der Verfasser, dass er »vorübergehend in andere zeiten und örtlichkeiten geflohen ist und sich dort gewiegt hat« (111,7). Dieser Vergangenheitsbegriff ist außerordentlich weit gefasst. Er reicht von der eigenen Kindheit über das Mittelalter und die römische Spätantike bis zur griechischen Antike. Es ist aber gerechtfertigt, diese verschiedenen Vergangenheiten gemeinsam und unter systematischen Aspekten zu betrachten, weil es George bei allem historischen Interesse und trotz gelegentlicher Quellenbenutzung vor allem auf die Gegenbildfunktion zur Gesellschaft der Moderne ankommt. Deshalb haben Algabals Welt und die Welt der Kindheit unverkennbare Ähnlichkeiten: In beiden werden Elemente herausgestellt, die konträr zur Gegenwart stehen und gegen ihre Prinzipien gerichtet sind. So sagt es auch die Vorrede, die dem Subjekt, das die »fremde und Vergangenheit nach eigner art« gestaltet, damit eine Wirkung im »reich des persönlichen und heutigen« zuspricht (ebd.). Das ist die Hoffnung des Verfassers. Georges Vergangenheiten zeichnen sich durch Ordnungsdichte und Strukturiertheit aus. Dafür sorgen Hierarchien, in die man hineingeboren wird. Die Stellung in diesen Hierarchien und die Möglichkeiten der Veränderung 82

werden einem schicksalhaften »los« (III, 20) oder einer ebenso schicksalhaften Erwählung (III, 25) unterworfen. Typisch ist das Porträt eines Edelknechts, der vor seiner Weihe zum Ritter Nachtwache in einer Kapelle hält (111,43; >Sporenwache Ich werde bei des nahen morgens helle Empfangen von der feierlichen pracht

Geschildert wird diese Figur von außen, erscheint als »er«. Damit schafft sich George eine Rolle, in der er jene Erfüllung findet, die in einer gegenwärtigen Ich-Rede nicht darstellbar wäre. Die Nähe zur geschilderten Figur wird deutlich, wenn ihr eine lange direkte Rede zugeschrieben wird. Darin beruft sich der Edelknecht auf außenstehende Autoritäten und deren Entscheidung, durch die er »erkoren« wurde. Ebenso bezieht er sich auf die Vergangenheit durch das Gedenken an einen »ahn«. So erhält die Figur Sicherungen, ein »muss«, das die Identität bestimmt. Sie agiert, wie es das Gedicht sagt, nach »dem« — nicht nach einem — »gesetze«. Derartige Sicherungen und dieses Gesetz werden nicht befragt und gelten nicht als historisch geworden; das Individuum hat sie auszufüllen. Wenn Luhmann den modernen Menschen als Mischexistenz bezeichnet, die sich durch »jeweils eigene, selbstkonstruierte Umweltperspektiven, also durch jeweils anders konstruierte Welteinschnitte«, auszeichnet und sich in »Beziehung zu sich selbst bestimmt«, 22 dann stellt dieser Edelknecht genau das Gegenteil dar. Weiterhin zeichnen sich Georges Vergangenheiten dadurch aus, dass in ihnen noch ungeteilte, nicht-differenzierte Ordnungen bestehen. Der Edelknecht hält sich in der Kapelle auf, bereitet sich dort auf seine neue Stellung in der politischen Hierarchie vor und denkt dabei gleichzeitig über den »guten krieg« nach: Weltliche und geistliche Macht sind noch ungeschieden. Georges Figuren sind noch nicht mit einer Mehrheit von Umwelten geschlagen, sondern vereinen diese wie der Dichter >FrauenlobKindliches Königtum< entfaltet werden, w o das K i n d als »erkoren« bezeichnet w i r d , einen »Staat« gründet und Spielkameraden mit »sold und länderei« bedenkt. D a s Interesse gilt dem Z e n t r u m einer O r d n u n g : »Wenn all dein volk u m dich gekniet im rund« ( 1 1 1 , 7 6 ) . Eine vergleichbare Struktur, in der sich ein zentraler Wille äußert, die Einzelteile kontrolliert und steuert, wird in historischer Gestalt mit dem Reich Algabals entworfen: Der Schöpfung wo er nur geweckt und verwaltet Erhabene neuheit ihn manchmal erfreut · Wo ausser dem seinen kein wille schaltet Und wo er dem licht und dem wetter gebeut. (II, 60) Wenn sich Georges Selbstentwürfe auf solche Phantasien reduzieren ließen, wäre sein W e r k heute w o h l nur von begrenztem Interesse. A b e r schon bei einer ersten Lektüre des Zyklus >Algabal< bemerkt man, dass der Kaiser neben seiner Selbstfeier, dem Ausleben von M a c h t und schrankenloser, nicht zweckgebundener G e w a l t auch von Trauer u n d Reflexivität bestimmt ist. Diese Reflexivität ist f ü r Georges gesamtes weiteres Werk bedeutend, und sie t r i f f t sich mit den Auseinandersetzungen u m Subjektivität in der Moderne. Algabal ist sich nämlich bewusst, dass sein A n s p r u c h auf Herrschaft und Wahrheit von einem Individuum erhoben wird, das sich nicht mehr auf metaphysische Instanzen, auf eine O r d n u n g des Seins oder eine unbefragt gültige Tradition verlassen kann. E r fragt nach der Genese und damit nach der Legitimation seiner Ansprüche. W i e kann das Subjekt seine Wahrheit behaupten, ohne in einen Zirkel von Selbstbezüglichkeiten zu verfallen? A n dieser Stelle reagieren Georges Texte auf Bedingungen der Moderne. Hier wird sichtbar, dass der Rückzug in die Geschichte der Vergewisserung eines Autors dient, der seinen Standpunkt eben nicht ignorieren kann. Wenn man diese zur Selbsterhöhung gegenläufige Linie betrachtet, wird zum Beispiel verständlich, w a r u m sich der oben zitierte »wille« nur in Algabals >unterreich< entfaltet (II, 59ff.); dabei handelt es sich u m eine künstliche Welt, die von der real existierenden Gesellschaft getrennt ist. M a n versteht auch, w a r u m diese Welt leblos und künstlich ist: Weil eine O r d n u n g , die von einem einzigen Willen kontrolliert wird, mit dem notwendig vielstimmigen, antagonistischen Leben nicht zu vereinbaren ist. Mein garten bedarf nicht luft und nicht wärme · Der garten den ich mir selber erbaut Und seiner vögel leblose schwärme Haben noch nie einen frühling geschaut. (11,63)

84

Der Charakter des Artifiziellen wird in den folgenden Strophen ausgemalt und gesteigert, bis das Gedicht mit einer nicht beantworteten Frage schließt. Darin werden die Gegenstände, die das ästhetische Reich bilden, in ihrer Genese und ihrem Status befragt: W i e entstehen sie? Handelt es sich um freie Phantasien eines Einzelnen, die darüber hinaus keine Gültigkeit beanspruchen können? Wie zeug ich dich aber im heiligtume - So fragt ich wenn ich es sinnend durchmass In kühnen gespinsten der sorge vergass — Dunkle grosse schwarze blume? (II, 63) Z u r Darstellung dieses Problems einer Subjektivität, die mit Herrschaftsansprüchen auftritt, um die Problematik dieser Ansprüche aber weiß, eignet sich die Figur des spätantiken Herrschers Algabal (Heliogabal, Elagabal, 204—222) in besonderer Weise. 23 Denn der Name des autokratischen Herrschers geht aus dem Namen jenes Gottes hervor, dem er in seiner Kindheit als Priester diente und den er dann zum höchsten Staatsgott erheben ließ. Deshalb kommt es in dem Zyklus auch zu mehrdeutigen Formulierungen wie »deines tempels türe« (II, 80), wo undeutlich bleibt, wie der Genitiv zu verstehen ist, ob der Tempel dem Herrscher oder dem G o t t zugesprochen wird. 2 4 Diese Uneindeutigkeit ist symptomatisch, denn sie geht aus einem erkenntniskritischen, skeptischen Bewusstsein hervor. Es weiß, dass es sich bei den Göttern womöglich nur um seine Götter handelt; es weiß, dass es sich bei Autoritäten um Behauptungen handelt, dass sich in ihnen womöglich nur ein Individuum eine andere Gestalt gibt. Dieses Problem der Selbstbezüglichkeit tritt nicht nur im >Algabal< auf. In der Erinnerung an das >Kindliche Königtum< wird die Krone des Herrschers genannt, und dann heißt es weiter: »in deren glänz dein haupt sich glücklich pries« (111,76). Für das Preisen sind aber doch wohl eigentlich die anderen zuständig. In einem weiteren Gedicht befindet sich ein Hirte in einer entsprechenden Situation: »Er krönte betend sich mit heiigem laub« (III, 14; >Der Tag des Hirten«). U m der Spannung zwischen dem Anspruch auf eine allgemeine Gültigkeit von Normen und dem Wissen um die Subjektgebundenheit dieser Normen zu entgehen, erfindet George im Frühwerk eine Form der Interaktion, auf die er immer wieder zurückgreift. Das programmatisch an den A n f a n g des Bandes >Hymnen< gesetzte Gedicht trägt den Titel >Weihe< (II, 10.). Darin wird, und diese Aussage soll offenbar für die folgende Sammlung gelten, die

23

24

Z u den benutzten Quellen vgl. die A n g a b e n und Literaturhinweise im K o m m e n t a r S W II, S. n 9 f f . D u r z a k k a n n deshalb mit Recht sagen, dass A l g a b a l auch dort, w o er die Legitimation durch einen G o t t sucht, die Grenzen der Subjektivität nicht überwindet; D e r junge G e o r g e , S. z5off. B e k a n n t d a f ü r ist das M o t i v des Spiegels, S W II, 7 1 .

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Legitimation des Subjekts an eine Außeninstanz gebunden. In einer Naturszenerie, einer Stromlandschaft mit Schilfufer, die Georges Kindheit am Rhein und an der Nahe nachgebildet ist, findet eine Segnung statt. Eine als »herrin« bezeichnete weibliche Gestalt schwebt hernieder und zeichnet das lyrische Du mit einem Kuss aus; dadurch wird es »geheiligt«. Der gesamte Vorgang ist den Mustern visionärer Erscheinungen und Vereinigungen nachgebildet: vom Aufbau einer Erwartungsspannung, vorbereitenden musikalischen Klängen (»elfenlied«), über die Vernichtung von Zeit und Raum bis zur schließlichen Offenbarung. Aber auch in dieser Weihe kommt das Subjekt aus seiner Haut nicht heraus. Es bleibt präsent und spricht sich selber an: Im rasen rastend sollst du dich betäuben An starkem urduft · ohne denkerstörung · So dass die fremden hauche all zerstäuben. Das auge schauend harre der erhörung.

Bei diesen Selbstaufforderungen handelt es sich um Vorbereitungen, mit denen willentlich eine Betäubung herbeigeführt wird. Eine Vision aber muss sich zweifellos überraschend und von selbst ereignen. Der Intellekt, das analysierende Bewusstsein, wird verbannt, damit es nicht zu einer »denkerstörung« kommt. Doch schon die Tatsache, dass der Intellekt genannt wird, genügt: Er ist noch als negierter im Gedicht vorhanden, und damit stellt sich auch die Frage, warum er negiert werden muss. Ein zweites Problem betrifft die Qualität der Außeninstanz. Kennzeichnend ist ihre Vieldeutigkeit und Unbestimmtheit. Es könnte sich um eine Naturgottheit handeln, denn Naturelemente kündigen durch eine Veränderung ihre Erscheinung an. Sie wird mit Elfen in Verbindung gebracht, hat aber offenbar auch eine kosmische Bedeutung, wenn sie aus »sternenstädten« stammt. Wenn »selige gefilde« genannt werden, stellen sich antike Assoziationen ein, wenn sie »die herrin« heißt, hat sie Marien-Anteile in sich. Eine eindeutige Zuordnung ist nicht möglich und nicht gewollt, aber dieser religiöse Synkretismus kann Georges Problem der Subjektlegitimation nicht lösen. Denn gerade eine Instanz, die nicht zu einem existierenden Glaubenssystem gehört, kann ihre subjektiven Anteile, ihren Konstruktcharakter nicht verleugnen. Der Leser rechnet sie als Erfindung dem Autor zu, was in diesem Fall nicht in dessen Interesse ist. D a s Problem der Unbestimmtheit der metaphysischen Außeninstanz kann man in Georges Werk an vielen Stellen erkennen 25 und kann es auch systematisch begreifen. Dann handelt es sich um die Folgeerscheinung einer

25

A u c h in dieser H i n s i c h t ist der R ü c k g r i f f a u f die historische F i g u r A l g a b a l interessant, d e n n dessen G o t t h e i t war eine synthetische G o t t h e i t , die alle bestehenden G ö t t e r in sich vereinen sollte. D i e d a m i t g e g e b e n e U n b e s t i m m t h e i t , ja A u s s a g e l o s i g k e i t , f ü h r t e z u m S y m b o l eines s c h w a r z e n Steins, der für die h ö c h s t e Wahrheit s t a n d .

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ästhetischen Religion, also der seit dem späten 18. Jahrhundert virulenten Vorstellung, wonach Kunstwerke in einem nachmetaphysischen Zeitalter in der Lage seien, verbindliche Sinnvorgaben zu formulieren, Gestalten mit mythologischem Status zu erzeugen. In Schillers Schrift >Uber naive und sentimentalische Dichtung< wird das ästhetische Genie so definiert, dass es zwar den Bedingungen moderner Subjektivität unterliegt, aber gleichzeitig am Absoluten partizipiert. Deshalb kann der Künstler, wo die anderen Menschen an ihrer reflexiven Begrenzung leiden, zum Gesetzgeber der Moderne werden: »Seine Gefühle sind Gesetze«, und zwar deshalb, so Schiller, weil es sich dabei um »Eingebungen« handelt; George wird sagen: weil der Künstler »geweiht« ist. Es stellt sich aber die Frage, woher diese Eingebungen stammen, und schon Schiller gibt hier eine sehr unbestimmte Antwort, indem er nämlich alle möglichen Quellen von Eingebung nennt: Die Natur, der Instinkt, ein schützender Engel, die Einfalt und ein Gott werden aufgeboten. 2 6 Diese Vagheit ist Folge des Versuchs, Ansprüche in die Moderne zu transportieren, die sich dort in einem beständigen Konflikt mit dem Wissen um die Unhintergehbarkeit von Subjektivität und mit der Konkurrenz der Weltdeutungen befinden. Die Widersprüche und Unscharfen, die bei George auftreten, sind deshalb nicht zufällig oder individuell bedingt, sondern ergeben sich aus den Ansprüchen einer Kunstreligion und den historischen Bedingungen, die diese Kunstreligion zwar überwinden will, die sie aber nicht einfach ignorieren kann. M a n kann allerdings fragen, warum diese Ansprüche überhaupt erhoben werden und woher sie stammen. Muss denn der Dichter Herrscher und Priester sein, und muss das ästhetische System eine Zentralstellung beanspruchen? Könnte man nicht ungeweiht dichten? Eine Antwort wäre, dass der Kunst im historischen Prozess der Säkularisierung die Rolle zugesprochen wird, Funktionen auszufüllen, die in der ständischen Ordnung von der Religion erfüllt wurden. Dabei handelt es sich um eine allgemeine historische Entwicklung. Diese Entwicklung wiederholt sich in zahlreichen einzelnen Lebensgeschichten und so auch in Georges Fall, der als K i n d Messdiener in Bingen war. M a n findet bei ihm zahlreiche Gedichte, die einen intensiven und praktizierten katholischen Glauben in der Kindheits- und Jugendphase bezeugen. Mehrere Erinnerungen sprechen von starken religiösen Erfahrungen, so eine Abendszenerie: Zerdrangen die freundlichen schatten die farbige helle · Erstarben die glocken über dem stillen gefild D a n n sank ich befreit und allein in der bergenden zelle Mit schluchzen und sehnen vor das göttliche bild. (III, 56)

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Friedrich Schiller: Sämtliche Werke. Hrsg. von G e r h a r d Fricke und Herbert G . G ö p f e r t . M ü n c h e n 1965—67, B d . 5, S. 7 0 4 ^

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Ein anderes Gedicht beschreibt unter dem Titel >Verjährte Fahrten< eine Wallfahrt. Eine Gruppe befindet sich auf dem Weg zu einem heiligen Ort und lässt sich auch von dem wahrgenommenen Spott der säkularisierten Umwelt nicht beeindrucken. »Streng und fromm« kniet man am Ziel vor dem »erlöserbild« nieder (II, 50). Mit solchen Erfahrungen ist George groß geworden, und daraus gehen seine Erwartungen an Kunstwerke hervor: »Ich schreite durch den dom zum mittelthron · / A u f goldnen füssen qualmen harz und santel · / Mein sang ist schallend wie zu orgelton •« (11,47; >Neuer AusfahrtsegenDer kindliche Kalender< aufschlussreich ( X V I I , i 3 f f . ) . 2 7 Dieser Text gibt den Verlauf eines Jahres aus der Sicht eines Kindes wieder und geht dabei in einfacher Reihung vor: A m A s c h e r m i t t w o c h traten w i r z u m altar u n d der priester zeichnete unsre Stirnen mit d e m aschenkreuz. U m Lätare beobachteten w i r die ersten arbeiten auf d e m feld u n d als der s a f t in den b ä u m e n stieg sassen w i r i m weidicht u n d schnitten aus den lockergeklopften rinden uns flöten u n d pfeifen. D i e schwalben u n d die Störche kehrten wieder. D i e Heilige W o c h e k a m mit ihren zerstörten altären · der v e r s t u m m t e n orgel u n d d e m tönen der klapper statt der klingeln u n d glocken. A m K a r f r e i t a g lagen w i r · nachdem pfarrer u n d messner v o r a n g e g a n g e n waren · der länge nach ausgestreckt a u f d e m chor u n d küssten das niedergelegte H e i l i g e H o l z . In der d ä m m e r u n g erklangen die uralten klageweisen über den Untergang der Stadt.

Wichtig ist zunächst die Perspektive: Im gesamten Text spricht ein »Wir«, wird also ein Zustand vor der Erfahrung von Verschiedenheit und Trennung geschildert. Das Ich ist noch Teil einer großen Ordnung. Diese Ordnung besitzt eine vorgegebene, vom Ich mitzuvollziehende Struktur, den Ablauf des Kirchenjahres. Dabei handelt es sich um eine lineare, der Heilsgeschichte folgende Struktur, die aber gleichzeitig zyklisch - jedes Jahr — wiederkehrt. Als zweites prägendes Element wird die Natur genannt, die aber nicht vom Kirchenjahr getrennt, sondern bruchlos, ohne sprachliche Absetzung mit ihm verfugt ist. Diese Welt befriedigt auch das Verlangen nach Schönheit, denn der Ritus als großes Kunstwerk ästhetisiert seine Teile: Der Ostersonntag ist »der einzige tag wo auch die plumpen kinder des volkes schön wurden«. M i t diesem Erinnerungs-Text begreift man zentrale Bedürfnisse Georges besser. Das gilt für das Verlangen nach einer gegebenen, nicht veränderbaren Wahrheit, die von einer Menschengruppe praktiziert wird und diese verbindet. Das gilt ebenso f ü r den Wunsch nach einer dicht geordneten Umwelt. Diese Ordnung muss so selbstverständlich sein wie im >Kindlichen Kalenders der

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Die Entstehungszeit ist ungesichert. Veröffentlicht wurde der Text 1925, als er anderen Prosagedichten und Schriften der Sammlung »Tage und Taten< hinzugefügt wurde.

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deshalb als einfache Reihung geschrieben ist: Hypotaktische Herleitungen und Erklärungen sind nicht notwendig. Man kann Georges Ästhetik, wie dies Wolfgang Braungart getan hat, als Versuch deuten, Äquivalente für die oben geschilderten Erfahrungen zu finden.28 Allerdings bestehen hier auch Differenzen, die immer wieder durchschlagen. Denn Äquivalente stellen zwar den Versuch dar, Verluste zu kompensieren, unterliegen aber historisch und subjektiv veränderten Bedingungen. 2 9 George kann zwar Bilder aus dem Katholizismus lyrisch verwenden, strukturelle und inhaltliche Analogien herstellen. Aber das selbstverständliche Wir und dessen selbstverständlich eine Welt, in der diese Bilder ihre Funktion besaßen, existieren nicht mehr. Jetzt spricht ein Ich, und wenn es Rituale vollzieht und Gesetze verkündet, dann unterliegen diese der Spannung von unbegrenztem Anspruch und subjektiver Genese. Diese Rituale ordnen nicht mehr die Welt, sondern eine unter vielen Welten. Im Zyklus >Hymnen< werden so genannte >Neuländische Liebesmahle< entworfen: Lass auf d e m lüster viele kerzen flammen M i t schwerem q u a l m e wie in heiigem d o m · D i e hände legen schweigsam w i r z u s a m m e n Z u träumen einen melodienstrom! (II, 16)

Diese Feier vereint offenkundig nur zwei Menschen: einen Sprecher und das angeredete Du; nur diese beiden bilden das »wir«. Gravierender ist noch, dass der Sinn dieses Liebesmahles offen bleibt. Die christlichen Feiern der Kindheit waren Teil eines dichten Netzes von Bedeutung. Sie verwiesen auf eine ausgearbeitete Heilsgeschichte, auf die Institution Kirche und deren Traditionen. Sie ließen sich moralisch verwerten und besaßen gesellschaftliche Implikationen. Nicht zuletzt boten sie eine Selbstdeutung des Individuums an. In Georges Gedicht aber steht den vielen Kerzen nur ein begrenztes Maß an Bedeutung gegenüber. Der »melodienstrom« besitzt keine Semantik und verweist nicht auf eine Realität außerhalb des Rituals: Er wird nur geträumt. Dieses Ritual erhebt also zwar die Ansprüche religiöser Feste, will Sinn vergegenwärtigen und die Teilnehmer integrieren, kann dies aber als >neuländische< Feier nicht mehr leisten. Man kann deshalb von einer esoterischen Wahrheit sprechen, die nur an wenige Einzelne oder eine kleine Gruppe gerichtet ist. Der moderne Dichter will zwar einen Psalter schreiben, aber er weiß, dass es sich in der heterogenen

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Braungart: Ästhetischer Katholizismus. D a r a u f h a t zum Beispiel Max Weber bestanden, auf dessen Abgrenzung von George noch einzugehen sein wird. Er hat nicht geglaubt, dass die Kunst oder die Wissenschaft als Sinnund Sicherheitsspender in der Moderne dienen können, sondern die Divergenz verschiedener Wertsphären und ihre Konkurrenz als vorläufig unüberwindbar angesehen; dazu die Darstellung bei Schroer: Individuum, S. ijff. 89

Welt, in der er lebt, um »meinen psalter« handelt (II, 20; >NachthymneAlgabalKindliches KönigtumAn Damon< und erinnert den Freund an einen »heiligen winter« und die Stätte ihres »einsamen glücks« (111,29). Dort liest man sich gegenseitig vor und sitzt versunken in der Betrachtung von Marmorbildern: Stets i m verkehre mit h i m m l i s c h e n dingen u m f l o s s uns Etwas wie himmlischer Glanz U n d da w i r jeder befeindenden Störung entwichen Sinneverklärende ruh. A b e r b e i m tauen der märzlichen l ü f t e — w a r u m nur Stiegen w i r wieder herab In die gepriesenen hallen u n d w i m m e l n d e n platze · Sterblichen wesen verwandt.

Die Bedingung dieses Glücks, das in der Präsenz von geteiltem Sinn besteht, ist der Rückzug. Denn auf den »wimmelnden« Plätzen wird den Piatonikern sofort die eingeschränkte Gültigkeit der eigenen Erzählungen bewusst. Die neben dem eigenen Anspruch existierenden vielen Ansprüche werden als »befeindende Störung« erlebt: Die eben noch »himmlischen« Dinge verlieren ihre selbstverständliche Richtigkeit. Ein solches Minderheitenbewusstsein, das für George in der Entwicklung seines Werkes und vor allem mit der Herausbildung des Kreises an Bedeutung gewinnt, wird schon im Frühwerk an verschiedenen historischen Beispielen erprobt. Dazu gehören die antiken Mysterienreligionen, auf die sich das Gedicht >Das Geheimopfer< bezieht: »Der nachtende hain / Verschliesst uns dem volk« (III, 21). Die hier zelebrierte Enthüllung eines letzten Geheimnisses ist nicht mehr mit einer gesellschaftlichen Ordnung vermittelbar, sondern steht für die Negation des Lebens: Die Eingeweihten »sterben in ewigem sehnen.« Strukturell vergleichbar ist der Bezug auf den mittelalterlichen Templerorden, der sich von der »grossen zahl« absondert, eine beständige Suchbewegung vollzieht und sich auch von einem Meinungsumschwung im Volk, das den Orden plötzlich verehrt, nicht beeindrucken lässt. Das Glück der Eingeweihten bleibt minoritär, und ihr Ziel ist eine Burg, die nur für wenige Platz bietet (III, jof.; »Irrende ScharP. G.Komm in den totgesagten parkDas Jahr der Seele< ist eine Ich-Du-Wir-Konstellation: Umkreisen wir den stillen teich In den die wasserwege münden! Du suchst mich heiter zu ergründen · Ein wind umweht uns frühlingsweich. (IV, i6)' 6

Dagegen gibt es nur eine vergleichsweise kleinere Zahl von Gedichten, in denen sich ein einzelnes Ich ausspricht. In dieser Besonderheit Georges gegenüber der Lyriktradition kann man den Versuch sehen, den Erfahrungen einer selbstbezüglichen Identitätssuche zu entkommen und sich in zwischenmenschlichen Beziehungen zu objektivieren, einen stabilisierenden Außenbezug herzustellen. Die Ich-Du-Konstellation im >Jahr der Seele< ist immer wieder auf Georges schwieriges Verhältnis zu seiner Jugendbekanntschaft Ida Coblenz bezogen worden, und ein solcher Bezug ist grundsätzlich nicht unberechtigt. Denn natürlich werden Identitätsmodelle nicht im luftleeren Raum einer Textwelt erprobt, sondern stehen in einem Zusammenhang von Literatur und Leben. Sowohl lebensgeschichtlich als auch literarisch ließe sich also der Versuch beobachten, Identität über eine emotional-erotische Zweierbeziehung herzustellen. Aber die Beziehung zu Ida Coblenz ist bekanntlich gescheitert, ohne eigentlich je zu einer Bindung geworden zu sein. Außerdem blieb dieses

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M a n könnte gegen die B e d e u t u n g von Intersubjektivität auf die Vorrede zur S a m m l u n g verweisen, w o davon gesprochen w i r d , dass »ich und du die selbe seele« bezeichnen (IV, 7). D a m i t ist aber noch nicht die Entscheidung f ü r eine I c h - D u - K o m m u n i k a t i o n erklärt, die selbst w e n n das Subjekt weiter in sich gefangen bleibt, doch den Versuch einer U b e r w i n d u n g der Selbstbezüglichkeit darstellt. Als ein solcher Versuch werden die G e d i c h t e hier analysiert.

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Verhältnis der letzte Versuch Georges in dieser Richtung. Aus den schwierig einzuschätzenden homoerotischen Neigungen ist jedenfalls nie eine feste Konstellation hervorgegangen. Auch im J a h r der Seele< findet man kaum Gedichte, in denen von einer auch nur momentanen Erfüllung die Rede sein kann. Daran tragen die äußeren Umstände ihren Anteil: In der Verfallsgeschichte der Moderne können die Subjekte, die unter den Verlusten leiden, sich zwar stabilisieren und »schütz« geben (IV, 41; >Wenn trübe mahnung noch einmal uns peinigtJahr der Seele< ein zweites und für George zukunftsweisendes Modell von Interaktion auf. Der Band enthält eine Reihe von Gedichten, die an Personen gerichtet sind und als Titel Namensinitialen tragen. Solche Gedichte ermöglichen eine doppelte Lesart. M a n kann die Namen entschlüsseln und den Inhalt des Textes auf das Verhältnis des empirischen Autors zu Hugo von Hofmannsthal (Η. H.) oder Karl Wolfskehl (K. W.) beziehen (IV, 7 5f.). M a n kann diese Gedichte aber auch als Form von Intersubjektivität verstehen und fragen, welche Funktion sie für den Sprechenden haben. Der Unterschied zur traditionellen Zweierbeziehung besteht zunächst einfach darin, dass es sich um eine Mehrzahl von Beziehungen handelt. Der lyrische Sprecher bestimmt sich nicht durch das Verhältnis zu einem einzigen Du, verlässt sich also nicht 99

auf einen äußeren Punkt und dessen ausschließliche Geltung, sondern versteht sich als Teil eines größeren Gewebes. Zwar ist die Bedeutung und Intensität der Beziehungen in diesem Modell kleiner, aber dafür ist auch die Gefährdung durch eine mögliche Störung oder einen Abbruch einer Beziehung ungleich geringer als im Liebesverhältnis. Auch wenn ein Faden reißt, kann das Ich, das einen Kreis um sich gelegt hat, dasselbe bleiben. Zudem ergeben sich, wie sich im Fortgang des Werkes zeigen wird, andere und deutlich weiter reichende Wirkungsmöglichkeiten für das Ich. >Das Jahr der Seele< enthält zwölf derartige Gedichte, wobei diese Zahl auf Georges Vorstellung einer abgerundeten, vollständigen Ordnung verweist, auf einen kleinen Kosmos von Ich-Du-Beziehungen. Allerdings wäre es verfrüht, bereits an eine Assoziation nach dem Vorbild von Jüngern zu denken. Denn das Verhältnis zu den angeredeten Personen gestaltet sich ganz verschieden. Man findet die emotionale Einheit mit einem »bruder im stolz« und »bruder im leid« (IV, 74; >M. L.R. P.W. L.H. H.Ich weiss du trittst zu mir ins hausTeppich des Lebens
Der Teppich des Lebens und die Lieder vom Traum und Tod< 1899 erscheint, befindet sich George in einer Ubergangsphase. Die Normen des Frühwerks gelten noch. Später hat George von der »Fernluft« dieses Frühwerks und seinem »tempeltone« gesprochen (VI/VII, 187). Diese beiden Merkmale,

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die Absetzbewegung von der Gegenwart und das Verständnis von Kunst als Äquivalent der Religion, sind um 1900 weiterhin zu finden. Der Maßstab für ein sinnerfülltes Leben bleibt die Religion der Kindheit mit ihren Ritualen und Empfindungen: G i b mir den grossen feierlichen hauch G i b jene glut mir wieder die verjünge M i t denen einst der kindheit flügelschwünge Sich hoben zu dem frühsten Opferrauch. (V, 11)

In dieser noch vormodern strukturierten Welt gab es nur einen »hauch« und einen ausschließlichen »duft«, den man einatmete. Diese Welt war nicht in viele Richtungen offen und zwang nicht permanent dazu, Entscheidungen zu treffen. In ihr konkurrierten keine Ansprüche miteinander, sondern existierte ein höchster Wert, auf den das Leben emphatisch ausgerichtet war. Im >Teppich des Lebens« wird das frühere Lebensgefühl an verschiedenen Stellen wieder aufgerufen. Der Glaube ist verloren, aber seine Leistungen bilden die regulative Idee für die Gegenwart und eine neu zu gewinnende Identität: »Die frühe liebe blieb zum licht« (V, 22). 37 In den ersten Gedichten wurde das Selbstverständnis von Außeninstanzen begründet, die dem Subjekt eine nicht revidierbare und uneingeschränkt gültige Wahrheit vermitteln sollten. Auch im »Teppich des Lebens< treten solche Instanzen auf. Eingeleitet wird der Band mit einer Engel-Gestalt: Ich forschte bleichen eifers nach dem horte N a c h strofen drinnen tiefste kümmerniss U n d dinge rollten d u m p f und ungewiss — D a trat ein nackter engel durch die pforte:

Die Situation, die der Engel therapiert, wird in dieser ersten Strophe des Gedichts, in der das Ich noch alleine steht, benannt: Vermisst w i r d ein »hört«, eine herausgehobene, sichere Position in einer Umwelt, in der die »Dinge rollten«. Das »Rollen« bezeichnet eine vom Z u f a l l gelenkte, nicht prognostizierbare Bewegung. Mit der Erscheinung des Engels verändert sich der Status des Subjekts: Spricht es am A n f a n g als Ich, so gerät es nun in die Rolle des Du, das von einer übersubjektiven, umfassenden Macht angespro-

*

Es gibt bei George auch eine Kritik des Christentums, die dessen Gehalte betrifft. Sie b e t r i f f t aber nicht seine F u n k t i o n , die aus i h m hervorgehende W e l t d e u t u n g und O r d n u n g s s t i f tung. D i e Kritik an den Gehalten richtet sich gegen die dualistisch-asketischen Z ü g e , die U n t e r d r ü c k u n g der Sinnlichkeit und die daraus hervorgehende m a n g e l n d e Fähigkeit zur Schönheit, vgl. V, 55, 57, 65. Diese K r i t i k ist im ästhetischen Diskurs seit der Goethezeit geläufig und wiederholt formuliert worden, prononciert z u m Beispiel in Schillers G e d i c h t >Die G ö t t e r Griechenlands«. G e o r g e schwebt dagegen eine V e r b i n d u n g von antiken und christlichen Traditionen vor, wie er sie in seiner heimatlichen R h e i n g e g e n d verwirklicht sah, vgl. dazu V I / V I I , n 6 f . A u c h diese S y n t h e s e - H o f f n u n g ist in der Literatur des 18. und 19. J a h r h u n d e r t s vielfach ausgesprochen worden.

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chen wird: »Das schöne leben sendet mich an dich / Als boten«, verkündet der Engel (V, 10). 3 8 Er kann, wie in diesem und den folgenden Gedichten des >Vorspiels< ausgeführt wird, Normen setzen, die nicht »ungewiss« sind (V, 10) und denen man sich als ganze Person hingibt: »Nun tu ich alles was der Engel will« (V, 12; >In meinem leben rannen schlimme tageZu lange dürst ich schon nach eurem glückeUns die durch viele jähre zum triumfeJahr der SeeleXVI< aus dem >VorspielDer E r k o r e n e s das ohne O b j e k t gebraucht w i r d : M a n will ehren, aber weiß nicht genau, wen (V, 48).

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Peter Bieri: D a s H a n d w e r k der Freiheit. U b e r die E n t d e c k u n g des eigenen Willens. M ü n c h e n / W i e n 2 0 0 1 , S. 19.

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W o greifen da sich alle fäden queren W o schöpfen da es quillt aus jedem bronne? (V, 19; »Verweilst du in den traurigsten bezirkenDer Schleier · Das Siebente«). Der Dichter zieht die Fäden, ist zwar noch »freund«, aber auch schon »führer« und »ferge« (V, 16). Damit ändert sich bei George auch das Bild der Gesellschaft, die von der Kunst antizipiert werden soll. Zwar wiesen schon die alten Utopien Züge von zwanghafter Gleichheit auf und sahen Verschiedenheit vor allem als etwas an, das es zu integrieren galt. Weder Romantikern noch Klassizisten wäre es aber eingefallen, voller Begeisterung eine Lämmerherde zu beschreiben, die stolz auf die »güldnen glocken« ihrer »führer« hört (V, 41; >LämmerDer Jünger< mit seinen wiederholend-berauschenden Kehrversen: »Ich lebe meinem hehren Herrn«, »Ich diene meinem milden Herrn« (V, 47). Als historisches Vorbild dient ein sehr einfach gezeichnetes Mittelalter, wo ein »waffenknecht« posaunt, die Untertanen begeistert das »banner« ihres Herrn betrachten, um sich ihm willig hinzugeben: »Und winkt er: sind wir stark und stolz bereit / Für seinen rühm in nacht und tod zu gehn« (V, 32). Im Zusammenhang mit der moderne-kritischen Verhärtung seiner Kunstvorstellungen ändert sich auch Georges Konzept einer ästhetischen Elite. Schon im Frühwerk hatte er historische Modelle von Minorität genutzt, um seine Situation zu reflektieren, aber auch aufzuwerten und ästhetisch fruchtbar zu machen. Diese Linie wird im >Teppich des Lebens< fortgesetzt. Bilder werden verwendet, in denen die Situation einer Minderheit umgedeutet wird und zum Garanten wahrer Erkenntnis gerät. Die Wenigen haben also nicht mehr einfach eine andere Meinung als die Vielen und müssen für diese Meinung werben, sondern werden aus den gesellschaftlichen Auseinandersetzungen herausgenommen. Bildlich ausgedrückt stehen sie auf einem Berg, von wo aus sie dem Treiben verschiedener gesellschaftlicher Gruppen (Modernisierungsgewinnler, traditionelle Christen, Neuklassizisten) zusehen. Das Bild sagt: Nur sie haben den Überblick (V, 16; »Ich bin freund und führer dir und ferge«). In diesem Sinn werden verschiedene Minoritätsmodelle aus der Tradition aufgerufen (V, 19; 51) und große Einzelgestalten als Vorbilder genannt (V40; 53). Neu ist aber, dass George sich gegen eine neben der Gesellschaft existierende und diese einfach negierende Esoterik wendet. Es wäre falsch, sich von

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C l e m e n s Pornschlegel: D e r literarische S o u v e r ä n . Studien zur politischen F u n k t i o n der deutschen D i c h t u n g bei G o e t h e , Heidegger, K a f k a und im G e o r g e - K r e i s . Freiburg 1994.

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jenen Orten abzusetzen, »wo die menschen weilen« (V, 24; >Dein geist zurück in jenes jähr geschwenkt«), sich eigene R ä u m e zu erschaffen und damit der Gegenwart zu entfliehen. Lebensgeschichtlich setzt sich George nach 1 9 0 0 genau mit diesem V o r w u r f von der religiösen Kleingruppe der Kosmiker ab, zu der er einige Jahre Kontakt hatte. Z w a r teilt er ihre zivilisationskritischen Normen, sieht sie aber in ihrem höchst eigenwilligen Synkretismus und ihren sektiererischen Praktiken in Selbstbezüglichkeit und Isolation abgleiten. M i t der gleichen Stoßrichtung werden D e c a d e n c e - K ü n s t l e r u n d ihr lebensabgewandter Asthetizismus kritisiert. G e g e n ein »schönes sterben« und einen »farbenvollen Untergang« wird die »reiche fülle« des Lebens, werden »frische wünsche« gesetzt, die sich in der Kunst artikulieren sollen (V, 7 1 ; >Den BrüdernDer Erkorene< und >Der Verworfene« sind paradigmatische und sich gegenüberstehende Gedicht-Titel (V, 48f.). M i t derartigen Gedichten verändert sich Georges Position: D i e grundsätzliche Entscheidung einer ästhetischen Opposition zur Moderne bleibt bestehen. Sie äußert sich aber nicht mehr in einer einfachen A b w e n d u n g von der Gegenwart oder in einer Kunst, die den historischen Prozess ästhetisch kompensiert, sondern im Entwurf von Gegenstrukturen. Diese werden von Kleingruppen bereits realisiert und vorgelebt und sollen i m R a h m e n einer langfristigen ästhetischen Erziehung auch gesellschaftlich Folgen zeitigen, eine Umgestaltung herbeiführen. Die folgenden Gedichtbände begleiten dann die Entstehung und Entwicklung des Kreises, der sich als ästhetischer >Staat< versteht. Sie werden zeigen, wie George seine Konzepte ausbaut und wie er dabei mit dem Balanceakt von ästhetischer Autonomie und gesellschaftlicher Wirkungsabsicht umgeht. N a c h d e m Georges E n t w i c k l u n g skizziert worden ist, muss ein Faden aus dem Frühwerk wieder aufgenommen und etwas Entscheidendes hinzugefügt werden. D e n n George trägt zwar seine jeweiligen Behauptungen und Identitäten mit großer Entschiedenheit vor. Gleichzeitig aber sind sie von Selbstwidersprüchen, Zweifeln und Gegenreden begleitet. So ist oben der vielfache Versuch erörtert worden, der Subjektgebundenheit des Sprechens, der dadurch begrenzten Gültigkeit und Revidierbarkeit von Aussagen zu entkommen. Im

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Widerspruch dazu erinnert ein Gedicht prononciert und sehr deutlich an gerade diese Bedingungen. Darin beklagt eine Gruppe von Menschen die Abwesenheit höchster Werte und den beständigen Zerfall dessen, was man zu »göttern« erhebt. Wahrheiten werden »fahl und mürbe«, sind veränderbar, erscheinen als »schäum«. Darauf antwortet ein Sprecher und rät tröstend, diesen Götterschwund nicht zu sehr zu betrauern, sondern zu bedenken, dass »jedes bild vor dem ihr fleht und fliehet / Durch euch so gross ist und durch euch so gilt« (V, 21; >Wir die als fürsten wählen und verschmähnIhr bangt der Obern pracht nie mehr zu nennenDer Teppich< gesagt: »Sie ist nach willen nicht« (V, 36); das Muster des Teppichs ist viel zu kompliziert. Damit schränkt sich der Prophet und Stifter nachmoderner Zustände selber ein. Er bedenkt auch die Möglichkeit des Scheiterns der ästhetischen Erzie-

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A u c h im einleitenden und den Dichter legitimierenden E n g e l - G e d i c h t k a n n man dieses P r o b l e m erkennen. D e n n w e n n es heißt, dass die S t i m m e des E n g e l s »fast der meinen glich« (V, 10), w e n n i h m H e r r s c h a f t s a t t r i b u t e abgesprochen werden u n d er g e m e i n s a m mit dem Ich niederkniet, d a n n schwächt dies den A n s p r u c h eines Boten, der im N a m e n einer übersubjektiven M a c h t sprechen soll. D a s Ich wird gestärkt, aber um den Preis einer S c h w ä c h u n g der A u ß e n i n s t a n z , die bis z u m Verdacht einer Projektion des Engels gehen könnte. Vgl. zu diesem Problem auch das Schlussgedicht des Bandes, w o die Widersprüche zwischen A u t o n o m i e , Herrschaftsverlangen und dem B e d ü r f n i s nach einer metaphysischen O f f e n b a r u n g s w a h r h e i t o f f e n thematisiert werden. N u r in einer unbestimmten Licht-Vision können die Dissonanzen vereint werden (V, 85).

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hung künftiger Herrscher, und möglich ist auch, dass der esoterische Dichter von späteren Generationen als vergangen abgetan wird (V, 27). Eine besondere Bedeutung für die Skepsis spielt der Faktor der Zeit. Einerseits soll im ästhetischen Handeln die Zeit stillgestellt werden, und so enthält der »Teppich des Lebens< eine Reihe von Standbildern, die Festigkeit und Dauer garantieren sollen. Andererseits spricht das Ich von der Veränderbarkeit und Wandelbarkeit seiner Identität. Dies geschieht vorzugsweise in der Gattung des Liedes, 44 so etwa in einem >Nacht-GesangDer Siebente Ring< und >Der Stern des Bundes
Stern des Bundes< (1914) ein neuer Abschnitt beginnt: Jetzt schreibt der Gründer und Organisator eines ästhetisch-wissenschaftlichen Kreises. Nun äußert sich der

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Braungart: Ästhetischer Katholizismus, S. 288ff.

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vehemente Kritiker seiner Zeit, der nicht mehr in erster Linie dichten, sondern mit Gedichten erziehen will. George wird nun, wie Claude David gesagt hat, zum Pädagogen; sein Werk ist nicht mehr, wie zuletzt von Reiner Kolk festgestellt, projektiv, sondern kommentierend. 45 In der Tat sind die Unterschiede nicht zu leugnen: zwischen einem Autor, der sich lyrisch in Vergangenheiten versetzt, und einem Autor, der einen jungen M a n n aus München zu einer neuen Inkarnationsform des Absoluten erklärt; einem Dichter, der melancholisch im Park flaniert, und einem Dichter, der eine Gruppe von Gefolgsleuten organisiert und lenkt. M a n könnte einwenden, dass die entsprechenden Gedichte auch ohne den Bezug auf die außertextliche Realität lesbar sind. Aber ein solches Ausblenden, das sonst methodisch sinnvoll sein kann, würde in diesem Fall den Intentionen des Autors zuwiderlaufen. Denn George will gerade, dass seine Gedichte auf eine Welt außerhalb der Literatur bezogen werden, in der sie Halt finden und auf die sie wiederum einwirken. Andererseits muss man auch fragen, wie tiefgehend der Einschnitt im Werk und Leben um 1900 wirklich ist. So findet Braungart, der das Werk als ästhetische Ritualbildung liest, solche Rituale im Früh- und Spätwerk. Ebenso sei immer die Tendenz vorhanden, die Kunst über ihre Grenzen als Teilsystem auszudehnen. Der Traum vom Gesamtkunstwerk >Leben< verbindet den frühen mit dem späten George. 4 6 Ernst Osterkamp weist in seinem Porträt des Autors ebenfalls auf die Gemeinsamkeiten hin und nennt den lebenslangen K a m p f gegen das Bürgertum, der im Frühwerk mit der Haltung des Dandy, im Spätwerk aus der Position des Dichter-Sehers geführt werde. 47 Auch aus der Perspektive von >Identität und Moderne< lassen sich Kontinuitäten feststellen. Erhalten bleiben Georges Widerstand gegen die Grundlagen der modernen Gesellschaft, sein Leiden an den Bedingungen moderner Individualität, sein Versuch, Gegenstrukturen und eine nicht-kontingente Identität zu begründen. U n d auch in der frühen Phase war seine Literatur auf ihre Umwelt bezogen. Denn die ästhetische Autonomie stellte eine Antwort auf eine bestimmte historische Situation dar, und auch die frühe Dichtung enthielt Entwürfe eines anderen, natürlichen Gesetzen folgenden Lebens. Die Entwicklung seit dem Siebenten Ring* kann man deshalb als Neuorientierung innerhalb feststehender und bleibender Normen bezeichnen. Diese Neuorientierung lässt sich wieder mit der Kategorie der ästhetischen Autonomie erfassen. Das Frühwerk hatte die Unabhängigkeit und Eigenständigkeit der Kunst außerordentlich weit gefasst. Mit dem Teppich des Lebens* setzte eine Problematisierung der Autonomie ein: Sie stand in Gefahr, eine lebensferne und selbstbezügliche Dichtung hervorzubringen. In den Jahren

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David: George, S. 276; Kolk: Gruppenbildung, S. 240. Braungart: Ästhetischer Katholizismus, S. 7j((. Ernst Osterkamp: »Ihr wisst nicht wer ich bin«. Stefan Georges poetische Rollenspiele. München: Carl Friedrich von Siemens Stiftung 2002, S. 20.

