Ungeheuerliche Massen: Tierbilder für das Phänomen des Massenhaften in der Literatur des 20. Jahrhunderts 9783412214357, 9783412206963


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Ungeheuerliche Massen: Tierbilder für das Phänomen des Massenhaften in der Literatur des 20. Jahrhunderts
 9783412214357, 9783412206963

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BAUSTEINE ZUR SLAVISCHEN PHILOLOGIE UND KULTURGESCHICHTE NEUE FOLGE Begründet von HANS-BERND HARDER (†) und HANS ROTHE Herausgegeben von KARL GUTSCHMIDT, ROLAND MARTI, PETER THIERGEN, LUDGER UDOLPH und BODO ZELINSKY

Reihe A: SLAVISTISCHE FORSCHUNGEN Begründet von REINHOLD OLESCH (†)

Band 73

Ungeheuerliche Massen Tierbilder für das Phänomen des Massenhaften in der Literatur des 20. Jahrhunderts

von

Martina Munk

2011 BÖH LAU V E R L A G K Ö L N WEIM AR WIEN

Gedruckt mit Unterstützung des Privatfonds Schulze-Thiergen

Martina Munk war Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Slavische Philologie der Universität Bamberg (Prof. Dr. Peter Thiergen).

Bibliographische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Umschlagabbildung: © Ingo Arndt: Pelzrobbenkolonie am Cape Cross in Namibia, aus: I. Arndt, Tierreich. Herden, Schwärme, Kolonien, München 2010, S. 22/23 © 2011 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln Weimar Wien Ursulaplatz 1, D-50668 Köln, www.boehlau-verlag.com Alle Rechte vorbehalten. Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig. Druck und Bindung: Strauss GmbH, Mörlenbach Gedruckt auf chlor- und säurefreiem Papier Printed in Germany ISBN 978-3-412-20696-3

Vorwort

Die vorliegende Arbeit ist die etwas veränderte und gekürzte Fassung meiner Dissertation, die im Mai 2008 an der Otto-Friedrich-Universität Bamberg (Fakultät Geistes- und Kulturwissenschaften) vorgelegt und angenommen wurde. Das Rigorosum fand am 7. Juli 2009 statt. Bedanken möchte ich mich zunächst bei dem Tierphotographen Ingo Arndt. Er hat mir die Verwendung seines Bildes einer Pelzrobbenkolonie am Cape Cross in Namibia aus seinem Photoband Tierreich. Herden, Schwärme, Kolonien als Coverbild genehmigt. Mein besonderer Dank gilt meinem Doktorvater, Herrn Prof. Dr. Peter Thiergen, der den entscheidenden Anstoß zur Beschäftigung mit der Thematik des Massenhaften in Verbindung mit dem Bild und Motiv des Tierischen gab und die Entstehung mit zahlreichen Hinweisen und Anregungen begleitet hat. Schließlich hat er die Arbeit nicht nur in die von ihm mitherausgegebene Reihe Bausteine zur Slavischen Philologie und Kulturgeschichte aufgenommen, sondern die Publikation auch mit einem großzügigen Zuschuss aus dem Privatfonds SchulzeThiergen unterstützt.

Stuttgart, im April 2011 Martina Munk

Inhaltsverzeichnis

I.

Einleitung ..................................................................

1

I. 1.

Vorbemerkungen

...........................................................

1

I. 2.

Theoretische Vorüberlegungen .........................................

6

I. 3.

Forschungsstand

...........................................................

13

I. 4.

Erläuterungen zur Vorgehensweise ....................................

28

I. 5.

Inhaltsangaben der Primärtexte .........................................

29

I. 5. 1.

Michail A. Bulgakovs Erzählung Rokovye Jajca ..................

29

I. 5. 2.

Karel Cµapeks Roman Va´lka s Mloky .................................

30

I. 5. 3.

George Orwells Märchen Animal Farm ..............................

31

I. 5. 4.

Euge`ne Ionescos Theaterstück Rhinoce´ros ..........................

32

I. 5. 5.

Felix Mitterers Theaterstück Das Fest der Krokodile ...........

32

II.

Masse und Individuum: Eine begriffsund diskursgeschichtliche Annäherung ....................

34

II. 1.

Begriff und traditionelle Beschreibungsmuster ....................

34

II. 1. 1.

Etymologie: Die Masse als formbarer Stoff ........................

34

II. 1. 2.

Begriffsabgrenzung: Menge, Pöbel, Mob ...........................

35

II. 1. 3.

Traditionelle tiermetaphorische Beschreibungsmuster und kulturkritische Übernahmen ......................................

II. 1. 4.

Der naturale Metaphernkomplex des Meeres und des Flusses

II. 2.

............................................................

43

Historische Eckdaten zur Entwicklung der modernen Massenproblematik ....................................

II. 2. 1.

38

44

Französische Revolution und bürgerlicher Individualismus ...........................................

44

VIII II. 2. 2.

Inhaltsverzeichnis

Russische Bewertungen von Gemeinschaft und Gesellschaft: „sobornost’“, „obsˇcˇina“ und „mesˇcˇanstvo“ ........

49

II. 2. 3.

Industrialisierung, Pauperismus und Proletariat ...................

56

II. 2. 4.

Ein Exkurs zur Massenpsychologie ...................................

59

II. 2. 5.

Massenerfahrungen des 20. Jahrhunderts: Erster Weltkrieg und Massendemokratien ..........................

II. 2. 6.

63

Massenerfahrungen des 20. Jahrhunderts: Kollektivistische Gesellschaftsorganisationen und „neue Menschen“ ...............

68

III.

Das Tier als Spiegel des Menschlichen .....................

77

III. 1.

Zur Kulturgeschichte von Mensch und Tier ........................

79

III. 1. 1.

Das Tier als mythisches Wesen und der vernunftbegabte Mensch ............................................

79

III. 1. 2.

Selbst- und Fremdverwandlungen .....................................

85

III. 2.

Tierdichtung: Die Fabel und Gestaltungsweisen des Grotesken .....................................

88

III. 2. 1.

Die Fabel

....................................................................

88

III. 2. 2.

Gestaltungsweisen des Grotesken .....................................

90

IV.

Biographische und werkgeschichtliche Notizen .......

94

IV. 1.

Michail A. Bulgakov (1891 bis 1940) ..............................

94

IV. 2.

Karel Cµapek (1890 bis 1938) ........................................... 101

IV. 3.

George Orwell (eig. Eric Arthur Blair; 1903 bis 1950) .........

108

IV. 4.

Euge`ne Ionesco (1912 bis 1994) ......................................

115

IV. 5.

Felix Mitterer (*1948)

121

...................................................

IX

Inhaltsverzeichnis

V.

Aufbau und Komposition ......................................... 128

V. 1.

Michail A. Bulgakovs povest’ Rokovye Jajca .....................

128

V. 1. 1.

Massenszenen in Michail A. Bulgakovs Rokovye Jajca ........

135

V. 2.

Karel Cµapeks Roman Va´lka s Mloky .................................

141

V. 3.

George Orwells fairy story Animal Farm ...........................

151

V. 4.

Eugène Ionescos Theaterstück Rhinoce´ros .......................... 157

V. 5.

Felix Mitterers Theaterstück Das Fest der Krokodile ...........

164

V. 6.

Zusammenfassung der Ergebnisse ....................................

170

VI.

Figurenkonzeption und Tiermotivik ......................... 173

VI. 1.

Michail A. Bulgakovs Rokovye Jajca ................................ 177

VI. 1. 1.

Figurenkonzeption

VI. 1. 2.

Schlangen, Eidechsen, Krokodile und Straußenvögel ...........

VI. 2.

Karel Cµapeks Va´lka s Mloky ............................................ 189

VI. 2. 1.

Figurenkonzeption

VI. 2. 2.

Die Molche

VI. 3.

George Orwells Animal Farm .......................................... 200

VI. 3. 1.

Die Farmtiere

...............................................................

200

VI. 4.

Eugène Ionescos Rhinoce´ r os ...........................................

209

VI. 4. 1.

Figurenkonzeption

........................................................

209

VI. 4. 2.

Die Nashörner

..............................................................

219

VI. 5.

Felix Mitterers Das Fest der Krokodile ............................

224

VI. 5. 1.

Figurenkonzeption

........................................................

224

VI. 5. 2.

Die Krokodile

..............................................................

229

VI. 6.

Zusammenfassung der Ergebnisse ....................................

235

......................................................... 177 184

........................................................

189

.................................................................

194

X

Inhaltsverzeichnis

VII.

Individuum und Gesellschaft .................................... 238

VII. 1.

Lebens- und Arbeitswelt

VII. 1. 1.

Michail A. Bulgakovs Rokovye Jajca ................................ 239

VII. 1. 2.

Karel Cµapeks Va´lka s Mloky ............................................ 244

VII. 1. 3.

George Orwells Animal Farm .......................................... 246

VII. 1. 4.

Eugène Ionescos Rhinoce´ r os ...........................................

VII. 1. 5.

Felix Mitterers Das Fest der Krokodile ............................. 251

VII. 2.

Visionen von „neuen Menschen“ ...................................... 253

VII. 3.

Masse-Führer-Konstellationen .........................................

269

VII. 4.

Sprache

.......................................................................

281

VII. 5.

Bildung und kulturelles Leben ........................................

291

VIII.

Schluss .................................................................... 305

IX.

Literaturverzeichnis ................................................. 313

X.

Namensindex ........................................................... 343

................................................. 239

249

I. Einleitung I. 1. Vorbemerkungen Bereits G. W. F. Hegel bezeichnete die bürgerliche Gesellschaft kritisch als ein „System der Atomistik“1 . Die summenhafte Häufung von Individuen ergebe „wohl ein Zusammen, aber nur als die Menge, – eine formlose Masse, deren Bewegung und Tun eben damit nur elementarisch, vernunftlos, wild und fürchterlich wäre.“2 Gleichzeitig verweist er im Zusammenhang mit der Pauperismusdiskussion auf das „Herabsinken einer großen Masse unter das Maß einer gewissen Subsistenzweise“, das „die Erzeugung des Pöbels“ hervorbringe.3 Vom Eintritt ins „Zeitalter der Massen“ spricht G. Le Bon in seiner Studie Psychologie des foules (Die Psychologie der Massen; 1895). Er erachtet die Kenntnis der Psychologie der Massen als das „letzte Hilfsmittel für den Staatsmann, der diese nicht etwa beherrschen – das ist zu schwierig geworden!–, aber wenigstens nicht von ihnen beherrscht werden will.“4 Konfrontiert mit den sich durch Bolschewismus und Faschismus verändernden politischen und gesellschaftlichen Verhältnissen stellt J. Ortega y Gasset in seiner kulturkritischen Abhandlung La rebelión de las masas (Der Aufstand der Massen; 1930) einleitend fest, dass es „das Heraufkommen der Massen zur vollen sozialen Macht“ sei, welches „das öffentliche Leben Europas in der gegenwärtigen Stunde – sei es zum Guten, sei es zum Bösen – entscheidend bestimmt“5 , wobei Ortega die Masse gleichzeitig mit dem „Durchschnittsmenschen“ identifiziert.6 G. Anders wird schließlich im Zusammenhang mit der Verbreitung moderner Massenmedien das Phänomen einer nicht mehr versammelten, sondern atomisierten Massenhaftigkeit konformistischer, aber wesentlich bindungs- und beziehungsloser Individuen konstatieren. „Da der Massenproduzent und -lieferant seine Massenprodukte jederzeit ins Haus, und zwar eben in alle Häuser, schleusen kann, kann er auf die Herstellung von 1 2 3

4

5 6

G. W. F. Hegel, Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse (1830), hrsg. v. F. Nicolin u. O. Pöggeler, 8., erw. Aufl., Hamburg 1991, § 523. G. W. F. Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts (1820), hrsg. v. J. Hoffmeister, 5., durchges. Aufl., Hamburg 1995, § 303. Ebd., § 244. (Hervh. im Orig.). Weiterführend zum Terminus der Masse bei Hegel vgl. S. Blättler, Der Pöbel, die Frauen etc. Die Massen in der politischen Philosophie des 19. Jahrhunderts, Berlin 1995, S. 19-30. G. Le Bon, Psychologie der Massen, mit einer Einf. v. P. R. Hofstätter, 15. Aufl., Stuttgart 1982, S. 6. Rezipiert wurde Le Bons Abhandlung sowohl von B. Mussolini als auch von A. Hitler. Vgl. S. Moscovici, Das Zeitalter der Massen. Eine historische Abhandlung über die Massenpsychologie, München/Wien 1984, S. 89 und H. Anger, Massenpsychologie, in: J. Ritter (Hg.), Historisches Wörterbuch der Philosophie, 13 Bde., Darmstadt 1993ff., Bd. V, Sp. 836. J. Ortega y Gasset, Der Aufstand der Massen, 16. Aufl., Reinbek b. Hamburg 1965, S. 1. Vgl. ebd., S. 9.

2

Einleitung

Masse (im Sinne von ‚crowd‘) verzichten. Da er sich an Millionen (von völlig gleich Gemachten) einzeln wendet, unterbindet er das Entstehen einer substanziellen Masse. Die Reproduktionstechnik der Medien hat nicht nur keine demokratisierende, sondern umgekehrt eine de-demokratisierende, eine atomisierende Wirkung. […] Obwohl heute jeder ‚massenhaftig‘ ist (und nur noch im numerischen Sinne ‚einer‘ bleibt), als Masse treten die ‚Massenhaftigen‘ nicht mehr auf. ‚Masse‘ ist nunmehr, als ‚Massenhaftigkeit‘, eine Qualität von Millionen Einzelnen geworden; nicht mehr deren Zusammenballung. Die Nürnberger Parteitage gehören 7 wohl einer vergangenen Epoche an.“

Mit dem Massenbegriff ist ein vielstimmiges Diskurspanorama verbunden. Nicht nur sind die Äußerungen zu „der Masse“ beziehungsweise „den Massen“ unübersehbar, sondern mit dem heterogenen, sowohl von Politik und Philosophie als auch Soziologie oder Psychologie verwendeten Begriff wird nicht immer das Gleiche in den Blick genommen.8 Ist einerseits auf eine große, an einem Ort versammelte Menschenmenge angesprochen, die als agitierte oder revoltierende Masse gemeinsam handelt, findet sich andererseits die große, zur Unterschicht zählende Mehrheit der Bevölkerung bezeichnet, der soziale und politische Kompetenz nicht zugetraut wird. Wahrgenommen wird die Masse der Vielen vor allem als Bedrohung der bestehenden Ordnung und des zivilisatorischen Fortschritts.9 Demgegenüber formuliert sich über die Begrifflichkeit aber auch eine „Normalisierungsangst“, d. h. die Furcht vor einer im Zuge von Demokratisierungsprozessen antizipierten Nivellierung und Vermittelmäßigung der Bevölkerung zu einer „Herde ängstlicher und arbeitsamer Tiere“10 . Der Begriff stellt letztlich kein rein deskriptives Konzept vor, mit dem sich die Erfahrungen des Massenhaften tatsächlich eindeutig in den Griff bekommen ließen. Sowohl Begriff als auch Beschreibungsmuster verhandeln dabei nicht nur Teilaspekte des zur Diskussion stehenden Phänomens, sondern sind, da stark affektiv besetzt, selten wertneutral. Ob der Heterogenität und affektiven Ladung der Begrifflichkeit ist sowohl im 7

8

9

10

G. Anders, Die Antiquiertheit der Masse, in: Ders., Die Antiquiertheit des Menschen, 2 Bde., München 1980, Bd. II, S. 81. Anders hält gerade diese Ersetzung der Masse durch die Massenhaftigkeit für „das revolutionäre Ereignis unseres Jahrhunderts“. Ebd., S. 88. (Hervh. im Orig.). Siehe hierzu auch H. König, der feststellt, dass eine „Auseinandersetzung mit der Masse immer nur eine Auseinandersetzung mit dem Diskurs der Masse sein kann“. Oder M. Gamper, der von „oft zwischen den Diskursen liegenden Aussageformen“ spricht. Vgl. H. König, Zivilisation und Leidenschaft. Die Masse im bürgerlichen Zeitalter, Reinbek b. Hamburg 1992, S. 17 und M. Gamper, Masse lesen, Masse schreiben. Eine Diskurs- und Imaginationsgeschichte der Menschenmenge 1765-1930, München 2007, S. 18. König, der diesen Konnex bereits mit der Titelgebung seiner Studie herausstellt, sieht die Begrifflichkeit zumeist unter einem sowohl sozial- als auch zivilisationsgeschichtlichen Aspekt verhandelt. Vgl. H. König, a.a.O., S. 14 u. 16. Beispielhaft zu Konzepten hinsichtlich einer Zivilisierung, Versittlichung und politischen Läuterung der Massen vgl. ebd., S. 79 u. 94f. sowie M. Gamper (2007), a.a.O., S. 68ff., 82ff., 143ff. u. 221ff. A. de Tocqueville, Über die Demokratie in Amerika, übers. v. H. Zbinden, mit einem Nachwort v. Th. Eschenburg, 2 Bde., Zürich 1987, Bd. II, S. 464.

Einleitung

3

Anschluss an König als auch an Gamper/Schnyder von einem „(kollektiven) Gespenst“ zu sprechen, welches das Wissen der Zeit durch alle Diskurse hin durchquert, dessen ungesicherte und vornehmlich Angst machende Seinsweise sich aber einer konzeptuellen Vereinheitlichung entzieht und Fragen nach seiner Darstellbarkeit aufwirft.11 Die vorliegende Arbeit ist der Versuch, die Beschreibung des Massenhaften über das Bild und Motiv des Tierischen sowie den damit verbundenen Bedeutungszusammenhängen zu erfassen und zu erschließen. Bemerkt Gamper, dass im Zusammenhang mit der Begrifflichkeit „einzig Meinungen zu haben sind und somit nur von Imaginationen, Bildern und Diskursen zu sprechen ist“12 , so stellt auch die Identifikation des Massenhaften mit dem Tierischen kein analytisches und präzises Beschreibungsmodell dar. Vielmehr wird die Massenzugehörigkeit zum einen mit der Entfesselung triebhafter Leidenschaften und somit einer gleichsam barbarischen „Verwilderung“ des Menschen sowie einem Rückschritt auf der evolutionären Leiter identifiziert. Zum anderen scheint der Mensch angesichts einer umfänglichen Nivellierung und Vermittelmäßigung auf die Stufe eines modernen menschlichen Herdentiers regrediert. Wie allein Emblematik, allegorisierende Tierdarstellungen oder die tierische Einkleidung „menschlicher Lehren“ in der Fabel zeigen, erweist sich das Tierische zur Beschreibung menschlicher Existenz- und Bewusstseinslagen sowie sozialer, politischer und gesellschaftlicher Verhältnisse als konstante Größe. Mit seinen Satiren aus der Perspektive des Tieres entlarvte etwa E. T. A. Hoffmann die Schwächen der Gesellschaft und bewunderte die Ironie des Zeichners J. Callot, „welche, indem sie das Menschliche mit dem Tier in Konflikt setzt, den Menschen mit seinem ärmlichen Tun und Treiben verhöhnt.“13 N. V. Gogol’, der das Verhältnis von Mensch und Tier in ebenfalls phantastischen und grotesken Bildern gestaltet, lässt zum Ende seines Revisors (Revizor; 1835) den Stadthauptmann die Gesichter der korrupten Bevölkerung nur noch als Fratzen mit Schweinerüsseln wahrnehmen: „Niçego ne viΩu. ViΩu kakie-to svinye ryly, vmesto lic; a bol´‚e niçego…“14 . Während É. Zola in seinem Roman La beˆte humaine (Die Bestie im Menschen; 1890) das Bild einer vornehm11

12 13

14

Vgl. H. König, a.a.O., S. 110f. und M. Gamper/P. Schnyder, Eine Einleitung, in: M. Gamper/ P. Schnyder (Hgg.), Kollektive Gespenster. Die Masse, der Zeitgeist und andere unfaßbare Körper, Freiburg/Berlin 2006, S. 12 u. 14. Zum „Gespenst der Masse“ vgl. zuletzt auch S. Lüdemann/U. Hebekus, Einleitung, in: Dies. (Hgg.), Massenfassungen. Beiträge zur Diskursund Mediengeschichte der Menschenmenge, München 2010, S. 7. Vgl. M. Gamper (2007), a.a.O., S. 17. E. T. A. Hoffmann, Fantasiestücke in Callot’s Manier, in: Ders., Sämtliche Werke, hrsg. v. W. Segebrecht u. H. Steinecke, 6 Bde., Frankfurt/M. 1988ff., Bd. II, 1, S. 18. Weiterführend zu Hoffmanns Tierfiguren Ch.-M. Beardsley, E. T. A. Hoffmanns Tierfiguren im Kontext der Romantik. Die poetisch-ästhetische und die gesellschaftliche Funktion der Tiere bei Hoffmann und in der Romantik, Bonn 1985. N. V. Gogol’, Revizor, in: Ders., Polnoe sobranie socˇinenij, 14 Bde., Moskau/Leningrad 1937ff., Bd. IV, S. 93.

4

Einleitung

lich triebgesteuerten und „vertierten“ Gesellschaft zeichnet, deren Handeln von ungezügelten Leidenschaften, Mordlust und Habgier bestimmt ist15 , sind die Nagetiere in G. Hauptmanns Die Ratten (1911) Chiffre für eine „zerfressene“ und zerfallende Gesellschaftsordnung. „Horchen Se ma, wie det knackt, wie Putz hinter de Tapete runterjeschoddert kommt! Allens ist hier morsch! Allens faulet Holz! Allens unterminiert, von Unjeziefer, von Ratten und Mäusen zerfressen! Er wippt auf der Diele. Allens schwankt! 16 Allens kann jeden Oochenblick bis in den Keller durchbrechen.“

Zurückgezogen wie Schildkröten versucht in V. Canettis gleichnamigem Roman (entstanden 1939) die bedrohte jüdische Bevölkerung die Demütigungen, Willkür und Grausamkeiten der Nationalsozialisten zu ertragen. Im Bild des Ewigkeit und Weisheit symbolisierenden Urtiers spricht sich die Hoffnung aus, die Verfolgung zu überleben, auch wenn die neuen Machthaber, wiederum als Symbol für den Anbruch des „Tausendjährigen Reichs“, Schildkröten das Hakenkreuz einbrennen.17 Wie schon in Aristophanes’ Ornithes (Die Vögel; UA 414) sind es zudem wiederholt literarische Entwürfe von Tiergesellschaften, die gesellschaftliche Fehlentwicklungen veranschaulichen und kritisieren. Der griechische Komödiendichter lässt die von der Prozesssucht in ihrer Heimatstadt geplagten Athener Pisthetairos und Eulepides das weltabgeschiedene, zwischen Menschen- und Götterwelt gelegene Vogelreich „Wolkenkuckucksheim“ („Nephelokokkygia“) gründen. J. Swifts Gulliver besucht auf seinen Reisen in abgelegene Länder die Pferdegesellschaft der vernunftbegabten Houyhnhnms18 , während A. France in seinem Roman L’île de Pingouins (Die Insel der Pinguine; 1908) anhand des Werdegangs einer imaginären Pinguingesellschaft ein negatives Bild der menschlichen Entwicklungsgeschichte zeichnet, die er in einer nihilistischen Zukunftsvision enden lässt. Mit fortschreitender Industrialisierung regredieren die Arbeiter in einem von den Unternehmen bewusst gesteuerten Verdummungsprozess zu einer Masse willfähriger „Arbeitstiere“.19 15 16 17 18

19

Vgl. É. Zola, La beˆte humaine, in: Ders., Les oeuvres complètes, 27 Bde., Paris 1927ff., Bd. XVII. G. Hauptmann, Die Ratten, in: Ders., Sämtliche Werke, hrsg. v. H.-E. Hass, 11 Bde., Berlin 1962f., Bd. II, S. 824. Vgl. V. Canetti, Die Schildkröten, München 1999. In dem Zyklus Vojna v mysˇlovke (Der Krieg in der Mausefalle; 1915-17) ist ein an Swift erinnerndes Pferdereich („konecarstvo“) auch bei dem russischen Futuristen V. V. Chlebnikov von Bedeutung. Vgl. V. V. Chlebnikov, Vojna v mysˇlovke, in: Ders., Sobranie socˇinenij, 4 Bde., München 1968ff., Bd. I, 2, S. 257. Zu Chlebnikovs Tierfiguren vgl. weiterführend J. Holthusen, Tiergestalten und metamorphe Erscheinungen in der Literatur der russischen Avantgarde (1909-1923), München 1974. Vgl. A. France, L’île de Pingouins, in: Ders., Oeuvres complètes illustrées, 23 Bde., Paris 1935ff., Bd. XVIII, S. 403f.

Einleitung

5

Ebenso besitzt die Darstellung der Vielen im Tierbild eine lange Tradition. Neben dem naturalen Bildkomplex des Flusses oder des Meeres sind es insbesondere die tiermetaphorischen Beschreibungsmuster der Herde, des Ameisenhaufens oder des Bienenschwarms, die, bereits in der Bibel und Antike vorgebildet, über die Jahrhunderte in veränderten Kontexten immer wieder aufgerufen werden. Ist etwa der Ameisenhaufen F. M. Dostoevskijs Sinnbild sozialistisch-rationalistischer Gesellschaftsentwürfe, identifiziert A. Koestler den Termitenstaat mit einem nationalsozialistischen „supra-state“.20 Für eine Aktualisierung des Herdenbildes ist F. Nietzsches mittelmäßiger Herdenmensch ebenso anzuführen wie die Eingangssequenz aus Ch. Chaplins Modern Times (Moderne Zeiten; 1936), die Fabrikarbeiter als Schafherde ins Bild setzt, oder B. Brechts „Kälbermarsch“, der Soldaten des Zweiten Weltkriegs mit willfährigem Herdenvieh vergleicht, das zur Schlachtbank geführt wird. „Hinter der Trommel her Trotten die Kälber Das Fell für die Trommel Liefern sie selber. Der Metzger ruft. Die Augen fest geschlossen Das Kalb marschiert mit ruhig festem Tritt. Die Kälber, deren Blut im Schlachthof schon geflossen 21 Sie ziehn im Geist in seinen Reihen mit.“

Die vorliegende Vergleichsstudie ist nun allerdings nicht als längsschnittartige Untersuchung angelegt, welche die verschiedenen tiermetaphorischen Beschreibungsmuster der Vielen sowie ihre veränderten Konnotierungen im Verlaufe der Jahrhunderte zu betrachten und zu erschließen sucht.22 Vielmehr konzentriert sich die vergleichende Zusammenschau mit Michail A. Bulgakovs Erzählung Rokovye Jajca (Die verhängnisvollen Eier; 1924), Karel Cµapeks Roman Va´lka s Mloky (Der Krieg mit den Molchen; 1936), George Orwells Fabel Animal Farm (Farm der Tiere; 1945) sowie Euge`ne Ionescos und Felix Mitterers Theaterstücken Rhinocéros (Die Nashörner; UA 1958) und Das Fest der Krokodile (UA 1994) 20

21

22

Der phantastische Roman Zµuk v muravejnike (Ein Käfer im Ameisenhaufen; 1979) der Brüder Strugackij spielt in einem zentral gelenkten Einheitsstaat der Zukunft, in dem sich der „Käfer“, ein Abgesandter einer extraterrestrischen Zivilisation, zurechtfinden muss. Vgl. A. N. Strugackij/B. N. Strugackij, Zµuk v muravejnike, in: Dies., Sobranie socˇinenij v odinnadcati tomach, Sankt Petersburg 2000ff., Bd. VIII, S. 5-190. B. Brecht, Schweyk, in: Ders., Werke. Große Berliner und Frankfurter Ausgabe, hrsg. v. W. Hecht, J. Knopf u. a., 30 Bde., Berlin/Frankfurt/M. 1989ff., Bd. VII, S. 236. Der australische Schriftsteller L. Murray setzt in seinem Versroman Fredy Neptune (1998) das 20. Jahrhundert insgesamt, beginnend mit dem Völkermord der Türken an der armenischen Bevölkerung (1915/16), auch als Jahrhundert der „Schlachthöfe“ ins Bild. Vgl. L. Murray, Fredy Neptune, Zürich 2004. Vgl. zur Methode des Längs- und Querschnitts der Stoff-, Motiv- und Themenforschung E. Frenzel, Stoff- und Motivgeschichte, Berlin 1966, S. 142ff.

6

Einleitung

in Form eines Querschnitts auf fünf Texte des 20. Jahrhunderts, wobei hierbei nicht auf genetische Bezüge, sondern auf typologische Analogien zwischen den Texten zu fokussieren sein wird. Verschiedene Gründe waren für die Textauswahl entscheidend. Zum einen ist die Erfahrung des Massenhaften angesichts des Entstehens moderner Massendemokratien sowie der einschneidenden Weltkriegs- und Totalitarismuserfahrungen für das 20. Jahrhundert wesentlich bestimmend, so dass von einem auf dieses Jahrhundert beschränkten Korpus von Primärtexten aussagekräftige Ergebnisse zu erwarten sind, zumal biblische und antike Vorlagen nicht übersehen sowie Texte, die sich mit der Themenstellung berühren, erwähnt und diskutiert werden. Zum anderen ist das Phänomen des Massenhaften keine national begrenzte, sondern vielmehr eine gesamteuropäische Erfahrung, so dass eine komparatistische Untersuchung nahe liegt. Sowohl die beiden Texte aus dem slawischen als auch die drei Texte aus dem westeuropäischen Kulturraum werden in der Vergleichsstudie mit neuen Bedeutungszusammenhängen konfrontiert und in einen größeren Bezugsrahmen gestellt. Und schließlich ist mit der Textauswahl dem Umstand Rechnung getragen, dass sich das massierte Auftreten des Tierischen in unterschiedlichen Textsorten findet.

I. 2. Theoretische Vorüberlegungen Der Vergleich von zwei oder mehreren Werken aus verschiedenen Nationalliteraturen fällt in den Bereich der Vergleichenden Literaturwissenschaft. Die komparatistische Zusammenschau in der vorliegenden Studie begründet sich mit der Überlegung, dass „[m]an ein literarisches Phänomen besser [versteht], wenn man es im interkulturellen Kontext betrachtet und mit analogen Erscheinungen in anderen Kulturen (Literaturen) vergleicht.“23 Neben signifikanten Gemeinsamkeiten und Analogien lassen sich dabei gerade auch die für das Verständnis eines Werkes wesentlichen Differenzen, „das Besondere, Einmalige, Individuelle, das Charakteristische und Spezifische“24 aufzeigen. Angesichts der Fragestellung nach tiermotivlichen Ähnlichkeiten und ihren Bezügen zur modernen Massenthematik gilt es aber, die wechselvolle Wissenschaftsgeschichte sowie Probleme und Defizite der komparatistischen Teildisziplin der stoff- und motivgeschichtlichen Forschung in den Blick zu nehmen.25 23

24

25

P. Zima, Vergleich als Konstruktion. Genetische und typologische Aspekte des Vergleichs und die soziale Bedingtheit der Theorie, in: Ders. (Hg.), Vergleichende Wissenschaften. Interdisziplinarität und Interkulturalität in den Komparatistiken, Tübingen 2000, S. 15. H. Rüdiger, Grenzen und Aufgaben der Vergleichenden Literaturwissenschaft, in: Ders. (Hg.), Zur Theorie der Vergleichenden Literaturwissenschaft. Mit Beiträgen von Gerhard Bauer, Erwin Koppen und Manfred Gsteiger, Berlin/New York 1971, S. 9. Auf eine Darstellung der Begriffsdefinitionen „Stoff“, „Motiv“ und „Thema“ wird verzichtet. Die vorliegende Vergleichsstudie orientiert sich an den Arbeiten von Frenzel, die sich ob

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Mehrfach formulierte Kritik galt insbesondere positivistischen Verengungen, dem bloßen Registrieren und Katalogisieren von Stoffen und Motiven sowie dem Auflisten von Textzeugen und Varianten bei gleichzeitiger Vernachlässigung des künstlerischen Aspekts.26 War W. Dilthey demgegenüber für eine ideen- und geistesgeschichtliche Ausrichtung eingetreten27 , plädierten Vertreter des amerikanischen New Criticism für eine ausschließlich werkimmanente Literaturbetrachtung und stellten die „‚Literaturhaftigkeit‘, […] die ästhetische Zentralfrage nach dem Wesen der Kunst und Dichtung“28 in den Mittelpunkt der Untersuchung. Birgt die ideengeschichtlich orientierte Interpretation literarischer Stoffe und Motive als Ausdruck eines spezifischen „Zeitgeistes“ die Gefahr, dass die individuelle, spezifisch literarische Ausgestaltung ebenfalls vernachlässigt wird, muss für den New Criticism die strikte „Trennung des Ästhetischen vom Gesellschaftlichen“29 und die Vernachlässigung außerliterarischer Bezugsgrößen als problematisch gelten. Für die vorliegende Vergleichsstudie sind insbesondere Ansätze zu einer kulturwissenschaftlichen und interdisziplinären Neuausrichtung fruchtbar, wie sie sich in den 1960er Jahren aus Diskussionen um den Erkenntniswert stoff- und motivgeschichtlicher Forschung ergaben. R. Trousson spricht sich in seinem Plaidoyer pour la Stoffgeschichte (1964) für eine systematische Erfassung literarischer Stoffe und Motive sowie eine kulturgeschichtlich ausgerichtete Betrachtung ihrer Modifikationen und Umformungen aus.30 H. Levin forderte in dem

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einer klaren Abgrenzung der teils ungenau definierten teils synonymisch verwendeten Termini auszeichnen. Vgl. E. Frenzel, Stoff- und Motivgeschichte, Berlin 1966, dies., Stoff-, Motiv- und Symbolforschung, 3. Aufl., Stuttgart 1970 sowie dies., Vom Inhalt der Literatur. Stoff – Motiv – Thema, Freiburg i. Br. 1980. Vgl. W. Kayser, Das sprachliche Kunstwerk. Eine Einführung in die Literaturwissenschaft, 8. Aufl., Bern 1962, S. 58, Z. Konstantinovic´, Vergleichende Literaturwissenschaft. Bestandsaufnahme und Ausblicke, Bern 1988, S. 33 und P. Zima, Komparatistik. Einführung in die vergleichende Literaturwissenschaft, Tübingen 1992, S. 19f. Vgl. detaillierter zur Geistesgeschichte als literaturwissenschaftlichem Paradigma R. Baasner/M. Zens, Methoden und Modelle der Literaturwissenschaft. Eine Einführung, 3., überarb. u. erw. Aufl., Berlin 2005, 61ff. R. Wellek, Die Krise der Vergleichenden Literaturwissenschaft, in: H. Rüdiger (Hg.), Komparatistik. Aufgaben und Methoden, Stuttgart 1973, S. 101. Vgl. ausführlicher zum New Criticism Z. Konstantinovic´, a.a.O., S. 44ff. und P. Zima (1992), a.a.O., S. 34ff. Der New Criticism griff auf Positionen des russischen Formalismus zurück, dessen Vertreter bereits eine Konzentration auf die „Literarizität“ („literaturnost’“) des Kunstwerks, verstanden als Summe der angewandten Kunstmittel, gefordert hatten. Vgl. V. Erlich, Russischer Formalismus, München 1964, S. 210. Die formale Schule („formal’naja sˇkola“) wurde 1930 aufgelöst und der Begriff „Formalismus“ in der offiziellen Kritik zum Synonym für Abweichungen von den Normen des ab 1934 für alle Kunstrichtungen verbindlichen Sozialistischen Realismus. Vgl. W. Kasack, Lexikon der russischen Literatur des 20. Jahrhunderts bis zum Ende der Sowjetära, 2., neu bearb. u. wesentl. erw. Aufl., München 1992, Sp. 344f. Z. Konstantinovic´, a.a.O., S. 47. Vgl. R. Trousson, Plaidoyer pour la Stoffgeschichte, in: Revue de Littérature Comparée 38 (1964), S. 113. Da Trousson in seinem Plaidoyer die neue Benennung „thématologie“ ein-

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programmatischen Aufsatz Thematics and Criticism (1968) eine verbindende Berücksichtigung sowohl werkimmanent-ästhetischer als auch außerliterarischhistorischer Untersuchungsaspekte31 , während der amerikanische Literaturwissenschaftler H. H. H. Remak für eine interdisziplinäre Öffnung der Komparatistik insgesamt plädierte. „Unter Vergleichender Literaturwissenschaft versteht man das Studium der Literatur über die Grenzen eines bestimmten Landes hinaus sowie das Studium der Beziehungen zwischen der Literatur einerseits und anderen Wissens- und Glaubensbereichen andererseits, so etwa der Kunst (z. B. Malerei, Plastik, Architektur, Musik), der Philosophie, der Geschichte, den Sozialwissenschaften (z. B. Politikwissenschaft, Wirtschaftswissenschaft, Soziologie), den Naturwissenschaften, der Religion usw. Kurz, es handelt sich um den Vergleich einer Literatur mit einer oder mehreren anderen und dem Vergleich der Literatur mit anderen menschlichen Aus32 drucksbereichen.“

Ebenfalls in Abgrenzung zu positivistischen Einflussstudien und werkimmanenten Betrachtungen hatte sich die Vergleichende Literaturforschung in den ehemals sozialistischen Ländern auf die Erforschung typologischer Analogien konzentriert, die Ähnlichkeiten untersucht, die nicht auf genetische Kontakte, sondern auf einen gemeinsamen oder ähnlichen außerliterarischen Hintergrund zurückzuführen sind.33 Der slowakische Komparatist D. Dµurisˇin fasst in seinem

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führte, plädierte M. Beller im Zuge der theoretischen Neuausrichtung, auch in der deutschsprachigen Forschung den wissenschaftsgeschichtlich vorbelasteten Terminus „Stoff- und Motivgeschichte“ durch „Thematologie“ zu ersetzen. Vgl. M. Beller, Von der Stoffgeschichte zur Thematologie. Ein Beitrag zur komparatistischen Methodenlehre, in: arcadia. Zeitschrift für Vergleichende Literaturwissenschaft 5 (1970), S. 37. Im Anschluss an Beller wird die Bezeichnung „Thematologie“ in verschiedenen Einführungen zur Komparatistik und Nachschlagewerken verwendet. Vgl. beispielhaft M. Schmeling (Hg.), Vergleichende Literaturwissenschaft. Theorie und Praxis, Wiesbaden 1980, S. 73ff. oder A. Corbineau-Hoffmann, Einführung in die Komparatistik, Berlin 2000, S. 121ff. Gegner dieser neuen Terminologie verweisen dagegen u. a. kritisch auf die „Weitmaschigkeit“ des Themenbegriffs im Deutschen. Vgl. etwa E. Frenzel Neuansätze zu einem alten Forschungszweig: Zwei Jahrzehnte Stoff-, Motiv- und Themenforschung, in: Anglia. Zeitschrift für englische Philologie 111 (1993), S. 98ff. Vgl. H. Levin, Thematics and Criticism, in: P. Demetz/Th. Greene (Hgg.), The Disciplines of Criticism. Essays in Literary Theory, Interpretation, and History, New Haven/London 1968, S. 125-145. H. H. H. Remak, Definition und Funktion der Vergleichenden Literaturwissenschaft, in: H. Rüdiger (Hg.) (1973), a.a.O., S. 11. Vgl. zu einer interdisziplinären Ausrichtung der Komparatistik auch D. H. Malone, Comparative Literature and Interdisciplinary Research, in: Synthesis 1 (1974), S. 17-26. Wesentliche Bedeutung ist V. M. Zµirmunskijs Konzept typologischer Ähnlichkeiten und Analogien zuzuschreiben. Vgl. hierzu beispielhaft ders., Über das Fach Vergleichende Literaturwissenschaft, in: G. R. Kaiser (Hg.), Vergleichende Literaturforschung in den sozialistischen Ländern 1963-1979, Stuttgart 1980, S. 77-89. Ausführlicher zu Positionen mar-

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Theoriemodell die typologischen Ähnlichkeiten nicht als homogene Erscheinung, sondern differenziert nach deren kausaler Bedingtheit drei Kategorien.34 Eine Untersuchung gesellschaftlich-typologischer Analogien fokussiert auf ähnliche gesellschaftlich relevante politische, religiöse, soziale oder philosophische Fragestellungen und eine entsprechende Thematisierung in literarischen Texten.35 Literarisch- oder strukturell-typologische Analogien sind aus einer parallel verlaufenden literarischen Entwicklung zu erklären und können beispielsweise in Bezug auf literarische Strömungen oder Gattungen sowie Aufbau, Personengestaltung, Sujet oder Motivik festgestellt werden.36 Psychologisch-typologische Analogien verweisen schließlich auf mögliche verwandte Züge im Naturell der Autoren.37 Dµurisˇins Differenzierung typologischer Analogien ist gewinnbringend. Wesentlich für die vorliegende Vergleichsstudie ist sowohl die Kategorie des Gesellschaftlich- als auch des Literarisch- und Strukturell-Typologischen. Zugleich sind verkürzende Vereinfachungen kritisch aufzuzeigen. Der psychologische Aspekt birgt die Gefahr, Ähnlichkeiten, die weder literarisch-strukturell noch gesellschaftlich begründet werden können, anhand eines spekulativen Biographismus und Psychologismus zu erklären. Ein grundlegendes Problem ist zudem, dass Dµurisˇin im Anschluss an V. I. Lenins Widerspiegelungstheorie („teorija otrazˇenija“) Kunst und Literatur als ideologische Überbauerscheinungen versteht, die ein historisch-gesellschaftliches Bewusstsein abbilden und somit tendenziell jede Form typologischer Ähnlichkeiten letztlich doch nur als gesellschaftlich bedingt gewertet wird.38 Die Einbeziehung außerliterarischer Bezugsgrößen in eine literaturwissenschaftliche Untersuchung, wie sie sich sowohl aus Dµurisˇins Kategorie des Gesellschaftlich-Typologischen als auch aus Troussons und Remaks Forderungen nach einer kulturwissenschaftlichen Neuausrichtung und interdisziplinären Öffnung komparatistischer Forschung ergibt, lässt schließlich nach Beschreibungsmodel-

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xistisch geprägter Literaturforschung auch G. R. Kaiser, Einführung in die Vergleichende Literaturwissenschaft. Forschungsstand – Kritik – Aufgaben, Darmstadt 1980, S. 43ff. Bei den genetischen beziehungsweise Kontaktbeziehungen unterscheidet Dµurisˇin hinsichtlich Qualität und Intensität zwischen direkten und vermittelten sowie externen und internen Kontaktbeziehungen. Vgl. ausführlich D. Dµurisˇin, Vergleichende Literaturforschung. Versuch eines methodisch-theoretischen Grundrisses, Berlin 1976, S. 50-89. Vgl. ebd., S. 93. Vgl. ebd., S. 95. Vgl. ebd., S. 97. Vgl. zu Dµurisˇins Bezug auf Lenins Ausführungen zu Fragen der Literatur ebd., S. 22. Die Widerspiegelungstheorie, die Erkenntnisse, Ideen und Empfindungen als Widerspiegelung einer als objektiv gedachten Materie beziehungsweise Realität versteht, steht im Mittelpunkt von Lenins Literatur- und Kunstkonzeption. Lenin geht von einer vollständigen Klassengebundenheit jeder Kunst und Literatur aus, ein eigener, selbständiger Wirklichkeitsanspruch wird von ihm verworfen. Vgl. R. Lauer, Geschichte der russischen Literatur. Von 1700 bis zur Gegenwart, München 2000, S. 658f. und weiterführend R.-D. Kluge, Vom kritischen zum sozialistischen Realismus. Studien zur literarischen Tradition in Rußland 1880 bis 1925, München 1973, S. 205ff.

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len zum Verhältnis von literarischem Text und außerliterarischem Kontext fragen. Wenig aufschlussreich sind vage und verallgemeinernde Formulierungen, wie sie sich in neueren interdisziplinär ausgerichteten Studien, so beispielsweise in P. B. P. Clarks Aufsatz zum Verhältnis von Literatur und Soziologie, finden: „… all literature draws on social relations and expresses social experience. Every work of literature fuses the observed and the imagined; every work perceives the 39 social in terms of the aesthetic.“

Bereits mit der Moderne zeigt sich ein wesentlich verändertes Verständnis von Realität und ihrer Darstellung in literarischen Texten. Angesichts einer sich pluralisierenden Welt, die in einem permanenten Wandel begriffen scheint, sind Widersprüchlichkeit, Komplexität und Paradoxie Kennzeichen moderner Wirklichkeitserfahrung. In Frage gestellt werden sowohl Formen der Wirklichkeitswahrnehmung als auch der Darstellung und Repräsentation dieser Wirklichkeit in literarischen Texten.40 So versuchen neuere Beschreibungsmodelle wie etwa die der literaturwissenschaftlichen Diskursanalyse, die an M. Foucaults Überlegungen der sogenannten „diskursiven Formationen“ anknüpft, das Verhältnis von literarischem Text und außerliterarischem Kontext differenzierter zu fassen und zu erklären.41 Nach Foucault ist das „Universum des Wissens“ als System von Diskursen organisiert. Der Diskurs bezeichnet dabei eine Vielzahl von Aussagen, die einem gleichen Formationssystem zugehören und nach denselben oder zumindest ähnlichen Regeln konzipiert sind.42 Moderne Gesellschaften kennzeichnet eine zunehmende Abgrenzung und Spezialisierung verschiedener, beispielsweise medizinischer, politischer oder juristischer Diskurse. Gleichzeitig müssen Formen des Interdiskurses gefunden werden, um die Kommunikationsfähigkeit einer Gesellschaft zu gewährleisten.43 Da sich nun in literarischen Texten Bruchstücke verschiedener Wissensbereiche finden und Literatur als offenes System an verschiedenen Diskursformationen teilhat sowie verschiedene Diskurse assimilieren kann, versteht Link in Anlehnung an Foucaults diskurstheoretische Überlegungen Li39 40 41

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P. B. P. Clark, Literature and Sociology, in: J.-P. Barricelli/J. Gibaldi (Hgg.), Interrelations of Literature, New York 1982, S. 107. Vgl. A. Nünning (Hg.), Metzler Lexikon Literatur- und Kulturtheorie. Ansätze – Personen – Grundbegriffe, 3., aktual. u. erw. Aufl., Stuttgart/Weimar 2004, S. 468. Seit den 1970er Jahren wird der Diskursbegriff verstärkt im Rahmen verschiedener, nicht nur literaturwissenschaftlicher Ansätze verwendet. Vgl. zur vielfältigen Verwendung des Diskursbegriffs ebd., S. 117f. Wie Baasner/Zens deutlich machen, wird der Diskursbegriff auch in der Literaturwissenschaft unterschiedlich verwendet. Dementsprechend ergibt sich auch kein konsistentes Modell. Vgl. R. Baasner/M. Zens, a.a.O., S. 137. Vgl. A. Corbineau-Hoffmann, a.a.O., S. 205. Vgl. M. Baasner/M. Zens, a.a.O., S. 142, J. Link, Literaturanalyse als Interdiskursanalyse. Am Beispiel des Ursprungs literarischer Symbolik in der Kollektivsymbolik, in: J. Fohrmann/ H. Müller (Hgg.), Diskurstheorien und Literaturwissenschaft, Frankfurt/M. 1988, S. 284f. sowie A. Nünning (Hg.), a.a.O., S. 118.

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teratur als reintegrierenden Interdiskurs.44 Dieser verarbeitet bestimmte Elemente aus dem vielfältigen interdiskursiven Material – nach Link bestehend aus einer „Unmenge von ‚Zügen‘ im Sinne der Spieltheorie, von Figuren, Klischees, Stereotypen, Vorstellungsarten, pragmatischen Ritualen“45 – und vermag somit Anschauungen aus verschiedenen Wissensbereichen zu bündeln. „Nun leuchtet es ein, daß die schöne Literatur nicht beliebige und nicht alle interdiskursiven Elemente, Verfahren, Teilstrukturen aufnimmt und verarbeitet. Operativ-interdiskursive Elemente wie mathematische Formalisierung, Klassifikationsschemata, Meßverfahren usw. treten naturgemäß hinter imaginären Elementen wie bildlichen Analogien, Metaphern und Symbolen, Figurationen menschlicher Subjekte usw. weitgehend zurück oder ganz zurück. Die Gesamtheit der imaginären (nicht-operativen) interdiskursiven Elemente ließe sich als elementar-literarische Anschauungsformen auffassen, die aus der Tendenz zur Reintegration der Spezialdiskurse generiert werden und ihrerseits als ‚Rohstoffe‘ für die Literatur im 46 engeren Sinne dienen.“

Als wesentliche elementar-literarische Anschauungsformen nennt Link sogenannte „Kollektivsymbole“, die sich aufgrund ihrer sozialhistorischen Bedeutung gleichsam als Sinnbilder im kollektiven Bewusstsein verankert haben.47 Anschauliches Beispiel ist das Symbol des Ballons, das sowohl im Diskurs über technischen Fortschritt als auch – ähnlich wie Vulkan, Gewitter oder Flut – in der bildhaften Beschreibung revolutionärer Erhebungen Verwendung findet.48 Link zeigt, wie sich verschiedene Bedeutungsinhalte an das Ballonbild anlagern und dieses letztlich zu einem vielstimmigen Konnotat werden lassen.49 Dagegen zeigen Tier-, aber auch Körper- und Schiffssymbolik eine Besonderheit. Sie stehen bereits seit der Antike u. a. als Beschreibungsmodelle für gesellschaftliche Organisationsformen zur Verfügung, so dass sich zunächst kaum Anknüpfungspunkte zu Foucaults aufgezeigter Dialektik von Spezial- und Interdiskursen in modernen Gesellschaften ergeben.50

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Vgl. J. Link (1988), a.a.O., S. 285f. Ebd., S. 289. Ebd., S. 286. (Hervh. im Orig.). Vgl. ebd. Vgl. ebd., S. 286ff. Vgl. J. Link/R. Parr, Semiotik und Interdiskursanalyse, in: K.-M. Bogdal (Hg.), Neue Literaturtheorien. Eine Einführung, 2., überarb. Aufl., Opladen 1997, S. 124. Siehe zur Körpersymbolik beispielsweise die Erzählung des Menenius Agrippa vom Bauch und den rebellierenden Leibesgliedern, die W. Shakespeare in seinem Coriolanus verarbeitet. Vgl. W. Shakespeare, Coriolanus, in: Ders., The Arden Edition of the Works of W. Shakespeare, hrsg. v. W. J. Craig, R. H. Case u. a., 40 Bde., London 1958ff., Bd. XXX, S. 102ff. Vgl. ausführlicher zur Körper- und Schiffsmetaphorik D. Peil, Untersuchungen zur Staats- und Herrschaftsmetaphorik in literarischen Zeugnissen von der Antike bis zur Gegenwart, München 1983, Kap. C: „Der Staatskörper“ und Kap. F: „Das Staatsschiff“.