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nach 1900 reduziert George nun entschieden die Autonomie von Dichtung und verbindet die Kunst mit Personen, Gruppen, Institutionen, die in der Gesellschaft tätig sind. Die Kunst wird zum Teil eines größeren gegen-modernen Projekts. Damit liegt aber kein völliger Bruch mit der Autonomieästhetik vor. Es ist schon gesagt worden, dass die autonome Kunst als Medium zur Antizipation eines Zustandes erfunden worden ist, in dem zentrale Bedingungen der Moderne überwunden sein sollten. Sie diente zur Darstellung eines nicht mehr in heterogene Ansprüche und Praktiken zerrissenen Menschen und zur Projektion einer mythologisch geeinten, auf eine gemeinsame höchste Wahrheit verpflichteten Gesellschaft. Die Autonomieästhetik enthielt indirekt immer politische Ansprüche. 48 Diese allerdings waren nur in der Kunst, nur in ästhetischen Formen auszudrücken und sollten über die Rezeption von Kunst die Gesellschaft verändern. Allerdings lag es in diesem Konzept schon immer nahe, den von der Kunst ausgehenden langwierigen historischen Veränderungsprozess zu beschleunigen und sich in anderen gesellschaftlichen Bereichen nach Verbündeten umzusehen, die gleiche Ziele verfolgen. Diesen Schritt unternimmt nun auch George. Er materialisiert seine Ambitionen nicht mehr nur im Werk, sondern auch in einer um ihn zentrierten Assoziation. 49 Sie wirkt als Vorhut einer kulturellen Erneuerung. Weil die Zielrichtungen des Werkes und des Kreises weitgehend identisch sind, besitzt die Dichtung nun den lange gesuchten Bezug zum Leben. Literatur beschreibt, deutet und fördert Aktionen, die nicht dem Teilsystem Literatur angehören. Die Literatur überwindet ihre von der gesellschaftlichen Differenzierung gesetzten Grenzen, um ihre Wirksamkeit und ihren gesamtgesellschaftlichen Einfluss zu erhöhen. Genau an diesem Punkt der Einschränkung der ästhetischen Autonomie kommt es zu einer für moderne Identitätskonzepte interessanten Auseinandersetzung. Denn Max Weber, der an Georges Werk und Ideen stark interessiert war, kritisiert diese Wendung als Flucht vor der unhintergehbar pluralen Werteordnung der Moderne und sieht in den Ansprüchen der Georgeschen Kunst die Verabsolutierung einer Wertsphäre gegenüber den anderen.50 Weber sah nach dem irreversiblen Verlust der Religion als gesamtgesellschaftlicher Sinninstanz die Notwendigkeit, Identitätsfragen individuell, in einer je einmaligen Verbindung von verschiedenen Sphären und ihren Prinzipien zu beantworten. Er entwarf das heroische Ideal einer selbsterzeugten Ver-

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Pomschlegel: Der literarische Souverän, S. 98, spricht von einem latent immer vorhandenen Machtanspruch in der Autonomie-Ästhetik. Kolk: Gruppenbildung, S. 1. Dazu die Ausführungen bei Schroer: Das Individuum, S. 3off. Z u m Verhältnis von Weber zu George und zum Kreis: Edith Weiller: Max Weber und die literarische Moderne. Ambivalente Begegnungen zweier Kulturen. Stuttgart/Weimar 1994. Vgl. auch Cornelia Blasberg: Charisma in der Moderne. Stefan Georges Medienpolitik. Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 74 (2000), S. m - 1 4 5 , hier S. irßff.

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mittlung von Widersprüchen und stellt es dem Versuch entgegen, von einer Wertsphäre aus die gesamte Umwelt steuern zu wollen. Das Individuum hat sich dem beständigen K a m p f zwischen verschiedenen Göttern zu stellen und muss pragmatisch, manchmal unter gewollter Ausblendung intellektueller Widersprüche, ein lebensfähiges Gemisch, eine Verschlingung der verschiedenen Werte bilden. 51 So entsteht ein Ich, das in sich nicht rein ist, sondern widersprüchlich, das nicht als Teil einer Gemeinschaft lebt, sondern im letzten seine Straße einsam zieht. Weber hält diese Bedingungen moderner Identität nicht für revidierbar, und genau darauf antworten wiederum die George-Schüler mit Kritik. So stellt Friedrich Wolters fest, dass Weber an der »unbedingten Vereinzelung der Trotz-Person« festhalte und die »Möglichkeit einer Bindung für den heutigen Menschen« negiere. 52 Dagegen werden im George-Kreis seit der Abwendung von der ästhetischen Autonomie eine Welt und eine Identität entworfen, in denen der Polytheismus der Werte überwunden ist und wieder eine einzige Wahrheit existiert, Menschen nur in einer Sphäre leben, die alle anderen Sphären bestimmt und deren Gesetze aufhebt. Diese H o f f n u n g ist keine theoretische, sondern spricht aus zahlreichen biographischen Äußerungen. Typisch ist es, wenn Edith Landmann die Begegnung mit George so beschreibt, dass daraus neues Licht »auf alle Gebiete des Lebens« fällt. 53

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Ausführlich schreibt Weber zur Heterogenität des modernen Ideenguts und der sich daraus ergebenden Identitäts-Problematik: »Es handelt sich nämlich zwischen den Werten letztlich überall und immer wieder nicht nur um Alternativen, sondern um einen unüberbrückbar tödlichen Kampf, so wie zwischen >Gott< und »Teufel·. Zwischen ihnen gibt es keine Relativierungen und Kompromisse. Wohlgemerkt: dem Sinn nach nicht. Denn es gibt sie, wie jedermann im Leben erfährt, der Tatsache und folglich dem äußeren Schein nach, und zwar auf Schritt und Tritt. In fast jeder einzelnen wichtigen Stellungnahme realer Menschen kreuzen und verschlingen sich ja die Wertsphären. Das Verflachende des »Alltags« in diesem eigentlichen Sinn des Wortes besteht ja gerade darin: daß der in ihm dahinlebende Mensch sich dieser teils psychologisch, teils pragmatisch bedingten Vermengung todfeindlicher Werte nicht bewußt wird und vor allem: auch gar nicht bewußt werden will, daß er sich vielmehr der Wahl zwischen >Gott< und >Teufel< und der eigenen letzten Entscheidung darüber: welcher der kollidierenden Werte von dem Einen und welcher von dem Anderen regiert werde, entzieht. Die aller menschlichen Bequemlichkeit unwillkommene, aber unvermeidliche Frucht vom Baum der Erkenntnis ist gar keine andere als eben die: um jene Gegensätze wissen und also sehen zu müssen, daß jede einzelne wichtige Handlung und daß vollends das Leben als Ganzes, wenn es nicht wie ein Naturereignis dahingleiten soll, sondern bewußt geführt werden soll, eine Kette letzter Entscheidungen bedeutet, durch welche die Seele, wie bei Piaton, ihr eigenes Schicksal — den Sinn ihres Tuns und Handeln heißt das — wählt. Wohl das gröblichste Mißverständnis, welches den Absichten der Vertreter der Wertkollision gelegentlich immer wieder zuteil geworden ist, enthält daher die Deutung dieses Standpunktes als »Relativismus««; Max Weber: Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre. 7. Auflage. Tübingen 1988 (zuerst 1922), S. 507. Friedrich Wolters: Stefan George und die »Blätter für die KunstBlättern für die Kunst« hieß,55 und war deshalb nicht zu ersetzen. Ein >Ende der Kunst*, von dem in der ästhetischen Theorie der Moderne wiederholt die Rede war, wäre für George auch bei einer grundsätzlichen historischen Veränderung nicht denkbar. Programmatisch wird dieser Anspruch, der nur als Zwiespalt oder Balanceakt zu verwirklichen ist, im Eingangsgedicht des Siebenten Ringes< formuliert. George thematisiert unter dem Titel >Das Zeitgedicht< seine Entwicklung vom ästhetizistischen Frühwerk, vom »salbentrunknen prinzen«, wie es leicht ironisch heißt, zum engagierten Dichter. Dieser begibt sich mit seiner Kunst in die Kämpfe der Gegenwart: »Und schmetternd führt er wieder ins gedräng« (VI/VII, 6). Gegen den Vorwurf eines Bruches beharrt er auf Konstanz. Dabei verteidigt er sein Frühwerk, das aus »quälen« und aus einer Auseinandersetzung mit »des feindes haus« hervorgegangen sei. Er führt

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zählungen — Sozialismus, Ästhetizismus, Katholizismus — wechselte und es eine Zeit lang auch mit >George< probierte; Groppe: Die Macht der Bildung, S. H o f f . Auseinandersetzungen, wie sie Brecht mit den Vorgaben der sozialistischen Literaturtheorie führen musste, sind in Georges Fall nicht denkbar. Einleitungen und Merksprüche der »Blätter für die KunstGedenkbuch< für M a x i m i n nicht relativieren, wie es mit anderen inzwischen fremden oder womöglich peinlichen Hervorbringungen der ästhetischen Moderne geschieht. Die Dichtung sollte durch die Erscheinung Maximins endlich kein selbstbezügliches Spiel mehr sein: Sie hatte von außen eine Aufgabe erhalten, war nun Zeugnis. Dichtung war wieder, wie in der Vormoderne, von der Religion ungetrennt. Ihre Autonomie war glücklich beseitigt, und statt schöne Gedichte über eigene Gefühle zu schreiben, verkündet der Dichter jetzt wieder eine Botschaft, die das Leben der Hörer verändern muss: Vereint euch froh d a ihr nicht mehr b e k l o m m e n V o r lang verwichner pracht erröten müsst: A u c h ihr habt eines gottes ruf v e r n o m m e n U n d eines gottes m u n d hat euch geküsst. N u n klagt nicht m e h r — d e n n auch ihr wart erkoren — D a s s eure tage unerfüllt entschwebt ... Preist eure Stadt die einen gott geboren! Preist eure zeit in der ein gott gelebt! ( V I / V 1 I , 99; »Auf das leben u n d den tod M a x i m i n s : D a s erste«).

Der vorher beklagte Zustand, in einer Welt ohne zentralen, fraglos gültigen Sinn, in einer Welt der vielen Meinungen zu leben, ist aufgehoben. Man muss nicht mehr, wie George dies in seinem Frühwerk getan hatte, Trost in einer 57 58

Informationen dazu bei David: George, S. i t f f f . Wichtig ist die Feststellung Osterkamps: »Das Ich der M a x i m i n - G e d i c h t e ist in einem sehr konkreten Sinne das Ich Georges, denn die Wahrheit des Sehers läßt sich nicht in einem ästhetischen Fiktionsspiel, sondern allein in der persönlichen Gotteserfahrung begründen«; Osterkamp: Ihr wisst nicht wer ich bin, S. 35.

erfüllten Vergangenheit suchen. Das Absolute ist in der Gegenwart erschienen. Hilfe kommt jetzt aus einem einzigen Wort, das die »unzahl« des Geredes beendet (VIII, 36). Als Teil dieses Geredes, als eine Meinung hatte man auch, wenn man wollte, die moderne Dichtung ansehen können. Auch bei ihr handelte es sich um die Äußerung eines Individuums, das hoffen musste, durch Originalität Anklang zu finden. Es stand in Konkurrenz zu anderen dichtenden Individuen mit potentiell gleichrangigen Konzepten. Diese Situation soll sich mit Maximin ändern. Welche fundamentale Veränderung der Identität sich George von der Inkarnation in Maximin erhofft, wird in einem Gedicht aus dem >Stern des Bundes< ausgesprochen: Der ström geht hoch .. da folgt dies wilde herz Worin ein brand sich wälzt von tausendjahren Den es verbreiten möcht in licht und tiefe U n d nicht entladen kann — d e n Spiegelungen.

Es seufzt den wellen nach als soviel wesen Die ihm entrinnen ihm entronnen sind Und weiss nicht rat eh die paar tropfen bluts Verströmt sind in die endlos laute fülle .. Da tauchst du Gott vor mir empor ans land Dass ich von dir ergriffen dich nur schaue · Dein erdenleib dies enge heiligtum Die spanne kaum für eines arms umfassen Fängt alle sternenflüchtigen gedanken Und bannt mich in den tag für den ich bin. (VIII, 11)

Beschrieben wird eine Ausgangssituation und eine durch ein Du eingeleitete Veränderung. Ein lyrisches Ich spricht sich nur im zweiten Teil aus: Erst hier hat es seine Bestimmung gefunden. Im ersten Teil dagegen nimmt sich der Sprecher distanziert wahr, als »dies wilde herz«. Dabei handelt es sich um einen Mangelzustand, denn das metonymisch gesetzte Herz kann seine Energien, seinen aus dem Anblick der Vergangenheit entzündeten »brand« nicht stillen. Es findet keine Ausdrucksformen und keine Objektivationen für seine Wünsche. Es ist stattdessen auf seine Spiegelbilder zurückgeworfen, entkommt also nicht der Selbstbezüglichkeit des Subjekts. Alles, was versuchsweise zum »wesen« der Welt erhoben wurde, dem Wahrheit als unverlierbare Eigenschaft zugesprochen wurde, hat sich als revidierbar erwiesen. So scheint es, als ob das Ich ohne stabilen Außenbezug leben müsste und sich in der Fülle der Umwelten und ihrer je verschiedenen Normen auflösen müsste. Ein Kriterium zur Begrenzung der Endlosigkeit der vielen Perspektiven scheint nicht zu existieren. Die Moderne legt sich, wie es bei Luhmann heißt, auf die »Nichtregulierbarkeit« von Sinnfragen fest und drückt diese in »Form von Freiheitskonzessionen« aus.59 Es wird dem Einzelnen überlassen, an verschiede59

Luhmann: Soziologische Aufklärung. Bd. 6, S. 100. Il6

nen Systemen zu partizipieren, über die Stärke und Schwäche dieser Teilhabe zu befinden und sich für bestimmte Gültigkeiten zu entscheiden. Genau auf diese Situation, die von George als traumatisch empfunden wird, antwortet der »Gott«. Das von der Auflösung bedrohte Ich bündelt seine Wahrnehmung und ist damit von der Freiheit, der Möglichkeit, immer auch anders zu können, befreit: Es wird »ergriffen«, gerät in die Passivität. Weil der »erdenleib« des Gottes als Inkarnation unabhängig ist von menschlichen Perspektiven, Zweifeln und Veränderungen, werden die vorher nur sehnsüchtigen und sich ins Unendliche verlierenden Gedanken gesammelt und konzentriert. Sie richten sich auf diese eine Erscheinung, »nur« auf sie. Das Ich überwindet die Reflexivität der Moderne und muss sich fortan nicht mehr mit »Umweltperspektiven« und »Welteinschnitten« begnügen. 6 0 George gibt damit einen erheblichen Teil seiner Freiheit auf, aber die Gegenleistung, die er erhält, ist aus seiner Sicht größer als der Verlust. Denn wo vorher die Moderne auf wesentliche Fragen antwortete: >Das musst du selber wissenDas sechsteDas zweite: W a l l f a h r t ) . 6 1 M i t diesem ebenso verzweifelten wie anrührenden Versuch, im A k t einer subjektiven Definition ein Absolutes zu begründen, kehrt George zu seinen Anfängen zurück: Die Szene erinnert an die zitierte Kindheitsepisode, wo er dem Freund gegenüber eine Kegelbahn zum Heiligtum erklärte. Jetzt gibt es, so die Behauptung, und von solchen Behauptungen und Halbgöttern ist die klassische Moderne durchzogen, in den »wirbeln« der Gegenwart einen »halt« (VIII, 12; >War wieder zeiten-fülle?Maximin< heißt: »Dem bist du kind • dem freund. / Ich seh in dir den Gott« ( V I / V I I , 90; »Kunfttag IEntrückungEntrückungGedenkbuch< für Maximin zeigen, dass die angeblich neue Religion eine Fortsetzung und Variation des Christentums darstellt. Sie greift notwendigerweise auf jene Zeichen und Rituale zurück, die im kollektiven Bewusstsein der Gesellschaft, in der sie wirken will, verankert sind. Sie besitzt deshalb ein »parasitäres Verhältnis« zum Christentum; vgl. dazu die Überlegungen bei Ludwig Stockinger: Poetische Religion - Religiöse Poesie. Friedrich von Hardenberg (Novalis) und Joseph von Eichendorff. In: Ästhetische und religiöse Erfahrungen der Jahrhundertwenden. I: um 1800. Hrsg. von Wolfgang Braungart u.a. Paderborn u.a. 1998, S. 167-186. Rudolf Borchardt hat von einer Travestie des Christentums gesprochen; Gesammelte Werke in Einzelbänden. Prosa I. Stuttgart 1957, S. 258ff. Il8

lute deshalb nicht ohne ein erkennendes Bewusstsein, ohne eine subjektive Beschreibung und eine notwendig menschliche Sprache. Bekannte Beispiele für eine solche Thematisierung von Subjektivität und Absolutheit sind Meister Eckhart oder Angelus Silesius, bei dem es heißt: »Ich selbst muß Sonne sein; ich muß mit meinen Strahlen / Das farbenlose Meer der ganzen Gottheit malen.« 62 Für den Versuch, solche gegenseitigen Abhängigkeiten auszudrücken, sind paradoxe Sprachformen charakteristisch, und sie treten auch bei George auf, wenn er sich in seinem Verhältnis zu M a x i m i n als »geschöpf« seines »eignen sohnes« bezeichnet ( V I / V I I , 109; >EinverleibungAus purpurgluten sprachDa schon dein sameDass unfassbar geschehnMaximin< kein Kontinuum, aus dem sich eine Identität ergeben hätte. Schon im Siebenten Ring< und im >Stern des Bundes< sind es nur Kapitel, die der neuen Religion folgen - eine Gottheit hätte doch wohl ein ganzes Buch verdient. In der letzten Veröffentlichung, im >Neuen ReichStern des Bundes< beschreibt, was mit einem Individuum geschieht, das in diese ästhetisch-politische Gegenwelt eingetreten ist: Was ist geschehn dass ich mich kaum noch kenne Kein andrer bin und mehr doch als ich war? Wer mich geliebt geehrt tut es nicht minder Gefährten suchen mich mit schöner scheu. Kein frühres fehlt mir: meiner sommer freuden U n d stolzer träum und weicher lippe kuss .. Ein kühnres wallen pocht in meinem blute — Ich war noch arm als ich noch wahrt und wehrte Seitdem ich ganz mich gab hab ich mich ganz. ( V I I I , 65)

Beschrieben ist eine Situation der Verunsicherung: Das lyrische Ich ist sich durch den Eintritt in die neue Kleingruppe einerseits fremd geworden, hat aber keinen völligen Identitätsbruch erlitten. Abgewehrt wird damit eine Analogie zum Eintritt in sektiererische Strukturen, wo dem gesamten alten Selbstverständnis abgeschworen werden muss. Hier bleiben ausdrücklich die alten Sozialbeziehungen, selbst Liebesbeziehungen erhalten. Worin besteht dann aber die Veränderung, die als Bereicherung verstanden wird? Aufgegeben wird ein alter Zustand, in dem das Ich noch »wahrt und wehrte«. Damit sind offenbar Versuche autonomer Sinnstiftung und Lebensführung gemeint. M a n war bestrebt, seine mentalen Bestände zu >bewahren< und »wehrte« sich als unabhängiges Ich gegen fremde Einflüsse, verteidigte also seine Freiheitsrechte. Damit aber wird, so die paradoxe Behauptung, Identität gerade verfehlt, denn sie entsteht aus der Hingabe an eine äußere Instanz, also aus der Preisgabe einer Autonomie, die als negative Freiheit »arm« macht, statt das Ich zu füllen, ihm Konsistenz zu geben. George glaubt, dass die modernen Vorstellungen von Autonomie zum Scheitern verurteilt sind, weil sie in einen nicht beendbaren Prozess von Selbstzweifeln und Unsicherheiten hineinführen. In einem Gedicht, das eine Ansprache an die Anhänger fingiert, wird genau in diesem Punkt gegen die Außenwelt argumentiert. Konkret geht es dabei gegen zeitgenössische Kritiker, die der Gruppe ihre Hierarchien und Rituale vorwerfen: Elend sind sie die eures bandes spotten D i e auf euch starren und in eignen fesseln Sich lieber quälen als dem sprenger danken .. Der bangste zwang nicht freiheit ist ihr zweifeln U n d missform müdigkeit und lähme .. Glaube Ist kraft von blut ist kraft des schönen lebens. ( V I I I , 89: >Ihr seid bekennen)

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Die scheinbare Freiheit der Moderne wird in dieser interessanten Argumentation als Zwang gedeutet, denn sie zwingt zum Zweifeln, zur Revision, zum beständigen Austarieren von Wünschen und Ansprüchen in einer Person, der keine höchsten Werte mehr vorgegeben sind. Deshalb gehen die Modernen in Fesseln, während der Meister, der Einordnung und Unterordnung verlangt, gerade als »Sprenger« dieser fesseln erscheinen kann. Deutlich wird an solchen Gedichten, dass sich der Kreis einer Auseinandersetzung mit den leitenden Prinzipien der offenen Gesellschaft verdankt. Deutlich wird auch, wie sehr sich die ästhetische Opposition nicht mehr mit der Imagination von Gegenwelten zufrieden gibt, sondern eine solche Gegenwelt mit Avantgarde-Status selber organisiert. In dieser O r d n u n g gibt es nun etwas, was die Moderne mit guten Gründen verabschiedet hatte: ein Zentrum, das einen verbindlichen Sinn verkündet und exerziert. D i e guten G r ü n d e lagen in der Erfahrung der religiösen Bürgerkriege der frühen Neuzeit. D o r t hatte sich gezeigt, dass eine Gesellschaft, in der faktisch eine weltanschauliche Pluralität besteht, in ihren Prinzipien so weit wie möglich neutral bleiben muss. Den konkurrierenden Parteien muss sie gegenseitige Akzeptanz sowie die Trennung von privater Wahrheit und öffentlichem Verhalten abverlangen, u m nicht in die permanente Auseinandersetzung aller gegen alle abzugleiten. George akzeptiert dies nicht, und es ist deshalb kein Zufall, dass Gedichte wie das folgende von der Jugendbewegung benutzt wurden: Sie sind Vorboten eines Zeitalters neuer Bürgerkriege. Sie eignen sich für Bewegungen, die erneut den Anspruch erheben, in der Politik einen höchsten Sinn zu verankern, einen Staat mythologisch zu fundieren, die Trennung von Religion und Politik zu revidieren: Wer je die flamme umschritt Bleibe der flamme trabant! W i e er auch wandert und kreist: W o noch ihr schein ihn erreicht Irrt er zu weit nie vom ziel. N u r wenn sein blick sie verlor Eigener Schimmer ihn trügt: Fehlt ihm der mitte gesetz Treibt er zerstiebend ins all. ( V I I I 84)

Auch dieses Gedicht spricht von Identität und stellt zwei Modelle einander gegenüber. D a s erste argumentiert mit dem Bild eines Kreises: So wie ein Trabant einen Planeten umrundet und von seiner Schwerkraft gehalten wird, soll sich auch ein Subjekt auf ein Zentrum beziehen. Seine Bewegung, seine Lebensgestaltung geschieht als »Kreisens orientiert an einem Mittelpunkt, der N o r m e n setzt und Ziele vorgibt. Erst dort, wo ein solcher Trabant meint, aus sich selbst heraus leuchten zu können, wo die Individualität ihn trügt und er die Ausrichtung an dem außerhalb liegenden Zentrum aufgibt, verliert er seine Identität. Die Folge ist nicht nur Orientierungslosigkeit, weil das Ich 123

aus sich selbst keine verbindlichen Gesetze hervorbringen kann, sondern sogar die Zerstörung des Individuums. Es kann seine Antriebskräfte und Wünsche nicht mehr koordinieren. Das ist Georges Antwort auf die Identitätsdebatte der Moderne: Ohne die Schwerkraft eines außerhalb liegenden, in seiner Geltung nicht bezweifelbaren Zentrums sind die verschiedenen Anteile des Menschen nicht zu verbinden, ist keine lebensgeschichtliche Kontinuität zu erreichen. Man benötigt ein Bild, um ein Selbstbild zu gestalten. Nur so kann das beständige Fragen und Infrage-Stellen beendet werden: »Wer höchstes lebte braucht die deutung nicht« (VIII, 104). Man erhält nun einen »fussbreit festen grund.«68 Mehr als ein Fußbreit ist es allerdings nicht, weil der Kreis nur eine Insel in der anders strukturierten Gesellschaft darstellt. Die Gesetze und Ich-Du-Beziehungen dieses Gegenmodells gestaltet George in einer Fülle von Gedichten, in denen er ganz verschiedene Rollen einnimmt. Gesprochen wird aus der Position eines Untergeordneten, der seine alte Identität aufgibt, sich in einem Du »vernichtet«, um seinen weiteren Lebensweg über dieses Du zu definieren: »Wie ich mich in dir vollende« (VIII, 59). Dialoge werden inszeniert: Ein verzweifeltes Ich stellt seine Situation dar, um von einem anderen überlegenen Ich Stabilität zu erhalten: »>Lass das tosen! gib den arm! / Anders will ich nun dich binden«< (VIII, 53). Ein kollektives Wir spricht, das sich bei einem angeredeten Du für die Verkündung eines neuen Wortes bedankt. Dabei geht die Bereitschaft, sich selbst als abhängig zu bestimmen, bis zum völligen Verzicht auf Autonomie, bis zum Status eines Objekts in den Händen eines Anderen: »Dass ich als thon mich schmiege deinen händen« (VIII, 64). 69 Szenen aus dem Kreis — so könnte man viele Gedichte betiteln. Besonders der >Stern des Bundes« erhält fast den Charakter eines Breviers oder Handbuchs für ästhetisch-politische Kleingruppen der Moderne. Auch wenn also in verschiedenen Rollen gesprochen wird, so hat der empirische Autor George seine Identität natürlich vor allem aus der Unterordnung und Verehrung bezogen, die ihm im Kreis entgegengebracht wurde. Thematisiert wird deshalb auch die Stärke, die ein Individuum erhält, das als Zentrum einer Ordnung fungiert. Dafür steht das bekannte Gedicht >Der EidMächtig ich durch euren schwur.< / W i r die durch dein atmen glühn und blühn. / >Ich von eurem marke kühnSo will der fugFrankenWeltabend lohteEinem Pater«), setzt George die Prinzipien von K a m p f und Streit gegenüber, die als ontologisch höherwertig angesehen werden. Z u Unrecht verlässt sich die Moderne auf die Ideen der Wahlfreiheit, der begründeten Entscheidung und daraus folgenden Handlung. Dieses rationalistische Fundament wird sich als brüchig erweisen. Denn damit werden große Potentiale des Menschen verdrängt ( V I / V I I , 5of.), die innere und äußere Natur unterdrückt ( V I / V I I , 5 4 f 1 2 5 ) . Ebenso irrig ist es, den freigesetzten Menschen nach Leistungen und Qualifikationen zu bewerten ( V I / V I I , 43). Eine erneuerte, ontologisch begründete Ordnung soll 70

Ernst Morwitz: Kommentar zu dem Werk Stefan Georges. München/Düsseldorf 1969, S. 250. 125

das egalitäre Gerangel moderner Subjekte ablösen ( V I / V I I , 26), die sich auf ihr Recht der freien Wahl berufen. Dass in einer solchen Welt noch Werte und Uberzeugungen bestehen, kann George sich nicht vorstellen (VI/VII, 24). Der freigesetzte Mensch unterliegt den Versuchungen des Materialismus. Die Menge treibt sich in »endlosen strassen« herum, wo sie tagsüber »feilscht« und abends »tollt« ( V I / V I I , 30). Die Spaßgesellschaft ist nach Georges Meinung ein Produkt des Antichrist, der »das Leichte« zum höchsten Wert ernennt ( V I / V I I , jöf.). In dieser Welt ständiger Bewegung fehlen unveränderliche Punkte der Orientierung: N u n werdet ihr in unsichtbarem schlunde D a h i n gewälzt nicht wissend m e h r von stunde V o n trieb u n d ziel · nicht m e h r v o n w i n d u n d lee A l s uferlose ströme durch die see. ( V I / V I I , 86) 7 1

Neben solchen lyrischen Versen wird die Kritik aber auch mit einem Furor vorgetragen, der an mehreren Stellen in Gewalt- und Vernichtungsphantasien umschlägt. Aus dem Retter der Wahrheit in Zeiten des Verfalls wird der ästhetische Aggressor: »Zehntausend muss der heilige Wahnsinn schlagen / Zehntausend muss die heilige seuche raffen / Zehntausende der heilige krieg« (VIII, 31; >Ihr baut verbrechendeEin Dritten). Tiefgehende Zerstörungen sind in der Geschichte periodisch immer wieder notwendig (VIII, 37), und George ist sich sicher, dabei auf der richtigen Seite zu stehen: »Dein ist die macht« ( V I / V I I , 42).

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Weil George fundamental gegen die Moderne angeht, ist er weniger anfällig für Sekundärphänomene, die in einer bestimmten historischen Phase integrative Funktionen übernehmen. Dazu gehört vor allem der Nationalismus als mentale Klammer einer differenzierten Ordnung. Dagegen setzt George seine Vorstellung von einer Vereinigung herausragender Züge verschiedener Kulturen (VI/VII, zzf.; VIII, 43). Vondung: Die Apokalypse in Deutschland, vgl. dazu ausführlicher unten Kapitel V, 2.

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5-4 Die neue Sprache - Harte Fügung A n den zitierten Versen ist schon deutlich geworden, dass sich in den Sammlungen des Siebenten Ring< und im >Stern des BundesAuf neue tafeln schreibtSiebente Ring< ist zwar noch überwiegend in Reimen verfasst, enthält aber auch schon eine große Zahl nicht gereimter Gedichte, und dazu gehört vor allem das erste Kapitel der offensiv auf die Gegenwart ausgerichteten Zeitgedichte. Im >Stern des Bundesharten Fügung< beschreiben kann. Dieser typologische Begriff ist in Georges Fall besonders plausibel, weil er von Norbert von Hellingrath, einem Mitglied des Kreises, zur Charakterisierung von Hölderlins Spätdichtung geprägt wurde und weil er im Kontrast zur Liedform und damit zur >glatten Fügung< steht, die Georges Frühwerk bestimmte. 73 Z u r harten

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H e l l i n g r a t h s H ö l d e r l i n - D e u t u n g lebt aus d e m S p a n n u n g s v e r h ä l t n i s von E s o t e r i k u n d M a c h t a n s p r u c h . Dabei verwendet er eine massierte G e w a l t m e t a p h o r i k zur Beschreibung von Hölderlins Sprache und zur Charakterisierung der harten F ü g u n g . Weil der Dichter als Sprachrohr G o t t e s agiert, d a r f er den Hörer in ein J o c h zwingen, ihm das Bewusstsein rauben und seinen Leib formen. Hölderlin, der zwar einseitig, aber nicht völlig zu Unrecht so gedeutet w i r d , löst damit G o e t h e als höchste Autorität ab, bei dem ein solcher Z u g r i f f a u f den K ö r p e r nicht d e n k b a r w ä r e ; dazu Pornschlegel: D e r literarische S o u v e r ä n . Z u r sprachlichen S t r u k t u r liefert wertvolle Untersuchungen J ü r g e n Wertheimer: Dialogisches Sprechen im Werk Stefan Georges. Formen und W a n d l u n g e n . M ü n c h e n 1978.

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Fügung, die sich an antiken Vorbildern orientiert, gehört eine hypotaktische Syntax mit Inversionen und relativ langen Perioden: Wem Du dein licht gabst bis hinauf zu dir Weiss dass er nie dich sagen darf und wort Dass dafür steht hinausgebracht zur menge Nur eine weile wirkt und dann verdirbt Bis neuer wecker kommt der neu es spendet. (VIII, 24)

In diesem Gedicht tritt auch schon die Fülle von Enjambements auf, die George nun verwendet und von denen zumindest einige, auch wenn er nicht so weit geht wie das Vorbild Hölderlin, als harte Enjambements charakterisiert werden können. Zum stockenden, abrupten Gestus des lyrischen Sprechers trägt auch die Zäsur bei, mit der Verse markant zerteilt werden: »Wer ist dein Gott? All meines traums begehr« (VIII, 16). Dieser Vers steht charakteristisch für die Gedankenbewegung, von der die Gedichte bestimmt werden. Hier wird keine einheitliche Stimmung ausgedrückt, wird nicht gesungen, sondern argumentiert, wird gefragt, gefordert und revidiert. Der antithetische Charakter vieler Gedichte, der die Spannungen von Ich und Welt abbildet, gipfelt in dialogischen Texten, die den Gattungsrahmen in Frage stellen und oft nur noch notdürftig versifiziert sind. Auch verzichtet der späte George oft auf die Verbindung von Gedichtteilen, reiht unverbundene Fügungen aneinander (VIII, 65), und dabei kommt es gelegentlich zu einem nicht leicht nachvollziehbaren Wechsel in der Gedankenbewegung. Nicht immer kann man klar erkennen, wer spricht und worauf er sich bezieht. Ebenso treten Elemente zurück, die traditionell als gattungsbildend für die Lyrik gelten: An die Stelle von Bildern treten Gedanken, und auch klangliche, musikalische Elemente wie Alliterationen und Vokalwiederholungen werden selten eingesetzt oder kommen nur als harte, konsonantische Alliterationen vor. Generell benutzt George jetzt eine stärker konsonantische Sprache, die vor unmelodischen Verbindungen (»Erseufzt ihr«) nicht zurückschreckt und nicht immer leicht lesbar ist: »Ihr kundige last kein schauern« (VI/VII,6f.). In diesen, im >Stern des Bundes* auch nicht mehr strophisch gegliederten Gedichten artikuliert sich ein Subjekt, das sich nicht mehr in Einheit mit einer ästhetisch erzeugten Umwelt und Atmosphäre befindet, sondern agiert, Widersprüche mit der Realität und mit sich selbst austrägt. Spannungen und Oppositionen werden nicht ästhetisch befriedet und stillgestellt, sondern als Form ausgestellt und ausgetragen. Hier spricht ein Mensch, der seine mangelnde Kohärenz als Form darbietet, der nicht klanglich aufgehen will, sondern sprunghaft und kämpferisch auftritt. Der >Stern des Bundes* führt allerdings vor, dass man den Verzicht auf Einheit, Klang und Spiel, die Absage an Schönheit und ästhetischen Genuss womöglich nicht unbegrenzt weit treiben kann, ohne den Charakter als Kunstwerk zu gefährden.

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6. Zweifel und Lieder am Ende - >Das Neue Reich< Georges letzter Gedichtband, der Texte aus den Jahren 1 9 0 9 - 1 9 2 8 enthält, setzt die Linie der kämpfenden Poesie fort, wie dies schon der Titel signalisiert. Erhalten bleibt die Uberzeugung, dass die Prinzipien der modernen Gesellschaft f ü r eine weitreichende Fehlentwicklung verantwortlich sind. Dieser Fehlentwicklung setzt eine kleine Gruppe ihre Vision eines grundsätzlich veränderten gesellschaftlichen Zusammenhanges, eines >Neuen Reiches< entgegen. Prononciert findet sich das Verhältnis von Zeitkritik, ElitenAnspruch und Geschichts-Vision im Schluss des langen Gedichts >Der Dichter in den Zeiten der Wirren*. Dieser Dichter nämlich, in dem sich George selbst beschreibt, hat in einer ästhetischen Erziehung eine gegen-moderne Kerntruppe herangezogen: [...] I h m wuchs schon heran Unangetastet von dem geilen markt Von dünnem hirngeweb und giftigem flitter Gestählt im banne der verruchten jähre Ein jung geschlecht das wieder mensch und ding M i t echten maassen misst [...] ( I X , 3 0 )

Aufgrund ihrer Sozialisation in einer von den modernen Ideen nicht angekränkelten Gruppe haben sich die Schüler von der Marktwirtschaft, vom Empirismus und der Vergnügungsindustrie ferngehalten. Deshalb können sie, in ihrer Widerstandsfähigkeit zusätzlich durch den Weltkrieg gestärkt, den Anspruch auf Ursprünglichkeit und Wahrheit erheben. Aus dem Wirken dieser Elite soll ein (großgeschriebener) »Mann« hervorgehen, der das Kunstgebilde der Demokratie überwindet und an die Stelle des positiv-gesetzten, konstruierten wieder das ewige Recht setzt. In den Schlussversen des Gedichtes nähert sich George sehr weit der Führerhoffnung der völkischen Rechten an. Das Projekt einer ästhetischen Erziehung wird mit Vokabeln verbunden, die politisch konnotiert sind: 74 [...] er heftet Das wahre Sinnbild auf das völkische banner E r führt durch stürm und grausige signale Des frührots seiner treuen schar zum werk Des wachen tags und pflanzt das Neue Reich.

D e r mit dem S i e b e n t e n Ring< eingeschlagene W e g einer direkten W i r kungsabsicht erreicht in solchen Versen den Höhepunkt. Die dort begonnene Zeitdichtung gipfelt in lyrischen Reden wie >Einem jungen Führer im Ersten Weltkrieg* (IX, 3iff.). Literatur vermittelt psychische Stabilität durch

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D a s G e d i c h t ist im Z e i t r a u m zwischen 1918 und 1921 entstanden. D e r B e g r i f f »völkisch« hatte seit dem letzten Drittel des 19. J a h r h u n d e r t s eine politische B e d e u t u n g .

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geschichtsphilosophische Erbauung. Fortgesetzt wird auch der Versuch, Identität durch Zukunftsaussagen zu gewinnen. Für diese Zukunft bürgt im fortgeschrittenen Alter Georges immer mehr der Kreis. Seine Organisation durch Lyrik wird im >Neuen Reich< fortgesetzt. Nach wie vor dienen Gedichte zur Herstellung und Festigung von intersubjektiven Beziehungen. Es findet sich ein ausführliches Kapitel mit >Sprüchen an die Lebenden< und ein kleineres mit »Sprüchen an die Toten< (IX, 7iff.). Auch die seit dem »Siebenten Ring< sichtbaren Veränderungen der Sprachform bleiben bestehen. Noch stärker als in den vorhergehenden Bänden werden die Grenzen der Lyrik erweitert. Die Sammlung enthält mehrere lange Gedichte, in denen jeweils verschiedene Personen agieren, und mehrere dramatische Dialoge, in denen Antagonismen der Gesellschaft abgebildet werden. Aber darin besteht nur die eine Hälfte des letzten Buches von Stefan George. Denn daneben steht eine erstaunliche Selbstreflexivität und Revision eigener Ansprüche, die viel weiter geht als im »Siebenten Ring< und im »Stern des BundesDas N e u e Reich». J a h r b u c h der Deutschen Schillergesellschaft X L I I I (1999), S. 325-352.

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H e r m a n n L ü b b e : Politische P h i l o s o p h i e in D e u t s c h l a n d . Studien zu ihrer G e s c h i c h t e . Basel/Stuttgart 1963, S. 2 i o f . Es ist bezeichnend, dass Versuche des Kreises, eine nicht-differenzierte Welt zu beschreiben, die auch ästhetischen A n s p r ü c h e n genügt, sich ebenfalls nur auf die Vergangenheit beziehen. Beispielhaft steht Ernst Kantorowicz' Darstellung des mittelalterlichen Königreiches Sizilien.

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Regeln definiert, sondern ging aus substantiellen Werten hervor und stellte damit ein Gegenmodell zur westlichen Zivilisation dar. 78 In diesem Feld würde man wohl auch George vermuten. Die Dichotomien von Gemeinschaft und Gesellschaft, Kultur und Zivilisation teilt er, ebenso das Prinzip von Führung und Gefolgschaft, das er ja schon im Kreis etabliert hatte. Die meisten Mitglieder des Kreises stimmten denn auch in die anfängliche Begeisterung ein, sahen nun den eigenen >Staat< mit dem äußeren Reich zu einer Einheit werden, die Mysterien der Kleingruppe mit der Mythologie der Masse verschmelzen. Georges Dichtung wurde als Prophezeiung der großen Entscheidungsschlacht um Deutschlands Schicksal angesehen. George verhält sich demgegenüber aber ablehnend und zweifelt daran, ob der Krieg wirklich eine tiefgreifende Veränderung hervorbringt. »Nach dem Krieg kann alles was dich so begeistert hat wie weggeblasen sein«, schreibt er an Gundolf. 7 9 Diese Einschätzung geht daraus hervor, dass er die Moderne als weit fortgeschritten ansieht und nicht an eine Überwindung in historisch absehbaren Zeiträumen glaubt. Auch Deutschland ist eben schon ein westlicher Staat und kein Hort der Vormoderne mehr. Deshalb kann er in einem Gespräch mit Edith Landmann sagen, dass im Krieg »die jüngere und schwächere Vertretung des angloamerikanischen Prinzips gegenüber seiner vollkommeneren Inkarnation« unterlegen gewesen sei. 80 U n d weil der Krieg an der Geltung der Ideen von 1789 nichts ändert, findet George auch in der Zeit danach keinen Brückenkopf, von dem aus er seine Normen gesellschaftlich ausbreiten könnte: »Es hat kaum einen sinn · in diesem allgemeinen wirrwarr wo alles sich wütend bekämpft was allzusehr dasselbe ist hineinzurufen.« 81 Die Einsicht in die weit fortgeschrittene Durchsetzung der Moderne in der deutschen Gesellschaft und in ihre vorläufige Irreversibilität artikuliert sich auch in dem Gedicht >Der Kriegs das zuerst 1917 erschienen ist: »Wer gestern alt war kehrt nicht / Jezt heim als neu« (IX, 2iffi). George sieht auf beiden Seiten des K a m p f e s nur Utilitarismus und Egoismus, »feile nutzsucht«, aber kein »morgenrot«. Das Verbundenheitsgefühl am Kriegsbeginn ist durch äußeren Zwang hervorgerufen und nicht als ideengebundene Wiedervereinigung der dissoziierten Gesellschaft zu verstehen. Er selbst stilisiert sich in diesem Gedicht in der Figur eines »Siedlers auf dem berg« und hält

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Vgl. Lübbe: Politische Philosophie, S. 173-238; Kurt Flasch: Die geistige Mobilmachung. Die deutschen Intellektuellen und der Erste Weltkrieg. Berlin 2000. Stefan George - Friedrich Gundolf: Briefwechsel. Hrsg. von Robert Boehringer und Georg Peter Landmann. Düsseldorf/München 1962, S. 260. Edith Landmann: Gespräche S. 70; vgl. zu Georges politischen Einschätzungen vor allem Klaus Landfried: Stefan George. Politik des Unpolitischen. Heidelberg 1975; weiterhin KlausJürgen Grün: Politisches Schweigen. Stefan Georges Einschätzung des gesellschaftlichen Geschehens vom Ende des Kaiserreiches bis zum Ende der Weimarer Republik. Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 1994, Heft 6, S. 497—506. Blätter für die Kunst. 11. und 12. Folge. 1919, S. 6.

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sich damit abseits der allgemeinen mentalen Aufwallung. Statt vom Krieg spricht er von übergreifenden historischen Prozessen, von der Zivilisation, vom »mord am leben selbst«. Der Krieg bietet keinen Anknüpfungspunkt für seine Vorstellungen einer neu formierten Gesellschaft, ja der Sprecher geht noch weiter: Er besitzt kein Zeitmodell mehr, keinen geschichtsphilosophischen Rahmen, in den er die Gegenwart einordnen könnte. Die Geschichte wird von einer nicht deutbaren Eigendynamik angetrieben, ist »des schöpfers hand entwischt« und rast »eigenmächtig« als »Unform von blei und blech · gestäng und rohr« dahin. Im Vorwort des letzten Bandes der >Blätter für die Kunst< aus dem Jahr 1919 ist von einer Welt die Rede, in der »alles gleitend · freischwebend · vereinzelt« ist. 82 Die Entwicklung der Entsubstantialisierung sah George schon im Kaiserreich, das von der Wirtschaft und Bürokratie ausgezehrt wurde. Mit der Weimarer Republik, die Deutschland auch noch auf dem Gebiet der politischen Verfassung verwestlichte, wird sie fortgesetzt und beschleunigt. Den politischen Ideen des Westens, die George auf einen »schwatz von Wohlfahrt, menschlichkeit« verkürzte, hat er keine gesellschaftslegitimierende Kraft zugetraut. Z u r Demokratie gab es deshalb keine Berührungspunkte. Z u r Wirkung antidemokratischer Bewegungen in den zwanziger Jahren und zum ab 1930 sichtbaren Aufstieg des Nationalsozialismus hat sich George widersprüchlich verhalten. Eine »Ahnherrschaft« für die »neue nationale Bewegung« hat er nicht abgelehnt und festgestellt, dass sich damit im politischen Spektrum erstmals eine Kraft äußere, mit der man zumindest einige Vorstellungen teile.®3 Die Affinität der Kreisstruktur und der in vielen Gedichten propagierten Vorstellung von Führung und Unterordnung mit ordnungspolitischen Vorstellungen des Nationalsozialismus ist nicht zu übersehen. Andererseits hat George eine ihm angetragene offizielle Rolle in der Kulturpolitik des neuen Systems abgelehnt und Deutschland 1933 verlassen. Heterogen ist auch das Verhalten der Kreismitglieder zum Nationalsozialismus, das vom politischen Bekenntnis und Engagement bis zum Weg ins Exil reicht. Claus Schenk Graf von Stauffenberg, der eine Prägung im George-Kreis erfahren hat, trat bis 1942 für die Nationalsozialisten ein, um am 20. Juli 1944 das Attentat auf Hitler zu verüben. Wahrscheinlich hätte George, der im Dezember 1933 gestorben ist, die in einigen gesellschaftlichen Bereichen betriebene forcierte Modernisierung, so auf dem Gebiet der Technik und der Wirtschaft, abgestoßen. Auch ein Loblied auf eine Massenbewegung traut man ihm nur schwer zu. Jedenfalls ging Georges Identitätssuche im Gegensatz zu anderen Autoren nicht so weit,

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E b d . , S. 5. Dazu ausführlich Breuer: Ästhetischer Fundamentalismus, S. 22öff.; Kolk: Gruppenbildung, S. 4 8 3 f f .

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sich durch das Bekenntnis zu einer politisch-gesellschaftlichen Bewegung ein neues Identitätsfundament zu verschaffen. Dies ist allerdings ausdrücklich als Aussage über die Ich-Identität zu verstehen. Dass Georges Schriften ihren Beitrag dazu geleistet haben, eine Mentalität zu verstärken, die die Lösung gesellschaftlicher Probleme in einer Monopolisierung des öffentlichen Willens und einer Überwindung der diskutierenden Klasse sah, ist eine andere, notwendige Feststellung. 84 D a es hier aber um Formen und Typen von Identität geht, wird man feststellen können, dass George bei allem Verlangen nach einem übersubjektiven, nicht vom Zweifel bedrohten Fundament doch auf dem Recht der Individualität, dem Recht, anders zu sein, beharrt. Deshalb ist aus dem >Neuen Reich< kein K a m p f b u c h geworden, sondern ein Buch, das Herrschaftsansprüche und Prophetien enthält, aber genauso auch Rückzugsbewegungen, Aussprachen des Zweifels und der Unsicherheit. Z w a r versucht George, dem Titel folgend, von Z u k u n f t zu sprechen. Aber es verschlägt ihn dabei in die Vergangenheit. So präsentiert er Goethe und Hölderlin als Erneuerer (IX, yff.; >Goethes lezte nacht in Italiens >HyperionKriegBurg FalkensteinDer Brand des TempelsDie WinkeP: IIINeuen ReichDas LiedDas Licht< wird von der Nicht-Fassbarkeit und -Steuerbarkeit des Geschichtsverlaufes gesprochen. Der für den lyrischen Sprecher ungünstige Zeitenwandel wird akzeptiert und mit einer Bejahung umfassender, nicht durchschaubarer Zusammenhänge verbunden (IX, 109). Im Gedicht >Die Bechen erscheint das Schicksal als Würfelspiel (IX, 108). So wird die Fähigkeit eingeübt, Veränderungen auszuhalten, Reserven für Unvorhergesehenes zu sammeln, Ersatz für Verluste zu finden. Steht dem noch etwas Stabiles und Bleibendes entgegen? Nur die Erfahrung von Schönheit vermittelt noch Stabilität. Sie wird im >Seelied< zum Thema, das mit seiner jambischen Metrisierung und seiner Strophenform deutlich an die Liedtradition anschließt (IX, 104). Aus der Ich-Perspektive spricht ein alter M a n n , der ein zwar saturiertes, aber sinnentleertes Leben führt. Gerechtfertigt ist sein Dasein einzig durch den Anblick eines Kindes, das am Abend den Strand entlang geht. Das lyrische Ich folgt diesem über Schönheitsattribute gekennzeichneten K i n d als faszinierter Beobachter. Abgebildet wird das intensive Warten eines Melancholikers. Z w a r ist mit diesem Kind noch Z u k u n f t verbunden, aber nicht in der Form eines >Neuen Reichest Wie das

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Dazu einige Überlegungen: Dirk von Petersdorff: >In stillste RuhDu schlank und rein wie eine flamme«, das aus der lobenden und preisenden Anrede eines D u besteht. Das Ich, das hier spricht, bezieht seine zum Leben nötigen Energien aus einer Zweierbeziehung, in der von Herrschaft oder Funktionalität nicht mehr die Rede ist: »Ich atme dich mit jeder luft« (IX, i n ) . Natürlich kann dieses schmale Schlusswort nicht jene Gedichte aufheben, in denen George sich Macht zuschreibt: ein Ich entwirft, das im Mittelpunkt eines Kreises steht, dem Eide geschworen werden, das andere steuert und lenkt; ein Ich, das Außenstehende verflucht und ihnen den Tod wünscht. Doch zeigt sich immerhin am Ende eine Möglichkeit, abseits der Totalitätsversuchungen sich selbst zu bewahren; ein Weg, die Welt nicht mehr zu verdammen, sondern sich auf ihre Veränderungen einzulassen, diese Veränderungen als Verlebendigung zu begreifen. Auch in der Moderne ist Schönheit vorhanden. Damit öffnet George eine Alternative, die ihn von vielen Autoren seiner Zeit trennt. Und weil in seinen Gedichten auch dieser andere Weg existiert, möchte man gern glauben, was Robert Boehringer in seinen Erinnerungen schreibt: Als George Deutschland 1933 verlassen habe und das Boot mitten auf dem Bodensee gewesen sei, habe er freier geatmet. 87

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So Boehringer: Mein Bild, S. 188.

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III. Bertolt Brecht

i.

Das feste Herz — Die religiöse Prägung

Im Jahr 1920 schreibt der 22-jährige Brecht ein Gedicht mit dem Titel >ErinnerungenBertolt Brechts Hauspostille< nannte; der seine Wendung zum Kommunismus in der >Heiligen Johanna der Schlachthöfe< als Uberwindung der Heilsarmee inszenierte; der Lob- und Preisgedichte auf seine neu gewonnene Partei schrieb und die Nationalsozialisten mit >Hitler-Chorälen< bekämpfte. An ganz unerwarteten Stellen findet man religiöse Rede, so zum Beispiel mitten in der >Dreigroschenoper< das Gedicht >Die Seeräuber-JennyStellen< bieten die Ausführungen zu Brecht in der Sammlung: Die Bibel in der deutschsprachigen Literatur des 20. Jahrhunderts. Bd. 1: Formen und Motive. Bd. 2: Personen und Figuren. Hrsg. von Heinrich Schmidinger u.a. Mainz 1999. Als Beispiel für eine nach Funktionen und Intentionen fragende Arbeit vgl. Albrecht Schöne: Bertolt Brecht. Theatertheorie und dramatische Dichtung. In: Z u Bertolt Brecht. Parabel und episches Theater. Hrsg. von Theo Buck. Stuttgart 1979, S. 35-58. Auf stilistischer Ebene hat Volker Klotz die lutherbiblischen Sprachfiguren bei Brecht nachgewiesen; Volker Klotz: Bertolt Brecht. Versuch über das Werk. 4. Auflage. Würzburg 1971, S. I04ff. Einen der seltenen (aber auch nicht konsequent ausgeführten) Hinweise auf die religiösen Implikationen im politischen Werk bietet Klaus Lazarowicz: Die Rote Messe. Liturgische Elemente in Brechts >Maßnahme«. Literaturwissenschaftliches Jahrbuch 16 (1975), S. 205-220.

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diese Fragestellung als überholt beiseite geschoben und marginalisiert. 8 Erst in jüngster Zeit gibt es wieder Versuche, den »christlichen Kosmos« ernst zu nehmen, in dem Brecht groß wurde. 9 Im Folgenden soll systematisch gefragt werden: Zuerst wird es darum gehen, in welcher Weise Brecht die erlernten religiösen Inhalte und Formen zum Ausdruck seines Selbstverständnisses nutzt. Anschließend wird gefragt, wie die frühe Identität transformiert wird, wie funktionale Äquivalente für die Leistungen der Religion gesucht werden. Dabei gerät das »feste Herz« in Gefahr, droht zu zerfließen, um schließlich mit der Wende zur Politik wiedergewonnen zu werden. Dabei muss man, wenn das lyrische Frühwerk bis zur >Hauspostille< analysiert wird, verschiedene Phasen und Niveaus der Auseinandersetzung unterscheiden. Zunächst finden sich Gedichte, die Geschichten und Motive der Bibel paraphrasieren, literarisch umsetzen oder variieren und deren Intentionen zustimmend wiedergeben. Dazu zählen aus dem Jahr 1913, dem Beginn von Brechts lyrischer Produktion, die Gedichte J u d a s IschariothEmaus< und >Gethsemaneh< (13, 19; 31; 57fi). Brecht dichtet nach, was er gelernt und was ihn beeindruckt hat; er gestaltet aus und erfindet eine Atmosphäre hinzu. Dass dies aus akzeptierender Perspektive geschieht, wird auch an direkten Glaubensaussprachen deutlich, wie einem frühen >Morgengebet< (13,62); literarisch ist dies natürlich noch nicht bedeutend. Solche Anreden und eine derartige Gottesdichtung entstehen über einen Zeitraum von mehreren Jahren hinweg. Uberraschend findet man sie noch einmal 1920 zwischen schon ganz anders gearteten Texten. Auch hier kann Brecht noch einmal schreiben, dass der Mensch, dessen Leben »wie das Gras verweht«, nicht allein ist,

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Z u r Einseitigkeit der neueren Brecht-Forschung hat sich mit wünschenswerter Deutlichkeit Klaus von D e l f t geäußert: Brechts >Kaukasischer Kreidekreis< in nachrevolutionärer Zeit. In: H u n d e r t J a h r e Brecht — Brechts Jahrhundert? Hrsg. von H a n s - J ö r g K n o b l o c h und H e l m u t K o o p m a n n . T ü b i n g e n 1998, S. 1 6 9 - 1 8 6 . A u f das hagiographische »Brecht mit Brecht lesen« ist nach 1989, nachdem die intellektuellen Voraussetzungen auch politisch zusammengebrochen sind, die Stagnation gefolgt. Diese artikuliert sich in S a m m e l b ä n d e n , die man besser C l i q u e n b ä n d e nennen sollte, weil sie abweichende Herangehensweisen ignorieren und die R e k r u t i e r u n g des N a c h w u c h s e s nicht mehr funktioniert; desaströs etwa: Interpretationen. G e d i c h t e von Bertolt Brecht. H r s g . von J a n K n o p f . S t u t t g a r t 1995. K o n j u n k t u r hat die B e s c h ä f t i g u n g mit nicht uninteressanten, aber doch randständigen T h e m e n wie »Brecht und die Musik«, »Brecht und die Medien« oder »Was Brecht mit den Lehrstücken eigentlich gemeint hat«. Im politischen Fall wird auch gern etwas D e k o n s t r u k t i o n beigegeben, so dass dort, w o »Stalin« steht, kein Diktator gemeint ist, sondern nur Zeichen flottieren, differieren und dabei jeden S i n n suspendieren.

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H a n s H a r a l d - M ü l l e r / T o m K i n d t : Brechts f r ü h e L y r i k . Brecht, G o t t , die N a t u r und die Liebe. M ü n c h e n 2 0 0 2 , S. 23. D i e A u t o r e n interessieren sich im Folgenden auch f ü r die »Zerstörung, V e r w a n d l u n g und Ersetzung eines solchen Weltbildes« (ebd.), verfolgen diese Transformation aber nicht immer ganz konsequent. W i c h t i g ist aber ihr freier und unbefangener Blick auf den Autor, der auch dazu f ü h r t , dass Brechts ästhetische Potenz, die K r a f t seiner Fragen und die Intensität seiner S u c h b e w e g u n g wieder hervortreten. S o soll Brechts Werk auch hier gelesen werden: nicht als Verkörperung von Wahrheit, sondern als R i n g e n u m Wahrheit; die Faszinationskraft des Werkes geht aus dieser B e w e g u n g hervor.

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wenn er nur aufrecht steht und in »Gottes reines Angesicht« blickt (13, 160; >Ein jedes TierleinProlog. Knüppelverse auf unsere ZeitHauspostille< einmündet. In diesen Gedichten wendet er sich von der christlichen Weltdeutung ab und veränderten Themen zu. Erhalten bleiben aber die Formen und die Sprache der christlichen Frühphase, mit denen die neuen Themen bearbeitet werden. Es ist wichtig zu sehen, dass dieser Schritt nun keineswegs mehr zwangsläufig erfolgt. Denn so wie Brecht wurden ja nicht wenige seiner Zeitgenossen erzogen, ohne dass sie ihre Bücher in >Bittgänge< und >Exerzitien< eingeteilt hätten, wie es in der >Hauspostille< geschieht. Die einfache Erklärung, Brecht habe mit derartigen Formgebungen ein besonders provokatives und scharfes Beispiel von Religionskritik geben wollen, um der Gesellschaft in ihren Formen die Irrelevanz ihrer mentalen Grundlagen vorzuführen, greift zu kurz. Wenn die Literaturwissenschaft von einer Polemik gegen das Christentum spricht, muss man den historischen Hintergrund bedenken." Denn ein Gedichtband, der im Jahr 1926/27 erscheint, trifft bereits auf

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So Jan Knopf: Brecht-Handbuch. Lyrik, Prosa, Schriften. Eine Ästhetik der Widersprü145

eine in großen Teilen säkularisierte Gesellschaft, die zudem intellektuell und literarisch bereits ein erhebliches M a ß an Religionskritik hinter sich hatte. >Bittgänge< und >Exerzitien< — solche Titel wirken nach 150 Jahren moderner Literatur doch eher kurios, als dass man einen kollektiven Aufschrei erwarten dürfte. M a n muss deshalb anders fragen, und die zugrunde liegende Vermutung ist, dass die Weiterverwendung religiöser Formen auf ein Fortwirken von Bedürfnissen verweist, die ursprünglich in diesen Formen befriedigt wurden. D a n n müssten diese Formen mit Inhalten gefüllt werden, die in der L a g e sind, der Religion vergleichbare Leistungen zu erbringen. M i t dem B e g r i f f der Identität formuliert: Es wird nach einem funktionalen Äquivalent f ü r die erste, die religiöse Füllung des Selbstverständnisses gesucht. Die Unsicherheit einer Suchbewegung, die mit dem Risiko eines Identitätsverlustes verbunden ist, prägt zahlreiche Gedichte. W i e tastend die Schritte ausfallen, die Brecht unternimmt, lässt sich an einer Kontrafaktur des Kirchenliedes >Befiehl du Deine Wege< studieren (13,149; >Lobgesang nach: Befiehl du deine WegeGottvertrauen< steht, hat Trostcharakter, indem es auf eine zwar nicht immer sichtbare, aber doch vorhandene und sich zuletzt durchsetzende Instanz verweist, die das Weltgeschehen lenkt. Postuliert wird eine umfassend gestaltete und mit Sinn durchsetzte O r d n u n g . 1 2 Brechts Gedicht besteht aus einem Konglomerat von Konzepten, die ebenfalls Trostcharakter besitzen sollen. M a n findet A n k l ä n g e an epikureische Versuche, die Todesfurcht und den Ubergang von Leben und T o d zu marginalisieren. Stoischen Forderungen, einen von außen nicht berührbaren personalen Kern auszubilden, schließt sich ein anderer Ratschlag an: »Es kann dir nichts geschehen / Solang du bei dir bleibst.« Ebenso wird an den »ganzen Menschen< appelliert, der seine Sinnlichkeit nicht unterdrücken darf und im intensiven Genuss von »Wolken, L u f t und Winden« — so Paul Gerhardt zitierend — leben soll. I m Anschluss steht, heterogen wie dieses Gedicht gebaut ist, ein klassisches Bild metaphysischen Trostes, wenn dazu aufgerufen wird, sich mit der Evokation des Sternenhimmels zu trösten: Und liegst du gleich im Dunkeln So bleib bei dir die Nacht Und red von Sternenfunkeln Zu dir mit aller Macht.

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che. Stuttgart 1986, S. 32. In der N e u - A u f l a g e 2 0 0 1 , die dem Autor-Bild Z ü g e eines dekonstruktivistischen Spaßvogels h i n z u f ü g t (Intertextualität! Lustig!), ist von einer satirischen Intention die Rede (S. 153). D a s Lied gehörte natürlich zu Brechts S c h u l s t o f f , vgl. die »Gesamtübersicht« bei Rohse: D e r f r ü h e Brecht, im Anschluss an S. 376.

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Auch wenn das Sternenlicht nicht mehr symbolisch gedeutet wird und womöglich nur als sinnlicher Eindruck Stabilität verschaffen soll, klingen in diesem traditionellen Bild eines geordneten Kosmos und der Anwesenheit des Göttlichen auch in der Finsternis die entsprechenden Assoziationen unweigerlich an. Das Gedicht legt sich nicht fest, und das bleibt bis zur letzten Strophe so, in der die Stabilität des Individuums durch den konstanten Bezug auf »den gleichen Himmel« gewahrt werden soll. Was ist damit gemeint? Bezeichnet der Himmel noch eine kosmische Ordnung, steht er für eine regionale Identität, als H i m m e l einer Landschaft, oder wird er als besonders intensiver sinnlicher Eindruck eingesetzt? Dieses Gedicht, das Brecht f ü r seinen Freund Caspar Neher schrieb (13, 453), das also auch in einer konkreten Verständigungssituation seine Bedeutung hatte, kann gerade in seiner mangelnden Homogenität die oben beschriebene Situation veranschaulichen: Der lyrische Sprecher sucht in einer ihm aus der kindlichen Identitätssetzung bekannten Form nach einem Konzept, das jene Leistungen erbringt, die einmal die Religion erbracht hat: nach einer Instanz, der man >seine Wege befehlen< kann, die also die Lebensgestaltung sichert; nach einer Instanz, die in bedrohlichen Situationen Stabilität gibt und die Todesfurcht mindert. Die inhaltliche Unbestimmtheit und Sprunghaftigkeit der Gedanken aber zeigt, dass die Suchbewegung noch nicht auf ein bestimmtes Ziel gerichtet ist. Mit der Frage nach der Bedeutung des »Himmels« gelangt man in den Kern des Brechtschen Frühwerks. Die vor-politische Forschung hat zu Brechts Bildlichkeit differenzierte, in der Regel allerdings textimmanente oder geistesgeschichtliche Analysen geliefert, an die sich anknüpfen lässt.' 3 Die besondere Bedeutung der Himmels-Metapher besteht darin, dass man an ihr das Spannungsfeld beschreiben kann, in dem sich der junge Brecht befindet. Ergiebig ist das Gedicht >Der Choral vom großen Baal« (13,12.if.). Eine erste Fassung entstand 1918 und ging überarbeitet in die >Hauspostille< ein; ebenso stellt Brecht es seinem dramatischen Erstling voran als (tendenziell schon episierende) Selbstdeutung des Stückes. Schließlich spielt der alttestamentliche Naturgott Baal auch in Brechts Lebensgestaltung eine Rolle. Denn nach Beschreibungen seines Jugendzimmers befand sich dort an der Decke ein Bild des Gottes Baal, während auf dem Tisch darunter eine große Bibel lag und auf dieser wiederum ein Totenschädel. 14 Auch diese private Ikonologie

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D i e w i c h t i g s t e A r b e i t ist die von Peter Paul S c h w a r z : Brechts f r ü h e L y r i k . 1914—1922. N i h i l i s m u s als W e r k z u s a m m e n h a n g der frühen L y r i k Brechts. B o n n 1 9 7 1 , die eine genaue A n a l y s e sprachlicher Strukturen mit dem Hinweis a u f die B e d e u t u n g Nietzsches verbindet, Brecht also auch schon kontextualisiert. D e r M a n g e l liegt in der ungenauen V e r w e n d u n g des N i h i l i s m u s - B e g r i f f e s , der als N e n n w e r t g e n o m m e n und nicht w i e d e r u m als EpochenDiagnose analysiert wird.

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Brecht in A u g s b u r g . E r i n n e r u n g e n , Texte, Fotos. Eine D o k u m e n t a t i o n . Hrsg. von Werner Frisch und K . W. Obermeier. F r a n k f u r t a . M . 1976, S. 1 1 2 .

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veranschaulicht, dass sich Brecht in einem Spannungsfeld befindet und mit sehr verschiedenen Ansprüchen u n d Konzepten ringt. Mit der Gattung >Choral< stellt sich Brecht in die Tradition des BekenntnisGesangs, setzt sich aber gleichzeitig durch den Inhalt des Textes von jüdischchristlichen Normen ab. D e n n beschrieben wird das Leben eines Menschen, der ohne metaphysische Annahmen lebt und stattdessen einer materialistischen Praxis des Genusses folgt. Dazu hält er sich vorwiegend in Naturräumen auf u n d entspricht dort seinen Bedürfnissen, seinem ungefilterten Verlangen. Erkennbare moralische Gesetze existieren in diesem N a t u r r a u m nicht, die Freiheit, die sich nach der Absage an die dualistische Triebkontrolle ergibt, ist schrankenlos. Z u ihr gehört ausdrücklich der Kampf der Naturwesen: Schlägt Baal einmal etwas »zusammen«, d a n n versteht er das als »Spaß«, als Steigerung seiner Vitalität. Z u r Begründung wird auf die Situation nach dem Ende der metaphysischen Weltdeutung verwiesen: »Und's ist Baals Stern; Baal war selbst so frei.« Wenn man es negativ formuliert, bedeutet dies, dass sich Brecht eine nach-metaphysische M o r a l b e g r ü n d u n g nicht vorstellen k a n n . Die Freiheit ist, wenn sie nicht religiös kontrolliert wird, schrankenlos, weil weder der Mensch noch sein »Stern« in der Lage sind, moralische Normen aus sich selbst hervorzubringen. Diese traditionell der Religion zufallende Aufgabe würde also im Choral nicht gelöst werden. Aber daraus entsteht in diesem Text kein Problem, weil die Freiheit des Kampfes angenommen, ja als besonders intensive Erfahrung des Lebens verstanden wird. Die so geschilderte Lebenspraxis Baals wird durch das Motiv des Himmels verklammert, der in der ersten Strophe eingeführt wird: Als im weißen Mutterschoße aufwuchs Baal War der Himmel schon so groß und weit und fahl Blau und ungeheuer wundersam Wie ihn Baal dann liebte — als Baal kam. W i r d der H i m m e l hier mit der Geburt Baals in Z u s a m m e n h a n g gebracht, so in der letzten Strophe mit seinem Tod. In den ersten f ü n f Strophen wird der H i m m e l jeweils genannt: Er begleitet Baal durch verschiedene mentale Zustände, ist auch in der Abwesenheit des Bewusstseins, im Schlaf, präsent. Baal trägt den Himmel, so die Bildsprache des Gedichtes, mit sich herum, er dient i h m »immer« als Decke, »überdacht« die Welt. Somit sichert der H i m m e l die Konstanz der Person, dient als permanenter Bezug. Gleichzeitig k o m m t ihm eine Stabilitäts- und Schutzfunktion zu. W a r u m eignet sich aber der H i m m e l als Metapher, als identitätsbildende Größe, u n d was ist damit eigentlich gemeint? Im Bereich religiösen Denkens hat der Himmel als Raum der Götter fungiert. Mit dem alles überwölbenden H i m m e l ließ sich Omnipräsenz ausdrücken, eine die Differenzen überspannende Einheit; seine Nicht-Materialität verwies auf Transzendenz. Nach der Absage an die christliche Metaphysik muss Brecht natürlich eine Umdeutung vornehmen. Doch 148

darf die Neubestimmung nicht so weit gehen, dass die identitätssichernde Leistung des Himmels als Außengröße verloren geht. Die Wahrheitsposition muss besetzt bleiben, auch Brechts Choral will bekennen. Versucht man das Gedicht, in dem von Lebensgenuss, Körperlichkeit und Ekstasen verschiedener Art die Rede ist, auf Leitbegriffe zu reduzieren, dann wären dies >NaturLebenVitalitätLebensphilosophie< bekannt ist.'5 Dabei handelt es sich um den Versuch, mit dem Prinzip des >Lebens< einen übergreifenden Zusammenhang zu formulieren, ein die Empirie durchwirkendes Prinzip zu finden. Als solches soll es geeignet sein, sowohl die verschiedenen Bestandteile des Menschen, seine Sinnlichkeit und seinen Intellekt, als auch die Natur und schließlich, in einer gesellschaftskritischen Wendung, auch die moderne, differenzierte Gesellschaft zu verklammern. Dieses sich auf Autoren wie Bergson, Nietzsche und Simmel berufende Denken richtet sich einerseits gegen den Dualismus der metaphysisch-idealistischen Tradition und versteht sich daher als Befreiung der Sinnlichkeit. Gleichzeitig wendet es sich aber auch gegen die Naturbeschreibung der modernen Wissenschaft, gegen ein mechanistisches Naturverständnis, und hier vor allem gegen den Positivismus, der keine Synthese mehr hervorbringt, und gegen die darwinistische Theorie mit ihrem Leitbegriff der Selektion. A u f dieser Seite wird deshalb die Existenz eines (verschieden gearteten) >Geistes< in der Natur behauptet. Insgesamt kann man deshalb das Substrat der Lebensphilosophie als Einheit von Natur und Geist in der Natur bezeichnen. Daher kann dieser Komplex Funktionen der alten Metaphysik übernehmen. Er kann die Einheit des Verschiedenen sichern, kann Postulate setzen, zum Beispiel das der Vereinigung von Intellekt und Instinkt, und sogar eine Deutung des Todes leisten, in der dieser als Teil eines permanenten Wechsels von Zuständen und Formen im großen Zusammenhang des Lebens erscheint. Seine Wirkkraft gewinnt dieser Monismus mit angehängter Metaphysik aber auch aus seiner Unbestimmtheit, denn das Absolutum >Leben< stellt einen offenen und verschieden zu füllenden Begriff dar. Funktional betrachtet, befriedigt er Bedürfnisse nach >etwas HöheremSturm und Drang*. Dieser Kontext f ü g t sich mit Brechts Werk der f r ü h e n zwanziger J a h r e zusammen. D e n n auch sein Baal begreift >Leben< als Postulat: »Denn Genießen ist bei G o t t nicht leicht.« A u c h er findet in der N a t u r als eines »Weibes Schoß« die Einheit des empirisch Zertrennten. U n d auch er ahnt im Leben eine unbestimmte A r t von Transzendenz. D a f ü r ist vor allem die letzte Strophe aufschlussreich, die zeigen kann, wie viel Metaphysik der pantheistische Baal noch mit sich herumträgt: Und wenn Baal der dunkle Schoß hinunterzieht: Was ist Welt für Baal noch? Baal ist satt. So viel Himmel hat Baal unterm Lid Daß er tot noch grad gnug Himmel hat. A u c h wenn diese Verse nicht leicht zu deuten sind, so ist ihre Intention klar, die darin besteht, eine Kontinuität des H i m m e l s und damit des Lebens auch noch über den T o d herzustellen. D a m i t ist eine Konstante zur christlichen Primärsozialisation gegeben, die den Wechsel der Identität erträglicher macht. D e n n eine entsprechende Funktion hatte der H i m m e l in Brechts christlicher Dichtung, so in dem schon zitierten Gedicht, das dem Menschen rät, sich auf Gottes Angesicht zu richten: Der Himmel dunkelblau Ist über uns zur Schau Mit seinem Schein, der nicht verblaßt Wenn uns der Tod erkalten laßt. (13,160; >Ein jedes TierleinVom Tod im WaldSturm und Drang< suchte nach vitalistischen Einheitserfahrungen in einer Natur, die so gedeutet wurde, dass darin Bestände der alten Metaphysik enthalten waren. M i t solchen Untersuchungen kann man zu einer Systematik der literarischen Moderne beitragen, in der sich aufgrund der Konstanz der Problemstellung bestimmte Typen von Antworten auf diese Problemstellung wiederholen. Diese Phase von Brechts Identität mündet in die Sammlung der >HauspostilleLeben< und >Natur< Brecht nicht zufrieden stellen konnte. Offenkundig blieben hier Fragen ungeklärt. Denn Brecht ist bei diesem Konzept nicht stehen geblieben, und dabei handelt es sich nicht um einen biographischen Zufall. Er bleibt in einer beständigen Reflexion begriffen, aus der ein scharfer Blick für die Schwächen des Vitalismus hervorgeht.

2.

>Bertolt Brechts Hauspostille< — E i n h e i t mit der N a t u r u n d A n g s t in der N a t u r

Die Thematik der ersten großen, von Brecht sehr bewusst strukturierten Gedichtsammlung 1 7 lässt sich an der Analyse von zwei Gedichten fassen, die über den gemeinsamen lyrischen R a u m verwandt sind, gleichzeitig aber in ihrer Gegensätzlichkeit für die Spannweite des Denkens dieser Zeit stehen. Verwandt sind sie durch das Bildfeld des Wassers, das Brecht neben dem »Himmel« und dem »Wind« viel benutzt, weil das Wasser aufgrund seiner Unabgegrenztheit und seiner Konsistenz die Darstellung von Einheitserfahrungen ermöglicht. Das Wasser stellt einen umfassenden, vorgegebenen Z u s a m m e n h a n g dar, und nach einem solchen Zusammenhang, in den er

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G e s a m m e l t sind G e d i c h t e aus d e m relativ langen Z e i t r a u m von 1916 bis 1925. Brecht hatte die Vorstellung, die >Hauspostille< als großes, leder- und goldgebundenes Buch im Z w e i spaltendruck zu veröffentlichen, also auch hier das geistliche Vorbild zu imitieren, w o r a u f sich der Verlag aber letztlich nicht einließ.

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seine lyrischen Subjekte einbinden konnte, suchte der junge Brecht. Hinzu kommen die Konnotationen des Waschens und Reinigens, die ebenfalls im Frühwerk präsent sind; auch im Zusammenhang mit dem »Himmel« sprach sich ein Bedürfnis nach Reinheit aus. 18 Das Gedicht >Vom Schwimmen in Seen und Flüssen« (n,72f.) gehört in der schon angesprochenen Struktur der >HauspostilleBaaI< u n d der >Hauspostille< lässt sich als Teil des Identitätsdiskurses 153

lesen, der im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts geführt wurde. A u c h seine Phantasie beschäftigt sich wie die vieler Zeitgenossen mit einer Befreiung von der Individualität, die als Belastung erfahren wird, seit sie nicht mehr durch traditionelle Identitätsgaranten abgesichert ist. Dass es sich u m den Diskurs einer Epoche handelt, zeigt sich an überraschenden Berührungen, zu denen es kommt. So hat H u g o von H o f m a n n s t h a l , der von Brecht doch denkbar weit entfernt scheint, f ü r die Wiener A u f f ü h r u n g des >Baal< ein Vorspiel verfasst, in dem er im Gegensatz zu vielen späteren Interpreten präzise formuliert, wovon der frühe Brecht spricht: von einer Zersprengung des zufälligen Ich, das einem entstehenden Überpersönlichen weichen soll. 1 9 D a b e i lässt H o f m a n n s t h a l das moderne I n d i v i d u u m als »Ausgeburt des sechzehnten Jahrhunderts« mit der Säkularisierung beginnen, mit dem Verlust einer allgemein-gültigen metaphysischen Absicherung. In der jüngeren Vergangenheit sei die Problematik der freigesetzten Individualität eskaliert. K o n k r e t bezieht sich H o f m a n n s t h a l auf die Zeit seit dem 1. Weltkrieg, wenn er einen der Sprecher behaupten lässt, »daß alle diese ominösen Vorgänge in Europa, denen wir seit zwölf Jahren beiwohnen, nichts sind als eine sehr verständliche A r t , den lebensmüden B e g r i f f des europäischen Individuums in das G r a b zu legen, das er sich selbst geschaufelt hat.« D e n >Baal< sieht H o f m a n n s t h a l noch nicht als Lösung der Ich-Krise an, aber doch als chaotisches Wetterleuchten einer nach-individuellen Z u k u n f t . 2 0 Weil die Subjekt-Frage auf Bedingungen der Moderne reagiert, kann sie verschiedene Literaturkonzepte verklammern und zu derartigen überraschenden Berührungen führen. Gemeinsam vollzieht sich die Suche nach einem A u s w e g aus der O f f e n h e i t der modernen Identität, dem beständigen Wechsel im Selbstverständnis, der, wie H o f m a n n s t h a l sagt, den Menschen zu einem Schauspieler macht. Brecht orientiert sich in dieser Phase an der Natur, H o f m a n n s t h a l vertritt andere Vorstellungen und proklamiert in den zwanziger Jahren eine ästhetische Remythologisierung der Moderne, eine ideelle Integration der pluralisierten Gesellschaft durch Formen von K u l t u r und denkt dabei an Gesamtkunstwerke.

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Hugo von Hofmannsthal: Gesammelte Werke in Einzelausgaben. Lustspiele IV. Hrsg. von Herbert Steiner. Frankfurt a.M. 1955, S. 405ff.: >Das Theater des Neuen« (1926). Dass in Hofmannsthals kleinem Vorspiel verschiedene Positionen vorgetragen werden, kann hier vernachlässigt werden, weil die Diskutanten sich am Ende auf die individualitätskritische Gegenwartsdiagnose einigen. Die Zweifel betreffen den Weg des jungen Brecht: seinen forcierten Avantgardegestus, seine Beschwörung der Körperlichkeit, die Verehrung von »Ding, Blut, Wesen«. Gegen das Rohe, Unartikulierte werden Geformtheit und der Dialog mit der Tradition ins Spiel gebracht. A u f die Vorstellung einer >Zerstörung des Individuums« beim frühen Brecht weist Wolfgang Frühwald hin: Eine Moritat vom Ende des Individuums. Das Theaterstück Baal. In: Brechts Dramen. Neue Interpretationen. Hrsg. von Walter Hinderer. Stuttgart t984, S. 33-47. Allerdings sieht Frühwald im Widerspruch dazu auch einen starken Subjektivismus im Baal wirken, der sich in der Abgrenzung von der Gesellschaft äußere. Mit Hofmannsthal lässt sich dieser Widerspruch klären: Baal setzt sich von der modernen individualistischen Gesellschaft ab. Sein vermeintlicher Subjektivismus dient einer Negation dieser Gesellschaft und ihrer Bedingungen, zu der die freie Individualität gerade gehört.

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Die dritte und vierte Strophe des Gedichtes >Vom Schwimmen in Seen und Flüssen< können diese Thesen bestätigen. Zunächst findet ein Ortswechsel vom See in die Bewegung eines Flusses statt. Auch hier aber bleibt das Ich passiv, eingebunden in einen Zusammenhang, lässt sich treiben, ist Teil der Schottermassen. Wiederum wird der Himmel als Bezugspunkt der Einheitserfahrung genannt, angefügt wird das Bild eines vorgeburtlichen Zustands. Auch dabei handelt es sich um einen Zustand, der die Subjekt-Objekt-Spaltung noch nicht kennt, vor den Trennungen der Rationalität und den Dissoziationen der Lebenspraxis liegt. Schwerer zu deuten sind die letzten beiden Verse mit ihrer Nennung des »lieben Gottes«. Natürlich kommt hier Ironie ins Spiel, aber die Ironie ist doppelbödig: Sie ist Negation eines Gesagten, aber bietet auch die Möglichkeit, etwas zu sagen, was sich distanzlos nicht mehr artikulieren ließe. So drückt die Vorstellung eines Gottes, der in den Flüssen schwimmt, eben auch etwas aus, was der Autor ganz ernst meint: Dass man in der Natur zu Erfahrungen gelangt, die einen metaphysischen Bereich öffnen. 21 U m das formulieren zu können und um sein altes Ich mit dem neuen zu verbinden, benutzt der Autor, wenn auch mit Distanz, immer wieder die Sprache der Religion. Alle Dinge sind, »wies ihnen frommt«, verkündet die vorletzte Strophe, und solche Wendungen heben Brecht von der klischeehaften Vorstellung eines jungen Wilden im 20. Jahrhundert ab. Wieso aber bleibt die damit erreichte Position nicht stabil? Immerhin wird doch ein Subjekt vorgeführt, das sich in einen übergreifenden Zusammenhang integriert weiß, der weder dem Konstruktionsverdacht noch der Verzeitlichung ausgesetzt ist. >Natur< und >Leben< sind dem Menschen vorgegeben, nicht von ihm gemachte Größen. Sie stehen jenseits der Geschichte. Das Defizit liegt an anderer Stelle und klingt in diesem Gedicht an, wenn die Metapher des »Haifischhimmels« verwendet wird. Denn damit wird innerhalb der Natur noch auf etwas anderes verwiesen: Natur erscheint auch als Z u s a m m e n hang von Gewalt und Vernichtung. Im Gedicht vom Schwimmen wird das wie im >Choral vom großen Baal< noch bejaht: Die Bedrohung ist Teil des Lebenszusammenhanges und steigert sogar dessen Erfahrung, intensiviert den Genuss. Aber wenn man die >Hauspostille< als Ganzes betrachtet, ergibt sich eine andere Diagnose. Brecht hat gesehen, dass der vitalistische Monismus

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S o auch K u r t Tucholsky in seiner hellsichtigen Besprechung: Hier ist »einer mit sich und neben seinem G o t t ganz allein. Dieser G o t t s c h w i m m t abends wirklich in den Flüssen«; K u r t Tucholsky: G e s a m m e l t e Werke in 10 Bänden. Hrsg. von M a r y Gerold-Tucholsky und Fritz J . Raddatz. Reinbek bei H a m b u r g i 9 6 0 , B d . 6, S. 62. Dass die N a t u r d i c h t u n g eine T r a n s f o r m a t i o n f r ü h e r religiöser E r f a h r u n g e n darstellt, w i r d explizit in einem G e d i c h t deutlich, in dem Sexualität, Alkohol- und Naturgenuss verglichen werden und w o sich als weiterer Vergleich ein H i n w e i s a u f eine frühere E r f a h r u n g findet: »Einst war Sitzen schön in K i r c h e n b ä n k e n / W o der Segen mich zum H i m m e l schmiß« (13, 124). Jetzt aber finden die Exerzitien in der N a t u r statt.

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trotz aller Abkehr vom christlichen Naturverständnis eben auch eine Idealisierung der Natur darstellt. Die Aufladung der Natur zum Sinngaranten hatte schon im 18. Jahrhundert in der ersten Welle der Philosophie des >Lebens< zu Problemen geführt. Diese betrafen besonders die Frage, wie man aus der Natur Moral begründen solle. Die Schwierigkeiten hatten sich noch verstärkt, jedenfalls dann, wenn man die neuere Entwicklung der Naturwissenschaft nicht ignorierte. Die sich herausbildenden empirischen Einzelwissenschaften betrachteten jeweils Teilbereiche der Natur, zerlegten sie in Disziplinen. Sie beschäftigten sich mit der Analyse von Phänomenen und stellten die Frage nach >dem Ganzens der Sinnhaltigkeit von Natur oder einer möglichen symbolischen Bedeutsamkeit nicht mehr. Gleichzeitig existierte allerdings eine neue Groß-Theorie, um Natur als Gesamt-Mechanismus zu verstehen: der Darwinismus, der bei Brecht seine Spuren hinterlassen hat. Mit Darwin erscheint die Natur als Zusammenhang von Variation und Selektion. Dabei wird keine Normativität angenommen, die die Entwicklung der Natur planvoll lenkt, keine Zielgerichtetheit hinter den Veränderungen. In der Rezeption der Lehren Darwins, auf die noch genauer einzugehen sein wird, wurde vor allem die Komponente des Kampfes, der permanenten Bedrohung herausgestellt. In seiner kurzen Münchener Studienzeit hat Brecht auch Veranstaltungen zur »Entfaltung von Tier- und Pflanzenreich im Laufe der geologischen Perioden« und über »Allgemeine Anthropologie: Rassen und Völker der Vergangenheit« besucht.22 In popularisierter Form gehören die Lehren Darwins in dieser Zeit schon zum Allgemeinwissen. Das darwinistisch veränderte Bild der Natur schlägt sich bei Brecht in einer starken Präsenz des Sterbens und Vernichtens in den Naturszenarien nieder. Man kann noch einmal an die ikonologische Ausstattung von Brechts Mansarde erinnern: zur Bibel und zum Baal gehört der Totenschädel.23 Und deshalb gehört zu dem Gedicht von der glückhaften Entgrenzung beim Schwim-

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Werner Mittenzwei: Das Leben des Bertolt Brecht oder Der Umgang mit den Welträtseln. Berlin 1997, S. 6if. Auffallend und interessant ist die Mischung der Veranstaltungen, die Brecht für das erste Semester angibt. Neben den naturwissenschaftlichen Vorlesungen und Seminaren besucht er solche zur Literatur, aber auch zu »Leben-Jesu-Forschungen« und zur »Allgemeinen Religionspsychologie«. Den ganzen folgenden Komplex könnte man auch mit Bezug auf individuelle Dispositionen des Autors analysieren. Dann würde man die Todesthematik in Beziehung setzen zu Brechts Herzkrankheit, die zu krampfartigen Anfällen führte. Interessant wären dann weitere lebensgeschichtliche Phänomene: der Umgang mit dem Tod der Mutter zum Beispiel, der im offensiven Versuch besteht, diesen Tod nicht zur Kenntnis zu nehmen; oder am Lebensende der eigenwillige Wunsch, in einem Stahlsarg beerdigt zu werden. Aber auf diesem Feld gibt es bisher keine verwertbaren Arbeiten, sondern nur Spekulationen wie die von Carl Pietzcker: »Ich kommandiere mein Herz.« Brechts Herzneurose - ein Schlüssel zu seinem Leben und Schreiben. Würzburg 1988, die durch ihren programmatischen Verzicht auf ein intersubjektiv nachvollziehbares Vorgehen und durch die Wut des Assoziierens eher abschrecken.

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men in Seen und Flüssen das verwandte Gedicht >Vom ertrunkenen Mädchenc ι Als sie ertrunken war u n d hinunterschwamm Von den Bächen in die größeren Flüsse Schien der Opal des H i m m e l s sehr wundersam Als ob er die Leiche begütigen müsse. 2 Tang und Algen hielten sich an ihr ein So d a ß sie langsam viel schwerer ward Kühl die Fische schwammen an ihrem Bein Pflanzen u n d Tiere beschwerten noch ihre letzte Fahrt. 3 U n d der H i m m e l ward abends dunkel wie Rauch U n d hielt nachts mit den Sternen das Licht in Schwebe. Aber f r ü h war er hell, daß es auch N o c h f ü r sie Morgen und Abend gebe. 4 Als ihr bleicher Leib im Wasser verfaulet war Geschah es (sehr langsam), daß G o t t sie allmählich vergaß Erst ihr Gesicht, d a n n die H ä n d e und ganz zuletzt erst ihr Haar. D a n n ward sie Aas in Flüssen mit vielem Aas.

Dieses Gedicht, das sicher zu den gelungensten im Gesamtwerk gehört, setzt mit dem Versuch ein, der Todessituation Trost abzugewinnen. Es scheint also ebenfalls eine Funktion der Religion zu wiederholen. Dazu greift Brecht auf ein Mittel zurück, das schon die Romantiker benutzt hatten, um die Natur religiös transparent zu machen und gleichzeitig einer Verdinglichung des Absoluten zu entgehen: Er setzt die >Als obVom Schwimmen in Seen und Flüssen< am deutlichsten zeigt. Die Einheit, die der Mensch in der Natur erfahren konnte, scheint auch im Tod nicht aufgehoben, denn auch der Leichnam ist nicht allein. In der dritten Strophe erscheint als klassisches Transzendenzsymbol das nächtliche Sternenlicht, und auch so wird von einer Zuwendung der Natur zur Toten gesprochen. Aber diesen Versuchen steht die letzte Strophe mit ihrer bildlichen Drastik als Schlusswort gegenüber. Würde man das Gedicht als einen gedanklichen Prozess des Autors verstehen, dann müsste man sagen: Der Versuch einer metaphysischen Aufladung der Natur scheitert angesichts der Faktizität biologischer und chemischer Prozesse, die als »Verfaulen« benannt werden und auf das Schlusswort des Gedichtes, das »Aas«, hinauslaufen. Diese Zeitlichkeit der Natur und ihren Prozesscharakter führt das ganze Gedicht vor: im Wechsel 157

der Bildelemente — von den Bächen in die Flüsse, vom Tag zur Nacht - , der das Vergehen von Zeit abbildet, und in den direkten Bewegungsbegriffen des Schwimmens und der »Fahrt«. 24 Auch die metrische Struktur bildet mit ihrem Wechsel von alternierenden Versfüßen und Doppelsenkungen eine teils langsamere, teils schneller werdende Bewegung ab. Erst in der letzten Strophe aber wird die Quintessenz dieses Prozesses gezogen. N o c h einmal greift Brecht auf die Vorstellung eines personalen Gottes zurück, um eben diese Vorstellung zu negieren. Denn ein Gott, der den Menschen vergisst, ist natürlich kein G o t t mehr; der Begriff verliert damit seine Bedeutung. Wenn dieser >Gott< den Menschen >vergisstunnatürlichen< Todes, der aber nicht anklagend, sondern mitleidlos beschrieben wird. Dieses Gedicht bezeichnet die von Brecht immer bewusst gehaltene Gegenseite der Natur. D i e N a t u r k a n n leicht sein, und m a n k a n n in ihr eine glückliche Entkörperung erfahren. Aber sie ist auch schwer, ist Materie und unterliegt als solche unüberwindbaren Gesetzen. Natur ist auch beständige Verwandlung, Veränderung von Zuständen, denen der Einzelne kein stabiles Selbst entgegensetzen kann. 2 5 In ihr kann er Stärke und Schönheit erfahren, erlebt aber auch, ob er will oder nicht, Schutzlosigkeit und Gefährdung. Die Todesthematik, an der Brecht diese Seite der Natur schildert, ist gerade in seinem Frühwerk in erstaunlicher Weise präsent. Wenn man die >Hauspostille< als Ganzes liest, dann sind diejenigen Gedichte, in denen der Tod nicht zumindest angesprochen wird, in der Minderzahl. So stellt die Sammlung insgesamt eine Verbindung von vitalistischem Lebensappell und ständiger Thematisierung der Gefährdung und Bedrohtheit des Lebens dar. Der Autor hat sich vorgenommen, den christlichen Dualismus und seine Sinnenfeindlichkeit zu überwinden, aber er ist nur in ganz wenigen Gedichten dazu in der Lage, den Monismus und die Naturzuwendung als Erfüllung zu thematisieren. Stattdessen läutet er ständig das Totenglöckchen. Exemplarisch dafür kann das von Brecht selbst zum Leitgedicht ernannte >Gegen Verführung< (n, 116) stehen, mit dem, so die Leseanweisung, jede

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A u f diesen Bewegungscharakter und die retardierenden Transzendenz-Elemente hat Schwarz ( N i h i l i s m u s , S. i 4 o f f . ) hingewiesen. Ebenso geht er auf Brechts Versuch ein, die N a t u r als O r t der T r a n s z e n d e n z e r f a h r u n g zu gestalten. V o n »einem transzendierenden Materialismus« spricht auch Franz N o r b e r t Mennemeier: Bertolt Brechts Lyrik. Aspekte, Tendenzen. Düsseldorf 1982, S. 86. »Ihre Seele ist wie Wasser«, sagt ein Geistlicher zu Baal (1, 55).