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„… ein bestimmter Teil auch moderner Kollektivsymbolsysteme [existiert] diachronisch wie synchronisch ‚vor‘ den industriellen Symbolen und anderen Symbolen modernen Wissens. Dazu gehört ein großer Teil der Tiersymbolik, der expliziten Körpersymbolik wie auch z. B. der Gebäudesymbolik, Schiffssymbolik u. ä. Es sind das Elemente eines fundamentalen ‚Alltagswissens‘, das wenig kulturspezifisch und wenig epochenspezifisch erscheint und jedenfalls nicht direkt den Evolutio51 nen der Dialektik von Diskursdifferenzierung und Diskursintegration folgt.“

Da sie aber nach Link einem fundamentalen Alltagswissen zuzurechnen sind, müssen diese Symbolsysteme ebenfalls zu jenem interdiskursiven Material gezählt werden, das beispielsweise auch verschiedene Anschauungen zur modernen Massenproblematik zu verdeutlichen und zu bündeln vermag. Diskursanalytische Positionen und Links Interdiskurs sind für eine interdisziplinäre und kulturwissenschaftliche Neuausrichtung der Stoff- und Motivgeschichte gewinnbringend, da Literatur in einen neuen und erweiterten Funktionszusammenhang zum Gesellschaftlichen und Kulturellen gestellt wird. Gleichzeitig gilt es aber, auf die Schwierigkeiten diskursanalytischer und hieran anschließender Positionen hinzuweisen. Als Teil eines vielfach vernetzten Diskursuniversums befindet sich auch der Autor selbst in einem permanenten Dialog mit anderen Texten, dessen Diskursfäden er aufnimmt und verarbeitet. Sowohl Autor als auch Text erscheinen somit weitgehend von einem bereits existierenden Diskursuniversum bestimmt. Die Einheitlichkeit und Abgeschlossenheit des Kunstwerks sowie der Autor als einheitlicher, klar erkennbarer Urheber des Textes werden in Frage gestellt.52 Zwar kann gerade die Komparatistik, die sich mit innerund transliterarischen Bezügen beschäftigt, nicht die Vorstellung eines vollständig in sich abgeschlossenen Kunstwerkes und ausschließlich individuellen Schöpfungsakts vertreten. Ein gänzlicher Verlust der Autorinstanz, wie sie beispielsweise in R. Barthes Aufsatz La mort de l’auteur (Der Tod des Autors; 1968) vertreten wird, erweist sich aber für den Umgang mit Literatur als problematisches Modell, da die Analyse literarischer Texte als Bezugsgröße auf ein Autorbewusstsein angewiesen ist.53 Problematisch ist ebenfalls eine unbegrenzte Kontextualisierung. Wird jeder Text nur als Mosaik von Zitaten begriffen, der andere Texte absorbiert und transformiert, oder als Aktualisierung von anonymen und unendlichen intertextuellen Bezügen beschrieben, lassen sich einzelne Texte nicht mehr voneinander abgrenzen.54 Die Konzeption ist für eine komparatisti51 52 53 54

J. Link (1988), a.a.O., S. 297. Vgl. A. Corbineau-Hoffmann, a.a.O., S. 240 und R. Baasner/M. Zens, a.a.O., S. 144. Vgl. ebd., S. 144f. J. Kristeva, die im Rückgriff auf M. Bachtins Kategorie der Dialogiziät ihr Konzept der Intertextualität entwickelte, nimmt eine unbegrenzte Kontextualisierung vor und versteht einen Text als Mosaik aus Zitaten. Ähnlich spricht beispielweise J. Derrida von einem nahtlosen und unbegrenzten „texte ge´ne´rale“. Vgl. überblickshaft zu Bachtin und Konzepten der Intertextualität U. Broich/M. Pfister (Hgg.), Intertextualität. Formen, Funktionen, anglistische Fallstudien, Tübingen 1985, S. 1-30.

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sche Untersuchung, die inner- und transliterarische Bezüge aufzeigen will, wenig praktikabel.55 Trotz dieser kritischen Anmerkungen ist die Vorstellung von einer Diskursivität der Kultur für die Untersuchung transliterarischer Bezüge fruchtbar, da auf ein gemeinsames diskursives Organisationsprinzip von Literatur und anderen Wissensbereichen fokussiert wird, das vornehmlich in der Sprache gründet.56 Nicht nur werden die traditionellen Fächergrenzen durchlässig, auch das Verhältnis von literarischem Text und außerliterarischem Kontext lässt sich verändert beschreiben. Der literarische Text, der Elemente eines vielstimmigen Diskursuniversums verarbeitet, bildet nun weniger eine objektiv gesetzte Wirklichkeit ab, vielmehr kann die literarische Fiktion als „Nachahmung“ der Kommunikation über diese Wirklichkeit verstanden werden.57

I. 3. Forschungsstand Da die vorliegende Vergleichsstudie die Darstellung des Massenhaften im Bild und Motiv des Tierischen zu erfassen sucht und hierfür Primärtexte aus verschiedenen Nationalliteraturen herangezogen werden, sind sowohl Forschungsergebnisse aus verschiedenen Wissensbereichen als auch Philologien zu berücksichtigen. Allerdings soll nachfolgend weder eine umfängliche Darstellung zur literarischen Massendarstellung noch zum Bild des Tierischen in der Literatur geleistet werden. Die Diskussion des Forschungsstandes wird sich auf Arbeiten und Untersuchungen konzentrieren, die sich mit der verknüpfenden Fragestellung nach tierischen Beschreibungsmustern des Massenhaften berühren oder für die Vergleichsstudie wesentliche Anregungen liefern. Dass das Verhalten der Vielen bereits in der Antike verhandelt wurde und sich an die Französischen Revolutionsereignisse eine intensive Auseinandersetzung mit den aufständischen Massen anschließt, zeigen beispielhaft J. S. McClellands überblickshafte Untersuchung The crowd and the mob. From Plato to Canetti, F. Millars The Crowd in Rome in the late Republic beziehungsweise G. Rude´s Die Massen in der Französischen Revolution sowie Die Volksmassen in der Geschichte. England und Frankreich 1730-1848 oder Th. Müllers Aufsatz „Handlungen, deren Cannibalen sich schämen würden“ – das Phänomen der Masse in der deutschen Literatur um 1800. Zudem finden sich in der Forschungsliteratur vor allem punktuelle Einzelstudien wie etwa R. C. Maias Unter55 56 57

Vgl. zur Problematik der Intertextualitätskonzeptionen A. Corbineau-Hoffmann, a.a.O., S. 242, U. Broich/M. Pfister (Hgg.), a.a.O., S. 21f. und A. Nünning (Hg.), a.a.O., S. 301. Vgl. ebd., S. 207. Vgl. A. Nünning, Narrative Form und fiktionale Wirklichkeitskonstruktion aus der Sicht des „New Historicism“ und der Narrativik. Grundzüge und Perspektiven einer kulturwissenschaftlichen Erforschung des englischen Romans im 18. Jahrhundert, in: Zeitschrift für Anglistik und Amerikanistik 40, 3 (1992), S. 199.

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suchung zu Darstellung und Beschreibung des Massenhaften bei Ch. Dickens, Zola und E. Canetti oder A. Clark Fehns Abhandlung zu Massenkonzepten des expressionistischen Dramas.58 Der Politologe König versucht dagegen in seiner 1992 erschienenen übergreifenden Studie Zivilisation und Leidenschaft der Komplexität und Vielschichtigkeit der Begrifflichkeit gerecht zu werden. Er zeigt hierbei, dass die Rede über die Masse vor allem zentrale Problembereiche der westlichen Zivilisation und bürgerlichen Gesellschaft offenlegt und zumeist mehr mit den Ängsten der Diskutierenden als mit dem Gegenstand selbst zu tun hat.59 Gampers 2007 erschienene Habilitationsschrift Masse lesen, Masse schreiben liest sich als eine überaus detailreiche Konzept-, Diskurs- und Imaginationsgeschichte der Masse, in der er sich insbesondere auf die Entstehung des Massediskurses in der 2. Hälfte des 18. und dessen Konstitution im 19. Jahrhundert konzentriert. Er schenkt hierbei vor allem den Austauschbeziehungen zwischen Literatur und anderen Wissensbereichen Beachtung und vermag deutlich zu machen, welch zentrale Rolle gerade der Literatur bei der Etablierung der Masse als Objekt des Wissens zukommt.60 Die von Gamper aufgezeigten interdisziplinären Bedeutungszusammenhänge und Bezugssysteme werden in den begriffs- und diskursgeschichtlichen Aufriss der Vergleichsstudie erhellend miteinzubeziehen sein. Da Gamper aber vornehmlich Texte aus der deutschsprachigen Literatur und Geistes58

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Vgl. R. C. Maia, Crowd theory in modern fiction. Dickens, Zola and Canetti 1842-1960, Nottingham 1992 (Diss.) und A. Clark Fehn, Concepts of the Masses and German Drama in the Weimar Republic, in: Seminar 24 (1988), S. 31-57. Zu weiteren Einzelstudien vgl. beispielhaft H. Schlaffer, Dramenform und Klassenstruktur. Eine Analyse der dramatis persona „Volk“, Stuttgart 1972, W. Hempel, Manzoni und die Darstellung der Menschenmenge als erzähltechnisches Problem in den „Promessi Sposi“, bei Scott und in den historischen Romanen der französischen Romantik, Krefeld 1975 oder D. Kafitz, Zwischen Avantgarde und kollektivem Diskurs. Zur Massendarstellung und Lichtmetaphorik in den Dramen Georg Kaisers, in: E. Fischer-Lichte/N. Mennemeier (Hgg.), Drama und Theater der europäischen Avantgarde, Tübingen 1994, S. 67-90. Vgl. H. König, a.a.O., S. 114ff. Ähnlich auch T. Genett, Angst, Haß und Faszination. Die Masse als intellektuelle Projektion und die Beharrlichkeit des Projizierten, in: Neue politische Literatur 43, 2 (1999), S. 193-240. Um eine Theoriebildung zur Masse in verschiedenen zeitgeschichtlichen Kontexten bemühen sich zudem N. Krenzlin (Hg.), Zwischen Angstmetapher und Terminus. Theorien der Massenkultur seit Nietzsche, Berlin 1992 sowie S. Günzel, Der Begriff der „Masse“ im ästhetisch-literarischen Kontext, in: Archiv für Begriffsgeschichte 45 (2003), S. 151-166. Die bereits erwähnte Aufsatzsammlung Kollektive Gespenster: Masse, Zeitgeist und andere unfaßbare kollektive Körper von Gamper/Schnyder beschreitet ähnliche Forschungswege, wenn sie u. a. dem heterogenen Massenbegriff in unterschiedlichen Wissenbereichen nachspürt und Formen der Darstellung nachzeichnet. Lüdemann/Hebekus fragen in ihrer Aufsatzsammlung Massenfassungen ebenfalls nach der Darstellbarkeit des Massenhaften, wenn Strategien der Repräsentation von Massen in Literatur, Film, Soziologie und Demographie vorgestellt werden. Hinsichtlich der Tiermotivik ergeben sich aber kaum Anknüpfungspunkte. M. Bernauers ebenfalls breit und interdisziplinär angelegte Studie zur Entwicklung einer „Ästhetik der Masse“ fokussiert vor allem auf den Bereich der Architektur und Architekturtheorie. Vgl. M. Bernauer, Die Ästhetik der Masse, Basel 1990.

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geschichte heranzieht, und das Motiv des Tierischen zur Kennzeichnung des Massenhaften zwar im Zusammenhang mit den Französischen Revolutionsereignissen und der Massenpsychologie erwähnt, sonst aber kaum verhandelt wird, überschneidet sich Gampers Arbeit tatsächlich nur partiell mit der vorliegenden Vergleichsstudie.61 Wesentliche Anregungen liefert zudem A. Graczyks Untersuchung Die Masse als Erzählproblem, die sowohl grundsätzliche Überlegungen zur Begriffs- und Literaturgeschichte der Masse anstellt als auch auf sprachliche Darstellungsmöglichkeiten und -probleme des Massenhaften fokussiert. Graczyk stellt zunächst wie Königs und Gampers Arbeiten Ergebnisse bereit, die in den begriffs- und diskursgeschichtlichen Überblick zum Massenhaften der vorliegenden Vergleichsstudie miteinfließen werden. Gleichzeitig ist dieser aber um russisch-slavophile Denk- und Diskussionsmuster zur Opposition von Gemeinschaft und Gesellschaft sowie um A. I. Gercens Begriff des „mesˇcˇanstvo“ („Klein-“; „Spießbürgertum“) und Dostoevskijs „zolotaja posredstvennost’“ („goldene Mittelmäßigkeit“) zu erweitern. Ebenso werden Lenins Modell einer die „unbewussten“ Volksmassen agitierenden revolutionären Vorhut sowie die kollektivistischen Bestimmungen des Einzelnen im Bolschewismus und Nationalsozialismus anzusprechen sein. Graczyks detaillierte Beschreibung der Darstellung revoltierender Massen in F. Jungs Proletarier und C. Sternheims Europa bietet schließlich eine Orientierungshilfe für die Analyse der großstädtischen Massenszenen in Bulgakovs Erzählung Rokovye Jajca. Ebenfalls aufschlussreich ist in diesem Zusammenhang die komparatistische Untersuchung Die erzählte Stadt von V. Klotz, der verschiedene literarische Schilderungen großstädtischer Menschenmengen analysiert und diese als wesentliches Element der Großstadt-Literatur vorstellt. Da sich Graczyk sowohl in ihrer Studie zur Masse als Erzählproblem als auch in ihrem Aufsatz Die Masse als elementare Naturgewalt vor allem auf die Darstellung revoltierender Massen konzentriert, findet sich vornehmlich der naturale Metaphernkomplex des Fluss- und Meeresbildes, des Sturms und des Vulkans besprochen. Der Bereich des Tierischen wird zwar erwähnt, aber nicht vertiefend analysiert.62 Dagegen sind Tradition und veränderte Konnotierungen tiermetaphorischer Beschreibungsmuster wie der Herde, des Ameisen- und Bienenstaates zur Abbildung politischer Herrschaftsverhältnisse und somit immer auch der Vielen detailreich anhand von Peils Habilitationsschrift Untersuchungen zur Staats- und 61

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Vgl. zur Verknüpfung von Tiermotiv und Massenthematik angesichts der Französischen Revolutionsereignisse und des Entstehens der Massenpsychologie zuletzt M. Gamper, Massen als Schwärme. Zum Vergleich von Tier und Menschenmenge, in: E. Horn/L. M. Gisi (Hgg.), Schwärme – Kollektive ohne Zentrum. Eine Wissensgeschichte zwischen Leben und Information, Bielefeld 2009, S. 69-84. Vgl. A. Graczyk, Die Masse als Erzählproblem. Unter besonderer Berücksichtigung von Carl Sternheims „Europa“ und Franz Jungs „Proletarier“, Tübingen 1993, S. 10f., 14, 22 und dies., Die Masse als elementare Naturgewalt. Literarische Texte von 1830-1920, in: Dies. (Hg.), Das Volk. Abbild, Konstruktion, Phantasma, Berlin 1996, S. 41ff.

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Herrschaftsmetaphorik in literarischen Zeugnissen von der Antike bis zur Gegenwart nachzuvollziehen. Bespricht Peil das Phänomen des Massenhaften auch nur am Rande, etwa unter dem Stichwort der „Verameisung“63 , so wird doch ein vertiefender Verständnishintergrund für die verknüpfende Fragestellung der Vergleichsstudie geschaffen. Schließlich ist E. Canettis kulturwissenschaftlich-philosophisch ausgerichtete Arbeit Masse und Macht (1960) zu erwähnen, da ein veränderter Zugang zu den bis dato eher Masse verachtenden Konzepten der Massenpsychologie und -soziologie gewählt wird. Im Rückgriff auf archaische Gemeinschaften und deren Verhaltensmuster werden „Massenerlebnisse“ als dem menschlichen Erfahrungshorizont immanente und zunächst wertneutrale Erfahrungen interpretiert.64 Zudem diskutiert Canetti eine Reihe von „Massensymbolen“, die allerdings vornehmlich dem naturalen Metaphernkomplex zuzurechnen sind, und beschäftigt sich eingehend, so im Zusammenhang mit der „unsichtbaren“ und „toten Masse“, mit der Masse-Führer-Problematik. Anknüpfungspunkte für eine Verbindung des Massenhaften mit dem Tierischen ergeben sich insbesondere über Canettis Schilderungen archaischer Ursprungs- und Weltentstehungserzählungen.65 Mit literaturwissenschaftlichen Untersuchungen zum Tierischen als Konkretisation menschlicher Existenzlagen teilt die Vergleichsstudie zumeist nur einen grundsätzlich ähnlichen Betrachtungsansatz.66 So sieht etwa Holthusen in seiner Abhandlung Tiergestalten und metamorphe Erscheinungen in der Literatur der russischen Avantgarde (1909-1923) über Bild- und Motivwahl des Tierischen „Ursprünge, Gefährdung und Grenzen des Menschseins“67 angesprochen, während H.-J. Gerigk den Affen als „imago hominis“ vorstellt, der sich ob seiner Ähnlichkeit mit dem Menschen „auf natürliche Weise zur Veranschaulichung der Selbstentfremdung des Menschen inmitten seiner eigenen Kultur eignet“68 . Dagegen fokussiert Ch. Cosentino in ihrer Untersuchung zur Lyrik des Expres-

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Vgl. D. Peil, a.a.O., S. 232f. Vgl. zu Canettis Masse und Macht als diskursivem Einschnitt insbesondere P. Friedrich, Die Rebellion der Masse im Textsystem. Die Sprache der Gegenwissenschaft in E. Canettis „Masse und Macht“, München 1999 und zuletzt ders., Das Erlebnis und die Masse. Zu Elias Canettis poetischer Massentheorie, in: S. Lüdemann/U. Hebekus (Hgg.), a.a.O., S. 125-144. Vgl. E. Canetti, Masse und Macht, 27. Auf., Frankfurt/M. 2001, S. 411ff. Vgl. beispielhaft F. X. Braun, Das Tier in der modernen Dichtung und Kritik, in: Michigan Germanic Studies 1 (1975), S. 316-327, A. Carlsson, Teufel, Tod und Tiermensch. Phantastischer Realismus als Geschichtsschreibung der Epoche, Kronberg/Ts. 1978, J. Zhou, Tiere in der Literatur. Eine komparatistische Untersuchung der Funktion von Tierfiguren bei Franz Kafka und Pu Songling, Tübingen 1996, I. Schuster, Das Tier als Chiffre. Natur und Kunstfigur in den Novellen Theodor Storms, Bern/Berlin 2003 oder die auf die Bedeutung von Fabeltieren konzentrierte Untersuchung von D. Arendt, Zoologica poetica. „Das Menschengeschlecht in seiner ungeheuchelten Tierheit“, Fernwald 1994. J. Holthusen, a.a.O., S. 4. H.-J. Gerigk, Der Mensch als Affe in der deutschen, französischen, russischen, englischen und amerikanischen Literatur des 19. und 20. Jahrhunderts, Hürtgenwald 1989, S. 11.

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sionismus auch explizit auf Massenvorstellungen evozierende Tierbilder.69 Ihre Textbeipiele lassen sich erhellend in die Darstellung zu modernen Erfahrungen des Massenhaften einbeziehen. Allerdings gilt es unabhängig von der Massenthematik zu fragen, weshalb das Tierische wiederholt als Spiegel des Menschlichen herangezogen wird. Entsprechend sind verschiedene sowohl positive als auch negative Konnotierungen der „Kontrastfolie“ Tier aufzuzeigen. Beispielgebend sind hierbei die kulturwissenschaftlich ausgerichteten Einleitungen, die K.-H. Fingerhut seinen Studien zu Tierfiguren bei F. Kafka und R. M. Rilke voranstellt.70 G. Brunner Ungricht zeichnet in ihrer motivgeschichtlichen Untersuchung zur Mensch-Tier-Verwandlung einführend nach, wie sich das Verständnis des tierisch-menschlichen Gestaltwechsels von einer Begabung mit göttlich-dämonischer Macht zu einem Vorgang der Strafe sowie in christlichen Deutungsmustern zu einem Ausdruck sündhaften Teufels- und Hexenwerks veränderte.71 Mit dem Verwandlungsmotiv, ob der Nashornwerdung der Figuren insbesondere in Ionescos Theaterstück prominent, als „umgekehrte“ Metamorphose allerdings auch für Orwells zwitterhafte „Schweinemenschen“ festzustellen, ist gleichzeitig die Frage nach verschiedenen Gestaltungsformen des Grotesken aufgeworfen, auf die neben einem Überblick zur Fabel in einer kulturwissenschaftlichinterdisziplinären Betrachtung zum Verhältnis von Mensch und Tier einzugehen ist. Neben W. Kaysers Standardwerk Das Groteske. Seine Gestaltung in Malerei und Dichtung und H. Günthers Das Groteske bei N. V. Gogol’ ist insbesondere V. Levins Studie zum Grotesken in Bulgakovs Prosa zu berücksichtigen. Zwar konzentriert sich Levin vornehmlich auf Bulgakovs Roman Master i Margarita und die operative Erschaffung des Tiermenschen Sµarikov in der Erzählung Sobacˇ’e serdce (Hundeherz), spricht aber am Rande auch die reduzierende, Dingliches und Menschliches vermischende Figurenzeichnung in Rokovye Jajca an.72 69 70

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Vgl. Ch. Cosentino, Tierbilder in der Lyrik des Expressionismus, Bonn 1972, S. 91-107. Vgl. K.-H. Fingerhut, Die Funktion der Tierfiguren im Werke Franz Kafkas. Offene Erzählgerüste und Figurenspiele, Bonn 1969, S. 5-21 und ders., Das Kreatürliche im Werke Rainer Maria Rilkes. Untersuchungen zur Figur des Tieres, Bonn 1970, S. 3-35. Verwiesen sei an dieser Stelle auf die sogenannten „Animal Studies“ als neuere Entwicklung im Bereich der Kulturwissenschaften, die sich mit der Erforschung der historischen Bedeutung von Tieren innerhalb der menschlichen Gesellschaft beschäftigen. Vgl. hierzu beispielhaft P. Münch (Hg.), Tiere und Menschen. Geschichte und Aktualität eines prekären Verhältnisses, 2. Aufl., Paderborn/München/Wien u. a. 1999, J. Ullrich/F. Weltzien/H. Fuhlbrügge (Hgg.), Ich, das Tier. Tiere als Persönlichkeiten der Kulturgeschichte, Berlin 2008, R. Pöppinghege (Hg.), Tiere im Krieg. Von der Antike bis zur Gegenwart, Paderborn/München/Wien u. a. 2009 oder D. Brantz/Ch. Mauch (Hgg.), Tierische Geschichte. Die Beziehung von Mensch und Tier in der Kultur der Moderne, Paderborn/München/Wien u. a. 2010. Vgl. G. Brunner Ungricht, Die Mensch-Tier-Verwandlung. Eine Motivgeschichte unter besonderer Berücksichtigung des deutschen Märchens in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, Bern/Berlin/Frankfurt/M. u. a. 1998, S. 15-44. Vgl. V. Levin, Das Groteske in Michail Bulgakovs Prosa. Mit einem Exkurs zu A. Sinjavskij, München 1975 (Diss.), S. 21f.

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Er geht aber nicht auf die ebenfalls grotesk zu nennenden syntaktischen Alogismen in Bulgakovs Erzählung ein, die S. Le Fleming und H. H. Partridge73 in ihren Untersuchungen herausstellen und insbesondere von S. McLaughlin in ihrem Aufsatz Structure and Meaning in Bulgakov’s „The Fatal Eggs“ analysiert werden. E. C. Proffers Arbeiten The major works of Mikhail Bulgakov und Bulgakov. Life and Work aus den 1970er beziehungsweise 1980er Jahren geben vor allem einen Überblick über Bulgakovs Schaffen und gehen somit auch auf Bulgakovs Rokovye Jajca ein. Der Anlage der Untersuchungen entsprechend findet sich aber vor allem der Inhalt der Erzählung zusammenfassend geschildert, handelnde Hauptpersonen werden vorgestellt und einige stilistische Besonderheiten und zeitgeschichtliche Bezüge benannt.74 M. O. Cµudakovas umfangreiche, biographisch angelegte Arbeit Zµizneopisanie Michaila Bulgakova liefert detaillierte Informationen zur Entstehungsgeschichte von Bulgakovs Rokovye Jajca und vermittelt gleichzeitig einen fundierten Einblick in den Literaturbetrieb zu Bulgakovs Lebzeiten. E∆. A. Jablokov bemüht sich im Rahmen seiner Untersuchung zu den Motiven in Bulgakovs Prosa um eine Analyse der Tiermotivik und reißt die parallelisierenden Beschreibungsmuster der monströsen Tier- und großstädtischen Menschenmassen sowie einen möglichen Bezug zur Elektrifizierungsthematik in der Erzählung an.75 Stellenweise geraten Jablokovs Interpretationen aber etwas wahllos und spekulativ, da er eine Vielzahl von Deutungsansätzen lediglich kurz anspricht, den Konnex aber nicht tatsächlich vertiefend ausführt.76 Dass sich die in Bulgakovs Erzählung geschilderte Entdeckung eines roten „Strahls des Lebens“ sowie die nachfolgende „rote Bestrahlung“ von Organismen satirisch auf die gesellschaftlichen Umwälzungen nach der Oktoberrevolution beziehen, wurde bereits sowohl von der damaligen zeitgenössischen Kritik vermerkt als auch in literaturwissenschaftlichen Untersuchungen wiederholt herausgestellt.77 Es ist allerdings E. C. Haber, die diese satirische Bezugnahme in ihrer 73

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Vgl. S. Le Fleming, Bulgakov’s use of the fantastic and the grotesque, in: The New Zealand Slavonic Journal 2 (1977), S. 29-42 und H. H. Partridge, Comedy in the early works of Mikhail Bulgakov, Ann Arbor 1968 (Diss.), S. 136f. u. 148ff. Vgl. E. C. Proffer, The major works of Mikhail Bulgakov, Bloomington 1971 (Diss.), S. 55-59 und dies., Bulgakov. Life and Work, Ann Arbor 1984, S. 109-118. Zu Werk und Biographie bereits V. Ja. Laksˇin, O proze Michaila Bulgakova i o nem samom, in: M. A. Bulgakov, Izbrannaja proza, Moskau 1966, S. 3-44. Vgl. E∆. A. Jablokov, Motivy prozy Michaila Bulgakova, Moskau 1997, S. 12ff. u. 40ff. Vgl. zu Bulgakovs Schaffen auch die verschiedenen Aufsatzsammlungen, welche die Erzählung Rokovye Jajca mehr oder weniger ausführlich besprechen, wie etwa A. A. Ninov (Hg.), Bulgakov-dramaturg i chudozˇestvennaja kul’tura ego vremeni, Moskau 1988, N. A. Groznova/A. I. Pavlovskij (Hgg.), Tvorcˇestvo Michaila Bulgakova. Issledovanija. Materialy. Bibliografija, 3 Bde., Leningrad 1991ff. oder L. Milne (Hg.), Bulgakov. The NovelistPlaywright, Luxemburg 1995. Vgl. etwa P. Doyle, Bulgakov’s satirical view of the revolution in Rokovye iaitsa and Sobach’e serdtse, in: Canadian Slavonic Papers 10, 4 (1978), S. 467-482 oder L. Milne, Mikhail Bulgakov. A Critical Biography, Cambridge 1990, S. 45ff.

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Studie Mikhail Bulgakov. The early years nicht nur allgemein konstatiert, sondern dezidiert auf einen möglichen Konnex zu L. D. Trockijs Vision von der Neuschöpfung eines sozialistischen Übermenschen hinweist.78 I. Gutkin spricht dagegen in ihrem Aufsatz hinsichtlich der in der Erzählung vorgenommenen Froschexperimente auf einen interessanten Bezug zur vorrevolutionären Intelligenz der 1860er Jahre an.79 Beide Aspekte sind für die kontrastive Betrachtung zur inhaltlichen Thematisierung des Massenhaften wesentlich, zudem aber mit zeitgenössischen Äußerungen in Beziehung zu setzen, Lenin betätige sich im „Großlaboratorium Sowjetunion“ als „Experimentator“. Dass hier vielfältige Bezüge aufzuzeigen sind, lässt insbesondere T. Rütings umfangreiche Untersuchung Pavlov und der Neue Mensch deutlich werden, die für die Textanalyse von Bulgakovs Rokovye Jajca einige wichtige Anknüpfungspunkte bietet.80 Eine ähnlich wie in der vorliegenden Arbeit intendierte vergleichende Zusammenschau von Bulgakovs und Cµapeks Schaffen strebt der russische Bohemist S. V. Nikol’skij in seiner 2001 erschienenen Publikation Nad stranicami antiutopii K. Cµapeka i M. Bulgakova an, die der Titelgebung nach viel verspricht, davon aber wenig einzulösen vermag und über weite Strecken unbefriedigend bleibt.81 Nikol’skij bemüht sich zum einen um eine allzu allegorische Lesart von Bulgakovs Rokovye Jajca und identifiziert nahezu das gesamte Figurenpersonal anhand fragwürdiger „Dechiffrierungen“ der Eigennamen in Form von „Kryptogrammen“ mit zeitgenössischen Personen wie Lenin, Trockij, V. I. Stalin, L. B. Kamenev oder F. E∆. Dzerzˇinskij.82 Zum anderen erschöpft sich der Vergleich von Cµapeks Va´lka s Mloky und Bulgakovs Rokovye Jajca in allgemeinen, auf eine Vielzahl von literarischen Texten zutreffende Aussagen. So zeigten etwa Roman und Erzählung eine mehrschichtige Struktur, während die Figuren beider Texte auf tatsächliche Personen verwiesen.83 Beschlossen wird die komparatistische Arbeit von ebenfalls wenig spezifischen Einlassungen zur Intention und Motivation der Autoren. Beide Autoren beschäftigten sich mit einer nicht näher bestimmten „Mehrdimensionalität des Daseins“ („mnogomernost’ bytija“), verur78

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Vgl. E. C. Haber, Mikhail Bulgakov. The early years, Cambridge 1998, S. 198ff. Ähnlich bereits in dies., The social and political context of Bulgakov’s „The fatal eggs“, in: Slavic review 51, 3 (1992), S. 505f. Vgl. I. Gutkin, Michail Bulgakov’s novella „Rokovye jajca“ in the context of its mythological subtexts, in: Russian Literature 21 (1992), S. 283-296. Vgl. T. Rüting, Pavlov und der Neue Mensch. Diskurse über Disziplinierung in Sowjetrussland, München 2002. Ebenfalls zu erwähnen ist in diesem Zusammenhang die Arbeit von D. Müller, Der Topos des Neuen Menschen in der russischen und sowjetrussischen Geistesgeschichte, Bern 1998. Vorausgegangen ist dieser umfangreicheren Vergleichsstudie Nikol’skijs Aufsatz Pritcˇti o Novych Adamach iz istorii antiutopii XX veka (Brat’ja Cµapeki, A. Tolstoj, M. Bulgakov), in: Slavjanovedenie 3 (1997), S. 85-99. Vgl. S. V. Nikol’skij, Nad stranicami antiutopii K. Cµapeka i M. Bulgakova. (Poe˙tika skrytych motivov), Moskau 2001, S. 33f., 46f., 54ff., 73 u. 155. Vgl. beispielhaft ebd., S. 30 u. 49.

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teilten unzulässige Eingriffe in den natürlichen Lauf der Dinge sowie die Beschränktheit fanatischer Programme und Doktrinen.84 So verbinde sich in ihrer „philosophischen Phantastik“ die antiutopische Schreibweise – die Strukturmerkmale der Antiutopie finden sich allerdings nur unzureichend definiert – wiederholt mit einem anklagenden Erzählen die zeitgenössische Gegenwart betreffend. „Analiz filosofskoj fantastiki Karela Çapeka i Mixaila Bulgakova pozvoläet preΩde vsego podtverdit´ uΩe vyskazannuü mysl´ o tom, çto v ix tvorçestve ärko vyraΩena tendenciä k srastaniü struktury antiuto85 pii s konkretnym obliçitel´nym povestvovaniem o sovremennosti.“

Der vergleichenden Untersuchung von Bulgakovs und Cµapeks Schaffen geht bei Nikol’skij eine eingehende und jahrzehntelange Beschäftigung mit Cµapeks Werk voran. 1968 veröffentlichte er die erste und bis zu A. Ohmes 2002 erschienener Studie K. Cµapeks Roman „Der Krieg mit den Molchen“. Verfahren – Intention – Rezeption einzig selbständige Monografie zu Cµapeks Va´lka s Mloky.86 Diese zeigt allerdings entsprechend der seit 1948 auch in der Tschechoslowakei gültigen Doktrin des Sozialistischen Realismus, die Literatur weniger nach ihrem ästhetischen Wert, sondern nach ihrer Konformität mit der staatlich vorgegebenen Ideologie beurteilt, eine stark ideologische Vereinnahmung des Romans.87 Zwar gelingt es Nikol’skij, die unterschiedlichen Gegenstände von Cµapeks Satire zu benennen sowie die zeitgeschichtlichen und für das Textverständnis wichtigen Bezüge aufzuzeigen. Seine Interpretation des Molchmotivs gerät aber ob der ideologischen Verengung widersprüchlich. Verweist der Umgang der Menschen mit den Molchen zunächst auf die Unmenschlichkeit vornehmlich „bourgeoiser“ und „imperialistischer“ Gesellschaftspraktiken, steht die Molchpopulation nachfolgend für eine Vermassung und Nivellierung der Individualität im technisierten Zeitalter, wobei jedoch die internationale Arbeiterschaft, so Nikol’skij, von dieser Entwicklung nicht betroffen sei.88 84 85 86

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Vgl. ebd., S. 162. Ebd., S. 164. Vgl. S. V. Nikol’skij, Roman K. Cµapeka „Vojna s salamandrami. Struktura i zˇanr, Moskau 1968. Eine leicht veränderte Fassung enthält Nikol’skijs umfangreiche, auf Cµapeks Gesamtwerk zielende Arbeit Karel Cµapek. Fantast i satirik, Moskau 1973, die 1978 unter dem Titel Fantastika i satira v díle Karla Cµapka ins Tschechische übersetzt wurde und aus der im Rahmen der Vergleichsstudie vornehmlich zitiert wird. Deutlich wird die ideologische Vereinnahmung auch im Vergleich zu den Betrachtungen Trojíce studií o Karlu Capkovi (1948) des Prager Strukturalisten J. Mukarˇovsky´, der noch nicht auf die Vorgaben des Sozialistischen Realismus Rücksicht zu nehmen hatte. Vgl. S. V. Nikol’skij (1968), a.a.O., S. 112ff. So kritisierte bereits A. Platonov, Cµapek zeige eine mögliche Menschheitsentwicklung allein für die westlichen, bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaften auf, übersehe dabei aber die veränderten Vorzeichen wie sie sich aus der Oktoberrevolution und der Etablierung der Sowjetunion ergeben. Vgl. A. Platonov, O „likvidacii cˇelovecˇestva“ (Po povodu romana K. Cµapeka „Vojna s salamandrami“), in: Ders., Sobranie socˇinenij v trech tomach, Moskau 1985, Bd. II, S. 471f. u. 478f.

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Bereits der Slowake A. Matusˇka hatte in seiner Arbeit Cµlovek proti zkáze. Pokus o Karla Cµapka die Molche als Verkörperung der Masse und des modernen mechanisierten Menschen gesehen. „They [the Newts; Anm. M. M.] mean modern, mechanized man in general, man who has nothing of his own, who is mediocre, a quantity rather than a quality. The Newts only have science, but no music or literature, they are educated, but in a manner that permits them to acquire from human civilization only that which is mediocre and utilitarian, mechanical and repeatable… The worst of it is that they have multiplied only into a docile, foolish and conceited type of mediocrity on a 89 large scale…“

Während Matusˇka über dieses allgemeinere Verständnis der Molche aber zu einer umfänglicheren, die menschliche Zivilisation als solche betreffenden Lesart der Satire gelangt90 , werden die Molche bei Nikol’skij von einer nivellierten Masse schließlich zu Nationalsozialisten, wenn die „Invasion“ der Molche lediglich als Sinnbild faschistischer beziehungsweise nationalsozialistischer Politik verstanden wird, die nach Nikol’skij auch das eigentliche Ziel von Cµapeks satirischem Roman ist. „Roman ,Vojna s salamandrami‘ postepenno prevrawalsä v pamfletnuü panoramu sovremennoj meΩdunarodnoj Ωizni, v centre kotoroj naxo91 ditsä politika fa‚istskoj Germanii.“

Die ideologische Vereinnahmung ist auch daran abzulesen, dass Nikol’skijs Einschätzung in seiner oben erwähnten Vergleichsstudie aus dem Jahr 2001 differenzierter ausfällt. Der Nationalsozialismus wird als Gegenstand von Cµapeks Satire zwar erwähnt, aber nicht mehr zu ihrem Hauptanliegen erklärt.92 Das erkenntnisleitende Interesse von Ohmes bereits oben erwähnter Dissertation gilt der Frage, weshalb Cµapeks Roman, der „so offensichtlich in die gesellschaftspolitische Diskussion seiner Zeit eingegriffen hat und damit an bestimmte außertextuelle Kontexte gebunden ist“, nichts von seiner Aktualität – abzulesen

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Hier zitiert nach der englischen Übersetzung A. Matusˇka, Karel Cµapek. An Essay, London 1964, S. 271f. (Hervh. im Orig.). Vgl. ebd., S. 272. Ebenso gelangt I. Klíma trotz einer zunächst ähnlichen Analogiebildung wie später Nikol’skij zu einer umfänglicheren Deutung von Cµapeks Roman. Vgl. I. Klíma, Karel Cµapek, 2. Aufl., Prag 1965, S. 133. S. V. Nikol’skij (1968), a.a.O., S. 166. Vgl. ähnlich zur Kritik am Faschismus als Hauptanliegen von Cµapeks Roman J. Branzˇovsky´, Karel Cµapek. Svetovy´ na´zor a umeˇní, Prag 1963, S. 219, Sµ. Vlasˇín, Bojovník proti fasˇismu, in: Ders., Kniha o Cµapkovi. Kolektivní monografie, Prag 1988, S. 346-359 sowie M. Jähnichen, Bemerkungen zu Karel Cµapeks Antifaschismus, in: Zeitschrift für Slawistik 35 (1990), S. 48-55. Vgl. S. V. Nikol’skij (2001), a.a.O., S. 17 u. 22f.

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an einer nach wie vor breiten Leserschaft – verloren zu haben scheint.93 Hierbei setzt sich Ohme zum einen ausführlich mit der Rezeption von Cµapeks Roman in der Literaturkritik und Forschung auseinander und zeigt detaillierter als an dieser Stelle möglich und nötig, die ideologische Vereinnahmung des Romans auf. Zum anderen hinterfragt, systematisiert und fundiert er bisherige Forschungsergebnisse dahingehend, dass er anhand einer nun dezidierten Definition der Bewertungskriterien die zuvor meist nur behauptete Kennzeichnung des Romans als Satire und Utopie ausführlich diskutiert. Seine Untersuchungsergebnisse werden insbesondere in die Analyse des Aufbaus und der Komposition miteinfließen. Da sich Ohme um eine umfängliche Deutung von Cµapeks Roman und vor allem um dessen utopiekritische und satirische Stoßrichtung bemüht, bildet die verknüpfende Fragestellung von Massenthematik und Tiermotiv bei Ohme zwangsläufig nicht den wesentlichen und zentralen Untersuchungsgegenstand. So wird die Problematik der Vermassung ebenso wie die umfängliche Vermolchung oder die Funktion der Molche als tierische Doppelgänger des Menschen von ihm zwar vermerkt, aber nicht wie im Fall der vorliegenden Vergleichsstudie vertiefend beleuchtet. Orwells Animal Farm und Ionescos Rhinoce´ros, die zweifellos bekanntesten im Rahmen der Vergleichsstudie zu besprechenden Texte, sind wiederholt in Einzelbetrachtungen, Untersuchungen zum Gesamtwerk oder biographisch ausgerichteten Studien besprochen worden.94 Orwells eigenen Einlassungen entsprechend, er wolle mit einer einfachen und verständlichen Erzählung den „Mythos Sowjetunion“ entlarven, konzentrieren sich die Untersuchungen zu Animal Farm vor allem auf die Allegorese der Fabel.95 Diese fällt aber nicht selten wenig detailliert aus und wird der Beschäftigung des Autors mit den politischen Entwicklungen in der Sowjetunion, seiner Rezeption von Analysen, Reise- und Erfahrungsberichten und seinem eigenen Erfahrungshorizont den Spanischen Bürgerkrieg betreffend kaum gerecht. Zudem wird zwar regelmäßig bemerkt, dass es sich bei Animal Farm um eine Fabel handelt. Die sich aus der Verwendung der Tierfiguren ergebenden Bedeutungszusammenhänge, dass etwa das fehlende Erinnerungsvermögen der Farmtiere dem Präsentismus der tierischen Lebensform entspricht oder die tierische Einkleidung menschlicher Lehren in der Fabel eine Aussetzung menschlicher Handlungsfreiheit impliziert, finden sich aber zumeist 93 94

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Vgl. A. Ohme, Karel Cµapeks Roman „Der Krieg mit den Molchen. Verfahren – Intention – Rezeption, Frankfurt/M./Berlin/Bern u. a. 2002 (Diss.), S. 10. Beide Texte zählen, ebenso wie Orwells Nineteen Eighty-Four, in Deutschland zur Schullektüre, so dass entsprechende Lektürehilfe-Bändchen wiederholt neu aufgelegt werden. Vgl. etwa M. v. Ziegésar, George Orwell, „Animal Farm“. Annotations and study aids, Stuttgart/Düsseldorf/Leipzig 1999, D. Ball, Lektürehilfe George Orwell „Animal Farm“, 9. Aufl., Stuttgart/Düsseldorf/Leipzig 2003 und M. LeHir-Egle, Stundenblätter Eugène Ionesco „Rhinocéros“, 4. Aufl., Stuttgart/Dresden 1993. Vgl. etwa J. R. Hammond, A George Orwell Companion, London 1982, S. 160ff., J. Calder, Animal Farm and Nineteen Eighty-Four, Milton Keynes 1987, S. 16ff. oder V. Meyers, George Orwell, London 1991, S. 101ff.

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nicht eingehender thematisiert. Anknüpfen lässt sich allerdings an R. Fowlers Studie The Language of George Orwell, der die Einfachheit der Sprache und Syntax der Fabel in Beziehung zur psychologischen Schlichtheit der Farmtiere setzt.96 Ein Standardwerk zu Orwells Schaffen ist die biographisch ausgerichtete Untersuchung George Orwell. A Life von B. Crick, der die komplizierte Publikationsgeschichte der politisch nicht opportunen Fabel detailliert nachzeichnet und verstehbar macht.97 W. Steinhoffs The Origins of Nineteen Eighty-Four und H.Ch. Schröders George Orwell. Eine intellektuelle Biographie beziehen Orwells umfängliches journalistisches Schaffen in ihre Textanalysen mit ein und diskutieren literarische Vorlagen und Einflüsse. Insbesondere Schröder gibt für die Vergleichsstudie wesentliche Anregungen. Zum einen weist er für eine Auslegung der allegorischen Tierfabel auf weiterreichende Bezüge hin, wenn er die Schädlings- und Spionagehysterie in der Sowjetunion sowie Stalins Kampagnen gegen die „Gleichmacherei“ („uravnilovka“) anspricht. Zum anderen erwähnt er hinsichtlich Orwells zwitterhaften „Schweinemenschen“ neben ähnlichen Kennzeichnungen der Herrschenden und Mächtigen aus der westeuropäischen Literatur tierische Beschreibungsmuster für die sowjetische Nomenklatura in slawischen Literaturen. Schröders Forschungspraxis in gewisser Weise analog wird im Hinblick auf eine Allegorese näher auf die Ergebnisse neuerer Studien zur Stalinzeit einzugehen sein.98 Zudem sollen die in Animal Farm geschilderten Entwicklungen mit Erfahrungsberichten russischer Schriftsteller konfrontiert und weitere, Stalin sowie die sowjetische Nomenklatura mit dem Tierischen identifizierende Beschreibungsmuster aufgezeigt werden.99 Von Relevanz ist hierbei auch G. Beauchamps Abhandlung zum Krokodil als Sinnbild skrupellosen Machthungers in Orwells Prosa und journalistischem Schaffen.100 Hinsichtlich Orwells Einstellung zu immer wieder neu formulierten Masse-Elite-Modellen interessieren zudem die Arbeiten von J. Carey und S. Collini, die Orwells ambivalentes Verhält-

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Vgl. R. Fowler, The Language of George Orwell, London 1995, S. 164ff. Als weitere Biographien seien genannt: M. Shelden, Orwell. The Authorised Biography, London 1991, J. Meyers, Orwell: Wintry conscience of a generation, New York 2000 oder D. J. Taylor, Orwell. The Life, London 2003. Vgl. hierzu etwa R. Löhmann, Der Stalinmythos. Studien zur Geschichte des Personenkults in der Sowjetunion (1929-1935), Münster 1990, R. C. Tucker, Stalin in Power. The Revolution from above 1928-1941, New York/London 1990 und K. Heller/J. Plamper (Hgg.), Personenkulte im Stalinismus, Göttingen 2004. Hilfreich ist hierbei insbesondere die materialreiche Untersuchung von K. Marsh, Images of Dictatorship. Portraits of Stalin in Literature, London/New York 1989. Vgl. G. Beauchamp, The Triumph of the Crocodile. Pessimism and Orwell’s Politics, in: A. Gomis/S. Onega (Hgg.), George Orwell. A. Centenary Celebration, Heidelberg 2005, S. 5972.

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nis gegenüber „den Massen“ beziehungsweise seine wiederholte Intellektuellenkritik verhandeln.101 Trotz neuerer Studien wie der Festschrift des Heidelberger Universitätsverlags oder der jüngst erschienenen Arbeiten zu Orwells Sozialismusverständnis und Totalitarismuskonzeption von A. Arciero und M. Ceretta102 lässt sich mit Beginn der 1990er Jahre doch ein gewisser Rückgang des Forschungsinteresses beobachten. Festzustellen ist dies auch für die Rezeption Ionescos, wobei die Gründe hierfür teils verschieden, teils ähnlich gelagert zu sein scheinen.103 Zum einen ist für das „Theater des Absurden“, zu dem auch Ionescos Dramenschaffen gezählt wird, ob einer Vielzahl von Aufführungen ab den 1950er Jahren ein gewisser Gewöhnungseffekt anzusprechen, so dass die Stücke bei einem Publikum mit zwangsläufig veränderten Sehgewohnheiten nicht mehr die anfänglich irritierend-verstörende Wirkung evozieren. Zudem gelingt es einer intensiven Rezeption des „absurden Theaters“ bis in die 1980er Jahre, u. a. beginnend mit M. Esslin in seinem 1964 publizierten und mehrfach aufgelegten Standardwerk The Theatre of the Absurd, das Phänomen des Absurden erklärend zu beschreiben und verständlich zu machen.104 Zum anderen ist wohl die sich ab Mitte der 1980er Jahre verändernde politische Lage in Europa von Bedeutung. Während Orwell in 101

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Vgl. J. Carey, The Intellectuals and the Masses. Pride and Prejudice among the Literary Intelligentsia, 1880-1939, London/Boston 1992, S. 21f. u. 39ff. sowie S. Collini, Absent Minds. Intellectuals in Britain, Oxford/New York 2006, 350-374. Vgl. A. Arciero, G. Orwell. Contro il totalitarismo e per un Socialismo democratico, Mailand 2005 und M. Ceretta (Hg.), George Orwell. Antistalinismo e critica del totalitarismo. L’utopia negativa, Florenz 2007. Vgl. zu Orwells Totalitarismuskonzeption beispielhaft die vor allem Nineteen Eighty-Four in den Mittelpunkt der Betrachtung stellenden, auch vergleichenden Arbeiten von H. Komuth, Manès Sperber, Arthur Koestler und George Orwell. Der Totalitarismus als Geißel des 20. Jahrhunderts, Würzburg 1987, J. W. Young, Totalitarian Language. Orwell’s Newspeak and the Nazi and Communist Antecedents, Charlottesville/London 1991 oder U. Klawitter, The Theme of Totalitarianism in „English“ Fiction. Koestler, Orwell, Vonnegut, Kosinski, Burgess, Atwood, Amis, Frankfurt/M./Berlin/Bern u. a. 1997. Für neuere, zumeist auf einen bestimmten Themenkreis bezogene Studien wie M. GramlichWeinbrenner, Ionesco Protagonist – der Protagonist Ionesco. Unbequeme Wahrheiten und psychologische Hintergründe in Eugène Ionescos Leben und Werk, Heidelberg 2006, M. Jean-Blain, Eugène Ionesco mystique ou mal-croyant, Brüssel 2005 oder G. Féal, Ionesco. Un théaˆtre onirique, Paris 2001 ist zudem festzustellen, dass sie auf Rhinoce´ros nicht oder lediglich am Rande eingehen. Vgl. beispielhaft auch A. Heidsieck, Das Groteske und das Absurde im modernen Drama, Stuttgart 1969, R. Daus, Das Theater des Absurden in Frankreich, Stuttgart 1977, L. A. Dobrez, The existential and its exits. Literary and philosophical perspectives on the work of Beckett, Ionesco, Genet and Pinter, London 1986, M.-C. Hubert, Langage et corps fantasmé dans le théaˆtre des années cinquante. Ionesco – Beckett – Adamov, Paris 1987 und R. Görner, Die Kunst des Absurden. Über ein literarisches Phänomen, Darmstadt 1996. G. Büttner versieht seine erstmals 1969 erschienene Studie Absurdes Theater und Bewußtseinswandel in der dritten Auflage 2001 dementsprechend auch mit dem veränderten Titel Samuel Beckett – Eugène Ionesco. Klassiker der Moderne. Über den seelischen Realismus im Drama der Neuzeit.