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Lektüre der >Hauspostille< beendet werden soll (11,40). Dort ergeht zwar der Appell: »Laßt euch nicht verführen!«, »Laßt euch nicht betrügen!« sowie die Aufforderung, das Leben in vollen Zügen zu »schlürfen«. Aber wie soll das gelingen, wenn gleichzeitig vom »Nachtwind« des letzten Tages die Rede ist, davon, dass man das Leben lassen muss; wenn gleichzeitig der Moder aufgerufen wird und gesagt wird, dass der Mensch mit allen Tieren sterben muss? Entsprechendes gilt für den >Großen DankchoralLobe den Herren, den mächtigen König der Ehren< (11,77). Auch dieses Gedicht ist als Befreiung von der religiösen Sozialisation gedacht, aber auch hier endet der Autor in einer illusionslosen Naturbetrachtung: Lobet das Gras und die Tiere, die neben euch leben und sterben! Sehet, wie ihr Lebet das Gras und das Tier U n d es muß auch mit euch sterben.

Bei dieser Negation bleibt es, denn die gedachte Position, die befreite Lebenszuwendung, scheitert, weil beständig die Zeitlichkeit und der Mangel an identitätssichernden Konstanten thematisiert werden: »Schon ist der Tag euch vergangen.« Immerfort wird daran erinnert, dass Leben nicht ohne Vernichtung denkbar ist: »Lobet das Aas / Lobet den Baum, der es fraß.« Eine Außengröße, die den Einzelnen sichert, wie es die personale Gottesvorstellung einmal leistete, ist nicht mehr vorhanden und wird von der Natur nicht geboten: »Niemand weiß, daß ihr noch da seid.« Vor dem Hintergrund des großen Zusammenhanges von Variation und Selektion verliert Individualität ihren Wert. Sie ist ein kurzfristig auftauchendes, wieder verschwindendes Zufallsprodukt: »Es kommet nicht auf euch an.« Daher kann auch die Zweierbeziehung bei Brecht anders als bei vielen Autoren keine Individuation erbringen. Denn auch die Selbstdefinition über die Beziehung zu einem anderen Individuum unterliegt der großen Prozessualität. Das bekannte Gedicht >Erinnerung an die Marie A.< fasst die Liebe deshalb in das Symbol der Wolke, die für die Intensität der Liebesbeziehung, aber auch für ihre Temporalität steht (n,92f.). Wieder findet man das f ü r die Identitätsthematik so wichtige Motiv des vergessenen Gesichtes: Auch die Liebe erhält das Gesicht nicht. Versucht man, die >Hauspostille< bis dahin zusammenfassend zu charakterisieren, dann will Brecht einerseits >Natur< und >Leben< als postmetaphysische Identitätsgaranten darstellen, wirft aber gleichzeitig auch einen illusionslosen Blick auf die Natur, in der sie frei ist von Ideen und Verheißungen, in der ihr nichts unterstellt wird und sie keine Stabilität bietet. Im nun folgenden Schritt seiner Entwicklung überträgt Brecht diese Sichtweise der Natur auf die Gesellschaft. Hier wird vor allem die Sammlung >Aus dem Lesebuch für Städtebewohner< zu analysieren sein, aber schon in der >Hauspostille< finden sich entsprechende Texte. Brecht beschreibt eine Gesellschaft, in der Gewalt 159

auftritt wie ein Naturphänomen. Man kann keine Ursache für sie angeben, kann sie nicht auf gesellschaftliche Zusammenhänge zurückführen: In mildem Lichte Jakob Apfelböck Erschlug den Vater und die Mutter sein Und schloß sie beide in den Wäscheschrank Und blieb im Hause übrig, er allein.

So unvermittelt und ohne Vorgeschichte beginnt das Gedicht >Apfelböck oder die Lilie auf dem Felde< (n,42f.), wobei der Charakter des Unmotivierten, Grundlosen durch den Kontrast des »milden Lichtes« und die Erwähnung des biblischen Motivs der unschuldigen Lilie noch verstärkt wird. Diese Unschuld ist schon beim Kind nicht mehr vorhanden. In der Folge der kleinen Ballade wird erzählt, wie der Junge zunächst einfach abwartet — »komme was es sei« — und sodann mit völlig ungeeigneten Hilfsmitteln versucht, seine Tat zu überdecken. Die Bewertung des Balladenerzählers (»das arme Kind«) besitzt einerseits ironischen Charakter angesichts des Geschehenen, ist aber auch nachvollziehbar, weil immer deutlicher wird, dass hinter der Tat keine Absicht und kein Ziel steht, dass die Gewalt einfach hereingebrochen ist, auch über das Kind. Dargestellt wird ein Trieb, dessen Herkunft nicht erklärbar ist, so wie es das Bekenntnis Jakobs beim schließlichen Fund der Leichen sagt: Und als sie einstens in den Schrank ihm sahn Stand Jakob Apfelböck in mildem Licht Und als sie fragten, warum er's getan Sprach Jakob Apfelböck: Ich weiß es nicht. Die Milchfrau aber sprach am Tag danach Ob wohl das Kind einmal, früh oder spät Ob Jakob Apfelböck wohl einmal noch Z u m Grabe seiner armen Eltern geht?

Die scheinbar unmotivierte Frage der Milchfrau verschärft die Diagnose noch, denn damit wird auch an der Einsicht des Täters und an der Fähigkeit zur Reue gezweifelt. Weder Moral noch Vernunft scheinen in Jakob vorhanden zu sein; auch er wird, nur in ganz anderer Weise als in den Wassergedichten, von Naturkräften getrieben. Dass Brecht eine Deutung der Gesellschaft betreibt, die man heute als Naturalisierung bezeichnen würde, zeigt das folgende Gedicht >Von der Kindesmörderin Marie Farrar< (44f.). In einer expliziten Selbstdeutung erklärt der fiktive Erzähler, dass diese Ballade demonstrieren könne, »wie ich bin und du bist.« Es wird also eine Aussage über das Wesen des Menschen, eine anthropologische Feststellung getroffen, die über die sozialen Differenzen hinweg gilt. Die Figur der Farrar soll dem Leser als Exempel »die Gebrechen aller Kreatur erweisen.« In diesem Begriff der »Kreatur« wirkt die Idee der Schöpfung nach, wobei allerdings die Vorstellung eines personalen Schöpfers nicht mehr existiert, so dass »Kreatur« als Produkt der Natur verstanden werden muss. 160

Zwar wird Marie Farrar als arm, sozial deklassiert und ungebildet beschrieben und von denen abgesetzt, die »in säubern Wochenbetten« gebären. Aber daraus geht nicht die Vorstellung irgendwie gearteter Reformen hervor, mit deren Hilfe sich die Kindstötung vermeiden ließe. Aufgefordert wird vielmehr zu einer traditionellen Mitleidsethik den »verworfnen Schwachen« gegenüber. Dass sie verworfen sind, ist aber offenkundig Teil der Bedingungen dieser Welt, in der »Sünd« und »Leid« als Naturfaktoren existieren und wirken. Wie Jakob Apfelböck ist auch Marie Farrar eine jenseits von Vernunft, Intentionen und Normen handelnde Figur; auch sie ist handelnder Trieb und kann deshalb »blind« genannt werden: D a n n zwischen K a m m e r und Abort, vorher sagt sie Sei noch gar nichts gewesen, fing das K i n d Z u schreien an, das hab sie so verdrossen, sagt sie D a ß sie's mit beiden Fäusten ohne A u f h ö r n , blind S o lang geschlagen habe, bis es still war, sagt sie. Hierauf hab sie das Tote noch gradaus Z u sich ins Bett genommen f ü r den Rest der Nacht U n d es versteckt am Morgen in dem Wäschehaus.

Doch ihr, ich bitte euch, wollt nicht in Zorn verfallen Denn alle Kreatur braucht Hilf vor allem. Wer solche Verse denkt und schreibt, ist weit entfernt von den in den zwanziger Jahren virulenten utopischen Hoffnungen, den Ideen einer neuen und gänzlich anders formierten Gesellschaft, deren Sozialtechnologie dann auch einen grundsätzlich anderen Menschen hervorbringen sollte. In solchen Gedichten schlagen sich Brechts nachchristliche und vorkommunistische Vorstellungen des Sozialen nieder. Allerdings bleibt das Bild der Gesellschaft in der >Hauspostille< noch schwach strukturiert. Zu einer eigentlichen literarischen Analyse ihrer Struktur, ihrer Bedingungen und Gesetze, zum Griff auf die Gesellschaft als Mechanismus kommt es erst im >Lesebuch für Städtebewohnen. Diese kleine Sammlung, die 1926/27 entstanden ist und 1930 erscheint, reagiert mit einer ganz anderen Sprache und formalen Gestalt auf die moderne Wirklichkeit.

3.

Sozialdarwinismus — >Aus dem Lesebuch für Städtebewohner
Ode an meinen Vater< dokumentiert, die zum fünfzigsten Geburtstag 1919 entsteht (13,134). Die Leitbegriffe dieses Textes, der nach dem Muster einer antiken Heldenpreisung geschrieben ist, sind »Wille«, »Arbeit«, »Kampf«, »Kraft«, die jeweils variiert und ausgestaltet werden. Gefeiert wird der Aufstieg eines Menschen ohne Traditionshintergrund und privilegierende Bedingungen, ohne besonderes Verhältnis zu einer Familie oder sozialen Gruppe. Diese Ungebundenheit erweist sich aber gleichzeitig als Vorteil, weil keine aus der Tradition stammenden Wahrheiten vorhanden sind, die womöglich zu Skrupeln bei bestimmten Handlungen führen könnten. So kann der Vater sich unbelastet auf die Faktizität der modernen Konkurrenzwirtschaft und ihre anthropologischen Annahmen einlassen: »Nie bekämpfte er je das Natürliche / Sondern er nützte es aus f ü r sich und für andere.« Besonders präsent ist in der Ode der herrschende Antagonismus, der als entscheidender Eindruck f ü r das Kind benannt wird. Der Vater steht exemplarisch für das »gesunde Gesetz des ehrlichen Kampfs.« Z u den Qualitäten, die zum Erfolg in diesem Kampf notwendig sind, zählen die realistische Einschätzung der eigenen Möglichkeiten und der äußeren Bedingungen sowie eine permanente Aktivität, die zur umgehenden Wieder-Investition des Erreichten führt. Interessanterweise setzt Brecht den Pragmatismus der Modernisierungseliten am Schluss des Gedichtes von den Protagonisten und Ideologen des Weltkrieges ab, die sich ja in der Tat, wie er schreibt, von »Glockenklang und Kanonengebrüll« die Wende zu einem organisch geeinten, eben nicht mehr modernen Staat erhofften.

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Mittenzwei: Brecht, S. 9ff.

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Die Lehren, die Brecht aus der Beobachtung des Vaters zog, gehen in sein Gesellschaftsverständnis ein, werden aber verschärft von sozialdarwinistischen Annahmen, die seit dem späten 19. Jahrhundert in den europäischen Gesellschaftsdiskursen verbreitet sind und Brechts Werke der zwanziger Jahre beeinflusst haben. Darwins Theorie zur Entstehung und Entwicklung der Arten geht bekanntlich von folgenden Voraussetzungen aus: dass es eine Abweichung der Individuen einer Art voneinander gibt; dass diese Unterschiede zu einem großen Grad erblich sind; dass die Organismen sich mit einer Rate vermehren, die die Kapazität ihrer Umgebung, sie zu ernähren, übersteigt. 17 Daraus ergibt sich ein Konkurrenzverhältnis zueinander, das zur Selektion führt. Diese Auswahl erfolgt nach dem Grad der Angepasstheit an die Bedingungen der Umwelt. Diejenigen, die sich nicht durchsetzen können, werden verdrängt. Dieser unaufhörliche Prozess vollzieht sich ohne leitende Absicht, ohne Ziel. Während Darwin sich zu einer Übertragung seiner Annahmen auf die Entwicklung von Gesellschaften widersprüchlich geäußert hat, wird genau diese Übertragung von Autoren wie Herbert Spencer und im deutschen Bereich vor allem Ernst Haeckel vorgenommen. 28 Damit kommt es zu einer außerordentlich wirksamen Verwandlung einer biologischen Theorie in eine Weltanschauung, die alle Bereiche der Realität umfasst. In einer extremen Variante geht man davon aus, dass außerhalb der Natur keine Normen existieren. Ebenso glaubt man mit dem Sozialdarwinismus der Vorläufigkeit und Begrenztheit von Gesellschafts-Theorien zu entkommen — denn man folgt ja beobachteten und ewig gültigen Naturgesetzen. In der breiten Rezeption wird das von Darwin entwickelte Naturmodell zur Formel vom »Kampf ums Dasein< verkürzt, die als Prinzip der Entwicklung von sozialen Ordnungen erscheint. Die Vernunft des Menschen, die auf das Bestehen in diesem K a m p f gerichtet ist, unterscheidet sich nur noch graduell von den Instinkten der Tiere. Der freie Wille, der den vorgegebenen Bedingungen unterliegt, wird auf die Entwicklung von Strategien im permanenten Konkurrenzkampf beschränkt. Z u diesen intellektuellen Voraussetzungen des >Lesebuches< kommen lebenspraktische Einflüsse, und hier besonders Brechts Großstadterfahrungen, zuerst in München und dann vor allem in Berlin. Bezieht man das Buch auf Brechts Entwicklung, dann stellt es eine extreme, aber nicht inkonsequente Wendung dar: Nach dem Verlust der ursprünglich geglaubten metaphysischen Normen kann sich Brecht die Existenz einer anderen, das individuelle und allgemeine

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z8

Vgl. dazu die E i n f ü h r u n g von J o n a t h a n H o w a r d : D a r w i n . S t u t t g a r t 1 9 9 6 (zuerst engl. 1982). Vgl. zum Folgenden: D i e Rezeption von Evolutionstheorien im 19. J a h r h u n d e r t . Hrsg. von E v e - M a r i e Engels. F r a n k f u r t a . M . 1995; darin die Einleitung der Herausgeberin sowie die Aufsätze von Peter J . Bowler zu Spencer und von J ü r g e n S a n d m a n n zu Haeckel.

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Leben regulierenden Moral nicht vorstellen und beschreibt deshalb eine Gesellschaft im Naturzustand, im Kampf. Wenn man bedenkt, dass das >Lesebuch< in der Weimarer Republik erscheint, könnte man einwenden, dass auch eine offene, nicht durch eine gemeinsame Mythologie zusammengehaltene Gesellschaft auf bestimmten Voraussetzungen beruht, die verbindlich gültig sind und sehr wohl den Charakter von Werten haben. M a n muss sich ja nur die Weimarer Verfassung ansehen mit ihrer Gleichheit vor dem Gesetz (Artikel 109), der Unverletzlichkeit der individuellen Freiheit (Artikel 114) und dem Recht auf freie Meinungsäußerung (Artikel 118). 1 9 Solche Argumente spielen aber für Brecht wie für die meisten seiner Zeitgenossen keine Rolle. Einerseits hat dies mit der realen Situation der von Kämpfen durchsetzten Republik zu tun, die ihre Prinzipien in der Praxis nicht ausreichend umsetzen konnte, deren Institutionen sich nur als begrenzt funktionstüchtig erwiesen. Genauso aber hängt es mit der mentalen Situation in Deutschland zusammen: A u f eine Demokratie war man nicht vorbereitet, kannte ihre Grundlagen nicht oder hatte sie allenfalls, wie auch Brecht in der Schule, aus der Perspektive einer antizivilisatorischen Polemik wahrgenommen, in der ihre grundlegenden Ideen ignoriert wurden und sie als wertfreier, banaler Mechanismus erschien. Deshalb stellt Brecht in seinem >Lesebuch< eine Gesellschaft vor, die sich von der herkömmlichen Moral, also der christlichen, der ihr nachfolgenden idealistischen oder naturphilosophisch-spekulativen, distanziert hat und ohne Moral lebt. Damit folgt er einer Moderne-Diagnose, wie sie Nietzsche entwickelt hat, nach der sich aus dem Ende der Metaphysik zwangsläufig der Nihilismus ergibt. 30 Dass die Situation in der Stadt als historisch neu bewertet wird, zeigt sich an der Form des >LesebuchesMann ist Mann«. Eine Analyse, die auf der Grundlage der neueren Nietzsche-Forschung systematisch und übergreifend vorgeht, steht noch aus.

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reflexion äußert. Darin wird der Stil der Sammlung begründet, die besondere sprachliche Einfachheit. Ebenso werden die emotionale Distanziertheit sowie die inhaltliche Negation von Individualität gerechtfertigt. Die Art der Gedichte sei der »Wirklichkeit selber« geschuldet, die »nüchtern« sei, also nach einfachen Gesetzen funktioniere, und in der Individualität ebenfalls nicht von Bedeutung sei (13,165). Diese Wirklichkeit soll der angesprochene ideale Leser durch das >Lesebuch< erkennen. M i t dem Postulat einer überindividuellen L y r i k bleibt Brecht seinen Anfängen, seiner Verpflichtung auf Gebrauchstexte treu. Aber größer sind die Brüche: Brecht verzichtet auf die religiös geprägten Formen und, von kleinen Ausnahmen abgesehen, auf die biblische Sprache. Ebenso verzichtet er auf die traditionellen Mittel lyrischer Formgebung, auf Reim und Metrik. Auch die für Lyrik als konstitutiv angesehenen symbolischen und allegorischen Bilder sind kaum vertreten. Das Sprachmaterial ist stark der Sprache des Gegenstandes, der Stadt- und Alltagsdiktion angenähert. Der Satzbau besteht weitgehend aus parataktischen Fügungen oder aus einfachen Hauptsatz-Nebensatz-Konstruktionen. Aber die Formverluste werden ersetzt durch andere textstrukturierende und rhythmisierende Mittel. Prägend sind dabei die Wiederholungsfiguren, sowohl in Form von Wortwiederholungen als auch in der Repetition syntaktischer Strukturen: W i r wollen nicht aus deinem Haus gehen W i r wollen den O f e n nicht einreißen W i r wollen den Topf auf den O f e n setzen. Haus, O f e n und Topf kann bleiben (11, 159)

Auch bestimmte Wortformen werden auf den wenigen Seiten der Sammlung beständig wiederholt, und dabei fallen besonders die Imperative auf, mit denen Regeln des Stadtlebens vermittelt werden: »Trenne dich von deinen Kameraden auf dem Bahnhof / Gehe am Morgen in die Stadt mit zugeknöpfter Jacke / Suche dir Quartier«, so beginnt das Einleitungsgedicht (11,157), das bis zum Ende von Imperativen leitmotivisch durchsetzt ist: »Zieh«, »zeige«, »verwisch«. Die letzte Aufforderung, »Verwisch die Spuren!«, wird wie ein Refrain eingesetzt und schließt die einzelnen Gedichtteile ab. Durch die Vielzahl der Wiederholungen, die zudem oft am Satzanfang, also in anaphorischer Position stehen, wird eine Rhythmik des Stakkato erzeugt, zu der auch die Kürze der Sätze beiträgt. Damit wird die Geschwindigkeit der Stadt vermittelt, die in den zwanziger Jahren als noch relativ unbekanntes Phänomen stark wahrgenommen wurde. Gleichzeitig wird damit zu einer permanenten Wachheit und Beweglichkeit aufgefordert, die den Gesetzen der Stadt gerecht wird. Dass es sich um Gesetze und Notwendigkeiten handelt, ergibt sich aus einem weiteren, für lyrische Texte auffallenden Sprachmerkmal. Die Gedichte sind in vielen Partien argumentativ gebaut, folgen Regeln der Logik und enthalten deshalb auffallend viele Konjunktionen wie zum Beispiel in einem Gedicht, 165

das die Redewendung des >fünften Rades< ausbuchstabiert: »Wir aber«; »denn es liegt dir daran«; »du aber«; »also bleibst du«; »sondern das fünfte Rad«. Die Kinder der Moderne befinden sich in einem Lernprozess. Die Betrachtung der Inhalte kann die Behauptung belegen, dass die soziale Wirklichkeit als permanenter Kampfzusammenhang angesehen wird. 31 Da ist vom »Verschwinden« (n, 159) die Rede, vom »Töten« (11, 159), vom »Schädigen« und »sich Anstrengen« (11, 160). Man muss den Kampf mit einer »Feindin« (11, 161) aufnehmen, darf nicht »aufgeben«, muss »rennen«, sich »ins Zeug legen« (11, 163) und »das ABC« der Stadt lernen: -»Man wird mit euch fertig werden« (11, 164). Den Annahmen des Sozialdarwinismus entsprechend, konkurrieren die Individuen um die Lebensressourcen, wobei es zur Selektion kommt. Im Bild des fünften Rades erscheint ein Individuum als überzählig, und deshalb wird ihm seine Ausstoßung angekündigt: Ich weiß, d u hörst nicht m e h r Aber S a g e n i c h t l a u t , d i e W e l t sei s c h l e c h t S a g e es leis. D e n n nicht die vier sind zu viel Sondern das f ü n f t e R a d U n d n i c h t s c h l e c h t ist d i e W e l t Sondern V o l l . ( 1 1 , i 5 8 f . ; >23 weil ihre Lebenskonzepte von der neuen Realität widerlegt worden sind: »Was eure Mutter euch sagte / Das war unverbindlich« (11, 163; >8Maßnahmen< benutzt werden«; ebd., S. 178. Hier wird bereits ein T o n f a l l angeschlagen, der eigentlich zum folgenden Kapitel gehört, weil er die politischen K ä m p f e und die V e r n i c h t u n g s p r o g r a m m e des 20. Jahrhunderts antizipiert: »Aber w e n n sie dich holen, werden w i r auf dich deuten / U n d werden sagen: das m u ß er sein« (11, 159).

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starken, dadurch hinderlichen Individualität zu verzichten (11,157; >i47657ZarathustraLob des Revolutionärs^. Da der Revolutionär nicht einfach für die Veränderung bestimmter Situationen kämpft, sondern vor dem Hintergrund heilsgeschichtlicher Dimensionen agiert, werden auch seine Gegner entsprechend gedeutet. Wenn >Das Hamburger Solidaritätslied< alles, »was Menschenantlitz trägt«, zum Kampf aufruft, ist damit schon impliziert, dass diejenigen, die sich nicht dafür ent64

Vgl. dagegen den Begriff der negativen Freiheit, wie ihn Isaiah Berlin bestimmt hat: Freiheit. Vier Versuche. Frankfurt a.M. 1995 (zuerst engl. 1969), S. I97ff. 188

scheiden, mit der Aberkennung des Menschen-Status rechnen müssen (14, 118). In der freien Gesellschaft gab es Konkurrenten, jetzt gibt es Gegner, denen damit gedroht wird, bald zu »verschwinden« (14,124; >LiedKeinen Gedanken verschwendet anDer Kommunismus ist das MittlereDie Maßnahmen in der ein die Parteilinie verletzender Genösse zum Tod verurteilt wird, ist die Analogie zu den realgeschichtlichen Entwicklungen, den Leninschen und Stalinschen »Säuberungen« nicht zu übersehen. Die von Brecht wiederholt gestaltete Tribunal-Situation, in der fern von jedem ordentlichen Rechtsverfahren die Faktizität von Macht und Gewalt ausgespielt wird (»Gestatte, daß wir dich darauf hinweisen«) und in der sich das Gericht die Definitionsmacht über den Einzelnen zuspricht (»Du bist [...]«, 14, 183; >Wir haben einen Fehler begangenDie Maßnahme< literarisch-immanent zu betrachten. 65 Aus der Literatur ergeben sich Folgerungen für das gesellschaftliche Verhalten und die politischen Optionen; die Literatur verlangt genau dies ausdrücklich selbst. Immer wieder ist versucht worden, Brecht als undogmatischen Sozialisten 66 in einem politikfernen R a u m anzusiedeln, in dem er allgemein moralische

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W e n i g hilfreich ist die f ü r die politische Brecht-Forschung typische B e m e r k u n g , dass >Die M a ß n a h m e ! nicht die historische W i r k l i c h k e i t widerspiegele, wohl aber »Bezug zur politischen Situation der Zeit« besitze — das hätte man schon gern genauer; J o o s t / M ü l l e r / V o g e s : Brecht, S. i t f f . In diesem Z u s a m m e n h a n g f ü h r t M i c h a e l Voges aus, dass nicht von einer T ö t u n g des Genossen durch die Partei die Rede sein könne, da dieser mit seinem T o d ja einverstanden sei. D a s »Ja zu seiner T ö t u n g « gehe aus dem »Einverständnis mit der revolutionären V e r ä n d e r u n g der Welt« hervor (ebd., S. 154). Z u d e m spreche nicht die Partei das Urteil, sondern, wie Brecht schließlich gezeigt habe, »die W i r k l i c h k e i t selbst« (ebd., S. 156). »Bürgerlich-individualistisch eingefärbte Tugenden«, zu denen z u m Beispiel das M i t l e i d zähle, seien deshalb ganz fehl am Platz.

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S o im V o r w o r t z u m S a m m e l b a n d : D e r j u n g e Brecht. H r s g . von G i e r / H i l l e s h e i m , S. 1 0 . Dagegen war es schon Zeitgenossen möglich, die G e f a h r e n von Brechts politischer D i c h t u n g mit ihrer Negation von Freiheit und Individualität zu erkennen. In der >Weltbühne< äußerte sich Brechts Freund F r a n k Warschauer zur A u f f ü h r u n g des >JasagersKongress-Ausschuss f ü r unamerikanische Betätigungen^ vor den er als Demokratiegegner gerufen worden war, sich genau auf diese Prinzipien der D e m o kratie zu berufen und »das große amerikanische Volk« aufzufordern, keineswegs »den freien Wettbewerb der Ideen« einzuschränken (23, 61).

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6.

>Kleine Rose< - E p i l o g

Betrachtet man Brechts Gesamtwerk, dann wird man sagen können, dass mit der Entscheidung der späten zwanziger und frühen dreißiger Jahre eine Weichenstellung vorgenommen wurde, die bis zum Ende prägend blieb. Für die Gattung der Lyrik hatte dies Folgen, weil die Notwendigkeit der IchAussprache und Vergewisserung mit dem neuen festen Selbstverständnis in den Hintergrund rückte. M a n wird nun nicht mehr von einer Suchbewegung sprechen können, von Verwerfungen und Unsicherheiten, sondern von der Verteidigung einer einmal erkannten Wahrheit. Zwar befindet sich das lyrische Ich in Kämpfen, aber die Auseinandersetzungen gehen nicht mehr durch das Ich hindurch, das als Teil einer Seite, einer Partei agiert. Den konkreten Hintergrund bildet natürlich die Situation des Exils, in der eine klare Position notwendig zum Selbsterhalt schien. So entsteht nun eine Fülle von postulierenden, didaktischen Gedichten, die von großer Deutlichkeit gekennzeichnet sind. Das schließt einzelne herausragende Gegenbeispiele nicht aus; ebenso gibt es Texte, in denen der eigene Standpunkt in Bewegung gerät, die Prinzipien der eigenen Seite befragt werden. Aber grundsätzlich kann man von einer weniger spannungsgeladenen Lyrik sprechen. Dieser Charakter der Lyrik ändert sich wiederum in der letzten Phase und bezeichnenderweise in einem Zusammenhang, in dem Zweifel an den Verheißungen des Kommunismus und damit an den Grundlagen des Ich auftreten. Historisch hängen diese mit dem Aufstand des Jahres 1953 zusammen, aber auch mit allgemeinen Erfahrungen, die Brecht in der Konstituierungsphase der D D R machen musste. Zwei Jahre vor dem Tod entsteht das folgende Gedicht: Ach wie solin wir nun die kleine Rose buchen Plötzlich dunkelrot und jung und nah Ach wir kamen nicht, sie zu besuchen Aber als wir kamen, war sie da. Vor sie da war, war sie nicht erwartet Als sie da war, war sie kaum geglaubt Ach, zum Ziele kam, was nie gestartet Aber war es so nicht überhaupt? (15, 283)

Überraschend an diesem schlichten Gedicht 6 8 ist zunächst die Wendung der Perspektive: Die Aufmerksamkeit richtet sich von der Geschichte zur Natur, und hier wiederum zu einem betont kleinen, unscheinbaren Gegenstand. Gleichzeitig wird aus der unerwarteten Entdeckung der Rose emblematisch auf eine allgemeine Gesetzlichkeit geschlossen. Diese wiederum betrifft einen

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O b w o h l es doch ganz zweifellos gelungen ist, blieb es unveröffentlicht, was a m Inhalt gelegen haben mag.

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Kernbereich von Brechts Weltdeutung, nämlich das Zeitverständnis. Das Gedicht negiert die Zielgerichtetheit und Steuerbarkeit von zeitlichen Abläufen und damit ein für die kollektive Identität zentrales gedankliches Element. Ein Ereignis tritt ein, das nicht erwartbar war und hinter dem keine Intentionalität steckt. Brecht orientiert sich damit wieder an dem oben erläuterten evolutionären Zeitbegriff der frühen zwanziger Jahre, allerdings in anderer Bewertung. Die Kontingenz wird nicht in ihren bedrohlichen, sondern in ihren schönen und glückhaften Ergebnissen dargestellt. Wenn in der Rose also emblematisch eine Idee aufscheint, deutlich wird, wie es »überhaupt« ist, dann handelt es sich um die Idee einer glücklichen Kontingenz, der man mit Erstaunen begegnet. Das lyrische Wir, das hier spricht, öffnet sich wieder, lässt nicht Vorhergesehenes zu. Diese Öffnung vollzieht sich auch sprachlich. Das Gedicht rettet sich vor bedeutungsschwerer Klassizität durch die Einbeziehung von Alltagssprache (»buchen«) und greift dabei bis in die Sprache der Sportwelt. So tritt ans Ende der Geschichtsphilosophie und der großen Kriege eine sanfte Plötzlichkeit, die zwar auf Gewissheiten verzichten muss, aber dafür den großen Vorzug besitzt, nicht gewalttätig zu sein. Auf die Pose des Tribunals folgt die Vorsicht, auf die Donnerworte folgt das geformte Sprechen, das niemanden mehr zwingen will; auch wenn es sich dabei nur um eine kleine und späte Nebenlinie im Werk handelt.

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IV. Gottfried Benn

ι.

>Das moderne Ich< - Zwischen Reflexivität und Mythenwunsch

In diesem Buch geht es um Fragen der Konstitution von Individualität unter bestimmten historischen Bedingungen; es geht um >das moderne IchDas moderne Ich« dort in einer kürzeren Fassung, da B e n n »für die V e r ö f f e n t l i c h u n g letzter H a n d in der >Gesammelten Prosa« einige der überbordenden Partieen« strich; die nun nur in den Lesarten a u f g e f ü h r t werden. G o t t f r i e d Benn: Sämtliche Werke. Stuttgarter Ausgabe. Hrsg. von Gerhard Schuster und Holger H o f in Verbindung mit Ilse B e n n . Stuttgart I986ff., B d . III, S. 448. Verwendet und herangezogen wird aber der überlegene Apparat und K o m m e n t a r dieser Ausgabe.

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»die Tabelle hoch ging und die Schöpfung sank« (111,33), dann ist damit die Selbstgesetzgebung der Wissenschaften bezeichnet. Ihre Methoden, Fragestellungen und Theoriebildungen haben sich im Laufe des 19. Jahrhunderts »von den Vorgaben eines umfassenden Weltbildes, etwa der idealistischen Metaphysik und der romantischen Naturspekulation«, gelöst. 2 Benn spricht davon, dass der »Geist« (III, 38) aus dem Reich der Wissenschaft vertrieben worden sei, so dass ein System mit eigener Logik entstand. Dieses System stützt sich auf Experimentreihen, auf die Ermittlung gesicherter Tatsachen und deren logische Verknüpfung zu Naturgesetzen. Damit entsteht auch ein neues Berufsbild und Selbstverständnis, wird der umfassend Gelehrte, der in seinem wissenschaftlichen Handeln systemübergreifenden Normen folgt, vom Spezialisten abgelöst, der sich mit der immanenten Klärung von Detailproblemen beschäftigt, die ihn als Gesamtperson nicht berühren müssen. Von solchen Spezialisten wurde Benn ausgebildet, zu einem solchen weltanschaulich neutralen Experten sollte und wollte er selber werden. Schließlich aber entschied er sich nach einem schmerzlichen Klärungsprozess für den Beruf des Arztes als notwendige Lebensgrundlage, aber gegen die Medizin als Wissenschaft und deren Exponenten. So polemisiert er in diesem Essay immer wieder gegen den Wissenschaftler als »kaufmännischen Vertreter« (111,29), g e g e n Ordinarien, die nur »die Nebenhöhlen der Nase« kennen (III, 33), sich aber davon eine »Grunewaldvilla« leisten können (111,39). Es wäre zu einfach, hier nur Ressentiments eines in der Wissenschaft Gescheiterten zu sehen. Denn Benn zielt mit seiner Kritik der Medizin auf übergreifende historische Entwicklungen, die in den Naturwissenschaften beispielhaft sichtbar werden und deren Konsequenzen er f ü r zerstörerisch hält. Denn es war nicht nur die Naturwissenschaft, in der die romantischen »Träume« einer Verbindung von Geist und Materie zerfielen. Nicht nur hier war der Versuch gescheitert, die Phänomene der Empirie zeichenhaft zu deuten, in ihnen Prinzipien und Ideen zu entdecken und so einen umfassenden Sinn herzustellen (111,33). Auch in anderen Bereichen hatte sich der Zerfall einer zentralen, metaphysisch gesicherten Weltdeutung ereignet. Benn spricht im >modernen Ich< auch von der Politik, die sich an keine Naturordnung, keine vorgegebene Richtigkeit mehr gebunden fühlt. E r nennt die Französische Revolution, mit der man sich »zum erstenmal« an einer freien, konstruktiven »Neugestaltung« der gesellschaftlichen Wirklichkeit versucht habe (III, 33). Die Moderne ist ein westliches Projekt, und wenn Benn beschreibt, wie von Frankreich aus der Empirismus und die entgötterte Praxisorientierung über Deutschland hereinbrechen, dann wiederholt er die Ideen von 1914, die den

1

Horst T h o m e : Modernität und B e w u ß t s e i n s w a n d e l in der Z e i t des N a t u r a l i s m u s und des Fin de siecle. In : Naturalismus, Fin de siecle, Expressionismus. 1 8 9 0 - 1 9 1 8 . Hrsg. von YorkG o t h a r t M i x . M ü n c h e n / W i e n 2 0 0 0 (Hansers Sozialgeschichte der deutschen Literatur v o m 16. J a h r h u n d e r t bis zur G e g e n w a r t . B d . 7), S. 15—27, hier S. 18.

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deutschen Geist gegen die »bürgerliche ratio« und die deutsche Sinn-Gemeinschaft gegen das Glücksprinzip »hedonistischer Demokratien« setzten (III,41); nicht wenige deutsche Intellektuelle sind mit diesen West-Stereotypen ja das gesamte 20. Jahrhundert ausgekommen. Z u Benns Moderne-Tableau gehören schließlich auch die Historisierung und das Wissen um die Zeitlichkeit des Wissens. Auch dies wird zunächst an der Naturwissenschaft, nämlich am Darwinismus, erläutert, der an die Stelle der einmaligen Schöpfung die temporäre Entwicklung setzt. Diese Diagnose wird dann ausgeweitet, um den Entwicklungsgedanken als die tragende Idee des 19. Jahrhunderts zu bezeichnen (111,35). Mit ihm lösen sich Wahrheiten, die als überzeitlich-gesetzt galten, auf. Sie werden zu historisch bedingten Beschreibungen der Umwelt, die einem bestimmten Erfahrungsstand angemessen sind und damit der Veränderung unterliegen. Aus diesen Entwicklungen zieht der Essay, wie im Titel angekündigt, Folgerungen für die Konstitution des modernen Ich. Diese Folgerungen finden sich vor allem im zweiten Teil des Textes, der mit dem Titel >Narciß< überschrieben ist. Mit dieser mythologischen Figur verbildlicht Benn seine These, wonach der nicht mehr metaphysisch abgesicherte Mensch zu einer lebensunfähigen Selbstbespiegelung verurteilt sei. Seine Überlegungen und Skizzen zu einer noch auszuführenden »Biographie des Ich« (111,43) kreisen um die mentalitätsgeschichtliche »Erstarkung des Gefühls der Selbständigkeit des individuellen Subjekts«; davon hatte schon Nietzsche in seiner Epochendiagnose gesprochen. Das sich herausbildende Differenzbewusstsein gegenüber den Mitmenschen und der Herkunft ist lange Zeit noch »objektivistisch« eingegrenzt, wird durch eine verbindliche und intersubjektiv geteilte Beschreibung einer vorgegebenen Naturordnung abgemildert. Im Fortgang der Neuzeit entwickelt sich aber ein konstruktivistisches Bewusstsein, wonach »die ganze äußere Welt« nur »ein inneres Erlebnis« ist: Deshalb sieht Narziss überall sein Bild. Nichts ist mehr von außen gegeben, alles Produkt des Erkenntnisapparates, nur Phänomen, so wenig greifbar wie ein Spiegelbild. Z u diesem — radikalisierten und so nicht zwangsläufigen — Ergebnis kommt Benn, wenn er die Geschichte der Erkenntniskritik von Descartes bis Kant zitiert (111,44). Allerdings könnte ihm auch ein anderer Weg, den die moderne Philosophie eingeschlagen hat, nicht weiterhelfen. Hier hat man als Antwort auf die Verunsicherungen der Transzendentalphilosophie versucht, das Subjekt durch soziale Verständigungsprozesse abzusichern: Das Ich wird als Teil einer Institution oder eines öffentlichen Gespräches verstanden. So will Jürgen Habermas das Paradigma der Bewusstseinsphilosophie ablösen »durch das Paradigma der Verständigung zwischen sprach- und handlungsfähigen Subjekten.« 3 Benn aber wäre damit nicht geholfen, weil auch soziale Produkte J ü r g e n H a b e r m a s : D e r philosophische Diskurs der Moderne. Z w ö l f Vorlesungen. 2. A u f lage. F r a n k f u r t a . M . 1989, S. 345.

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dem Konstruktionsverdacht unterliegen. Zwar entstammen sie nicht individueller Willkür, können sich aber ebenfalls nicht auf eine von außen gegebene Wahrheit Gottes oder eine Natur der Dinge berufen, aus der sie hervorgehen. Auch ein intersubjektiv ausbalanciertes oder kollektives Ich kann sich legitimierend nur auf sich selbst beziehen, ist, wie Benn es ausdrückt, »erloschenes Auge«, dessen Pupille »nach hinten« gerichtet ist (111,44). Was als Wahrheit gilt, kann im historischen Wandel schon morgen als ein »Pfauenrad diskursiver Eskapaden« erscheinen. Benns Ängste und Fragen entstehen, weil er metaphysischen Bedürfnissen folgt. Von ihnen wird er angetrieben. Wenn ihm die Kommunikationsphilosophie empfohlen hätte, die Trauer »metaphysischer Unbehaustheit fallen« zu lassen, weil es sich dabei um eine »etwas sentimentale Voraussetzung« handle, wäre ihm damit wohl nicht geholfen gewesen. 4 Seine Voraussetzungen ergeben sich aus seiner religiösen Prägephase. Es ist ja durchaus bemerkenswert, wenn im ersten Absatz der Rede die moderne Medizin als Handwerk attackiert wird, »das nie an eine Schöpfung glaubte« (111,29). Die studentischen Hörer des Textes hätten sich wohl auch über den Appell gewundert: »Der Gott wird kommen, wenn Sie wissen werden, wen Sie rufen sollen.« Immer wieder schlägt die christliche Metaphorik in überraschenden Zusammenhängen durch: So wird der Wissenschaft »der Biß in den Apfel der Erkenntnis« vorgeworfen (111,38); so wird der zu großen Gefühlen nicht mehr fähige »Mittelmensch« des empirischen Zeitalters als der »Barabbasschreier« tituliert — als trage er Mitschuld an der Kreuzigung (III, 40). Allerdings geht es Benn mit seiner Gegenwartskritik nicht um die Wiederherstellung einer religiös begründeten Gesellschaftsordnung, denn die Umstellung zum »sozialen Ich« des 19. Jahrhunderts sieht er als unausweichlich an: Auf die Epoche von »Glaube Schuld« musste das Zeitalter von »Erfahrung Zufall« folgen (III,39f.). Aber auch wenn man das Ende der Metaphysik als Weltdeutung und Gesellschaftsbegründung akzeptiert, verschwinden noch nicht die religiösen Bedürfnisse. Benn stellt eine anthropologische, aber zunächst und unzweifelhaft vor allem ihn selbst betreffende Frage, wenn er ausruft: »Wohin mit der Gebetsmaterie, den Aufstiegsenergien« (III, 40)? Das wurzellos gewordene Ich sucht nach einem Gefühl der Abhängigkeit. Was diese zunächst abstrakte Situationsbeschreibung bedeutet und wohin sie führt, zeigt sich an der Gestalt des Textes und seiner Sprache. Denn von der ersten bis zur letzten Seite vagabundiert hier ein Bedürfnis, das mythische Gestalten aus verschiedenen Zeiten und Gegenden der Religionsgeschichte anruft. In assoziativ heraufbeschwörenden Passagen, von denen der Essay mehrere enthält, werden Reizvokabeln gereiht. Ihre Semantik ist nicht immer fassbar, und ihre Wirkung entsteht vor allem durch den Klang: »Es ist eine

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Ebd., S. 346.

196

Esse von Haschisch auf der Welt, zwischen Haiti und den Abiponen, es ist ein Schrei, von einer Insel an der Mündung der Loire bis zu den Tlinkitindianern nach dem Ubergang, nach den Epiphanien. Es ist ein Tanz zwischen den beiden Reichen der Brüder, die Sie so umschlungen sehn: die zu Boden gesenkte Fackel halten Sie und Sie den Mohnstengel, Sie träumen und dem anderen ist es schon geschehn« (111,45). Solche Passagen kann man ästhetisch lesen und der »Worthörigkeit Benns«, wie Hans Blumenberg vorgeschlagen hat, »den Vorrang vor der inhaltlichen Konsistenz geben.«5 Aber eine solche Lektüre verkürzt den Text, denn in der Wortmusik, hinter den Göttern und Halbgöttern, steckt ein f ü r Benn existentielles Problem. Dieses Problem der Subjektivität aber wird nicht gelöst. Denn wie soll eine Abhängigkeit von mythologischen Größen entstehen, die der Redner in großer, fast beliebiger Zahl aufruft, die er dann nach eigenem Kalkül auch wieder verschwinden lässt und nicht mehr erwähnt? Diese vielen und exquisiten, in der Umwelt des Redners nicht verankerten, teilweise nicht einmal bekannten Figuren schaffen keine Verpflichtung. Z u deutlich spricht in solchen Passagen ein freies Ich, das sich im virtuosen Montieren, in der Kombination verschiedener Kontexte ausdrückt. Die Mächte, die das Ich legitimieren sollen, gehen aus der formierenden K r a f t eben dieses Ich hervor. A m Schluss des Textes wird dies noch einmal deutlich, wenn Narziss charakterisiert wird als »schreiend nach Zeugung, hungernd in den Fäusten, dir Stücke aus dem Leib der Welt zu reißen, sie formend und sich tief in sie vergessend, aus aller Not und Scham der Einsamkeit« (111,46). Das angestrebte Vergessen der Freiheit und Bodenlosigkeit des Einzelnen geht zu deutlich aus einem voluntaristischen und gewaltsamen Akt hervor, den das Ich ebenfalls vergessen müsste, um wirklich das Gefühl der Eingebundenheit in ein Ganzes erleben zu können. Das strukturell gleiche Problem ließ sich bei Stefan George beobachten, als er M a x i m i n als Gottheit zu präparieren versuchte. Der Gegner der modernen Subjektivität muss sie mit sich selbst bekämpfen. Dieser Widerspruch von Objektivitätsbehauptung und konstruktivem Geist tritt an mehreren Stellen hervor. So wird Picassos »Geige« (111,39) a ' s B e spiel eines Kunstwerkes genannt, das sich gegen die bestehende »Wirklichkeit« richtet und die »Splitter ausgeborstener Kosmen« neu verbindet: Auch diese Welt-Synthese aber bleibt »Picassos Geige«, von ihm geschaffen, für ihn gültig. Deshalb können die Hörer der Rede gefragt werden: »Wohin gehen Sie, sich zu erschaffen?« Damit aber wird das Leiden an der freigesetzten Individualität nicht überwunden. Das Gleiche gilt, wenn an die Hörer appelliert wird: »Aber schließen Sie das Auge« (III, 30). Das Subjekt, das sich entgren-

H a n s B l u m e n b e r g : G l o s s e n zu G e d i c h t e n . A k z e n t e 4 4 (1997). H e f t 3, S. 2 4 5 - 2 6 2 , hier S. 254. B l u m e n b e r g spürt - in seiner ebenfalls assoziationsfreudigen Lektüre - auch eine o f f e n k u n d i g e B e g r i f f s v e r w e c h s l u n g Benns auf.

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zen will, muss sich von der Wahrnehmung der Welt und ihren Bedingungen abwenden, um bestimmten Eindrücken — »eratmen Sie einen Duft« - den Status von offenbarten Wahrheiten zuerkennen zu können. So enthält dieser Text die Frage nach der Ich-Konstitution in einer offenen Welt, die sich in der ersten Lebenshälfte als bedeutsam und drängend herausgebildet hatte und die in der Folgezeit mit großer Intensität bearbeitet wird. Der hier angedeutete Lösungsweg wird dabei allerdings erheblich variiert und verändert. Eine dieser Variationen ist auch das kurzzeitige Bekenntnis zum nationalsozialistischen Staat 1933.

2.

Die H e r k u n f t und die frühen Prägungen

Benn hat seine Kindheit als Sohn eines Pastors in dem kleinen, östlich der Oder gelegenen Dorf Sellin immer wieder im Verlauf seines Werkes erwähnt, in Bildern hervorgerufen und auch gedeutet. Im Gedicht >Primäre Tage< wird beschrieben, wie eine solche Erinnerung durch sinnliche Eindrücke in Gang gesetzt wird: Primäre Tage, Herbst, die Ebenen träumen, wie hat das Kind die Tage so geliebt, die Tage Ruths, die Ahrensammler säumen nach letzten Früchten, die die Stoppel gibt — ach, da berührt mich was mit vagen Zeichen, ach, da verführt mich was mit tiefem Zwang: schon eine blaue Jalousie kann reichen zu Asterhaftem, das aus Gärten drang. (I, 219)

Uber den Eindruck einer Landschaft (»Ebenen«) zu einer bestimmten Jahreszeit (»Herbst«) wird die Gefühlswelt des Kindes evoziert, das die entsprechende Naturszenerie »so geliebt« hat. Dabei wird das individuelle Erleben des Kindes durch die Nennung einer alttestamentlichen Figur 6 und durch die Mehrdeutigkeit der Wendung >Primäre Tage< ausgeweitet. Es handelt sich um die frühen Tage des Lebens, aber erinnert wird auch an eine historisch ursprüngliche Welt, in der »Ahrensammler« tätig sind und die, wie es die folgende Strophe des Gedichtes sagt, von einer die Subjekte umfassenden Einheit bestimmt ist, wo »alles nimmt und leise weitergibt.« In einer vergleichbaren lyrischen Erinnerung erhält die Kindheit über die Nennung von »Ahnen« eine historische Tiefe und wird als Teil eines von außen gegebenen Zusammenhanges verstanden (I, 234; >Das Unaufhörliche, No. 15Ο. Darin, in diesem »Sein«, wurde das Leben von natürlichen Größen (»Sonnenbahnen«) geregelt. Diese Naturgrößen wiederum wurden als Zeichen verstanden, die

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Nach dem Buch >RutDoppellebenganzen HausesDie Grenzboten< erschienen sind, die Geschichte der Psychiatrie, der medizinischen Psychologie und der Naturwissenschaften insgesamt als Aufstiegsgeschichte dar, in der das 19. Jahrhundert mittels Beobachtung und Exaktheit das spekulative »Mittelalter der Medizin« (III, 16) überwunden habe. Aufschlussreich ist die Metaphorik dieser Texte: Denn so wie Benn später seine Wissenschaftskritik

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Z u m wissenschaftlichen Werdegang Rübe: Provoziertes Leben, S. 103ff.

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mit religiösem Vokabular formuliert, versucht er hier zunächst, die positivistische Wissenschaft mit den Denk- und Sprechweisen seiner Kindheit zu verbinden. So sei mit Hilfe der induktiven Methode der »Tempel« der Medizin »rein« gefegt worden (III, 21): Die Medizin erhielt »einen Herrn« und »alles Gesindel« wurde beseitigt (III, 18). Z u r modernen Verbindung von Physiologie und Psychologie heißt es unvermittelt und überraschend: »Das Unfaßbare schlechthin ward Fleisch und wohnete unter uns; in der Knechtsgestalt des Leiblichen trat es ganz und gar handgreiflich den forschenden Sinnen entgegen« (III, 15). Damit werden wissenschaftliche Prozesse so gedeutet, dass sie jener Lehre, hier der Inkarnation, entsprechen, die Benn in der frühen Lebensphase vermittelt worden war. Zwar gibt es auch in diesen Aufsätzen schon Partien, wo sich der Verfasser eine zukünftige Synthese des Spezialwissens durch »ein großes und einigendes Prinzip« erhofft (III, 22), finden sich einzelne ambivalente Bewertungen des empiristischen Denkens. Doch grundsätzlich bejaht Benn hier die Differenzierung der modernen Naturwissenschaften, die Ablehnung des Ganzheitsdenkens und die Delegation von Fragen an die dafür bestimmten Spezialisten (III, 27). Noch während der Bemühungen, den Anforderungen der Medizin gerecht zu werden, gerät Benn in eine biographische Krise, die mit der ersten Anstellung an der Berliner Charite beginnt. Ein psychischer Zustand entsteht, der es ihm offensichtlich unmöglich machte, sich auf die Patienten und ihren Krankheitszustand zu konzentrieren. Aus der Rückschau heißt es: »Mein M u n d trocknete aus, meine Lider entzündeten sich, ich wäre zu Gewaltakten geschritten, wenn mich nicht vorher schon mein Chef zu sich gerufen, über vollkommen unzureichende Führung der Krankengeschichten zur Rede gestellt und entlassen hätte« (II, 270). Als er seinen Dienst als Sanitätsoffizier antritt, muss er schon nach kurzer Zeit feld- und garnisonsdienstunfähig geschrieben werden. 14 Anschließend ist Benn an mehreren Arbeitsplätzen kurzzeitig tätig, ohne ihnen gerecht zu werden; als er den Chef einer Lungenheilstätte vertreten soll, muss dieser nach einer Woche aus dem Urlaub zurückgerufen werden. Den Krieg verbringt er in der Brüsseler Etappe, bis er 1917 aus ungeklärten Gründen aus der Armee entlassen wird. Nach einer kurzen Tätigkeit an der Berliner Hautklinik lässt er sich schließlich als Arzt für Haut- und Geschlechtskrankheiten nieder. Diese Existenzform wird er beibehalten, und damit kommt er beruflich zur Ruhe. Hinter diesen Ereignissen stehen psychische Bedrohungen, die das Subjekt in seiner Substanz, in seiner Selbstwahrnehmung und Abgrenzung zur Außenwelt gefährden: »Ich vertiefte mich in die Schilderungen des Zustandes, der als Depersonalisation oder als Entfremdung der Wahrnehmungswelt

14

Z u den nicht ganz klaren bzw. bezweifelbaren G r ü n d e n vgl. die A n g a b e n bei R ü b e : Provozierces Leben, S. H 4 f f .

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bezeichnet wird« (II, 253). Die Biographie Benns ist ein Beispiel dafür, dass die Übergänge zwischen verschiedenen Formen gesellschaftlicher Organisation, wie sie die Sozialwissenschaft als allgemeines Phänomen beschreibt, individuell tatsächlich »katastrophal« verlaufen können. 15 Hier kollidiert die Substanz der alten Identität mit den Erfahrungen und Anforderungen einer neuen Umwelt, zu der sich das Ich verhalten muss. Von diesem Konflikt zeugt Benns erste eigenständige literarische Veröffentlichung, die >MorgueSchöne JugendKleine AsterRequiemRequiemNegerbraut< scheint eine Tote »wie vorm Aufbruch vieler Himmelfahrten« zu träumen, bis auch ihr Körper zerschnitten wird und dieser Eindruck erlischt (I, 24). Im >Kreislauf< wird die Begräbnisformel »Erde zu Erde< pervertiert (I, 23), im Eingangsgedicht >Kleine Aster< gilt der Wunsch »Ruhe sanft« der kleinen Aster und damit nicht den Toten, die nur am Rande wahrgenommen werden (I, 21). So destruiert in diesen Gedichten die neue Umwelt mit ihren Erfahrungen das alte Selbstverständnis. Aber dies ist natürlich noch vorhanden: als etwas, das zerstört werden muss, mit dem der lyrische Sprecher kämpft. Dieser Kampf bestimmt das lyrische Frühwerk, und er fällt deshalb so entschieden aus, weil Benn eine nicht- und nach-metaphysische Sinngebung in dieser Zeit für ausgeschlossen hält. Darin stimmt seine Position mit der des vorkommunistischen Brecht überein. 19 Nach der Religion bleibt die nackte, jede Idee negierende Materie: »Wir sind und wollen nichts sein als Dreck. / M a n hat uns belogen und betrogen / Mit Gotteskindschaft, Sinn und Zweck« (I, 43). Die Freisetzung von Subjektivität aus einem vorgegebenen Rahmen erscheint nicht als Steigerung der Möglichkeit, sich selbst zu entwerfen, als Gestaltungsspielraum und Kraft, sondern als Verlust von Sicherheit und Bedeutung. Bei Luhmann heißt es: »Die Notwendigkeit der Selbstbestimmung fällt dem Einzelnen als Korrelat einer gesellschaftlichen Entwicklung zu.« 20 Benn

18

Z u den in diesem G e d i c h t zitierten oder indirekt aufgerufenen Bibelstellen vgl. die A n a l y s e von D y c k : Requiem. Die S p a n n u n g in Benns Existenz fasst eine Ä u ß e r u n g Lasker-Schülers: »Er steigt hinunter ins G e w ö l b e seines Krankenhauses und schneidet die Toten auf [...] Er sagt: >tot ist tot.< D e n n o c h f r o m m im Nichtglauben liebt er die Häuser der Gebete, träumende Altäre.« D o r t auch die K e n n z e i c h n u n g B e n n s als »evangelischer Heide, ein C h r i s t mit d e m Götzenhaupt«, die den Identitätskonflikt benennt; Benn. W i r k u n g wider W i l l e n . D o k u m e n t e zur W i r k u n g s g e s c h i c h t e . H r s g . von Peter U w e H o h e n d a h l . F r a n k f u r t a . M . 1 9 7 1 , S. 98.

15

Vgl. oben Kapitel III, 2. Z u denken ist an das G e d i c h t >Vom ertrunkenen M ä d c h e n s w o der Verwesungsprozess d a f ü r steht, dass G o t t den M e n s c h e n vergisst. N i k l a s L u h m a n n : Soziologische A u f k l ä r u n g . B d . 6: Die Soziologie und der M e n s c h . Opladen 1995, S. 132.

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205

schreibt: »Wir sind so schmerzliche, durchseuchte Götter. — / Und dennoch denken wir des Gottes oft« (I, 47). Angesichts einer solchen Selbstaussage ist es nicht verwunderlich, dass parallel zur materialistischen Sinndestruktion Versuche einer Transformation »des Gottes« unternommen werden. Die Texte suchen nach einer handelnden, sinn-generierenden Macht außerhalb des Subjekts. Dies beginnt schon im Gedicht >Mann und Frau gehn durch die KrebsbarackeMorgue-Gedichte< gehört (I, 28). Zunächst wird in bekannter Form die Evidenz verwesender Körperlichkeit gegen emotional aufgeladene Begriffe wie »Rausch und Heimat« gesetzt. Nach der Amplifikation körperlicher Details und einem entschiedenen Reduktionismus — Körper werden wie »Bänke« gewaschen — fällt die Schluss-Strophe schon durch die Verwendung nicht-beschreibender, metaphorischer Rede ins Auge: Hier schwillt der Acker schon um jedes Bett. Fleisch ebnet sich zu Land. Glut gibt sich fort. Saft schickt sich an zu rinnen. Erde ruft. -

Zwar ist auch weiterhin von Materie die Rede, aber sie rückt in die Subjektposition des Satzes, wird zu einer handelnden, mit Intention versehenen Kraft. Dabei kommt ihr angesichts des Todes die Funktion einer Aufnahme der Sterbenden in einen größeren Zusammenhang zu. Die einzelnen Betten erscheinen in der Phantasie als Teil eines sie umfassenden »Ackers«; die Grenzen der Körper werden eingeebnet zu einem singularischen »Land«; »Glut« und »Saft« schaffen als nicht-feste Aggregatzustände ein Kontinuum. Im letzten Satz, »Erde ruft«, wird deutlich, dass probeweise Materie in eine Position gerückt wird, in der sie die Menschen, so wie es Gott in religiösen Todesvorstellungen entspricht, von außen anruft. Der Text nähert sich der Vorstellung einer Heimholung an. Auch nach dem Tod Gottes ist das Subjekt damit in dieser naturphilosophischen Sichtweise nicht auf sich allein verwiesen, zerfällt nicht als Materie spurlos, sondern bleibt Teil einer großen Einheit. Allerdings bleibt dieser Gedichtschluss vage, und ein skeptischer Leser könnte darin die rhetorische Ausschmückung eines Verwesungsprozesses sehen. Auch wird in anderen Gedichten die Idee einer »Rückkehr zur Natur« durch den Kontext ironisiert, so wenn sie als Rede eines noch nicht wieder zugenähten Mannes erscheint (I, 39; >Morgue IID-ZugUntergrundbahn< (I, 57). Ausgangspunkt ist zeitlich ein die Sinnlichkeit stimulierender Frühling, räumlich der titelgebende Zug, in dem das lyrische Ich eine »fremde Frau« erblickt. Was als erotische Stimulierung beginnt (»der Strumpf am Spann«), weitet sich zu einer Deutung der weiblichen Natur, in der diese eine Einheit von Subjekt und Umwelt verkörpert, die vor den Trennungen der Rationalität liegt: Ο wie ihr M u n d die laue L u f t verpraßt! D u Rosen-hirn, Meer-blut, du Höherzwielicht, D u Erdenbeet, wie strömen deine H ü f t e n So kühl den Hauch hervor, in dem du gehst! Dunkel: nun lebt es unter ihren Kleidern: N u r weißes Tier. Gelöst und stummer D u f t .

Die Komposita »Rosen-hirn« und »Meer-blut« sprechen auf engstem R a u m von dieser Einheit des Ich mit der Natur, von der Auflösung der die städtische Umgebung prägenden Differenzen in einem »Höherzwielicht«. Die Frau bewegt sich nicht in einer Umwelt, die äußeren Gesetzen gehorcht, sondern in einem »Hauch«, den sie selbst hervorbringt, in einer sie umgebenden Luft. Damit erreicht sie einen Zustand vor der menschlichen Freiheit, vor dem Zwang zwischen Alternativen wählen zu müssen. 22 Dieser Zustand wird mit dem »Tier« verglichen, das unter den lyrischen Zeitgenossen Rilke in vergleichbarer Weise gedeutet hat. So verliert die Frau die Begrenztheit des Subjekts, ist »gelöst«, ist »Duft«. Sie unterliegt nicht der materiellen Festigkeit und dem Unterschieden-Sein, durch das man zum Individuum wird. Im Anschluss an diese Apotheose wird deutlich, welche Funktion ihr Anblick für den M a n n hat:

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12

Z u r T o p i k eines historisch ursprünglichen, w a h r e n Gesellschaftszustandes die klassische Arbeit von H a n s - J o a c h i m M a h l : D i e Idee des G o l d e n e n Zeitalters im Werk des Novalis. Studien zur Wesensbestimmung der frühromantischen Utopie und zu ihren ideengeschichtlichen Voraussetzungen. Heidelberg 1965. D a z u die D e f i n i t i o n der Freiheit bei Peter Bieri: D a s H a n d w e r k der Freiheit. Ü b e r die E n t d e c k u n g des eigenen W i l l e n s . M ü n c h e n / W i e n 2 0 0 1 , S. 45. Benns Versuche, aus dem analytischen in ein vorbewusstes Leben zu gelangen, sind auch T h e m a bei T h e o M e y e r : Kunstproblematik und W o r t k o m b i n a t o r i k bei G o t t f r i e d Benn. K ö l n / W i e n 1 9 7 1 , S. 2 3 7 f f .

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Ein armer Hirnhund. Schwer mit Gott behangen. Ich bin der Stirn so satt. Ο ein Gerüste Von Blütenkolben löste sanft sie ab Und schwellte mit und schauerte und triefte. So losgelöst. So müde. Ich will wandern. Blutlos die Wege. Lieder aus den Gärten. Schatten und Sintflut. Fernes Glück: ein Sterben Hin in des Meers erlösend tiefes Blau. In diesem kulturkritisch inszenierten und nicht besonders originellen Geschlechterverhältnis hat der M a n n die Folgekosten der Zivilisation zu tragen, das Leiden an der Rationalität des Weltverhältnisses, das nach Benns M e i n u n g mit einer auch messbaren Uberausbildung des Gehirns einhergeht. H i n z u tritt das Leiden an der Säkularisierung, die G o t t zwar als Glaubensgegenstand f r a g w ü r d i g werden ließ, das religiöse Bedürfnis aber nicht beseitigt hat, das nun als Last weiterexistiert. Das Gedicht-Ende ist in seinem bildlichen Synkretismus und seiner Unbestimmtheit typisch f ü r Benns nicht zielgerichtete Erlösungsphantasien dieses Zeitraumes. Wer etwas genauer wissen möchte, um welche Gärten, welche Wege und welches Meer es sich handelt, bekommt keine A n t w o r t . Hier wird auch kein Bild eines nicht- oder nach-modernen Lebens gezeichnet, sondern werden V o k a b e l n aus der T o p i k von Erlösung u n d G l ü c k aufgereiht u n d gegen Z u s t ä n d e zivilisatorischer E r s c h ö p f u n g gesetzt. Präzise benennbar ist allein das Bedürfnis nach einer Ü b e r w i n d u n g der Grenzen von Subjektivität, nach einem A u f g e h e n in der Natur, in der Pflanzenwelt oder im Meer, das dem T o d analogisiert wird. »Dieser Schleim legt Wert darauf, mindestens eine halbe M i l l i o n J a h r e alt zu sein«, hat Brecht in der ihm eigenen Drastik bemerkt 2 3 und damit die gegen-rationalen Wünsche Benns bezeichnet, die tatsächlich bis ins ungewollt Komische reichen. D e n n wer möchte - bei allem Leiden an der Heterogenität und Selbstverantwortung des Ich — tatsächlich »ein K l ü m p c h e n Schleim in einem warmen Moor« sein, wie es in dem bekannten Gedicht >Gesänge< heißt (1,47). A u c h dieses Gedicht bildet mit seinen heranzitierten, aber auf keine Realität verweisenden Naturelementen (»Bucht«, »Wälderträume«, »Sterne«, »Panther«, »Ufer«) das Freischwebende der Erlösungswünsche ab. Sie stehen in diesem Gedicht noch in der Tradition expressionistischer Exotik und bedienen sich auch in anderen Texten der Topik südlicher, aber nur selten konkreter Landschaften. Solche Gedichte unternehmen eine »Reise«, zum Beispiel zu einer nicht näher bestimmten Insel, von der es heißt: »Es liegt ihr Sinn / I m Mittelpunkt, den Nichts beraubt« (I,8z). A u c h darin äußert sich vor allem der W u n s c h , den »Polytheismus der Werte« ( M a x Weber) zu überwinden,

25

Brecht: G B A 22, 9. Allerdings sollte man nicht vergessen, dass Brecht selber in der >Hauspostille< sich dem Lebensgefühl von Bäumen und Fischen anzunähern versuchte.

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das Bedürfnis nach einem nicht bezweifelbaren Zentrum der Sinnstiftung. Dessen Beschreibung aber gewinnt keine Konturen. D a s bedeutet keineswegs, dass von diesen Gedichten nicht lyrisch ein erheblicher Reiz ausgeht. M a n muss sie aber an jenen Ansprüchen messen, die der Autor selbst erhoben hat; der im übrigen bei dieser Form der Lyrik auch nicht stehen geblieben ist. Derartige Texte können das gegenwärtige Problem der Subjektivität nicht lösen, weil sie der Gegenwart entfliehen, sich nicht auf sie einlassen. Andere Gedichte unternehmen eine Lösung, die zwar nachvollziehbar ist, aber den Nachteil der Kurzzeitigkeit hat. Dann wird, den erotischen Gedichten vergleichbar, ein Rauschzustand beschrieben, in dem die herkömmlichen Ordnungsmuster untergehen und ein »Ich-zerfall« gelingt (I, 108). So im Gedicht >CocainPappelDas musst D u selber wissen.< Wenn er im Pappel-Gedicht die rhetorische Frage stellt: »Und wer sah Pappelwälder?«, dann ist das nicht als Ausruf eines freien, selbstbewussten Ich zu verstehen, sondern entspringt dem Wunsch nach solchen Wäldern, in denen der Einzelne ein Stamm unter vielen ist, die ihn umgeben. Deshalb stellt Benns Frühwerk einen, wie es ein Gedichttitel sagt, ständigen >Rückfall< dar (I, 114). Dann ruft er gegen das »Mark«, das den Menschen »höhnt«, gegen die medizinische Ernüchterung ganz unvermittelt einen rettenden Geist herbei: Ο Geist, entfremdest du dich! Ο glühe Ein einzig Mal aus Sturm- und Sterngewalten, Aus Wolkenbruch der Ferne, die 209

Nicht Fleische zügeln und Gehirne spalten, Ο Geist, ο wehe doch, wie die Propheten Dich priesen - sieh, ich ringe In Blut nach einem fernen, sterne-steten! (I, 114). Hier werden sowohl der Verlust, die Entfernung von den Gehalten der religiösen Prägephase, als auch die Sehnsucht nach der R ü c k k e h r einer sinnstiftenden Instanz zum T h e m a . Diese Sehnsucht orientiert sich deutlich an den Vorstellungen und Mustern der Bibel. D e r W u n s c h nach dem »Geist« muss sich aber mit dem Widerstand der Vernunft und ihrer analytisch spaltenden Tätigkeit auseinandersetzen, die jeden Wahrheitsanspruch in seine Bestandteile zerlegt; ebenso mit der bremsenden Trägheit des Körpers, der eine reine, ungebrochene W i r k u n g von Ideen nicht zulässt. Diese Bedingungen sind nicht zu ignorieren, und der Gedichtsprecher weiß, dass das Bedürfnis nach jenem »Geist« nicht von seiner materiellen Basis, vom »Blut«, zu trennen ist. Ebenso ist der historische Prozess der Säkularisierung nicht zu revidieren, so dass die neue Erscheinung zwar in ihren Funktionen benannt wird, aber keine Gestalt erhält, über subjektive Emotionalität nicht hinauskommt. Das aber ist nicht ausreichend. D e n n u m - immer unter Benns Prämissen - ein stabiles, auch Krisen überstehendes Selbstverständnis zu gewinnen, bedarf es einer Religion, wie er sie in seiner Kindheit erlebte. Ü b e r die existentielle E r f a h r u n g hinaus muss ein Gottesglaube bestehen, der »als gemeinschaftlich vermittelter, bekenntnishaft sprachlich formulierter und als mit sich in Übereinstimmung bleibender kontinuierlich durch die Zeiten« transportiert wird. 2 4 D e r Einzelne muss sich, um nicht seiner emotionalen Gestimmtheit ausgesetzt zu sein, als Teil einer Institution, als Glied einer Geschichte wissen und benötigt externe Vorgaben und Gesetze, die nicht von den Veränderungen seiner Person abhängig sind. Es kann i h m nicht genügen, wechselnde, jeweils nur kurzzeitig gültige und den Intellekt negierende mythische Bilder und Begriffe zu mobilisieren. Gegen Verse wie »Denkt: Ithaka: D i e Tempel wehen / Marmorschauer von Meer zu Meer« ( 1 , 9 0 ) ist dann etwas einzuwenden, wenn sie nicht nur ästhetischen Genuss erzeugen sollen, sondern, u n d darin besteht Benns Interesse, einer Person, die ihre Grundlagen verloren hat, einen Halt vermitteln sollen, der in seiner Leistung der Religion adäquat ist. D a s Bekenntnis des ungesicherten Menschen, sich u m »einen D o n n e r sammeln« zu wollen (1,85), zeigt schon im unbestimmten Artikel die Offenheit des Bedürfnisses. U n d womöglich klingt auch schon die G e f a h r an, sich u m jeden D o n n e r zu sammeln, wenn er denn nur richtig donnert. 24

Klaus Oehler: Hilary Putnams Religionsphilosophie. In: Hilary Putnam und die Tradition des Pragmatismus. Hrsg. von Marie-Luise Raters und Marcus Willaschek. Frankfurt a.M. 2002, S. 325—343, hier S. 339. Benns Situation ist an die Debatten der gegenwärtigen Religionsphilosophie anschließbar, weil seine Bedingungen - Säkularisierung, Schwächung der religiösen Institutionen bei gleichzeitig fortbestehendem religiösen Bedürfnis - auch noch die Bedingungen der Gegenwart sind.

2IO

So bleibt als Fazit dieser ersten Werkphase, die mit der materialistischen Sinndestruktion begann und sich in der dadurch hervorgerufenen Suche nach einem neuen Fluchtpunkt fortsetzte, die Artikulation eines Bedürfnisses. Benn sucht, so in dem Gedicht »Fleisch« aus dem Jahr 1917, einen »Fleck, der gegen die Verwesung spräche!! — / Das Fleckchen, wo sich Gott erging...!!!« (I, 93): also ein noch nicht von der Säkularisierung besetztes Territorium. M a n muss deshalb mit dem von Benn, aber auch in der Benn-Rezeption oft gebrauchten Begriff des >Nihilismus< vorsichtig umgehen. Wenn modernekritische Autoren wie Benn, wenn die Generation der um 1890 Geborenen der Gesellschaft Nihilismus attestiert, dann handelt es sich zunächst um eine Behauptung, die aus einer bestimmten Perspektive vorgebracht wird: Weil diese Gesellschaft keinen zentral formulierten, unbezweifelbaren Sinn mehr zur Verfügung stellt, sondern nur Formen der Weltdeutung, wird ihr die Nicht-Existenz von Sinn unterstellt. Eine Wahrheit mit vorläufigem Charakter, die nicht über die Berufung auf Gott oder eine unveränderliche Natur abgesichert ist, erscheint als defizitär oder undenkbar. Deshalb kann man die jungen, sogenannt progressiven Autoren mit größerem Recht als die Hüter einer starken, nicht diskutierbaren Moral ansehen. Den Vätern werfen sie Relativismus vor. 25 Wenn man sich mit dieser Modernekritik nicht identifiziert, wird man sagen müssen, dass es sich bei dem von der expressionistischen Generation behaupteten Zerfall der Wirklichkeit um den Zerfall einer bestimmten Form der Wirklichkeit und bei dem behaupteten Zerfall des Subjekts um den Verlust einer bestimmten Form von Subjektivität handelt. Dass auch in einer nachmetaphysischen Gesellschaft, in der die Öffentlichkeit ihre begrenzt gültigen Gesetze aushandelt und existentielle Wahrheiten dem Einzelnen überlässt, Subjektivität begründet werden kann, wird nicht in Erwägung gezogen. Ein Weg, wie ihn M a x Weber vorgeschlagen hat: sich an einer je individuellen Vereinigung und Ausbalancierung von Formen der Weltaneignung zu versuchen, die Heterogenität auszuhalten und in der Lebenspraxis zu meistern, 26 kann den eigenen Maßstäben und Erwartungen nicht genügen oder wird nicht einmal bedacht. Vor den Formen der Integration des Ich in eine als natürlich angesehene Ordnung — Benns Sellin - verfällt die später erlebte Moderne dem Verdikt des Nihilismus. Das freigesetzte Ich reflektiert seine Grundlagen, schätzt sie als unzureichend ein, um daran die Kritik einer vermeintlich scheinhaften Subjektivität anzuschließen. Gleichzeitig werden die Möglich-

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S o M i c h a e l Jaeger: Autobiographie und Geschichte. W i l h e l m Dilthey, G e o r g M i s c h , Karl L ö w i t h , G o t t f r i e d B e n n , A l f r e d D ö b l i n . S t u t t g a r t / W e i m a r 1995, der die Autobiographie >Doppelleben< analysiert (2i3ff.) und dabei auch a u f den Z u s a m m e n h a n g zwischen der K r i tik einer individualistischen G e s e l l s c h a f t und dem Verlangen nach einer neuen O r d n u n g und einem großen G e s e t z eingeht. D a z u ausführlicher oben Kapitel II, 5.

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keiten eines Allgemeinen erkundet, das im und durch das Subjekt wirkt und ihm wieder eine stabile, nicht reversible Basis verschaffen soll.

4.

»Etwas ganz Allgemeines hinter einem schemenhaften Ich« Subjektkritik in den Essays der zwanziger Jahre

Die Erkundung eines Allgemeinen und die Kritik autonomer Subjektivität bestimmt Benns Essayistik eines ganzen Jahrzehnts. 1921 unterscheidet er in einem Nachwort zu einer ersten Ausgabe Gesammelter Schriften zwei Denkweisen, von denen die eine vom »Primat des Ganzen« ausgeht, die andere vom »Absolut des Individuellen«, und bekennt: »Ich halte zu der Reihe der Totalen« (11,252). 1931 polemisiert er in der Schrift Irrationalismus und moderne Medizin* gegen die »intellektuelle Clique des Abendlandes«, die Rationalisten oder gar Empiristen, um zu behaupten, dass der Mensch in Wahrheit »etwas ganz Allgemeines hinter einem schemenhaften Ich« sei (III, 169). Er ist sich im Klaren, dass er damit gegen einen historischen Prozess argumentieren muss, in dem sich das Verständnis von Subjektivität änderte. Denn während sich das vormoderne Ich als Sonderfall einer Substanz begreifen konnte, ist das Ich der Gegenwart darauf verwiesen, sich aus der Partizipation an verschiedenen Bereichen der Welt ein Selbstbild zu schaffen und mit Differenzen umzugehen, sie immer wieder auszugleichen und provisorisch zu vereinen, Risse zu flicken. Benn sieht diese Entwicklung und formuliert aus seiner Perspektive: Die eigentlich »metaphysischen Begriffe Individualität und Entwicklung« werden nun in dem »kleinbürgerlichen Sinn des demokratischen Fortschritts« definiert und verwendet (111,62; >Medizinische KriseZur Problematik des Dichterischen*). Ebenso ist der Prozess der Entmythologisierung, der Ansammlung von Wissen, der Depotenzierung ehemaliger Ganzheitsbegriffe nicht einfach zu ignorieren. Die westliche Welt lebt in ihrer Gesellschaftsbegründung »ohne Götter, positivistisch« und gibt sich ihrer »Zersetzungshybris« hin (111,173; Irrationalismus und moderne MedizinEpilogZur Problematik des Dichterischem). Aber natürlich muss er eine solche Grenzerweiterung des Subjekts, eine Durchdringung von Allgemeinem und Besonderem, die Entdeckung einer gemeinsamen Substanz in den verschiedenen Einzelnen auch plausibel machen und begründen. Dies genau ist die Schwierigkeit, die zum Beispiel dann auftritt, wenn Benn als Mediziner auf veränderte, alternativ-ganzheitliche Heilmethoden eingeht, die in den zwanziger Jahren einen starken Aufschwung erlebten. Wenn er in dem Essay >Medizinische Krise< über das Aufkommen der »nicht approbierten Heilmethoden« wie Magnetismus und Mesmerismus spricht (III, 58), dann begrüßt er sie zunächst, weil sie sich gegen die »technisch-industriell« ausgerichtete, Gesundheit mechanistisch verstehende Wissenschaftsmedizin wenden (III, 61). In ihren »totalistischen« (III, 61), sich auf den ganzen Menschen richtenden Methoden sieht er das »Hereinströmen eines neuen seelischen Milieus« in die Gesellschaft. Dieses Milieu sucht nach einem die verschiedenen Teile des Menschen und die spezialisierten Wissenschaften wieder vereinenden »zentralistischen Prinzip«. Die einseitige Ausrichtung auf den Verstand soll damit überwunden, der Mensch auf »das Unbewußte« bezogen werden (III, 62), das die Subjektgrenzen übergreift. Gleichzeitig ist aber bei Benn eine Skepsis gegen die therapeutischen Maßnahmen und Verordnungen dieser Schule spürbar, eine rational-vorsichtige Haltung, die sicher durch seine Ausbildung bedingt ist, deren Geist sich nicht einfach vergessen ließ. So spottet er etwa über die Methode des Iris-Lesens, das nur eine Neuauflage alten Aberglaubens darstelle und sich aus dem »Drängen der Menschheit« ergebe, »das Sein als Totalität auf engem Raum geordnet zu erblicken« (III, 58f.). 27 Eben dieses Drängen, das er so in ironische Distanz rückt, treibt ihn selber um. Ein entsprechender Gegensatz zwischen Ganzheitsvorstellungen und skeptischer, der Vernunft folgender Subjektivität bestimmt den Aufsatz >Irra-

27

D e r a r t i g e W i d e r s p r ü c h e stellt auch eine A r b e i t fest, die Benris Position in die naturphilosophischen Auseinandersetzungen des f r ü h e n 20. J a h r h u n d e r t s einordnet: Tanja Becker: Maschinentheorie oder A u t o n o m i e des Lebendigen? Die literarische A m p l i f i k a t i o n der biologischen Kontroverse u m M e c h a n i z i s m u s und V i t a l i s m u s in zentralen Prosawerken von H a n s Carossa, G o t t f r i e d Benn, Ernst Weiß und T h o m a s M a n n . K ö l n (Diss.) 2 0 0 0 . D e n n bei aller (auch unfairen und verkürzten bzw. sachlich falschen) Kritik an einem mechanistischen Naturverständnis schlägt sich B e n n eben auch nicht auf die Seite der Vitalisten. D i e Verfasserin weist zurecht d a r a u f hin, dass seine Berufstätigkeit als Arzt zeitlebens auf den G r u n d l a g e n der (mechanistischen) Schulmedizin beruhte.

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tionalismus und moderne MedizinMedizinische Krise< nach der Behauptung »neuer innerer Zusammenhänge« (III, 61) auf die »(Psychologie: Typenlehre; Psychiatrie: Psychoanalyse; Kunstwissenschaft)«, und dies auch noch in Klammern (III, 61). Benn stellt die rhetorische Frage, »ob nicht ein zentralistisches Prinzip in kurzer Zeit die moderne Medizin« beherrschen könnte, nennt ganz allgemein »das Unbewußte«, um zum Schluss auf einen alten Begriff zurückzugreifen, mit dem er groß wurde: »Die Schöpfung.« Sie nämlich soll alle naturgeschichtlichen Veränderungen zusammenhalten und ihr werden, gegen den Darwinismus gerichtet, die Eigenschaften des alten unbewegten Bewegers zugesprochen: »Wahrscheinlich steht sie still« (111,62). Solche Mutmaßungen sind bezeichnend für die tastende Suche dieser Phase nach neuen Zusammenhängen. Im Essay >Der A u f b a u der Persönlichkeit spiegelt ein langer Absatz, der sich mit dem menschlichen Geist beschäftigt, genau jene Pluralität der Weltbeschreibung wieder, auf deren Uberwindung Benn doch zielt. Dabei leitet er in einer Aufzählung zahlreiche Teilsätze jeweils mit einem hypothetischen »mag« ein, um dann verschiedene Positionen zum Verhältnis von Geist und Körper wiederzugeben, die schließlich in der grundlegenden und traditionellen Alternative von Materialismus und Metaphysik enden: »Mag« der Geist »als Sublimierung der Lust erscheinen«, »mag« er »bei den Göttern sein« (III, 122) — entschieden wird das so wenig wie zuvor der Status von naturgeschichtlichen Entwicklungen: »halb Kausalität und halb 214

Schöpfung, halb geologische Notwendigkeit und halber A k t der Transzendenz« (III, 122). Selbst wo Benn doch konkreter wird und sich benennend und referierend auf wissenschaftliche Ganzheitslehren bezieht, die in der Tat seit dem frühen 20. Jahrhundert als Alternativmodell auftreten und versuchen, Teilergebnisse der Weltdeutung auf umfassende Prinzipien zu beziehen, 18 stellt dies noch keine Lösung für einen so reflexiven Autor dar. Denn eine wissenschaftliche Alternative ändert, nur weil sie Einheit behauptet, noch nicht die existierende Pluralität und Konkurrenz der Ansätze. Solange man nicht sektiererisch denkt, kann man dies nicht ausblenden, und auch Benn ringt mit dieser Tatsache, wenn er abwehrend erklärt, dass es sich bei einer bestimmten Behauptung nicht um eine »Liebhaberhypothese der psychoanalytischen Schule« handelt (III, 118); denn genau auf diesen Status als eine Schule unter anderen kann die wissenschaftliche Konkurrenz die Psychoanalyse einschränken. Die Pluralität und auch Revidierbarkeit von Erkenntnissen wird nicht von einer Methode oder These außer Kraft gesetzt, die einheitliche und überzeitliche Erkenntnisse gefunden zu haben behauptet. Allenfalls im Rahmen eines epochalen epistemologischen und auch gesellschaftlichen Umbruchs wäre eine derartige Veränderung denkbar, wie Benn sie proklamiert. Problematisch ist zudem die Qualität und Wirkungsbreite der von Benn herangezogenen wissenschaftlichen Hypothesen. Nach Einschätzung von Wissenschaftsgeschichtlern handelt es sich dabei zum großen Teil um Randpositionen mit stark spekulativem und teilweise sogar dubiosem Charakter, der als solcher schon zur damaligen Zeit erkennbar war. 29 Tatsächlich erzählt Benn manchmal Beispielgeschichten aus der Natur, das Verhalten von Hirschkäfern betreffend, um daran die Behauptung anzuschließen, dass im Zusammenhang des Lebens »das innere Prinzip« wirke (III, 169; Irrationalismus

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Diesen K o m p l e x stellt neuerdings dar: A n n e Harrington: Die Suche nach Ganzheit. D i e Geschichte biologisch-psychologischer Ganzheitslehren v o m Kaiserreich bis zur N e w A g e B e w e g u n g . Reinbek bei H a m b u r g 2 0 0 2 . Als haltbar hat sich das f r ü h e Urteil von Wellershoff erwiesen: »Benn zieht nicht aus wissenschaftlichen Fakten einen weltanschaulichen S c h l u ß , sondern er staffiert seine weltanschaulichen Vorurteile, hier seinen Kulturpessimismus, mit wissenschaftlichen Fakten und F o r m e l n aus. E r zitiert, was paßt, macht passend, was oberflächlich zu passen scheint«; Dieter Wellershoff: G o t t f r i e d Benn. P h ä n o t y p dieser Stunde. Eine Studie über den Problemgehalt seines Werkes. K ö l n / B e r l i n 1958, S. 92. Becker: M a s c h i n e n t h e o r i e , bemerkt, dass Benns Kritik an D a r w i n auf einem unzureichenden Verständnis von D a r w i n s T h e o r i e beruht (2i2f.) und dass seine B e h a u p t u n g e n zur G e h i r n s t r u k t u r »keinesfalls den Kenntnisstand der H i r n f o r s c h u n g der ersten Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts« widerspiegeln (218). R ü b e : Provoziertes Leben, hat sich die S c h r i f t e n angesehen, a u f die B e n n sich in seinem A n t i d a r w i n i s m u s b e r u f t und fragt b e k ü m m e r t : » so trüb flössen die Q u e l l e n , aus denen ein größerer Geist Bestätigung schöpfte?« (198). Besonders empört ist er über Semi M e y ers >Probleme der E n t w i c k l u n g des Geistes«, a u f die B e n n wiederholt eingeht: »Bis in sein Spätwerk ist Benn dem Verfasser dieser inkommensurablen, wie ausgegossenes Wasser im Ungewissen sich verlierenden Produktion gefolgt« (199).

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und moderne MedizinDer A u f b a u der Persönlichkeit). A n anderer Stelle universalisiert er Randpositionen zu angeblich allgemein anerkannten (aber offensichtlich unzutreffenden) Einsichten, wenn er erklärt, dass der die Natur verzeitlichende Entwicklungsbegriff »aus der Zoologie und Embryologie eliminiert« sei (III, 85; >Zur Problematik des Dichterischen^. E r weitet Erklärungsweisen der Psychoanalyse zu der Behauptung aus, dass das Ich »zur Libido regrediert« sei (III, 85). Kursorisch zitiert er Ergebnisse der Quantenphysik und folgt damit einer Sitte von Geisteswissenschaftlern, die Negation einiger bis dahin gültiger physikalischer Annahmen und die teilweise Problematisierung universaler Kategorien wie der Kausalität zu feiern — als sei damit ein Sieg für ihre Seite errungen (III, 87). Aber nur weil sich innerhalb einer Wissenschaft Beobachtungen und Ergebnisse einstellen, die mit den gültigen Kategorien nicht zu begreifen sind, bricht ja noch nicht die Vernunft zusammen, lebt kein mythisches Denken wieder auf und kehren auch nicht die Götter zurück. 3 0 Benn geht so vor, dass er wissenschaftliche Entwicklungen als Argumente für die Rücknahme der Differenzierung der modernen Gesellschaft einsetzt, obwohl sie keine wirkliche Beweiskraft in diese Richtung haben. Wenn Soziologen primitive Völker studieren und dort andere gesellschaftliche Strukturen entdecken (III, 113; >Der A u f b a u der Persönlichkeit); wenn die Hirnforschung ihre Annahmen verändert und das Alter einzelner Hirnpartien neu einschätzt; wenn die Medizin den Zusammenhang von Geist und Körper verstärkt betrachten will (III, 114), dann nimmt Benn jeweils sehr eigene Deutungen solcher Entwicklungen vor. D a n n behauptet er, dass wir »die frühen Völker in unserer Seele« tragen und eine »Ichumwandlung« erleben können (III, 118). Er behauptet, dass der für die ratio verantwortliche Teil des Hirns entwicklungsgeschichtlich später entstanden sei und schließt daraus wiederum, dass er weniger wertvoll sei als die Affektbestände (III, 114); dieser Schluss

30

U n f r u c h t b a r in diesem Sinne: H e r m a n n Fischer-Harriehausen: G o t t f r i e d B e n n als W i s senschaftskritiker. Wirkendes W o r t 4 4 (1994), S. 270—278. D e r Verfasser erklärt zunächst, dass B e n n s W i s s e n s c h a f t s k r i t i k nur auf d e m H i n t e r g r u n d seiner N a t u r a u f f a s s u n g und seines Weltbildes zu verstehen sei, ohne zu sehen, dass B e n n mit seinen Essays z u m Teil eines Diskurses w i r d — und ja werden w i l l —, in dem Regeln gelten, die nicht von i h m gesetzt sind. A m Schluss der Ü b e r l e g u n g e n w i r d d a n n die (ebenso unvermeidliche wie unverstandene) Quantentheorie genannt, die »der W i s s e n s c h a f t den Z u g a n g zur M e t a p h y s i k ebnen« könne, »um die Transzendenz der Forschung zu öffnen.« D e r Verlauf der N a t u r w i s s e n s c h a f t im 20. J a h r h u n d e r t habe B e n n s »Imagination« in unvorhersehbarer Weise bestätigt, eine »Metamorphose« des Geistes sei eingetreten und Benn sei »Forschern vom R a n g e Albert E i n steins, M a x Plancks oder Werner Heisenbergs« vergleichbar. Solche globalen Behauptungen, f ü r die es in der Literaturwissenschaft Beispiele genug gibt, beruhen auf einem selektiven Kenntnisstand, sind im G e s p r ä c h mit anderen Wissenschaften nicht vermittelbar, stellen (möglicherweise verständliche) Wunschprojektionen dar.

216

aber ist keineswegs zwangsläufig, sondern geht aus einem rousseauistischen Glauben an die Wahrheit des Ursprünglichen hervor. Dem Körper schließlich, der den Geist umgibt, schreibt er »die Tiefe der Notwendigkeit« zu und unterschiebt dabei dem Begriff der Notwendigkeit einen Zusammenhang, der ihm wiederum nicht zwangsläufig zukommt (III, 95; >Zur Problematik des DichterischenDer A u f b a u der PersönlichkeitZur Problematik des Dichterischen^. Verschweigen kann er aber nicht, dass im Bereich der politischen Organisation irrigerweise noch der Glaube an das frei entscheidende Ich beherrschend sei (III, 85). Die Essays erreichen somit ihr Ziel nicht. Sie kommen über Hinweise auf Tendenzen nicht hinaus, und allenfalls gelingt ein rhetorisches Hinüberspielen in neue Ganzheiten. Vieles wird angeführt, aber gerade diese formale Vielheit dementiert die behauptete neue Einheit, der sich das Ich opfern möchte. Diese Uneindeutigkeit schlägt sich sprachlich in Widersprüchen nieder. Dann werden am Ende eines Essays universale »Wiederholungszwänge« behauptet, die aber unter dem »individuell verhängten Gesetz des Werdens« stattfinden: Das Ich kommt nicht aus seiner Haut. Oder es ist vom »Spiele der Notwendigkeit« die Rede: Das Ich sucht eine die Empirie regierende Wahrheit, weiß aber, dass die Suche und die Setzung aus seiner Freiheit hervorgehen, ein Versuch unter anderen bleiben, eben ein »Spiel«. Und wenn von einem »immanenten Traum« gesprochen wird, dann kollidiert der Wunsch nach einem Status jenseits der Subjektivität (»Traum«) mit dem Wissen, auch in diesem. Wunsch den Bedingungen und Grenzen der Erkenntnis (»immanent«) zu unterliegen (III, 96). Benn verschreibt sich in den zwanziger Jahren noch keiner der Tendenzen, die er erwähnt. Gewollt und ungewollt relativiert er 217

sie wieder. Die Umgrenzungen des Ich fallen nicht. Es bleibt bei Akten der Beschwörung, bei Wünschen und bei der Erinnerung an frühere Zustände vor der Freisetzung des Ich. Solche Erinnerungen an den mythischen Rest der Rasse, wie Benn es nennt (IV, 183), haben aber keine durchschlagende Bedeutung für die Verfasstheit der Gegenwart, aus ihnen geht kein neues großes Gesetz hervor (III, 124). Das Individuum bleibt auf die Selbstorganisation verwiesen und auf das Einstehen für eine eigene Wahrheit, die der Heterogenität abgerungen ist.

5.