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seiner 1949 veröffentlichten Antiutopie Nineteen Eighty-Four105 für die 1980er Jahre eine von wenigen stabilen totalitären Staatswesen beherrschte Welt antizipierte, verlief die Entwicklung mit der Streik-Bewegung der Solidarnos´c´ in Polen und M. S. Gorbacˇevs Amtsantritt sowie der Grenzöffnung in Ungarn und dem Fall der Berliner Mauer in entgegengesetzter Richtung und entließ eine Vielzahl sogenannter „Transformationsstaaten“ in die Unabhängigkeit. Orwells allegorische Tierfabel auf die Entwicklung in der Sowjetunion von der Oktoberrevolution bis in die 1940er Jahre sowie seine Darstellung des Zwangsstaates des Großen Bruders schienen in ihrer Aktualität überlebt und lediglich in Form eines historischen Rückblicks auf das „Zeitalter der Ideologien“ interessant. Auch Ionescos Rhinoce´ros schienen sich nur zu offensichtlich auf die Kollektivismen des 20. Jahrhunderts zu beziehen. Das Publikum der Düsseldorfer Uraufführung 1958 sah mit der an eine Massenpsychose erinnernden Nashornwerdung der Figuren vor allem die erst jüngst zurückliegende deutsche Vergangenheit auf die Bühne gebracht. Dies schien ebenso einsichtig wie schnell begriffen. Allerdings formulierte ein Rezensent anlässlich der Aufführung, dass sich das Stück wohl nicht nur auf die Totalitarismen und Kollektivismen des 20. Jahrhunderts, sondern auch auf den Konformismus moderner Massen- und Konsumgesellschaften beziehen lasse. „Der Autor meint jede Art von totalitärer Verführung und von Mitläufertum. Über die speziellen politischen Inhalte hinaus behandelt er die in Ost und West gleichermaßen wirksamen Gleichschaltungstendenzen der modernen Massen- und Kon106 sumgesellschaften.“

Zwar ist es in der Forschungsliteratur gängige Sicht, dass Ionesco mit seinen Nashörnern einen „Prozess der Vermassung“ ins Bild setzt, wobei der Bezug zum deutschen Nationalsozialismus beziehungsweise zur rumänischen Garde-defer durch die Aussagen des Autors selbst gestützt wird. Es fällt allerdings auf, dass die Analogie zwischen den Aussagen der Figuren sowie ihrer Tierwerdung und nationalsozialistischen Ideologievorgaben, die sich beispielsweise in Jeans Abkehr von Humanität, Moral und Zivilisierung und der Proklamierung eines neuen, „raubtierhaften“ Menschen andeutet, kaum dezidiert besprochen wird. Die vorliegende Vergleichsstudie bietet hier die Möglichkeit, Ionescos kritische Be105

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Der Titel des 1948 fertig gestellten Romans verdankt sich lediglich einem Zahlenspiel. Allerdings lässt auch K. G. Chesterton seinen phantastischen Roman The Napoleon of Notting Hill (1904), den Orwell kannte, im London des Jahres 1984 spielen. Ebenso siedelte A. V. Cµajanov seine Utopie Putesˇesvie moego brata Alekseja v stranu krest’janskoj utopii (Reise meines Bruders Aleksej ins Land der bäuerlichen Utopie; 1920) im Jahre 1984 an, die Orwell aber nicht bekannt gewesen sein dürfte. DER SPIEGEL vom 11.11.1957, S. 57. Zitiert nach U. Quint-Wegemund, Das Theater des Absurden auf der Bühne und im Spiegel der literaturwissenschaftlichen Kritik. Eine Untersuchung zur Rezeption und Wirkung Becketts und Ionescos in der Bundesrepublik Deutschland, Frankfurt/M. 1983, S. 125.

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zugnahme auf Visionen von einer „neuen Menschenschöpfung“ in einer Zusammenschau mit der von Bulgakov geschilderten experimentellen roten Bestrahlung und Cµapeks zukunftsweisender effizienter Molchmasse kontrastiv zu beleuchten. Ionescos Tagebuch- und theatertheoretische Notizen zeigen eine intensive Auseinandersetzung mit dem spannungsvollen Verhältnis von Masse und Individuum sowie eine wiederholt deutliche Ideologie- und insbesondere Kollektivismuskritik. Im Gegensatz zu den überblickshaften Arbeiten wie etwa die von E. Frois, R. Leiner oder N. Lane107 binden H. Hansteins Analyse von Ionescos Rhinocéros im Rahmen seiner Studien zur Entwicklung von Ionescos Theater und M. Börnemeiers Untersuchung Ionesco und der Personalismus Emannuel Mouniers diese Aufzeichnungen des Autors vertiefend in ihre Betrachtungen mit ein. Auf Hansteins Studien, die sich vor allem auf den Sprachgebrauch der Figuren konzentrieren, wird im Zusammenhang mit der Analyse der Figurenkonzeption und der inhaltlichen Thematisierung des Massenhaften zurückzukommen sein. Während sich Börnemeiers Betrachtung von Ionescos Überlegungen zu einer übergesellschaftlichen Gemeinschaft der Personen wesentlich mit den für die Vergleichsstudie relevanten Kategorien von Gemeinschaft und Gesellschaft berühren, ist dagegen ihre drei Seiten umfassende, die problematisierte Opposition von Masse und Individuum lediglich überblickshaft beleuchtende Textanalyse zu Rhinoce´ros wenig gewinnbringend. Aufschlussreich ist dagegen G. Pacthod-Rontes Dissertation zu dem für Ionescos Stücke typischen Prinzip der „Proliferation“.108 Da dieses zu einer stetig fortschreitenden, rein quantitativen Anhäufung von Gegenständen oder organisch-belebter Materie und somit einer „Überwucherung“ sowie teils regelrechten „Verstopfung“ der Bühne führt, wird das Phänomen des Massenhaften auch im Zusammenhang mit der Anlage der Nashörner eine wesentliche Rolle spielen. S. Spengler legte mit ihrer Dissertation Rhinoce´ros und Andorra. Eine Untersuchung zum Problem der Unterdrückung der Freiheit des Einzelnen durch die Gesellschaft bei Eugène Ionesco und Max Frisch eine über das Theater des Absurden hinausgehende komparatistische Vergleichsstudie zu Ionescos Rhinocéros vor. Diese berührt sich ob der Oppositionssetzung von Individuum und Gesellschaft der Titelgebung thematisch in gewisser Weise mit der vorliegenden Arbeit. Insbesondere die Analyse der Figurenkonzeption bietet einige Anknüpfungspunkte. Spenglers Interpretationen und Schlussfolgerungen fallen allerdings wiederholt etwas oberflächlich-vereinfachend aus. So weiß sie etwa recht undifferenziert über das Wesen und Verhalten der Masse zu berichten: 107

108

Vgl. E. Frois, Rhinoce´ros, Paris 1970, W. Leiner, Ionesco – Rhinoce´ros, in: J. v. Stackelberg (Hg.), Das französische Theater, 2 Bde., Düsseldorf 1986, Bd. II, S. 341-357 und N. Lane, Understanding Ionesco, Columbia 1994. Vgl. G. Pacthod-Ronte, Das Prinzip der Proliferation im Theater Eugène Ionescos, Bamberg 1973 (Diss.). Vgl. hierzu auch die Abhandlung von R. C. Lamont, Die Proliferation der Materie in Ionescos Theaterstücken, in: K. A. Blüher (Hg.), Modernes französisches Theater. Adamov – Beckett – Ionesco, Darmstadt 1982, S. 316-328.

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„Wenn die Masse etwas tut, so scheint das ein Freibrief für die persönliche Unschuld zu sein. Die Menge mag folgenschwere Entscheidungen treffen, Verbrechen begehen – niemand fühlt sich dafür verantwortlich, nicht im Augenblick des 109 Geschehens und schon gar nicht im Nachhinein.“

Felix Mitterers Theaterstücke schließlich sind in verschiedenen Aufsätzen, Sammelbänden, Einzel- und Vergleichsstudien besprochen110 und ebenso wie etwa das Dramenschaffen eines Ö. v. Horvath oder später eines F. X. Kroetz wiederholt im Zusammenhang mit einer Erneuerung des Volksstücks rezipiert worden.111 Das zum Korpus der Primärtexte zählende Das Fest der Krokodile findet in der Forschungsliteratur allerdings wenn überhaupt nur beiläufig als Titel und mit einer kurzen Wiedergabe des Inhalts Erwähnung.112 Grund hierfür ist wohl, dass es sich – dem Untertitel Kinderstück über den Krieg entsprechend – um ein Jugendtheaterstück handelt. Mögen zunächst Zweifel angemeldet sein, ob ein Theaterstück für Jugendliche im Rahmen der vorliegenden Vergleichsstudie betrachtet und mit anerkannten Werken der Weltliteratur konfrontiert werden soll, so muss doch eine vermeintlich vereinfachendere Bearbeitung nicht zwangsläufig weniger Erhellendes für die Fragestellung der Vergleichsstudie liefern. Das vor dem Hintergrund des Jugoslawienkrieges der 1990er Jahre konzipierte MittererStück bündelt kaleidoskopartig die Weltkriegs- und Totalitarismuserfahrungen des 20. Jahrhunderts und beschäftigt sich mit dem ebenso problematischen wie aktuellen Phänomen kollektiver Fanatismen und identitätsnivellierender Massenpsychosen, so dass sowohl die Analyse des Aufbaus als auch der Figuren- und 109

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S. Spengler, Rhinoce´ros und Andorra. Eine Untersuchung zum Problem der Unterdrückung der Freiheit des Einzelnen durch die Gesellschaft bei Eugène Ionesco und Max Frisch, Saarbrücken 1977 (Diss.), S. 114. Vgl. U. Tanzer, Das Spiel von Geld und Moral. Hugo von Hofmannsthals und Felix Mitterers „Jedermann“-Bearbeitungen, in: W. E. Yates/A. Fiddler/J. Warren (Hgg.), From Perinet to Jelinek. Viennese Theatre in its Political and Intellectual Context, Oxford/Bern/Berlin 2001, S. 229-241, N. J. Meyerhofer/K. E. Webb (Hgg.), Felix Mitterer. A Critical Introduction, Riverside 1995, K. E. Webb, Configurations of Power in Felix Mitterer’s Works, in: Modern Austrian Literature 26, 3/4 (1993), S. 143-152 oder G. Brokoph-Mauch, Felix Mitterers „Besuchszeit“, in: Modern Austrian Literature 26, 3/4 (1993), S. 153-165 und Th. E. Bourke, The Staging of History in Felix Mitterer’s „Die Kinder des Teufels“, in: R. Robertson/E. Timms (Hgg.), Theatre and Performance in Austria. From Mozart to Jelinek, Edinburgh 1993, S. 116-125. Vgl. etwa P. Schaarschmidt, Das moderne Volksstück. Sprache und Figuren, in: J. Hein (Hg.), Theater und Gesellschaft. Das Volksstück im 19. und 20. Jahrhundert, Düsseldorf 1977, S. 201-219, H. Aust/P. Haida/J. Hein, Volksstück. Vom Hanswurstspiel zum sozialen Drama der Gegenwart, München 1989, Th. E. Bourke, „Der muß weg“. Ausgrenzungsmuster in den kritischen Heimatstücken aus dem bayerischen und österreichischen Raum, in: U. Hassel/H. Herzmann (Hgg.), Das zeitgenössische deutschsprachige Volksstück, Tübingen 1992, S. 247-260 sowie H. Herzmann, Tradition und Subversion. Das Volksstück und das epische Theater, Tübingen 1997. Vgl. J. Holzner, Felix Mitterer, in: A. Allkemper/N. O. Eke (Hgg.), Deutsche Dramatiker des 20. Jahrhunderts, Berlin 2000, S. 818.

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Tierkonzeption sowie die von Mitterer vorgenommene inhaltliche Thematisierung des Massenhaften für die komparatistische Zusammenschau durchaus aufschlussreich sind.

I. 4. Erläuterungen zur Vorgehensweise Mit der Diskussion des Forschungsstandes dürfte ein grobes Gliederungskonzept der Arbeit bereits deutlich geworden sein. Der eigentlichen Textanalyse ist zum einen ein interdisziplinärer begriffs-, diskurs- und metapherngeschichtlicher Aufriss vorangestellt, der sowohl traditionelle Beschreibungsmuster der Vielen als auch wesentliche Positionen der vielstimmigen Diskussion über das Phänomen des Massenhaften im Kontext bestimmender geschichtlicher Ereignisse und gesellschaftlicher Umbrüche aufzeigt.113 Zum anderen beschäftigt sich eine kulturwissenschaftlich ausgerichtete Betrachtung zum Verhältnis von Mensch und Tier mit den Fragen, weshalb das Tierische wiederholt zur bildhaften Konkretisation menschlicher Existenzlagen herangezogen wird, wie sich Interpretation und Verständnis des Tierischen im Verlaufe der Selbstbewusstwerdung des Menschen gewandelt haben und welche Bedeutungszusammenhänge sich generell mit der Motivwahl des Tierischen verbinden. Den Übergang von diesem zweigliedrigen Einführungsteil zur eigentlichen Textanalyse bildet eine biographisch und werkgeschichtlich orientierte Betrachtung, die allerdings nicht auf eine umfassende Darstellung der Lebensdaten oder des Gesamtwerks der Autoren zielt. Vielmehr fokussiert diese auf die Entstehungs- und teils problematische Publikationsgeschichte der zu vergleichenden Texte. Zudem werden weitere Erzählungen, Romane oder Theaterstücke sowie Tagebuchaufzeichnungen oder journalistische Arbeiten der Autoren mit eingebunden, die für die Verbindung von Massenproblematik und Tiermotiv wesentliche Anknüpfungspunkte bieten oder Aufschluss geben, ob die Autoren einschlägige Texte zur Massenthematik rezipiert haben. Die eigentliche Textanalyse umfasst schließlich eine Betrachtung des Aufbaus, der Figuren- und Tierkonzeption sowie eine kontrastive Zusammenschau zur Position des Einzelnen in den dargestellten Gesellschaften. Um für diese einen entsprechenden Verständnishintergrund zu gewährleisten, finden sich nachfolgend, den Einleitungsteil beschließende, kurze inhaltliche Zusammenfassungen der Primärtexte. 113

Zur interdisziplinären Ausrichtung begriffsgeschichtlicher Untersuchungen vgl. J. Ritter, Vorwort sowie K. Gründer, Einleitung, in: J. Ritter (Hg.), a.a.O., Bd. I, S. III und Bd. IV, S. VI. Vgl. zudem den Sammelband von G. Scholtz (Hg.), Die Interdisziplinarität der Begriffsgeschichte, Hamburg 2000 sowie zu einer fruchtbaren Interferenz von Begriffs-, Diskursund Metapherngeschichte H. E. Bödeker, Ausprägungen der historischen Semantik in den historischen Kulturwissenschaften, in: Ders. (Hg.), Begriffsgeschichte, Diskursgeschichte, Metapherngeschichte, Göttingen 2002, S. 7-27.

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Da die Vergleichstexte unterschiedlichen literarischen Gattungen zuzurechnen sind, erfolgt die Analyse des Aufbaus und der Komposition im Rahmen der gattungsspezifischen Theoriebildung. Konzentrieren wird sich die Untersuchung dabei auf einen möglichen Zusammenhang zwischen Massenthematik und formaler Gestaltung, wie dies bereits für die „Überwucherung“ der Bühne in Ionescos Theaterstücken angesprochen wurde. Weisen die Texte wie etwa Bulgakovs Rokovye Jajca explizite Massenszenen auf, wird die Makroanalyse der Gesamtkomposition von einer Mikroanalyse einzelner szenischer Massendarstellungen begleitet. Figuren- und Tierkonzeption sind in den Vergleichstexten eng aufeinander bezogen und auf gegenseitige Durchdringung und Erklärung ausgelegt, so dass die Analyse in einem Großkapitel erfolgt. Hier wird zu fragen sein, ob die Figuren im Hinblick auf das spannungsvolle Verhältnis von Masse und Individuum individualisierte Charaktere oder vor allem Typen vorstellen, welche Bedeutungsinhalte sich mit den von den Autoren gewählten Tierarten verbinden und welch vielfältige Vermischungen des tierischen und menschlichen Bereichs in den Texten gestaltet werden. Im abschließenden Kapitel zur inhaltlichen Thematisierung des Massenhaften soll anhand der Gliederungspunkte „Lebens- und Arbeitswelt“, „Visionen von neuen Menschen“, „Masse-Führer-Konstellationen“, „Sprache“ sowie „Bildung und kulturelles Leben“ die defizitäre Verfasstheit der dargestellten Gesellschaften nochmals kontrastiv beleuchtet werden. Aufzuzeigen ist, mit welchen für die Massenthematik relevanten Implikationen das Verhältnis von Individuum und Gesellschaft konzipiert und in welchen gesellschaftlichen Zusammenhängen die Reduktion des Einzelnen zum austauschbaren Massenpartikel zu beobachten ist.

I. 5. Inhaltsangaben der Primärtexte I. 5. 1. Michail A. Bulgakovs Erzählung Rokovye Jajca Vladimir Ipat’evicˇ Persikov, Professor für Zoologie und Direktor des Zoologischen Instituts in Moskau, entdeckt im Zuge seiner Arbeiten am Mikroskop einen Leben spendenden roten Strahl, der durch eine außergewöhnliche Linsenstellung und eine entsprechende Brechung künstlichen Lichts erzeugt wird. Organismen wie Amöben oder Frösche, die diesem „Strahl des Lebens“ ausgesetzt sind, vermehren sich mit rasender Geschwindigkeit, wachsen zu unnatürlicher Größe heran und zeichnen sich durch aggressives Verhalten aus. Für weiterführende Experimente lässt Persikov seinen Assistenten Ivanov mehrere Gehäuse mit Linsen und Spiegeln konstruieren, die den Durchmesser des roten Strahls noch vergrößern. Bevor Persikov allerdings die Wirkung des Strahls in weiteren Versuchen testen kann, wird er von Seiten der sowjetischen Behörden aufgefordert, seine Gehäuse an den Berufsrevolutionär Aleksandr Semenovicˇ

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Rokk abzugeben. Da eine den gesamten Bestand ausrottende Hühnerpest das Land überzieht, war dieser nach einem öffentlichen Vortrag des Professors auf die Idee verfallen, mit Hilfe des roten Strahls neue Hühnerpopulationen zu züchten. Rokks Versuche führen allerdings zu einem katastrophalen Ergebnis, denn die für Rokks experimentelle Hühnerzucht bestimmte Eierlieferung wird dem Professor und eine von Persikov erwartete Lieferung von Reptilieneiern fälschlicherweise Rokk zugestellt. Rokk, der annimmt, mit gemeinen Hühnereiern zu experimentieren, setzt die für Persikov vorgesehenen Reptilieneier dem roten Strahl aus. Schwärme von monströs-mutierten Schlangen, Krokodilen und Eidechsen ziehen nachfolgend durchs Land und hinterlassen eine Spur der Verwüstung und des Todes. Als sich die Tiermassen schließlich auch auf Moskau zubewegen, löst der Vormarsch in der Großstadt eine Massenpanik aus. Eine wutentbrannte Menschenmenge stürmt Persikovs Labor und erschlägt den Wissenschaftler. Behörden und Armee stehen dem Ansturm der Tierschwärme machtlos gegenüber, so dass erst ein unvorhergesehener Kälteeinbruch im August, der zum Tod der Tiere führt, die Rettung bringt.

I. 5. 2. Karel Cµapeks Roman Válka s Mloky Der tschechische Handelsmarinekapitän van Toch entdeckt auf einer geschäftlichen Reise nach Indonesien eine Molchpopulation, die er für die Perlenfischerei abrichtet. Im Gegenzug überlässt der Kapitän den Tieren zur Verteidigung gegen ihre natürlichen Feinde Harpunen und Messer. Als die Perlenfundstätten vor Ort erschöpft sind, sucht van Toch nach einem Teilhaber, der ihm ein Schiff zur Verfügung stellt, um die Molche auch in anderen Buchten nach Perlen fischen zu lassen. G. H. Bondy, ein ehemaliger Schulfreund des Kapitäns und Präsident der Aktiengesellschaft MEAS, steigt in das Geschäft ein. Als van Toch stirbt, wollen Bondy und seine Teilhaber das Geschäft mit den Molchen in großem Stil aufziehen. Die Molche sollen für jegliche Arbeiten an Küsten und Häfen herangezogen und verkauft werden. Um ihr Monopol im zukünftigen Molchhandel nicht aus der Hand zu geben, beschließen die Vorstandsmitglieder der MEAS die Gründung des Salamander-Syndikats. Diesem gehören Großunternehmen an, die Metallwerkzeuge fertigen, Futter für die Molche herstellen und benötigtes Baumaterial liefern. Der Molchhandel erweist sich als einträgliches Geschäft, denn die Tiere finden als effiziente Massenarbeitskräfte weltweit Verbreitung. Angesichts des allgemeinen wirtschaftlichen Aufschwungs vermeinen die Menschen in der nützlichen und funktionalen Organisation der Molchgesellschaft eine fortschrittliche und nachahmenswerte Lebensform zu erkennen. Das sogenannte Goldenen Molchzeitalter („Zlaty´ Mlocˇí Veˇk“; VSM, II, 2, 180) endet allerdings mit einer weltumspannenden Katastrophe. Die ständig wachsende Tierpopulation verlangt mehr Küstenstreifen, um sich anzusiedeln.

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Ihre Forderungen unterstreichen die Molche mit der Versenkung von Schiffen und der Sprengung von Küstengebieten, wobei die daraus resultierenden Flutwellen auch das Hinterland unbewohnbar machen. Doch selbst in Anbetracht der lebensbedrohlichen Situation sind die Menschen nicht in der Lage, von nationalen und wirtschaftlichen Interessen abzusehen, sondern gewähren den Tieren weiterhin Kredite, beliefern sie mit Nahrungsmitteln, Waffen und technischem Gerät. Der Roman endet mit einem offenen Schluss, als Bondys Portier Povondra und sein Sohn beim sonntäglichen Angelausflug auf der Moldau die ersten Molche vor Prag sichten.

I. 5. 3. George Orwells Märchen Animal Farm Schauplatz der Erzählung ist die Manor Farm des Gutsbesitzers Jones. Angesichts der schlechten Behandlung und unzureichenden Futterversorgung ruft der Eber Old Major wenige Tage vor seinem Tod in einer nächtlichen Rede zur Rebellion gegen die ausbeutende Tyrannei der Menschen auf. Die Schweine überführen Old Majors Lehren in die Doktrin des sogenannten „Animalismus“ und agitieren die übrigen Farmtiere im Sinne der erstrebten Rebellion. Als Jones die Tiere abermals hungern lässt, begehren diese tatsächlich auf und vertreiben Jones sowie sein Personal vom Hof. Die Herren-Farm wird zur Farm der Tiere. Sieben Gebote regeln fortan das gemeinschaftliche Zusammenleben der Tiere. Festgeschrieben finden sich verschiedene Verhaltensmaßregeln, die grundsätzliche Feindschaft gegenüber dem Menschen sowie die Gleichheit aller Tiere. Den Schweinen kommt aufgrund ihrer Intelligenz die Aufgabe zu, den Hofbetrieb zu organisieren und zu leiten. Als in der Führungsriege der Schweine ein Streit zwischen den Ebern Napoleon und Snowball über die Farmpolitik entbrennt, verjagt eine Napoleon hörige Hundemeute den Konkurrenten vom Hof, und Napoleon reißt die Führerschaft an sich. Hatten die Schweine bereits kurz nach der Rebellion verschiedene Privilegien für ihren vermeintlich verantwortungsvollen Dienst am Gemeinwohl beansprucht, wird nachfolgend der Wortlaut der Sieben Gebote im Interesse der Schweine sukzessive verändert und schließlich durch den alles bestimmenden Grundsatz „All animals are equal. But some animals are more equal than others“ ersetzt. Das Schlussbild zeigt die Schweine in einträchtiger Runde mit den benachbarten Farmbesitzern. Während diese Napoleon zu seinem strengen Regiment beglückwünschen, gibt der Eber bekannt, dass die Farm zukünftig wieder ihren urspünglich Namen Manor-Farm führen werde.

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I. 5. 4. Euge`ne Ionescos Theaterstück Rhinocéros In einer nicht näher bestimmten Provinzstadt werden die Hauptfigur Bérenger und sein Bekannter Jean sowie einige weitere Bewohner eines Sonntags Zeugen, wie ein Nashorn wiederholt über den Marktplatz stürmt und schließlich eine Katze zu Tode trampelt. Während die Anwesenden den Vorfall ausführlich diskutieren, geraten Bérenger und Jean über die Herkunft des Nashorns in heftigen Streit. Auch am darauf folgenden Montagmorgen sorgt das Nashorn in Bérengers Arbeit, einem juristischen Fachverlag, für Gesprächsstoff. Als die Ehefrau des Mitarbeiters Boeuf das Büro aufsucht, um ihren angeblich grippekranken Mann zu entschuldigen, wird sie von einem Nashorn verfolgt, das den Treppenaufgang zu den Verlagsräumen zerstört. Während die Belegschaft die Feuerwehr verständigt, der bereits aus allen Teilen der Stadt freilaufende Nashörner gemeldet werden, erkennt Mme. Boeuf in dem Nashorn vor dem Verlag ihren Mann. Sie stürzt sich aus dem Fenster und reitet auf dem Rücken des Tieres davon. Be´renger will nach den Vorkommnissen im Büro seinen Bekannten Jean aufsuchen, der sich nun ebenfalls, vor Bérengers Augen, in ein Nashorn verwandelt. Auch bei Jean lassen die Symptome zunächst auf eine Grippeerkrankung schließen, wobei er gleichzeitig ein zunehmend aggressives Verhalten zeigt und Bérenger zu attackieren versucht. Nur mit Mühe gelingt es Bérenger, das Mietshaus, das nun von Nashörnern bevölkert wird, unversehrt zu verlassen. Zurück in seiner Wohnung fühlt sich Bérenger ebenfalls krank und befürchtet, selbst zum Nashorn zu werden. Auch die Stenotypistin Daisy und der Verlagsangestellte Dudard, die ihn besuchen, vermögen ihn nicht zu beruhigen. Die Nashörner beherrschen inzwischen das Straßenbild, haben die Rundfunkanstalten besetzt und selbst über das Telefon ist kein Kontakt zur Außenwelt mehr herzustellen. Als sich schließlich auch Dudard und Daisy den Nashörnern anschließen, bleibt Bérenger allein inmitten der Tiere zurück. Sein trotziger Widerstand, niemals vor den Nashörnern zu kapitulieren, speist sich aber nicht zuletzt aus der Verzweiflung, nicht wie die anderen den Gestaltwechsel vollziehen zu können.

I. 5. 5. Felix Mitterers Theaterstück Das Fest der Krokodile Mitterers Theaterstück zeigt fünf Menschen, konfrontiert mit Krieg, Tod und Gewalt. Schauplatz der Handlung ist eine Burgruine, in der sich Eva, Tini und Hubertus, bis auf ein Feldtelefon von der Außenwelt abgeschlossen, vor einer nicht näher bestimmten feindlichen Kriegspartei verschanzt haben, die auf der Anhöhe gegenüber Stellung bezogen hat. Tini erwartet ein Kind von Hubertus, der sich später als vermeintlicher Staatspräsident zu erkennen gibt. Gemeinsam haben sie der jüngeren Eva wegen angeblicher Kollaboration mit dem Feind die Haare geschoren.

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Im Verlaufe des an sich handlungsarmen Einakters retten sich sowohl der Sportler Andreas als auch der verletzte Soldat Stephan vor den Kriegshandlungen in die Burgruine. Andreas, der von den Figuren verdächtigt wird, ein Spion zu sein, soll standrechtlich erschossen werden. Als er zu den Kriegsgegnern überlaufen will, wird er von diesen getötet. Stephan dagegen, den Tini für ihren Sohn und Eva für ihren Verlobten hält, lässt die Figuren hoffen, die Burgruine lebend verlassen und durch die feindlichen Linien gelangen zu können. Lebensbedrohlich sind aber nicht nur die feindlichen Gefechtsstellungen, sondern unzählige Krokodile lauern, angelockt vom Blut der zahllosen Gefallenen, an einem nahe gelegenen, langsam austrocknenden Fluss hungrig auf Beute. Als die Tiere den Feind angreifen und verschlingen, scheint der Krieg zunächst gewonnen, und Hubertus ordnet in seiner Funktion als Staatspräsident eine Siegesfeier an. Während der Feierlichkeiten rücken die Krokodile allerdings zur Burgruine vor, so dass das Fest der vermeintlichen Sieger schließlich zum Festtag der hungrigen Krokodile wird.

II. Masse und Individuum: Eine begriffs- und diskursgeschichtliche Annäherung II. 1. Begriff und traditionelle Beschreibungsmuster II. 1. 1. Etymologie: Die Masse als formbarer Stoff Bereits die Etymologie bietet Ansatzpunkte für ein negatives Verständnis des Massenhaften. Das Wort „Masse“, abgeleitet von griechisch „maza“ („Teig“; „Fladen“) und dem dazugehörigen Verb „ma´ssein“ („kneten“; „pressen“, „drücken“), verweist auf etwas Ungeformtes, Undifferenziertes, Vermischtes und Amorphes, das erst von außen geformt wird.1 Ein ähnlicher Bedeutungsgehalt ist auch für die entsprechenden Termini in anderen Sprachen kennzeichnend. Dem russischen Wort „tolpa“ („Volksmenge“) liegt das Verb „tolpit’sja“ („zusammendrängen“) zugrunde, während sich das tschechische „dav“ („Masse“; „Menge“) von „da´vit“ („drücken“, „pressen“) ableitet.2 Das französische „foule“ verweist auf das lateinische „fullo“ („Walker“, „Tuchhersteller“) und das englische „crowd“ ist dem mittelhochdeutschen „kroten“ („drängen“, „pressen“) verwandt.3 Der Mangel an Gestalt gebender Kraft und Eigenbewegung sowie das Bestimmtsein durch äußere Faktoren sind Zuschreibungen, die für den Massenbegriff der Physik ebenso kennzeichnend sind wie sie auch mit dem neuplatonisch festgesetzten Dualismus von der Inaktivität der Materie und der Aktivität des Geistes aufgerufen werden, der für die Oppositionssetzung von Masse und Individuum nachhaltig bestimmend ist. Der geistig-trägen, dumpfen und unkultivierten Masse steht der geistig rege und tätige Einzelne gegenüber, der sich durch Bewusstsein, Bildung und Urteilsvermögen auszeichnet.4 Das negative Begriffsverständnis ist wohl zudem auf christlich-theologische Schriften zurückzuführen. Von Bedeutung dürfte insbesondere Augustinus’ Vorstellung von der „massa damnata“ und 1

2

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Vgl. DUDEN. Das Herkunftswörterbuch. Etymologie der deutschen Sprache. Die Geschichte der deutschen Wörter und der Fremdwörter von ihrem Ursprung bis zur Gegenwart, 2., völlig neu bearb. u. erw. Aufl., Mannheim/Wien/Zürich 1989, S. 444. Vgl. M. Vasmer, Russisches Etymologisches Wörterbuch, 3 Bde., Heidelberg 1953ff., Bd. III, S. 117 und J. Rejzek, Cµesky´ etymologicky´ slovník, Voznice 2001, S. 122. Das russische „massa“ sowie das tschechische „masa“ bezeichnen ebenfalls einen ungeformten Stoff sowie eine Vielzahl von etwas, wie dies in den Wendungen „massa narodu“ „und „masy lidí“ („eine Menge Menschen“; „große Menschenmenge“) oder „lidové masy“ („Volksmassen“) zum Ausdruck kommt. Vgl. S. I. Ozˇegov/N. Ju. Sµvedova, Tolkovyj slovar’ russkogo jazyka: 72500 slov i 7500 frazeologicˇeskich vyrazˇenij, Moskau 1993, S. 352f. und Prˇírucˇní slovník jazyka cˇeského, hrsg. v. der tschech. Akad. d. Wissenschaften und Künste, 8 Bde., Prag 1935ff., Bd. II, S. 727. Vgl. J. Ch. Papalekas, Masse, in: E. v. Beckerath (Hg.), Handwörterbuch der Sozialwissenschaften, 12 Bde., Göttingen 1956ff., Bd. VII, S. 220. Vgl. ebd., S. 221 und E. Pankoke, Masse, Massen, in: J. Ritter (Hg.), a.a.O., Bd. V, Sp. 825.

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„massa perditionis“ sein, da der Terminus der Masse nun in Verbindung mit der Verworfenheit des sündhaften Menschengeschlechts gebracht wird.5 Schließlich lässt die Verbindung von „Masse“ und „Teig“ an Gärungsprozesse denken, wie dies auch in der Redewendung „es gärt im Volk“ zum Ausdruck kommt. Da die „Hefe des Volkes“ (lat. „faex populi“) allerdings mit den unteren Bevölkerungsschichten identifiziert wird, ist auch dieser Vorgang weitgehend negativ konnotiert.6

II. 1. 2. Begriffsabgrenzung: Menge, Pöbel, Mob Masse und Menge lassen sich anhand ihrer Binnenstruktur unterscheiden. Kennzeichnend für die Menge – als Auflauf von Schaulustigen oder Ansammlung von Passanten – ist eine nur lose Verbindung ihrer Glieder.7 Charakteristisch für die Masse ist dagegen ein dichter und gedrängter Zustand. „Die Masse liebt die Dichte. Sie kann nie zu dicht sein. Es soll nichts dazwischenstehen, es soll nichts zwischen sie fallen, es soll möglichst alles sie selbst sein.“8 Während der lose Verbund der Menge noch eine Unterscheidung seiner Teile ermöglicht, zeigt sich die Masse als Einheit von Gleichen. Die Unterschiede sind eingeebnet. „Innerhalb der Masse herrscht Gleichheit. Sie ist absolut und indiskutabel und wird von der Masse selbst nie in Frage gestellt. […]!Ein Kopf ist ein Kopf, ein Arm ist ein 9 Arm, auf Unterschiede kommt es nicht an.“

Sinnfällig veranschaulichen blockhaft-geometrische Formen die Eigenschaften der Dichte und Gleichheit als Charakteristika des Massenhaften. In F. Langs Metropolis beispielsweise marschieren die uniformen Arbeiterkolonnen vornehmlich in gleichförmigen quadratischen Viererreihen.10 Als Pöbel (griech. „ochlos“/lat. „vulgus“) gilt das „gemeine“, „geringe“ Volk der sozialen Unterschicht. Zugeschrieben wird ihm sowohl eine moralische als auch politische Unzuverlässigkeit. Das „wilde vielköpfige Thier Herr Omnes“ sei wankelmütig und beeinflussbar, neige zu Aufruhr und Rottierung.11 So verbin5 6 7 8 9 10

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Vgl. ebd., Sp. 826 und J. Ch. Papalekas, a.a.O., S. 220f. Vgl. zur chemischen Metapher der Gärung im Zusammenhang mit der aufrührerischen Masse auch die Beispiele bei M. Gamper (2007), a.a.O., S. 185f. Vgl. H. Pross/E. Buß (Hgg.), Soziologie der Masse, Heidelberg 1984, S. 97 und J. Ch. Papalekas, a.a.O., S. 221. E. Canetti, a.a.O., S. 30. (Hervh. im Orig.). Ebd. (Hervh. im Orig.). Vgl. ausführlicher zur Massendarstellung in Langs Metropolis H. Möbius, Symbolische Massendarstellungen in Fritz Langs „Metropolis“, in: A. Graczyk (Hg.) (1996), a.a.O., S. 31-45 sowie zur geometrischen Formgebung des Massenhaften auch S. Kracauer, Das Ornament der Masse. Essays, Frankfurt/M. 1963, S. 50-63. Vgl. W. Conze, Proletariat, Pöbel, Pauperismus, in: O. Brunner/W. Conze/R. Koselleck (Hgg.), Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in

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den sich letztlich Forderungen nach gleichberechtigter politischer Partizipation wiederholt mit der Furcht vor einer Pöbelherrschaft. Als entartete Form der Demokratie hatte bereits Polybios den Begriff der „Ochlokratie“ geprägt.12 In seiner Historia schildert er die Masse als unberechenbar, leidenschaftlich, verführbar und Feind jeder auf Vernunft gegründeten zivilisatorischen Ordnung. Ihre zerstörerische Kraft sei vom Staatsmann oder Feldherren unbedingt zu bändigen, wobei ihm insbesondere die Religion als wirksames Disziplinierungsmittel gilt. „Da jedoch die Masse immer leichtfertig und voller gesetzwidriger Begierden ist, geneigt zu sinnlosem Zorn, zu Leidenschaften, die sich in Gewalttaten entladen, bleibt nichts übrig, als sie durch dunkle Angstvorstellungen und eine gut erfundene Mythologie im Zaum zu halten. Die Alten scheinen mir daher die Vorstellungen von den Göttern, den Glauben an die Unterwelt nicht unüberlegt, sondern mit kluger Überlegung der Menge eingeflößt zu haben, und es scheint mir im Gegenteil höchst unbedacht und unverständig, wenn man ihr jetzt diesen Glauben aus13 treibt.“

Die Vorstellung von der Unbeständigkeit des gemeinen Volkes verdeutlicht auch das lateinische „mobile vulgus“, auf das der Terminus „Mob“ zurückgeht.14 Ebenso bezeichnen „cˇern’“ und „luza“ als russisches beziehungsweise tschechisches Äquivalent zum deutschen Begriff des „Pöbels“ die unteren Bevölkerungsschichten in einem sozialen Gefüge, gleichzeitig finden diese aber auch Verwendung in Bezug auf beschränkt-bornierte und kulturlose Menschen ohne Ideale.15

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Deutschland, 8 Bde., Stuttgart 1972ff., Bd. V, S. 29ff. Platon bezeichnet in seiner Politeia das Volk als „große[s] Tier, das gut nennend, woran es Vergnügen findet, und worüber es sich ärgert, das schlecht,…“, während Horaz in seinen Briefen das Volk ein vielköpfiges Untier („belua multorum es capitum“) nennt. Platon, Politeia, in: Ders., Sämtliche Werke, hrsg. v. U. Wolf, 4 Bde., Reinbek b. Hamburg 1994, Bd. II, § 493c und Q. Horatius Flaccus, Satiren – Briefe/Sermones – Epistulae, übers. v. G. Herrmann, hrsg. v. G. Fink, Düsseldorf/Zürich 2000, Epist. I, 1, 76. Vgl. W. Conze/R. Kosselleck u. a., Demokratie, in: O. Brunner/W. Conze/R. Koselleck (Hgg.), a.a.O., Bd. I, S. 834. Bereits Platon unterschied, ohne diese allerdings mit besonderen Namen zu belegen, zwischen einer guten und schlechten Demokratie. Vgl. Platon, Politikos, in: Ders., Sämtliche Werke, a.a.O., Bd. III, § 302df. Polybios, Geschichte, eingel. u. übertr. v. H. Drexler, 2 Bde., Zürich/München 1961ff., Bd. I, S. 581. Siehe zu den vielfältigen Beschreibungen der Menge in der Antike J. S. McClelland, The crowd and the mob. From Plato to Canetti, London 1989, S. 34-59 und F. Gschnitzer/R. Koselleck/K. F. Werner u. a., Volk, Nation, Nationalismus, Masse, in: O. Brunner/W. Conze/R. Koselleck (Hgg.), a.a.O., Bd. VII, S. 159ff. Vgl. DUDEN. Das Herkunftswörterbuch, a.a.O., S. 463. Vgl. S. I. Ozˇegov/N. Ju. Sµvedova, a.a.O., S. 914 und Prˇi´rucˇni´ slovni´k jazyka cˇeského, a.a.O., Bd. II, S. 656. Das tschechische „chátra“ impliziert dagegen vornehmlich die Zugehörigkeit zur sozialen Unterschicht. Vgl. ebd., Bd. I, S. 1036. Bei dem russischen „sbrod“ und tschechischen „sbeˇrˇ“ („Gesindel“, „Pack“) stehen Kriminalität und asoziales Verhalten im Vordergrund. Vgl. ebd., Bd. V, S. 71 sowie S. I. Ozˇegov/N. Ju. Sµvedova, a.a.O., S. 723.

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Mehrfach spricht beispielsweise A. S. Pusˇkin von der dumpfen Ignoranz und Gleichgültigkeit der Menge dem begabten Dichter gegenüber. „Poqt po lire vdoxnovennoj Rukoj rasseännoj bräcal. On pel – a xladnyj i nadmennyj Krugom narod neposväwennyj Emu bessmyslenno vnimal. I tolkovala çern´ tupaä: ,Zaçem tak zvuçno on poet? Naprasno uxo poraΩaä, K kakoj on celi nas vedet? O çem brençit? çemu nas uçit? Zaçem serdca volnuet, muçit, Kak svoenravnyj çarodej? Kak veter pesn´ ego svobodna, Zato kak veter i besplodna: 16 Kakaä pol´za nam ot nej?‘“

Später wird insbesondere Nietzsche den Begriff des „Pöbels“ von den unteren Schichten lösen und auf die sogenannten „Bildungsphilister“ übertragen.17 Die gute Gesellschaft wird selbst zum „vergoldeten falschen überschminkten Pöbel“, so dass nun laut Nietzsche „Pöbel oben und unten“ anzutreffen sei.18 Der „Haufe(n)“ als weiterer Ausdruck für die breite Masse sowie die „Rotte“ als „schlimme (Räuber)Schar“ sind ursprünglich militärische Bezeichnungen für kleinste Truppeneinheiten.19 Die „Zusammenrottung“ galt im 19. Jahrhundert als juristischer Straftatbestand, der bereits die Teilnahme an einer Massenbildung als gefährlich und ansteckend sanktionierte.20 Abschließend ist allerdings zu bemerken, dass die pejorativen Begriffe zur Beschreibung der ungebildeten, kulturlosen Unterschichten vornehmlich das Vokabular einer herrschenden Elite sind. Eine Charakterisierung, die das gemeine 16 17

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A. S. Pusˇkin, Poe˙t i tolpa, in: Ders., Polnoe sobranie socˇinenij, 16 Bde., Moskau 1937ff., Bd. III, S. 141. Vgl. zum Terminus des Bildungsphilisters beispielhaft F. Nietzsche, Unzeitgemäße Betrachtungen, in: Ders., Werke in 3 Bänden, hrsg. v. K. Schlechta, München 1994, Bd. I, S. 141ff. u. 191f. Vgl. F. Nietzsche, Also sprach Zarathustra, in: Ders., Werke, a.a.O., Bd. II, S. 484 u. 502. Zu Nietzsches Pöbelbegriff vgl. ausführlicher R. Reschke, „Pöbel-Mischmasch“ oder vom notwendigen Niedergang aller Kultur. Friedrich Nietzsches Ansätze zu einer Kulturkritik der Masse, in: N. Krenzlin (Hg.), a.a.O., S. 30ff. Vgl. DUDEN. Das große Wörterbuch der deutschen Sprache, 10 Bde., 3., völlig neu bearb. u. erw. Aufl., Mannheim/Wien/Zürich 1999, Bd. IV, S. 1690 und Bd. VII, S. 3231. Für den Terminus des (Volks-)Haufens sind als tschechische Äquivalente sowohl „zastup“ als auch das aus dem Deutschen entlehnte „houf“ und als russische Entsprechung „kucˇa“ zu nennen. Vgl. A. Graczyk (1993), a.a.O., S. 9.

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Volk als politisch und moralisch unzuverlässig darstellt, dient somit immer auch der Absicherung und Legitimation des Herrschaftsanspruchs einer kleinen Gruppe gegenüber einer von politischer Teilnahme ausgeschlossenen Bevölkerungsmehrheit.21

II. 1. 3. Traditionelle tiermetaphorische Beschreibungsmuster und kulturkritische Übernahmen Tiermetaphorische Beschreibungen, die politische Herrschaftsverhältnisse abbilden und damit verbunden Aussagen über die breite Masse des Volkes treffen, sind in der Antike und Bibel zahlreich vorgebildet. Zum Vergleich eignen sich insbesondere Staaten bildende und in Herden lebende Tierarten. Diese Organisationsformen schreibt Aristoteles in seiner Tierkunde auch dem Menschen zu. „Die einen sind Herdentiere, die anderen Einzelgänger […] Der Mensch kennt beide Lebensweisen. Einen Staat bilden solche, die ein gemeinsames Arbeitsziel haben, was ja nicht bei allen Herdentieren der Fall ist. Dazu gehören Mensch, Biene, Wespe, Ameise, Kranich. Diese leben wieder teils unter einem Führer, teils führerlos, z. B. der Kranich und die Gattung der Biene unter einem Führer, Ameisen und tau22 send andere ohne Führer.“

Der Bildkomplex von Hirte und Herde findet sich nicht nur prominent in der Bibel, sondern gilt als eines der ältesten Beschreibungsmodelle der Monarchie.23 Als guter Hirte sorgt der göttliche oder weltliche Herrscher für Schutz und Führung seiner (Menschen-)Herde, die traditionell und stereotyp als gehorsam, einfältig und wehrlos gilt.24 Hatte bereits Platon den allein nach materieller Bedürfnisbefriedigung strebenden Menschen als (menschliches) Herdentier charakterisiert25 , etabliert sich die Bezeichnung des Herdenmenschen allerdings erst im 19. Jahrhundert im Anschluss an Nietzsche.26 Die Herde ist Nietzsche Sinnbild für die heillose Mittelmäßigkeit der „Viel zu Vielen“, die vorrangig nach Sicherheit und 21 22 23 24

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Vgl. hierzu auch W. Conze, Proletariat, Pöbel, Pauperismus, a.a.O., S. 29. Aristoteles, Tierkunde, Paderborn 1949, § 488a. Vgl. D. Peil, a.a.O., S. 29. Vgl. zur Bibel beispielhaft Psalm 23, Der gute Hirte. Vgl. D. Peil, a.a.O., S. 139. Zum Bildkomplex von Hirte und Herde vgl. zudem Th. Macho, Gute Hirten, schlechte Hirten. Zu einem Leitmotiv politischer Zoologie, in: A. v. d. Heiden/J. Vogel (Hgg.), Politische Zoologie, Zürich/Berlin 2007, S. 71-88. Siehe Platon, Politeia, a.a.O., § 586a: „Die also der Einsicht und Tugend bar sind, in Schmausereien aber und dergleichen sich immer pflegen, bewegen sich, wie es uns vorkam, nach unten hin und dann wieder zur Mitte […] sind also auch mit Seiendem nie wahrhaft angefüllt worden, noch haben sie je eine dauernde und reine Lust geschmeckt; sondern nach Art des Viehes immer auf den Boden sehend und zur Erde und den Tischen gebückt nähren sie sich und bespringen einander auf der Weide…“ Vgl. H. Paul, Deutsches Wörterbuch. Bedeutungsgeschichte und Aufbau unseres Wortschatzes, 10., überarb. u. erw. Aufl., Tübingen 2002, S. 467.

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Wohlstand streben und in ihrer Willensschwäche sowie Unfähigkeit, selbständig zu denken und zu handeln, nur zu bereitwillig dem Herdeninstinkt folgen und in der großen Masse aufgehen. „Sich einordnen, leben wie der „gemeine Mann“ lebt, für recht und gut halten, was er für recht hält: das ist die Unterwerfung unter den Herdeninstinkt.“27 Nietzsches Kritik zielt vor allem auf moderne Vergesellschaftungsprozesse im Zuge einer fortschreitenden Demokratisierung, die, verstanden als Aufstand der Mittelmäßigen, das Zeitalter der Massen einläute. „… daß das Gewürm „Mensch“ im Vordergrund ist und wimmelt; daß der „zahme Mensch“, der Heillos-Mittelmäßige […] bereits sich als Ziel und Spitze, als Sinn der 28 Geschichte […] zu fühlen gelernt hat…“ „Dieselben neuen Bedingungen, unter denen sich im Durchschnitt eine Angleichung und Vermittelmäßigung des Menschen herausbilden wird – ein nützliches, 29 arbeitsames, vielfältig brauchbares und anstelliges Herdentier Mensch – …“

Diese herdenhafte Organisation, die Zähmung des „Raubtiers Mensch“ zum „zahmen und zivilisierten Tier“, zum bloßen „Haustier“ begünstige nicht zuletzt die „Züchtung von Tyrannen“, die sich der „willensarmen“ Vielen bemächtigten.30 In Dostoevskijs Roman Besy (Die Dämonen; 1871/72) ist die Herde dagegen Sinnbild einer an sozialistischen Ideen orientierten zukünftigen Kollektivgesellschaft. Eine totalitäre Führungselite herrscht uneingeschränkt über eine breite Masse willenloser, aber arbeitsamer menschlicher Herdentiere, die ihre Persönlichkeitsrechte aufgegeben haben. „On [Íigalev; Anm. M. M.] predlagaet […] razdelenie çeloveçestva na dve nepravnye çasti. Odna desätaä dolä poluçaet svobodu liçnosti i bezgraniçnoe pravo nad ostal´nymi devät´ü desätymi. Te Ωe dolΩny poterät´ liçnost´ i obratit´sä vrode kak v stado i pri bezgraniçnom povinovenii dostignut´ rädom pereroΩdenij pervobytnoj nevinnosti, vrode kak by 31 pervobytnogo raä, xotä, vproçem, i budut rabotat´.“ 27 28

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F. Nietzsche, Aus dem Nachlass der 80er Jahre, in: Ders., Werke, a.a.O., Bd. III, S. 761. (Hervh. im Orig.). F. Nietzsche, Zur Genealogie der Moral, in: Ders., Werke, a.a.O., Bd. II, S. 788. Zum „Zeitalter einer Vermittelmäßigung“ siehe bereits J. W. v. Goethe: „Eisenbahnen, Schnellposten, Dampfschiffe und alle möglichen Fazilitäten der Kommunikation sind es, worauf die gebildete Welt ausgeht, sich zu überbilden und auch dadurch in der Mittelmäßigkeit zu verharren. Und das ist ja das Resultat der Allgemeinheit, daß eine mittlere Kultur gemein werde…“ J. W. v. Goethe, Briefwechsel mit Zelter, hrsg. v. W. Vesper, Berlin 1957, S. 192 (Brief an Zelter v. 6. Juni 1825). F. Nietzsche, Jenseits von Gut und Böse, in: Ders., Werke, a.a.O., Bd. II, S. 708. Vgl. ebd. sowie F. Nietzsche, Zur Genealogie der Moral, in: Ders., Werke, Bd. II, S. 787. Zum Herdenbild bei Nietzsche vgl. zudem F. Balke, Wölfe, Schafe und Ochsen. Nietzsche und die liberale politische Zoologie, in: A. v. d. Heiden/J. Vogel (Hgg.), a.a.O., S. 197-218. F. M. Dostoevskij, Besy, in: Ders., Polnoe sobranie socˇinenij, 30 Bde., Leningrad 1972ff., Bd. X, S. 312.

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Neben der Herde nimmt Dostoevskij mit dem Bild des Ameisenhaufens („muravejnik“) kritisch Bezug auf sozialistische Gesellschaftsentwürfe, die den Menschen allein auf die Befriedigung seiner materiellen Bedürfnisse reduzierten, seine Individualität aber gänzlich außer Acht ließen.32 „Murav´i, niçtoΩnye murav´i, soedinäs´ dlä samosoxraneniä, to est´ dlä brüxa, k stydu lüdej, umeli izobresti muravejnik, to est´ samyj vy33 soçaj‚ij ideal social´nogo ustrojstva,…“

In seinen Zapiski iz podpol’ja (Aufzeichnungen aus dem Untergrund; 1864) antwortet Dostoevskij auf N. G. Cµernysˇevskijs Zukunftsvision einer vermeintlich sorgenfreien, nach vernünftigen Prinzipien kollektivistisch organisierten Kristallpalastgesellschaft. Während in Cµernysˇevskijs Roman Cµto delat’? Iz rasskazov o novych ljudjach (Was tun? Aus Erzählungen von neuen Menschen; 1863) der Glaspalast („chrustal’nyj dvorec“) grenzenlosen Fortschrittsoptimismus symbolisiert, ist er Dostoevskij Sinnbild einer den freien Willen des Menschen bedrohenden Gesellschaftsordnung, die den Menschen zum austauschbaren Drehorgelstift („fortep’jannaja klavisˇa“; „organnyj stiftik“) oder zur uniformen Ameise degradiert.34 In seinem Velikij Inkvizitor macht Dostoevskij die Verbindung von Massenbeherrschung und Religion deutlich, wenn er die katholische Kirche das Prinzip des einträchtigen Ameisenhaufens („besspornyj obsˇcˇij i soglasnyj muravejnik“35 ) als ideale Organisationsform vertreten lässt. Der Mensch, so der Großinquisitor, strebe nicht nach Freiheit oder Individualität, sondern nach Sicherheit, Bedürfnisbefriedigung und der Vereinigung von Gleichen unter der Führung einer benevolenten Autorität. 32

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Der Bildkomplex des Ameisenstaates ist ebenfalls biblisch vorgeprägt. Erwähnt werden der Fleiß der Tiere und das Fehlen einer regierenden Obrigkeit (vgl. Spr. 6, 6ff.). So diente die Organisationsform der Ameisen zunächst vielfach der Abbildung demokratischer Herrschaftsverhältnisse. Vgl. D. Peil, a.a.O., S. 226ff. F. M. Dostoevskij, Gospodin Sµcˇedrin, ili raskol v nigilistach, in: Ders., Polnoe sobranie socˇinenij, a.a.O. Bd. XX, S. 110. Vgl. F. M. Dostoevskij, Zapiski iz podpol’ja, in: Ders., Polnoe sobranie socˇinenij, a.a.O., Bd. V, S. 112. Vgl. zum Bild des Ameisenhaufens und der Ameise ebd., S. 118. Zu Cµernysˇevskijs Glaspalastgesellschaft vgl. ders., Cµto delat’? Iz rasskazov o novych ljudjach, Leningrad 1975, S. 283ff. Cµernysˇevskij rekurriert mit dem Bild des Glaspalastes explizit auf die Glashalle der Londoner Weltausstellung 1851. O. E∆. Mandel’sˇtam zeigt in seinem Gedicht Segodnja mozˇno snjat dekal’komani (Heute könnt’ man Abziehbilder lösen; 1931) die stalinistische Sowjetunion als infantile Kristallpalastgesellschaft, deren Glaspaläste trotz Industrialisierung und technischen Fortschritts auf Hühnerbeinen („stekljannye dvorcy na kur’ich nozˇkach“) stehen, während Moskau als riesiges Kindermädchen seine Bewohner in Unmündigkeit hält. Vgl. O. E∆. Mandel’sˇtam, Segodnja mozˇno snjat dekal’komani, in: Ders., Mitternacht in Moskau. Die Moskauer Hefte (Gedichte 1930-1934), russ./dt., hrsg. v. R. Dutli, Zürich 1986, S. 98ff. F. M. Dostoevskij Brat’ja Karamazovy, in: Ders., Polnoe sobranie socˇinenij, a.a.O., Bd. XIV S. 235.

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„Govorü tebe, çto net u çeloveka zaboty muçitel´nee, kak najti togo, komu by peredat´ poskoree tot dar svobody, s kotorym qto nesçastnoe suwestvo roΩdaetsä. No ovladevaet svobodoj lüdej li‚´ tot, kto uspokoit ix sovest´. S xlebom tebe davalos´ besspornoe znamä: da‚´ xleb, i çelovek preklonitsä, ibo niçego net besspornee xleba, no esli v to Ωe vremä kto-nibud´ ovladeet ego sovest´ü pomimo tebä – o, togda on daΩe brosit xleb tvoj i pojdet za tem, kotoryj obol´stit ego sovest´. […] Qto tak, no çto Ωe vy‚lo: vmesto togo çtob ovladet´ svobodoj lüdej, ty uveliçil im ee ewe bol´‚e! Ili ty zabyl, çto spokojstvie i daΩe smert´ çeloveku 36 doroΩe svobodnogo vybora a poznanii dobra i zla?“

Ähnlich wie das Bild vom Hirten und seiner Herde diente der Bienenstaat seit der Antike als Beschreibungsmodell der Monarchie, wobei die Bienenkönigin noch bis ins 17. Jahrhundert als männlichen Geschlechts galt. Positiv gesehen werden der Gehorsam, die einem Heer vergleichbare militärische Disziplin sowie der sich in Arbeits- und Gütergemeinschaft zeigende Gemeinsinn.37 Die viel gepriesene Organisationsform der Bienen sowie das wechselseitige Abhängigkeitsverhältnis zwischen der Einzelbiene und ihrem Volk werden allerdings auch wiederholt negativ gedeutet. Der russische Literaturkritiker D. I. Pisarev bezeichnet die Arbeitsbienen in gesellschaftskritischer Zuspitzung als bemitleidenswerte Parias und Sklaven („zˇalkie parii“) einer gut funktionierenden Staatsmaschinerie („gosudarstvennaja masˇina“) sowie als Proletariat, das in der „Finsternis“ des Bienenstocks niemals seine tatsächliche Lage zu erkennen vermag.38 „Vyletaä iz ul´ä, pçela ävläetsä svobodnym, userdnym rabotnikom; u sebä doma ona podavlena, prinesena v Ωertvu vne‚nej strojnosti gosudarstvennogo tela, i potomu, çtoby pokorät´sä takim tägostnym usloviäm, çtoby nesti bezropotno li‚eniä i trudy […] Pervyj luç sveta pugaet rabotnicu, osvewaä gräz´ i bednost´ ee vsednevnoj Ωizni; […] vnutri ul´ä posly‚itsä ΩuΩΩanie, i dela pridut v preΩnee poloΩenie tol´ko 39 togda, kogda vodvoritsä preΩnää temnota.“

A. Schopenhauer wendet sich, obwohl er den Bienenstaat als Rechtfertigung des monarchischen Herrschaftsprinzips versteht, gegen die dem Bienenmodell inhärente Vorstellung, dass die Bestimmung des Menschen im Staat aufgehe und ver36 37 38

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Ebd., S. 232. Vgl. D. Peil, a.a.O., S. 166, 170, 181, 195ff. u. 217ff. Vgl. D. I. Pisarev, Pcˇeli, in: Ders., Polnoe sobranie socˇinenij i pisem v dvenadcati tomach, Moskau 2000ff., Bd. IV, S. 253, 257 u. 258. Als satirische Maskierung dient der Bienenstaat dagegen B. de Mandeville in seiner Fable of the bees (Die Bienenfabel; 1714-29), in der e r zeigt, wie das individuell korrupte sowie gewinn- und genussorientierte Handeln der Mitglieder einer (Bienen-)Gesellschaft das kollektive und öffentliche Wohl befördert, während nach einer moralischen Agitation der „Bürger“ das Gemeinwesen verarmt und in ein vorzivilisatorisches Leben zurückfällt. D. I. Pisarev, Pcˇeli, a.a.O., S. 255.

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bindet den Bienenvergleich ebenfalls mit der im Absolutismus positiv gewerteten, nun aber dem Menschen als unangemessen verstandenen Vorstellung einer leblosen Staatsmaschine. „Konnte es eine bessere Zurichtung für künftige Referendarien und demnächst Staatsbeamte geben, als diese, in folge welcher ihr ganzes Wesen und Seyn, mit Leib und Seele, völlig dem Staat verfiel, wie das der Biene dem Bienenstock, und sie auf nichts Anderes, weder in dieser, noch in einer andern Welt hinzuarbeiten hatten, als daß sie taugliche Räder würden, mitzuwirken, um die große Staatsma40 schine, diesen ultimus finis bonorum, im Gange zu halten?“

In R. Musils Roman Der Mann ohne Eigenschaften (erschienen 1930-1952) ist die arbeitsteilige Organisation im Bienenstaat vergleichende Denkfigur, um ein Unbehagen gegenüber der modernen Gesellschaft zu artikulieren. Diese zeige eine zunehmende Tendenz zur Spezialisierung, der Einzelne sei aber nicht mehr in der Lage, deren komplexe Anforderungen zu bewältigen. „… und augenblicklich malte er [Ulrich; Anm. M. M.] sich aus, daß das auf den Weg zum Bienenstaat führen werde. Die Königin wird Eier legen, die Drohnen werden ein der Wollust und dem Geist gewidmetes Leben führen, und die Spezialisten werden arbeiten. Auch eine solche Menschheit ist denkbar; die Gesamtleistung möchte vielleicht sogar gesteigert werden. Jetzt hat jeder Mensch sozusagen noch die ganze Menschheit in sich, aber das ist offenkundig schon zuviel geworden und bewährt sich gar nicht mehr; so daß das Humane fast schon der reinste 41 Schwindel ist.“

Das Bild des Schwarms dient generell als Beschreibungsmuster der Vielen. Ob des ungeordneten Durcheinanderwimmelns der Tiere ist der Schwarm zum einen mit der Vorstellung einer unruhigen und lärmenden Bewegung verknüpft. Zum anderen entsteht der Eindruck des Uniformen und Blockhaft-Kompakten, da der Schwarm nur artgleiche Tiere vereinigt. In A. Belyjs Großstadtroman Peterburg (Petersburg; 1912) drängen ununterscheidbare Arbeitermassen einem tausendköpfigen Schwarm vergleichbar in die Fabriken („… mnogotysjacˇnyj roj ljudskoj tam bredet po utram k mnogotrubnym zavodam.“42 ). A. S. Serafimovicˇ beschreibt in seinem Roman Zµeleznyj potok (Der eiserne Strom; 1924) eine zunächst unorganisierte, ziellose und verzweifelte Masse von Bürgerkriegsflüchtlin40

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A. Schopenhauer, Parerga und Paralipomena, in: Ders., Sämtliche Werke, hrsg. v. A. Hübscher, 8 Bde., 3. Aufl., Wiesbaden 1972, Bd. V, S. 157. Zum positiven Verständnis der Maschinenmetapher sowie zu ihrer negativen Interpretation etwa auch bei J. G. Herder oder F. Schiller vgl. D. Peil, a.a.O., S. 489ff. u. 563ff. und allgemein B. Stollberg-Rilinger, Der Staat als Maschine. Zur politischen Metaphorik des absoluten Fürstenstaats, Berlin 1986. R. Musil, Der Mann ohne Eigenschaften, 2 Bde., Reinbek b. Hamburg 1978, Bd. I, S. 359. A. Belyj, Peterburg, Nachdruck der Moskauer Ausgabe von 1928, München 1967, S. 30. Vgl. ähnlich ebd., S. 103. Im Russischen bezeichnet „roj“ den Bienenschwarm, während „staja“ u. a. für Vögel- und Fischschwärme gebräuchlich ist.

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gen als aufgeregten riesigen Bienenschwarm ohne Königin („gromadnyj […] ulej, poterjavsˇij matku“43 ), die sich aber im Laufe der Ereignisse dem Titel entsprechend zu einem eisernen und disziplinierten Menschenstrom formiert und in geradezu übermenschlicher Kraftanstrengung die „Feinde der Revolution“ besiegt.

II. 1. 4. Der naturale Metaphernkomplex des Meeres und des Flusses Der Wassermetaphorik kommt für die Beschreibung von Menschenmengen und -massen herausragende Bedeutung zu. Insbesondere Bewegungsrhythmus und -dynamik lassen sich im Meeres- und Flussbild anschaulich erfassen.44 In V. Hugos Roman Notre-Dame de Paris (Der Glöckner von Notre Dame; 1831) wird ein von einer Menschenmenge überfüllter Platz als wogendes Meer geschildert, die sich in den zuführenden Straßen drängenden Bevölkerungsmassen gelten als reißende, wirbelnde und sich stauende Menschenströme. Häuser werden zu Wellen brechenden Klippen, und die über eine große Treppe stürzenden Menschenströme gleichen einem Wasserfall. Das Meeres- und Flussbild zeigt die Massen, in ihrer Kollektivität ebenso unermesslich wie ungegliedert und gestaltlos, als elementare, alles überflutende Naturgewalt. „La place du Palais, encombrée de peuple, offrait aux curieux des feneˆtres l’aspect d’une mer, dans laquelle cinq ou six rues, comme autant d’embouchures de fleuves, de´gorgeaient a` chaque instant de nouveaux flots de teˆtes. Les ondes de cette foule, sans cesse grossies, se heurtaient aux angles des maisons qui s’avançaient çà et la`, comme autant de promontoires, dans le bassin irre´gulier de la place. Au centre de la haute façade gothique du palais, le grand escalier, sans relaˆche remonte´ et descendu par un double courant qui, après s’eˆtre brisé sous le perron interme´diaire, s’épandait à larges vagues sur ses deux pentes latérales, le grand escalier, disje, ruisselait incessamment dans la place comme une cascade dans un lac. Les cris, les rires, le trépignement de ces mille pieds faisaient un grand bruit et une grande clameur. De temps en temps cette clameur et ce bruit redoublaient, le courant qui poussait toute cette foule vers le grand escalier rebroussait, se troublait, tourbillon45 nait.“

Auch V. S. Makanin bedient sich in seiner Erzählung Laz (Das Schlupfloch; 1991) der Wassermetaphorik, um die Erfahrungen seiner Figuren inmitten einer 43 44 45

A. S. Serafimovicˇ, Zµeleznyj potok, Moskau 1978, S. 3. Vgl. zu weiteren Massenbildern wie etwa die des Kornfeldes, des Waldes oder des Sandes E. Canetti, a.a.O., S. 97ff. V. Hugo, Notre-Dame de Paris, in: Ders., Oeuvres complètes, 18 Bde., Paris 1969ff., Bd. IV, S. 26f. Vgl. weiterführend zur Wassermetaphorik bei Hugo insbesondere V. Klotz, Die erzählte Stadt. Ein Sujet als Herausforderung des Romans von Lesage bis Döblin, München 1969, S. 98ff. Auch in S. M. E∆jzensˇtejns Bronenosec Potemkin (Panzerkreuzer Potemkin; 1925) erscheinen die durch Odessa ziehenden Menschenmassen wiederholt als sich in die Straßen ergießende Menschenströme.

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Menschenmasse zu schildern. Versuchen die Figuren zunächst durch die sich in Bewegung befindlichen Menschenmassen hindurch auf die andere Seite eines Platzes zu gelangen, passen sie sich schließlich doch der Bewegungsrichtung der Vielen an, werden von dem „Menschenstrom“ mitgerissen, aber wie „Späne“ auf einer Welle letztlich an eine „seichte Stelle am gegenüberliegenden Ufer“ gespült, während sich die Masse „Woge um Woge“ („za valom val“) weiter an ihnen vorüberwälzt. „… i Klüçarev re‚aet bol´‚e ne probivat´sä, otçasti podçinit´sä tolpe. Srazu stanovitsä legçe. Ix sdavlivaet, stiskivaet, opredelenno neset vpered i v storonu, vynosä po kakoj-to poçti owutimo plavnoj krivoj. DerΩawiesä vmeste, oni delaüt ‚aΩok-dva v progal, potom snova podçinäütsä potoku, i, podxvatyvaä ix kak wepu, tolpa neset, kak neset reka. Çerez golovy i kepki Klüçarev uΩe vidit tu storonu plowadi: doma na toj storone pomalu pribliΩaütsä, slovno Klüçareva s Olej i 46 vpräm´ vybrasyvaet medlennym teçeniem na otmel´ berega.“

Das Bild des unruhigen, auch brausenden Meeres zur Beschreibung des Volkes ist bereits biblisch vorgeprägt (vgl. Jes. 17, 12f.) und findet sich in der Antike beispielsweise bei Cicero, der die entfesselten Volksmassen mit einem tosenden Meer vergleicht oder auch bei Demosthenes, der das Volk als Woge bezeichnet, die vom Zufall bewegt wird.47 II. 2. Historische Eckdaten zur Entwicklung der modernen Massenproblematik II. 2. 1. Französische Revolution und bürgerlicher Individualismus Die großen Volksaufstände und Massenkundgebungen im Zuge der Französischen Revolution lassen die breite Masse des Volkes („la masse du peuple“) erstmals als mächtigen politischen und sozialen Faktor ins öffentliche Bewusstsein treten. Im Januar 1789 hatte J. E. Sieyes mit seiner Streitschrift Qu’est-ce que le tiers e´tat? – gerichtet gegen den privilegierten Adel und Klerus – dem erstarkten Selbstbewusstsein des Bürgertums Ausdruck verliehen. Der Dritte Stand wird zur Nation, die zahlenmäßige Überlegenheit zum politischen Argument. „Ich bitte den erstaunlichen Unterschied zu beachten, der zwischen der Versammlung des Dritten Standes und denen der beiden anderen Stände besteht. Die Erstere steht stellvertretend für 25 Millionen Menschen und beratschlagt über die Interessen der Nation. Die beiden anderen, sollten sie sich vereinigen, haben nur unge48 fähr für 200.000 Individuen die Vollmacht und denken nur an ihre Vorrechte.“ 46 47 48

V. S. Makanin, Laz. Povesti i rasskazy, Moskau 1998, S. 332f. Vgl. D. Peil, a.a.O., S. 744. E. J. Sieyes, Was ist der Dritte Stand?, hrsg. v. O. Dann, Essen 1988, S. 95.

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In Abgrenzung zum Bürgertum wird nicht nur der Begriff des „Vierten Standes“ geprägt, Verwendung für die Angehörigen der besitzlosen Unterschicht findet ebenfalls die Bezeichnung „prole´taires“. Diese sollen als Passivbürger von politischer Partizipation ausgeschlossen werden, während ihre Wortführer, so etwa im Manifest des Egaux (Manifest der Gleichen; 1796), auf die Durchsetzung des Gleichheitsprinzips und eine Veränderung der Eigentumsverhältnisse dringen.49 Sowohl die fortschreitende Parteienbildung als auch die Errichtung der Republik im Sommer 1792 sowie die Revolutionskriege führen zu einer umfassenden Politisierung der Volksmassen, die mit der „leveé en masse“ (1793) nun auch militärisch für den Verteidigungskampf gegen die Feinde der neuen Staatsverfassung mobilisiert werden.50 An den Ereignissen in Frankreich entzünden sich weitreichende gesamteuropäische Kontroversen. Vielfach beschrieben und beurteilt wird das Verhalten der aufständischen Volksmassen. H. Taine wertet rückblickend in seinem mehrbändigen Werk Les origines de la France contemporaine (Die Entstehung des modernen Frankreich; 1875-93) die Revolution, die vornehmlich die Zerstörungswut der Besitzlosen entfesselt habe, negativ als Beginn des Massenzeitalters. Geradezu leitmotivisch wird bei der Beschreibung der Aufständischen auf eine Verwilderung und Vertierung des Menschen abgehoben. Taine spricht von „krüppelhaften, krätzigen, abgezehrten und verwilderten Gestalten“, bezeichnet die Menge als „millionenköpfiges Monstrum“51 , „wildgewordenen Elefanten“, „aufgehetztes, wildes Thier“ oder „gewaltiges Unthier“52 . An die Stelle des Bürgers sei der „Barbar“, „das einstige Thier“ getreten.53 Der Mensch sei wieder in einen negativ verstandenen „Naturzustand“ zurückgefallen und die „dünne Hülle von vernünftigen Gewohnheiten und Gedanken, die die Civilisation über ihn geworfen“ habe, zerissen.54 Werden gegen die aufrührerische Masse, die als etwas außerhalb von Zivilisation und Kultur Stehendes gekennzeichnet und dämonisiert wird, auch die Begriffe der Menschlichkeit und Individualität ins Feld geführt, so scheint der Einzelne doch ohnmächtig angesichts der Kraft der Menge, die sich im Rückgriff auf einen naturalen Metaphernkomplex wiederholt mit einer gleichsam elementaren Naturgewalt identifiziert findet.55 49

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Vgl. W. Conze, Proletariat, Pöbel, Pauperismus, a.a.O., S. 37. Bereits in der römischen Verfassung des 5. Jhdts. v. Chr. wurden die von politischer Partizipation ausgeschlossenen Besitzlosen als „proletarii“ bezeichnet, die aufgrund ihrer Armut keinen Beitrag zum Gemeinwesen leisten konnten, sondern, so die Etymologie des Wortes, dem Staat nur mit Nachkommen dienten. Vgl. ebd., S. 27. Vgl. E. Pankoke, a.a.O., Sp. 828. H. Taine, Die Entstehung des modernen Frankreich, 3 Bde., 2., veränd. Aufl., Leipzig 1903ff., Bd. I, S. 430 u. 449. Ebd., Bd. II, 1, S. 57, 58 u. 71. Vgl. ebd., S. 75. Vgl. ebd., S. 328f. Vgl. hierzu auch A. Graczyk (1992), a.a.O., S. 120ff. und M. Gamper (2007), a.a.O., S. 143ff. u. 184ff. Th. Carlyles Beschreibung des aufbegehrenden Volkes als Heuschrecken-

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Bereits 1790 hatte E. Burke in seinen Reflections on the Revolution in France eine gründliche Kritik an den Ereignissen geübt und mehrfach auf traditionelle pejorative Bewertungsmuster der Vielen zurückgegriffen. So spricht er von der wildgärenden Hefe der Volksmassen oder der (Volks-)Herde, wobei sich die Führer der Revolution, die ebenso wie die Massen als Ungeheuer und reißende Tiere gesehen werden, als schlechte Hirten erwiesen.56 Das angestrebte Repräsentationssystem, das allein auf die Quantität, nicht aber auf den Wert und die Stellung des Individuums gerichtet sei, wird entschieden abgelehnt.57 Mit F. Gentz’ Übersetzung der Burkeschen Reflections 1793 findet der Massenbegriff Eingang in die deutsche Sprache. Für das englische, von Burke verwendete „crowd“ wählt er den im revolutionären Frankreich geläufigen und politisch aufgeladenen Terminus der „Masse“.58 Letztlich etabliert sich der Massenbegriff im Zuge der Französischen Revolution als eine weitgehend kultur- und gesellschaftskritische Kategorie, die auch bei nachfolgenden revolutionären Umbruchversuchen zur Anwendung kommt.59 Gleichzeitig wird der Vorstellung von der geistigen und politischen Selbstbestimmtheit des Individuums mit der Deklaration der Menschen- und Bürgerrechte (1789) herausragende Bedeutung zugesprochen. Die Französische Revolution verhilft den Prinzipien der Aufklärung zur politischen Durchsetzung und bahnt der liberalen bürgerlichen Gesellschaft den Weg. Die freie Entfaltung des Individuums sowohl im ökonomischen als auch geistigkulturellen Bereich wird zum Maßstab einer auf Vernunftprinzipien gegründeten, an den Vertragstheorien eines J. Locke, J.-J. Rousseau und Ch. de Montesquieu orientierten Organisation politischer Herrschaft. Ausbildung und Bewahrung der individuellen Persönlichkeit sind Auftrag und Ideal zugleich. Der Begriff der Persönlichkeit, verstanden als natürlicher Charakter und eingeborene Möglichkeit des Menschen, bildet sich im 18. Jahrhundert aus.60 Die Persönlichkeit ist, ebenso wie die Überzeugung von einer sukzessiven Vervollkommnung des Menschen, eine zentrale Vorstellung der humanistischen Aufklä-

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schwarm ist dagegen positiv zu verstehen. Einer biblischen Plage gleich (vgl. 2. Mos. 10 u. Off. 9, 3) strafen die Aufständischen die Herrschenden für ihr „sündhaftes“ Verhalten. Vgl. Th. Carlyle, The French Revolution. A History, 3 Bde., 3. Aufl., London 1848, Bd. I, S. 213. Vgl. E. Burke, Über die Französische Revolution. Betrachtungen und Abhandlungen, i. d. dt. Übertr. v. F. Gentz, Berlin 1991, S. 125, 148 u. 323f. Zu einer Zusprechung ähnlicher Eigenschaften in Bezug auf die aufrührerischen Massen und ihre Führer vgl. die Beispiele bei M. Gamper (2007), a.a.O., S. 158 und J. Vogel, Über soziale Fassungslosigkeit, in: M. Gamper/ P. Schnyder (Hgg.), a.a.O., S. 182. Vgl. E. Burke, a.a.O., S. 318f. u. 324. Vgl. E. Pankoke, a.a.O., S. 828. Vgl. ebd. und zudem die Beschreibungsmuster zur Kennzeichnung der aufständischen Masse 1848 in Deutschland bei H. König, a.a.O., S. 97ff. oder H.-W. Jäger, Politische Metaphorik im Jakobinismus und im Vormärz, Stuttgart 1971. Vgl. U. Dierse/R. Lassahn, Persönlichkeit, in: J. Ritter (Hg.), a.a.O., Bd. VII, Sp. 345.

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rung.61 Schiller versteht die Persönlichkeit des Menschen als konstante innere Bezugsgröße angesichts äußerer, veränderlicher Lebensumstände.62 Herder ist sie wesentliches Abgrenzungsmerkmal zum Dasein der Menge.63 Fragwürdig ist die Kategorie einer unverwechselbaren Persönlichkeit dagegen für G. Büchner. Er sieht der immer gleichen physischen Natur des Menschen lediglich verschiedene Rollen übergestülpt. „… wir sollten einmal die Masken abnehmen, wir sähen dann wie in einem Zimmer mit Spiegeln überall nur den einen uralten, zahllosen, unverwüstlichen Schaafskopf, nichts mehr, nichts weniger. Die Unterschiede sind so groß nicht, wir Alle sind Schurken und Engel, Dummköpfe und Genies und zwar das Alles in Einem, die vier Dinge finden Platz genug in dem nemlichen Körper, sie sind nicht so breit, als man sich einbildet. Schlafen, Verdaun, Kinder machen das treiben Alle, die übrigen Dinge sind nur Variationen aus verschiedenen Tonarten über das nemlich 64 Thema.“

Das liberale Prinzip der freien Entfaltung des selbstbestimmten Individuums und seiner Persönlichkeit zeigt allerdings ob seiner demokratisierenden Dynamik auch einen bedrohlichen Aspekt, denn es lässt zwangsläufig die gleichberechtigte Teilhabe aller an politischen Entscheidungsprozessen fordern. Befürchtet wird, dass im Zuge einer Ausweitung der politischen Beteiligung besitzlose und bildungsarme Bevölkerungsschichten an Einfluss gewinnen, denen politische Kompetenz nicht zugetraut wird. Einerseits verweist die Antizipation einer „Pöbelherrschaft“ einmal mehr auf das ambivalente Menschenbild derjenigen, die sich durch Besitz und Bildung bewusst über Volk und Masse erheben. Andererseits sind doch Tocquevilles um eine objektive Bestandsaufnahme bemühte demokratietheoretische Überlegungen wesentlich, die eine zweite sich mit dem Massenbegriff verbindende und unter dem Stichwort der „Vermittelmäßigung“ zu fassende Diskurslinie deutlich werden lassen. Tocqueville konstatiert in Demokratien zum einen eine allgemeine Mäßigung von Eigenschaften und Verhalten, die einen

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Vgl. A. Schwan, Politische Theorien des Rationalismus und der Aufklärung, in: H.-J. Lieber (Hg.), Politische Theorien von der Antike bis zur Gegenwart, 2., durchges. Aufl., Bonn 1993, S. 163. Vgl. F. Schiller, Über die ästhetische Erziehung des Menschen in einer Reihe von Briefen, in: Ders., Werke. Nationalausgabe, hrsg. v. J. Petersen, B. v. Wiese u. a., 42 Bde., Weimar 1943ff., Bd. XX, 1, S. 342f., 345f. u. 349ff. Goethe zeigt am wechselvollen Werdegang seiner Figur des Wilhelm Meister die Widrigkeiten, die den Prozess der Persönlichkeitsentfaltung begleiten. Vgl. U. Dierse/R. Lassahn, a.a.O., Sp. 346. Vgl. zum Begriff der Persönlichkeit und des Individuums bei Herder und Schiller auch M. Gamper (2007), a.a.O., S. 68ff. u. 83ff. G. Büchner, Dantons Tod, in: Ders., Sämtliche Werke und Briefe, 4 Bde., Hamburg 1971, Bd. I, S. 70f. Zur kritischen Einschätzung eines erstrebten Individualisierungsprojektes vgl. auch die ausführliche Besprechung von K. P. Moritz’ Roman Anton Reiser bei M. Gamper (2007), a.a.O., S. 102ff.

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„dauernden und normalen Zustand“ garantierten.65 Zum anderen sieht er aber, dass die umfängliche Durchsetzung des Gleichheitsprinzips die Gefahr einer unkontrollierten Mehrheitsherrschaft birgt und somit Freiheit und Gleichheit in ein unaufhebbares Spannungsverhältnis treten.66 Zudem antizipiert er eine Nivellierung der Lebensverhältnisse sowie eine gesellschaftliche Uniformierung, die das Erstarken einer zwar demokratisch gewählten, aber despotischen Zentralgewalt begünstige. Benevolent trage diese Sorge für die Sicherheit und Bedürfnisse ihrer Bürger, befördere aber gleichzeitig die Preisgabe freier Willensentscheidungen. „In dem Grade wie in einem Volk die gesellschaftliche Einebnung fortschreitet, erscheinen die einzelnen kleiner und die Gesellschaft größer, oder vielmehr verschwindet jeder Bürger, allen anderen gleich geworden, in der Menge, und man erblickt nichts als das umfassende und prächtige Bild des Volkes selbst.“ „Vergeblich gibt man diesen gleichen Bürgern, die man derart von der Zentralgewalt abhängig werden ließ, den Auftrag, von Zeit zu Zeit die Vertreter dieser Gewalt zu wählen; diese so wichtige, aber so kurze und so seltene Betätigung ihres freien Willens verhindert nicht, daß sie die Fähigkeit selbständigen Denkens, Fühlens und Handelns nach und nach einbüßen und daß sie dergestalt Schritt für Schritt unter 67 die Stufe des Menschentums hinabsinken.“

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Vgl. A. de Tocqueville, a.a.O., Bd. II, S. 359. Vgl. hierzu auch die Beispiele zu einer positiv verstandenen Adaptierung des Mittelmäßigen und der Vorstellung eines „mittleren Normalmenschen“, der die zentrifugalen Kräfte der industrialisierten Gesellschaft bändigen soll, bei M. Gamper (2007), a.a.O., S. 334ff. Vgl. etwa A. de Tocqueville, a.a.O., Bd. I, S. 376 u. 378. Bereits die Federalist Papers (1787/88) der amerikanischen Verfassungsväter zeigen eine herausragende Debatte über das Mehrheitsprinzip und die Gefahren einer Mehrheitstyrannei. So weist etwa A. Hamilton die sprichwörtliche Rede von der „vox populi, vox dei“ („Volkes Stimme ist Gottes Stimme“), die ein positives Verständnis der Masse transportiert, zurück und warnt im Rückgriff auf die Vorstellung von der unsteten und wankelmütigen Masse vor unkontrollierten und ungefilterten Mehrheitsentscheidungen. „The voice of the people has been said to be the voice of God; and however generally this maxim has been quoted or believed, it is not true in fact. The people are turbulent and changing; they seldom judge or determine right.“ Zitiert nach W. Jäger, Mehrheit, Minderheit, Majorität, Minorität, in: O. Brunner/W. Conze/R. Koselleck (Hgg.), a.a.O., Bd. III, S. 1047. A. de Tocqueville, a.a.O., Bd. II, S. 426 u. 467. Pusˇkin, der in seinem Artikel Dzˇon Tenner (John Tanner; 1836) ebenfalls die Mehrheitstyrannei sowie die Nivellierungstendenz in den Vereinigten Staaten konstatiert, reagierte u. a. auf die Lektüre von Tocquevilles De la de´ mocratie en Amérique. Vgl. beispielhaft A. S. Pusˇkin, Dzˇon Tenner, in: Ders., Polnoe sobranie socˇinenij, 16 Bde., Moskau 1937ff., Bd. XII, S. 104.

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II. 2. 2. Russische Bewertungen von Gemeinschaft und Gesellschaft: „sobornost’“, „obsˇciˇ na“ und „mesˇcaˇ nstvo“ In kritischer Abgrenzung zur individualistischen Gesellschaftsorganisation des Westens fokussiert das russische philosophische und politische Denken verstärkt auf gemeinschaftliche und organisch gewachsene Lebensformen. Erstmals wesentlich und nachhaltig formuliert wird die Frage nach dem Verhältnis Russlands zum europäischen Westen in P. Ja. Cµaadaevs Erstem Philosophischen Brief (1836).68 Cµaadaev kennzeichnet einerseits Russland, dessen Kultur keine eigenen Ideen ausgebildet habe und gänzlich auf der Nachahmung fremder Muster gründe, als isoliert, rückständig und geschichtslos.69 Andererseits kritisiert er die westliche aufklärerische Position eines autonom gedachten Individuums. Der Mensch als primär soziales Wesen gehe auf sich allein gestellt zugrunde, denn nicht das begrenzte, persönlich-individuelle Denken und Wollen, sondern vielmehr das Aufgehen des Einzelnen in einem Verbund und die Anbindung an eine überindividuelle göttliche Größe ermöglichten wahre Erkenntnis und echtes Bewusstsein. „… outre le sentiment de notre individualité personelle, nous portons en notre coeur celui de notre rapport avec la patrie, la famille, la communaute´ d’opinions dont nous sommes les membres; ce sentiment est meˆme souvent plus vif que l’autre; le germe d’une conscience supérieure réside bien ve´ritablement en nous, il forme l’essence de notre nature; et le moi actuel, ce n’est nullement une loi inévitable qui nous l’inflige, mais nous l’avons mis nous-meˆmes dans notre aˆme; o n verra que l’homme n’a pas d’autre destination dans ce monde, que ce travail d’anéatissment de son eˆtre personnel en lui substituant un eˆtre parfaitement social 70 ou impersonnel.“

Ähnlich wie Cµaadaev werten im Anschluss auch slavophile Denker Liberalismus und Revolution als Ausdruck einer Krise Europas. Die von Cµaadaev konstatierte Traditionslosigkeit Russlands schreiben sie dagegen nur einer im Zuge der Reformen Peters des Großen zunehmend verwestlichten russischen Elite zu. So liege die Rettung Russlands gerade in einer Rückbesinnung auf den orthodoxen Glauben und ursprünglich slawische Elemente des sozialen und kulturellen Lebens, wie sie das russische Volk bewahrt habe. Zentrale Bedeutung kommt dabei

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Cµaadaev verfasste um 1830 in französischer Sprache insgesamt acht Philosophische Briefe (Lettres philosophiques adressées à une dame). Veröffentlicht wurde in Russland zu Lebzeiten des Autors nur der erste dieser Briefe. Vgl. P. Ja. Cµaadaev, Lettre première sur la philosophie de l’histoire, in: Ders., Socˇinenija i pis’ma, 2 Bde., hrsg. v. M. Gersˇenzon, Nachdruck Hildesheim/New York 1972, Bd. I, S. 80. P. Ja. Cµaadaev, Lettre troisie`me sur la philosophie de l’histoire, in: Ders., Socˇinenija i pis’ma, a.a.O., Bd. I, S. 121. (Hervh. im Orig.).

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dem orthodoxen Prinzip der „sobornost’“ und der gemeinschaftsorientierten Organisationsform der russischen Dorfgemeinschaft („obsˇciˇ na“) zu.71 Der Begriff „sobornost’“ entzieht sich einer eindeutigen Übersetzung. Während „sobor“ sowohl in der Bedeutung von „Kirchengebäude“, „Kathedrale“ Verwendung findet als auch eine Versammlung von Menschen zu einem bestimmten Zweck bezeichnet, steht das Adjektiv „sobornyj“ im orthodoxen Glaubensbekenntnis für die allumfassende Qualität der Kirche. In seiner Schrift Cerkov’ Odna (Die Kirche ist eins; um 1850) fasst A. S. Chomjakov die versammelte orthodoxe Kirchengemeinde als organische Einheit von Menschen, die in ihrem Zusammenwirken einen gleichsam lebendigen Körper bilden. „Edinstvo Cerkvi sl™duetß neobxodimo izß edinstva BoΩ¡ägo, ibo Cerkov´ ne est´ mnoΩestvo licß vß ixß liçnoj otd™l´nosti, no edinstvo BoΩ¡ej blagodati, Ωivuwej vo mnoΩestv™ razumnyxß tvoren¡j, pokoräüwixsä blagodati. […] Edinstvo Ωe Cerkvi ne mnimoe, ne inoskazatel´noe, no istinnoe i suwestvennoe, kakß edinstvo mnogoçislennyxß çle72 novß vß t™l™ Ωivomß.“

Die organische Verbindung von Freiheit und Einheit in der „sobornost’“ beschreibt er als Gegenstück zum westlichen Rationalismus und Individualismus. „… the gift of unvarying knowledge (which is nothing but faith) is attributed, not to individuals, but to the totality of the ecclesiastical body, and is considered as a corollary of the moral principal of mutual love. This position is in direct contradiction to the individualism and rationalism which lies at the bottom of every Pro73 testant doctrine.“

I. V. Kireevskij sieht in den individualistischen Gesellschaftsmodellen des Westens gerade einen unaufhebbaren Konflikt zwischen einer „Einheit ohne Freiheit“ und einer „Freiheit ohne Einheit“. Der westliche Rationalismus befördere mit der Proklamierung einer autonomen, einseitig besitzindividualistischen Persönlichkeit sowohl die Zerstörung der inneren Einheit des Menschen als auch die Atomisierung der Gesellschaft, die nach vornehmlich rationalistischen, äußerli-

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Obige Darstellung ist selbstverständlich eine Vereinfachung. Das slavophile Denken vereint verschiedenste Positionen und lässt sich in unterschiedliche Phasen einteilen. Vgl. P. N. Miljukov, Slavjanofil’stvo, in: F. A. Brokgauz/I. A. Efron (Hgg.), E∆nciklopedicˇeskij slovar’, Sankt Petersburg 1890ff., Bd. XXX, S. 307ff. A. S. Chomjakov, Cerkov’ Odna, mit einem Vorwort v. Ju. F. Samarin, Montreal 1975, S. 51. A. S. Comjakov, Letter to W. Palmer (1850), in: W. J. Birkbeck (Hg.), Russia and the English Church During the Last Fifty Years, 2 Bde., London 1895, Bd. I, S. 95. Einen Überblick über die Übersetzungs- und Deutungsvarianten des Begriffs der „sobornost’“ geben P. K. Christoff, An Introduction to Nineteenth-Century Russian Slavophilism. A Study in Ideas: A. S. Chomjakov, Den Haag 1961, S. 139f. (Anm. 8) sowie W. Goerdt, Russische Philosophie. Zugänge und Durchblicke, Freiburg i. Br./München 1984, S. 659ff.

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chen und deshalb künstlichen Prinzipien organisiert sei.74 Dem am einseitigen Primat der Ratio krankenden Individuum stellt Kireevskij das Konzept einer ganzheitlichen Persönlichkeit („cel’naja licˇnost’“) und eines im Glauben fußenden Denkens („verujusˇcˇee mysˇlenie“) gegenüber, das die verschiedenen psychischen Kräfte des Menschen zu einer lebendigen Einheit verbinde und somit erst wahre Erkenntnis ermögliche. „Ona [vera; Anm. M. M.] ne sostavlaetß çisto çelov™çeskago znan¡ä, ne sostavlaetß osobago ponät¡ä vß um™ ili serdc™, ne vm™waetsä vß odnoj kakoj libo poznavatel´noj sposobnosti, ne otnositsä kß odnomu logiçeskomu razumu, ili serdeçnomu çuvstvu, ili vnu‚en¡ü sov™sti; no obnimaetß vsü c™l´nost´ çelov™ka, i ävläetsä tol´ko vß minuty qtoj c™l´nosti i sorazm™rno eä polnot™. Potomu glavnyj xarakterß v™ruüwago my‚len¡ä zaklüçaetsä vß stremlen¡i sobrat´ vs™ otd™l´nyä çasti du‚i vß odnu silu, otyskat´ to vnutrennee sredotoç¡e byt¡ä, gd™ razumß i volä, i çuvstvo, i sov™st´, i prekrasnoe, i istinnoe, i udivitel´noe, i Ωelannoe, i spravedlivoe, i miloserdnoe, i ves´ obßemß uma slivaetsä vß odno Ωivoe edinstvo, i takimß obrazomß vozstanovläetsä suwestvennaä liç75 nost´ çelov™ka vß eä pervozdannoj ned™limosti.“

Als Gegenmodell zu westlichen Gesellschaftsformen wird die russische Dorfkommune („obsˇcˇina“) gesehen, die sich im Sinne der „sobornost’“ als wahre Gemeinschaft zeige, denn die „obsˇcˇina“ gründe nicht auf rechtlichen Verbindlichkeiten, sondern auf Traditionen, gegenseitigem Vertrauen, gemeinschaftlicher Nutzung des Landes sowie kollektiver Verantwortlichkeit gegenüber der Obrigkeit.76 Da sich der Einzelne in der Dorfkommune „frei wie in einem Chor“ fühle und somit die Prinzipien „Freiheit“ und „Einheit“ in eine organische Verbindung gebracht seien, strebe das Volk – so etwa der slavophile Denker K. S. Aksakov – auch nicht nach einer rein äußerlichen politischen Freiheit. „Otd™livß otß sebä pravlen¡e gosudarstvennoe, narodß Russk¡j ostavilß seb™ obwestvennuü Ωizn´ i poruçilß gosudarstvu davat´ emu (narodu) vozmoΩnost´ Ωit´ qtoü obwestvennoü Ωizn¡ü. Ne Ωelaä pravit´, narodß na‚ß Ωelaetß Ωit´, razum™etsä, ne vß odnomß Ωivotnomß smysl™, a 74

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Vgl. I. V. Kireevskij, O charaktere prosvesˇcˇenija Evropy i o ego otnosˇenii k prosvesˇcˇeniju Rossii, in: Ders., Polnoe sobranie socˇinenij, 2 Bde., Moskau 1911, Bd. I, S. 191ff. Ähnlich ebd., S. 113. I. V. Kireevksij, Otryvki, in: Ders., Polnoe sobranie socˇinenij, a.a.O., Bd. I, S. 275. So sieht Kireevskij zusammenfassend Westeuropa durch die Prinzipien der Zersplitterung („razdvoenie“) und der Verstandesmäßigkeit („razsudocˇnost’“) gekennzeichnet, während für Russland Ganzheit („cel’nost’“) und Vernunftmäßigkeit („razumnost’“) merkmalhaft seien. Vgl. ders., O charaktere prosvesˇcˇenija, a.a.O., S. 218. Vgl. zur Parallelisierung von „sobornost’“ und „obsˇcˇinnost’“ im slavophilen Denken beispielhaft P. K. Christoff (1961), a.a.O., S. 152ff., N. Franz (Hg.), Lexikon der russischen Kultur, Darmstadt 2002, S. 418 und A. de Lazari (Hg.), Idei v Rossii – Ideas in Russia – Idee w Rosji. Leksykon rosyjsko-polsko-angielski, 5 Bde., ∫ódz´ 2000ff., Bd. I, S. 377.

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vß smysl™ çelov™çeskomß. Ne iwa svobody politiçeskoj, onß iwetß svobody nravstvennoj, svobody duxa, svobody obwestvennoj, – narodnoj 77 Ωizni vnutri sebä.“

So werden Volk („narod“) und Staat („gosudarstvo“) auch nicht durch gesetzliche Garantien, sondern wie die Mitglieder der „obsˇciˇ na“ durch gegenseitiges Vertrauen aneinander gebunden gedacht.78 Wie A. Walicki bemerkt, korrespondiert die slavophile Oppositionssetzung von individualistischen Gesellschaftmodellen und gemeinschaftlich verfassten Organisationsformen in gewisser Weise mit der von F. Tönnies getroffenen Unterscheidung von Gemeinschaft und Gesellschaft.79 Die Gemeinschaft basiert als organisches Ganzes, als „lebendiger Organismus“ auf der natürlichen Verbundenheit der Menschen und bezieht ihre einigende Kraft aus einem gegenseitigen Verständnis („consensus“), das aus gemeinsamer Sprache, Sitten, Religion sowie einer angemessenen Verteilung von Rechten und Pflichten erwächst. Dagegen bezeichnet Tönnies die Gesellschaft, nicht zuletzt als ökonomische Gesellschaft des Handels verstanden, als ein „Artefact“, ein „mechanisches Aggregat“, in dem „ein jeder allein und im Zustande der Spannung gegen alle übrigen“ ist.80 Die „obsˇcˇina“ dient aber nicht nur slavophilem Denken, sondern auch westlich orientierten Kreisen in Russland („zapadnicˇestvo“) als Bezugspunkt.81 A. I. Gercen versteht die „obsˇcˇina“ angesichts seiner Enttäuschung über die westeuropäische Massenkultur als Keimzelle eines russischen Sozialismus.82 Wesentlich für Gercens Sozialismus sind nicht marxistisch geprägte Vorstellungen, die eine Pauperisierung und Ausbeutung breiter Bevölkerungsschichten im Zuge einer sich durchsetzenden kapitalistischen Wirtschaftsweise befürchten. Gercens Be77

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K. S. Aksakov, Zapiska o vnutrennem sostojanii Rossii, predstavlennaja Gosudarju Imperatoru Aleksandru II v 1855 g., in: N. L. Brodskij (Hg.), Rannye slavjanofily. A. S. Chomjakov, I. V. Kireevskij, K. S. i I. S. Aksakovy, Moskau 1910, S. 73. Vgl. zu Aksakovs Bild des Chores P. K. Christoff, An Introduction to Nineteenth-Century Russian Slavophilism. A Study in Ideas: K. S. Aksakov, Princeton 1982, S. 368. Vgl. K. S. Aksakov, a.a.O., S. 77, 80 u. 82. Vgl. A. Walicki, A History of Russian Thought. From the Enlightenment to Marxism, Oxford 1988, S. 108. Vgl. F. Tönnies Gemeinschaft und Gesellschaft. Grundbegriffe der reinen Soziologie, Darmstadt 1970, S. 5, 14f., 20ff., 40 u. 52ff. Die psychologischen Korrelate bilden der „Wesenwille“, verstanden als „reale und natürliche Einheit“ der Gefühle, Triebe und Begierden, sowie der „Kürwille“, der sich wesentlich in einem berechnenden Zweckdenken äußert. Vgl. ebd., S. 87ff. u. 107ff. Ebenso wie schon in Bezug auf das slavophile Denken soll der Begriff des „zapadnicˇestvo“ nicht implizieren, dass es sich hierbei um eine homogene Gruppierung handelt. Vgl. zu den verschiedenen Positionen und Phasen westlich orientierten Denkens V. S. Solov’ev, Zapadniki. Zapadnicˇestvo, in: F. A. Brokgauz/I. A. Efron (Hgg.), a.a.O., Bd. XII, S. 243f. Zur Problematik einer strikten Trennung von „slavjanofil’stvo“ und „zapadnicˇestvo“ vgl. zudem W. Goerdt, Russische Philosophie, a.a.O., S. 262ff. Gercen reiste 1847 nach Westeuropa und lebte als Emigrant u. a. in Frankreich und Italien, von 1852 bis 1865 in England.

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zugspunkt bildet vielmehr die von ihm in Europa konstatierte Spießerkultur, die mit der Etablierung eines sozialistischen Gesellschaftsmodells in Russland verhindert werden soll.83 So zielt seine Kritik an den bürgerlichen Gesellschaften auf zunehmende Nivellierungstendenzen und drückt sich vornehmlich im Begriff des „mesˇcaˇ nstvo“ („Klein- beziehungsweise Spießbürgertum“) aus.84 „S mewanstvom stiraütsä liçnosti, no stertye lüdi sytee; plat´ä düΩinnye, nezakaznye, ne po talii, no çislo nosäwix ix bol´‚e. S me85 wanstvom stiraetsä krasota porody, no rastet ee blagosostoänie.“

Hierbei ist wesentlich, dass Gercen im Anschluss an die französische Februarrevolution 1848 mit dem Begriff des „mesˇcˇanin“ weniger eine gesellschaftliche Schicht, als vielmehr eine Geisteshaltung bezeichnet, die sich für ihn in zufriedener Saturiertheit, geistiger Enge und Beschränktheit sowie in einem platten, banalen Geschäftssinn äußert.86 Zwar ist er über die Niederschlagung der Arbeiterschaft, die das allgemeine und gleiche Wahlrecht fordert, entsetzt. Gleichzeitig sieht er aber auch Bauern und Arbeiter bereits vom spießbürgerlichen Geist infiziert. „Nemeckij krest´änin – mewanin xlebopa‚estva, rabotnik vsex stran – buduwij mewanin.“87 Ameisenhaufen und Bienenstock sind Gercen Sinnbild des tödlichen Stillstands und der satten Zufriedenheit der nivellierten Masse. „Vezde, gde lüdskie muravejniki i ul´i dostigali otnositel´nogo udovletvoreniä i uravnove‚eniä, dviΩenie vpered delalos´ ti‚e i ti‚e, 88 fantazii, idealy potuxali.“

Bestätigt sieht er sich in seiner Kritik an der Massengesellschaft – Gercen spricht hier von einer tausendköpfigen Hydra – durch die Veröffentlichung von J. St. Mills On Liberty (1859) und dessen Skepsis gegenüber der namenlosen Masse der Mittelmäßigkeit.