Zwischen I m m a n e n z und Allgemeintendenz — Die Gedichte der zwanziger Jahre

Wie in den Essays wird auch in den Gedichten die Einsicht in die Bedingungen des 20. Jahrhunderts und in die Freistellung der Person offen ausgetragen. Auch hier findet eine intensive, andauernde Auseinandersetzung zwischen dieser Einsicht und dem Wunsch nach der Einbindung in ein größeres Ganzes statt. Benn kann lyrisch-pointiert ein Ich beschreiben, das sich nur aus sich selbst heraus legitimieren kann, das sich seine Beschreibung selbst erstellen muss: Schweigende N a c h t . Schweigendes H a u s . Ich aber bin der stillsten Sterne; Ich treibe auch m e i n eignes Licht N o c h in die eigne N a c h t hinaus. (I, 115; >SyntheseBetäubungBananeSieh die Sterne, die Fänge< glaubt der damals Vierzigjährige schon einen »Kreis durchdacht« zu haben und bezieht sich dabei offenkundig auf den Verlust seiner frühen Prägungen und die gegenwärtige Situation einer Abwesenheit großer Weltdeutungen: wenn du die M y t h e n und Worte entleert hast, sollst du gehn, eine neue Götterkohorte wirst du nicht mehr sehn. (I, 204)

Der Begriff der Götter wird hier nicht f ü r überzeitliche Gestalten mit einem eigenen Existenz-Status benutzt, sondern für Setzungen eines Sinns, die nur temporär gültig sind: »Komm, es fallen wie Rosen / Götter und Götter-Spiel« (I, 141; >SchuttLiebeSchöpfung< die evolutionäre Entstehung von Subjektivität und Sprache aus einer vorbewussten Natur sowie die Situation des Subjekts, das seine Verlorenheit in einer nicht begrenzten und nicht zu erfassenden Umgebung zu bewältigen versucht:

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Aus Dschungeln, krokodilverschlammten Six days — wer weiß, wer kennt den Ort —, nach all dem Schluck- und Schreiverdammten: das erste Ich, das erste Wort. Ein Wort, ein Ich, ein Flaum, ein Feuer, ein Fackelblau, ein Sternenstrich woher, wohin — ins Ungeheuer von leerem Raum um Wort, um Ich. (I, 214)

Benn nimmt hier die Position eines heroischen Nihilismus ein, der sich mit Hilfe der Sprache in einer nicht zu begreifenden Welt zu behaupten versucht. Stefan George ist in seiner Entwicklung zu einer vergleichbaren Option gelangt. Auch er konnte aussprechen, dass »Sonne und Sphäre / Pole und Astren« eigene Formen der Herstellung von Ordnung sind (I, 140; >SchuttDu mußt dir alles geben«)

Wird zunächst mit einem kategorischen Appell der Einzelne in seiner Lebensgestaltung auf sich selbst verwiesen und metaphysischer Trost für überholt erklärt, so begibt sich das Ich dann - aus seiner Freiheit heraus - in einen »Bann«, aus dem »Laute« hervorgehen, die nicht selbst-erzeugt sind. Ihnen gegenüber befindet es sich in einer passiv-rezipierenden Position, und genau diesen Übergang von der Selbstgestaltung zur Konfrontation mit einer äußeren Macht, die Sinn herstellt, wiederholt in gesteigerter Form der Gedichtschluss. Zunächst wird das Bekenntnis erneuert, dass sich der Mensch »Alles alleine« gab, um dann, und zwar angesichts des Todes, eine Instanz ins Spiel zu bringen, deren Status ungeklärt bleibt, die aber »Boten« schickt und damit der Leistung der Religion entspricht, Trost im Tod zu stiften: ach, schon lösen sich Glieder und in dein letztes Gesicht steigen Boten hernieder ganz in Rosen und Licht. (I, 216)

So spricht Benn, nachdem er zunächst die Außenwelt als menschliche Gestaltungsleistung verstehen wollte, doch wieder von einer Instanz jenseits des 220

raum-zeitlichen Bereichs. Sie bleibt zwar, wie sich hier schon zeigt, vage, ist aber doch in ihrer Ikonologie — der Bote in Rosen und Licht ist als Engel erkennbar - und in ihrer Leistung an Vorstellungen der christlichen Tradition angelehnt. A u f g r u n d dieser Gespaltenheit kommt es zu zahlreichen intellektuellen Widersprüchen in der Dichtung dieser Phase, die lyrisch gleichzeitig außerordentlich produktiv wirken. So kann das moderne Ich, das sich aus eigener K r a f t »neue Himmel« erschaffen will (I, n6), in einer weit ausholenden Gegenwartsdiagnose zugleich als »abgetakelt« erscheinen (I, 130). So kann die Metaphysik, die einmal, Mustern der Religionskritik folgend, als Kompensation gedeutet wird (»sinnvoll zu machen / Knechtschaft und Qual«, I, 184), gleichzeitig suchend umkreist und beschworen werden als »Reich, wo es zusammenrinnt« (I, 188). Heißt es einmal, dass die Welt als Ganzes nirgends sichtbar wird, nicht zu erfassen ist (»es waren Einzelheiten, / nicht Totalisation«, I, 174), so kann an anderer Stelle gerade das Einzelne als scheinhaft verstanden werden, hinter dem eine wahre Allgemeinheit steht, die sich in allen Phänomenen äußert und die es zu erkennen gilt: man träumt, man geht in Selbstgestaltung aus Selbstentfaltung der Vernunft; man träumte tief: die falsche Schaltung: das Selbst ist Trick, der Geist ist Zunft verlerne dich und jede Stelle, wo du noch eine Heimat siehst, ergieb dich der Levkoienwelle, die sich um Rosenletztes gießt (I, 176; >LevkoienwelleDas Subjekt als kulturelles KonstruktHeimatOrphische ZellenIch< beibringen. Singer sieht darin das Ergebnis einer kulturellen Evolution, die aber nur sehr begrenzt rekonstruierbar ist. 33

F ü r Mysterienkulte interessiert sich die deutsche Kulturgeschichte als Alternativmodell zur klassischen M y t h o l o g i e und als F o r m der Selbstverortung seit den R o m a n t i k e r n ; D i r k von Petersdorff: Mysterienrede. Z u m Selbstverständnis romantischer Intellektueller. T ü b i n g e n 1996. 222

auch nicht in erster Linie stilgeschichtlich brillieren, sondern betrieb in diesen Texten eine unablässige Selbsterkundung, fragte nach den Grundlagen seiner Person. Diese Frage wiederum ist nicht ästhetizistisch zu beantworten, weil diese Person in einer sehr konkreten Umwelt lebte und agierte. Der Begriff der Identität ist eben nicht zu trennen von Lebensgeschichten und von den Zusammenhängen, in denen ein Mensch existiert oder existieren möchte. Die Vermittlung seiner Ganzheitsvorstellungen mit der Umwelt, in die er gestellt ist, gelingt Benn aber in den genannten Versen nicht; wobei es sich bei dem Begriff >gelingen< nicht um ein ästhetisches Urteil handelt, sondern um ein Urteil, das sich aus den Zielen des Autors ergibt. In weiter Entfernung von der Gegenwart bewegt sich auch die Ausmalung von Landschaften, wenn eine »Zermalmung« des Lebens auf der »Insel von Palau« vorgestellt wird (I, 142) oder wenn die Südsee als R a u m erscheint, der von gesellschaftlicher Komplexität verschont bleibt (»Muschelgeld«, »Kanu im Porte«), in dem noch »keine Einzeldinge« existieren (I, I77f.). H i n z u kommt, dass Benn in anderen Gedichten Bilder aus exotischen Gegenden und Mythen ironisiert und auf deren aus zivilisatorisch-aufgeklärter Sicht latent komische Potentiale hinweist. So heißt es im Gedicht >Osterinsel< über »Ure Vaeiko«, der auf seiner »Matte« sitzt: »hühnerfeindliche Ratte / kommt nicht auf seinen Tisch« (I, 199). 34 Ebenfalls in den Prozess der Depotenzierung des Wahrheitsanspruchs durch das ästhetische Spiel werden Bilder der christlichen Tradition gezogen. Das geschieht, wenn sie in den Plural gesetzt und mit Begriffen der Alltagsrealität kombiniert werden. D a n n »wildern« »Kreuze«, dürsten »Pilatusschnauzen«, reißen »Tempeljalousien« und krähen mitternächtlich »Hühnerhöfe« (I, 130). Also bleibt in den Gedichten der zwanziger Jahre das Widerspiel von Ganzheitsbehauptung und skeptischer Analyse bestehen. Im poetologischen Gedicht >Der Sängen wird als Ziel der Literatur das »Vergessen der Spaltung / zwischen ich und du« genannt, wird an eine ursprüngliche Einheit der Individuen appelliert. Gleichzeitig neben dem Integrationsverlangen steht aber die Bezeichnung des Dichters als »Zersprenger / mittels Gehirnprinzip«, wird also die aufklärerisch-analytische Leistung herausgestellt, die tradierte Einheitsvorstellungen gerade auflöst. Deshalb kann der Sänger die Existenz von »Substanzen« behaupten, also von nicht veränderbaren, aus sich selbst heraus bestehenden Realitäten sprechen; er weiß aber gleichzeitig, dass er diese Behauptungen »ins Nichts« vorbringt (I, 180). Womöglich kann daraus ein

34

Z u m Hintergrund des Gedichts vgl. die nachdrückliche Spurensuche E d g a r Lohners: K o m mentar zu G o t t f r i e d Benns G e d i c h t >OsterinselGoethe und die Naturwissenschaften, der im Goethe-Gedenkheft der >Neuen Rundschau< zum 100. Todestag erschien und Benn erhebliche Reputation einbrachte (III, I75ff.). Hier wird Goethe als letzter Vertreter einer noch nicht induktiv-experimentellen Naturbetrachtung dargestellt, in der sich das Subjekt noch als Teil eines größeren sinnerfüllten Zusammenhanges erfährt, mit den Objekten noch verbunden weiß. Erinnert wird an die Naturphilosophie der Zeit um 1800, die Ergebnisse der Wissenschaft als Symbole verstehen wollte, die auf eine ideelle Einheit in oder über der Empirie verweisen; allerdings wird diese Erinnerung nur noch in einer sehr kurzen Passage mit Entwicklungen des 20. Jahrhunderts verbunden (III, I93f.). Daran zeigt sich, dass die Energien Benns, eine nach-positivistische, den ganzen Menschen ansprechende Gesamt-Wissenschaft zu proklamieren und damit auch die Verletzungen seiner Studienjahre zu heilen, schwächer werden. Offenbar sieht er, dass derartige Versuche an mangelnder inhaltlicher Substanz und fehlenden Realisierungsmöglichkeiten leiden. So entwickelt sich seit den dreißiger Jahren die Essayistik von der Naturwissenschaft weg, und auch in den Gedichten findet sich keine Bildlichkeit mit naturphilosophischen Ambitionen mehr. Ganz anders verhält es sich mit dem Impuls, der hinter dieser Wissenschaftskritik steht. Denn das Verlangen, das Auseinanderdriften einer vom Einzelnen nicht mehr zu überschauenden Umwelt zu verhindern, Prinzipien wiederzugewinnen, die das Forschen leiten, und die verschiedenen inneren 227

Vermögen des Menschen zu integrieren, richtet sich ja nicht nur auf und gegen die Wissenschaft. Attackiert wird eine ganze historische Entwicklung.'6 So enthält der Goethe-Essay schon einen größeren Geschichtsdurchgang, der mit der Renaissance einsetzt, zu Kants Trennung von sinnlicher Erfahrung und vernünftiger Erkenntnis springt, um die Französische Revolution als Säkularisierung, als »Verirdischung« der »Triebe« zu bezeichnen. Es folgt eine dichte Kette von Modernisierungsfaktoren des 19. Jahrhunderts. Dazu zählen die Religionskritik von Feuerbach und Strauß (die »zerstörerischsten Bücher« der Epoche), die allgemeine Anhebung des Wohlstandes (»Wirtschaftsaufstieg wucherungsbereiter Stände«), die Durchsetzung des Kapitalismus (»Eingreifen Wallstreets«) und das Entstehen funktionsspezifischer Normen (»Wahrheit für Berufsschichten«) (III,i98ff.). Während die Goethe gewidmeten Passagen keine Fortsetzung finden, aber durch ihre poetische Qualität haften bleiben, durch Naturbilder, in denen die Erinnerung an Benns Kindheit mitschwingt (III, 205), setzt sich das Unbehagen an der Moderne in den folgenden Texten fort. Variiert wird der Versuch, die Mitte der Gesellschaft wieder zu füllen und die Umwelt wieder als stabile, unbewegte Einheit zu erfahren. Ein präzisiertes Moderne-Bild enthält der Essay >Nach dem Nihilismus*, der ebenfalls aus dem Jahr 1932 stammt. Offensichtlich profitiert Benn von der aus verschiedenen Richtungen vorgebrachten außerordentlich intensiven Kritik an der Weimarer Republik, die diesen Staat als Vollzug des Liberalismus in Deutschland attackierte. Ein entsprechendes Geschichtsbild entwirft Benn, wenn er einen historischen Prozess beschreibt, an dessen Ende die Demokratie als Organisation steht, in der die Menschen »gleich wertvoll, gleich stimmfähig« sind (III, 226).37 Voraussetzung einer frei agierenden, nur durch wenige rahmengebende Prinzipien abgesicherten Öffentlichkeit ist die Abschwächung traditionaler Bindungen (für Benn: ihre »Auflösung«); ebenso die Ablösung der politischen Sphäre von Fragen absoluter Wahrheit und die damit verbundene Akzeptanz weltanschaulicher Pluralität (für Benn: »die Zerstörung der Substanz, die Nivellierung aller Werte«, 111,227). Das »Leben der Nation« findet nun nicht mehr in einem geschlossenen geistigen Raum statt, es existieren nicht mehr »ein Glaube, ein Gefühl« jenseits aller historischen

,6

J7

M a n erkennt an den Essays, dass man die Subjekt-Kritik nicht von einer umfassenden Auseinandersetzung mit der Moderne und ihren Prinzipien trennen kann; so noch Silvio Vietta: Gottfried Benns Subjektkritik und sein politischer Fehlschritt. In: Gottfried Benn. 1886-1956. Referate des Essener Colloquiums. Hrsg. von Horst Albert Glaser. 2. Auflage. Frankfurt/Main 1991, S. 223—234. Benns Vernunftkritik, sein Ausspielen einer tieferen Erfahrung — des >Lebensi — gegen den Intellekt, die Vietta analysiert, ist nur ein Aspekt einer Modernekritik, die sehr viel weiter geht. Die Behauptung, dass aus dieser formalen Gleichberechtigung im politischen, juristischen, wirtschaftlichen Bereich auch eine mentale Gleichheit und ein Verbot des Großen hervorgehen, gehört zu den Stereotypen der Zivilisationskritik, die sich offenbar individuelle Größe und Tragik nur in Systemen vorstellen kann, in denen eine zentrale, mächtige Norm herrscht.

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Verwandlungen, und damit verliert auch das Ich, das dieses Setzen und Lösen von Bindungen miterlebt, Haltepunkte, die Sicherheit geben (111,224). Wenn Benn diese Ablösung der Lebensgestaltung von einer Natur der Dinge, die außer uns existiert, von einem »außermenschlichen Sein« (III, 225), korrigieren will, dann argumentiert er nicht in einfacher Weise antimodern, sondern geht mit dem Nihilismus »dialektisch« um (111,229). Über gemeinsame Glaubenssätze lässt sich die einmal pluralisierte Welt nicht mehr verklammern. Die verlorenen Werte sind »verloren«, und das freigesetzte Ich kann seinen Zustand nicht einfach negieren (III, 229). Die historische Neuausrichtung muss deshalb, so heißt es, durch die »konstruktiven Kräfte des Geistes« geschehen. Und weil sie nicht auf der Inhaltsebene möglich ist, soll die Verbindung der Gesellschaft durch die »Form« erfolgen. Benn präsentiert in diesem Essay aus dem Jahr 1932 eine »Metaphysik der Form« als Lösung der Integrationsprobleme moderner Gesellschaften. Wenn er von einer »Absolutheit der Form« spricht und die »Artistik« in die Position der Religion rückt (III, 23of.), dann greift er damit auf Impulse der Kunsttheorie der Goethezeit zurück, die ja ebenfalls eine Antwort auf Modernisierungsprozesse und vor allem auf die Französische Revolution darstellte. Hier hatte man erstmals von der Kunst die Konstruktion einer neuen Mythologie erwartet, ihr die Therapie der differenten Gesellschaft aufgeladen und von einer Heilung des partikularisierten Menschen gesprochen. 38 Deshalb können Kerngedanken dieser Kunsttheorie unter den verwandten, wenn auch verschärften Bedingungen der Modernekritik des 20. Jahrhunderts wieder ins Spiel gebracht werden. Dass Benn wie seine Vorgänger über die Kunst hinaus denkt, einen Brückenschlag von der Ästhetik zur Politik intendiert, deutet der Essay schon an. Denn am Ende werden die Überlegungen zu einer neuen Form mit einer »volkhaften Verpflichtung« verbunden (III,231). Damit zeichnet sich die Richtung von Benns Entwicklung ab; gleichwohl bleibt manches in diesen Überlegungen noch unbestimmt. So ist die Reichweite des Begriffs der Form unklar. Offensichtlich geht es ja nicht nur um die Gestalt neuer Kunstwerke, sondern um eine Durchformung, eine Ästhetisierung der Gesellschaft. Denn wenn »die Form« eine postmetaphysische Verbindlichkeit herstellen soll, muss sie weit über die Bereiche traditioneller Kunstausübung und -Wahrnehmung hinausreichen. Wie aber dieser Universalitätsanspruch umgesetzt werden soll, wie eine entsprechende gesellschaftliche Praxis aussehen könnte, bleibt ungesagt. Dringlich für die besondere Frage der Identität ist ein weiteres Problem, das sich aus Benns Argumentation ergibt.

38

Z u r G e n e s e der goethezeitlichen Kunsttheorie vgl. G e r h a r d Plumpe: Ästhetische K o m m u nikation der M o d e r n e . Opladen 1993. Schon die Ästhetik u m 1800 schlägt sich allerdings mit dem Problem herum, wie aus einer subjektiv gesetzten S i n n b e h a u p t u n g eine objektiv bindende G a n z h e i t werden k a n n , so z u m Beispiel in Friedrich Schlegels >Rede über die M y t h o l o g i e s vgl. dazu D i r k von Petersdorff: Mysterienrede, S. 1 s j f f .

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Denn wenn das Subjekt seine Bindungslosigkeit und seine »Wertverluste« (III, 231) mithilfe seines konstruktiven Geistes überwinden soll, dann muss es sich damit am eigenen Schöpf aus dem Sumpf ziehen. Denn wie soll der Einzelne vergessen, dass jene Form, die aus der Freiheit oder Willkür der Selbstregierung befreit, doch von ihm selbst in dieser Freiheit entworfen ist? Ein solcher Widerspruch mag allenfalls in temporären Rauschzuständen überspielbar sein oder in Form eines Priestertrugs, bei dem die Künstler der Öffentlichkeit etwas vorspielen, was sie selber nicht mehr glauben können. Dieser Widerspruch schlägt sich direkt in Formulierungen des Essays nieder, etwa wenn es vom Geist heißt, dass er »die Genien der eigenen Brust mit den Himmeln und den Höllen weiter Schöpferscharen« mische (III, 223). Über dieses Gemisch aus subjektiver »Brust« und metaphysisch-objektiven »Scharen«, die doch wieder ins Spiel kommen müssen, damit das Konzept Allgemeinheit erhält, wüsste man gern Genaueres. Gleiches gilt, wenn von einer »sich selbst setzenden Idealität« (III, 223) die Rede ist, denn auch darin ist das Verhältnis von Selbstgesetzgebung und vorhandenen, nicht vom Subjekt gesetzten Ideen ungeklärt. Was ist zuerst da, wer regiert in diesem Verhältnis, und bringt das Subjekt etwas Eigenes zum gegebenen Sein hinzu? Zuletzt muss man den Einwand bedenken, dass ein derart elaboriertes Konzept keine Chance einer gesellschaftlichen Umsetzung bot. »Artistik« kann bestenfalls eine Teilöffentlichkeit herstellen und konkurriert mit anderen, abweichenden Formen der Weltdeutung; wer sollte den K a m p f verschiedener Beschreibungen der Welt stillstellen und entscheiden? Dieser Einwand einer mangelnden Praxisnähe lässt sich zumindest gegen Benns letzten Versuch, sich einer übersubjektiven Wahrheit anzuschließen, nicht erheben. 1933 bekennt er sich zum Nationalsozialismus. M a n sollte dies nicht als zufällige Verirrung oder Unfall abtun. Benn war über die politische Situation, über Programme und Ziele informiert und vertritt seine Überzeugung klar und entschieden. 39 Zudem geht er in einigen Bereichen mit seinen Vorstellungen sehr weit und verlässt jeden humanen Grundkonsens, so wenn er offensiv rassen-politische M a ß n a h m e n fordert (III, 237ff.; >ZüchtungGeist und Seele künftiger Geschlechten). Z u

39

Immer wieder sind Benns Stellungnahmen bagatellisiert worden, so zum Beispiel im Vorwort des Bandes: G o t t f r i e d B e n n . 1 8 8 6 - 1 9 5 6 . Hrsg. von Glaser, S. 8. D o r t ist von einem »Mißverständnis« B e n n s die R e d e ; aber auch Missverständnisse sollte m a n deuten. U n b e f r i e d i gend ist auch Dietrich H a r t h , der von einer kurzsichtigen, opportunistischen A n p a s s u n g an die N S - P r o p a g a n d a spricht: Kulturpessimismus. Artistik als O p p o s i t i o n s p r o g r a m m . N e u e R u n d s c h a u 103 (199z). H e f t 4, S. 1 5 3 - 1 7 0 .

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einem vollständigen Bild der Person gehört auch das. Richtig ist allerdings, dass Benn ab 1934 wie auch andere konservative Intellektuelle in zunehmende Distanz zum System gerät, also nicht den voll entwickelten nationalsozialistischen Staat gestützt hat. Aber seine öffentlichen Stellungnahmen und die Angriffe gegen die Emigranten haben als Aussagen eines nicht unbekannten Dichters und Intellektuellen in der ersten Phase nach der Machtergreifung einen Beitrag zur Akzeptanz des neuen Staates geleistet.40 Für den heutigen Betrachter, der weder relativieren noch mit einfachen Verdikten arbeiten, sondern erklären will, ist die Frage wichtig, welche Hoffnungen und Erwartungen Benn auf das neue System richtete und wie er sein bisheriges Selbstverständnis mit dieser Entscheidung in Einklang brachte. Wenn man die Äußerungen dieser Phase liest und besonders die Rede >Der neue Staat und die IntellektuellenAntwort an die literarischen Emigranten< und den Essay >ZüchtungUr-Wort< und den M y t h u s ringend.« A u s dieser Disposition heraus habe B e n n sich d e m N a t i o n a l s o z i a l i s m u s angeschlossen, die politische B e w e g u n g in ihrer Irrationalität als »mythisch« angesehen, ihr eine göttliche »Sendung«, die er so lange vorher ersehnt habe, zugesprochen; C a r l Z u c k m a y e r : G e h e i m r e p o r t . Hrsg. von G u n t h e r Nickel und J o h a n n a Schrön. G ö t t i n g e n 2 0 0 2 , S. 74ff.

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stehen (II, 298). Es lässt sich beobachten, wie er in der Gedankenbewegung zu einer derartigen Analogie gelangt. Im Essay >Züchtung< heißt es über den Führer: »er beruft sich selbst, man kann natürlich auch sagen, er wird berufen, es ist die Stimme aus dem feurigen Busch, der folgt er, dort muß er hin und besehen das große Gesicht« (III, 237). Die Wendung »man kann auch sagen« überspielt die Gegensätzlichkeit der Alternativen: Denn zwischen der Selbsterhebung zur Macht und der Berufung durch eine göttliche Instanz, auf die Benn hinauswill, wenn er Hitler mit dem alttestamentarischen Moses vergleicht, besteht ein nicht zu überspringender Graben. 42 Benn verschleiert dies, weil er das Jahr 1933 als epochale Wende verstehen will, in der ein neuer Mensch auftritt. Dieser begreift sich nicht mehr als Entscheidungen treffendes, frei handelndes Wesen, sondern erfährt »das Elementare, Unausweichliche« (III, 238) von Lebensprozessen, denen er unterliegt. Er wird damit wieder, wie Benn es mit einem ästhetischen Begriff ausdrückt, zu einem »symbolischen« Wesen (III, 238), das als Einzelnes auf ein Ganzes verweist. Die Veränderung von einer auf Grundrechten und einer weiten Autonomiesphäre basierenden politischen Ordnung zum Zwangsstaat erscheint so als großer anthropologischer Umbruch vom »Vernunftwesen« zum »metaphysischen Wesen«, das sich als abhängig von »Ursprung und Natur« begreift. Der Mensch rückt damit aus der Position des Weltgestalters in die Position dessen, der »anschauend, empfangend« lebt, der sich einer wirklichen Wahrheit fügt, die ihm sagt, was er unbedingt denken soll. So erhofft sich Benn eine umfassende Korrektur der Moderne. Denn sie hatte in ihrer gesellschaftlichen Organisation und ihrer Philosophie zunehmend auf Absolutheitsbegriffe wie >NaturSein< und >Geschichte< verzichtet und stattdessen eine, wie Benn es nennt, »funktionale Welt« errichtet (III, 239). In der Trennung von öffentlicher Sphäre und privater Glaubensüberzeugung sieht er eine »Verdrängung des Inhaltes«, eine »Aufgabe der Realität.« Die Gesellschaft mit ihren künstlichen Verfahren existiert losgelöst von der »alten naturhaften« Welt, und genau dieses Gefühl der Losgelöstheit dringt auch in das moderne Ich, das sich seine »Substanz« selber suchen muss, in Konkurrenz zu anderen Substanz-Behauptungen lebt, seine Uberzeugung als eine von vielen möglichen ansehen muss. Diesen Einzelnen will Benn jetzt mit einer Überwindung der Autonomie zunächst im politischen Sektor wieder in Abhängigkeit versetzen, und deshalb deutet er den neuen Staat als das Absolute, dem sich das Individuelle »opfert« (III, 464). Natürlich kann man sich fragen, ob Benn nicht die nationalsozialistische Machtergreifung massiv mit Theorie überfrachtet, ob er nicht mehr über eine Idee spricht als über eine politische Wirklichkeit. Man muss aber bedenken, dass solche Zuschreibungen nicht beliebig möglich sind. Benns

42

2. Mose 3, 2.

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Vorstellungen lassen sich nur mit einem Staat verbinden, der im Gegensatz zum »pluralistischen« »Durchkreuzungsstaat« die Einheit von »Individualität und Kollektivität« zum Prinzip erhebt (III, 237); dies unternahm das Dritte Reich in der Tat in seiner Theorie und seiner Praxis. N u r von einer formierten Gesellschaft ohne ein Nebeneinander von Anschauungen kann Benn die S c h a f f u n g einer »die Stände auflösenden Gemeinschaft« (II, 300) erwarten. Es ist kein Zufall, dass so viele moderne Künstler, wenn sie ihre Ästhetik ins Politische wendeten, sich von totalitären Bewegungen angezogen fühlten. Benns Äußerungen demonstrieren wie die entsprechenden Entscheidungen Brechts und Bechers die Schnittmenge, die zwischen ästhetischer Moderne und politischen Zwangsvorstellungen besteht. Im Zusammenhang solcher Überlegungen verwendet Benn auch den GenieBegriff, wenn er die großen Akteure der Geschichte mit ästhetischen Genies vergleicht (II, 301). Theoretisch ist dies durchaus nachvollziehbar, denn die Erfindung des Genie-Begriffs im späten 18. Jahrhundert hat unter anderem dazu gedient, die Sphäre der Kunst von relativierenden Folgen des Modernisierungsprozesses freizuhalten. Denn das Genie ist eben nicht einfach ein herausragendes Individuum, stellt nicht nur Teile der Welt in besonderer ästhetischer Form dar. In ihm spricht, dem alten Priester vergleichbar, eine übersubjektive Instanz, die >NaturDeutscher Arbeit zur EhreLeid der Gotten - Die Gedichte der Jahre 1 9 3 0 - 3 3

Für die Jahre 1930 bis 1933 verzeichnet die Werkausgabe zwölf Gedichte und das Oratorium >Das Unaufhörlichem Das ist auch für einen Autor wie Benn, der sich nie durch Quantität hervortat, eine geringe Anzahl. In den Jahren

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Hildegard Brenner: Die Kunstpolitik des Nationalsozialismus. Reinbek bei H a m b u r g 1963.

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der Abwendung von der Politik und in der sogenannten Inneren Emigration erhöht sich die Produktion, entstehen jene Gedichte, mit denen Benn nach dem Krieg neue Berühmtheit erlangte (>Einsamer nie -Leid der Gotten ausgesprochen: Wohin können Götter weinen, das Meer nimmt die Tränen nicht auf, sie drohen den Ufern, den Steinen und die Flüsse verlören den Lauf. Wohin könnten Götter klagen, sie haben doch Alles gemacht und können zum Schluss nicht sagen: vertan - verdacht - . Und dann die vielen Stunden, an denen niemand Teil und f ü r die sie nichts gefunden: nicht Form, nicht Formen-heil. Sie sind ja nicht allmächtig, sie ringen einander ab, und sind nicht immer trächtig, sie nehmen Wünsche ins G r a b , sie möchten im Sommer sterben, da stirbt es sich leicht und froh, und müssen im Dunkel verderben schneehin und anderswo, ach, satt der ewigen Quadern, der Broncen nah u. fern, sehn sie die alternden Adern auf ihren Händen gern, denn ihr grosses L a n d heisst Schweigen, bis sie als süßer Wahn von den Säulen niedersteigen, weil andre Zeichen nahn. (I, 249)

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Die Pointe ergibt sich daraus, dass mit den Göttern jene Instanzen, die für Überzeitlichkeit und Vollkommenheit stehen, den Gesetzen und Einschränkungen der Immanenz unterliegen. Dadurch wird ihre Bedeutung verändert, und man könnte sagen, dass sie hier für die Behauptungvon Göttlichkeit stehen. Diese Götter sind das, was bestimmte Menschengruppen zu bestimmten Zeiten für unbezweifelbar und vollkommen halten. Diese Götter »weinen« und »klagen«, finden aber für ihr Leid keinen Trost — eben weil es keine Instanz gibt, die jenseits von Leid und Klage steht und diese wiederum auffangen und mit dem Verweis auf eine andere Welt mit eigenen Gesetzen besänftigen könnte. Diese Götter stehen für das Scheitern von Plänen und Ideen (»vertan — verdacht —.«) und für die Unvollkommenheit des Geschaffenen (»nicht Form, nicht Formen-heil«), Ihre Macht ist eingeschränkt, sie unterliegen äußeren Einflüssen und zeitlicher Begrenztheit. Ebenso befinden sie sich in einer Konkurrenzsituation mit anderen Göttlichkeits- und Vollkommenheitsbehauptungen: Sie »ringen einander ab.« Dies wird vor allem bei großen mentalen Veränderungen, Paradigmenwechseln deutlich, wenn ihre Geltung nachlässt und verfällt. Im Nachhinein erscheinen sie dann als »süsser Wahn.« Bei einer solchen Neuordnung der Weltbeschreibung findet, so formuliert es das Gedicht, ein Wechsel der Bilder auf den Säulen statt oder, wie es in Anlehnung an den linguistic turn des 20. Jahrhunderts heißt, ein Wechsel der »Zeichen«, mit denen die Umwelt beschrieben wird. Womöglich kann man das Gedicht aber noch komplexer lesen. Denn zwar wird ganz zweifellos Transzendenz depotenziert, aber dadurch, dass dies mit dem Begriff der Götter geschieht, wird auch die Möglichkeit einer anderen Welt im Spiel gehalten. Die Götter dieses Gedichtes sind ja sehr plastisch vorhanden, und sie besitzen ein eigenes »Land«, in das sie nach ihrer Tätigkeit eingehen. Womöglich verweist ihre Existenz also auf ein richtiges Bedürfnis nach Transzendenz, deren Abbilder nur jeweils unvollkommen sind. Die Götter würden dann die Ahnung einer anderen Welt, einer Vollkommenheit verkörpern, die aber immer nur vorläufige Gestalt findet. Nur im Wechsel der Zeichen und im Mangel einer endgültigen Formulierung findet sie Ausdruck. Die Unablässigkeit neuer Zeichen würde darauf hinweisen, dass doch etwas zu Bezeichnendes existiert, dass aber alle Bezeichnungen unvollkommen sind und das letzte Geheimnis daher in »Schweigen« gehüllt bleibt. Damit würde das eigenwillige Spannungsverhältnis von Immanenz und Transzendenz, aus dem dieses Gedicht besteht, seine Energie in beide Richtungen entfalten. Im Sinne romantischer Ironie könnte man davon sprechen, dass das Transzendente geläufig gemacht — aber auch das Gewöhnliche, der Meinungswechsel, mit einem »unendlichen Schein« versehen wird.45

45

Novalis. Werke, Tagebücher und Briefe Friedrich von Hardenbergs. Hrsg. von Hans-Joachim Mähl und Richard Samuel, München/Wien 1978, Bd. 2, S. 334. 238

Für die hier interessierende Fragestellung ist es entscheidend, das zweifellos vorhandene Kontingenz- und Vorläufigkeitsverständnis zu demonstrieren, das im Gegensatz zur Tendenz der Essays steht, ein politisches System mit H o f f nung auf Totalität und Absolutheit zu versehen, in ihm einen Ausweg aus der Pluralität (der vielen Götter), der Subjektivität (der ringenden Götter) und der Vorläufigkeit (der abtretenden Götter) zu sehen. Das Kontingenzbewusstsein aber eint die Gedichte, die in dieser Zeit entstehen, wobei sich die Diagnose einer Evolution, eines nicht berechenbaren Ablaufes von Phänomenen ausdrücklich auch auf politische Erscheinungen bezieht: »Ist wo ein Reich, das nicht zum Abgrund kreist«, fragt ein >Choral< von 1931, der die Geschichte an einzelnen Beispielen als ein großes »Wogen« beschreibt, in dem kein leitendes Prinzip erkennbar ist. Der Sinn scheint nur in der Veränderung, im Entstehen und Verschwinden von Erscheinungen, ihrem »Tauschen« zu liegen (I, 238). So vermittelt es auch das zu einer Musik von Paul Hindemith entstandene Oratorium >Das Unaufhörliches das einen einzigen großen Vanitas-Gesang darstellt (I, zzoff.). Darin wird der Wechsel von historischen Gestalten und Ordnungsmodellen besungen, dem im Übrigen auch die Kunst unterliegt. Dieser Wechsel ist nicht zu begreifen, lässt sich nicht mehr im Rahmen einer mythologischen Weltdeutung fassen; deren historischer Verlust erscheint als unabänderlich. Gelegentliche Erinnerungen an frühere zivilisatorische Zustände, zu denen auch Bilder aus Benns Kindheit zählen, mythische Reste, Regressionen ins Vorbewusste ändern nichts an einer Gegenwart, die ohne einen großen Rahmen auskommen muss. Das Bedürfnis nach Stabilität, das ihn selber treibt, ironisiert Benn in der ihm eigenen Weise: »Die Notwendigkeit ruft / und der Z u f a l l antwortet« (I, 235). Festigkeit und darüber hinausgehend Größe sind nur durch die Einsicht in diesen unaufhörlichen Wechsel zu erreichen; nur so lässt sich Distanz zu ihm gewinnen. Schließlich kann, wie es in einem anderen Gedicht heißt, das Durchdenken der Kontingenz sogar zu ihrer Beherrschung in einem mentalen Sinn führen. Wer das Gesetz der Veränderung ganz begriffen hat, steht über ihm (I, 248). Dieser dominierenden Linie stehen einzelne Äußerungen gegenüber, in denen von einem mythenadäquaten Zusammenhang gesprochen wird, in den sich das Ich integriert weiß. Von einem Licht ist die Rede, das »alte Dinge fühlt« — und dann verbinden sich Erinnerungen an historische »Fernen«, an »Völkerheere«, mit Bildern aus Benns Kindheit. Das Ich, das noch nicht sich selbst regieren muss, wird von äußeren Erscheinungen »berührt« und »verführt«, unterliegt einem »Zwang«, ist Teil einer Konstellation, in der »alles nimmt und leise weitergibt« (I, 219). Aber dabei handelt es sich um Sehnsüchte, die fern von einer politischen Realisierung sind. Sie setzen jene Phase fort, in der Benn nach naturphilosophischen und ästhetischen Lösungen der Ich-Problematik suchte. Schließlich finden sich auch einige Gedichte, die zwar kein Bekenntnis zu einer konkreten politischen Formation enthalten, in denen aber versucht wird, 239

das Hintergrundwissen um die Vorläufigkeit aller weltlichen Systeme mit der Möglichkeit eines gesellschaftlichen Engagements zu verbinden. Dazu zählen >Durch jede Stunde —< (I, 242), >Mann —> (I, 246) und >Dennoch die Schwerter halten< (I, 245). Im letzten Gedicht wird zwar das Bewusstsein benannt, dass jede geschichtliche Erscheinung, jede »Stunde der Welt« zerfallen muss und dass der Geschichtsprozess insgesamt keiner Regel unterliegt. Am Schluss aber steht als betonter Gegensatz zu diesem Wissen der Aufruf: »dennoch die Schwerter halten / vor die Stunde der Welt.« Der Begriff der »Schwerter« zeigt, dass es sich um ein entschiedenes, ja aggressives Engagement handelt, das sich als Verteidigung versteht. Man kann hier daran denken, wie Benn das nationalsozialistische Deutschland gegen die politischen und moralischen Angriffe der Emigranten verteidigen zu müssen glaubte. Sehr pointiert findet sich die Verbindung von Zeitlichkeitsbewusstsein und Bekenntnis der Zugehörigkeit auch in der Strophe: »Treue den Reichen / die alles sind / Treue dem Zeichen, / wie schnell es rinnt« (I, 243). Gerade das Bewusstsein einer fehlenden metaphysischen Ordnung begründet das Engagement. Nicht obwohl es nichts Beständiges gibt, sondern gerade weil nichts Überdauerndes existiert, zu dem man sich bekennen könnte, muss man seine Identität aus der Bejahung jener Systeme erzielen, die »alles sind«. Allerdings bleibt auch in diesen Gedichten die bindende und bremsende Reflexivität bestehen. Der Wissende kann sich zwar zu einer Identifikation durchringen, aber muss sich doch gleichzeitig auffordern: »nur nicht fragen, / nur nicht verstehn.« Die eigentlich wirkungsvollen Handlungen werden von anderen vollzogen, die keine Fragen stellen, »die weitergehn«. Benn kann sich auch hier nur zu einem heroischen Nihilismus überreden, im Wissen um die Begrenztheit und Vorläufigkeit allen Handelns. Die alten Sicherheiten sind verloren, das Engagement weiß um die Vergeblichkeit, und daraus geht ein heldenhaftes »Dennoch« hervor, das allein Größe beanspruchen kann: keine Götter mehr zum Bitten keine Mütter mehr als Schoß —, schweige und habe gelitten, sammle dich und sei groß! (I, 246)

Selbst wenn man in diesen Gedichten also den Versuch erkennen kann, ein politisches Engagement zu begründen, so bleiben sie doch weit von der Emphase der Essays entfernt, die das neue Reich gerade mit jenen Hoffnungen ausstatten wollten, denen hier Unerreichbarkeit zugesprochen wird. Die Gedichte beschreiben als abwesend, was die Essays für erfüllt erklären. Dort wurden Äquivalente der Metaphysik geschaffen, erhielt das Ich eine unrevidierbare Stabilität, entstand ein Zusammenhang, der den Erfahrungen der Vormoderne entsprach. Zweifellos dominieren die Essays in dieser Phase: In sie fließt die Energie des Autors, und sie bestimmen sein Bild in der Öffentlichkeit. Aber neben dem gewaltsamen Versuch, den Unsicherheiten der 240

offenen Gesellschaft und den Vorläufigkeiten einer sich selbst regierenden Individualität zu entkommen, wird in den Gedichten eine reflexive, eine Neben-Linie fortgeführt. Diese Fortführung ist sicher eine Bedingung dafür gewesen, dass Benn auch nach der Abwendung vom Nationalsozialismus ohne starken Einbruch weiter produzieren konnte. Die Gedichte der Rückzugszeit, die im Rahmen dieses Buches nicht mehr untersucht werden können, nehmen Denkweisen auf, die in der Lyrik der Jahre 1930 bis 1933 vorhanden sind. Der Nebenstrom wird zum Hauptstrom. Thematisiert wird ein einsames Wissen. Verhandelt wird die Vergeblichkeit von Ordnungsversuchen. Dagegen werden momentane Erfüllungszustände gesetzt. Die Kunst sucht abgelegene Gegenden auf, wird selber zum Schutzraum. Der »Geist«, der sich mit der Politik nicht vereinen ließ, wird zum »Gegenglück« (I, 181). Damit allerdings bleiben die Gedichte der >Inneren Emigration auch dem System verpflichtet, das sie, sei es explizit oder implizit, immer wieder negieren müssen. Der öffentliche Raum und die öffentliche Rede waren besetzt.

8.

>Das sind doch Menschen< - Epilog

Eine vollkommen neue Art von Gedichten, die auch für die Lyrikgeschichte ungemein fruchtbar wurden, entsteht in den fünfziger Jahren, in Benns letzter Lebensphase. Unter den Bedingungen des neuen Staates, in dem Benn nach einigen Irritationen seinen Platz fand, werden die dichotomischen Scheidungen aufgegeben. Die späte Lyrik ist stark mimetisch und nähert sich mit spürbarer Neugier einer zum Leben erwachenden vielfältigen Welt. Sprachlich schlägt sich dies in der gegenüber den zwanziger Jahren noch ausgeweiteten, Fach-, Fremd- und Alltagssprache einbeziehenden Montage nieder. Inhaltlich ist es mit der Rückkehr nach Berlin wieder die Großstadt, die Benn interessiert. Aber anders als früher findet er nun ein befreites Verhältnis zur Stadt. Sie löst keine Schocks, Visionen und Ekstasen mehr aus, ist nicht mehr das radikal Neue, sondern der Normalzustand der Zivilisation. Bedichtet wird nicht mehr die Leichenhalle, sondern die Kneipe. Gleichzeitig behandelt Benn aber in dieser Normalität die großen alten Themen weiter. Der Pastorensohn interessiert sich weiter für die letzten Dinge, aber er trennt diese Fragen von der historischen Diagnose, betreibt keine Geschichts-Schau mehr, bekämpft nicht seine Umwelt und gibt ihr nicht mehr die Schuld an allen möglichen Schwierigkeiten. Der Titel des Gedichtes >Das sind doch Menschen< kann deshalb exemplarisch für das Spätwerk stehen, das nicht mehr verdammt, sondern verstehen möchte. Dabei sind pathetische Aufschwünge nicht ausgeschlossen, findet keine Eingrenzung auf eine sprachliche Normalität oder einen mittleren Tonfall statt:

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Das sind doch Menschen, denkt man, wenn der Kellner an einen Tisch tritt, einen unsichtbaren, Stammtisch oder dergleichen in einer Ecke, das sind doch Zartfühlende, Genüßlinge sicher auch mit Empfindungen und Leid. So allein bist du nicht in deinem Wirrwarr, Unruhe, Zittern, auch da wird Zweifel sein, Zaudern, Unsicherheit, wenn auch in Geschäftsabschlüssen, das Allgemein-Menschliche, zwar in Wirtschaftsformen, auch dort! Unendlich ist der Gram der Herzen und allgemein, aber ob sie je geliebt haben (außerhalb des Bettes) brennend, verzehrt, wüstendurstig nach einem Gaumenpfirsichsaft aus fernem Mund, untergehend, ertrinkend in Unvereinbarkeit der Seelen das weiß man nicht, kann auch den Kellner nicht fragen, der an der Registrierkasse das neue Helle eindrückt, des Bons begierig, um einen Durst zu löschen anderer Art, doch auch von tiefer. (I, 453) Das Gedicht ist gerahmt durch die Bewegungen des Kellners: Der Blick des lyrischen »man« oder »du« folgt seinem G a n g zu einem Tisch, der f ü r den Sitzenden »unsichtbar« ist. Daraus gehen die Gedanken des Mittelteils hervor, ehe dann der Blick wieder auf den Kellner fällt, der inzwischen zur Registrierkasse zurückgekehrt ist. Trotz der scheinbar freien Form, die den wenig kontrollierten, schweifenden Gedankengang eines Kneipengängers abbildet, ist der Text in unaufdringlicher Weise kunstvoll gebaut. Die beiden ersten Strophen bestehen jeweils aus einem langen Satz, die beiden folgenden Strophen stehen im Verhältnis von Neben- und Hauptsatz, wobei der verschachtelte Nebensatz eine gedehnte Frage aufbaut, die in der vierten Strophe einerseits zurückgenommen wird (»das weiß man nicht«), im Schlussvers aber indirekt doch eine Antwort findet. Die langen Sätze sind von Inversionen geprägt und bilden so die allmähliche Verfertigung der inneren Rede ab, was besonders in der zweiten Strophe deutlich wird, die der Unmittelbarkeit einer Gedankenbewegung folgt. Zusammengehalten werden die langen Sätze durch Reihungen und Wiederholungsfiguren (»brennend«, »untergehend«, »ertrinkend«), durch syntaktische Parallelismen (»wenn auch«, »auch dort«) und durch Alliterati242

onen wie in der Reihe von »Unruhe«, »Zittern«, »Zaudern«, »Unsicherheit«. Das Wortmaterial weist die für das Spätwerk charakteristischen reizvollen Spannungen auf, das Gedicht spricht Kneipensprache, aber versetzt mit Anklängen an die Lyriktradition: »Unendlich ist der Gram der Herzen.« Es enthält Wirtschaftsdeutsch (»Geschäftsabschlüsse«) und scheut gleichzeitig vor kühnen Neologismen wie »Gaumenpfirsichsaft« nicht zurück. Die Frage des lyrischen Sprechers ist die nach der psychischen Komplexität, der emotionalen Dynamik, der Tiefe seiner Mitmenschen, und anders als in den bekannten Dichotomien, wo immer schon feststeht, wer dazugehört und wer nicht, wird die Frage hier zunächst einmal gestellt, wird sodann aufgestaut und zuletzt nur vorsichtig andeutend beantwortet, nämlich über die Metaphorik des Wortes »Durst«. Genannt werden der Bierdurst, der Durst nach Geld und der Durst der Liebenden, die alle, wie es im Schlussvers steht, »auch von tiefer« sind. Durst ist Ausdruck eines Verlangens, das Menschen, wie der Titel sagt, zu Menschen macht. So wird eine Art anthropologischer Durst postuliert. Da er aber nicht zu löschen ist, handelt es sich auch um einen transzendenten Durst. Die Romantiker hätten von einem Urdurst gesprochen, dem ein Mangel an Sein zugrunde liegt. So wird die Metaphysik in die Kneipe transformiert. Zart schwingt in der Metaphorik des Gedichtes diese religiöse Tradition mit: In Benns Kneipe sitzen auch die »durstigen Seelen«, von denen in den Psalmen gesprochen wird. 4 6 Und damit schließt sich auch ein Kreis, denn dieser Durst bestimmte Benn seit Verlassen der Kindheitswelt.