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V. Piroschkow spricht für Gercens Sozialismus von einer „Verkoppelung der russischen obsˇcˇina mit dem westlichen Sozialismus, getragen von dem besonderen ‚von Natur aus nicht spießerischen‘ russischen Menschen“. V. Piroschkow, Alexander Herzen. Der Zusammenbruch einer Utopie, mit einem Geleitwort v. F. Stepun, München 1961, S. 97. In der zaristischen Ständeordnung zählten zum „mesˇcˇanstvo“ die nicht-adligen und nichtbäuerlichen Stadtbewohner. Sie konnten nicht in den Kaufmannsstand aufsteigen und bildeten zusammen mit den zugewanderten Bauern und dem unteren Kaufmannsstand die städtische untere Mittelschicht. Vgl. D. Müller, a.a.O., S. 87 (Anm. 27). A. I. Gercen, Koncy i nacˇala, in: Ders., Sobranie socˇinenij v tridcati tomach, Moskau 1954ff., Bd. XVI, S. 138. Vgl. ebd., S. 137. Ebd., S. 138. (Hervh. im Orig.). Ebd., S. 156.

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„Vozle, za uglom, vezde doΩidaetsä stotysäçegolovaä gidra, gotovaä bez razbora vse slu‚at´, vse smotret´, vsäçeski odet´sä, vsem naest´sä, – qta ta samoderΩavnaä tolpa sploçennoj posredstvennosti (conglomerated mediocrity) St. Millä, kotoraä vse pokupaet i potom vsem vladeet, – tolpa bez 89 neveΩestva, no i bez obrazovaniä,….“

Ähnlich wie Gercen und Mill spricht Dostoevskij wiederholt vom Menschentyp der „goldenen Mittelmäßigkeit“ („zolotaja posredstvennost’“). Er schildert diesen als satten, selbstzufriedenen und oberflächlichen Menschen („sytaja i vsedovol’naja verchogljadka“)90 . Zumeist überheblich und arrogant in seinem Auftreten, neige er doch zu kriecherischer Unterwerfung und fürchte beständig, als dumm, talentlos und rückschrittlich zu gelten. Nicht fähig zu selbständigem Denken, eigne er sich fortgesetzt fremdes Gedankengut an, verflache dieses aber lediglich zur modisch-aktuellen Phrase. „Vsegda, vo vsäkom obwestve est´ tak nazyvaemaä zolotaä posredstvennost´, pretenduüwaä na pervenstvo. Qti zolotye stra‚no samolübivy. Oni s unitoΩaüwim prezreniem i s naxal´noü derzost´ü smoträt na vsex neblistaüwix, neizvestnyx, ewe temnyx lüdej. […] No zolotye ne ponimaüt novyx potrebnostej, a çto kasaetsä do novogo pokoleniä, to oni vsegda nenavidät ego i smoträt na nego svysoka. Qto ix otliçitel´nej‚aä çerta. V çisle qtix zolotyx vsegda byvaet çrezvyçajno mnogo promy‚lennikov, vyezΩaüwix na modnoj fraze. Oni-to i opo‚livaüt 91 vsäkuü novuü ideü i totças Ωe obrawaüt ee v modnuü frazu.“

Im Anschluss an Gercens Polemik haftet dem Begriff des „mesˇcaˇ nstvo“ eine deutlich negative Konnotierung an. M. Gor’kij ist der „mesˇcaˇ nin“, in der Pluralform Mesˇcaˇ ne Titel seines ersten Bühnenstücks, der Inbegriff des mittelmäßigen und kleingeistigen Menschen.

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Ebd., S. 140f. Siehe zu Mills Begriff der kollektiven Mittelmäßigkeit: „The only power deserving the name is that of masses, and of governments while they make themselves the organ of the tendencies and instincts of the masses. This is as true in the moral and social relations of private life as in public transactions. Those whose opinions go by the name of the public opinion, are not always the same sort of public: in America they are the whole white population; in England, chiefly the middle class: But they are always a mass, that is to say, collective mediocrity.“ J. St. Mill, On Liberty. With the Subjection of Women and Chapters on Socialism, Cambridge 1989, S. 66. F. M. Dostoevskij, Neobchodimoe literaturnoe ob-jasnenie po povodu raznych chlebnych i nechlebnych voprosov, in: Ders., Polnoe sobranie socˇinenij, a.a.O., Bd. XX, S. 51. F. M. Dostoevskij, Rjad statej o russkoj literature, in: Ders., Polnoe sobranie socˇinenij, a.a.O., Bd. XVIII, S. 61f. Vgl. hierzu auch Ob-javlenie o podpiske na zˇurnal „Vremja“ na 1861 god, in: Ders., Polnoe sobranie socˇinenij, a.a.O., Bd. XVIII, S. 38. Weiterführend zu Dostoevskijs Begrifflichkeit der „goldenen Mittelmäßigkeit“ vgl. B. Wett, „Neuer Mensch“ und „goldene Mittelmäßigkeit“. F. M. Dostoevskijs Kritik am rationalistisch-utopischen Menschenbild, München 1986 (Diss.).

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„I ty nravi‚´sä mne. Ibo ty v meru – umen i v meru – glup; v meru – dobr i v meru – zol; v meru çesten i podl, trusliv i xrabr… ty obrazcovyj mewanin! Ty zakonçenno voplotil v sebe po‚lost´… tu silu, kotoraä po92 beΩdaet daΩe geroev i Ωivet, Ωivet i torΩestvuet…“

In seiner selbstzufriedenen Sattheit, seinem Nützlichkeitsdenken und mit seinem Verlangen nach Ruhe und Bequemlichkeit diene der „mesˇcaˇ nin“ – von Gor’kij auch als doppelzüngige Natter („dvoedusˇnaja gadina“) bezeichnet – sklavisch jeder Macht, die ihm Ruhe und Ordnung verspricht.93 Dem „grauen“ Kleinbürger steht der heroische Individualist, der „die ganze Welt, alle Schrecken und Zweifel, Schmerzen und Freuden des Lebens“ in sich aufnehmende „Mensch mit Großbuchstaben“ („cˇelovek s bol’sˇoj bukvy“) gegenüber.94 Verwiesen sei hierbei insbesondere auf Nietzsches Vorstellung eines im Gegensatz zum Herdentier „verkleinerten“ sich zum Übermenschen „vergrößernden“ Menschen, der sich, wie etwa Zarathustra, in Gegnerschaft zur Mehrheit, zur Herde und den „Fliegen des Marktes“ befindet.95 Während allerdings der Aufstieg von der Herde zu sich selbst Zarathustra in die Einsamkeit führt, bleibt Gor’kijs MENSCH doch organisch mit der Menge, als Verkörperung ihrer Gefühle, Gedanken und Wünsche, verbunden. Die kollektive Bedeutung wird deutlich, wenn in Gor’kijs Roman Mat’ (Die Mutter; 1907) der für das unterdrückte Volk leidende Opferheld Pavel Vlasov sich mit der Menge eines von ihm angeführten Demonstrationszuges zu einem sich erhebenden Sturmvogel formiert. „Teper´ tolpa imela formu klina, ostriem ee byl Pavel, i nad ego golovoj krasno gorelo znamä raboçego naroda. I ewe tolpa poxodila na çernuü pticu – ‚iroko raskinuv svoi kryl´ä, ona nastoroΩilas´, gotovaä 96 podnät´sä i letet´, a Pavel byl ee klüvom…“

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M. Gorkij, Mesˇcˇane, in: Ders., Polnoe sobranie socˇinenij v dvadcati pjati tomach, Moskau 1968ff., Bd. VII, S. 44f. Vgl. M. Gor’kij, O Serom, in: Ders., Polnoe sobranie socˇinenij, a.a.O., Bd. VI, S. 292ff. Vgl. M. Gor’kij, Zametki o mesˇcˇanstve, in: Ders., Sobranie socˇinenij v tridcati tomach, Moskau 1953, Bd. XXIII, S. 355. Vgl. F. Nietzsche, Aus dem Nachlass der achtziger Jahre, in: Ders., Werke, a.a.O., Bd. III, S. 628f. und ders., Also sprach Zarathustra, in: Ders., Werke, a.a.O., Bd. II, S. 316ff. Zu Gor’kijs Kleinbürgerkritik und zum Einfluss Nietzsches auf Gor’kijs Konzeption des heroischen Individualisten vgl. weiterführend H. Günther, Der sozialistische Übermensch, Stuttgart/Weimar 1993, S. 45ff. u. 92ff. sowie M. L. Loe, Gorky and Nietzsche. The Quest for a Russian Superman, in: B. Glatzer Rosenthal (Hg.), Nietzsche in Russia, Princeton 1986, S. 251-273. M. Gor’kij, Mat’, in: Ders., Polnoe sobranie socˇinenij, a.a.O., Bd. VIII, S. 157. D. S. Merezˇ kovskij bezeichnete Gor’kijs frühe Helden, die sogenannten „Bosjaken („Barfüßler“), als nihilistische, Nietzsche lediglich in vereinfachender Form reproduzierende Hooligans und sah mit diesem Menschentyp ein zukünftiges amoralisch-pöbelhaftes Flegeltum („chamstvo“) heraufziehen. Vgl. D. S. Merezˇkovskij, Grjadusˇcˇij cham, in: Ders., Polnoe sobranie socˇinenij, 24 Bde., Nachdruck Hildesheim/New York 1973, Bd. XIV, S. 37, 73f., 78 u. 80.

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II. 2. 3. Industrialisierung, Pauperismus und Proletariat Im Zuge der fortschreitenden Industrialisierung im 19. Jahrhundert dringt die zunehmende Pauperisierung einer besitz-, bildungs- und heimatlosen Masse, die sich arbeitssuchend im Umfeld größerer Betriebe niederlässt, ins öffentliche Bewusstsein. Die Rede ist zum einen mit Hegel von einer massenhaften „Erzeugung des Pöbels“ (s. S. 1). Zum anderen wird das Phänomen einer atomisierten Masse wurzel-, schutz- und rechtloser vereinzelter Individuen konstatiert und nicht zuletzt befürchtet, dass kommunistische Ideen zukünftig den Mörtel bilden, der die unzusammenhängende Masse der Arbeiter zu einer geschlossenen Einheit machen könnte.97 Gleichzeitig etabliert sich gerade im Hinblick auf die neuartige krisenhafte Erscheinung der Massendürftigkeit der Begriff des Proletariats.98 Der Begriff impliziert aber nicht nur Verelendung und durch tatsächlichen Lohndruck erzwungene Armut, sondern zeigt, wohl nicht zuletzt ob der Bedrohlichkeit der Entwicklung, auch eine moralisch abwertende Konnotierung im Sinne von Faulheit und somit selbstverschuldeter Armut sowie Rohheit und sittlicher Verwahrlosung.99 Bei K. Marx dagegen erfahren der Begriff des „Proletariats“ und damit verbunden auch der Massenbegriff eine aufwertende, aktiv-revolutionäre Bedeutung.100 Er sieht die proletarischen Massen aufgrund ihrer gesellschaftlichen Desintegration als Träger der Revolution und des geschichtlichen Fortschritts, die einen Umsturz der bestehenden Ordnung und schließlich eine Emanzipation der Menschheit herbeiführen.101 Dem Proletariats- sowie dem Massenbegriff kommt ein geschichtsphilosophisch-heilsgeschichtlicher Bedeutungsgehalt zu, der im Gegensatz zu kulturkritischen Positionen eine geschichtsoptimistische Massenverklärung befördert. Wird somit der neuplatonische Geist-Materie-Gegensatz in gewisser Weise umkehrt, ist doch mit König zu bemerken, dass diesem Proletariats- und Massenbegriff die Vorstellung einer schon transformierten, geordnetzivilisierten Form der zuvor eigentums- und wurzellosen atomisierten Masse zugrunde liegt. Während Marx allerdings noch von einem Selbstbewusstwerdungsprozess der Massen ausgeht, entwickelt Lenin im Hinblick auf das wirtschaftlich

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Vgl. H. König, a.a.O., S. 126ff. H. Heine porträtiert in der Lutezia (1854) diese Unterschichten als die Monarchie unterminierende Ratten und setzt so in der angstverzerrten Perspektive der Eliten deren Kommunistenfurcht ins Bild. „Die Bourgeoisie selbst ist ebenfalls vom Dämon des Zerstörens besessen, und wenn sie auch die Republik nicht eben fürchtet, so hat sie doch instinktmäßige Angst vor dem Communismus, vor jenen düsteren Gesellen, die wie Ratten aus den Trümmern des jetzigen Regiments hervorstürzen würden.“ H. Heine, Lutezia, Berichte über Politik, Kunst und Volksleben, in: Ders., Historisch-kritische Gesamtausgabe der Werke, hrsg. v. M. Windfuhr, 16 Bde., Hamburg 1975ff., Bd. XIV, 1, S. 27. Vgl. W. Conze, Proletariat, Pöbel, Pauperismus, a.a.O., S. 36f. u. 40f. Vgl. ebd., S. 42. Vgl. E. Pankoke, a.a.O., Sp. 829. Vgl. W. Conze, Proletariat, Pöbel, Pauperismus, a.a.O., S. 52f.

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rückständige Russland das Konzept einer klassenbewussten Parteielite.102 Er unterscheidet zwischen einem „spontanen“ und einem „bewussten“ Element („stichijnost’“ versus „soznatel’nost’“) im revolutionären Prozess und stellt in seiner Schrift Cµto delat’? Nabolevsˇie voprosy nasˇego dvizˇenija (Was tun? Brennende Fragen unserer Bewegung; 1902) den „unbewussten“ Massen eine Gruppe von Berufsrevolutionären gegenüber, die als Avantgarde die Massen im Revolutionsprozess führen und anleiten soll.103 Lenin selbst wird später wiederholt als Kopf des riesigen Körpers der Massen oder als Verkörperung des Willens von Millionen gesehen. Die vermeintlich organische Verbindung zwischen Volk und Führer („vozˇd’“), in dem sich der Wille der Massen konzentriert, dient nicht zuletzt der Legitimation des Führers sowie als Rechtfertigung, dass die bolschewistische Bewegung eine derartige Exponierung von Einzelpersonen erlaubt.104 „Nogi bez mozga – vzdorny. Bez mozga rukam net dela. Metalos vo vse storony mira bezgolovoe telo. Nas prodavali na vyrez. Voennyj vzdymalsä voj. Kogda nad mirom vyros Lenin 105 ogromnoj golovoj.“

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Vgl. hierzu etwa Z. Barany, The „volatile“ Marxian concept of the Dictatorship of the Proletariat, in: Studies in East European Thought 49 (1997), S. 1-21. Zu Lenins Konzept ist zu bemerken, dass sich die Industrialisierung in Russland um die Wende zum 20. Jahrhundert im Vergleich zu Westeuropa lediglich am Anfang befand. Weder zeigte sich das Bürgertum als ökonomisch begründete Klasse, die einen eigenständigen, politisch wirksamen Machtfaktor hätte bilden können, noch hatte sich tatsächlich ein größeres Industrieproletariat ausgebildet. Im Hinblick auf die Marx’schen Grundannahmen, dass die Entfaltung des Kapitalismus zunächst zu einer bürgerlichen Revolution führe und erst im Anschluss das Proletariat als Klasse erstarke, stellte sich für russische Marxisten das Problem, dass ihr politisches Handeln vom Erfolg einer Klasse abhängig war, die gemäß der eigenen Theorie als feindlich galt. Vgl. hierzu H.-J. Lieber, Zur Theorie totalitärer Herrschaft, in: Ders. (Hg.), a.a.O., S. 912f. Vgl. V. I. Lenin, Cµto delat’? Nabolevsˇie voprosy nasˇego dvizˇenija, Stuttgart 1902, S. 19ff. u. 93ff. Mit der Titelgebung bezieht sich Lenin auf Cµernysˇevskijs Roman Cµto delat’? Iz rasskazov o novych ljudjach. Vgl. D. Müller, a.a.O., S. 24. Vgl. hierzu auch Ch. Garstka, Das Herrscherlob in Russland, Heidelberg 2005, S. 284, 306 u. 363. V. V. Majakovskij, Vladimir Il’icˇ!, in: Ders., Polnoe sobranie socˇinenij v trinadcati tomach, Moskau 1956ff., Bd. II, S. 32.

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Kto byl on – VoΩd´, zemnoj VoΩatyj Narodnyx vol´, kem izmenen Put´ çeloveçestva, kem sΩaty 106 V odin potok volny vremen.“

Die Vorstellung, dass die Massen zur Selbsterkenntnis nicht fähig und somit aus eigenem Antrieb zur Revolution nicht in der Lage sind, findet sich bereits bei Vertretern des russischen narodnicˇestvo („Bewegung der Volkstümler“). N. K. Michajlovskij entwirft in seiner Abhandlung Geroi i tolpa (Die Helden und die Menge; 1882) das Bild einer passiven Menge, die sich in einem Prozess der Nachahmung an einen sie aktivierenden Führer anpasst, da dieser – ähnlich wie in Gor’kijs Heldenkonzeption – die in der Menge zunächst noch ziellos umherschweifenden Kräfte, Gefühle, Instinkte und Wünsche in seiner Person zu konzentrieren vermag. „Geroem my budem nazyvat´ çeloveka, uvlekaüwego svoim primerom massu na xoro‚ee ili durnoe, blagorodnej‚ee ili podlej‚ee, razumnoe ili bessmyslennoe delo. Tolpoj budem nazyvat´ massu, sposobnuü uvlekat´sä primerom, opät´-taki vysokoblagorodnym ili nizkim, ili nravstvennobezrazliçnym. […] Bez somneniä, velikie lüdi ne s neba svalivaütsä na zemlü, a iz zemli rastut k nebesam. Ix sozdaet ta Ωe sreda, kotoraä vydvigaet i tolpu, tol´ko koncentriruä i voplowaä v nix razroznenno 107 brodäwie v tolpe sily, çuvstva, instinkty, mysli, Ωelaniä.“

Während allerdings die narodniki gesellschaftliche Veränderungen im Zuge einer politischen Mobilisierung breiter Volksmassen erreichen wollten108 , formulierten radikalisierte Vertreter wie P. I. Tkacˇev die Konzeption einer konspirativ-revolutionären Elitepartei. Die entmündigten Massen werden lediglich als Objekt der Instrumentalisierung gesehen.109 Ebenso legitimierte S. G. Necˇaev in seinem Le catéchisme révolutionnaire (Katechismus eines Revolutionärs; 1869) die Bevormundung der Massen im Namen des Volkes. „1. Die Revolution ist eine elitäre Tätigkeit, die keine ‚halben Sachen‘ zulässt und von dem, der sich ihr verschrieben hat, ohne Bedingungen alles abfordert.

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V. Ja. Brjusov, Lenin, in: Ders., Stichotvorenija i poe˙my, Leningrad 1961, S. 470. N. K. Michajlovskij, Geroi i tolpa, in: Ders., Geroi i tolpa. Izbrannye trudy po sociologii v dvuch tomach, Sankt Petersburg 1998, Bd. II, S. 6. (Hervh. im Orig.). Vgl. weiterführend auch H. Günther (1993), a.a.O., S. 93ff. Ein wesentlicher Mobilisierungsversuch der narodniki war der sogenannte „Gang ins Volk“ („chozˇdenie v narod“; 1873/74). Insbesondere junge Menschen verließen die Universitäten, siedelten sich in den Dörfern an und versuchten, allerdings mit enttäuschendem Ergebnis, die Landbevölkerung zu agitieren. Vgl. A. Walicki, a.a.O., S. 228. Vgl. ebd., a.a.O., S. 229f.

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2. Die Revolution im Namen des Volkes heiligt jedes vorstellbare Mittel, selbst die 110 Bevormundung des Volkes.“

Necˇaev selbst gründete mit der Narodnaja razprava („Volksvergeltung“) eine Geheimorganisation, überzeugte seine Mitverschwörer, Teil einer weitverzweigten revolutionären Bewegung zu sein und ermordete schließlich ein zweifelndes Mitglied, um das Auseinanderfallen der Gruppierung zu verhindern.111

II. 2. 4. Ein Exkurs zur Massenpsychologie Für den französischen Arzt Le Bon, der mit seiner 1895 erschienenen Abhandlung Psychologie des foules (Psychologie der Massen) als Begründer der Massenpsychologie gilt, gab es keinen Zweifel, „[d]as Zeitalter, in das wir eintreten, wird in Wahrheit das Zeitalter der Massen genannt“112 . Das Auftreten der Massen wertet er als einsetzenden Kulturverfall, wobei er Kulturen als Organismen begreift, die nach Entfaltung ihres Potentials und Formenreichtums wieder zerfallen. „Die Massen haben nur die Kraft zur Zerstörung. Ihre Herrschaft bedeutet stets eine Stufe der Auflösung. Eine Kultur setzt feste Regeln, Zucht, den Übergang des Triebhaften zum Vernünftigen, die Vorausberechnung der Zukunft, überhaupt einen hohen Bildungsgrad voraus – Bedingungen, für welche die sich selbst überlassenen Massen völlig unzugänglich sind. Vermöge ihrer nur zerstörerischen Macht wirken sie gleich jenen Mikroben, welche die Auflösung geschwächter Körper oder Leichen beschleunigen. Ist das Gebäude einer Kultur morsch geworden, 113 so führen die Massen seinen Zusammenbruch herbei.“

Le Bons negative Sicht auf die Massen ist geprägt von kulturkonservativen Schilderungen der Französischen Revolution und den Ereignissen der Pariser Commune 1871, die er als Lazarettarzt selbst miterlebte. So finden sich in seiner Abhandlung auch wiederholt Ausfälle gegen die sich organisierende Arbeiter-

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S. G. Necˇaev, Katechismus des Revolutionärs. Zitiert nach D. Müller, a.a.O., S. 52. Dostoevskij rekurriert in seinem Roman Besy auf die politische Radikalisierung im Umfeld des narodnicˇ estvo in den 1870er Jahren. Necˇaev ist das Vorbild für seine Figur des Petr Stepanovicˇ Verchovenskij, der in einer Provinzstadt das revolutionäre „Fünferkommitee“ gründet und schließlich den misstrauischen Sµatov ermorden lässt, um die Mitglieder durch gemeinsame Schuld aneinander zu binden. J. Semprúns Roman Netschaïev est de retour (Netschajew kehrt zurück; 1987) diskutiert vor dem Hintergrund des politischen Terrorismus der 1980er Jahre Fragen revolutionärer Gewalt und zeigt ebenfalls fünf junge Leute, die sich 1968 dem bewaffneten Kampf verschrieben und eine linke Untergrundorganisation gegründet haben. G. Le Bon, a.a.O., S. 2. Ebd., S. 5.

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schaft.114 Dennoch ist für Le Bon das Phänomen der Massenbildung nicht an eine bestimmte gesellschaftliche Schicht gebunden. Nach dem „psychologischen Gesetz der seelischen Einheit der Masse“115 verlieren sich hierbei vielmehr charakterliche und Standesunterschiede. Es bildet sich eine Massen- beziehungsweise Gemeinschaftsseele, so dass sich die Gefühle und Gedanken aller in eine Richtung orientieren. „Das Überraschendste an einer psychologischen Masse ist: welcher Art auch die einzelnen sein mögen, die sie bilden, wie ähnlich oder unähnlich ihre Lebensweise, ihre Beschäftigung, ihr Charakter oder ihre Intelligenz ist, durch den bloßen Umstand ihrer Umformung zu Masse besitzen sie eine Art Gemeinschaftsseele, vermöge deren sie in ganz anderer Weise fühlen, denken und handeln, als jedes von ih116 nen für sich fühlen, denken und handeln würde.“

Die bewusste Persönlichkeit schwindet, das Unbewusste regiert, und Gedanken sowie Gefühle der Masse werden durch Beeinflussung („suggestion“) und Übertragung („contagion“) gelenkt. Der Einzelne gleicht nach Le Bon einem Hypnotisierten, einem willenlosen Automaten oder unbewussten Triebwesen, das unberechenbar, leidenschaftlich und verführbar, vornehmlich dem „Einfluss des Augenblicks“ verhaftet sei. Und während sein Machtgefühl in der Masse wächst, geht er gleichzeitig aufgrund der Anonymität seines Verantwortungsgefühls verlustig.117 Bereits die Kriminologen S. Sighele und G. Tarde hatten sich, hierbei Formulierungen Le Bons vorwegnehmend, mit der strafrechtlichen Verantwortung des Einzelnen bei Massendelikten beschäftigt.118 Insbesondere Sigheles Ausführungen im Rahmen seiner Abhandlung La coppia criminale. Studio di psicologia morbosa (Psychologie des Auflaufs und der Massenverbrechen; 1893) treffen sich mit einer generellen Psychiatrisierung und Pathologisierung der Massen im Anschluss an die Ereignisse der Pariser Commune. Sind für Sighele die Massen weitgehend durch die Zusätze „plebejisch“, „verrückt“ und „kriminell“ gekennzeichnet, so schließt sich Le Bon dieser Vorstellung nicht an. „Das haben die Schriftsteller, die die Masse nur vom kriminellen Gesichtspunkt studiert haben,

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Vgl. zu Le Bons Kritik an der sozialistischen Arbeiterbewegung beispielhaft ebd., S. 3. Zur Pariser Commune und zur Französischen Revolution ebd., S. 80 u. 121. Ebd., S. 10. Ebd., S. 13. Vgl. ebd. S. 15ff. u. 38. Sowohl Sighele als auch Tarde nehmen teilweise Bezug auf Schlussfolgerungen, die der Biologe und Tierpsychologe A. Espinas aus dem Verhalten von Herden, Rudeln und Schwärmen gezogen und in seiner 1878 veröffentlichten Abhandlung Des socie´tés animales (Die tierischen Gesellschaften. Eine vergleichend-psychologische Untersuchung) dargelegt hat. Vgl. P. Reiwald, Vom Geist der Massen. Handbuch der Massenpsychologie, 2. Aufl., Zürich 1946, S. 56.

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völlig verkannt. Gewiß ist die Masse oft verbrecherisch, oft aber auch heldenhaft.“119 Tarde greift in seiner Beschreibung der Massen neben einer Psychiatrisierung und Pathologisierung das bereits bekannte Verwilderungs- und Vertierungsmotiv auf. Eine Menge bilde eine einzige und unvergleichliche Bestie, ein scheußliches und monströses Raubtier, das gleichsam fiebernd, aber mit unwiderstehlicher Bestimmtheit sein Ziel verfolge. „Une foule est un phénomène étrange: c’est un ramassis d’éléments hétérogènes, inconnus les uns aux autres; pourtant dès qu’une étincelle de passion, jaillie de l’un d’eux, électrise ce peˆle-meˆle, il s’y produit une sorte d’organisation subite, de génération spontanée. Cette incohérence devient cohésion, ce bruit devient voix, et ce millier d’hommes pressés ne forme bientoˆt plus qu’une seule et unique beˆte, u n fauve innommé et monstrueux, qui marche à son but, avec une finalité irre´sistible. La majorité était venue là par pure curiosité, mais la fièvre de quelques-uns a ra120 pidement gagné le coeur de tous, et chez tous, s’élève au délire.“

Die Masse bedeute immer einen Rückschritt auf der Leiter der sozialen Evolution sowie den Triumph der Triebnatur über die Errungenschaften der Zivilisation.121 Tardes Unterscheidung von natürlichen und künstlichen Massen ist für das Verständnis des Verhältnisses von Masse und Führer wesentlich. Erstere bestehen meist nur für spontane, kurzzeitige Ausbrüche. Kennzeichnend sind Regression und Verlust der intellektuellen Fähigkeiten. Die künstlichen Massen sind dagegen dauerhafte, einer gewissen Disziplin verpflichtete Verbindungen, die sich nach dem Prinzip der Nachahmung, für Tarde Grundgesetz jeder Form von Gemeinschaft, organisieren. Ähnlich wie bei Michajlovskij gleichen sich nach Tarde die Individuen in der Imitation eines Führers unaufhaltsam einander, aber auch dem intellektuellen Niveau des Führers an. Das gegenseitige Abhängigkeitsverhältnis zwischen dem Führer und seinen uniformen Kopien wird an der wechselseitigen Bezogenheit der Bedürfnisse deutlich. Während der von einer Idee beherrschte Führer nach Ruhm und Unsterblichkeit strebt, verlangt die Masse nach einem Objekt der Bewunderung, das sie gleichsam selbst erhöht.122 119

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G. Le Bon, a.a.O., S. 18. Nach Sighele ist der Einzelne, der in und mit einer wütenden Masse ein Verbrechen begeht, gesetzlich verantwortlich zu machen, denn die Ursache liegt für Sighele bereits in der physiologischen und psychischen Grundkonstitution des Individuums. Le Bon macht dagegen eine gewisse psychologische Unzurechnungsfähigkeit geltend. Vgl. G. Le Bon, a.a.O., S. 118f. und zu Sighele J. H. Böttger, Feind/Masse. Scipio Sigheles „Psychologie des Auflaufs und der Massenverbrechen“ und das Konstrukt „Masse“, in: M. Brehl/ K. Platt (Hgg.), Feindschaft, München 2003, S. 235ff. sowie zu einer generellen Pathologisierung und Psychiatrisierung der Massen J. Vogel (2006), a.a.O., S. 171ff. G. Tarde, La philosophie pénale, Paris 1972, S. 324. (Hervh. im Orig.). Vgl. G. Tarde, Les crimes des foules, in: Archives de l’Anthropologie criminelle et des sciences pénales 7 (1892), S. 356, 358, 364. Vgl. S. Moscovici, a.a.O., S. 208ff. Wesentlich formuliert finden sich diese Überlegungen Tardes in Les lois de l’imitation (Die Gesetze der Nachahmung; 1890) und L’opinion et la

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Verstärkte Aufmerksamkeit kommt der psychologischen Verfasstheit der Massen schließlich mit Aufkommen des Faschismus und deutschen Nationalsozialismus zu. In seiner Abhandlung Die Massenpsychologie des Faschismus (1933) analysiert W. Reich insbesondere die Ideologieanfälligkeit des Kleinbürgertums und verweist in diesem Zusammenhang auf eine autoritäre und freiheitsängstliche Charakterstruktur. Diese befördere sowohl die Identifizierung mit einer Führerfigur als auch die Kompensation von Defiziten und Minderwertigkeitsgefühlen über faschistische beziehungsweise nationalsozialistische Ideologievorgaben. „Noch wesentlicher aber ist die Identifizierung der Massenindividuen mit dem ‚Führer‘. Je hilfloser das Massenindividuum aufgrund seiner Erziehung geworden ist, desto stärker prägt sich die Identifizierung mit dem Führer aus, desto mehr verkleidet sich das kindliche Anlehnungsbedürfnis in die Form des Sich-mit-demFührer-eins-Fühlen. […] Der reaktionäre Kleinbürger entdeckt sich selbst im Führer, im autoritären Staat, er fühlt sich aufgrund dieser Identifizierung als Verteidiger des ‚Volkstums‘, der ‚Nation‘, was ihn nicht hindert, daß er gleichzeitig, ebenfalls aufgrund dieser Identifizierung, ‚die Masse‘ verachtet und sich ihr individualistisch gegenüberstellt. Seine materielle und sexuelle Elendslage erstickt in der ihn erhöhenden Idee des ‚Herrentums‘ und genialen Führertums so sehr, daß er in geeigneten Augenblicken vergißt, wie gründlich er zur bedeutungslosen und kritiklo123 sen Gefolgschaft herabsank.“

Nach dem Zweiten Weltkrieg sehen verschiedene soziologisch ausgerichtete Untersuchungen den angepassten Massenmenschen ohne Persönlichkeit und Orientierung sowie die damit verbundene „Vermassung“ der Bevölkerung als wesentliche Voraussetzung für die nationalsozialistische Herrschaft.124 Bereits Ortega y Gasset hatte in seiner Abhandlung Der Aufstand der Massen die Vermassung als negative Schlüsselfigur der Moderne gewertet (s. S. 1). Die Masse ist für Ortega ein ebenfalls schichtenunspezifischer Durchschnittsmensch, dessen angepasster Konformismus zum vorherrschenden Prinzip wird.

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foule (Die Meinung und die Masse; 1901). Auch S. Freud unterscheidet in seiner Studie Massenpsychologie und Ich-Analyse (1920) zwischen natürlichen und künstlichen Massen. Für die Bildung und Kohärenz der organisierten künstlichen Masse wesentlich ist nach Freud die libidinöse Bindung jedes einzelnen an den Führer und zugleich an die anderen „Massenindividuen“. Den Führer sieht Freud dagegen als narzistische Persönlichkeit, die nur sich selbst liebt. Vgl. S. Freud, Massenpsychologie und Ich-Analyse, mit einer Einl. v. R. Reiche, 5. Aufl., Frankfurt/M. 2000, S. 58 u. 85f. W. Reich, Die Massenpsychologie des Faschismus, 2. Aufl., Köln 1986, S. 75f. (Hervh. im Orig.). Zur wechselseitigen Bezogenheit von Masse und Führer vgl. auch H. Arendt, Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft. Antisemitismus, Imperialismus, totale Herrschaft, 10. Aufl., München 2005, S. 701. H. Brochs Die Verzauberung (1935) ist schließlich ein literarischer Versuch, die psychischen, massenpsychologischen sowie politischen Ursachen darzustellen, die eine Etablierung faschistischer Systeme ermöglichen. Zu nennen sind neben dem bereits zitierten Werk von Reiwald (Anm. 118) beispielhaft Th. Aich, Massenmensch und Massenwahn, München 1947 sowie Ch. Ertel, Der Kollektivmensch, Limburg/Lahn 1949.

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„Die Einteilung der Gesellschaft in Masse und Elite ist daher keine Einteilung nach sozialen, sondern nach menschlichen Kategorien; sie braucht nicht mit der Rangordnung der höheren und niederen Klassen zusammenzufallen. […] [S]treng genommen gibt es in jeder sozialen Klasse eine echte Masse und eine echte Elite.“ „Anderssein ist unanständig. Die Masse vernichtet alles, was anders, was ausgezeichnet, persönlich, eigenbegabt und erlesen ist. Wer nicht ‚wie alle‘ ist, wer nicht 125 ‚wie alle‘ denkt, läuft Gefahr, ausgeschaltet zu werden.“

Angeregt durch kulturkritische Ansätze und soziologische Interpretationen totalitärer Massenphänomene gilt das wissenschaftliche Erkenntnisinteresse in den 1950er Jahren schließlich verstärkt dem Strukturtypus der Massengesellschaft beziehungsweise dem System der Massendemokratie.126

II. 2. 5. Massenerfahrungen des 20. Jahrhunderts: Erster Weltkrieg und Massendemokratien In der kollektiven Begeisterung erscheint der Erste Weltkrieg als geradezu geschichtsnotwendiges Ereignis. Er wird zur scheinbaren Lösung eines spätestens seit der Jahrhundertwende deutlich spürbar gewordenen gesellschaftlichen und kulturellen Krisenbewusstseins.127 Die rapide modernisierte und pluralisierte Lebenswelt wird zur Bedrohung, denn sie befördert Gefühle der Orientierungslosigkeit und Ohnmacht, die an der bewussten Selbstbestimmung des Einzelnen zweifeln lassen. Abermals ist es nicht zuletzt das Tierbild, das etwa in der expressionistischen Großstadtdichtung zum anschaulichen Ausdruck der krisenhaften Problemlage des Menschen wird.128 Die Massenexistenz in „Menschen laichenden Städten“ bedingt Entpersönlichung und Identitätsverlust. Sie reduziert den Einzelnen zur Ameise oder lässt ihn einer Biene vergleichbar sein Dasein im Wabenbau eines „Hinterhofbienenstocks“ fristen.129 125 126

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J. Ortega y Gasset, a.a.O., S. 10 u. 12. Vgl. E. Pankoke, a.a.O., Sp. 830f. sowie beispielhaft H. de Man, Vermassung und Kulturverfall. Eine Diagnose unserer Zeit, 2. Aufl., München 1952. Zu einer kritischen Einschätzung, die Totalitarismen des 20. Jahrhunderts hinreichend vor dem Hintergrund der Massengesellschaften erklären zu können, vgl. H. König, a.a.O., S. 247ff. Angesichts der Defizite der Massenpsychologie sowie der Problematik des stark negativ besetzten Massenbegriffs tendieren die Sozialwissenschaften ab den 1960er Jahren zur Beschreibung unterschiedlicher Kollektivgebilde. Vgl. beispielhaft P. R. Hofstätter, Gruppendynamik. Kritik der Massenpsychologie, 17. Aufl., Reinbek b. Hamburg 1971. Vgl. zu den vielfältigen, widerstreitenden Implikationen der Moderne, die ein Krisenbewusstsein beförderten, beispielhaft die detaillierte Darstellung in K. D. Bracher, Zeit der Ideologien. Eine Geschichte des politischen Denkens im 20. Jahrhundert, Stuttgart 1982, Kap. I: „Jahrhundertwende. Weichenstellungen der Moderne“. Vgl. Ch. Cosentino, a.a.O., S. 91ff. Vgl. zu den Textbeispielen ebd., S. 98, 101 u. 102.

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Konstatiert wird abermals das Phänomen einer atomisierten Massenhaftigkeit. Während W. Sombart von einem „Massenindividualismus“ und dem „Schreckbild der Verameisung“ spricht130 , hatte bereits F. Engels in seiner Betrachtung zur Lage der arbeitenden Klassen in England (1845) eine monadenhafte Abschließung des Einzelnen als Kennzeichen des Großstadtlebens beschrieben. „…und wenn wir auch wissen, daß diese Isolierung des einzelnen, diese bornierte Selbstsucht überall das Grundprinzip unserer heutigen Gesellschaft ist, so tritt sie doch nirgends so schamlos unverhüllt, so selbstbewußt auf als gerade hier in dem Gewühl der großen Stadt. Die Auflösung der Menschheit in Monaden, deren jede ein apartes Lebensprinzip und einen aparten Zweck hat, die Welt der Atome ist hier 131 auf die höchste Spitze getrieben.“

So zählen, wie beispielweise für G. Simmel, der wiederholt den Verlust an sicherer Orientierung und sozialer Bindung sowie die Atomisierung der Gesellschaft feststellt132 , nun gerade Vorstellungen von neuen Gemeinschaftsformen sowie von einem neuen, integralen Menschen zu den vielfältigen Hoffnungen, die sich mit dem Krieg verbinden. „… ganz unmittelbar ist auf einmal der Einzelne in das Ganze eingegangen, an und in jeden Gedanken und jedes Gefühl ist eine überindividuelle Ganzheit gewachsen. Diese Gesamtheit ist nicht nur die Verwebung von Einzelwesen und ihrer Einzelkräfte, ist aber auch nicht ein Etwas jenseits der Einzelnen, wie sublime Soziallehren es mit einer teilweisen Richtigkeit darstellen. Sondern in dem jetzigen Erlebnis leuchtet aus dem neuen Grad, der neuen Art von Verantwortung und von 133 Opfer auch ein neues Verhältnis von Individuum und Gesamtheit auf,…“

Teils findet sich eine explizite Kontrastierung der „Ideen von 1789 und 1914“. Im Gegensatz zu den Forderungen der Französischen Revolution nach Freiheit und Selbstbestimmung des Einzelnen wird nun angesichts eines als schrankenlos empfundenen Individualismus dessen Reintegration, Rückführung und Einbindung angestrebt. 130 131

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Vgl. W. Sombart, Der proletarische Sozialismus, 2 Bde., Jena 1924, Bd. II, S. 103 und ders., Händler und Helden. Patriotische Besinnungen, München/Leipzig 1915, S. 106. F. Engels, Die Lage der arbeitenden Klasse in England, in: K. Marx/F. Engels, Werke, 42 Bde., Berlin 1957ff., Bd. II, S. 257. Zu einem positiven Verständnis des großstädtischen Lebens, das ob seiner Anonymität dem Einzelnen auch eine neue Form der Unabhängigkeit und Freiheit garantiert vgl. die Darstellung bei H. König, a.a.O., S. 58ff. Vgl. etwa G. Simmel, Die beiden Formen des Individualismus, in: Ders., Gesamtausgabe, hrsg. v. G. Fritzi u. O. Rammstedt, 22 Bde., Frankfurt/M. 1989ff., Bd. VII, S. 49-56. G. Simmel, Der Krieg und die geistigen Entscheidungen. Reden und Aufsätze, in: Ders., Gesamtausgabe, a.a.O., Bd. XVI, S. 15. (Hervh. im Orig.). Zum „Ideal eines neuen Menschen“ vgl. ebd., S. 25ff. Wie Bracher bemerkt, wird der Diagnostiker Simmel schließlich als Jude von den Nationalsozialisten zum Verursacher der Entwurzelung und Entfremdung erklärt. Vgl. K. D. Bracher, a.a.O., S. 79.

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„Aus dem einfachen Klang ihrer Forderungen [wird] ein Doppelklang: Freiheit – in der Organisation! Gleichheit – in der Organisation! Brüderlichkeit – in der Or134 ganisation! … Schaffe mit! Gliedere Dich ein! Lebe im Ganzen!“

Der kollektiven Kriegsbegeisterung folgt der massenhafte und anonyme Tod der Soldaten. Die Materialschlachten des technisierten Krieges machen die Konsequenz der Industriegesellschaft deutlich. Degradiert zum austauschbaren Teil der Kriegsmaschinerie ist der Mensch selbst zum Material geworden. So zeigt F. Légers Bild La partie de cartes (Das Kartenspiel; 1917) Männer beim Kartenspiel im Schützengraben zwischen zwei Angriffen. Die Soldaten sind Maschinenmenschen, die mit ihren starren, eisenähnlichen Körperteilen ihrem Kriegsgerät gleichen. Das Ende des Ersten Weltkriegs läutet schließlich in Europa das Zeitalter der modernen Massendemokratien ein. Die Massen werden zum umworbenen Wahlvolk. Selbstbewusst erobern sie den öffentlichen Raum und schaffen sich mit Fußball und Sechstagerennen sowie Varieté, Revue und Tanz ihre eigene Kultur.135 Ihre Allgegenwärtigkeit ist Anlass heftiger Diskussionen, aber selten tatsächlich wertneutraler Einschätzungen. Insbesondere Vertreter der politischen Linken verbinden, wohl auch unter dem Eindruck der russischen Oktoberrevolution, mit den Massen Erlösungshoffnungen. J. R. Becher spricht gar von einer Wiedergeburt des Menschen in der Masse. „Eine Zusammenkunft Intellektueller, lauter ‚interessanter‘ Gesichter. […] Ich hatte den Eindruck einer Gespensterversammlung, eines toten Gesprächs im leeren Raum. Einige dieser Menschen traf ich später auf einer Demonstration […] Hier, inmitten der Masse hatten die Gesichter plötzlich einen Sinn, eine Funktion, das 134

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J. Plenge, 1789 und 1914. Die symbolischen Jahre in der Geschichte des politischen Geistes, Berlin 1916, S. 141. (Hervh. im Orig.). Ähnlich findet sich dieser Gegensatz auch in dem Begriffspaar von deutscher „Kultur“ und westeuropäischer „Zivilisation“ formuliert, mit dem beispielsweise Sombart oder Th. Mann operieren. Vgl. hierzu E. Horn, Krieg und Krise. Zur anthropologischen Figur des Ersten Weltkriegs, in: G. v. Graevenitz (Hg.), Konzepte der Moderne, Stuttgart/Weimar 1999, S. 638ff. Vgl. weiterführend auch die Abhandlung von K. v. See, Die Ideen von 1789 und die Ideen von 1914. Völkisches Denken in Deutschland zwischen Französischer Revolution und Erstem Weltkrieg, Frankfurt/M. 1975. Vgl. beispielhaft F. Schneider, Filmpalast, Varieté, Dichterzirkel. Massenkultur und literarische Elite in der Weimarer Republik, in: R. Grimminger/Ju. Murasˇov/J. Stückrath (Hgg.), Literarische Moderne. Europäische Literatur im 19. und 20. Jahrhundert, Reinbek b. Hamburg 1995, S. 454f. und J. Hermand/F. Trommler, Die Kultur der Weimarer Republik, Frankfurt/M. 1988, S. 69ff. Kracauer konstatiert in seiner Studie Die Angestellten (1929) ebenfalls das Phänomen eines sozialen Konformismus, der sich in einer uniformierenden „Zuchtwahl“ der Angestellten sowie einer gleich gerichteten Form der Freizeitgestaltung niederschlägt. Vgl. S. Kracauer, Die Angestellten, in: Ders., Werke, hrsg. v. I. Mülder-Bach, 9 Bde., Frankfurt/M. 2004, Bd. I, S. 225ff. u. 288ff. Der Amerikaner D. Riesman wird in den 1950er Jahren von der einsamen Masse der „außengeleiteten Menschen“ sprechen. Vgl. D. Riesman, Die einsame Masse. Eine Untersuchung der Wandlung des amerikanischen Charakters, mit einer Einf. v. H. Schelsky, 4. Aufl., Reinbek b. Hamburg 1961, S. 33ff.

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Merkwürdige, das Anormale war von ihnen abgefallen […] Eine Veränderung, eine wirkliche Wandlung war mit ihnen vorgegangen. Ich wurde immer mehr in dem Eindruck bestärkt, daß die Zugehörigkeit zu den Massen […] eine wunderbare Wirkung auf sie ausgeübt hatte […] sie wurden jetzt ‚Persönlichkeiten‘, Men136 schen in einem neuen und jetzt erst wahren Sinn.“ E. Toller versucht dagegen in seinem Theaterstück Masse Mensch (UA 1920) mit der Figur des Namenlosen, der die blind-aggressive und zu gewaltsamen Aktionen bereite Masse verkörpert, und der zum gewaltlosen Streik aufrufenden Intellektuellen Sonja Irene L. die Bezogenheit und Entgegensetzung von Kollektiv und Einzelnem sowie – vor dem Hintergrund der revolutionären Ereignisse in Bayern 1918/19 – den Konflikt zwischen der politischen Notwendigkeit der Gewaltanwendung im revolutionären Kampf und dem ethischen Prinzip der Gewaltlosigkeit zu gestalten. „… es war merkwürdig: nach der Aufführung des Stücks [Masse Mensch; Anm. M. M.] sagten die einen, es sei konterrevolutionär, weil es jede Gewalt verwerfe, die anderen, es sei bolschewistisch, weil die Trägerin der Gewaltlosigkeit untergehe, und die Masse zwar im Moment unterliege, aber auf Dauer Sieger bleibe. Nur wenige erkannten, daß der Kampf zwischen Individuum und Masse sich nicht nur draußen abspielt, daß jeder in seinem Innern Individuum und Masse zugleich ist. Als Individuum handelt er nach der als Recht erkannten moralischen Idee. Ihr will er leben, und wenn die Welt dabei untergeht. Als Masse wird er getrieben von sozialen Impulsen und Situationen, das Ziel will er erreichen, auch wenn er die moralische Idee aufgeben muß. Dieser Widerspruch ist heute noch für den politisch 137 Handelnden unlöslich, und gerade seine Unlöslichkeit wollte ich zeigen.“

Auf konservativer Seite ist die Massengesellschaft, ähnlich wie schon bei Le Bon, Ausdruck eines bedrohlichen Kulturverfalls. Aufgerufen werden somit neuerlich die bereits bekannten Bedeutungskonnotationen. Während den Massen einerseits ein irrational-heilsgeschichtliches Moment zukommt, wird ihnen andererseits eine kulturschöpferische Funktion abgesprochen, wobei sich die Skepsis gegenüber der Massengesellschaft nicht zuletzt mit unterschiedlichen Vorstellungen einer neudefinierten Adels- und Elitekultur verbindet.

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J. R. Becher, Der Weg zur Masse. Zitiert nach F. Schneider, a.a.O., S. 457f. Vgl. zu einer Erlösung des Menschen durch die Masse auch die Besprechung von G. Heyms Erzählung Der fünfte Oktober (1911) bei M. Gamper (2007), a.a.O., S. 451ff. Ähnlich steht für Brecht nicht der Einzelne im Gegensatz zur Masse, sondern wird durch diese wesentlich gestärkt: „Er ist allerdings der Stärkste, nachdem er aufgehört hat, eine Privatperson zu sein, er wird erst in der Masse stark.“ B. Brecht, Mann ist Mann, in: Ders., Werke, a.a.O., Bd. XXIV, S. 41. Vgl. ähnlich ebd., S. 37, 39 u. 42. E. Toller, Quer durch. Reisebilder und Reden, Berlin 1930, S. 282. Vgl. weiterführend zu Massendarstellungen im expressionistischen Drama A. Clark Fehn, a.a.O. und D. Kafitz, a.a.O.

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„Nobilis bedeutet den Bekannten; man verstehe recht, den in aller Welt Bekannten, den Berühmten, der sich bekannt gemacht hat, weil er aus der namenlosen Masse herausragte. […] Für mich ist Adel gleichbedeutend mit gespanntem Leben, Leben, das immer in Bereitschaft ist, sich selbst zu übertreffen, von dem, was es erreicht hat, fortzuschreiten zu dem, was es sich als Pflicht und Forderung vorsetzt. So stellt sich edles Leben dem gemeinen oder tatenlosen gegenüber, das sich bewegungslos in sich selbst verschließt und zu dauerndem In-sich-Beharren verurteilt ist, wenn eine äußere Kraft es nicht zwingt, aus sich herauszugehen. Dies ist der Grund, warum wir die Menschenart, mit der wir es hier zu tun haben, ‚Masse‘ nen138 nen; nicht weil sie zahlreich, sondern weil sie träge ist.“

Die Ablehnung der Massendemokratie äußert sich zudem in neuerlichen Diskussionen um das Mehrheitsprinzip, wie sie etwa die Weimarer Republik erlebt. Deutlich werden hierbei gerade auch die demokratiefeindlichen und gefährlichen ideologischen Implikationen, die eine einseitige Massenkritik zu transportieren vermag. Insbesondere Vertreter autoritärer Staatsmodelle lehnen eine demokratische Verfasstheit als Herrschaft der seelenlosen Zahl oder nivellierende Herrschaft der Minderwertigen ab. Die Mehrheit wird zur dumpfen, kulturlosen und rein quantitativen Masse abqualifiziert.139 „Wer Individualist ist, Mechanisierung und Gleichheit wirklich will, kann Demokrat sein, wer aber den Kulturstaat will, wer etwas Geistiges vom Staate verlangt, kann nicht mehr Demokrat sein. Es kann ihm nicht mehr gleichgültig sein, ob die Masse ihre Stimme erhebt oder nicht, er kann die gleiche Abstimmung aller nicht mehr wollen. […] Die Mehrheit in den Sattel setzen, heißt das Niedere herrschend machen über das Höhere. Demokratie heißt also: Mechanisierung der Organisation unseres Lebens (des Staates) und Ausschaltung jedes Wertgrundsatzes aus dem Baugesetz dieser Organisation durch Abstimmung, durch Herrschaft der Mehr140 heit.“

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J. Ortega y Gasset, a.a.O., S. 45f. K. Jaspers stellt in seiner Abhandlung Die geistige Situation der Zeit (1930) der „Herrschaft der Masse“ die Vorstellung von einer „Aristokratie selbstseiender Menschen“ gegenüber. Vgl. K. Jaspers, Die geistige Situation der Zeit, 5. Aufl., Berlin/New York 1999, S. 176. Die Klassiker der politischen Elitetheorie G. Mosca, V. Pareto und R. Michels veröffentlichten ihre wesentlichen Schriften um die Jahrhundertwende sowie zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Ebenfalls ausgehend von einem Masse-Elite-Modell, halten sie die Herrschaft einer organisierten Minderheit über eine unorganisierte Mehrheit für unvermeidlich. Vgl. W. Jäger, Mehrheit, a.a.O., S. 1055. Vgl. ebd., S. 1055f. O. Spann, Der wahre Staat, Leipzig 1921. Zitiert nach K. Sontheimer, Antidemokratisches Denken in der Weimarer Republik. Die politischen Ideen des deutschen Nationalismus zwischen 1918 und 1933, München 1968, S. 169.

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II. 2. 6. Massenerfahrungen des 20. Jahrhunderts: Kollektivistische Gesellschaftsorganisationen und „neue Menschen“ Kommunismus, Faschismus und Nationalsozialismus zeigen sich im 20. Jahrhundert als politisch einflussreiche Formen kollektivistischer Gesellschaftsorganisation.141 Unterschiedliche Kriterien wie Klasse, Staat oder Rasse und Volk können das Kollektiv bestimmen. Gemeinsam ist kollektivistischen Vorstellungen, dass dem Kollektiv eine unbedingte Vorrangstellung vor dem Einzelnen zugesprochen wird. Dem Einzelnen kommt als Teil oder Glied des Ganzen keine unverfügbare Eigenständigkeit, sondern nur ein vom Kollektiv abgeleitetes Sein zu.142 Das totalitäre Staatsverständnis des italienischen Faschismus lässt die Absolutsetzung des Kollektiven deutlich werden. Der Faschismus „ist für die einzige Freiheit, die ernstgenommen werden kann, nämlich für die Freiheit des Staates und des Individuums im Staate. Denn es liegt für den Faschismus alles im Staate beschlossen. Nichts Menschliches und Geistiges besteht an sich, noch weniger besitzt dieses irgendeinen Wert außerhalb des Staates. In diesem Sinne ist der Faschismus totalitär, und der faschistische Staat als Zusammenfassung und Vereinigung aller Werte des ganzen Volkes seine Deutung, bringt es zur Entfaltung und bekräftigt es. – Außerhalb des Staates darf es keine Individuen noch Gruppen 143 […] geben.“

Im Nationalsozialismus tritt das Volk als politische Einheit an die Stelle des autonomen und freien Individuums. Die Idee von einer im starken Einheitsstaat geeinten homogenen Volksgemeinschaft ist allerdings bereits für das antidemokratische Denken der Weimarer Republik wesentlich und hierbei Gegenentwurf zu einer heterogenen, pluralen, da durch Parteien und Interessenverbände bestimmten parlamentarischen Demokratie, die als einseitig rationalistische und künstliche Gesellschaftsorganisation abgelehnt wird.144 Demgegenüber gilt die Volksge141

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Die obige subsummierende Verwendung des Begriffs „Kollektivismus“ soll nicht eine generelle Gleichsetzung von Kommunismus, Faschismus und Nationalsozialismus implizieren. Fokussiert wird lediglich auf eine vergleichbare Stellung des Einzelnen gegenüber dem gesellschaftlichen Ganzen. Vgl. zur Problematik einer generellen Parallelisierung von Kommunismus, Faschismus und Nationalsozialismus im Rahmen einer Totalitarismuskonzeption beispielhaft H.-J. Lieber, Zur Theorie totalitärer Herrschaft, in: Ders. (Hg.), a.a.O., S. 888ff. Vgl. M. Spieker, Kollektivismus, in: Staatslexikon, hrsg. v. der Görres-Gesellschaft, 7., völlig neu bearb. Aufl., 5 Bde., Freiburg i. Br. 1985ff., Bd. III, Sp. 570. Der Begriff des „Kollektivismus“ wurde zunächst von M. A. Bakunin 1869 auf dem Basler Kongress der Internationale als Ersatzwort für „Kommunismus“ verwendet, setzte sich aber in dieser Bedeutung nicht durch. Vgl. A. Rauscher, Kollektivismus, in: J. Ritter (Hg.), a.a.O., Bd. IV, Sp. 885. G. Gentile, Grundlagen des Faschismus, Köln 1936. Zitiert nach H.-J. Lieber, Zur Theorie totalitärer Herrschaft, a.a.O., S. 894f. Vgl. K. Sontheimer, a.a.O., S. 147ff. Die Bezugnahme zum antidemokratischen Denken der Weimarer Republik erscheint sinnvoll, da zum einen die neuerliche, allerdings nun stark vereinfachte und deutlich irrationale Oppositionsetzung von demokratisch-rationalistischer Gesellschaft und organischer Gemeinschaft deutlich wird. Zum anderen bezieht der Natio-

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meinschaft als organische Ganzheit und kollektive „Persönlichkeit eigener Art“, wobei die Konzeption von persönlicher Führerschaft und kollektiver Gefolgschaft sowohl als anschauliche Verwirklichung als auch als Garant der Homogenität und Einheit dieses „lebendigen Wir-Ichs“ gesehen wird.145 Hinsichtlich der Akzeptanz dieser Vorstellung scheint bemerkenswert, dass sie die Atomisierung und Orientierungslosigkeit des zum gestalt- und qualitätslosen Massenpartikel degradierten Einzelnen mit dessen Eingliederung in ein nun vermeintlich identitätsstiftendes Kollektiv zu überwinden verspricht.146 Wie bereits das totalitäre Staatsverständnis des italienischen Faschismus deutlich werden ließ, bedingt das vornehmlich in Kategorien des Kollektiven definierte Sein des Einzelnen allerdings zwangsläufig eine Zurückweisung individueller Freiheitsrechte. Nicht das Individuum, denn der liberale Freiheitsbegriff wird gerade für die fortschreitende Auflösung aller Bindungen verantwortlich gemacht, sondern das Kollektiv gilt als frei und souverän. Freiheit wird explizit mit Einbindung und Unterordnung identifiziert. „Frei ist der Mensch, wenn er in seinem Volk frei ist. Frei ist der Mensch, wenn er in einem konkreten Gemeinwillen steht.“147 Während der Ameisenhaufen Dostoevskijs negatives Sinnbild einer an sozialistischen Ideen orientierten kollektiven Zukunftsgesellschaft ist, ordnet Koestler in seinem Roman Arrival and Departure (Ein Mann spingt in die Tiefe; 1943) den Termitenstaat einem zukünftigen nationalsozialistischen „supra-state“ zu. Euphorisch schildert der vom Nationalsozialismus überzeugte Bernard die Vision eines zyklopartigen Kolosses mit Millionen von Armen und Beinen. Der Einzelne ist in diesem Staatsorganismus, der von einem gleichgeschalteten Kollektivbewusstsein getragen wird, nur eine austauschbare Zelle. „Nature has a perfect working model for it in the city states of the African white ant. They each embrace several million members of the race, they cover areas up to fifty square miles and function with absolute expediency. [.…] And yet they have n o planning body, no blue-prints, no governing administrations, not even the means of written communication. How is this possible? The answer usually given is „by instinct“; but such a highly differentiated instinct […] amounts to nothing less than a collective brainfunction of the state organism. In a similar way, and probably helped by artificially produced biological mutations, the individuals in the supra-state will become mere cells in an organism of higher order – a million-legged, million148 armed cyclopean colossus…“

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nalsozialismus seine staatstheoretische Begründung und Legitimierung des totalen Staates nicht zuletzt aus Konzeptionen der sogenannten „Revolution von Rechts“. Vgl. ebd., S. 134ff. Vgl. ebd., S. 214 u. 247. Vgl. zur Atomisierung der modernen Massengesellschaften als einer wesentlichen Voraussetzung totalitärer Herrschaft auch H. Arendt, a.a.O., S. 658ff. H. Freyer, Revolution von Rechts, Jena 1931. Zitiert nach K. Sontheimer, a.a.O., S. 269. A. Koestler, Arrival and Departure, London 1943, S. 166.

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In der sowjetischen Staats- und Parteiideologie ist die Idee des Kollektivismus zentrales Element, während Formen des Individualismus als Ausdruck bürgerlicher und somit rückständiger Ideologie zurückgewiesen werden. Der Einzelne ist primär als Mitglied einer Klasse und nicht in seinem substantiell-individuellen Eigensein bestimmt.149 Während Marx den Einzelnen sowohl in seiner Entfremdung als auch in seiner Emanzipation vor allem als ein Produkt der Gesellschaft und gerade die Aufhebung des Privateigentums als Entstehungsbedingungen für einen neuen, „totalen Menschen“ sieht, der sich sein allseitiges Wesen nun auf eine allseitige Art anzueignen vermag150 , wird der Einzelne in N. I. Bucharins und E. A. Preobrazˇenskijs ABC des Kommunismus schließlich zum „Eigentum“ der Gesellschaft. „In der bürgerlichen Gesellschaft wird das Kind […] als Eigentum seiner Eltern betrachtet. Wenn die Eltern sagen: ‚mein Sohn, meine Tochter‘, so bedeutet es nicht nur das Vorhandensein verwandtschaftlicher Beziehungen, sondern auch das Recht der Eltern auf die Erziehung der eigenen Kinder. Dieses Recht ist vom sozialistischen Standpunkt aus in nichts begründet. Der einzelne Mensch gehört nicht sich selbst, sondern der Gesellschaft, dem Menschengeschlecht. Nur dank der Existenz der Gesellschaft kann jedes einzelne Individuum leben und existie151 ren.“

Auch ist der antizipierte neue Mensch letztlich nicht nur Resultat, sondern gleichzeitig Rohstoff und Baustein einer kommunistischen Zukunftsgesellschaft, so dass in der Sowjetunion der Erziehung eines nützlichen, dem Kollektiv verpflichteten „Erbauers des Sozialismus“ herausragende Bedeutung zukommt. „Das Ziel unserer Schule besteht darin, ein nützliches Mitglied der Gesellschaft zu erziehen, das lebensfroh, gesund, arbeitsfähig und von gesellschaftlichen Instinkten durchdrungen ist, das über organisatorische Fähigkeiten verfügt, seinen Platz in der Natur und in der Gesellschaft kennt und sich in dem Gegenwartsgeschehen zurechtfindet – einen standhaften Kämpfer für die Ideale der Arbeiterklasse und ei152 nen tüchtigen Baumeister der kommunistischen Gesellschaft.“ 149

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Zum Kollektivismus der sowjetischen Staats- und Parteiideologie vgl. auch O. Kharkhordin, The Collective and the Individual in Russia. A Study of Practices, Los Angeles/London 1999, S. 75ff. Vgl. M. Spieker, a.a.O., Sp. 571 und W. Goerdt, Persönlichkeit, allseitige, in: J. Ritter (Hg.), a.a.O., Bd. VII, Sp. 354. N. I. Bucharin/E. A. Preobrazˇenskij, ABC des Kommunismus. Populäre Erläuterung des Programms der Kommunistischen Partei Russlands (Bolschewiki), mit Ill. v. W. W. Majakowskij und einer Einf. v. B. Meissner, Zürich 1985, S. 405f. Zitiert nach O. Anweiler, Geschichte der Schule und Pädagogik in Rußland. Vom Ende des Zarenreiches bis zum Beginn der Stalin-Ära, 2., durchges. Aufl., Berlin 1978, S. 234f. Nachhaltigen Einfluss auf das Konzept einer Kollektiverziehung hatte der sowjetische Pädagoge A. S. Makarenko. 1920 gründete er eine Kolonie für minderjährige Straftäter, die zu disziplinierten und dem Aufbau des Sozialismus verpflichteten neuen Menschen erzogen werden sollten. Makarenkos autoritäre Erziehungsmethode bestand aus einer Verbindung von Ler-

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Nicht zuletzt an Trockijs Vorstellungen wird deutlich, dass in der sich etablierenden Sowjetunion die Masse vor allem als Objekt einer zivilisierenden Disziplinierung gesehen wird. Im Zuge von Affektregulierung und Bewusstwerdungsprozessen sowie künstlicher Auslese und psychologischer Umerziehung soll aus dem Rohmaterial der Arbeiter- und Bauernmassen schließlich ein an Nietzsche erinnernder allmächtiger Übermensch („sverchcˇelovek“) geschaffen werden (s. S. 261ff.).153 N. A. Berdjaev hatte bereits in seinem Aufsatz Bunt i pokornost’ v psichologii mass (Aufruhr und Unterwürfigkeit in der Psychologie der Massen; 1910) hinsichtlich der Idee eines sozialistischen Übermenschen sowohl auf Nietzsches Einfluss als auch kritisch auf die Differenz zu dessen Vorstellungen verwiesen. Während Nietzsches Übermensch dem einträchtigen Gewimmel der Viel zu Vielen noch in unversöhnlicher Feindschaft gegenüberstand, bestehe das Ideal des Sozialismus in einem nicht von Durchschnitts-, allerdings nun von Übermenschen bevölkerten glücklichen und sorgenfreien Ameisenhaufen. „Dlä Nic‚e meçta o sverxçeloveke byla protivopoloΩna nenavistnoj emu meçte o sçastlivom social´nom muravejnike, a dlä social-demokratov sçastlivyj social´nyj muravejnik predstavilsä vdrug sostoäwim 154 splo‚´ iz sverxçelovekov.“

Die Bezugnahme auf das von Dostoevskij verwendete Sinnbild des Ameisenhaufens erfolgt nicht zufällig. So verweist Berdjaev in seinem Aufsatz auf Dostoevskijs Roman Besy, in dem sich dieser ebenfalls kritisch gegen sozialistisch geprägte Vorstellungen von einer Neuschöpfung des Menschen wendet. Die Vision der Figur des Selbstmörders Kirillov, der, ausgehend von Nietzsches These vom Tod Gottes, die Heraufkunft eines stolzen, glücklichen „neuen Menschen“ antizipiert, der sich selbst zum Gott erhebt („cˇelovekobog“), wird als Pervertierung des christlichen Erneuerungsideals gebrandmarkt.155 Mit der Oktoberrevolution werden Stärke und Macht des Kollektiven von der Literatur hymnisch besungen. Majakovskijs Poem 150 000 000 (Sto pjat’desjat millionov; 1919/20) – der Titel bezieht sich auf die Einwohnerzahl Russlands – weist bereits zu Beginn das gesamte russische Volk als Herren über die Lippen

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nen, körperlicher Arbeit, paramilitärischer Disziplinierung und gesellschaftlich nützlicher Tätigkeit. Seine Pedagogicˇeskaja poe˙ma (Pädagogisches Poem; 1933) ist die literarische Verarbeitung seines Erziehungsprojektes. Zu Makarenkos Erziehungsmodell vgl. O. Kharkhordin, a.a.O., S. 200ff. und generell zur Erziehung eines neuen Sowjetmenschen die kritische Darstellung von A. D. Sinjawskij, Der Traum vom neuen Menschen oder Die Sowjetzivilisation, Frankfurt/M. 1989, S. 163ff. Vgl. L. D. Trockij, Literatura i Revoljucija, Moskau 1991, S. 196f. Zu Nietzsche und Trockijs Vision eines sozialistischen Übermenschen vgl. B. Glatzer Rosenthal, Introduction, Dies. (Hg.), a.a.O., S. 14f. u. 34f. N. A. Berdjaev, Bunt i pokornost’ v psichologii mass, in: Ders., Duchovnyj krizis intelligencii, Moskau 1998, S. 84. Vgl. F. M. Dostoevskij, Besy, a.a.O., S. 93f. u. 189.

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des Autors und somit als eigentlichen Verfasser des Poems aus. Gefeiert wird nicht der individuelle Held, sondern die zu einem „einzigen Ivan“ („edinyj Ivan“)156 geeinte namenlose Masse, die sich gleich einer elementaren Naturgewalt in der Revolution erhebt. „150 000 000 mastera qtoj poqmy imä. Pulä – ritm. Rifma – ogon´ iz zdaniä v zdanie. 157 150 000 000 govorät gubami moimi.“ „V boü slavlü milliony, viΩu milliony, 158 milliony poü“

In den „Wir-Dichtungen“159 des Proletkul’t verbindet sich die Begeisterung für das kollektive „Wir“ und das diesem verpflichtete neue Menschengeschlecht mit Fortschrittsoptimismus, Maschinenbegeisterung und Heilserwartung. Religiöses Bildmaterial sowie Eisen-, Stahl- und Feuermotivik zeigen die „schöpferische Umschmelzung“160 des Menschen an, der sich in den Dienst des sozialistischen Kollektivs stellt. Auch die Programmatik des Proletkul’t stellt dem Individualismus bürgerlicher Gesellschaften als spezifisch proletarische Bewusstseins- und Kulturform den Kollektivismus entgegen.161 Nicht das autonome Individuum 156 157 158 159

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V. V. Majakovskij, 150 000 000, in: Ders., Polnoe sobranie socˇinenij, a.a.O., Bd. II, S. 127. Ebd., S. 115. Ebd., S. 152. Verwiesen sei beispielhaft auf V. T. Kirillovs und M. P. Gerasimovs Gedichte „My“ („Wir“). Eine Reihe weiterer Autoren, die Gedichte mit dem Titel beziehungsweise Teiltitel „My“ veröffentlichten, sind aufgeführt in K. Lewis/H. Weber, Zamyatin’s „My“, the Proletarian Bardes and Bogdanov’s „Red Star“, in: Russian Literature Triquaterly 12 (1975), S. 256. Unter Stalin wird schließlich nicht zuletzt im Zusammenhang mit dem Einsatz Tausender von Gulaghäftlingen beim Bau des Weißmeerkanals wiederholt von der Umschmiedung („perekovka“) des Menschen gesprochen. Vgl. O. Figes, Die Flüsterer. Leben in Stalins Russland, Berlin 2008, S. 297ff. Die als spezifisch proletarisch erkannte Kulturform des Kollektivismus wird von den Theoretikern in unterschiedlicher Weise aus der besonderen Erfahrung kapitalistischer und arbeitsteiliger Produktion hergeleitet. Während etwa A. A. Bogdanov über die maschinelle Produktion, welche die Tätigkeiten der Arbeiter einander angleicht und in gewisser Weise austauschbar macht, einen neuen Typus der Zugehörigkeit und der kameradschaftlichen Organisation sich entwickeln sieht, entsteht für F. I. Kalinin der proletarische Kollektivismus aus dem Umstand, dass der Arbeiter sich ob der fortschreitenden Arbeitsteilung vor allem als Teil einer großen Kette beziehungsweise eines unübersehbaren Mechanismus begreift. Vgl. F. I. Kalinin, Der Weg der proletarischen Kritik und A. Gastevs „Poesie des Stoßarbeiters“ sowie A. A. Bogdanov, Das Erziehungsideal, in: R. Lorenz (Hg.), Proletarische Kulturrevolution in Sowjetrußland (1917-1921). Dokumente des „Proletkult“, München 1969, S. 55 beziehungsweise 181f. Weiterführend vgl. G. Gorzka, A. Bogdanov und der russische

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soll im Mittelpunkt künstlerischen Schaffens stehen, betont werden vielmehr die sozialen Bindungen des Einzelnen, seine Zugehörigkeit zu einer bestimmten Klasse und die Stellung, die dieser Klasse im gesellschaftlichen Ganzen und seiner Entwicklung zukommt. So formuliert der Theoretiker des Proletkul’t Bogdanov: „Die neue Kunst hat nicht das Individuum, sondern das Kollektiv oder den Menschen im Kollektiv zum Helden.“162 A. K. Gastevs My rastem iz zˇeleza (Wir wachsen aus Eisen; 1914) schildert die Transformation eines Arbeiters zum riesenhaften Übermenschen, der als Sinnbild des erstarkten Proletariats den Sieg der Arbeiterklasse proklamiert. „V Ωily l´etsä novaä Ωeleznaä krov´. A vyros ewe. U menä samogo vyrastaüt stal´nye pleçi i bezmerno sil´nye ruki. A slilsä s Ωelezom postrojki. […] 163 ,Pobedim my!‘“

Gastev stand ab 1920 als Direktor dem Moskauer Zentralinstitut für Arbeit („Central’nyj institut truda“ – CIT) vor. In Anlehnung an die Bewegungsstudien des amerikanischen Betriebsökonomen F. W. Taylor, die eine effizientere Nutzung der Arbeitskräfte ermöglichen sollten, spricht sich Gastev für eine wissenschaftliche Arbeitsorganisation („naucˇnaja organizacija truda“ – NOT) aus und entwickelt das Konzept einer universalen „Arbeitskultur“ („trudovaja kul’tura“)164 . Auch Gastev zergliedert die Arbeitsvorgänge und strebt mit seinen Studien zu den sogenannten Arbeitseinstellungen („trudovye ustanovki“) sowie einem „Katechismus der Arbeitsübungen“ nach einer Optimierung der Bewegungsabläufe des Arbeiters.165 Bezugssystem für Gastevs wissenschaftliche Arbeitsorganisation bildet die Maschine, wobei mit der Schaffung von „Nervenmuskelau-

162 163 164

165

Proletkult. Theorie und Praxis einer sozialistischen Kulturrevolution, Frankfurt/M./New York 1980, S. 112ff. u. 208ff. sowie zu Bogdanovs Konzeption eines neuen Menschen die Textauswahl in B. Groys/M. Hagemeister (Hgg.), Die neue Menschheit. Biopolitische Utopien in Russland zu Beginn des 20. Jahrhunderts, Frankfurt/M. 2005, S. 482ff. Zitiert nach ebd., S. 140. Vgl. ähnlich F. I. Kalinin, a.a.O., S. 55f. A. K. Gastev, My rastem iz zˇeleza, in: Ders., Poe˙zija rabocˇego udara, Moskau 1964, S. 35f. Als Aufgabe von weltgeschichtlicher Bedeutung hatte auch Lenin die wissenschaftliche Arbeitsorganisation herausgestellt und nicht zuletzt von der Einführung des Taylorsystems in Russland die Realisierbarkeit des Sozialismus abhängig gemacht. Vgl. V. I. Lenin, Die nächsten Aufgaben der Sowjetmacht, in: Ders., Werke, 42 Bde., Berlin 1955ff., Bd. XXVII, S. 249f. Vgl. zur Rezeption Taylors in Russland M. Tatur, Wissenschaftliche Arbeitsorganisation – Arbeitswissenschaften und Arbeitsorganisation in der Sowjetunion 1921-1935, Berlin 1976 (Diss.), S. 16ff. u. 65ff. sowie R. Stites, Revolutionary Dreams. Utopian Visions and Experimental Life in the Russian Revolution, New York/Oxford 1989, S. 145ff. Vgl. A. K. Gastev, Trudovye ustanovki, Moskau 1973, S. 84ff.

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tomaten“ eine fortschreitende Mechanisierung des Menschen antizipiert wird.166 Mit einer neuen „Industriepädagogik“ („novaja industrial’naja pe˙dagogika“) und einem „sozialen Ingenieurismus“ („social’nyj inzˇenerizm“ beziehungsweise „social’naja inzˇenerija“)167 strebt Gastev aber nicht nur nach einer physischen, sondern auch umfänglich psychischen Reorganisation der Arbeiterschaft. Garantiert werden soll zum einen die Überführung des rückständigen Landes in einen modernen Industriestaat, zum anderen soll der „neue Mensch“ mit „neuen Kultureinstellungen“ („novye kul’turnye ustanovki“) geschaffen werden.168 Ebenso wie Gastevs „trudovaja kul’tura“ die Arbeit als das menschliche Dasein umfänglich bestimmende Kategorie ausweist, wird „Kultur“ wesentlich mit rationaler Organisation, ordnender Disziplin sowie der Einübung „technischer und sozialer Gewandtheit“ identifiziert. „So wisse: Arbeit, das ist deine Kraft. Organisation, das ist deine Gewandtheit. Disziplin, das ist dein Wille. Das ergibt die gegenwärtige kulturelle Einstellung. 169 Alles zusammen = Kulturrevolution.“

Gastevs psycho-physisches Programm zur Erziehung und Disziplinierung der Massen, wiederkehrende Schlüsselwörter sind dementsprechend „trenazˇ“, „trenirovka“ oder „vospitanie“170 , gipfelt letztlich in der Vorstellung einer vollständig uniformierten Arbeiterschaft, bestehend aus normierten Individuen, die keine menschlichen Regungen mehr zeigen. Der zukünftige „neue Mensch“ ist ein seelenloser Automat in einer vollständig taylorisierten Lebenswelt, die jedwede Vorstellung von Individualität und Persönlichkeit getilgt hat. „Die Maschinisierung normiert nicht nur die Gesten, nicht nur die Produktionsmethoden, sondern auch die täglichen Gedanken und die Psychologie des Proletariats in der auffälligsten Weise und vereinigt alles in einem äußeren Objektivismus. Man darf kühn behaupten, daß noch keine Klasse in der Geschichte der menschlichen Gesellschaft von solch einer normierten Psychologie erfüllt war wie das Proletariat. […] In dieser Normierung der Psychologie und in ihrem Dynamis166 167 168

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170

Vgl. M. Tatur, a.a.O., S. 29 und zu Gastevs „Maschinismus“ und einer „Mechanisierung“ des Menschen auch A. K. Gastev, Trudovye ustanovki, a.a.O., S. 12f., 18f. u. 123. Vgl. ebd., S. 7f. Zu dem von Gastev gewählten Begriff der „ustanovka“ sei im Anschluss an Tatur bemerkt, dass dieser sowohl Aufstellung, technische Montage oder Anlage bedeuten kann, aber auch im Sinne von innerer Einstellung verwendet wird. Vgl. M. Tatur, a.a.O., S. 25 u. 31. A. K. Gastev, Novaja kul’turnaja ustanovka. Zitiert nach S. Plaggenborg, Revolutionskultur. Menschenbilder und kulturelle Praxis in Sowjetrussland zwischen Oktoberrevolution und Stalinismus, Köln/Weimar/Wien 1996, S. 51. Vgl. zu einer Identifikation von organisierter Produktionsweise und Kultur auch A. K. Gastev, Trudovye ustanovki, a.a.O., S. 80. Vgl. beispielhaft ebd., S. 12f., 18, 103 u. 250.

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mus liegt der Schlüssel zu der großartigen Spontaneität des proletarischen Denkens. Dies heißt nicht, daß das Proletariat auf elementare Weise spontan ist wie die den Artels verhaftete wilde, blinde Bauernschaft, nein, das heißt, daß in der Psychologie aus allen Teilen der Welt mächtig beladene psychologische Ströme fließen, für die es nicht Millionen Köpfe, sondern einen einzigen Weltkopf gibt. In der weiteren Perspektive wird es unmöglich werden, individuell zu denken; es wird nur die objektiven Strukturen der Psychologie einer ganzen Klasse geben. […] Einen solchen Kollektivismus kann man als mechanisierten Kollektivismus bezeichnen. Die Erscheinungen dieses mechanisierten Kollektivismus sind jeder Personalität derart fremd, derart anonym, daß die Bewegung dieser Kollektivkomplexe sich der Bewegung von Dingen annähert, in denen es schon keine menschliche Individualität mehr gibt, sondern nur gleichförmige, normierte Schritte, Gesichter ohne Ausdruck und ohne Seele, die keine Lyrik, keine Emotionen mehr kennen und nicht durch Schrei oder Gelächter bewegt, sondern mit Manometern und Taxometern gemessen werden. Es besteht kein Zweifel darüber, daß wir im Proletariat die wachsende Klasse vor uns haben, die gleichzeitig ihre lebendige Arbeitskraft wie auch die eiserne Mechanik ihres neuen Kollektivismus entwickelt; der neue Massen-Ingenieurismus verwandelt das Proletariat in einen sozialen Automat.“171

Der ursprünglich emanzipatorische Ansatz des Sozialismus erweist sich als vollständig eliminiert. Vielmehr steht allein die psycho-physische Abrichtung des Menschen zur Steigerung der Arbeitsproduktivität („sistemy formirovanija cˇelovecˇeskogo organizma dlja dannoj proizvodstvennoj uli“)172 sowie zur allseitigen Verwendbarkeit für die Zwecke des Staates im Vordergrund. E. Zamjatin konstatiert hinsichtlich des sich etablierenden Sowjetstaats und seiner propagierten Ideologie den Beginn einer Epoche, die zwar die Unterdrückung der Massen beende, aber nun ganz im Zeichen der Unterdrückung des Einzelnen im Namen der Masse stehe. „My pereΩili qpoxu podavleniä mass; my pereΩivaem qpoxu podavleniä liçnosti vo imä mass…“173 In seinem anti-utopischem Roman My (1921) – allein der Titel nimmt bereits satirisch auf die Begeisterung am großen „Wir“ Bezug – kritisiert Zamjatin das kollektivistische Menschenbild, die Unterdrückung der Persönlichkeit und die Uniformierung des Einzelnen. Er antizipiert einen totalitären Zwangsstaat, bevölkert von uniformen Nummernmenschen, die alle zur selben Zeit aufstehen und schlafen gehen, gemeinsam essen, arbeiten sowie spazieren gehen. Individualisierung sowie Persönlichkeitsbildung, die eine Trennung von der Masse des „millionenfüßigen Leviathans“ („millionnonogij leviafan“)174 zur Folge haben, werden schließlich nur noch als krankhafter Zustand empfunden.

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A. K. Gastev, Über die Tendenzen der proletarischen Kultur, in: R. Lorenz (Hg.), a.a.O., S. 62f. (Hervh. im Orig.). A. K. Gastev, Trudovye ustanovki, a.a.O., S. 18. E. I. Zamjatin, Zavtra, in: Ders., Socˇinenija v pjati tomach, Moskau 2000ff., Bd. III, S. 114. E. I. Zamjatin, My, in: Ders., Socˇinenija, a.a.O., Bd. II, S. 269.

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„Vot ä – sejças v nogu so vsem – i vse-taki otdel´no ot vsex. […] Ä çuvstvuü sebä. No ved´ çuvstvuüt sebä, soznaüt svoü individual´nost´ – tol´ko zasorennyj glaz, naryvaüwij palec, bol´noj zub: zdorovyj glaz, palec, zub – ix budto i net. Razve ne äsno, çto liçnoe soznanie – qto tol´ko 175 bolezn´?“

175

Ebd., S. 297.

III. Das Tier als Spiegel des Menschlichen Im Gegensatz zu beispielsweise I. S. Turgenevs Mumu (1852), M. v. EbnerEschenbachs Krambambuli (1883) oder Th. Manns Herr und Hund (1920) wird in den fünf Vergleichstexten keine unmittelbare Beziehung zwischen Mensch und Tier literarisch gestaltet.1 Auch wird das Tier nicht um seiner selbst willen, als Eigenwesen in seiner natürlichen Umwelt dargestellt, wie dies etwa H. Löns in seiner Erzählung Mümmelmann (1909) versucht.2 Letztere Form der Tierdichtung, die sich verstärkt zu Beginn des 20. Jahrhunderts ausprägt, bietet aber, da sie auf die Entwicklung der Industriegesellschaft und das Massendasein in den Großstädten reagiert, ebenfalls Anknüpfungspunkte zur Fragestellung der vorliegenden Studie. Das naturhaft Tierische ist positive Gegenwelt, die eine tröstende Atempause von der Massenexistenz und dem „ewig gleichtönenden Takt von Rädern und Maschinen“3 gewährt. „Tiergeschichten! Ein Symbol unserer Zeit: wir sind der Menschen, der vielzuvielen Menschen müde geworden […] Aus all der Getrübtheit, aus all der Schmerzenstiefe, Unkeuschheit und Sumpflust unseres Massendaseins flüchten wir uns zur reinen, heiligen Unbefangenheit der Tierseele; dort finden wir Trost und Hei4 lung,…“

Diese Zivilisationskritik in Verbindung mit der Vorstellung einer idyllisch-naturhaften Lebenswelt des Tieres mag nicht zuletzt an Rousseau erinnern, der dem entfremdeten, zwischen Geist und Leben, Kultur und Natur gespaltenen gesellschaftlichen Dasein des Menschen einen selbstgenügsamen und autarken, tierähnlichen „homme naturel“ des „Naturzustandes“ gegenüberstellt. „En de´pouillant cet Être [l’homme; Anm. M. M.], ainsi constitué, de tous les dons surnaturels qu’il a pu recevoir, et de toutes les facultés artificielles, qu’il n’a p u acquerir que par de longs progrès; En le considerant, en un mot, tel qu’il a duˆ sortir des mains de la Nature, je vois un animal moins fort que les uns, moins agile que les autres, mais a` tout prendre, organizé le plus avantageusement de tous: Je le vois se 1

2

3 4

Es sei darauf hingewiesen, dass oben genannte Erzählungen auch in erweiterte Bedeutungszusammenhänge gestellt werden. Vgl. beispielhaft M. Helberger, Tierdarstellungen als Symptom des gesellschaftlichen Strukturwandels im interkulturellen Kontext. Die Rezeption von Ivan Turgenevs Tierdarstellungen im Werk Marie von Ebner-Eschenbachs und Ferdinand von Saars, in: J. Holzner (Hg.), Rußland – Österreich: literarische und kulturelle Wechselwirkungen, Bern/Berlin 2000, S. 97-125 oder H.-J. Gerigk, „Herr und Hund“ und Schopenhauer, in: Thomas Mann Jahrbuch 9 (1996), S. 155-172. Vgl. zu einer umfassenderen Darstellung dieser Ausformung der Tierdichtung J. Zeuch, Die moderne Tierdichtung, Gießen 1924 (Diss.) und H. Nell, Die gestaltenden Kräfte in der neuen deutschen Tierdichtung, Würzburg 1937 (Diss.). J. Zeuch, a.a.O., S. 17. Zitiert nach J. Zeuch, a.a.O., S. 15. Vgl. zum Tierischen als positive Projektionsfläche auch K.-H. Fingerhut (1970), a.a.O., S. 9 und Ch. Cosentino, a.a.O., S. 114ff.

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rassasiant sous un chesne, se désalterant au premier Ruisseau, trouvant son lit au 5 pied du meˆme arbre qui a fourni son repas, et viola` ses besoins satisfaits.“

In den Vergleichstexten ist die Tierwelt dagegen nicht positive Folie, vielmehr bricht das Tierische bedrohlich in die menschliche Lebenswelt ein. Es verweist auf die Gefährdung des Menschen, der angesichts der vielgestaltigen Massenprozesse seiner individuellen Eigentlichkeit verlustig geht und auf die Stufe eines modernen, mitunter bestialisch-monströsen Herdentieres regrediert. Bewertungen des Tierischen sind grundsätzlich immer auch als ein Ringen um die eigene, die menschliche Identität zu verstehen. Dabei sind zwei Erlebnisweisen des Tierischen für die Perspektive des Menschen bestimmend. Einerseits erscheint das Tier dem Menschen in seiner Mitgeschöpflichkeit, seiner Körperlichkeit und Sterblichkeit sowie aufgrund der gemeinsamen Nutzung derselben Lebenswelt als vertrautes Wesen, dem der Mensch ein analoges Dasein zuschreibt. Andererseits ist das Tier das Fremde, das Andere, wobei sich die Distanz mit der Selbstbewusstwerdung des Menschen zunehmend vergrößert. Wiederum entscheidend verkürzt erscheint diese allerdings mit Darwins Evolutionstheorie, die ein enges Verwandtschaftsverhältnis für Mensch und Affe postuliert.6 Wie etwa in Hoffmanns Nachricht von einem gebildeten jungen Mann (1814) oder Kafkas Bericht für eine Akademie (1917) ist gerade der Affe ob seiner auffälligen Ähnlichkeit mit dem Menschen wiederholt dessen beunruhigender Doppelgänger.7 Nietzsche nennt den Affen für den Menschen ein „Gelächter oder eine schmerzliche Scham“8 , während Schopenhauer von einer „Karikatur des Men5

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8

J.-J. Rousseau, Abhandlung über die Ungleichheit/Discours sur l’inégalité. Kritische Ausgabe des integralen Textes, neu ed., übers. u. komm. v. H. Meier, Paderborn 1984, S. 78. Im Gegensatz zu Rousseau geht Th. Hobbes von einem gewaltsamen Naturzustand aus. Im Kampf aller gegen alle („bellum omnium contra omnes“) zeige sich der Mensch als des Menschen Wolf („homo homini lupus“). Vgl. Th. Hobbes, Leviathan or the Matter, Forme and Power of a Commonwealth ecclesiastical and civil, mit einer Einl. hrsg. v. M. Oakeshott, Oxford 1951, S. 80ff. Vgl. Ch. Darwin, Die Abstammung des Menschen, mit einer Einf. v. Ch. Vogel, 5. Aufl., Stuttgart 2002, insbesondere Kap. VI: „Über die Verwandtschaft und den Stammbaum des Menschen“. In D. Daths Zukunftsroman Die Abschaffung der Arten (2008) ist dagegen die Gattung Mensch als gescheitertes Experiment der Naturgeschichte fast vollständig abgeschafft. Die wenigen als „Minderlinge“ bezeichneten Menschen werden von den „Gente“, hochintelligenten Wesen in Tiergestalt beherrscht. P. Boulles Zukunftsroman La plane`te des singes (Planet der Affen; 1963) zeigt schließlich eine hoch entwickelte Affengesellschaft, die Menschen als Sklaven und Versuchstiere hält. Vgl. zu einer ähnlichen Umkehrung des Verhältnisses von Mensch und Tier auch W. Self, Great Apes, London 1997. Bekannt ist diese „verkehrte Welt“ bereits aus Swifts Gulliver’s Travels, welche die Pferdegesellschaft der vernunftbegabten Houyhnhnms zeigen, die über die teils affen-, teils menschenähnlichen Yahoos gebieten. Vgl. zum Affen in der Literatur H.-J. Gerigk (1989), a.a.O., und in Abgrenzung zum Hund G. Neumann, Der Blick des Anderen. Zum Motiv des Hundes und des Affen in der Literatur, in: Jahrbuch der Deutschen Schillergesellschaft 40 (1996), S. 87-122. F. Nietzsche, Also sprach Zarathustra, a.a.O., S. 279.

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schen“9 spricht. Nicht zuletzt ist es wohl dieses spannungsvolle Verhältnis von Distanz und Nähe, Fremdheit und Vertrautheit, das die Spiegelfunktion des Tierischen für menschliche Verfasstheiten begünstigt.10

III. 1. Zur Kulturgeschichte von Mensch und Tier III. 1. 1. Das Tier als mythisches Wesen und der vernunftbegabte Mensch Der frühzeitliche Mensch sieht sich nicht vom Tier getrennt. Beide, Mensch und Tier, sind Teil einer als magisch empfundenen Einheit aller Kreaturen. Die für das heutige Bewusstsein charakteristische, scharf markierte Trennungslinie zwischen Mensch und Tier ist dagegen das Ergebnis einer jahrtausendelangen Entwicklung. „Nach der ursprünglichen volklichen Auffassung […] steht der Mensch in der Natur ohne Grenze den anderen Geschöpfen gegenüber: das Tier ist noch nicht das Untermenschliche, sondern es steht im selben Kosmos wie der Mensch: Die Menschen haben die Ordnung des Lebens noch nicht als eine spezifisch menschlich-sittliche erkannt und sie deshalb der natürlichen Ordnung tierischen Lebens 11 gleichgestellt.“

In der körperlichen Überlegenheit und Stärke des Tieres manifestiert sich für den urzeitlichen Menschen die Zugehörigkeit des Tieres zur mächtigen Welt der Dämonen und Geister. Das Tier erscheint als etwas „Irrationales, Geheimnisvolles, Fremdartiges, das ‚Macht‘ besitzt, von dem heilvolle und unheilvolle Wirkungen ausstrahlen.“12 Auch die Anfänge der Tierdichtung liegen in dieser frühzeitlichen Kultur- und Erfahrungsschicht des Menschen.13 Mythische Erzählungen berichten von Mensch-Tier-Vermählungen und Verwandlungen. Tiere wurden als numinose Wesen verehrt, galten, wie etwa Krokodil und Schlange, die sich bei Mitterer 9 10 11

12

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A. Schopenhauer, Parerga i Paralipomena, in: Ders., Sämtliche Werke, a.a.O., Bd. VI, S. 452. Vgl. auch K.-H. Fingerhut (1969), a.a.O., S. 1f. L. Röhrich, Mensch und Tier im Märchen, in: F. Karlinger (Hg.), Wege der Märchenforschung, Darmstadt 1973, S. 225f. Vgl. auch M.-L. Henry, Das Tier im religiösen Bewußtsein des alttestamentlichen Menschen, Tübingen 1958, S. 13 und K. Sälze, Tier und Mensch, Gottheit und Dämon, München 1965, S. 16f. H. Findeisen, Das Tier als Gott, Dämon und Ahne. Eine Untersuchung über das Tier in der Alt-Menschheit, Stuttgart 1956, S. 31. Vgl. ebenfalls K. Sälzle, a.a.O., S. 34 und M. Landmann, Das Tier in der jüdischen Weisung, Heidelberg 1959, S. 17f. Vgl. G. v. Wilpert, Sachwörterbuch der Literatur, 8., verb. u. erw. Aufl., Stuttgart 2001, S. 831. F. Harkort sieht die Zeit der Jägerkulturen als „Geburtsstunde der Tiervolkserzählungen“. Vgl. F. Harkort, Tiervolkserzählungen, in: Fabula 9 (1976), S. 91. Für W. Wundt sind die Mythenmärchen über Mensch und Tier gar Ausgangspunkt der Entwicklung der Erzählkultur. Vgl. M. Lüthi, Märchen, 8., durchges. u. erg. Aufl., Stuttgart 1990, S. 66.

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beziehungsweise Bulgakov in ihrem zerstörerisch-verschlingenden und todbringenden Bedeutungsaspekt finden, auch als Weltschöpfer und Kulturbringer.14 Mit dem Übergang zur Pflug- und Ackerbaukultur sowie zur bäuerlichen Wirtschaftsweise formuliert sich dagegen ein wesentlich verändertes Differenzverhältnis. Domestizierte Arbeits- und Nutztiere sind nun Besitz und Wirtschaftsgut des Menschen. Ebenso werden frühzeitlich-theriomorphe Götter von theriomorphanthropomorphen Mischformen und schließlich zunehmend von menschenähnlichen Bildvorstellungen abgelöst.15 Die Bibel sieht den Menschen dem Tier grundsätzlich überlegen. Im biblischen Schöpfungsbericht begründen menschliche Gottesebenbildlichkeit (1. Mos. 1, 26 u. 27) und Herrschaftsauftrag (1. Mos. 1, 28) die Überlegenheit des Menschen.16 Neutestamentlichen Bestimmungen zufolge ist das Tier vor allem ein triebhaftes, feindliches Wesen und geradezu eine Verkehrung menschlicher Gottesebenbildlichkeit. Insbesondere in der Bildsprache der Apokalypse findet sich das Tierische mit dämonischen Mächten identifiziert. Zwei Tiere und ein Drache bilden hier gewissermaßen eine „satanische Dreieinigkeit“ (Off. 13 u. 16, 13).17 Antike Kulturentstehungslehren fokussieren vor allem auf die menschliche Vernunft als wesentliches Unterscheidungsmerkmal.18 Als Ausdruck der Vernunftbegabung gelten technisch-zivilisatorische Errungenschaften („technai“) und insbesondere ethische und politische Wertsetzungen („nomoi“), so dass das Differenzverhältnis von Mensch und Tier als Opposition von kulturschaffend versus kulturlos gefasst werden kann.19 Für Platon ist die Vernunftbegabung ebenfalls ein wesentliches Charakteristikum des Menschen. Allerdings schreibt er der menschlichen Seele auch tierische Anlagen zu.

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Vgl. M.-L. Henry, a.a.O., S. 38ff., K. Sälzle, a.a.O., S. 30f. und H. Findeisen, a.a.O., S. 13f. Vgl. speziell zur Schlange und zum Krokodil K. Ranke/R. W. Brednich (Hgg.), Enzyklopädie des Märchens. Handwörterbuch zur historischen und vergleichenden Erzählforschung, 12 Bde., Berlin/New York 1977ff., Bd. VIII, Sp. 488 sowie Bd. XII, Sp. 34f. Vgl. zum Entwicklungsprozess des sogenannten „Anthropomorphismus“ ebd., Bd. I, S. 592, K. Holzapfel, Tier II: Weltreligionen, in: Ch. Auffarth/J. Bernard/H. Mohr (Hgg.), Metzler Lexikon Religion. Gegenwart – Alltag – Medien, 4 Bde., Stuttgart 1999ff., Bd. III, S. 500 u. 503 sowie M. Landmann, a.a.O., S. 18f. Verschiedene Bibelstellen betonen aber auch die Gleichheit von Mensch und Tier. Vgl. beispielhaft 1. Mos. 9, 10, Ps. 104, 29f., Pred. 3, 19 und Röm. 8, 21. Vgl. G. Kittel (Hg.), Theologisches Wörterbuch zum Neuen Testament, 10 Bde., Stuttgart 1933ff., Bd. III, S. 135f. Vgl. U. Dierauer, Tier und Mensch im Denken der Antike. Studien zur Tierpsychologie, Anthropologie und Ethik, Amsterdam 1977, S. 39ff. Vgl. ebd., S. 31f. Der Protagorasmythos etwa zeigt den Menschen zunächst als dem Tier unterlegenes Mängelwesen. Prometheus schenkt den Menschen allerdings technisches Wissen und Feuer, Zeus verleiht Zurückhaltung und Rechtlichkeit. Vgl. U. Dierauer, Das Verhältnis von Mensch und Tier im griechisch-römischen Denken, in: P. Münch (Hg.), a.a.O., S. 45ff.

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„Laß uns zuerst ein Bildnis der Seele in Worten anfertigen […] So bilde dir denn eine Gestalt eines gar bunten und vielköpfigen Tieres, rundherum Köpfe von zahmen und wilden Tieren habend […] Nun auch noch eine andere Gestalt des Löwen und eine des Menschen: bei weitem das größte aber sei die erste und das nächste die zweite. […] Weiter verknüpfe nun diese drei in eines, so daß sie miteinander zusammenwachsen. […] Und nun bilde außen um sie herum das Bildnis des einen, nämlich des Menschen, so daß es dem, der das Innere nicht sehen kann, sondern nur die äußere Hülle sieht, als ein lebendes Wesen erscheint, nämlich ein 20 Mensch.“

Nach Platon bleibt der Mensch ohne Erziehung von einer bloß sinnlich-leidenschaftlichen Wahrnehmung beherrscht, die Platon auch dem Tier zuschreibt.21 Zähmt aber die Vernunft die „tierischen“ Triebe, so vermag sich der Mensch wie kein anderes Wesen dem Göttlichen anzunähern. Gelingt dies nicht, wird der Mensch zum furchtbarsten aller Tiere. „Der Mensch aber ist, wie wir sagen, ein zahmes Geschöpf; dessen ungeachtet pflegt er zwar, wird ihm eine richtige, mit glücklicher Naturanlage verbundene Erziehung zuteil, zu dem gottähnlichsten und zahmsten Geschöpf zu werden, zu dem wildesten aber, was die Erde erzeugt, wenn seine Erziehung keine genügende 22 oder keine passende war.“

Klassifizierte Aristoteles in seiner Tierkunde den Menschen, ebenso wie die Bienen, Ameisen und Kraniche, als Staaten bildendes Lebewesen, so differenziert er in seiner Politik diese Kategorie weiter aus. Allein der Mensch könne Recht von Unrecht scheiden und dies in Sprache ausdrücken, die Aristoteles unerlässliches Instrument zur Herausbildung und Setzung sittlicher Werte ist. Bei Ionesco und Cµapek ist gerade die Einschränkung beziehungsweise der vollständige Verlust sprachlicher Ausdrucksmöglichkeit wesentliche Konsequenz der Vermolchung beziehungsweise Nashornwerdung des Menschen. „Daß nun der Mensch in höherem Maße ein staatsbezogenes Lebewesen ist als jede Biene und jedes Herdentier, ist klar. Denn nichts, meinen wir, schafft die Natur vergeblich. Über die Sprache aber verfügt von den Lebewesen der Mensch. Die Stimme nun bedeutet schon ein Anzeichen von Leid und Freud, daher steht sie auch den anderen Lebewesen zu Gebote; ihre Natur ist nämlich bis dahin gelangt, daß sie über Wahrnehmung von Leid und Freud verfügen und das den anderen auch anzeigen können. Doch die Sprache ist da, um das Nützliche und das Schäd20

21 22

Platon, Politeia, a.a.O., § 588bff. (Hervh. im Orig.). B. Pascal bezeichnet den Menschen als „Chimäre“, als ein aus Widersprüchen zusammengesetztes Wesen, ein „unbegreifliches Monstrum“. Vgl. U. P. Jauch, Bericht vom Leben der Chimären. Ein Beitrag zum Problem einer Transzendentalzoologie, in: Mensch und Tier. Geschichte einer heiklen Beziehung, hrsg. v. zdf-nachstudio, Frankfurt/M. 2001, S. 295f. Vgl. Platon, Politeia, a.a.O., § 441af. Platon, Nomoi, in: Ders., Sämtliche Werke, a.a.O., Bd. IV, § 766a.