46

S o zum Beispiel Psalm 107, 9; zur D u r s t m e t a p h o r i k im N e u e n Testament ζ. B. J o h . 4, [4; 7. 37·

243

V. Johannes R. Becher

ι.

Das leere Herz - Eine Auseinandersetzung mit dem bürgerlichen Freiheitsbegriff

Die Identitätsbildung des modernen Menschen sah Johannes R. Becher vor grundsätzlich verschiedene Möglichkeiten gestellt. In seiner ersten Lebensphase hat er sich mit ihnen bis zur Bedrohung der eigenen Existenz auseinandergesetzt. In einem 1928 erschienenen Artikel, als er schon Stabilität erreicht hat, stellt er diese Optionen einander gegenüber und formuliert zwei verschiedene Begriffe von Persönlichkeit. Den ersten dieser Begriffe, den er der modernen Gesellschaft zuordnet, setzt er in Anführungszeichen, um zu zeigen, dass es in dieser Ordnung eigentlich gar keine Persönlichkeit gibt, sondern der Mensch zur »Hohlheit und Inhaltslosigkeit« verurteilt sei (XV, S. 180—183).1 Das bürgerliche Ich erscheint als kernlos, auf eine sich selbst verzehrende Reflexivität verwiesen, auf ein Gehirn, »das sich zu Ende denkt.« Weiterhin wird ihm eine »künstliche« Aufmachung vorgeworfen, ein Hang, sich wechselnden Stimmungen hinzugeben, und zuletzt eine »geistreiche Verantwortungslosigkeit.« Theoretiker der offenen Gesellschaft würden dem entgegenhalten, dass dieses mit der Verfasstheit des öffentlichen Zusammenlebens von Staatsbürgern gar nichts zu tun habe. Der Einzelne soll sein Herz doch so füllen, wie er es für richtig hält; wie geistreich er ist und ob er sich seinen Stimmungen hingibt, wird die Gesellschaft ihm selbst überlassen. Denn diese Gesellschaft geht vom »Faktum des Pluralismus« aus, 2 von der Existenz einer Vielfalt religiöser, philosophischer und moralischer Uberzeugungen. Dort, wo es solche unterschiedlichen Vorstellungen eines guten und sinnvollen Lebens gibt, kann der Staat nicht ein bestimmtes Konzept des Guten exekutieren, sondern nur ein Regelwerk festlegen, das eine gewaltfreie Behandlung von Konflikten sicherstellt. Damit verlangt diese Ordnung allerdings, die Abwesenheit eines Konsenses in wichtigen, auch das Selbstverständnis betreffenden Angelegenheiten zu akzeptieren und damit zu leben. Genau diese Trennung zwischen dem Pri1

2

Johannes R. Becher wird zitiert nach der Ausgabe: Gesammelte Werke. Hrsg. vom Johannes-R.-Becher-Archiv der Deutschen Akademie der Künste zu Berlin (ab 1973: Hg. vom Johannes-R.-Becher-Archiv der Akademie der Künste der D D R ) . Berlin/Weimar 1966-81 (GW); Band- und Seitenangaben im Haupttext. So eine Formulierung von John Rawls; vgl. zum Folgenden Wolfgang Kersting: John Rawls zur Einführung. Hamburg 2001, besonders S. i86ff.

^45

vaten und dem Öffentlichen, dem Guten - f ü r mich - und dem Recht - für alle — hält Becher für gefährlich und desaströs. In der Welt der Moderne, so schreibt er aus eigenen Erfahrungen, beginnt der Einzelne zu >»rutschenVerfall und Triumph< (1914). Dessen Eingangsgedicht enthält ein Selbstbildnis des Autors: »Der düstere Dichter im gewohnten Straßenkleide / Stelzt durch den heiligen Tag, den Sonne groß entzündet. / Die blonde Muse trippelt zwitschernd ihm zur Seite« (I, 4if.)· Hier zeigt sich erstmals ein Lebensgefühl, das im außerordentlich umfangreichen expressionistischen Werk Bechers in seinen Motiven entfaltet und zunehmend variiert wird. Der scharfe Gegensatz zwischen dem Dichter und seiner Umwelt ist dabei grundlegend. Während sich die Bürger in der Frühjahrsatmosphäre der Stadt offenkundig vergnügen, ist er für die Dunkelheit zuständig, sitzt im »Cafe« und entwickelt dort »Haß und Ekel«. Becher folgt in seinem Dichterbild damit dem im späten 19. Jahrhundert entwickelten Typus des Bohemien, wie ihn Helmut Kreuzer dargestellt hat. Danach definiert sich der Künstler über die Abweichung von den Normen der Zivilisation. Tritt diese Abweichung bei einer genügend großen Z a h l von Individuen in vergleichbarer Weise auf, entsteht ein eigenes Milieu, das sich über bestimmte Orte und durch einen eigenen Habitus auszeichnet. 3 In der Milieubildung und Gegenwartskritik ist ein Aggressionspotential latent vorhanden, das in Bechers Fall von vornherein auftritt: Der Dichter ist mit »Messer« und »Browning« bewaffnet, sinnt nach »Vernichtung« und wünscht sich, dass seine Lieder wie »Bomben« platzen. Diese Gewalt richtet sich gegen eine Gesellschaft und einen historischen Zustand, in dem keine Orientierung möglich ist, der als Labyrinth erscheint. Darin kann sich der Einzelne nicht auf einen Ursprung oder eine Heimat beziehen; er fühlt sich als »Findling«. Weder die Vergangenheit, die ihn »narrt«, bietet Maßstäbe, noch die Z u k u n f t , die nur Verwirrung auslöst und sich nicht zu einem Bild fügt. Dieser Zustand hat verschiedene Impulse zur Folge: Er kann zum Wunsch der Selbstvernichtung führen (»Den spitzen Schädel rennt er in die Mauer«), aber auch unvermittelt in ein Verlangen nach religiöser Sicherheit umschlagen: »Demütig er und knieend flehet Gott um Gnade.« Dabei ist allerdings kein Rückgriff auf die hergebrachte Religion möglich, denn deren Bilder sind von Fäulnis angegriffen. Eine Veränderung der Situation erhofft man sich vor allem von der Dichtung, deren Wort und Schrift als »Blitz« und »Donner« auf die Gegenwart einwirken, sie umgestalten sollen. Und auch diese Aufladung der Dichtung, die, wie Kreuzer feststellt, aus der Tradition des Geniebegriffs und der Kunstreligion stammt, gehört zu den Kennzeichen des Boheme-Milieus. Allerdings wird dies alles vorerst nur in der Phantasie des Einzelnen durchgespielt, dem keine Intersubjektivi-

H e l m u t Kreuzer: Die Boheme. Beiträge zu ihrer Beschreibung. Stuttgart 1968.

247

tat gelingt. Selbst mit seiner M u s e ist er, so sagt das Gedicht, zerstritten und muss sich öffentlich mit ihr herumbalgen. Somit ist das Gedicht >Eingang< von einer starken A b w e h r der zeitgenössischen Umwelt bestimmt. Ausgesprochen wird ein Leiden an der auf sich selbst bezogenen Individualität. Daraus geht die Suche nach einer Wahrheit hervor, die nicht der analytischen Zergliederung unterliegt. Eine entscheidende Rolle dabei wird der Dichtung zugesprochen. U m diesen Komplex genauer zu erfassen, ist es hilfreich, mit dem N e g a t i v u m , also mit der bürgerlichen Gesellschaft, zu beginnen. D e r ihr gegenüber immer wieder ausgesprochene Hass (1,57) richtet sich gegen »Kinos« u n d »Lampionterrassen« (1,225) als Stätten, wo sich die Menschen vergnügen, weitet sich aber auch ins Prinzipielle, wenn Menschentypen aufgezählt werden, deren Verschwinden gewünscht wird: »hinweg über alle Depressionistischen, Zwitterhaften, U n g r e i f b a r e n , Unplastischen, Beschaulichen, Dekadenten, Exzentrischen, Lyrischen, E g o zentrischen, Literarischen, Künstlerischen, Anarchisten, Passiven, M i m o s e n haften, Pazifistischen, Privaten« (I,4C>7f.). Hinter dieser Reihung steckt der A f f e k t gegen ein unentschiedenes, Veränderungen unterliegendes Selbstverständnis, dessen Orientierungen wechseln. D i e Dekadenten, Exzentrischen und Egozentrischen wissen, dass sie sich vor allem auf sich selbst beziehen müssen. D i e Zwitterhaften, Beschaulichen und M i m o s e n h a f t e n wissen, dass das, was sie treiben, nicht das Einzige ist, was sie treiben könnten

— und

genau diesen Z u s t a n d will Becher beenden. D i e Veränderung aber und das Neue, das seine Gedichte fordern, besitzen noch keine Kontur, sondern unterliegen selber jenen kritisierten Schwankungen. D i e Bilder der Z u k u n f t können sich an der Religion orientieren, deren Metaphorik intensiv genutzt wird. Biographisch ist f ü r Becher keine wirklich prägende Glaubenserfahrung bezeugt. D i e Familie war protestantisch, ohne dass dies eine besondere Rolle gespielt hätte. Becher allerdings interessiert sich f ü r das in Bayern herrschende katholische U m f e l d : Ich war der >Katholische< innerhalb der protestantischen Familie, wahrscheinlich aus Protest gegen sie. Die Basilika in ihrem kerzendurchflimmerten Halbdunkel: das anzubetende Geheimnis [...] Und das Klingeln bei der Wandlung und die Weihrauchschwaden - und das gleichzeitige Niedersinken Hunderter von Menschen auf die Knie. (XII, 2i3f.) 4 Das Interesse richtet sich demnach auf eine Atmosphäre, auf Formen der Religion und auf ihre K r a f t , Menschen zu versammeln und zu organisieren. Weil Becher nicht an den Gehalt des Christentums gebunden ist, kann er dessen Vokabular sehr frei benutzen und dabei mit anderen Sprachbereichen amalgamieren. S o findet man zwar eine inbrünstige Erinnerung an eine »Maria 4

Die religiöse Konturierung des Selbstverständnisses zeigt sich auch darin, dass sich Hans Robert Becher »Johannes« nennt, als derjenige, der auf eine kommende große Wahrheit verweist.

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der Jugend«, die als Himmelskönigin angerufen wird (1,31); aber genauso leicht verbindet Becher in wenigen Versen »Gott«, »Palmstrauch«, »Dynamit«, »Gewehr« und »Flöten Sprache« (1,382). Für einen religiös geprägten Menschen wäre es nicht so leicht, die »Dornenkrone« zu zitieren, um sich damit selbst zu erhöhen (1,38), oder den Glauben so direkt mit Hass aufzuladen. Bei Becher aber wird erst »ein Fluch geschleudert« und dann »zur holden Magd« gebetet (1,57). Denkformen der Tradition werden übernommen, ohne dass sie noch mit Inhalten gefüllt wären. So kann ein Du angerufen werden, das die Menschheit als Oblate zu sich nehmen soll, »daß wir zergehen süß in deinem Munde« (1,56) — aber wer damit bezeichnet wird, bleibt offen. So entsteht die für den Expressionismus kennzeichnende Wahrheits-Leerstelle, die umkreist, aber nicht gefüllt wird. Etwas Ahnliches lässt sich von der Thematisierung der Politik sagen. Auch hier ist im Frühwerk von Inhalten noch nicht die Rede, werden aber gleichwohl Vorentscheidungen getroffen. Deutlich wurde bereits, dass die zukünftige Gesellschaft sich von der gegenwärtigen grundlegend unterscheiden muss und dass dies nicht auf dem Weg von Reformen zu erreichen ist. »Fanatisch« soll den »alten hergebrachten Rechten« entgegengewirkt werden und sollen »neue Reiche« errichtet werden, die dann mit »Ekstase« zu verteidigen sind (1,95). Auch wenn diese Reiche noch keiner bestimmten Ideologie folgen, so stehen sie doch deutlich im Zeichen einer mentalen Einheit. Politik besteht nicht darin, das Neben- und Miteinander der Differenzen zu organisieren, sondern soll das Denken und Fühlen der Menschen vereinen. Immer wieder findet man Ganzheitsvisionen: »Versammelnd die Millionen Gefühle.« Diese werden dann zu »strahlenden, zu hochströmenden, elektrisierenden Bündeln« geformt (I, 357).5 In einem der zahllosen Imperative heißt es: »O Brüder ballt euch.« Europa soll als »ein Akkord« tönen (1,198). Dahinter steht die Vorstellung einer ursprünglichen Einheit der Menschheit, einer »Mutterstadt«, aus der die verschiedenen Erdenstädte hervorgegangen sind (1,210). Diese Einheit hat eine zukünftige Politik wiederherzustellen. Aus diesen Vorstellungen geht eine frühe Neigung zu nicht-demokratischen Organisationsformen hervor. Interessant ist in diesem Zusammenhang die Verwendung des Begriffes »Parlament«, der zwar positiv konnotiert ist, aber in Zusammenhängen gebraucht wird, die nicht von Meinungsstreit, sondern von Integration bestimmt sind. So wird er mit der Wendung »Gesänge von Tribünen herab« kombiniert (1,173), ist von einem »Tempel-Parlament« die Rede (1,465) und wird der »Präsident des neuen Parlaments« angerufen (1,219). Da Becher Politik als Formulierung einer gesamtgesellschaftlich gültigen Wahrheit versteht, ergibt sich eine Affinität zu Strukturen, in denen ein zentraler Wille besonders gut exekutiert werden kann, also zu Hierarchien Es fällt schwer, bei dieser V i s i o n nicht an den sogenannten Lichtdom a u f den Nürnberger Reichsparteitagen zu denken. 2

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mit einer Spitzenposition. So kann Becher noch fern vom Kommunismus einen idealen Führer anrufen: »O blanker Führer! Deine Scharen müssen! / Dein Willensgriff zückt heute strahlend sie. / Sonne geballt in deine Faust gerissen« (I, 454). Diese Leitfigur bildet das gesellschaftliche Zentrum und hat die Aufgabe, die Massen zu beherrschen und zu dirigieren. Einer der Lieblingsbegriffe des jungen Becher ist dementsprechend die genannte »Tribüne« (I, 454). Dass diese Herrscherphantasie in der expressionistischen Phase noch nicht gefüllt ist, sondern es um einen Typus geht, zeigt sich, wenn Becher an anderer Stelle in vergleichbarer Weise einen »Schauspieler« idealisiert, dessen Willen die »Völker« folgen (I, 494). Welches Stück einmal gespielt werden soll, ist noch offen. Fest steht allerdings schon, dass Gewaltakte notwendig sein werden. Wenn Becher eine Satzmetapher wie »Es hallelujen Explosionen« bildet (1,132), dann zeigt sich, dass er wie so viele andere Autoren seiner Zeit die Idee eines nicht bezweifelbaren Absoluten mit gesellschaftlichen Auseinandersetzungen kurzschließt. M a n sucht nach einem funktionalen Äquivalent f ü r die Religion der vormodernen Gesellschaft und erklärt deshalb den »Geist Gottes« zum Gegenstand der Politik (I, 102). Die von der Wahrheit abgefallene Moderne muss gewaltsam beseitigt werden: »Und wünschten herbei einen großen Weltkrieg« (I, 76), steht in dem 1914 kurz vor Kriegsausbruch erschienenen Band >Verfall und TriumphGeschichte< handelt oder setzt bestimmte Agenten als Handelnde ein, um ein zentrales >Licht< zu installieren, in dem die differenzierte Moderne vereint daliegt. Kurt Pinthus, einer der Protagonisten der Bewegung, sieht diese apokalyptische Denkfigur, wonach aus der Vernichtung das Heil hervorgeht, nicht zu Unrecht als eine der Klammern der expressionistischen Generation an. 8 Das noch unspezifische Gewaltpotential, das sich im expressionistischen Werk ansammelt, ist jedenfalls beträchtlich. Das sollte man auch im Hinblick auf Bechers spätere Entwicklung und auf seine Funktion als kommunistischer Kulturpolitiker bedenken. Denn häufig wird es ja so dargestellt, als hätten sich in der Entwicklung des 20. Jahrhunderts ursprünglich >reine Ideen< im Zuge ihrer Realisierung und in den Händen von Machtpolitikern pervertiert. Der Fall Becher zeigt dagegen, dass schon die allmähliche Herausbildung der Idee von Gewaltmomenten durchsetzt ist, ja, dass die Idee selber gewalttätig ist, weil sie die Beseitigung der bereits existierenden Pluralität verlangt. Schon im Gedichtband >An Europa< aus dem Jahr 1915 wird »Haß und Haß und nochmals Haß« eingepflanzt und malt sich der Autor im Detail aus, wie die Bürger auf »Lanzen« geheftet werden, dort wie »Zappelkäfer« wirken. Ihre »Rippen-Pfeiler« schwanken, ihre »Geäder ranken«, und sie werden festgeknetet: »Nun auch Zementene ihr« (I, 225f.). M a n kann hier nicht, wie es im Umgang mit dem Expressionismus gern geschieht, von Warnbildern sprechen. Denn der expressionistische Becher warnt nicht vor Gewalt, sondern wünscht sie herbei. Sowohl die Semantik, die zum Kampf gegen das »Gezücht« der Welt aufruft, als auch die Form der Imperative sprechen eine deutliche Sprache: Tilgt aus! Brennt aus! Laßt ihre Mäuler zischen! Ο Engel, reicht das Schwert uns zündend rein: Heran nun: Sippschaft stäubender Granaten! Heran mit Gas=Attaque! Flammenwerfer=Trick! (I, 3 4 9 ) '

Becher besitzt in der Frühzeit neben der Religion und der Politik noch weitere Optionen. So wie zeitweilig Gott angerufen wird, dann ein politischer Führer, kann auch die Dichtung oder ein bestimmter Dichter die Wahrheits-Posi-

V o n d u n g : A p o k a l y p s e , S. 372. Selbst dort, w o der politische Becher später den Weltkrieg anklagend thematisiert, hat dies nichts mit dem Plädoyer f ü r eine möglichst friedliche R e g u l i e r u n g von K o n f l i k t e n zu tun, sondern dient der Auseinandersetzung mit bestimmten gesellschaftlichen G r u p p e n , denen er im N a c h h i n e i n die Schuld an diesem Krieg geben k a n n . Z u r D u r c h s e t z u n g seiner eigenen Vorstellungen hält er, wie noch zu zeigen sein wird, jederzeit einen noch viel größeren K r i e g f ü r gerechtfertigt.

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tion einnehmen. So soll Baudelaire als »schwarzer Engel« die Schritte leiten (I, 50), soll Rimbaud den Menschen »am Führerseil« empor zerren (I, 135), dient Zola als Mittelpunkt einer neuen Ordnung: »Um dich gruppieren sich die Neuen Städte« (I, 292). Es ist wichtig zu sehen, welche Dichter der junge Becher anruft, um seine Gegenwartskritik zu legitimieren. In den Anfängen sind dies neben den genannten Rimbaud und Baudelaire, die allein noch Reste einer verlorenen Wahrheit bewahren, vor allem Kleist und Hölderlin. Damit steht Becher keineswegs allein, denn Kleist und Hölderlin nehmen seit der Jahrhundertwende in einer moderne-kritischen Neuausrichtung der deutschen Literaturgeschichte die Position der von der bürgerlichen Rationalität ins Abseits gedrängten, marginalisierten und damit wahrem Dichter ein. A u f der anderen Seite steht dann, und so auch bei Becher, der einem flachen Humanismus verpflichtete, am H o f lebende, erfolgreiche und spielerische Goethe. 1 0 Becher experimentiert in dieser Phase also auch mit den Denk- und Sprechweisen einer Kunstreligion, die allein in ästhetischen Produkten noch Orientierung findet. Z u dieser Zeit hofft er, später einmal das »Dreigestirn« Rimbaud, Kleist und Baudelaire zu ergänzen und als »Bundesstern« in ihrem Bild zu leuchten (I, 148). Dabei spricht er der Literatur eine enorme gesellschaftliche Bedeutung zu, erhebt sie zum Leitmedium: »Die jungen Dichter stürzen auf jetzt, drängen / Z u m Staat empor« (1,214). Die Literatur erhält die Aufgabe, die dissoziierte Moderne zu »kitten« (1,223). Damit gerät allerdings auch sie in die Atmosphäre von Gewalt, die als notwendig angesehen wird, um den Ist-Zustand zu überwinden. Im Gedicht >Auf eine Zeitschrift, das sich auf Rene Schickeies >Die weißen Blätter« bezieht, wird ein Vokabular wie »Sturmleiter«, »Feuerbeet«, »Dolch«, »schießen«, »dröhnend«, »Marsch« und »Schlacht« benutzt, um die Wirkung der Dichtung zu beschreiben (1,364^). W i e verhält sich nun das Subjekt zu dieser noch unbestimmten, aber intensiv beschworenen künftigen Wahrheit? Erhofft wird eine Stabilisierung der Identität durch die Anbindung an eine externe Macht. Ein Beispiel dafür bildet das frühe Gedicht >Mystisches DaseinDe profundis< enthält die noch religiös begründete Vorstellung, dass der Leib in Blut und Wein »verbraust« (1,93). Im Kontext seiner kunstreligiösen Überlegungen verwendet Becher das Bild eines Insekts, das zum Licht fliegt und sich dort entzündet, um nach seiner Transformation als Stern zu leuchten (1,148)." Metaphern wie die einer »Lawine des Heils« (1,474), die eine undifferenzierte Ganzheit beschwören, findet man an vielen Stellen. Während solche Wendungen aber noch im Rahmen gängiger Topik analysierbar sind, äußert sich an anderen Stellen ein direkter Wunsch nach Vernichtung, der gegenüber der Tradition religiöser Selbstentgrenzung eine neue Qualität gewinnt. Im Gedicht >Die große Stunde< findet man zunächst die bekannte Idee, im Namen einer umfassenden Kraft zu sprechen, ein Leben als »Jünger« zu führen, und dann den Ausruf: »Zerhack mich Messer Strahl, durchzück mich Stoß!« (I,i6i). Das Leiden an der Individuation führt zur Selbstverletzung, zum Wunsch, das »vergängliche« und »verderbliche« Ich abzustreifen (1,407), um zum Teil eines größeren Ganzen zu werden, in eine Masse einzugehen. Wenn oben eine Liste der Menschenformen zitiert worden ist, die nach Bechers Ansicht verschwinden sollen, dann findet man dort im Anschluss auch eine Liste der neuen Menschen: empor mit euch Imperativisten, Expressionisten, Hellstäugigen, Morgendlichen, immer Attackenhaften, Athleten, Ethischen, Repräsentativen, Organisatorischen, Sozialistischen, Unpersönlichen, Totalen, Eindeutigen, Weiblosen, Fabelhaften, den Männern! den Politikern! den Tätern. (1,408)

Deutlich spricht sich diese Aufzählung für ein nicht durch Verschiedenheit ausgezeichnetes Subjekt aus, das sich als Sonderfall einer überpersönlichen Substanz versteht, diese mit Entschiedenheit vertritt und dadurch Eindeutigkeit erlangt. Dieser Mensch soll sich auch praktisch als Teil einer Organisation verstehen, sich nicht von >weiblichen< Gefühlen verunsichern lassen 11

Z u r B e d e u t u n g von solchen Transformationsvorstellungen f ü r Becher:. Michael R o h r w a s ser: T r a n s f o r m a t i o n e n und Identifikationen: J o h a n n e s R . Becher. In: >Nicht allein mit den Worten«. Festschrift f ü r J o a c h i m D y c k zum 6 0 . Geburtstag. Hrsg. von T h o m a s M ü l l e r u.a. Stuttgart 1995, S. 1 3 5 - 1 4 6 . 2

53

und auch äußerlich eine Klarheit und Reinheit erreichen, die in diesem Fall von biologistischen Denkmustern beeinflusst ist. Unter Berufung auf einen solchen zukünftigen Menschen kann dann ein »Ende der Einsamkeit« (I, 407) ausgerufen werden, als die Becher die moderne Selbstbestimmung vor allem wahrgenommen hat.

3.

D a s G e d i c h t »Eingang* (1916) als Beispiel f ü r das expressionistische Wahrheitsgemisch

Eine Zusammenfassung der Denkweisen und Motive des Frühwerks bildet das bekannte Gedicht >Eingang< (I, ij^f.).12 Bechers Gedichtwerk ist außerordentlich umfangreich und weist aufgrund der hohen Produktionsgeschwindigkeit und der enormen Zahl der Veröffentlichungen nur wenige wirklich gelungene und durchformte Texte auf. Bildideen werden entwickelt, umgehend realisiert und von der nächsten Idee überholt. Diese Fülle und Eile des Werkes kann man durchaus als Spiegel der mangelnden Selbstkontrolle, der geringen Festigkeit der Person ansehen. Nicht zufällig ist also das folgende Gedicht immer wieder zitiert worden: Der Dichter meidet strahlende Akkorde. Er stößt durch Tuben, peitscht die Trommel schrill. Er reißt das Volk auf mit gehackten Sätzen. * Ich lerne. Ich bereite vor. Ich übe mich. Wie arbeite ich - hah leidenschaftlich! — Gegen mein noch unplastisches Gesicht —: Falten spanne ich. Die Neue Welt (— eine solche: die alte, die mystische, die Welt der Qual austilgend — ) Zeichne ich, möglichst korrekt, darin ein. Eine besonnte, eine äußerst gegliederte, eine geschliffene Landschaft schwebt mir vor, Eine Insel glückseliger Menschheit. Dazu bedarf es viel. (Das weiß er auch längst sehr wohl.) Ο Trinität des Werks: Erlebnis, Formulierung, Tat. Ich lerne. Bereite vor. Ich übe mich. ... bald werden sich die Sturzwellen meiner Sätze zu einer unerhörten Figur verfügen. Reden. Manifeste. Parlament. Der Experimentairoman. Gesänge von Tribünen herab vorzutragen. Der neue, der heilige Staat Sei gepredigt, dem Blut der Völker, Blut von ihrem Blut, eingeimpft. 12

Der Gedichttitel w i r d von Becher m e h r f a c h benutzt, vgl. das a m A n f a n g des Kapitels analysierte gleichnamige G e d i c h t .

254

Restlos sei er gestaltet. Paradies setzt ein. Laßt uns die Schlagwetter-Atmosphäre verbreiten! Lernt! Vorbereitet! Ü b t euch!

Während ein großer Teil der expressionistischen Dichtung Bechers mit den Bindungen des Reims, der R h y t h m i k und den Vorgaben einer Strophenform arbeitet, schlagen sich hier die Neuerungen und der behauptete Bruch mit der alten Welt auch in einer freien, unregelmäßigen, dem fordernden Gestus entsprechenden Form nieder. Schon das äußere Ungleichmaß der Verse dokumentiert den zerrissenen, ringenden G e d a n k e n g a n g eines Sprechers, der nach eigener Aussage mit Vorbereitungen und Ü b u n g e n beschäftigt ist. Gleichzeitig enthält das G e d i c h t aber eine Reihe von formbildenden u n d verbindenden Elementen, die dem Zukunftsanspruch gerecht werden, der ja auf eine gegliederte Welt hinaus will. D a z u gehört die Rhythmisierung der Sprache, die in subtiler Weise einen Wechsel vollzieht: Alternierende Passagen (»Der Dichter meidet [...]«) lösen sich ab mit frei-rhythmischen, der Prosa angenäherten Partien (»Wie arbeite ich [...]«; »bald werden sich [...]«) und daktylischen Teilen (»Eine besonnte [...]«). Dabei dienen die frei-rhythmischen Teile vor allem der Reflexion, während die alternierenden Abschnitte Bekenntnisse und Forderungen enthalten und im Daktylus utopisch-religiöse Vorstellungen formuliert werden. Ebenso wichtig für die Struktur des Gedichts sind die zahlreichen Wiederholungsfiguren. 1 3 Wiederholt werden Satzformen (»Ich lerne«, »Ich bereite vor«), grammatische Formen wie Imperative und Partizipien (»besonnte«, »gegliederte«, »geschliffene«), aber auch einzelne Wörter (»Blut«). Solche Wortwiederholungen verbinden Gedichtteile miteinander (»sei gepredigt«, »sei er gestaltet«), während Wiederholungen in Variationen das gesamte Gedicht verklammern (»Ich lerne. Ich bereite vor. Ich übe mich«; »Lernt! Vorbereitet! Ü b t euch!«). Rhythmisierend wird das Mittel der Reihung eingesetzt (»Reden. Manifeste. Parlament«), das mit längeren Satzperioden wechselt (»bald werden sich [...]«). S p a n n u n g entsteht aus dem Wechsel der Tonfälle: D a s Gedicht verwendet den hohen, aus der freirhythmischen Tradition bekannten Ton (»Dazu bedarf es viel«), aber auch eine sehr konkrete Gegenwartssprache (»Experimentairoman«). Inhaltlich ist das Gedicht bestimmt durch eine Kombinatorik aus verschiedenen Sprachbereichen und Weltzugängen, die zur Darstellung der Z u k u n f t dient. Verwendet werden dabei Begriffe und Zitate aus der christlichen Tradition: »Blut von ihrem Blut«. M i t dieser Formel wird der neue Staat als Transformation der Abendmahlsgemeinschaft ausgewiesen; er geht aus einer durch die Glaubensüberzeugung verbundenen Gruppe hervor. Allerdings wird D i e s ein Beispiel f ü r die a l l g e m e i n e B e o b a c h t u n g , d a s s die m o d e r n e reimlose Lyrik mit u n r e g e l m ä ß i g e n R h y t h m e n E r s a t z f ü r ihre Formverluste b e n ö t i g t u n d d a s s d a b e i Wiederh o l u n g s f i g u r e n die H a u p t r o l l e spielen.

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die religiöse Tradition variiert und verfremdet. Denn da ein Gott nicht mehr vorhanden ist, kann der zu schaffende Staat nicht von seinem Blut stammen, sondern nur aus dem Blut der Völker, die durch dieses Blut wiederum geheilt werden sollen. Damit gerät die gesamte Wendung ins Zirkuläre: W i e soll das alte und falsche Blut der Völker neu werden? Bedarf es in diesem nach-metaphysischen Denken nicht doch einer Macht, die außen steht, nicht zur alten Menschheit gehört und deshalb eine Transfusion vornehmen kann? M a n kommt einer Antwort näher, wenn man sieht, wie die Abendmahlsformel mit politischem und medizinischem Vokabular verbunden wird. Der heilige Staat, der im christlichen Denken nur als transzendente Vorstellung existiert, wird auf die Erde herabgeholt. Durch die Vokabel des Einimpfens tritt zudem ein Element des Zwangs hinzu. Die Völker lassen sich nicht impfen, sondern ihnen wird etwas »eingeimpft«, in den Körper gesetzt, das diesen verändert. Wiederum bedarf es einer außen stehenden Größe, die diese Aktionen vornimmt. Wer impft? Diese Frage bleibt unbeantwortet; der Expressionist belässt es bei der Forderung (»sei«). Gleichwohl ist hier und in der Idee, das Volk wie einen Boden mit gehackten Sätzen aufzureißen, Gewalt spürbar. Schließlich bildet die Dichtung einen konstitutiven Teil des expressionistischen Wahrheitsgemisches. Durch die Verbindung mit der Politik (»Parlament. Der Experimentairoman«) entsteht ein von Funktionalität und Heteronomie geprägtes Literaturverständnis. Dichtung darf nicht mehr mit »strahlenden Akkorden« erfreuen, von der Realität ablenken, bildet keine eigene Welt, sondern besitzt eine agitatorische Funktion, die sich in der Form der Imperative niederschlägt. Die mit der Moderne autonom gewordene und an ihrer Freiheit leidende Kunst wird wieder an Lebenszusammenhänge gebunden, aus denen sie hervorgeht und auf die sie wiederum einwirkt: Ein »Erlebnis« wird gestaltet, und aus dem gestalteten Produkt geht eine »Tat« hervor. Da es sich um Taten von außerordentlich weitreichender Bedeutung handelt, erhält die Kunst eine religiöse, heilsgeschichtliche Dimension, wird Teil einer »Trinität.« Weiterhin reichert Becher seine Wahrheit mit Versatzstücken der utopischen Tradition an, wenn er von einer »Insel« spricht und einer »besonnten«, »gegliederten« Landschaft, in der ein gemeinschaftliches Glück realisiert wird. Als Agent dieses politisch-religiös-ästhetischen Glücks erhält nun das sprechende Ich seine Identität. Weil es auf diese Zukunft hinarbeitet, erhält es Kontur, überwindet es seinen in der Gegenwart noch ungefestigten Status, gewinnt Plastizität. Die verwendete ungewöhnliche und erstaunliche Bildlichkeit spricht für die labile Ich-Kohärenz, der Becher ausgesetzt ist. Denn nicht nur wird ja der Wille ausgesprochen, gegen das eigene Gesicht anzuarbeiten und es — man muss wohl sagen: chirurgisch — zu verändern. In dieses Gesicht soll auch eine utopische »Neue Welt« eingezeichnet werden. Damit werden die individuellen, besonderen Züge gelöscht und durch ein Allgemeines ersetzt. An dieses Allgemeine wird nicht nur geglaubt, sondern es wird auch körperlich realisiert, am Körper vollzogen. Das bis dahin aufgebaute 25 6

Ich-Bewusstsein muss sehr schwach, die eigene Geschichte fast wertlos sein, wenn m a n das Bedürfnis hat, derart mit der eigenen Physiognomie umzugehen. Auch die Selbstbeschwörungen (»Ich lerne. Bereite vor. Ich übe mich«), der deklamierende Gestus und die Stakkato-Form zeugen von der starken und dringenden Notwendigkeit, Halt zu gewinnen. Dieser Halt soll sich aus dem Bewusstsein ergeben, Teil einer O r d n u n g zu sein, die sich durch eine starke Regelungsdichte und Überschaubarkeit auszeichnet. In den kommunikativen Anrufen des Schlusses wird diese O r d n u n g vorbereitet und antizipiert. Der Dichter ist nicht mehr allein, sondern steht in einer Kampfgemeinschaft. In der Erzeugung einer »Schlagwetter-Atmosphäre« zeichnet sich dabei ein Wille zur Polarisierung und Verschärfung der Gegensätze ab. Ebenso weist die Forderung nach »restloser« Gestaltung auf das spätere Totalitäts-Denken voraus.

4.

Differenz-Erfahrung und Harmonie-Forderung

Die neuere Literaturwissenschaft kennzeichnet den Expressionismus durch das Zusammenspiel von »Ichdissoziation und Menschheitserneuerung.« 1 4 Die Erfahrung einer differenzierten Gesellschaft und der modernen Perspektivenvielfalt schlägt sich in einer parataktischen Gedanken- und Bilderfügung nieder, in einem formalen Nebeneinander. Weil eine übergreifende Ordnungsstruktur und ein allgemeingültiger Bewertungsmaßstab fehlen, werden die Teile autonom, und so zieht, wie es bei Döblin heißt, die »Fülle der Gesichte« a m Subjekt vorüber.' 5 Die sogenannten Simultangedichte entwerfen einen Menschen, der als Durchgangsstadium für Objekte fungiert, die nicht mehr zu vereinheitlichen sind. Die Forschung hat auch auf die konkreten historischen Prozesse hingewiesen, aus denen sich die Freisetzung und U b e r f o r d e r u n g des Subjekts ergibt: auf die Urbanisierung, die Beschleunigung des Alltags durch neue Verkehrstechniken und auf die sich entwickelnden neuen Medien. Ebenso muss m a n aber die allmähliche Demokratisierung der Gesellschaft nennen, aus der ein G e g e n e i n a n d e r von D e u t u n g s k o n z e p t e n hervorgeht; weiterhin die Vermehrung des Wissens und seiner Institutionen. So entsteht die Erfahrung eines Lebens in verschiedenen, nicht integrierten Z u s a m m e n hängen. D e m widersprüchlichen Leben muss das Ich eine je eigene Identität abringen und abgewinnen. Auch Bechers Werk lässt sich formal unter dem Blickwinkel der Vervielfältigung von Ordnungsmustern, der Dezentrierung der Umwelt analysieren. Auch seine Neuheit liegt vor allem in der Bild- und Gedankenverknüpfung, 14 15

Silvio V i e t t a / H a n s - G e o r g Kemper: Expressionismus. 6. A u f l a g e . M ü n c h e n 1997, S. 22. A l f r e d Döblin: Schriften zur Ästhetik, Politik und Literatur. Hrsg. von Erich Kleinschmidt. Freiburg 1989, S. 121 (>An R o m a n a u t o r e n und ihre Kritiker. Berliner P r o g r a m m s 1913).

2

57

wobei er hinsichtlich des Verzichts auf Stringenz, Logik und Diskursivität besonders weit geht. Typisch ist etwa folgende Passage aus dem langen Gedicht >An Europac Nicht Kinos mehr. Geschnitzte Frauen nicht. Lampionterrassen nein. Ο nie —: Arkaden. Kanonenrohrgeweih dem Gott entsticht. Ο nie - in Abends rosener Würze baden. Zu Bajonetten aus sich Schnurrbart flicht. Nein ... wie in Lüften drehn kubische Quadern. (Ein Mörtelrutsch baut ab mein Nachtgesicht, Drin Scheiben blättern ... ) Kameraden! Die Bürger sich zu schwarzem Heer verknoten! Kraut= Quallenrudel auf Asphalten hinkend. Aus Kiefern aufgeklemmte Gebisse blinken. Gesangvereine Hydraköpfe jodeln. (I, 225)

Auf der Mikroebene zeigt sich, was schon für Bechers expressionistisches Werk im Großen galt: Wie dort die Gestaltung der angestrebten Einheit von Ich und Welt in ständiger Veränderung begriffen war, wie einmal Gott, dann die Revolution, aber auch >Der Wald* (I, I32ff.) oder >Lotte< (I, $03ff: >Gedichte um Lottewahre< einheitliche Menschennatur werden die Schranken zwischen den Individuen aufgehoben, wird das Leben nach Prinzipien gestaltet. Deshalb ist die »möglichst weitgespannte Reglementierung des einzelnen durch den Gemeinschaftsgedanken« ein Wesenszug aller Utopie. 58 Dieses Opfer der Bewegungsfreiheit ist für Plessner nicht zu rechtfertigen, weil damit die auf dem G r u n d des Lebens vorhandene »ewige Potentialität« versiegt. 59 M i t dem Einstieg in das überindividuelle Reich der Reinheit wird die Entwicklung der Individuen stillgestellt. In dem Maße, wie der Mensch »an Eindeutigkeit des Habitus, der G e f ü h l e , Willensrichtungen, A f f e k t e , Gedanken und Gesinnungen gewinnt«, verliert er an »Fülle, Spannkraft und Tiefe.« 6 0 So hemmen Utopien die Entwicklungsfähigkeit, lassen die »Quellnatur« versiegen. 61 Plessner bezeichnet die individualisierenden Mächte als »Träger

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Ebd., Ebd., Ebd., Ebd., Ebd., Ebd., Ebd., Ebd.,

282

S. S. S. S. S. S. S. S.

20. 41. 44. 45. 54. 59. 63. 62.

alles Edlen und Zarten, das wir in dieser Welt haben«, 6 2 und die Gesellschaft soll das Notwendige unternehmen, u m diese Triebe in ihrer Empfindlichkeit zu schützen, ihnen Abstand zu ermöglichen. So lässt sich k a u m ein größerer Gegensatz zu Becher denken, als wenn Plessner zur Bewältigung des Lebens einen tänzerischen Geist, »das Ethos der Grazie« empfiehlt. 6 3 Für den Fortgang der deutschen Intellektuellentradition ist es vielleicht doch bezeichnend, dass Becher es im L a u f e seiner politisch-literarischen L a u f b a h n bis zum Minister eines deutschen Teilstaates brachte. Nach seiner Aktivität im Moskauer Exil und seiner Arbeit in der Formierungsphase der D D R wurde er 1954 Minister f ü r Kultur; der Text der N a t i o n a l h y m n e der D D R stammt von ihm. Dagegen war Plessners Buch lange vergriffen und erlebte erst in den neunziger Jahren des 20. Jahrhunderts nach dem auch politisch offenkundigen Ende der Utopien eine neue Auflage. Erst dann wurde, angeregt durch die Rezeption des amerikanischen Pragmatismus, eine Debatte über Individualität unter den B e d i n g u n g e n der M o d e r n e g e f ü h r t , in der D i f f e renzen nicht mehr nur als Durchgangsstadium von einer ursprünglichen zu einer wieder zu erlangenden Einheit ertragen, sondern als Erweiterung von Freiheitsspielräumen verstanden wurden. N o c h bis zum Ende des 20. Jahrhunderts wirkten die Ausläufer der Gemeinschaftsemphase, die Individualität aufgehoben sah in der Verbindung von Menschen, die grundsätzlich, ihrer w a h r e n Natur< nach, gleich sein sollten.

9.

D e r Verlust der ästhetischen A u t o n o m i e

M i t Bechers Individualitätsverständnis eng verbunden sind seine kunsttheoretischen Äußerungen. Traditionelle Künstler leben nach Bechers Verständnis f ü r ihre Ziele, gehören damit aber nicht der »Wahrheit« an (III, 92). D i e Freisetzung von Individualität steht auch in der Kunst nicht f ü r eine E r ö f f n u n g von Möglichkeiten, sondern f ü r eine Verirrung und fehlgehende Vereinzelung. Eine Selbstdefinition des aus der Vereinzelung befreiten Schriftstellers bietet ein Gedicht aus dem J a h r 1925, das kurz nach der Neuorientierung entstand: WARUM SCHREIBE ICH »KOMMUNISTISCH«!? Was ist ein »Kommunistisches« Gedicht!? Es ist das neue, Das namenlose Heldentum, Es ist die schöpferische Anonymität, Gleichzeitigkeit alles Geschehens, Es ist die Verkündigung Der A n k u n f t einer neuen Menschenrasse, 62

Ebd., S. 61. Ebd., S. 80. 283

Es ist Massenschritt, Millionenmassenschritt, Kampf und Gesang sind eins, Es ist die Sichtbarwerdung Einer neuen Menschenordnung, Es ist die unerbittliche Wegbereitung Kommender Geschlechter Erste Signale roter Völker ... Es schlägt eine Brücke Von einem Ufer zum anderen, Es ist ein Ubergang, Es erkämpft sich den Übergang. Es ist Sender, Antenne, Turbine, Streik, Bajonett ... Roter Terror, Tscheka, Bombe.- (II, 379) D a s lyrische Ich tritt in diesem Gedicht nur einmal auf, nämlich im ersten Vers. D a n a c h bekennt sich das Textsubjekt zu einer allgemeinen, gerade nicht besonderen Schreibweise, die auf den Namen als Differenzkriterium verzichtet. Wenn dafür der Begriff des »Heldentums« ins Spiel gebracht wird, also scheinbar doch wieder Personalität, dann ist dieser B e g r i f f so zu verstehen, wie ihn Hegel verwendet hat. D e n n der Mensch als Heros definiert sich nicht gegen das Allgemeine der Gesellschaft und gegen andere Subjekte. Vielmehr findet m a n in ihm die »Substanz des Staatslebens« wieder. Seine Freiheit sucht das Ich des Heros »nur in den allgemeinen Zwecken des Ganzen.« 6 4 Dies ist nach Hegel nur möglich in der mythologisch geeinten, aber eben auch unfreien Welt der griechischen Antike, und einen vergleichbaren Z u s t a n d erhofft sich Becher von der universalen Durchsetzung des Kommunismus. M i t der Formel von der »Gleichzeitigkeit alles Geschehens« wird auch die diachrone Differenzierung beseitigt. Kommunistische Gedichte können, weil sie die E r f ü l l u n g und den Endzustand der Geschichte beschreiben, nicht veralten, und damit ist das schreibende Individuum auch weniger von der Vergänglichkeit bedroht. D i e Begriffe der »Verkündigung« u n d »Ankunft« zeigen, dass H o f f n u n g e n aus der christlichen Tradition weiterwirken.