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liche klarzulegen, und in der Folge davon das Gerechte und Ungerechte. Denn das ist im Gegensatz zu den anderen Lebewesen den Menschen eigentümlich, daß nur sie allein über die Wahrnehmung des Gerechten und Ungerechten und ande23 rer solcher Begriffe verfügen.“

Im Anschluss an biblische und antike Vorstellungen gilt das Tier als wesentlich defizientes, da vernunftloses und somit dem Menschen unterlegenes Wesen. Gleichzeitig wird die triebhafte Körperlichkeit des Menschen als tierische Veranlagung gefasst, die durch Erziehung gezähmt werden soll. Für die verknüpfende Fragestellung von Tiermotiv und Massenthematik ist es aufschlussreich, dass sowohl das Tier als auch die Masse als vernunft- sowie kulturlos, dumpf und triebhaft charakterisiert werden. Der Einzelne regrediert in der Masse auf eine gleichsam tierische Entwicklungsstufe, auch er vermag nicht mehr zwischen Recht und Unrecht zu unterscheiden. Ebenfalls wesentlich für die Vergleichsstudie sind Bewertungen, die das Tier als seelenlosen Automaten und „gebückten Sklaven“ oder die tierische Daseinsform als „fortgesetzte Gegenwart“ beschreiben. R. Descartes spricht dem Tier im Gegensatz zu Aristoteles eine empfindsame Seele ab. Es sei gänzlich vernunftlos und ließe keinerlei kommunikative Befähigung erkennen. Das tierische Verhalten wertet Decartes als bloßen Mechanismus eines funktionstüchtigen Automaten.24 „… et que c’est la nature qui agit en eux [des animaux; Anm. M. M.], selon la disposition de leurs organes: ainsi qu’on voit qu’un horloge, qui n’est compose´ que 25 de roues et de ressorts, peut compter les heures, et mesurer le temps,…“

Decartes löste mit seiner Vorstellung eines seelenlosen „animal machine“ einen nachhaltigen Streit um die Existenz einer Tierseele aus.26 Eine Zeitungsumfrage 23 24

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Aristoteles, Politik. Schriften zur Staatstheorie, übers. u. hrsg. v. F. F. Schwarz, Stuttgart 2003, § 1253a 7ff. Vgl. R. Descartes, Discours de la Méthode, in: Ders., Philosophische Schriften in einem Band, mit einer Einf. v. R. Specht und „Descartes’ Wahrheitsbegriff“ v. E. Cassirer, Hamburg 1996, S. 90ff. Ebd., S. 96. J. O. de La Mettrie sieht schließlich nicht nur das Tier, sondern auch den Menschen als Maschine. Der Mensch, eine „Zusammensetzung von Triebfedern“, zeige sich im Vergleich zum Tier lediglich als ausgefeiltere und aufrecht kriechende Maschine. Vgl. J. O. de La Mettrie, L’ homme machine/Die Maschine Mensch, frz./dt., übers. u. hrsg. v. C. Becker, Hamburg 1990, S. 95f., 111 u. 125. Vgl. ausführlicher U. Dierauer/W. U. Eckart/A. v. d. Lühe, Tier; Tierseele, in: J. Ritter (Hg.), a.a.O., Bd. X, Sp. 1207ff. Zu Positionen und Argumentationen im Tierseelenstreit sowie zu einer tierischen Vernunftbegabung bis hin zu aktuellen Tierethikdebatten siehe H. W. Ingensiep/H. Baranzke, Das Tier, Stuttgart 2008, D. Perler/M. Wild, Der Geist der Tiere – eine Einführung, in: Dies. (Hgg.), Der Geist der Tiere. Texte zu einer aktuellen Diskussion, Frankfurt/M. 2005, S. 10-74, G. Steiner, Anthropocentrism and its Discontents. The Moral Status of Animals in the History of Western Philosophy, Pittsburgh 2005, M. Linnemann (Hg.), Brüder – Bestien – Automaten. Das Tier im abendländischen Denken, Erlangen 2000 und J.C. Wolf, Tierethik: neue Perspektiven für Menschen und Tiere, Freiburg 1992.

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in Cµapeks Válka s Mloky zum Thema „Haben Molche eine Seele?“ erinnert in gewisser Weise an diese Fragestellung. Die menschlichen Bewertungskriterien – genannt werden Sportsgeist, Patriotismus, Sex-Appeal, Schönheit, eine überlegene Schwimmtechnik sowie ökonomische Gleichberechtigung – enthüllen nun aber in Cµapeks Roman vor allem ein pervertiert-vereinfachtes, vornehmlich an Äußerlichkeiten orientiertes Seelenverständnis des fortschrittlich-rationalistischen Menschen des Molchzeitalters. „… ale nesetkali jsme se u nich [u Mloku˚; Anm. M. M.] zˇádnou zna´mkou vysˇsˇi´ch citu˚, jako je Cµest, Víra, Patriotismus nebo Sportovní Duch. A co jiného, ta´ziˇ se, mu˚zˇeme pra´vem oznacˇovati jako dusˇi? […] Nemají zˇa´dny´ sex-appeal. Proto také nemají dusˇi.“ (VSM, II, 2, 141f.)

Für Herder ist der Mensch aufgrund seiner Vernunft und Freiheit der „erste Freigelassene der Schöpfung“. Sichtbarer Ausdruck seines Rangs als „König der Erde“ ist der aufrechte Gang, wogegen sich das Tier nur als „gebückter Sklave“ zeige. „Der Mensch hat den Königsvorzug, mit hohem Haupt, aufgerichtet weit umher zu schauen, freilich also auch vieles dunkel und falsch zu sehen […] indessen ist und bleibt er seiner hohen Verstandesbestimmung nach, was kein anderes Erdengeschöpf ist, ein Göttersohn, ein König der Erde. Um die Hoheit dieser Bestimmung zu fühlen, lasset uns bedenken, was in den großen Gaben Vernunft und Freiheit liegt und wieviel die Natur gleichsam wagte, da sie dieselbe einer so schwachen vielfachgemischten Erdorganisation, als der Mensch ist, anvertraute. Das Thier ist nur ein gebückter Sklave; wenn gleich einige edlere derselben ihr Haupt empor heben oder wenigstens mit vorgerecktem Halse sich nach Freiheit sehnen. Ihre noch nicht zur Vernunft gereifte Seele muß nothdürftigen Trieben dienen und in diesem Dienst sich erst zum eignen Gebrauch der Sinne und Neigungen von fern bereiten. Der Mensch ist der erste Freigelassene der Schöpfung; er stehet aufrecht. Die Waage des Guten und Bösen, des Falschen und 27 Wahren hängt in ihm: er kann forschen, er soll wählen.“

In Orwells Animal Farm zeigt sich gerade im aufrechten Gang der Schweine ihre uneingeschränkte Herrschaft und Verfügungsgewalt über die übrigen Tiere, denn in ihren Vorderhaxen tragen sie nun ebenso wie die vormaligen menschlichen Gutsbesitzer eine Peitsche. Den Grundsatz „Four legs good, two legs bad!“ ändern die Schweine in „Four legs good, two legs better!“ (AF, X, 89; Hervh. im Orig.). Wesentlich begünstigt werden die Manipulationen der Schweine durch das mangelnde Reflexions- und Erinnerungsvermögen der Farmtiere. Es ist die 27

J. G. Herder, Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit, in: Ders., Sämtliche Werke, hrsg. v. B. Suphan, 33 Bde., Hildesheim 1967, Bd. XIII, S. 146. (Kursivierte Stellen sind im Originaltext gesperrt). Zum „aufrechten Gang“ vgl. auch P. Thiergen, Aufrechter Gang und liegendes Sein. Zu einem deutsch-russischen Kontrastbild, München 2010, S. 29ff.

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Daseinsform einer „fortgesetzten Gegenwart“, wie sie etwa Schopenhauer und Nietzsche beschreiben, die es den Farmtieren unmöglich macht, sich an den ursprünglichen Wortlaut zu erinnern. „Betrachte die Herde, die an dir vorüberweidet: sie weiß nicht, was Gestern, was Heute ist, springt umher, frißt, ruht, verdaut, springt wieder, und so vom Morgen bis zur Nacht und von Tage zu Tage, kurz angebunden mit ihrer Lust und Unlust, nämlich an den Pflock des Augenblicks, und deshalb weder schwermütig noch überdrüssig. Dies zu sehen geht dem Menschen hart ein, weil er seines Menschentums sich vor dem Tiere brüstet und doch nach seinem Glücke eifersüchtig hinblickt – denn das will er allein, gleich dem Tiere weder überdrüssig noch unter Schmerzen leben, und will es doch vergebens, weil er es nicht will wie das Tier. Der Mensch fragt wohl einmal das Tier: warum redest du mir nicht von deinem Glücke und siehst mich nur an? Das Tier will auch antworten und sagen: das kommt daher, daß ich immer gleich vergesse, was ich sagen wollte – da vergaß es auch schon diese Antwort […] So lebt das Tier unhistorisch: denn es geht auf in der Gegen28 wart,…“

Instinktgebundenheit, Sprach- und Geschichtslosigkeit sowie das Fehlen von Zeit- und Todesbewusstsein sind aber gleichzeitig die Aspekte, die das Tier in seinem natürlich-unbewussten und unreflektierten Lebendigsein zur positiven Projektionsfläche für den modernen, mit sich selbst entzweiten Menschen werden lassen, dessen Streben nach Ganzheit und persönlicher Eigentlichkeit ob des Massendaseins und der rapiden Modernisierungsprozesse fortgesetzt gefährdet scheint.29

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F. Nietzsche, Unzeitgemäße Betrachtungen, a.a.O., S. 211. (Hervh. im Orig.). Siehe auch A. Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung, in: Ders., Sämtliche Werke, a.a.O., Bd. III, S. 64: „Das Bewußtsein der Thiere ist demnach eine bloße Succession von Gegenwarten, deren jede aber nicht vor ihrem Eintritt als Zukunft, noch nach ihrem Verschwinden als Vergangenheit dasteht; als welches das Auszeichnende des menschlichen Bewußtseyns ist. Daher eben haben die Thiere auch unendlich weniger zu leiden, als wir, weil sie keine andern Schmerzen kennen, als die, welche die Gegenwart unmittelbar herbeiführt. […] So ist denn das Leben des Thieres eine fortgesetzte Gegenwart. Es lebt dahin ohne Besinnung und geht stets ganz in der Gegenwart auf: selbst der große Haufen der Menschen lebt mit sehr geringer Besinnung.“ Siehe hierzu beipielhaft ebd., S. 64f.: „Eine andere Folge der dargelegten Beschaffenheit des Intellekts der Thiere ist der genaue Zusammenhang ihres Bewußstseyns mit ihrer Umgebung. Zwischen dem Thiere und der Außenwelt steht nichts: zwischen uns und dieser stehn aber immer noch unsere Gedanken über dieselbe, und machen oft uns ihr, oft sie uns unzugänglich.“ Ähnlich auch H. Plessners Opposition eines zentrischen Lebens des Tieres gegenüber einem exzentrischen des Menschen, wodurch das Selbstsein des Menschen von einer „keimhaften Spaltung“ durchzogen sei. Vgl. H. Plessner, Das Organische und der Mensch, in: Ders., Gesammelte Schriften, hrsg. v. G. Dux, 10 Bde., Frankfurt/M. 1981, Bd. IV, S. 364 u. 372.

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III. 1. 2. Selbst- und Fremdverwandlungen Da sich der urzeitliche Mensch als Teil einer alle Wesen umfassenden Einheit begreift und sich in der körperlichen Überlegenheit und Stärke des Tieres vor allem die Zugehörigkeit zur mächtigen Welt der Dämonen und Geister manifestiert, wird der menschlich-tierische Gestaltwechsel als Ausdruck von Macht gewertet.30 Diese frühzeitlichen Verwandlungsvorstellungen sind nicht zuletzt im Zusammenhang mit dem religiös-sozialen System des Totemismus zu sehen. Mensch und Totemtier verbindet eine mythisch-symbiotische Verwandtschaft (indian. „totem“ – „Verwandtschaft“; „Schutzgeist“).31 Für Mensch und Totemtier wird eine gemeinsame Abstammung angenommen oder die Menschwerdung als Verwandlung aus einer ursprünglichen Tiergestalt gesehen. Nach dem Tod wechselt die Seele des Menschen in Gestalt des Totemtieres in die jenseitige Welt über. Während das Totem den Menschen beschützt, begünstigt der Mensch durch Riten, Jagd- und Essverbote Vermehrung und Wachstum des Tieres.32 In mythischen und Naturvolkerzählungen wird noch selbstverständlich und als aktiv gewollte Selbstverwandlung zwischen der tierischen und menschlichen Gestalt gewechselt.33 Ebenso gelten Mensch-Tier-Vermählungen nicht nur als unbedenklich, sondern werden oftmals gewünscht. Kinder dieser Verbindungen sind außergewöhnliche, zumeist göttliche Wesen.34 Die als Verwünschung oder Strafe empfundene Fremdverwandlung ist einer späteren Kulturstufe zuzuordnen und Ausdruck der abstufenden Differenzierung von Mensch und Tier.35 Sowohl von Selbst- als auch von Fremdverwandlungen berichtet die griechische Mythologie. Erstere ist fast ausschließlich den Göttern

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Vgl. K. Ranke/R. W. Brednich (Hgg.), a.a.O., Bd. I, Sp. 592ff. und H. Bächtold-Stäubli (Hg.), Handwörterbuch des deutschen Aberglaubens, 10 Bde., Berlin/New York 1987, Bd. VIII, Sp. 1623ff. Das Totem muss nicht der tierischen, sondern kann sowohl der pflanzlichen als auch, seltener, der leblosen Naturumgebung (Himmelskörper, Mineralien) angehören. Vgl. ebd., Bd. VIII, Sp. 1035 und H. Findeisen, a.a.O., S. 45f. Vgl. K. Ranke/R. W. Brednich (Hgg.), a.a.O., Bd. I, Sp. 593, H. Bächtold-Stäubli (Hg.), a.a.O., Bd. VIII, Sp. 1034ff. und H. Findeisen, a.a.O., S. 42ff. Canetti erzählt zwei Ursprungslegenden aus Australien über die gemeinsame Abstammung beziehungsweise doppelte Geburt von Mensch und (Totem-)Tier. Vgl. E. Canetti, a.a.O., S. 411ff. So handelte es sich ursprünglich auch bei der „Verwandlung“ in einen Werwolf um einen freiwilligen Gestaltwechsel. Das Anlegen von Wolfsgewändern diente wohl kultischen Zwecken, um sich die Fähigkeiten des Tieres anzueignen. Demselben Vorstellungskreis sind auch die Berserker zuzuordnen. Diese Krieger der nordischen Sage eignen sich durch Bärenfelle (altnord. „berserkr“) Wut und Kräfte des Tieres an. Vgl. G. Brunner Ungricht, a.a.O., S. 41. Vgl. L. Röhrich, a.a.O., S. 233 u. 239 sowie H. Findeisen, a.a.O., S. 16f. Überreste dieses archaischen Verhältnisses zur Tierwelt zeigen sich im Motivkomplex der Mensch-Tier-Vermählungen oder der hilfreichen Tiere im Volksmärchen. Vgl. L. Röhrich, a.a.O., S. 221ff. Vgl. ebd., S. 236f. u. 242 sowie K. Ranke/R. W. Brednich (Hgg.), a.a.O., Bd. I, Sp. 594.

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vorbehalten und dient u. a. der listhaften Täuschung.36 Die Fremdverwandlung des Menschen ist dagegen häufig Strafe für pietätloses Verhalten gegenüber den Göttern. Die tierische Gestalt zeigt sich teilweise psychologisch begründet, indem sie einen Charakterzug oder emotionalen Affekt des Menschen nun auch äußerlich sichtbar werden lässt.37 In Ovids Metamorphosen wird beispielsweise der arkadische König Lykaon (griech. „lykos“ – „Wolf“), der Zeus mit einem Mahl aus Menschenfleisch bewirtet, entsprechend seines wilden und mordlustigen Charakters zum Wolf. „[E]rschrocken flieht er [Lykaon; Anm. M. M.] selbst in die ländliche Stille, heult dort auf und versucht vergeblich zu sprechen. Seinem Wesen entsprechend atmet sein Rachen rasende Wut; seine gewohnte Mordlust läßt er am Kleinvieh aus und freut sich auch jetzt noch am Blutvergießen. In Zotteln verwandeln sich die Kleider, in Schenkel die Arme. Er wird zum Wolf und behält dabei Spuren seiner früheren Gestalt: Die Grauhaarigkeit ist geblieben, geblieben die gewalttätige Miene, 38 geblieben die Augen, geblieben das Bild der Wildheit.“

Gleichzeitig impliziert die Fremdverwandlung einen Verlust der individuellen Freiheit, eine Degradierung, Vergewaltigung und Entfremdung des Menschen.39 Der Gestaltwechsel wird als qualvoll empfunden, denn Sein und Erscheinung treten auseinander. So weicht Io, die Zeus in eine Kuh verwandelt, um die eifersüchtige Hera zu täuschen, entsetzt vor ihrem tierischen Spiegelbild zurück. „Als sie [Io; Anm. M. M.] noch flehend die Arme zu Argus ausstrecken wollte, hatte sie keine Arme, um sie zu Argus auszustrecken, und beim Versuch zu klagen, stieß sie ein Muhen aus, ängstigte sich vor dem Klang und erschrak über die eigene Stimme. […] Und kaum hatte sie im Wasser ihre neuen Hörner erblickt, wurde sie 40 von Furcht ergriffen und floh in hellem Entsetzen vor sich selbst zurück.“

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So nähert sich Zeus der Europa in Gestalt eines Stieres. Seine listhafte Täuschung gilt dabei nicht nur Europa, sondern auch der wachsamen und eifersüchtigen Hera. Vgl. P. Ovidius Naso, Metamorphosen, lat./dt., übers. u. hrsg. v. M. v. Albrecht, Stuttgart 1994, II, § 850ff. Vgl. G. Brunner Ungricht, a.a.O., S. 29. Ähnliche Vorstellungen liegen auch der Seelenwanderungslehre etwa bei Platon zugrunde. Menschen, die sich einer vernünftigen Lebensführung verweigern, werden ihrem Charakter entsprechend zu Tieren, so die der Völlerei Zuneigenden zu Eseln, Tyrannen und Mörder zu Wölfen. Vgl. Platon, Phaidon, in: Ders., Sämtliche Werke, a.a.O., Bd. II, § 81d-82b. Weiterführend vgl. auch U. Dierauer (1999), a.a.O., S. 50f. P. Ovidius Naso, a.a.O., I, § 230ff. Vgl. G. Brunner Ungricht, a.a.O., S. 30f. u. 164. In Kafkas Verwandlung ist die Käfergestalt Gregor Samsas Ausdruck seiner unglücklichen und selbstaufopfernden Existenz sowie seines Protests gegen seine Tätigkeit als Reisender, die den Lebensunterhalt der Familie sicherstellt. Gleichzeitig wird die Familie beim Anblick des Ungeziefers mit ihrer eigenen Unmenschlichkeit konfrontiert. P. Ovidius Naso, a.a.O., I, § 635ff.

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Für das Verständnis der „Nashorn-Existenzen“ in Ionescos Rhinoce´ros sind beide Bedeutungszusammenhänge aufschlussreich. Die um sich greifende Rhinozeritis verdeutlicht Wesen, Eigenschaften und charakterliche Disposition der Figuren. Sie ist drastischer und sinnfälliger Ausdruck einer bereits bestehenden Entpersönlichung der menschlichen Gesellschaft. Da die äußere Gestalt aber dem Wesen der abgestumpften Figuren entspricht, leiden diese nicht an ihrer Vertierung, empfinden diese nicht als Entfremdung, Degradierung oder Vergewaltigung. Vielmehr verstehen sie die Nashornwerdung des Menschen als notwendige und erstrebenswerte Überwindung der menschlichen Zivilisation und ihrer Wertvorstellungen. Christlichen Deutungen gilt der Gestaltwechsel schließlich als Teufelswerk, denn allein Gott sei befähigt, so Augustinus’ Argumentation, neue Geschöpfe zu erschaffen. Von Menschen initiierte Verwandlungen sind somit einem dämonischen Einfluss oder Teufelsbund zuzuschreiben.41 Dieser Bedeutungsaspekt des Gestaltwechsels kommt auch in Bulgakovs Erzählung Sobacˇ’e serdce (Hundeherz; 1925/1968) zum Tragen und wird zeitgenössisch aktuell in Beziehung zur Neuschöpfung eines sowjetischen Menschen gesetzt. Der explizit als grauhaariger Faust („sedoj Faust“42 ) bezeichnete Chirurg Preobrazˇenskij („preobrazit’“ – „verwandeln“) pflanzt dem herrenlosen Straßenköter Sµarik die Geschlechtsteile und Hypophyse eines Kleinkriminellen ein.43 Ergebnis des Experiments ist der grobdreiste und kulturlose „Tiermensch“ Poligraf Poligrafovicˇ Sµarikov, ein Homunkulus ohne Geschichte, Verantwortung und soziale Bindungen, der sich aber in der nachrevolutionären sowjetischen Gesellschaft bestens zu behaupten weiß.

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Vgl. G. Brunner Ungricht, a.a.O., S. 37f. M. A. Bulgakov, Sobacˇ’e serdce, in: Ders., Sobranie socˇinenij v desjati tomach, Moskau 1995ff., Bd. III, S. 115. Mehrfach wird auf die Ähnlichkeiten von Bulgakovs Erzählung und H. G. Wells’ The Island of Dr. Moreau (Die Insel des Dr. Moreau; 1896) hingewiesen. Vgl. E. C. Proffer (1970), a.a.O., S. 61 und Ch. Rydel, Bulgakov and Wells, in: Russian Literature Triquaterly 15 (1978), S. 306f. Wells’ Experimentator Dr. Moreau versucht ebenfalls durch Organverpflanzungen, aus Tieren Menschen zu schaffen. Es entstehen hybride Zwitterwesen, die im Laufe der Zeit wieder zu Tieren degenerieren und schließlich Moreau töten. Bulgakovs Preobrazˇenskij macht dagegen seinen operativen Eingriff rückgängig und verwandelt den „Tiermenschen“ Sµarikov wieder in den Hund Sµarik.

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III. 2. Tierdichtung: Die Fabel und Gestaltungsweisen des Grotesken III. 2. 1. Die Fabel Aristoteles ordnet die Fabel der Rhetorik, nicht der Poetik zu. Sie gilt als „Überzeugungsmittel“ und „Beispiel“, um eine konkrete Situation oder ein Vorhaben anschaulich zu erklären.44 Die Tierfiguren sind vor allem Scheingewand und Maske, da die Fabel ihre Wahrheit zwar tierisch einkleidet, aber menschliche Verhaltensweisen, menschliche Denkarten und zwischenmenschliche Beziehungen zu offenbaren sowie moralisch-sittliche Wertsetzungen und politische Überzeugungen zu transportieren sucht.45 Erscheinen die Tierfiguren der Fabeldichtung zunächst aufgrund einer nur begrenzten Zuschreibung von menschlichen Charaktereigenschaften und Verhaltensweisen für die vorliegende Vergleichsstudie wenig fruchtbar, so eröffnen die Überlegungen zur Motivation für eine tierische Einkleidung „menschlicher Lehren“ doch aufschlussreiche Anknüpfungspunkte. Dem Tier scheint im Vergleich zum Menschen der Charakter ins Gesicht geschrieben. Äußere Gestalt sowie sichtbares und unveränderliches, da gattungsgemäßes Verhalten des Tieres lassen auf ein ganz bestimmtes Wesen, einen ganz bestimmten Charakter schließen.46 „Man betrachte die zahllosen Gestalten der Thiere. Wie ist doch jedes durchweg nur das Abbild seines Wollens, der sichtbare Ausdruck der Willensbestrebungen, die seinen Charakter ausmachen. Von dieser Verschiedenheit der Charaktere ist die 47 der Gestalten bloß das Bild.“ 44

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Vgl. Aristoteles, Rhetorik, übers. u. hrsg. v. G. Krapinger, Stuttgart 1999, § 1393a 21ff. Vgl. zum „Sitz der Fabel im Leben“ auch R. Dithmar, Die Fabel. Geschichte – Struktur – Didaktik, 3. Aufl., Paderborn 1974, S. 115ff. Vgl. zur „Einkleidung der Wahrheit“ ebd., S. 124ff. Der russische Satiriker M. E. SaltykovSµcˇedrin, der seit den 1860er Jahren mit fabelähnlichen Tiermärchen die zaristische Regierung angriff, prägte für die allegorische und verhüllende Redeweise, die Publizisten und Schriftsteller aufgrund der Zensur aufgezwungen wurde, den Terminus der äsopischen Sprache („e˙zopovskij jazyk“). Vgl. N. S. Asˇukin/M. G. Asˇukina, Krylatye slova, 2. Aufl., Moskau 1960, S. 685. Da Äsop nach der Überlieferung ein Sklave gewesen sein soll, wird teilweise geschlossen, dass sich Äsop seiner Fabeln bediente, um versteckt Kritik an den gesellschaftlichen Verhältnissen zu üben. Vgl. D. Arendt, a.a.O., S. 12ff. und M. Bindscheller, Das Tier in der Literatur als Mittel der Gesellschaftskritik, in: Dies., Mittelalter und Moderne. Gesammelte Schriften zur Feier des 65. Geburtstages, hrsg. v. A. Schnyder, Bern/ Stuttgart 1985, S. 383ff. Vgl. H. R. Jauß, Untersuchungen zur mittelalterlichen Tierdichtung, Tübingen 1959, S. 201 und K.-H. Fingerhut (1969), a.a.O., S. 6. A. Schopenhauer, Schriften über den Willen in der Natur, in: Ders., Sämtliche Werke, a.a.O., Bd. IV, S. 45. Siehe hierzu auch Ders., Die Welt als Wille und Vorstellung, in: Ders., Werke, a.a.O., Bd. II, S. 155f.: „Auf den obern Stufen der Objektität des Willens sehn wir die Individualität bedeutend hervortreten, besonders beim Menschen, als die große Verschiedenheit individueller Charaktere, d. h. als vollständige Persönlichkeit, schon äußerlich ausgedrückt durch stark gezeichnete individuelle Physiognomien, welche die gesammte Korporisation

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Diese „allgemein bekannte Bestandheit der (Tier-)Charaktere“ begünstigt zum einen die Identifikation mit typischen menschlichen Eigenschaften. Zum anderen befördert sie Verständnis und Erkenntnis auf Seiten des Fabellesers. „Man hört: Britannicus und Nero. Wie viele wissen, was sie hören? Wer war dieser? Wer jener? In welchem Verhältnisse stehen sie gegen einander? – Aber man hört: der Wolf und das Lamm; sogleich weiß jeder, was er höret, und weiß, wie sich das eine zu dem andern verhält. Diese Wörter, welche stracks ihre gewissen Bilder in uns erwecken, befördern die anschauende Erkenntnis, die durch jene Namen, bei welchen auch die, denen sie nicht unbekannt sind, gewiß nicht alle vollkommen 48 eben dasselbe denken, verhindert wird.“

Das gattungsgemäß-determinierte Verhalten des Tieres verweist zudem auf einen weiteren, für das Verständnis der Tierfiguren wesentlichen Bedeutungsaspekt. Im Vergleich zum Tier handelt und entscheidet der Mensch nach freiem Willen. Seine Fähigkeit zur eigenen, individuellen Lebensführung hebt ihn über ein bloß biologisches Dasein hinaus. „Die Natur thut nämlich nichts überflüssig und ist im Gebrauche der Mittel zu ihren Zwecken nicht verschwenderisch. Da sie dem Menschen Vernunft und darauf sich gründende Freiheit des Willens gab, so war das schon eine klare Anzeige ihrer Absicht in Ansehung seiner Ausstattung. Er sollte nämlich nun nicht durch Instinct geleitet, aber durch anerschaffene Kenntniß versorgt und unterrichtet sein; er sollte 49 vielmehr alles aus sich selbst herausbringen. “

Gerade die Verwendung von Tierfiguren zur Darstellung menschlicher Eigenschaften und die Überführung menschlicher Problemkonstellationen in die gattungsgemäße Welt der Tiere impliziert letztlich eine Herabsetzung und Aussetzung menschlicher Handlungs- und Entscheidungsfreiheit.50 Bereits Herder schloss vom „naturnotwendigen“ Handeln der Fabeltiere auf die unbedingte Gültigkeit moralisch-sittlicher Wertsetzungen, die der menschlichen Entscheidungs-

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mitbegreift. Diese Individualität hat bei weitem in solchem Grade kein Thier; sondern nur die obern Thiere haben einen Anstrich davon, über den jedoch der Gattungscharakter noch ganz und gar vorherrscht, eben deshalb auch nur wenig Individualphysiognomie. Je weiter abwärts, desto mehr verliert sich jede Spur von Individualcharakter in den allgemeinen der Species, deren Physiognomie auch allein übrig bleibt. Man kennt den physiologischen Charakter der Gattung, und weiß daraus genau, was vom Individuo zu erwarten steht…“ G. E. Lessing, Vom Gebrauche der Tiere in der Fabel, in: Ders., Werke und Briefe, 12 Bde., Frankfurt/M. 1989ff., Bd. IV, S. 381 (Hervh. im Orig.) sowie vorgängige Zitierung ebd., S. 380. I. Kant, Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht, in: Ders., Gesammelte Schriften, hrsg. v. d. Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften, 29 Bde., Berlin 1910ff., Bd. VIII, S. 19. Vgl. auch K. A. Ott, Lessing und La Fontaine. Vom Gebrauche der Tiere in der Fabel, in: Germanisch-romanische Monatsschrift 40 (1959), S. 242f. u. S. 250f., H. R. Jauß, a.a.O., S. 202 und K.-H. Fingerhut (1969), a.a.O., S. 6.

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freiheit entzogen sind. Das Tier, das mit Naturnotwendigkeit handle, zeige die „moralischen Gesetze der Schöpfung selbst in ihrer inneren Notwendigkeit.“51 Dieser Bedeutungszusammenhang ist auch für die Vergleichsstudie wesentlich, scheint doch das massierte Auftreten der Tierpopulationen ebenfalls einen Verlust menschlicher Handlungs- und Entscheidungsfreiheit anzuzeigen. Angesichts der vielgestaltigen und uniformierenden Massenprozesse erfährt sich der Einzelne nicht mehr als selbstbestimmtes Individuum, der sein Leben sinnhaft zu gestalten und zu reflektieren vermag. Er bleibt vielmehr, analog zur tierischen Daseinsform, einer lediglich gattungsgemäßen und triebhaft-biologischen Lebenswelt verhaftet.

III. 2. 2. Gestaltungsweisen des Grotesken Ebenso wie für die Fabel wird auch für das Phänomen des Grotesken keine geschlossene Darstellung angestrebt. Nachfolgende Ausführungen konzentrieren sich vielmehr auf einige Aspekte, die für die Themenstellung relevant sind.52 Der Begriff „Groteske“ entstammt der bildenden Kunst und bezeichnete ursprünglich, rekurrierend auf den Fundort („la grottesca“/„grottesco“ von „grotta“ – „Grotte“), eine spätantike Ausformung der Ornamentik, die eine phantasievolle Verschlingung von Gegenständlichem, Pflanzlichem, Tierischem und Menschlichem zeigt.53 Die Kritik des Vitruv vermittelt einen Eindruck dieser willkürlichen Verbindung disparater Elemente ohne logischen oder statischen Zusammenhang. Sie widerspricht der natürlichen Ordnung und weckt den Eindruck des Monströsen (lat. „monstrosus“ – „ungeheuerlich“, „widernatürlich“, „unnatürlich“). „… all diese Motive, die aus der Wirklichkeit stammen, werden jetzt von einer unbilligen Mode verworfen. Denn an die Wand malt man jetzt lieber Monstren als klare Abbilder der dinglichen Welt. Statt der Säulen malt man geriefelte Stengel mit krausen Blättern und Voluten, statt der Giebel Zierwerk, ebenso Kandelaber, die gemalte Ädikulen tragen. Auf deren Giebeln wachsen aus Wurzeln sich ein- und ausrollende zarte Blumen, auf denen ganz sinnlose Figürchen sitzen. Und schließlich tragen die Stengelchen gar Halbfiguren, die einen mit Menschen-, die anderen 51

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Zitiert nach E. Winkler, Das Kunstproblem der Tierdichtung, besonders der Fabel, in: W. Meyer-Lübke (Hg.), Hauptfragen der Romanistik. Festschrift für Ph. A. Becker, Heidelberg 1922, S. 289 (Anm. 1). Zu einer grundlegenden und umfassenden Darstellung des Grotesken vgl. insbesondere W. Kayser, Das Groteske. Seine Gestaltung in Malerei und Dichtung, Reinbek b. Hamburg 1960. Ausgrabungsstücke, gefunden in Italien Ende des 15. Jahrhunderts, zeigten diese Art der Ornamentik. Im 16. Jahrhundert findet das Groteske als ästhetische Kategorie Eingang in die Kunstwissenschaft und im 18. Jahrhundert auch in die Literaturwissenschaft. Vgl. ebd., S. 14ff.

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mit Tierköpfen. Solches Zeug aber gibt es nicht, wird es niemals geben und hat es 54 auch nicht gegeben.“

Die Verbindung beziehungsweise Vermischung des Disparaten, die Montage von Belebtem und Unbelebtem, von Tierischem und Menschlichem ist ein wesentlicher Grundzug des Grotesken.55 Da diese widernatürliche Vereinigung des Unvereinbaren im Widerspruch zur gewohnten Ordnung steht, bewirkt das Erleben des Grotesken einen Verlust der Orientierung. Angesichts einer verfremdeten, scheinbar aus den Fugen geratenen Welt versagen gängige Muster der Weltorientierung und Sinnzuschreibung. „Uns aber ergab es sich als das Wesen des Grotesken, daß es sich nicht um ein unverbindliches Eigenreich und völlig freies Phantasieren handelt […] Die groteske Welt ist unsere Welt – und ist es nicht. Das mit dem Lachen vermischte Grauen hat seinen Grund eben in der Erfahrung, daß unsere vertraute und scheinbar in fester Ordnung ruhende Welt sich unter dem Einbruch abgründiger Mächte verfremdet 56 hat, aus Fugen und Formen gerät und sich in ihren Ordnungen auflöst.“

Für G. Mensching, der sich im Gegensatz zu Kaysers vornehmlich rezipientenorientierter Bestimmung um ein objektivierbares Beschreibungsmodell des Grotesken bemüht57 , finden groteske Struktur und Orientierungsverlust einen formalen Niederschlag im Wechsel beziehungsweise in der Vermischung disparater Darstellungsebenen. „Der Boden, den der Getäuschte unter den Füßen verliert, ist die jeweilige Ebene der Betrachtung, die durch die Überlagerung einer anderen relativiert wird, der Einbruch des Grauens, des ‚spukhaften Es‘, der das Thema des Grotesken ist, findet seinen formalen Niederschlag in der Vereinigung disparater Darstellungsebenen. Das Wesen des Grotesken ist Zwitterhaftigkeit, Täuschung und Irreführung; nicht nur ist auf die Dinge kein Verlaß mehr, von denen berichtet wird, sondern vor al58 lem auf die Darstellung nicht mehr, der man nicht vertrauen darf,…“

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Zitiert nach ebd., S. 14. Vgl. ebd., S. 17, 38, 63 u. ö. Siehe auch die Ausführungen Th. F. v. Vischers: „Mechanismen, Pflanzen, Tiere werden zu Menschen und umgekehrt, sei es durch deutliche Verbindung von Gliedern und Teilen dieser verschiedenen Reiche, sei es durch unbestimmteres Hinüberspielen.“ Th. F. v. Vischer, Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen, hrsg. v. R. Vischer, 6 Bde., 2. Aufl., München 1922f., Bd. IV, S. 493. W. Kayser (1960), a.a.O., S. 27. Vgl. auch ebd., S. 137. Zur Problematik einer vornehmlich psychologisch-wirkungsorientierten Bestimmung des Grotesken vgl. ebd., S. 134. G. Mensching, Das Groteske im modernen Drama. Dargestellt an ausgewählten Beispielen, Bonn 1961 (Diss.), S. 34. Mensching nennt beispielhaft die Darstellungsebenen der Realistik, der Phantastik, des Komischen oder Tragischen. Die jeweilige Art und Weise der Darstellung ermöglicht es dem Aufnehmenden, sich auf die für das Verständnis des Werks adäquate Betrachtungsebene einzustellen. Vgl. ebd., S. 29f.

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Auch Bulgakovs Erzählung Sobacˇ’e serdce, deren Untertitel „cˇudovisˇcnˇ aja istorija“ („eine ungeheuerliche Geschichte“) bereits auf das Ungeheuerlich-Monströse des Geschehens hinweist59 , zeigt Ansätze eines so bestimmten grotesken Kompositionsprinzips. Dieses erwächst aus der Gegenüberstellung des „menschlichen“ Straßenköters Sµarik und des „hündischen“ Menschen Poligraf Poligrafovicˇ Sµarikov. Der erste Teil der Erzählung zeigt den Hund durch den Kunstgriff des inneren Monologs als menschenähnliches Wesen, das über seine Situation und sein Schicksal zu reflektieren vermag.60 Der vermeintlich höher entwickelte Mensch Sµarikov des zweiten Teils erweist sich dagegen aufgrund seines allein instinktund triebhaften Verhaltens als Tier. Der zwitterhafte Sµarikov ist der äußeren Erscheinung nach ein Mensch, charakterlich aber ein Straßenköter im moralischen Sinne.61 Der Kompositionsgroteske entspricht auf der Mikroebene eines Kunstwerks die Stilgroteske. Eine grundlegende und für die Vergleichsstudie wesentliche Eigenschaft grotesken Stils sind Wortverbindungen, welche die Grenze zwischen Belebtem und Unbelebtem oder zwischen Tierischem und Menschlichem verrücken, diese disparaten Bereiche miteinander vertauschen oder vermischen. Hervorgerufen wird dies durch eine reduzierende Verdinglichung des Belebten, mit der eine Personifizierung des Unbelebten korrespondiert. Nur graduell unterscheidet sich hiervon die bereits für die Kompositionsstruktur von Bulgakovs Sobacˇ ’ e serdce funktionale Vertierung des Menschlichen und Anthropomorphisierung des Tierischen.62 Zwei Beispiele mögen diese Spielart grotesken Stils veranschaulichen. In Gogol’s Erzählung Nevskij Prospekt (1835) gehen auf der Petersburger Prachtstraße keine Menschen, sondern Backen- und Schnurrbärte, Hüte, Kleider, 59

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Mit einem aus der Odyssee entnommenen Vers stellte bereits A. N. Radisˇcˇev seinen sozialkritischen Reiseroman Putesˇestvie iz Peterburga v Moskvu (Reise von Petersburg nach Moskau; 1790/1905), der ein ungeschminktes Bild der Lebensverhältnisse unter der absolutistischen Regierung Katharinas II. zeichnet, unter das Motto des Ungeheuerlichen und Tierisch-Monströsen: „Çudiwe oblo, ozorno, ogromno, stozevno i laäj.“ Hinsichtlich der verfremdenden Tierperspektive seien als prominente Vorläufer zu Bulgakovs Sobacˇ’e serdce L. N. Tolstojs Cholstomer. Istorija odnoj losˇadi (Der Leinwandmesser. Geschichte eines Pferdes; 1863/1885), A. P. Cµechovs Kasˇtanka (1887), Gogol’s Zapiski sumassˇedsˇego (Aufzeichnungen eines Wahnsinnigen; 1835), Zamjatins Glaza (Die Augen; 1918) und M. de Cervantes El Coloquio de los perros (Zwiegespräch der Hunde; 1613) sowie Hoffmanns Nachrichten von den neuesten Schicksalen des Hundes Berganza (1814) und Lebensansichten des Katers Murr (1819 u. 1821) genannt. Auch G. N. Vladimovs 1975 veröffentlichter Roman Vernyj Ruslan. Istorija karaul’noj sobaki (Die Geschichte vom treuen Wachhund Ruslan) ist aus der Perspektive eines Wachhundes erzählt, der nach Auflösung eines sibirischen Gefangenenlagers seiner Aufgabe und Bestimmung verlustig geht, seine andressierten Wachhundreflexe aber nicht abzulegen und sich seiner veränderten Lebenswelt nicht anzupassen vermag. Vladimovs Roman zeigt sich somit als sozialkritisches Gleichnis auf den zum willenlosen Befehlsempfänger erzogenen Menschen. Vgl. ausführlicher V. Levin, a.a.O., S. 38ff. Vgl. ebd., S. 20ff. und H. Günther, Das Groteske bei N. V. Gogol’. Formen und Funktionen, München 1968, S. 54f. Zu weiteren Ausformungen und Kennzeichen grotesken Stils vgl. ebd., S. 43f.

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Tücher und Taillen spazieren. Zudem fühlt sich der Erzähler beim Anblick des menschlichen Treibens an das Gewimmel von Insekten erinnert. „Vy zdes´ [na Nevskom prospekte; Anm. M. M.] vstretite bakenbardy edinstvennye, propuwennye s neobyknovennym i izumitel´nym iskusstvom pod galstux, bakenbardy barxatnye, atlasnye, çernye kak sobol´ ili ugol´, no, uvy, prinadleΩawie tol´ko odnoj inostrannoj kollegii. […] Zdes´ vy vstretite usy çudnye, nikakim perom, nikakoü kist´ü neizobrazimye; usy, kotorym posväwena luç‚aä polovina Ωizni […] Tysäçi sortov ‚läpok, plat´ev, platkov pestryx, legkix, k kotorym inogda v teçenie celyx dvux dnej soxranäetsä priväzannost´ ix vladetel´nic, oslepät xot´ kogo na Nevskom prospekte. KaΩetsä, kak budto celoe more motyl´kov podnälos´ vdrug so steblej i volnuetsä blestäweü tuçeü nad 63 çernymi Ωukami muΩeskogo pola. Zdes´ vy vstretite takie talii,…“

In Belyjs Roman Peterburg wird die den Nevskij Prospekt bevölkernde Menschenmenge wiederholt reduzierend als „menschlicher Tausendfüßler“ („ljudskaja mnogonozˇka“64 ) oder als Ansammlung, Schwarm („mnogotysjacˇnye roi kotelkov“) und Strom von Hüten („tok kotelkov“)65 geschildert. Die ersetzende Beschreibung der menschlichen Gestalt durch Kleidungsstücke und Körperteile bewirkt eine Reduzierung des Menschlichen auf das bloß Dinghaft-Äußerliche. Gleichzeitig scheinen sich Kleidungsstücke und Körperteile verselbständigt zu haben, so dass der Eindruck eines seelenlosen, nur marionettenhaften Daseins der Großstadtbevölkerung noch verstärkt wird.66 Gogol’ selbst verweist in einer frühen Fassung seiner Erzählung auf die satirische Funktion der verdinglichenden Stilgroteske. Der Nevskij Prospekt ist der „Laufsteg“ einer entindividualisierten Gesellschaft, die nur an Äußerlichkeiten interessiert ist. „No Ωivopisec xarakterov, rezkij nablüdatel´ otliçij, lopnet s dosady, esli zaxoçet ego [Nevskij prospekt; Anm. M. M.] izobrazit´ v Ωivyx ognennyx çertax. Nikakoj rezkoj osobennosti! nikakogo priznaka indi67 vidual´nosti!“

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N. V. Gogol’, Nevskij prospekt, in: Ders., Polnoe sobranie socˇinenij, a.a.O., Bd. III, S. 12. A. Belyj, Peterburg, a.a.O., Teil I, S. 36. Vgl. auch ebd., Teil I, S. 103 u. Teil II, S. 74, 83 u. 84. Vgl. ebd., Teil II, S. 72 u. 83. Vgl. ausführlich zur grotesken Gestaltungsweise in Gogol’s Erzählung Nevskij prospekt H. Günther (1968), a.a.O., S. 125ff. N. V. Gogol’, Varianty k „Nevskomu prospektu“, in: Ders., Polnoe sobranie socˇinenij, a.a.O., Bd. III, S. 339.

IV. Biographische und werkgeschichtliche Notizen IV. 1. Michail A. Bulgakov (1891 bis 1940) Im Sommer 1924 erwog der Moskauer Verlag Nedra, Bulgakovs Roman Belaja Gvardija (Die weiße Garde), der das Schicksal der Kiever Familie Turbin zur Zeit des russischen Bürgerkriegs schildert, zu veröffentlichen. Aus „ideologischen Gründen“ wurde aber von einer Publikation abgesehen.1 Beim Anblick des enttäuschten Bulgakov soll der Redaktionssekretär P. N. Zajcev nach einer anderen Arbeit Bulgakovs gefragt haben, die gewissermaßen als Ersatz für den Roman veröffentlicht werden könnte. Bulgakov stellte Zajcev seine weitgehend fertig gestellte phantastische Erzählung Rokovye Jajca in Aussicht. „– Est´ u menä poçti gotovaä povest´… fantastiçeskaä… […] – Çerez nedelü ili poltory nedeli ona budet u vas, – otvetil on [Bulgakov; Anm. M. M.] […] Çerez nedelü on prines v redakciü rukopis´ svoj novoj povesti – Roko2 vye Äjca …“

Eine Tagebuchaufzeichnung vom Dezember 1924 zeigt allerdings, dass Bulgakov seine im Oktober beendete Erzählung für unausgereift hielt und an der Qualität der Arbeit zweifelte. „Veçerom u Nikitinoj çital svoü povest´ ,Rokovye äjca‘. Kogda ‚el tuda, rebäçeskoe Ωelanie otliçit´sä i blesnut´, a ottuda – sloΩnoe çuvstvo. Çto qto? Fel´eton? Ili derzost´? A moΩet byt´, ser´eznoe? Togda ne 3 vypeçennoe.“

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Vgl. M. O. Cµudakova, a.a.O., S. 229f. Teile des Romans Belaja Gvardija wurden schließlich 1925 in der Zeitschrift Rossija veröffentlicht. Vgl. ebd., S. 253. Auf der Grundlage des Romans entstand 1925/26 das Theaterstück Dni Turbinych (Die Tage der Turbins; UA 1926). Zitiert nach ebd., S. 230f. M. A. Bulgakov, Dnevnik, a.a.O., S. 81. Die von Bulgakov erwähnte E. F. Nikitina war Literaturhistorikerin und organisierte den Verlag „Nikitinskie subbotniki“ sowie die gleichnamigen Lesungen. Vgl. ebd., S. 117f. Milne teilt in gewisser Weise Bulgakovs Einschätzung und sieht die Erzählung Rokovye Jajca als Fortsetzung von Bulgakovs Nakanunue-Feuilletons, die wiederholt das großstädtische Treiben Moskaus während der NE∆P-Periode schildern. Vgl. L. Milne, a.a.O., S. 46. Die NE∆P („Novaja E∆konomicˇeskaja Politika“) war ein von Lenin 1921 eingeführtes Wirtschaftsprogramm, das den radikalen Wirtschaftszentralismus des Kriegskommunismus ablöste. Bauern konnten einen Teil ihrer überschüssigen Erträge verkaufen, freier Binnenhandel und Kleinunternehmertum wurden wieder zugelassen. Ebenso erhielten auch Ausländer Konzessionen zur Gründung von Unternehmen. Stalin beendete 1927/28 die NE∆P und forcierte die Industrialisierung und Kollektivierung. Vgl. G. v. Rauch, Geschichte der Sowjetunion, 8., verb. u. erw. Aufl., Stuttgart 1990, S. 149f. u. 205ff.

Biographische Notizen

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Obgleich die Redaktion des Almanachs Nedra Bulgakovs Rokovye Jajca wohl für weniger problematisch erachtete als den Roman Belaja Gvardija, forderte der verantwortliche Redakteur N. S. Angarskij Bulgakov auf, mehrere Textstellen aus Zensurgründen zu überarbeiten. „Segodnä den´ potratil na to, çtoby poluçit´ 100 rublej v ,Nedrax‘. Bol´‚ie zatrudneniä s moej povest´ü-groteskom ,Rokovye äjca‘. Angarskij podçerknul mest 20, kotorye nado po cenzurnym soobraΩeniäm izmenit´. Projdet li censuru. V povest´ isporçen konec, p[otomu] ç[to] 4 pisal ä ee naspex.“

Bulgakov spricht hier den seiner Ansicht nach unbefriedigenden Schluss der Erzählung an. Auch Gor’kij, der die Erzählung als gelungenes Abbild der „phantastischen NE∆P-Periode“ lobte, „die das Unreale, Halbphantastische, Teuflisch-Russische in seinem ganzen Ausmaß zeige“5 , kritisierte den Erzählschluss. „Bulgakov oçen´ ponravilsä mne, oçen´, no on sdelal konec rassskaza ploxo. Poxod presmykaüwixsä na Moskvu ne ispol´zovan, a podumajte, ka6 kaä qto çudoviwno interesnaä kartina!“

Tatsächlich hatte Bulgakov als Variante sowohl die Invasion der Reptilien als auch die Evakuierung der Moskauer Bevölkerung erwogen.7 Das Schlussbild sollte möglicherweise eine monströse Schlange zeigen, die sich um den Glockenturm des Ivan Velikij windet.8 Im Februar 1925 erschien Bulgakovs Erzählung schließlich unter dem Titel Rokovye Jajca im sechsten Band des Nedra-Almanachs.9 Fast zeitgleich mit dieser Veröffentlichung wurde sie gekürzt in der Zeitschrift Krasnaja panorama als Fortsetzung abwechselnd unter dem Titel Krasnyj lucˇ (Der rote Strahl) und Lucˇ zˇizni (Der Strahl des Lebens) publiziert.10 Das Verlagshaus Nedra gab zudem im 4 5 6 7

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M. A. Bulgakov, Dnevnik, a.a.O., S. 71. Vgl. M. Gorkij, Brief an M. Slonimskij vom 31. März 1925, in: I. S. Zil’bersˇtejn/E. B. Tager (Hgg.), Gor’kij i sovetskie pisateli. Neizdannaja perepiska, Moskau 1963, S. 387. M. Gor’kij, Brief an M. Slonimskij vom 8. Mai 1925, in: I. S. Zil’bersˇtejn/E. B. Tager (Hgg.), a.a.O., S. 389. Laut Aussage des Schriftstellers V. A. Levsˇin soll Bulgakov während eines Telefonats mit der Nedra-Redaktion diesen Erzählschluss vorgeschlagen haben. Vgl. M. O. Cµudakova, a.a.O., S. 231. Vgl. S. V. Nikol’skij (2001), a.a.O., S. 32. Zunächst hatte Bulgakov die Erzählung in der Entstehungsphase noch mit dem Titel Jajca Professora Persikova (Professor Persikovs Eier) versehen. Vgl. L. K. Parsˇin, Cµertovsˇcˇina v amerikanskom posol’stve v Moskve, ili 13 zagadok Michaila Bulgakova, Moskau 1991, S. 150. Vgl. E. C. Haber (1998), a.a.O., S. 269 (Anm. 32) und A. C. Wright, Mikhail Bulgakov: Life and Interpretation, Toronto 1978, S. 54. Als die Erzählung von September bis November 1950 in der Pariser Zeitung Russkaja Mysl’ als Fortsetzung abgedruckt wurde, war sie in An-

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Biographische Notizen

Juli 1925 eine Erzählsammlung Bulgakovs mit dem Titel D’javoliada (Teufeleien) heraus, die neben Rokovye jajca die bereits zuvor in verschiedenen Zeitungen und Zeitschriften veröffentlichten Erzählungen Dom No. 13 E∆lpit – Rabkommuna (Die Arbeiterkommune im Elpit-Haus; 1922), Pochozˇdenie Cµicˇikova. Poe˙ma v 2-ch punktach s prologom i s e˙pilogom (Die Abenteuer Cµicˇikovs. Poem in zwei Punkten mit einem Prolog und Epilog; 1922)11 , Kitajskaja istorija (Eine chinesische Geschichte; 1923) und D’javoliada (Teufeleien; 1924) enthielt. Bereits kurz nach ihrem Erscheinen wurde die Sammlung allerdings wieder konfisziert, im April 1926 aber doch eine zweite Auflage genehmigt.12 Mit den ersten Veröffentlichungen setzten feindliche Kampagnen gegen Bulgakov ein. Kritiker, wie beispielsweise der einflussreiche Literaturpolitiker und führende Funktionär der proletarischen Schriftstellerorganisation RAPP L. L. Averbach, warfen Bulgakov vor, er transportiere in seinen Texten eine vornehmlich negative Einstellung gegenüber der neuen Gesellschaftsordnung. „Die Geschichten von M. Bulgakov formen ein Ganzes; sie haben eine bestimmte Atmosphäre und ein bestimmtes Thema. Dieses Thema ist die Absurdität, die Verwirrung und die Ziellosigkeit des sowjetischen Lebens, und das Chaos, das aus den 13 kommunistischen Versuchen erwächst, eine neue Gesellschaft zu schaffen.“

Die Erzählung Rokovye Jajca provozierte ablehnende Äußerungen, da sie aufgrund der roten Farbe des Strahls vor allem als Satire auf die Revolution verstanden wurde. „Opravdana li togda vsä velikaä Oktäbr´skaä revolüciä? Otvetom na qtot vopros sluΩit ,velikaä utopiä‘ Bulgakova – ,Rokovye äjca‘. V utopii obyçno vkladyvali bol´‚uü ideü, ideü gräduwego osvoboΩdeniä ili gräduwej gibeli, ideü velikoj radosti ili velikogo uΩasa. No v ,utopii‘ Bulgakova i nameka net na çto-nibud´ znaçitel´noe ili velikoe. Filosofiä ee tak nesloΩna, kak antisovetskij anekdot s Suxarevki. […]

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lehnung an die Hauptfigur Aleksandr Semenovicˇ Rokk fälscherlicherweise mit Rokkovy jajca (Rokks Eier) betitelt. Vgl. ebd., S. 54. Die Erzählung Pochozˇdenie Cµicˇikova verweist schon im Titel auf Gogol’s Roman Pochozˇdenie Cµicˇikova ili Mertvye dusˇi (Die Abenteuer Cµicˇikovs oder die Toten Seelen; 1842). Bei Bulgakov setzen Cµicˇikov und einige weitere Figuren aus Gogol’s Toten Seelen ihre Betrügereien im Moskau der NE∆P-Periode fort. Vgl. M. O. Cµudakova, a.a.O., S. 255f. L. L. Averbach, Rezension des Erzählbandes D’javoliada, in: Izvestija vom 20. September 1925, S. 4. Zitiert und übersetzt nach H. H. Partridge, a.a.O., S. 91. Averbach wurde wie ein weiterer scharfer Kritiker Bulgakovs, V. M. Kirsˇon, Ende der 1930er Jahre selbst Opfer verschiedener „Säuberungsaktionen“ innerhalb der RAPP. Bulgakov wurde aufgefordert, an den öffentlichen Verurteilungen seiner Gegner teilzunehmen, was er aber ablehnte. Vgl. R. Schröder, Literaturgeschichtliche Anmerkungen, in: M. A. Bulgakov, Gesammelte Werke, 13 Bde., Berlin 1994, Bd. X, S. 215f.