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Hegel: Werke. B d . 14 (Ästhetik II), S. 2$f. Interessant ist in diesem Z u s a m m e n h a n g auch Bechers R ü c k g r i f f a u f die G a t t u n g des E p o s (>Der große PlanDer M e n s c h , der nicht geschunden wird, wird nicht erzogen.· Johannes R . Becher und die Gewalt des Stalinismus. Weimarer Beiträge 1991. H e f t 5, S. 7 6 4 - 7 7 2 . Becher erhöht im E p o s >Der G r o ß e Plans das d a r a u f zurückgreift, sogar noch die ergangenen Urteile: von 10 Jahren in der Realität auf Todesstrafe. Z u r Begründung heißt es, mit den Verurteilten habe m a n »einen D r e c k abzutun.« Z u m gesamten K o m p l e x auch Rohrwasser: T r a n s f o r m a t i o n e n . Rohrwassers Arbeiten zu Becher sind anregend, so wenn er behauptet, dass Becher in seiner Poetologie ein »universales Zeichensystem« projektiere, in dem die Intellektuellen wieder als »Repräsentanten« eines großen G a n z e n fungieren; D e r W e g nach oben, S. 10. Er geht aber dort zu weit, w o er Bechers Literatur aus ihren historischen Z u s a m m e n h ä n g e n löst und psychologisiert; dann behauptet er, Becher habe sich ein f ü r ihn »funktionales Bild« der S o w j e t u n i o n entworfen; Ders.: J o h a n n e s R . Becher und die »Wiedergeburt'. In: Aliens — Uneingebürgerte. G e r m a n and Austrian Writers in Exile. Hrsg. von Ian Wallace. A m s t e r d a m 1994, S. 35-56. Natürlich projiziert Becher in massiver F o r m eigene W ü n s c h e a u f die Partei, denen nicht i m m e r eine Realität entsprach. A b e r gleichwohl existierte ja das O b j e k t seiner Projektionen, und es erhielt seine Legitimation nicht zuletzt durch derartige W ü n s c h e und Phantasien. Diese Projektionen f ü h r t e n dazu, dass mit dem Verweis a u f die utopische, wenn auch noch nicht erfüllte Potenz der Partei deren sehr reales H a n d e l n in der G e g e n w a r t als vorübergehend notwendig gerechtfertigt wurde.

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Partei aussenden will und ankündigt, sie »auch in ihrem verborgensten Winkel« (II, 377) aufzuspüren. Aus einer solchen Instrumentalisierung geht zwangsläufig eine bestimmte Gestalt der Dichtung hervor. Mit dem Verzicht auf Originalität und Abweichung werden die formalen Mittel reduziert. Besonders in der Phase der ersten Zugehörigkeit zum Kommunismus, in der es um die weltanschauliche Sicherung des Erreichten geht, schreibt Becher in einer nur notdürftig versifizierten Prosa. Die Gedichte lesen sich stellenweise wie Flugblätter oder Aufrufe. Formbildend wirken lediglich der Zeilenbruch und der Einsatz von Wiederholungsfiguren, der allerdings wenig subtil und wenig dosiert gehandhabt wird. Die zitierte Gleichsetzung von Kunst und politischem Kampf muss zu solchen Problemen führen. Denn der Differenzcharakter von Kunst, der damit eingezogen wird, besteht in einer besonderen, von anderen Sprachverwendungen abweichenden Formung der Rede. Wo Kunst sich aber mit anderen gesellschaftlichen Praktiken identifiziert, muss sie notwendig auf Verfahren verzichten, die nur ihr eigen sind — und dann entstehen Flugblätter. In vergleichbarer Weise treten ästhetische Ich-Aussagen zurück, weil auch hier Abweichungen vermieden werden. Ein Subjekt, das Sprachrohr sein will und dies konsequent vollzieht, darf nicht zu oft >Ich< sagen. Becher ist damit und mit entsprechenden theoretischen Überlegungen Teil einer weitreichenden Auseinandersetzung um eine dem Kommunismus angemessene Ästhetik/ 7 Grundsätzlich bestand das Problem, dass der Kommunismus Kunst nicht negierte, sie sogar für notwendig hielt und befördern wollte. Gleichzeitig konnte er der Kunst aber keine genuinen Aufgaben und Rechte zuschreiben, weil damit die Gefahr einer Abweichung von der feststehenden und vorgegebenen Wahrheit der Politik bestand. Die Kunst ist damit zu einem beständigen Balance-Akt gezwungen: Zwischen dem Willen, als Eigenheit, als Kunst hervorzutreten, und der Notwendigkeit, außerästhetische Lehren zu verkünden bzw. zu verdoppeln. In der Entwicklung der sozialistischen Ästhetik wurde mit dem Rückgriff auf >objektiv-klassische< Traditionen ein Weg gefunden, moderne Originalität zu reduzieren, ohne dabei auf ästhetische Formung zu verzichten. Becher hat diese Lösung unterstützt, wobei in seinem Fall besonders der Rückgriff auf das Sonett von Interesse ist. Produktiv wird er allerdings erst außerhalb des hier behandelten Zeitraums. Auch an der Verwendung und Deutung des Sonetts ließe sich der Versuch einer überindividuellen Ordnungsstiftung demonstrieren. Denn hier ist das Textsubjekt in eine nicht von ihm errichtete und nicht veränderbare, bis in Einzelheiten geregelte sprachliche Struktur eingebunden. Dabei ist es kein Zufall, dass auf das Sonett und damit auf eine lyrische Form vor der empha-

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Z u Bechers schwieriger Positionsbestimmung und Abgrenzung Dwars: Abgrund, S.

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tischen Entdeckung moderner Subjektivität zurückgegriffen wird. In dieser Gattung sprach ein repräsentatives Ich, und in dieser Gattung bildeten die Vorbilder, vor allem die Barockautoren, eine kosmologische Ordnung ab: Beides erstrebte unter veränderten Vorzeichen auch Becher. Diese Lösung ist innerhalb der kommunistischen Mythologie plausibler als der Verzicht auf Formgebung in den späten zwanziger Jahren, weil damit die Kunst als spezifisches Medium weiter existiert und gerechtfertigt werden kann. Aus dem vorübergehenden Verzicht auf Autonomie und Formung, aus der direkten Agitation im Gedicht ergibt sich noch ein anderes Problem, nämlich die Reaktion der angegriffenen Ordnung: Gegen Becher wird die Justiz tätig. Der mehrere Jahre sich hinziehende Fall Becher beginnt 1925 mit der auf richterliche Anordnung vollzogenen Beschlagnahmung mehrerer seiner Werke. Im gleichen Jahr wird ein Verfahren gegen ihn eröffnet, wird er festgenommen und für f ü n f Tage inhaftiert. Bei der Haftentlassung wird festgestellt, dass das Verfahren nicht einzustellen sei; zunächst sollen der bisherige Werdegang des Autors geklärt und die weitere Entwicklung seiner Tätigkeit abgewartet werden. Nach der Veröffentlichung des Romans >Levisite< wird 1927 ein Hochverratsverfahren eröffnet. In der Anklageschrift wird Becher unter anderem vorgeworfen: »a) das hochverräterische Unternehmen, die Verfassung des Deutschen Reiches gewaltsam zu ändern, durch Handlungen vorbereitet zu haben, b) an einer staatsfeindlichen Verbindung, die die Bestrebung verfolgt, die verfassungsmäßig festgestellte republikanische Staatsform des Reiches und der Länder zu untergraben, teilgenommen und sie und im Dienste ihrer Bestrebungen Mitglieder mit Rat und Tat unterstützt zu haben, c) öffentlich die verfassungsmäßig festgestellte republikanische Staatsform des Reiches und der Länder beschimpft« zu haben. 68 Bei der Darstellung dieses Verfahrens in der Literaturwissenschaft kann man die eigenwilligsten Formulierungen finden. So spricht etwa Joachim Dyck von Zensur, von der »Verfolgungspraxis der Gerichte« und ihrem »Terror gegen jede sozialpolitisch engagierte Literatur.« 69 Dabei kann man zunächst einmal feststellen, dass die Anklagepunkte zutreffen: Ganz ohne Zweifel will Becher die parlamentarische Demokratie beseitigen, und ganz offen bekennt er sich in seinen Schriften zur Diktatur. Es ist daher auch fragwürdig, wenn sich Bechers Prozess-Anwalt auf die Autonomie und Freiheit der Kunst beruft; denn eben sie hatte Becher ausdrücklich negiert. Befremdlich ist zudem sein

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N a c h der Darstellung und den Zitaten bei J o a c h i m D y c k : Ästhetischer Hochverrat. Johannes R . Becher. In: Schriftsteller vor Gericht. Verfolgte Literatur in vier J a h r h u n d e r t e n . Hrsg. von J ö r g - D i e t e r Kogel. F r a n k f u r t a . M . 1996, S. 171—187. E b d . ; von einem »Verfolgungs-Vorwand« spricht J ü r g e n Haupt: >Dichtkunst und Politik«? Konzeptionen, Konstellationen, Konflikte am Ende der Weimarer Republik (Heinrich M a n n , H o f m a n n s t h a l , Becher, Benn). Heinrich M a n n - J a h r b u c h 12 (1994), S. 4 9 - 6 4 . B u c k : Brecht und Becher, spricht von »angeblicher« G e f ä h r d u n g der R e p u b l i k .

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persönliches Verhalten, wenn er sich von linksliberalen, nicht unbedingt mit ihm übereinstimmenden Autoren mittels einer Petition unterstützen lässt, um nach seiner Freilassung diesen Autoren zu verkünden, dass ihre Liberalität ein zum Untergang verurteilter Trug sei. 70 1928 wird das Verfahren infolge eines Gesetzes beendet, in dem die generelle Einstellung von Strafverfahren gegen Verdächtige mit politischen Beweggründen erklärt wird. Statt Dichtermythen zu wiederholen, nach denen jeder Autor, der vor Gericht steht, gegenüber seinen Anklägern zweifellos im Recht sei und eigentlich über sie Gericht halten müsse, und statt von verfolgten Autoren zu sprechen, kann man in einem solchen Gesetz auch die Hilflosigkeit der Weimarer Republik sehen, mit Kräften, die ihre Grundlagen beseitigen wollten, juristisch konsequent umzugehen. Natürlich war die mangelnde Konsequenz gegenüber rechten Demokratiegegnern politisch folgenreicher. Aber das macht Bechers anti-demokratische Tiraden nicht besser. Seine Angriffe richten sich nicht, wie manchmal behauptet wird, gegen vordemokratische Kontinuitäten in der Weimarer Republik. Sie richten sich nicht einmal konsequent gegen die Nationalsozialisten. Gegen sie hat er weniger einzuwenden als gegen die Liberalen. In einem Gedicht, das einen S A - M a n n anspricht, ist dessen Seele durchaus zu retten, denn er ist aus ehrlicher und wahrer Enttäuschung zur N S D A P gegangen (III, 4i2ff.). E r muss lediglich verstehen, dass auch seine Anführer heimliche Kapitalisten sind, unterliegt aber keineswegs den Invektiven, wie sie gegen die Demokraten gerichtet werden. Erstaunlich sind insofern die Urteile einer Gruppe nachgeborener Literaturwissenschaftler, die einen strikt antidemokratischen Schriftsteller in der Auseinandersetzung mit der Justiz eines demokratischen Staates verteidigen. M a n erkennt, dass die Frage der Identität in vielfältige Zusammenhänge hineinwirkt, in ihnen Bedeutung besitzt. Zwar wird man sich hüten, aus einem bestimmten >einmal festgelegtem Selbstverständnis alle möglichen Lebensorientierungen als >Folgen< abzuleiten. Aber ebenso fragwürdig ist es, Identität als eine Konstruktion zu behandeln, die in einem luftleeren oder allenfalls mentalen R a u m angesiedelt ist. M a n muss von Wechselbeziehungen ausgehen, in denen Fragen der Ich-Definition, politische Entscheidungen, religiöse Orientierungen und sonstige Normen der Lebensführung stehen. A m Beispiel Bechers ist besonders deutlich zu erkennen, wie eng Artikulationen von Verlorenheit, die Empfindung einer Wahrheits-Leerstelle und die schließliche Einbettung des Ich in eine geschichtsphilosophische Metaphysik zusammenhängen. Diese Entscheidung wiederum war mit einer Gesellschaft nicht zu vereinbaren, die sich weigerte, ein weltanschauliches Zentrum zu installieren. Außerdem musste das Ich, das sich als Teil einer großen Erzählung verstand, sich für diese seine Wahrheit engagieren, so dass ein Wechselverhältnis von

70

Dazu Dyck: Schriftsteller vor Gericht, S. 176.

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Theorie und Praxis entsteht. Die auf die Erde herabgeholte Religion, die den Menschen stabilisiert, lokalisiert auch das Falsche und Böse auf der Erde, das nun bekämpft werden muss. Wer sich daran nicht beteiligen würde, wäre wieder aus der Gemeinschaft ausgeschlossen, wäre erneut allein. Solche Zusammenhänge sind es, aus denen die Identitätsfrage ihre lebensgeschichtliche und wissenschaftliche Bedeutung erhält.

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Schluss

ι.

G e m e i n s a m k e i t e n in den untersuchten L e b e n s l ä u f e n u n d D e n k b e w e g u n g e n — M ö g l i c h k e i t e n der A u s w e i t u n g a u f d i e ästhetische M o d e r n e

Beim Nachzeichnen und Analysieren der Lebenswege und Denkbewegungen von Nietzsche, George, Brecht, Benn und Becher haben sich Gemeinsamkeiten ergeben, hat sich eine Verlaufsform herauskonturiert, die auch für das Verständnis weiterer moderner Autoren von Bedeutung sein kann. So gibt es eine frühe Lebensphase, die in einer noch ungeteilten, weltanschaulich fest verfugten, in der Regel religiös bestimmten Welt stattfindet. Stefan George spricht von einem >kindlichen Kalenders der diese Phase strukturiert und wiederum Ausdruck einer als überzeitlich angesehenen Wahrheit ist. Die Prägekraft des Rahmens versteht man, wenn man liest, wie der Pastorensohn Benn mit Gesangbuch und Erntewagen im Land östlich der Oder aufwuchs; oder erstaunt feststellt, dass der junge Brecht ein religiöses Gedicht an das nächste reiht. Deshalb handelt es sich hier auch um mehr als allgemeine kindliche Geborgenheitserfahrungen. Die Autoren werden noch in vormodernen Räumen oder in Milieus groß, die die Relativierungserfahrungen der Moderne noch nicht erreicht haben. Im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert kontrastierten in besonders starker Weise Gesellschaftszustände. Hier existierten nebeneinander Bereiche, die einer außerordentlich zügigen Modernisierung ausgesetzt waren und diese Erfahrung, sei es lustvoll, sei es ängstlich, nicht selten auch überdramatisierten, und Welten, in denen man sich noch wie im alten Europa vor der Französischen Revolution fühlen konnte. Von außen garantierte Normen existierten, und jene Umgebung, in der man aufwuchs, konnte man noch als zusammengehörig, als von leitenden Ideen überwölbt erfahren. In einer zweiten Phase erleben die Autoren den Verlust der ursprünglichen Sicherheit und Eingebundenheit. Hervorgehen kann dies aus einem Ortswechsel und damit verbundenen neuen Erfahrungen oder einfach aus dem Erwachen und Stärker-Werden der Reflexivität und Umweltbeobachtung. M a n findet sich in einer Gesellschaft wieder, der es zunehmend schwerer fällt, gemeinsame Uberzeugungen zu entwickeln, in der unterschiedliche Lebensformen und Denkweisen hart kontrastieren. Statt sich in Glauben und Liebe verbunden zu fühlen, herrscht das Konkurrenzprinzip, werden Individualrechte entwickelt, wird um das Ich ein Autonomiebereich gelegt. 291

Statt einer geteilten Deutung der Empirie und statt eines höheren Sinns findet man ein vielfaches Wissen, das sich auseinander entwickelt, so dass eine Synthese oder idealistische Gesamtdeutung in weite Ferne rückt. An die Stelle des ehemaligen Gefühls, an überdauernden Einrichtungen teil zu haben, tritt die Erfahrung der hohen Veränderungsgeschwindigkeit einer Ordnung, die Mobilität vorgibt, sich für räumliche Verwurzelungen, Familiengeschichten oder früher existierende Standes- und Schichtzugehörigkeiten nicht besonders interessiert. Dass etwas >natürlich< so und so zu sein habe und damit der Auseinandersetzung entzogen ist, lässt sich immer schwerer sagen. Man erlebt die Fliehkräfte der Moderne, bemerkt, dass verschiedene Menschen auf verschiedene Sinnhorizonte zugehen. Diese Entwicklung findet man im Werk aller Autoren wieder. Nietzsche beschreibt das Fraglich-Werden von Gewissheiten, die als unveränderlich galten, als >Tod Gottes< und sieht darin einen lang andauernden Prozess. (In der Tat sieht man auch in gegenwärtigen Auseinandersetzungen um den Begriff des menschlichen Lebens oder um die Menschenwürde, wie schwierig es ist, hier metaphysikfrei zu argumentieren, gerade wenn man daran interessiert ist, moralische Standards aufrechtzuerhalten). Johannes R. Becher gibt in der Fragmentierung und Unverbundenheit seiner Gedichtsprache einen Zustand wieder, in dem Phänomene wie Gesichte an einem Menschen vorbeiziehen, ohne dass man eine Struktur erkennen könnte. In die Haltung des Melancholikers zieht sich Stefan George zurück, gibt dem Gefühl Ausdruck, in einer historischen Herbstzeit zu leben, nur noch gelegentliche Funde einer früheren, sinnerfüllten Zeit bewahren zu können. Benn und Brecht schließlich führen vor, wie neue Erfahrungen das vormals für gültig Gehaltene dementieren: In der modernen Medizin verkörpert der menschliche Leib nichts Höheres mehr, wird er behandelt und seziert, verliert er jedes Geheimnis; und in der Natur, wie sie Brecht schildert, herrscht nur das Werden und Vergehen, wechseln sich Genuss und Untergang ab, ohne dass man darin noch einen Sinn oder Plan erkennen könnte. Wichtig ist nun die dritte Phase, die auf die vormoderne Sicherheit und auf die Verlusterfahrung folgt; diese Phasen sind zwar nicht immer zeitlich strikt abtrennbar, lassen sich aber systematisch erkennen und unterscheiden. In dieser Phase kommt es zu einer Orientierung in der Welt der Moderne. Ihre Bedingungen werden sondiert, und gleichzeitig werden ästhetische Formen entwickelt, die der neuen Lebenssituation entsprechen. Dabei kann es zu einer Bejahung kommen. So schreibt Nietzsche eine Apologie des freigesetzten Menschen, der verschwenderisch Energie ausgeben, auf vielen Saiten spielen kann und sich tänzerisch zwischen den Systemen bewegt. Gottfried Benn entdeckt den Reiz der Montage, des Heterogenen, lässt das Parlando der Urbanen Sprache in die Lyrik fließen. Wie Nietzsche erprobt er die Haltung des Ironikers als mögliche Antwort auf den Erkenntniszweifel und den Perspektivismus. Entsprechend äußert sich bei Brecht eine Freude am unre292

glementierten Leben in der Natur, ein fasziniertes Interesse an den Antagonismen der Großstadt. Das undurchschaubare Gerangel der vielen Kräfte der Gesellschaft gibt er als Lustspiel wieder, das nicht durchschaubar ist. Eine zwar distanzierte, aber nicht antagonistische Haltung nimmt Stefan George dort ein, wo er eine stoische Ataraxie einübt. Dann empfiehlt er seinen Freunden, von den erloschenen Herden der Tradition wegzutreten und sich dem großen Zeitenwandel zu stellen, der rätselhaft über allem steht. Aber bestimmt wird diese Phase im biographischen Muster durch die Suche nach Räumen, Erfahrungen und Institutionen, die die Sicherheit und Eingebundenheit der prämodernen Phase unter den veränderten Bedingungen wiederherstellen. Wichtig ist, dass dies in Augenhöhe mit der Moderne geschieht, deren Gesetze nicht vergessen werden. Die Uberwindung der Moderne wird mit Mitteln angestrebt, die aus ihr selbst hervorgehen. Es ist eine künstlerisch-wissenschaftliche Avantgarde, die George begründet, um in ihr Uberschaubarkeit, Notwendigkeit zu exerzieren, ein in Formen geordnetes Leben zu gestalten. Ebenso ist es eine mit der Lebensphilosophie gedeutete, mit den moralischen Freiheiten der Moderne ausgekostete Natur, die Brecht als Ort der großen Integration gestaltet. Benn beruft sich auf zeitgenössische Entwicklungen der Naturwissenschaft, um eine Uberwindung des Positivismus und der seelenlosen Differenzierung der modernen Wissenschaften zu behaupten. Es sind auch Dichter der Moderne, die Johannes R. Becher in den Rang von Führerfiguren erheben möchte, um der verunsicherten Gegenwart Leitbilder zu geben und Direktiven zu vermitteln. Gleichwohl geht es im Kern um eine Überwindung der Bedingungen der Moderne, denn die freigesetzte, auf sich selbst gestellte Individualität soll wieder eingebunden, an eine starke Wahrheit angeschlossen werden; das Ich soll wieder als besondere Erscheinung einer allgemeinen Substanz gelten. Aus diesem Wunsch geht die bei allen Autoren zu beobachtende Suchbewegung hervor, in der verschiedene Geltungsansprüche erprobt, aber auch wieder fallen gelassen werden. Es zeigt sich jeweils, dass die behauptete neue Klammer die erhofften Leistungen nicht erbringen kann. Was als Wiedervereinigung der Moderne projektiert war, erwies sich als intellektuelle Spekulation, als Hoffnung, die nur in einem kleinen Kreis Gültigkeit besaß, als Idee, die sich mit den bestehenden Formen der Gesellschaft nicht vermitteln ließ. Die von Benn postulierte wissenschaftsgeschichtliche Wende war doch nur das Produkt esoterischen Denkens in einigen Zirkeln und hatte für die Entwicklung des existierenden Wissenschaftssystems und für dessen Institutionen kaum Folgen. Das von Becher auf der Schwäbischen Alb erlebte höhere Bewusstsein, die Gemeinschaft und die Rauschzustände — sie fanden eben nur auf der Schwäbischen Alb statt, während in Berlin alles seinen Weg ging. Der George-Kreis blieb trotz aller Ausstrahlung und Missionserfolge der George-Kreis, und die neue Ordnung, die er in seinen Schriften entwarf, war draußen vor dem Fenster nicht in Ansätzen zu erkennen. Eine 2

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nur ästhetisch-intellektuell stattfindende neue Sicherheit, eine esoterisch bleibende Struktur der Dinge befriedigte die Autoren nicht. Denn bei dem Versuch, der Begrenztheit und Vorläufigkeit zu entkommen, handelt es sich um ein die Existenz betreffendes, die Lebensführung und das gesamte Denken angehendes Problem. Die nicht seltenen Krankheitsgeschichten, die immer wieder bezeugten Ängste zu verschwinden, vernichtet zu werden, oder das Zwangsverhalten in der Lebensgestaltung, das sich in Georges Ritualisierung des Alltags zeigt, bezeugen die Dimension der in der Literatur behandelten, aber nicht in Form von Literatur allein zu klärenden Frage. Daraus wird die Annäherung an oder das Bekenntnis zu politischen Bewegungen verständlich, mit denen die Autoren gemeinsame Ziele zu teilen glaubten. Auch die totalitären politischen Parteien sind ja nicht einfach als antimodern zu charakterisieren, intendierten und realisierten aber, worauf die neuere Geschichtsschreibung hinweist, eine Rücknahme zentraler Bedingungen der Moderne; zu nennen sind die Freiheit des Individuums und die Anerkennung der Meinungsvielheit. Auf diese Umkehr der Moderne richteten sich, wie die Analyse gezeigt hat, die Hoffnungen der Autoren. Sie erwarteten sich von der neuen Politik, die dadurch viel mehr sein sollte als Politik, die Uberwindung der Perspektivenvielfalt und die Sicherung des Ich durch dessen Einbindung in eine Großgruppe, die irgendwann mit der Menschheit zusammenfallen sollte. Der Verlust des Ich an das Totale, die Einziehung der Verschiedenheit, stellt systematisch den Gipfelpunkt in der dritten Phase der Lebensgeschichte dar. Was Nietzsche im Spätwerk abstrakt vorgeführt hatte, wie man das Ich zum Medium einer universalen Kraft erklärt, das realisieren die Autoren mit ihrem Bekenntnis zu einer Bewegung, die die Deutung der Wirklichkeit monopolisiert, die nicht mehr eine Position vertritt, sondern ein großes Gesetz exekutiert. Benn, Brecht und Becher gehen mit unterschiedlicher Dauer und Intensität diesen Weg, während George, der literarisch zuvor Verhältnisse von Macht, Unterordnung und Unterwerfung beschrieben hatte, praktisch Distanz wahrte. Der Brückenschlag zu gesellschaftlichen Gruppen ist von unterschiedlicher Intensität und Dauer. Bei Becher funktioniert er lebenslang. Brecht behält die grundsätzliche Zugehörigkeit zum Kommunismus bei, führt aber gleichzeitig interne Auseinandersetzungen um das angemessene Maß an Freiheit. Benn, der umgehend konkrete Erfahrungen innerhalb eines Herrschaftssystems machte, geriet schnell in Distanz zur Politik. In der weiteren Werkgeschichte ergeben sich dann neue Möglichkeiten des Umgangs mit der Moderne, die allerdings nur an einzelnen Gedichtbeispielen angedeutet werden konnten. Es kommt zu einer Öffnung für Erfahrungen der Kontingenz, die nicht mehr nur als Bedrohung, sondern in ihrer Unvorhersehbarkeit und Nicht-Steuerbarkeit auch als Glück erlebt werden. Man bemerkt, dass es in der Moderne keineswegs verboten ist, nach letzten Dingen zu fragen und dass sich diese Fragen sogar in einer ästhetisch neuartigen und fruchtbaren Verbindung mit 294

der Sprache der Umwelt stellen lassen. Die Reden der Kneipengänger finden Eingang in das Gedicht, und die Moderne wird entdramatisiert, wenn man sieht, dass sie weder für sämtliche Probleme verantwortlich ist noch auf alle Lebensbereiche gleichdurchschlagende Folgen hat. Weiterhin lassen sich, so zeigt George es in seinem letzten Gedichtband, Lieder singen; man begegnet schönen Menschen, und auch die Welträtsel bestehen fort. A n die Stelle des Furors können Milde und Gelassenheit treten. Insgesamt ergibt sich also ein biographisch-werkgeschichtliches Verlaufsmuster, das aus einer ersten Phase prämoderner Sicherheits- und Integrationserfahrungen, einer zweiten Phase der Erschütterung und des Verlustes dieser Sicherheit und einer dritten Phase der Sondierung der Bedingungen der Moderne besteht; hier kommt es zu einer Entwicklung neuer ästhetischer Redeweisen, zu einem Sich-Einfinden und Bejahen der neuen Bewegungsmöglichkeit, vor allem aber zum Versuch, in und über die Moderne hinaus die ursprüngliche Einheits- und Ganzheitserfahrung in neuer Form wiederzugewinnen. Es stellt sich die Frage, ob man dieses Muster einer Verlusterfahrung, einer Suchbewegung und einer Behauptung neuer Einbindung nicht auch auf andere Autoren im Rahmen der Großepoche Moderne anwenden kann. Diese Vergleichsmöglichkeit ergibt sich, weil Modernisierung einen lang andauernden Prozess darstellt, in dem die Erschütterung von als natürlich und überzeitlich angesehenen Glaubenssätzen und die Eröffnung neuer Lebensräume sich in Etappen, in aufeinander folgenden Wellen vollzieht. Bei den Autoren des frühen 20. Jahrhunderts tritt ein Nebeneinander auf: Sie entwickeln Redeweisen, die zu den Lebensformen der Moderne gehören, und geben gleichzeitig dem Verlangen nach einer anders strukturierten Welt Ausdruck. Dieses Nebeneinander ist in der Literatur der Romantik in ähnlicher Weise aufgetreten. Auch die Romantik ist ja Teil eines großen Modernisierungsschubes. U m 1800 wurden in der Literatur bereits die Differenzierungsprozesse der Gesellschaft reflektiert. Die Autoren setzten sich mit der philosophischen Religionskritik und mit der Bibelkritik auseinander. Mit der Erkenntniskritik Kants wird der Begriff einer übersubjektiven und nicht perspektiv-gebundenen Wahrheit zum Problem. Die Französische Revolution bewies die Möglichkeit, eine Gesellschaft nach eigenen Vorstellungen zu konstruieren. Z u solchen und anderen Moderne-Erfahrungen gehört die romantische Ästhetik: Sie entwickelt mit der Ironie eine dem Erkenntniszweifel und der Pluralität der Moderne entsprechende Redeweise. Das romantische Fragment gehört zu dem Partikularisierungs- und Vorläufigkeitsbewusstsein, das der Moderne inhärent ist. Die romantische Bildform der Allegorie entspricht dem Wissen um den Konstruktcharakter von Bedeutungen und Institutionen. Damit kommt es in den Jahren vor und um 1800 zu einer ästhetischen Modernitätsemphase, die aber begleitet wird von einer Suche nach Letztgültigkeiten. Aus der Romantik geht auch eine Geschichtsphilosophie hervor, 295

die die Moderne als differentes Durchgangsstadium auf dem Weg zu einer neuen Einheit begreift, und geht eine Naturphilosophie hervor, mit der die Empirie als Organ eines Absoluten verstanden wird. Friedrich Schlegel, der mit Spott und Witz um sich warf, den Zweifel und die Vorläufigkeit lehrte, träumte gleichzeitig von einer neuen Mythologie. Schließlich nähern sich die Protagonisten der romantischen Bewegung nach 1800, darin systematisch den Autoren des 20. Jahrhunderts vergleichbar, bestehenden gesellschaftlichen Bewegungen und Einrichtungen an, von denen sie sich eine mentale Wiedervereinigung der dissoziierten Gesellschaft erhofften. Dies sind die gegen Napoleon gerichtete nationale Bewegung, für die Kleist, Fichte, Brentano und Eichendorff Schriften lieferten, sowie die katholische Kirche, zu der Friedrich Schlegel konvertierte, Eichendorff und Brentano zurückfanden. Auch diese Bekenntnisse entbanden aber nicht, und auch das entspricht den Ergebnissen des 20. Jahrhunderts, von weiter vorhandenen inneren und äußeren Auseinandersetzungen. Die Freiheit hatte sich schon eingenistet und meldete sich immer wieder zu Wort. Der große Rahmen der Moderne bietet also die Möglichkeit, wiederkehrende Entwicklungen als vergleichbare Antworten auf eine Problemstellung zu verstehen, auf eine Konstellation, die sich zwar im historischen Verlauf verschiebt, aber im Wesentlichen doch erhalten bleibt. Dabei ist es kein Zufall, dass der hier angedeutete Vergleich mit der Zeit um 1800 und dem frühen 20. Jahrhundert Phasen trifft, in denen die Modernisierung wellenartig verlief, das Verstörungs- und Erregungspotential dementsprechend groß war. Ein derartiger Vergleich soll nicht Differenzen verwischen, die ebenso zu benennen sind. Auch wenn sich systematisch Gemeinsamkeiten in dem Wunsch nach einer Retotalisierung ergeben, ist es doch ein erheblicher Unterschied, ob man wie Eichendorff die Dichtung auf das Fundament eines religiösen Sinns setzen möchte oder, wie es dann im 20. Jahrhundert geschieht, von Gewaltmaßnahmen träumt, um eine große Uberschaubarkeit wiederherzustellen. Aber bei allen Differenzen scheint es doch möglich zu sein, das oben beschriebene Muster in den Lebens- und Werkgeschichten vieler moderner Autoren zu erkennen. Ein solches Muster schärft wiederum den Blick für Abweichungen. In der Romantik könnte man auf Heine verweisen, der zwar die Einheitssehnsüchte kannte, das Individuelle aber immer wieder gegen sie ansprechen ließ. Im 20. Jahrhundert könnte man auf Thomas Mann verweisen, der die Zivilisationskritik und ihre Wünsche teilte, aber den Intellekt und die Bindung an das Leben gegen diese Wünsche mobilisierte.

296

2.

Neuorientierungen im K a n o n

Welche Bedeutung können die genannten Ergebnisse f ü r die Gegenwart haben? Sie sind in der gegenwärtigen Literaturwissenschaft f ü r die Frage der Kanonbildung von Interesse, und sie betreffen in der gegenwärtigen ästhetischen Theorie die Frage nach der Fortsetzungsfähigkeit grundlegender Annahmen der Moderne. Der Begriff des Kanons besagt, dass sich eine Gesellschaft auf eine Gruppe von Werken aus der literarischen Tradition festlegt, denen sie eine besondere Bedeutung zumisst, die sie als erinnerungswürdig ansieht. Diese Werke verwendet sie zu ihrer Selbstverständigung und zur ästhetischen Sozialisation. Dabei spielt die Frage der literarischen Qualität eine entscheidende Rolle, ebenso aber Gemeinsamkeiten, die zwischen diesen Texten und der Gegenwart bestehen. M a n möchte in diesen Texten — aus der Distanz — etwas über sich selbst erfahren, möchte sich — in veränderter Gestalt — wiedererkennen. Dem Kanon liegt also ein Bedürfnis nach Identifikation zugrunde. Es verhält sich hier wie in der privaten Lektüre: Bei aller Bedeutung der Infragestellung und der Kritik möchte man doch mit einem Werk übereinstimmen, seine Weltbetrachtung und seine Empfindungen teilen. (Das gilt im Übrigen ja auch für die Freunde der kritischen Weltbetrachtung: Sie lesen am liebsten Werke, in denen sie ihre skeptischen Urteile über die Einrichtung der Welt wiederfinden.) Das Bedürfnis nach Identifikation ist legitim, und eine Literaturwissenschaft, die sich der Aufgabe verweigert, Werke zu benennen, zu vermitteln und zu erklären, die die Gesellschaft als wichtig für ihr Selbstverständnis ansieht, muss auf Dauer in Rechtfertigungsprobleme geraten. A n dieser Stelle treten Probleme mit der literarischen Moderne auf, die in den Analysen deutlich wurden. Denn es hat sich gezeigt, dass die Autoren einerseits die Identitätsbedingungen des 20. Jahrhunderts, das Ringen der vielen Götter und das Leben einer Misch-Existenz, scharf reflektieren. D a diese Bedingungen im Wesentlichen noch fortbestehen, existiert hier eine Schnittmenge mit der Gegenwart, die die Beschäftigung mit dieser Literatur auch zur Selbsterkundung werden lässt. M a n erfährt, wenn man dem lyrischen Ich Brechts und Bechers, Benns und Georges folgt, etwas über sich selbst, über die eigene Situation, versteht Möglichkeiten und Gefahren besser. Andererseits aber, und darin liegt das Problem, verhalten sich die Autoren eben überwiegend antagonistisch zu den Bedingungen freigesetzter Individualität. Sie sehen scharf und überscharf die Gefahren der Dissoziation, des Heimatverlustes, aber nur in kurzen Phasen und manchen Werken die Leistung der Befreiung: aus der Enge von Häusern und Heimaten, die den Einzelnen festhalten, Potentiale unterdrücken, ihn beschneiden. Sie reden viel über die verlorene Einheit, aber nur gelegentlich von der Erweiterung des Ich und von Wegen, die man nun erst gehen kann.

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Das problematische Verhältnis von gesellschaftlicher und ästhetischer Moderne hat sich noch bis ins späte 20. Jahrhundert erhalten. Noch der Zusammenbruch der D D R und der Zerfall des Sozialismus im Jahr 1989 sind, wie neuere Untersuchungen zeigen, von der literarischen Intelligenz vor allem mit einem großen Lamento, mit einer Klage über den Objektivitätsverlust begleitet worden. Man wollte weiter an die Idee glauben, dass der Dichter »im Namen verbindlicher Wahrheit und universeller Werte für alle und zu allen« spreche; an die Idee eines Textes, in dem alle repräsentiert sind.1 Das Jahr 1989 aber stellt trotz aller Kontinuitäten auch für die Literatur und die Beschäftigung mit ihr ein Wendejahr dar. Denn mit dem Ende des Sozialismus ist das letzte politisch und intellektuell relevante Gegenmodell zur liberalen Gesellschaft verschwunden. Diese Gesellschaft, die sich auf die Sicherung von individuellen Entfaltungsmöglichkeiten beschränkt, hat sich durchgesetzt, und damit ist weder die Geschichte zu Ende gegangen noch das Goldene Zeitalter eingetreten, aber doch eine Situation, in der die Gegenmodelle zur offenen Gesellschaft, die von vielen Autoren der Moderne vertreten worden sind, ihre Relevanz eingebüßt haben. Für die Nachkommenden, die in die Welt freigesetzter, unabgesicherter Individualität schon selbstverständlich hineinwachsen und den Leidensdruck dieser Bedingungen als begrenzt empfinden, wird es immer schwieriger, die Invektiven vieler Texte und ihre Flucht in manchmal seltsame Gegenwelten zu verstehen. Ein großer Strom der ästhetischen Moderne bietet also nur noch begrenzte Identifikationsmöglichkeiten, weil er Inhalte mittransportiert, die schwer verständlich und auf die Gegenwart nicht mehr anwendbar sind. An verschiedenen Stellen zeigt sich, dass die Literaturgeschichtsschreibung von den entsprechenden Unsicherheiten und Umorientierungen erfasst wird. Ein Beispiel bildet >Die kurze Geschichte der deutschen Literatur von Heinz Schlaffer, die die literarische Moderne als abgeschlossene Epoche zu erfassen versucht.2 Schlaffer stellt die Energien dieser Literatur, ihren religiösen Antrieb, aber auch ihre Schwäche der Weitabgewandtheit heraus. Er erklärt, dass diese Literatur wesentliche gesellschaftliche und wissensgeschichtliche Entwicklungen ignoriert habe.3

1

2 3

Anke-Marie Lohmeier: Schriftstellers >Verantwortung< und Autors >TodEntstehung der neuzeitlichen Identität geht der Philosoph Charles Taylor auf diese Vorstellung von Subjektivität ein, die er als verteidigenswert und fortsetzungswürdig ansieht. Er lobt die literarische Moderne dafür, dass sie immer wieder versucht habe, eine umfassende Ordnung zu entwerfen, der die Individuen angehören, aus der sie Sinn und Moral beziehen. (Von diesen Versuchen zeugen auch die Werke Georges und Benns, Brechts und Bechers). Dabei wendet Taylor sich scharf gegen den neuzeitlichen Rationalismus, der die Vorstellung einer solchen umfassenden Ordnung destruiert habe. Daraus sei ein desengagiertes Individuum hervorgegangen, dem Tiefe und Fülle fehlen. Hier habe die Kunst mit Vertretern wie Proust, Rilke, Kafka, Eliot und Thomas Mann Widerstand geleistet: Die bewegendsten modernen Werke sind jene, »die den Subjektivismus hinter sich gelassen haben.« 5 Hier sei eine Sprache der Bindung an ein größeres Ganzes entwickelt worden. Die epiphanische Kunst habe »Quellen« angezapft, die das gehaltlos gewordene Individuum mit Sinn versorgen. Dabei ging und geht es, so Taylor ausdrücklich, nicht um die Restitution äußerer Autoritäten, die den Einzelnen zum Befehlsempfänger werden lassen. Vielmehr soll es sich um Wahrheiten handeln, die das Subjekt in sich selbst erfährt, die ihre Gültigkeit in einer Resonanz des Inneren erweisen. Die Probleme dieses Konzeptes treten an zwei Stellen hervor. Sie zeigen sich einmal in der Benennung jener »Quellen«, die das Subjekt mit Objektivität versorgen sollen. Taylor spricht immer wieder von der Natur, der eine Bedeutung inhärent sei, von einem »Sinn der natürlichen Umwelt.« 6 Er lässt 5

6

Charles Taylor: Quellen des Selbst. Die Entstehung der neuzeitlichen Identität. F r a n k f u r t a . M . 1996, S. 874. E b d . , S. 864; 871.

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aber im Unklaren, was dieser Naturbegriff bezeichnet, denn weder kann es sich um den alltäglichen Lebensraum noch um die von der Wissenschaft dargestellte Natur handeln. Ebenso erklärt er nicht, wie er zu der erstaunlichen Annahme gelangt, dass die Natur selbst-explikativ sei, aus sich heraus einen Sinn vorgebe. Dort, wo er diesen Sinn in der — höheren? — Natur postuliert, fährt er vielmehr fort: »Hier gehört es nicht zu meinen Obliegenheiten, das zu begründen, denn es geht mir nicht um eine Untermauerung meiner Position, sondern um deren Veranschaulichung. Die Grundlinien einer solchen Begründung dürften allerdings auf der Hand liegen.«7 Das dürften sie für viele Zeitgenossen wohl nicht, die zwar auch wie Taylor »Wildgebiete« schützen wollen, denen aber nicht klar ist, wie mit der Vernunft begründet werden kann, dass diese Wildgebiete »Forderungen« an uns stellen.8 Taylor steckt damit in einem Dilemma, das zahlreiche Vertreter der ästhetischen Moderne erleben: Sie stellen die Forderung nach einer übersubjektiven Wahrheit und Ganzheit, können aber nicht sagen, worin diese besteht, und geraten bei der Ausführung ihrer Vorstellungen in jene Vagheiten, die bei Taylor auftreten. Das Subjekt bleibt damit ungesichert. Das zweite Problem betrifft die Vereinbarkeit der von Taylor geforderten Ganzheit mit der Idee individueller Freiheit, wie sie die politische Moderne entwickelt hat. Er behauptet nämlich, dass seine Vorstellungen »den Idealen der selbstverantwortlichen Vernunft und Freiheit nichts von ihrer Gültigkeit nehmen, obwohl sie vielleicht deren Reichweite beschränken.«9 Hier würde man gerne nachfragen, wie dieses »nichts« mit dem nachgeschobenen »vielleicht« in Beziehung steht, wie die notwendige Beschränkung von Freiheitsrechten aussieht und schließlich, warum diese Beschränkung die Gültigkeit jener Rechte nicht berühren wird. Dass Taylor gegenüber der Freiheit des Einzelnen eine gewisse Unempfindlichkeit verspürt, zeigt sich auch, wenn er als Beispiel für einen vortrefflichen Philosophen, der das desengagierte Subjekt zu überwinden versuchte, Heidegger nennt, und sich nicht einmal fragt, ob die politische Verirrung Heideggers mit seiner Subjekt-Feindschaft zusammenhängen könnte. 10 Einen fortgeschrittenen Versuch, die ästhetische Moderne und ihre Vorstellung von Subjektivität zu verteidigen, stellt ein kurzer Essay von Jürgen Habermas dar, den er über den Maler Sean Scully C1945) geschrieben hat. 11 Habermas bewundert dessen abstrakte Malerei mit ihren »Farbmustern« und »Farbstreifen«, den »monochromen Flächen« und der »Wiederholung von 7 Ebd., S. 871. 8 Ebd., S. 886. 9 Ebd., S. 888. 10 Ebd. " Jürgen Habermas: Traditionalist der Moderne. Glossen und Assoziationen zu Sean Scully. Neue Zürcher Zeitung. 28. Dezember 2002. Scully steht in der Nachfolge des amerikanischen Color-Field-Painting.

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Horizontalen und rechten Winkeln«. Er sieht diesen Maler im positiven Sinn als Traditionalisten der Moderne an, dem eine aufrührende Stimulierung der Einbildungskraft gelinge. Wo Habermas seinen Begriff der Moderne ausführt, versucht er ihn von jenen Anteilen zu reinigen, die seit einiger Zeit als problematisch gelten. So wendet er sich gegen die Idee einer Kunstreligion, gegen die »Revolution der reinen Form« und die »Mystik der reinen Farbe.« Auch gesteht er ein, dass sich die Prätention des Avantgardismus erschöpft habe. Gleichwohl will er Kernbestände der Moderne retten, und dazu gehört auch deren besonderes Verständnis von Subjektivität und Objektivität. So lobt er Scully, weil er sich gegen die Feier freigesetzter Individualität, gegen die modische »Affirmation der erweiterten Kontingenzspielräume« wende. Scully möchte sich dagegen beim Malen »einer beinahe romantischen Nötigung überlassen.« Die Frage ist natürlich, wovon er sich nötigen lassen will, und hier tritt wieder das bei Taylor, aber auch schon bei Stefan George sichtbare Problem auf: M a n sucht nach übersubjektiver Ganzheit, weiß aber nicht, wie sie herzustellen ist. Sprachlich gewendet: M a n benutzt Begriffe, die ein Objekt benötigen, ohne Objekt; so wollte Stefan George verehren, wusste aber nicht zu sagen wen. Etwas deutlicher wird Habermas an einer anderen Stelle, wo er Scully eine Subjektivität zuschreibt, »die in der intuitiven Hingabe an die eigene Spontaneität bloßer Notwendigkeit zu folgen vorgibt.« Dieser Satz zeigt das Problem im Vergrößerungsglas: Wenn sich ein Ich der eigenen Spontaneität hingibt, beißt sich die Katze in den Schwanz. Von einer Nötigung kann hier nicht mehr gesprochen werden, und folgerichtig erklärt der zweite Teil des Satzes die Notwendigkeit zum Schein: Der Künstler gibt nur vor, einer äußeren Notwendigkeit zu folgen, und schöpft eigentlich doch aus dem Subjekt, das er nicht verlassen kann. Die Natur, der er folgt, ist, wie in einem Zitat Scullys auch deutlich wird, seine »eigene Natur«. Das aber weiß auch der Betrachter der Bilder, jedenfalls, wenn er sich nicht naiv stellen will. Im Fortgang des Essays schwächt Habermas die behauptete Objektivität noch weiter ab, wenn er sich von einer romantischen Kunstvorstellung abgrenzt, die er am Beispiel Schellings erläutert. Hier soll zur subjekt-ästhetischen Produktion »die freiwillige Gunst einer höheren Natur« treten: Das Objektive kommt zur Produktion des Künstlers »gleichsam ohne sein Zutun hinzu.« Diese metaphysische A u f l a d u n g ästhetischer Subjektivität lehnt Habermas ausdrücklich ab, will mit dem »pati Deum der frühromantischen Genie-Ästhetik« nichts zu tun haben. Aber, so zeigt seine Argumentation, ohne diese metaphysische Zugabe wird die Behauptung einer Nötigung zum Spiel, zum >Als-obBlätter für die KunstKaukasischer Kreidekreis< in nachrevolutionärer Zeit. In: Hundert Jahre Brecht - Brechts Jahrhundert. Hrsg. von Hans-Jörg Knobloch und Helmut Koopmann. Tübingen 1998, S. 169—186. Detering, Heinrich (Hrsg.): Autorschaft. Positionen und Revisionen. Stuttgart/Weimar 2002. Diesener, Gerald/Kunicki, Wojciech: Johannes R . Becher und Ernst Jünger - eine glücklose Liaison? Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 42 (1994), S. 1058-1097. 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