Biographische Notizen

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Politiçeskij smysl utopii äsen: revolüciä porodila ,gadov‘, ot kotoryx my spasemsä tol´ko razve takim çudom, kak 18-gradusnyj moroz v av14 guste. V ,Rokovyx äjcax‘ zaver‚enie tvorçeskogo puti Bulgakova.“

Positive Bewertungen heben dagegen gerade auf die zeitgemäße Darstellung des modernen Lebens ab. Bulgakov zeichne in Rokovye Jajca das Bild einer dynamischen und wahren „Neuen Welt“. „Povest´ Bulgakova – qto ne prosto ,legkoe çtenie‘. Lica, tipy, kartiny – vse qto nevol´no zapominaetsä, vse qto zlobodnevno i metko. […] Vsem çitav‚im povest´ Bulgakova ä zadam odin vopros: kakoe ostalos´ u nix vpeçatlenie ot na‚ego ,zavtra‘, izobraΩennogo v povesti ,Rokovye Äjca‘? Proizvelo li na nix qto ,zavtra‘ gnetuwee, upadoçniçeskoe vpeçatlenie? Po moemu skromnomu mneniü, edva li sumeet kakoj-nibud´ avtor utopiçeskogo, r-r-re-volücionnogo romana zaronit´ v svoix çitatelej takoe 15 Ωe çuvstvo moguçej Ωizneradostnoj strany, istinnogo Novogo Sveta.“

Ob der Kritik an Bulgakovs Erzählband wurden schließlich auch Übersetzungsangebote aus dem Ausland nicht wahrgenommen. „Povest´ Va‚u ä po priezde v Venu proçel ewe raz: soderΩanie ee moΩet byt´ istolkovano v neblagopriätnom dlä SSSR smysle, i ä perere‚il: 16 po-moemu, izdavat´ ee vne SSSR na inostrannom äzyke ne stoit!“

Nach der Veröffentlichung von Rokovye Jajca war für den siebten und achten Band des Nedra-Almanachs die Publikation von Bulgakovs bereits erwähnter Er-

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I. M. Nusinov, Put’ M. Bulgakova, in: Pecˇat’ i Revolucija 4 (1929), S. 47. Der komische und satirische Effekt wird durch die redundante Nennung des Farbadjektivs „rot“ noch verstärkt. So weilt Rokk im Hotel „Rotes Paris“ (vgl. RJ, VIII, 354), als er auf die Idee verfällt, mit Hilfe des roten Strahls eine neue Hühnerpopulation zu züchten. Der Reporter Bronskij arbeitet für die Zeitungen „Rotes Flämmchen“, „Roter Pfeffer“, „Rote Zeitschrift“, „Roter Scheinwerfer“ und „Rotes Moskau am Abend“. Zudem gibt in Bulgakovs Erzählung die GPU die satirische Zeitschrift „Roter Rabe“ („Krasnyj voron“) heraus, für die Bronskij ebenfalls tätig ist (vgl. RJ, IV, 317f.). Tatsächlich existierte in der NE∆P-Zeit eine satirische Zeitschrift mit diesem Titel. Bemerkt sei, dass der Wagen, mit dem die Geheimpolizei Verhaftete abtransportieren ließ, umgangssprachlich auch als „Schwarzer Rabe“ („cˇernyj voron“) bezeichnet wurde. L-v, „Nedra“ – Kniga sˇestaja, in: Novyj mir 6 (1925), S. 152. Lobend erwähnt auch Zamjatin die Modernität von Bulgakovs Erzählungen. Vgl. E. I. Zamjatin, O segodnjasˇem i sovremennom, in: Ders., Socˇinenija, a.a.O., Bd. III, S. 144. Zu weiteren Kritiken vgl. insbesondere V. V. Gudkova, Povesti Michaila Bulgakova, in: M. A. Bulgakov, Sobranie socˇinenij v pjati tomach, Moskau 1989, Bd. II, S. 670ff. D. Umanskij, Brief an M. A. Bulgakov vom 10. November 1925. Zitiert nach M. O. Cµudakova, a.a.O., S. 253. Eine Tagebucheintragung Bulgakovs vom Dezember 1924 zeigt, dass Angarskij bereits vor der Veröffentlichung der Erzählung ein Übersetzungsangebot u. a. in Berlin aufgetan hatte. Vgl. M. A. Bulgakov, Dnevnik, a.a.O., S. 80.

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Biographische Notizen

zählung Sobacˇ’e serdce vorgesehen. Allerdings zogen sich die Probleme mit der Zensurbehörde bis ins Frühjahr 1926 hin, und im Mai desselben Jahres wurde Bulgakovs Wohnung durchsucht. Sowohl Bulgakovs Tagebücher als auch das Manuskript der Erzählung wurden konfisziert.17 Im Zusammenhang mit der operativen Verwandlung des Straßenköters Sµarik in Sobacˇ’e serdce ist bereits auf die thematische Nähe zu Wells’ The Island of Dr. Moreau hingewiesen worden. Bulgakovs Rokovye Jajca zeigen nun ebenfalls Parallelen zu einem Wells-Roman. Dessen The Food of the Gods (Die Nahrung der Götter; 1904) wird von Persikovs Assistenten Ivanov sogar explizit erwähnt. „Vy ponimaete, – prodolΩal on [Ivanov, Anm. M. M.] strastno, – Vladimir Ipat´iç, geroj Uql´sa po sravneniü s vami prosto vzdor… A ä-to dumal, çto qto skazki… Vy pomnite ego ,Piwu bogov‘?“ (RJ, III, 316).

Wells’ Forscher Bensington entdeckt die Wachstumsnahrung „Herakleophorbia“. Ergebnis seiner Experimente sind monströse Tiere von übernatürlicher Kraft und Größe, die schließlich die menschliche Bevölkerung bedrohen und töten. Im Gegensatz zu Bulgakovs Rokovye Jajca ist es aber nicht ein unvorhergesehener Frost im Hochsommer, sondern ein Forscherkollege Bensingtons, der die Tiere tötet und eine Katastrophe abwendet. Zudem entgeht Bensington, anders als Persikov, dem Volkszorn und verbringt schließlich seinen Lebensabend auf dem Lande.18 Bemerkt sei, dass in Wells’ The Food of the Gods im Zusammenhang mit der versuchten Lynchjustiz eines rasenden Mobs auch Le Bon und seine Massenpsychologie Erwähnung finden. „The attempt to lynch him [Bensington; Anm. M. M.] that followed is just one of those explosive events that bulk largely in history and are in reality the least significant of occurrences. The history of outbreak is a mystery. The nucleus of the crowd certainly came from an Anti-Boomfood meeting in Hyde Park organised by extremists of the Caterham party, but there seems no one in the world who actually first proposed, no one who ever first hinted a suggestion of the outrage at which so many people assisted. It is a 19 problem for M. Gustave Le Bon, a mystery in the psychology of crowds.“

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Vgl. M. O. Cµudakova, a.a.O., S. 257f. Die Erzählung wurde schließlich erstmals 1968 in der Bundesrepublik Deutschland in der russischsprachigen Exilzeitschrift Grani (Nr. 69) veröffentlicht. In der Sowjetunion konnte Sobacˇ’e serdce erst 1987 in der Zeitschrift Znamja (Nr. 6) publiziert werden. Vgl. zu Parallelen und Unterschieden von Bulgakovs Rokovye Jajca und Wells’ The Food of the Gods auch Ch. Rydel, a.a.O., S. 294ff. Insbesondere über die Figur Persikovs bestehen zudem Ähnlichkeiten zu Belyjs Roman Moskva (Moskau; 1926). Vgl. hierzu L. Fialkova, Moskva v proizvedenijach M. Bulgakova i A. Belogo, in: A. A. Ninov (Hg.), a.a.O., S. 358ff. H. G. Wells, The Food of the Gods, in: Ders., The Works of H. G. Wells, 28 Bde., London 1924, Bd. V., S. 139.

Biographische Notizen

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Sowohl die Entdeckung des roten Strahls in Rokovye Jajca als auch die Organverpflanzungen in Sobacˇ’e serdce zeigen Bulgakovs Interesse für wissenschaftliche Hypothesen und ihre Folgen, wie dies aus der „science-fiction“-Literatur bekannt ist. Grund hierfür mag wohl auch Bulgakovs eigene naturwissenschaftliche Ausbildung gewesen sein. Er hatte Medizin studiert und als Arzt gearbeitet, gab den Beruf aber Anfang 1920 auf, um sich ausschließlich der Literatur zuzuwenden.20 Eine weitere Anregung für die Erzählung Rokovye Jajca könnte der Schriftsteller M. A. Volosˇin gegeben haben. Er hatte Bulgakov 1921 einen Zeitungsausschnitt zugeschickt, der von einem riesigen Reptil („ogrommnyj gad“) auf der Krim berichtete, zu dessen Ergreifung sogar eine Einheit der Roten Armee entsandt wurde.21 Bekannt war Bulgakov wohl auch das Gerücht von einem violetten Strahl der französischen Armee, der die Bolschewiki blenden sollte. Zu finden ist die Anekdote in V. B. Sµklovskijs „Sentimentaler Reise“ (Sentimental’noe putesˇestvie; 1923) durch die Katastrophen des bolschewistischen Umbruchs und russischen Bürgerkriegs, wobei Sµklovskij zudem eine phantastische Affenarmee erwähnt, die angeblich von den Engländern gegen die Bolschewiki in Stellung gebracht wurde.22 „Razskazyvali, çto u francuzovß est´ f¡oletovyj luçß, kotorymß oni mogutß osl™pit´ vs™xß bol´‚evikovß, i Borisß Mirsk¡j napisalß obß qtomß luç™ fel´etonß ,Bol´naä krasavica‘. Krasavica – staryj m¡rß, kotoryj nuΩno leçit´ f¡oletovymß luçemß. I nikogda ran´‚e takß ne boälis´ bol´‚evikovß, kakß vß to vremä. […] Razskazyvali, çto angliçane – razskazyvali qto lüdi ne bol´nye – çto angliçane uΩe vysadili vß Baku stada obez´änß, obuçennyxß vs™mß pravilamß voennago stroä. Razskazyvali, çto qtixß obez´änß nel´zä raspropagandirovat´, çto idutß oni vß ataki bezß straxa, çto oni pob™dätß bol´23 ‚evikovß.“

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Bulgakov spricht in diesem Zusammenhang von einem seelischen Umbruchprozess: „PereΩil du‚evnyj perelom 15 fevralä 1920 goda, kogda na vsegda brosil medicinu i otdalsä literature.“ Zitiert nach M. O. Cµudakova, a.a.O., S. 99. Eine Tagebuchaufzeichnung im Herbst 1923 belegt, dass Bulgakov seine Entscheidung wiederholt in Zweifel zog: „V minuty nezdorov´ä i odinoçestva […] [g]or´ko raskaivaüs´, çto brosil medicinu i obrek sebä na nevernoe suwestvovanie. No, vidit Bog, odna tol´ko lübov´ k literature i byla priçinoj qtogo.“ M. A. Bulgakov, Dnevnik, a.a.O, S. 60. Vgl. B. V. Sokolov, Bulgakov – E∆nciklopedija, Moskau 2003, S. 405. Die Person Sµklovskij sowie dessen Bürgerkriegserlebnisse dienten Bulgakov mit als Vorlage für die Gestaltung der Figur des Sµpoljanskij in Belaja Gvardija. Vgl. L. Milne, a.a.O., S. 76, E. C. Haber (1998), a.a.O., S. 98f. und M. O. Cµudakova, a.a.O., S. 260ff. V. B. Sµklovskij, Sentimental’noe putesˇestvie. Vospominanija 1917-1922, Nachdruck d. Ausgabe Moskau/Berlin 1923, S. 233f. In G. Meyrinks kurzer Erzählung Schöpsoglobin (1907) berichtet ein gewisser Dr. Ipse seinem Freund von einer Affenarmee auf Borneo. Den Affen wurde der Impfstoff „Schöpsoglobin“ injiziert, der in den Tieren patriotische Gefühle und einen „Vaterlandsverteidigungstrieb“ weckt.

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Biographische Notizen

In L. N. Lunc’ Einakter Obez’jany idut (Die Affen kommen; 1923), der die Bedrohung Petrograds durch die Judenicˇ-Armee zum Thema hat, werden dagegen die Weißgardisten des Bürgerkriegs als gleichsam rückständige „Affen“ vorgestellt. Nach der Agitation und Mobilisierung sowohl der Figuren als auch des Publikums durch einen Lenin ähnlichen Menschen können die tierischen Gegner der Revolution allerdings besiegt werden.24 Bulgakovs Verarbeitung der Bürgerkriegsereignisse in Belaja Gvardija interessiert insbesondere wegen einer breit angelegten Massenszene. Geschildert wird das dichte Gedränge der großstädtischen Menge, die sich in und vor der Kiever Sophienkathedrale versammelt hat und den Einzug der Truppen Petljuras erwartet. Verwendung findet ein tierischer, aber vor allem naturaler Bildkomplex. Der Kathedralenvorplatz wimmelt wie ein Ameisenhaufen („Plosˇcˇad’ […] gudela i kisˇela, kak muravejnik,…“)25 . Das Volk ist eine stickige tausendköpfige Welle („dusˇnaja tysjacˇegolovaja volna“), ein schwarzer Fluss („cˇern[aja] rek[a] naroda“)26 und umfängt die Häuserwände wie eine Wolke. „Narod tuçej obmyval serye i Ωeltye steny domov,…“27 . Ebenso gleichen die Truppen Petljuras einer Wolke mit Schlangenleib und ergießen sich wie ein schmutzig-brauner Fluss in die Straßen. Mit der Verwendung des Wortes „tucˇa“ („Gewitterwolke“) im Gegensatz zum neutralen „oblako“ („Wolke“) stellt Bulgakov zusätzlich einen Bezug zur Revolutionsmetapher des Gewitters her. „To ne seraä tuça so zmeinym brüxom razlivaetsä po gorodu, to ne burye, mutnye reki tekut po starym ulicam – to sila Petlüry nesmetnaä na plo28 wad´ staroj Sofii idet na parad.“

Ab 1929 wurden Bulgakovs Texte nicht mehr gedruckt und seine Theaterstücke von den Spielplänen genommen. In einem Brief an die sowjetische Regierung vom 28. März 1930 bat Bulgakov schließlich um eine befristete Ausreise oder eine Anstellung, um seinen Lebensunterhalt sicherstellen zu können.29 Nach einem persönlichen Anruf Stalins Mitte April wurde Bulgakov schließlich zum Regieassistenten am MChAT („Moskauer Akademisches Künstlertheater“) ernannt.30 Als er sich Ende Mai 1931 neuerlich erfolglos mit der Bitte an Stalin 24 25 26 27

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Vgl. L. N. Lunc, Die Affen kommen. Erzählungen – Dramen – Essays – Briefe, hrsg. v. W. Schrieck, mit einem Vorwort v. F. Scholz, Münster 1989. M. A. Bulgakov, Belaja gvardija, in: Ders., Sobranie socˇinenij v desjati tomach, a.a.O., Bd. IV, S. 265. Ebd., S. 254 u. 260. Ebd., S. 261. Vgl. zu einem ähnlichen tierischen und naturalen Bildkomplex zur Beschreibung einer Massenszene auch M. A. Bulgakov, Benefiz lorda Kerzona, in: Ders., Sobranie socˇinenij v desjati tomach, a.a.O., Bd. I, S. 265ff. M. A. Bulgakov, Belaja gvardija, a.a.O., S. 260. Vgl. M. A. Bulgakov, Dnevnik, a.a.O., S. 222f. Stalins Anruf am 18. April 1930 muss im Zusammenhang mit Majakovskijs Selbstmord vier Tage zuvor, am 14. April 1930, gesehen werden. Auch Majakovskij war im Zuge feindlicher

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wandte, ihm aufgrund seiner stark angeschlagenen Gesundheit einen dreimonatigen Auslandsaufenthalt zu genehmigen, beschrieb er die Ursache seiner sowohl physischen als auch psychischen Zerrüttung bildhaft mit einem Tiervergleich. Er sei ein Wolf, der über mehrere Jahre in einem eng umzäunten Hof fast zu Tode gehetzt und schließlich zum Schweigen gebracht worden sei. Der wiederholte Rat, sich anzupassen, sei allerdings unsinnig, denn der Wolf werde letztlich nicht einfach zum Pudel, indem er sich das Fell färbe oder schere. „Na ‚irokom pole slovesnosti rossijskoj v SSSR ä byl odinedinstvennyj literaturnyj volk. Mne sovetovali vykrasit´ ‚kuru. Nelepyj sovet. Kra‚enyj li volk, striΩenyj li volk, on vse ravno ne poxoΩ na pudelä. S mnoj i postupili kak s volkom. I neskol´ko let gnali menä po pravilam literaturnoj sadki v ogoroΩennom dvore. Zloby ä ne imeü, no ä oçen´ ustal i v konce 1929 goda svalilsä. Ved´ i 31 zver´ moΩet ustat´.“

IV. 2. Karel Cµapek (1890 bis 1938) Va´lka s Mloky erschien zunächst vom 21. September 1935 bis zum 12. Januar 1936 als Fortsetzungsroman in der Tageszeitung Lidove´ noviny, für die Cµapek ab 1921 bis zu seinem Tod als Feuilletonist arbeitete.32 Der Verlag Frantisˇek Borovy´ veröffentlichte den Roman im Februar 1936.33 Als Va´lka s Mloky – MusicalMystery (UA 1963) adaptierte schließlich P. Kohout Cµapeks Text in den 1960er Jahren für die Bühne.34

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Kampagnen der RAPP zunehmend isoliert worden. Ein weiterer Selbstmord eines Schriftstellers war wohl aufgrund des negativen Eindrucks unbedingt zu verhindern. Vgl. G. Lauer, a.a.O., S. 614f. M. A. Bulgakov, Dnevnik, a.a.O., S. 243f. Vgl. R. Skrˇecˇek, Vydavatelské poznámky, in: K. Cµapek, Spisy, 22 Bde., Prag 1982ff., Bd. IX, S. 249. Das Manuskript hatte Cµapek allerdings erst nach Beginn des Abdrucks in den Lidové noviny am 27. September 1935 vollständig fertig gestellt. Vgl. A. Ohme, a.a.O., S. 15. Cµapeks Manuskript, der Abdruck in den Lidove´ noviny sowie die Fassung der Erstausgabe weichen teilweise erheblich voneinander ab. Skrˇecˇek, der sich im Rahmen der von der Tschechoslowakischen Akademie der Wissenschaften herausgegebenen Gesamtausgabe um die Rekonstruktion einer letztgültigen Fassung bemühte, führt zahlreiche Beispiele für diese Abweichungen an. Vgl. R. Skrˇecˇek, a.a.O., S. 249ff. Zudem existiert noch ein Typoskript, das offensichtlich die Druckvorlage für den Abdruck in den Lidové noviny war. Wie Ohme zeigt, bleibt es fraglich, bei welcher der Fassungen es sich um die tatsächlich letztgültige handelt. Vgl. A. Ohme, a.a.O., S. 15ff. Die Vergleichsstudie stützt sich aus pragmatischen Gründen auf die von Skrˇecˇek besorgte Ausgabe, die sich weitgehend an der Erstausgabe orientiert. Eine russische Bühnenfassung von V. Uspenskij, Vojna s salamandrami. Opera-pamflet v trech dejstvijach (Der Krieg mit den Molchen. Eine Opern-Pamflet in drei Akten) stammt aus dem Jahr 1985. Zudem existiert eine nicht veröffentlichte Hörspielfassung. Vgl. A. Ohme, a.a.O., S. 165f. Ebenfalls zu erwähnen ist V. Pa´rals Roman Válka s mnohozvi´rˇetem (Der

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Ursprünglich hatte Cµapek einen gesellschaftskritischen Roman über Leben und Tätigkeit eines Landarztes geplant. Als Vorlage für die Hauptfigur sollte Cµapeks Vater dienen, der bis zur Übersiedlung der Familie nach Prag 1907 im Riesengebirge als Landarzt tätig war. Da Cµapek aber keine Möglichkeit sah, im Rahmen einer ländlichen „Arztidylle“ die tatsächlichen Krankheiten der Zeit – er nennt Wirtschaftskrise, Nationalismus und Krieg – zu thematisieren, verwarf er das Romanprojekt. „… vymy´sˇlel jsem figuru hodne´hó cˇloveˇka tak trochu k podobenství sve´ho nebozˇtíka tatínka, postavu venkovske´ho le´kárˇe mezi jeho patienty; mela to by´t le´karˇska´´ idyla a za´róvenˇ kus spolecˇenske´´ pathologie. […] [A]le byl prˇílisˇ beze vztahu k nemocem a bolestem, ktery´mi trpí na´sˇ sveˇt. Myslel jsem na dobre´ho doktora, zatím co cely´ sveˇt mluvil o hospoda´rsˇ ke´ krisi, narodních expansích a budoucí val35 ce.“

Eine wesentliche Anregung zu Va´lka s Mloky verdankt Cµapek wohl P. Mac Orlans Erzählung La beˆte conquérante (Das erobernde Tier; 1920), in der ein Bauer die Hirnfunktion von Schweinen manipuliert, diese zu sprechen beginnen und menschliche Intelligenz zeigen.36 Da sich die Schweine schließlich gegen die Menschen erheben und die Herrschaft an sich reißen, lassen sich für Mac Orlans Tiermotivik auch Parallelen zu Orwells Führungskaste der Schweine feststellen. Thematische Ähnlichkeiten sind zudem zwischen Válka s Mloky und Cµapeks utopischem „Kollektivdrama“ R.U.R. (Rossum’s Universal Robots; UT – „kolektivní drama“; UA 1921) festzustellen, das wie Bulgakovs Sobacˇ’e serdce Parallelen zu Wells’ The Island of Dr. Moreau aufweist. Dem Wissenschaftler Rossum (tschech. „rozum“ – „Verstand“) gelingt es, auf einer fernen Insel einen künstlichen Menschen zu erschaffen. Rossums Sohn lässt, die Erkenntnisse seines Vaters nutzend, Roboter in Serie fertigen, die aber schließlich aufgrund technischer Manipulationen ein Gefühlsleben entwickeln und gegen ihre Herren revoltieren. Die Wortneuschöpfung „Roboter“, die mit Cµapeks Drama Eingang in unzählige Sprachen fand, leitet sich ab von tschechisch „robota“ – „Fronarbeit“ sowie „robotat“ – „Fronarbeit leisten“ und geht auf Cµapeks Bruder Josef zu-

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Krieg mit dem Multitier; 1983), der, mit einer expliziten Widmung für Cµapek versehen, eine nun weltumspannende ökologische Katastrophe schildert. Zu einer vergleichenden Betrachtung von Párals und Cµapeks Roman vgl. A. Fetters, Va´lecˇní s mloky a s mnohozvírˇetem aneb Ing. Páral versus PhDr. Cµapek, in: J. Dvorˇák/N. Mlsová (Hgg.), „Umeˇly´ cˇloveˇk“ dvaca´tého století, Hradec Králové 2000, S. 161-163. K. Cµapek, Karel Cµapek o vzniku sve´ho di´la, in: Ders., Válka s Mloky, Prag 1958, S. 254. Vgl. W. E. Harkins, Karel Cµapek, New York/London 1962, S. 96. Cµapek selbst erwähnt Mac Orlan im Zusammenhang mit seinem Interesse für Tiere in einem Zeitungsartikel. Vgl. K. Cµapek, Podle cesty, in: Ders., Spisy, a.a.O., Bd. XV, S. 148f. Als weitere mögliche Anregung ist zudem Frances gesellschaftskritischer Roman L’iˆle des Pingouins zu nennen.

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rück.37 Im Zusammenhang mit dem Roboterbild berichtet Cµapek zudem von einem eindrücklichen Erlebnis in einer überfüllten Straßenbahn. Beim Anblick der zusammengepferchten Menschenmassen habe er sich weniger an eine Schafherde erinnert, vielmehr drängte sich ihm der seiner Ansicht nach passendere Maschinenvergleich auf, denn diese Menschen seien wohl in der Lage zu arbeiten, aber nicht zu denken. „Roboti byli vy´sledkem cesty v tramvaji. Jednoho dne jsem musel jet do Prahy prˇedmeˇstkou tramvají a ta byla nepohodlneˇ plna´. Ohromilo mne, zˇe moderní pomínky ucˇinily lidi nevsˇimavy´mi k obvykle´mu zˇivotnímu pohodlí. Byli namacˇkaní uvnitrˇ i na schudka´ch tramvaje ne jako ovce, ny´brzˇ jako stroje. Pocˇal jsem prˇemy´sˇlet o lidech ne jako individuích, ale jako strojích, a po cesteˇ jsem uvazˇoval o vy´razu, ktery´ by oznacˇoval cˇloveˇka schopne´ho pracovat, nikoli vsˇak myslit. Tato 38 idea je vyja´drˇena cˇesky´m slovem – robot.“

Orwell kannte Cµapeks Theaterstück und schlug es dem Dichter und Journalisten W. J. Turner im Herbst 1943 als Aufhänger für ein Rundfunkfeature der BBC über Cµapek vor.39 Auch erwähnt Orwell Cµapeks revoltierende Roboter, die er als negatives Sinnbild sozialistischer Maschinen- und Fortschrittsbegeisterung versteht, in seinem dokumentarischen Bericht The Road to Wigan Pier (Der Weg nach Wigan Pier; 1937) über die von der Weltwirtschaftskrise schwer betroffenen Industriegebiete im Norden Englands. „But the unfortunate thing is that Socialism, as usually presented, is bound up with the idea of mechanical progress, not merely as a necessary development but as an end in itself, almost as a kind of religion. This idea is implicit in, for instance, most of the propagandist stuff that is written about the rapid mechanical advance in Soviet Russia (the Dniepr dam, tractors etc. etc.). Karel Cµapek hits it off well enough in the horrible ending of RUR, when the Robots, having slaughtered the last human being, announce their intention to ‚build many houses‘ (just for the sake of building 40 houses, you see).“

Möglich ist, dass auch Bulgakov den Inhalt des Dramas über die Vermittlung A. N. Tolstojs kannte. Tolstoj hatte 1923 eine Aufführung von Cµapeks R.U.R. in Berlin gesehen und die Thematik für sein Drama Bunt masˇin (Aufstand der Ma37

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Vgl. K. Cµapek, O solveˇ robot, in: Ders., Spisy, a.a.O., Bd. XIX, S. 503. Bereits 1908 hatten die Cµapek-Brüder gemeinsam eine Erzählung mit dem Titel Systém geschrieben, die thematisch als Vorläufer zu R.U.R. gelten kann. In seiner Fabrik versucht der amerikanische Unternehmer Ripraton, die Gedanken und das Gefühlsleben seiner Arbeiter zu kontrollieren und diese zu effizienten Arbeitsmaschinen umzuerziehen. Vgl. K. Cµapek/J. Cµapek, Systém, in: K. Cµapek, Spisy, a.a.O., Bd. II, S. 17-23. Zitiert nach S. V. Nikolskij (1978), a.a.O., S. 50. Vgl. G. Orwell, To W. J. Turner, in: Ders., The Complete Works, 20 Bde., London 1987ff., Bd. XV, S. 252. Cµapeks Va´lka s Mloky findet bei Orwell dagegen keine explizite Erwähnung. G. Orwell, The Road to Wigan Pier, in: Ders., The Complete Works, a.a.O., Bd. V, S. 175f.

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schinen; UA 1924) adaptiert. „Napisaniü qtoj p´esy pred‚estvovalo moe znakomstvo s p´esoj BUR çe‚skogo pisatelä K. Çapeka. Ä vzal u nego temu.“41 In Bulgakovs Tagebuchaufzeichnungen sind mehrere Treffen mit Tolstoj vermerkt, nachdem sich Bulgakov und Tolstoj im Frühjahr 1923 kennengelernt hatten.42 Ein expliziter Hinweis auf Cµapeks oder Tolstojs Theaterstück findet sich bei Bulgakov aber nicht.43 Aufschlussreich für die Verbindung von Massenproblematik und Tiermotivik ist das von Cµapek gemeinsam mit seinem Bruder Josef erarbeitete Theaterstück Ze zˇivota hmyzu (Aus dem Leben der Insekten; UA 1922). Die Welt der Insekten – die drei in sich geschlossenen Akte sind überschrieben mit den Titeln Schmetterlinge (Moty´li), Profitjäger (´Korˇistníci) und Ameisen (Mravenci) – ist Zerrspiegel menschlicher Verhaltensweisen und gesellschaftlicher Entwicklungen („krˇive´ zrcadlo nastavene´ cˇloveˇku“).44 Ähnlich wie schon bei Dostoevskij ist den Cµapek-Brüdern der Ameisenstaat negatives Sinnbild einer allein nach rationalistisch-tayloristischen Prinzipien organisierten Gesellschaftsordnung, so dass Cµapek die Arbeit am dritten Akt über die Ameisen auch als Vorstudie zum Robotermotiv versteht. „… ale pak se utrhne […] z Mravencu˚ vedlejsˇí mysˇlenku taylorismu pousˇtí se do psaní Robotu˚,…“45 . Der einzelnen Ameise kommt ein nur abgeleitetes Sein zu. Sie existiert lediglich als funktionierendes Teil einer großen Masse willfähriger Arbeitsameisen und geht vollständig im Dienst am übergeordneten Ameisenstaat auf. 41

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Zitiert nach S. V. Nikol’skij (2001), a.a.O., S. 77. Die 1924 veröffentlichte russische Übersetzung von Cµapeks Theaterstück trug den Titel V.U.R. (Verstandovy universal’nye rabotari), da sie nicht anhand des tschechischen Originals, sondern der deutschen Fassung angefertigt wurde, in der das Theaterstück W.U.R. (Werstands Universal Robots; 1922) heißt. Vgl. ebd., S. 82 u. 84. Wie Harkins und Nikol’skij zeigen, handelt es sich bei Tolstojs Bunt masˇin aber nicht nur um eine Themenadaption, sondern Tolstoj übernahm neben Figurenkonzeptionen auch ganze Dialogpassagen. Vgl. ebd., S. 78 und W. E. Harkins, Karel Cµapek’s R.U.R. and A. N. Tolstoj’s Revolt of the Machines, in: Slavic and East European Journal 4 (1960), S. 313. Ein Kontakt bestand bereits zuvor über die Zeitschrift Nakanune. Bulgakov arbeitete von 1922 bis 1924 für die Berliner Zeitschrift, und Tolstoj war bis 1923 der Berliner Redakteur der Literaturbeilage von Nakanune. Vgl. L. Milne, a.a.O., S. 27f. Nikol’skij geht davon aus, dass Tolstoj Bulgakov bei einem ihrer Treffen im Spätsommer 1923 von seinem und Cµapeks Theaterstück erzählte. Insbesondere in Bezug auf Bulgakovs Drama Adam i Eva (1931) versucht Nikol’skij schließlich einen künstlerischen Kontakt zu Tolstojs Bunt masˇin sowie Cµapeks R.U.R. nachzuweisen. Seine These bleibt aber trotz aufgezeigter Parallelen weitgehend spekulativ. Vgl. S. V. Nikol’skij (2001), a.a.O., S. 78 u. 85ff. Vgl. K. Cµapek, Pozna´mky k Zµivotu hmyzu. Prˇed premie´rou v Na´rodním divadle, in: Ders. Spisy, a.a.O., Bd. XVIII, S. 398. Harkins weist im Anschluss an R. Jakobson auf die Parallelen zu V. M. Garsˇins Erzählung To, cˇego ne bylo (Was niemals geschah; 1882) hin, in der verschiedene Insekten sowie Eidechse und Pferd ihr Dasein diskutieren. Garsˇins Erzählung war Anfang der 1920er Jahre ins Tschechische übersetzt worden und könnte, so Harkins, als Anregung für das Theaterstück der Cµapek-Brüder gedient haben. Vgl. W. E. Harkins (1962), a.a.O., S. 74f. Allerdings finden weder Garsˇin noch seine kurze Erzählung bei Cµapek eine explizite Erwähnung. K. Cµapek, Pozna´mky k Zµivotu hmyzu, a.a.O., S. 397.

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„První inzˇeny´r: Vsˇichni [mravenci; Anm. M. M.] musejí poslouchat. Druhy´ inzˇeny´r: Vsˇichni pracovat. Vsˇichni pro Neˇj. První inzˇeny´r: Jen On poroucˇí. Tula´k: Kdo? První inzˇeny´r: Celek. Sta´t. Na´rod. Tulák: Koukejme, to je jako u nás. My naprˇíklad máme poslance. Poslanec, to je demokracie. Máte taky poslance? První inzˇeny´r: Ne. My máme Celek. […] Tula´k: A kdo va´m vla´dne? První inzˇeny´r: Rozum. Druhy´ inzˇeny´r: Zákon. 46 První inzˇeny´r: Z´ájem sta´tu.“

Ebenfalls in Analogie zum Insektenreich vergleicht Cµapek in seinem Zeitungsartikel Pereat mundus (1934) den modernen Menschen mit einer Eintagsfliege. Geschichtslos, da allein einer immer währenden Aktualität verpflichtet, sei er unfähig zu einer individuellen und eigenverantwortlichen Daseinsverortung sowie einer dauerhaften Wertesetzung. Zwangsläufige Konsequenz dieser defizitären Verfasstheit seien eine übersteigerte Wertschätzung des Kollektiven sowie eine Begeisterung für das nur Quantitative. „Na´sˇ zˇivot se takto odehra´va´ v podivne´m krátke´m a nesouvisle´m cˇase: ve sta´le´ aktualiteˇ. Zµijeme ze dne na den, z roku na rok; […] Co bylo, je odbyto a nestalo se na´m to zˇa´dnou zkusˇeností nebo poucˇením; bylo to nadarmo, a nadarmo bude i to, co deˇla´me nebo zakousˇíme ted’. Zkrátili jsme vesˇkeren zˇivot na píd’ aktuality; […] Cµím více jsou nasˇe hodnoty jenom aktua´lní, tím je na´sˇ zˇivot kusejsˇí, efeme´rneˇjsˇí, nevrˇazeny´ do hlubsˇích souvislostí cˇasu a vy´voje; snad proto nahrazujeme trva´ní mnohostí a zasazujeme svu˚j zˇivot do souvislostí kolektivních; zˇijeme po za´konu jepicˇím, ale asponˇ tancˇíme v jepicˇích hejnech. Kolektivnost na´s zachranˇuje prˇed strasˇny´m pocitem marnosti. Místo sta´losti jsme dosadili mnozˇství; nejsou-li nasˇe 47 hodnoty trvale´, at’ jsou asponˇ hromadne´…“

Ähnlich findet sich diese Problematik auch in Cµapeks Theaterstück Bílá nemoc (Die weiße Krankheit; UA 1937) formuliert. Die todbringende Epidemie der weißen Krankheit, verstanden als „Krankheit der weißen Rasse“, ist negatives Sinnbild einer „pathologischen“ gesellschaftlichen und politischen Entwicklung, wie sie sich für Cµapek insbesondere in einer einseitigen Verpflichtung des Einzelnen auf eine kollektive Bezugsgröße als allmächtige Autorität bei gleichzeitiger Zurückweisung individueller Freiheits- und Persönlichkeitsrechte äußert.

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K. Cµapek/J. Cµapek, Ze zˇivota hmyzu, in: K. Cµapek, Spisy, a.a.O., Bd. II, S. 277. K. Cµapek, Pereat mundus, in: Ders., Spisy, a.a.O., Bd. XVI, S. 226.

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„Jak známo, v neˇktery´ch zemích a na´rodech nastoupil duch zcela jiny´; ne cˇloveˇk, ny´brzˇ trˇída, stát, na´rod nebo rasa je nositelem vsˇech práv a jediny´m prˇedmeˇtem u´cty, ale zato úcty svrchované: nic není nad ním, co by jej mravneˇ omezovalo v jeho vu˚li a právech. Stát, na´rod, rezˇim je nada´n vsˇemohoucí autoritou; jednotlivec se svou svobodou ducha a sveˇdomí, se svy´m pra´vem na zˇivot, se svy´m lidském sebeurcˇením je fyzicky i mravneˇ naprosto podrˇadeˇn takzvanému kolektivnímu, 48 ale v podstateˇ cˇisteˇ autokraticke´mu a na´silím ulozˇenému rˇádu.“

Dass Cµapek auch mit Le Bons Massenpsychologie vertraut war, zeigen sowohl einige seiner Zeitungsartikel und Essays als auch der Roman Tova´rna na absolutno (Das Absolutum oder Die Gottesfabrik; 1922), in dem es die Erfindung des sogenannten „Karburators“ erlaubt, Materie vollständig in Energie umzuwandeln. Als Nebenprodukt wird allerdings eine göttliche Kraft freigesetzt, die sich der Bevölkerung in Wundern und Erscheinungen offenbart. Die Massenproduktion des Karburators führt schließlich zu einem weltumspannenden heiligen Krieg, da jedes Volk seine Gotteserfahrung und -vorstellung intolerant absolut setzt. Als Begründung für die religiöse Fanatisierung breiter Bevölkerungsmassen lässt Cµapek die Figur des Dozenten Blahousˇ Thesen aus der Massenpsychologie anführen. So sei der Einzelne einer psychischen Ansteckung anheim gefallen, unterliege der Suggestion und zeige eine deutlich herabgesetzte Verstandesfähigkeit. „Dotkl se sˇírˇe psychicke´ na´kazy a davove´ sugesce; […] Objasnil na´bozˇenske´ hnutí posledních dnu˚ ze dvou psychologicky´ch hledisek: jako patologicke´ prˇípady u degenerovany´ch hysteriku˚ a jako kolektivní psychickou epidemii poveˇrcˇivy´ch, intelektuálneˇ me´neˇcenny´ch mas; v obou prˇípadech demonstroval […] ochabnutí 49 cˇinnosti rozumove´…“

Die Reaktion der Kirche auf die freigesetzte göttliche Kraft erinnert nicht zuletzt an Dostoevskijs Velikij Inkvizitor. Sie lehnt einen wundertätigen Gott ab, versteht sie sich doch als Institution, die den Einfluss des Göttlichen kontrolliert und reguliert. „‚… ani veˇrˇící ani neveˇrˇící lidstvo nemu˚zˇe potrˇebovat skutecˇne´ho a cˇinne´ho Boha. […] Církev Jej jenom va´zˇe a reguluje. […]‘“50 Cµapeks Artikel Vzpoura davu˚ (Der Aufstand der Massen; 1934) in der Zeitschrift Prˇítomnost verweist schließlich bereits im Titel auf Ortega y Gassets kulturkritischen Essay. Im Gegensatz zu Ortega, dessen Thesen er vorstellt und diskutiert, beunruhigt Cµapek aber weniger der Aufstieg der Massen. Zwar konstatiert 48 49

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K. Cµapek, Bíla´ nemoc. Prˇedmluva, in: Ders., Spisy, a.a.O., Bd. VII, S. 263. K. Cµapek, Tova´rna na absolutno, in: Ders., Spisy, a.a.O., Bd. III, S. 75. Im Zusammenhang mit der Massenpsychologie werden bei Cµapek neben Le Bon auch Sighele und Tarde erwähnt. Vgl. beispielhaft K. Cµapek, Spisy, a.a.O., Bd. XVII, S. 294 und Bd. XVII, S. 366. K. Cµapek, Tova´rna na absolutno, a.a.O., S. 39. (Hervh. im Orig.). Cµapek selbst spricht angesichts der Kritik an Tova´rna na absolutno davon, dass ihm bei einer Neufassung des Romans Dostoevskijs Großinquisitor gewissermaßen als Vorlage dienen würde. Vgl. K. Cµapek, Nemohu mlcˇet, in: Ders., Spisy, a.a.O., Bd. XVIII, S. 412.

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auch er eine Unterdrückung der intellektuellen Freiheit („potlacˇování intelektuální svobody“) und eine zunehmend barbarisierte Gesellschaftspraxis („nebezpecˇí barbarizace“).51 Verantwortlich hierfür sei aber vor allem das Versagen der Eliten, die sich nur zu bereitwillig die Meinungen und abgestumpften Phrasen der Massen zu Eigen machten. Ebenso passe sich die Presse in ihren Berichterstattungen dem Geschmack und den Vorstellungen der Masse an und schaffe ob einer Angleichung der Zeitungen eine gleichgeschaltete Öffentlichkeit.52 „Rµekneˇme, kdyby cˇtenárˇ novin nenale´zal denneˇ cˇerné na bílém, zˇe nic není nadrˇadeˇno jeho vkusu, jeho prˇedstavám a zásadám, kdyby se tisk prˇímo necpal ráno i vecˇer snazˇneˇ a sluzˇebneˇ na jeho u´rovenˇ, ztratil by ten cˇtenárˇ brzo uspokojení ze své pru˚meˇrnosti. Rµíká se, zˇe noviny jsou deˇla´ny svy´mi cˇtena´riˇ . Ano, bohuzˇel; ale meˇly by by´t deˇla´ny neˇkolika vzdeˇlany´mi a myslícími lidmi. […] Prˇipocˇteˇte politiky, vychovatele a litera´ty, prˇipocˇteˇte statisíce lidí, ktery´m se dostalo vzdeˇla´ní, a tím prˇedpokladu˚ pro sˇirsˇí rozhled, a kterˇí prˇesto se snazˇí dokázat, zˇe nemyslí jinak nezˇ kolektiv […] Ti, kdo mohou a mají jít za pozna´ním, beˇhají za davy a myslí si, zˇe je vedou. Tato hromadna´ dezerce od osobního mysˇlení a hleda´ní si nasˇla ovsˇem peˇkna´ slovícˇka; zˇvaní se o duchu doby, o prˇíkazu doby, o na´stupu generacˇním a kdesi cosi; same´ za´minky, aby se nemuselo myslet vlastním mozkem, ny´brzˇ v 53 obecny´ch heslech, ktera´ nahrazují jaky´si mozek kolektivní.“

Diese „Desertion“ der Eliten verurteilt Cµapek auch in Bezug auf den deutschen Nationalsozialismus. Dieser hätte, so Cµapek, letztlich wenig Aussicht auf Erfolg, würden die gebildeten Kreise des Landes den Nationalsozialismus als „animalische Doktrin“ entlarven und zurückweisen anstatt sich zum Fürsprecher dieses „primitiven Unsinns“ zu machen. „… asistujeme jednomu z nejveˇtsˇích kulturních debaklu˚ deˇjinách sveˇta; jeden cely´ národ, jedna celá rˇísˇe prˇistoupila duchovneˇ na víru v zˇivocˇisˇnost, v rasu a podobné nemysly; prosím, cely´ národ i s univerzitními profesory, fara´riˇ , literáty, lékarˇi a právníky. Myslíte, zˇe by se mohla taková anima´lní doktrína hla´sat, kdyby kazˇdy´ vzdeˇlanec v oné vysoce vzdeˇlané rˇísˇi pokrcˇil rameny a susˇe rˇekl, zˇe takové primi54 tivní voloviny nedeˇlá s sebou?“

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Vgl. K. Cµapek, Vzpoura davu˚, in: Ders., Spisy, a.a.O., Bd. XIX, S. 521f. Cµapek knüpft hier in gewisser Weise an Tarde an. Tarde, der die publizistische Öffentlichkeit auch als „verstreute Masse“ von zwar physisch getrennten Individuen fasste, die aber eine Art geistige Kollektivität bildeten, konstatierte die Angleichung von Zeitung, Publizist und Leserschaft zu einer homogenen Gruppe, so dass zum einen die Vorurteile und Leidenschaften der Leser bedient würden, zum anderen der Journalist eine leicht zu führende, folgsame und gutgläubige Leserschaft vorfinde. Vgl. G. Tarde, L’opinion et la foule, Paris 1989, S. 30f. u. 41ff. Vgl. weiterführend M. Gamper (2007), a.a.O., S. 476ff. K. Cµapek, Vzpoura davu˚, a.a.O., S. 522. (Hervh. im Orig.). Vgl. ähnlich K. Cµapek, Co je kultura, in: Ders., Spisy, a.a.O., Bd. XIX, S. 535ff. und K. Cµapek, Brief an Th. Mann vom 20. März 1935, in: Ders., Spisy, a.a.O., Bd. XXII, S. 242f. K. Cµapek, Zima 34, in: Ders., Spisy, a.a.O., Bd. XIX, S. 510.

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Biographische Notizen

Cµapek selbst war schließlich mit dem Münchner Abkommen im September 1938, das Deutschland von Seiten Frankreichs und Englands die Besetzung des Sudetengebiets zugestand, aggressiven Anfeindungen ausgesetzt, seine Werke wurden auf den Index gesetzt.55 Cµapek verstarb noch im selben Jahr in Folge einer Krankheit.

IV. 3. George Orwell (eig. Eric Arthur Blair; 1903 bis 1950) George Orwell hatte zunächst in den 1920er Jahren für die britische Kolonialpolizei in Burma gearbeitet. 1927 gab er die Anstellung auf und lebte, zurück in England, mehrere Jahre in Obdachloseneinrichtungen und unter Landstreichern.56 Schuldgefühle angesichts seines Kolonialdienstes ließen Orwell die Gemeinschaft mit weitgehend recht- und besitzlosen Außenseitern der Gesellschaft suchen. „For five years I had been part of an oppressive system, and it had left me with a bad conscience. […] I was conscious of an immense weight of guilt that I had got to expiate. I suppose that sounds exaggerated; but if you do for five years a job that you thoroughly disapprove of, you will probably feel the same. […] I felt that I had got to escape not merely from imperialism but from every form of man’s dominion over man. I wanted to submerge myself, to get right down among the op57 pressed, to be one of them and on their side against their tyrants.“

In seiner Erzählung Shooting an Elephant (Einen Elefanten erschießen; 1936) macht Orwell deutlich, dass sich das System kolonialer Dominanz und Oppression letztlich auch gegen die vermeintlich Herrschenden selbst richtet. Ein englischer Polizeioffizier erschießt gegen seinen Willen einen Elefanten, weil die aufgebrachte Bevölkerung dies von ihrem Kolonialherrn erwartet und ein Zurückweichen als Schwäche interpretieren würde. Durch den Druck der Masse wird der in den Rollenmustern kolonialer Machtverhältnisse gefangene Polizeioffizier zur willenlosen Marionette seiner Untergebenen.

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E. Mann hatte Cµapek kurz nach dem Münchner Abkommen in seinem Haus in Strzˇ besucht, um ihn zum Verlassen des Landes zu bewegen. Cµapek wusste, dass er nicht in der Tschechoslowakei bleiben konnte, wollte aber das Land trotzdem nicht verlassen. Vgl. E. Mann, Poslednaja beseda s Karelom Cµapekom, in: O. M. Malevicˇ (Hg.), Karel Cµapek v vospominanijach sovremennikov, Moskau 1983, S. 487-491. Orwells erste Buchveröffentlichung Down and out in Paris and London (Erledigt in Paris und London; 1933) ist ein dokumentarischer Bericht über diese Zeit. In Paris hielt sich Orwell 1928/29 auf, lebte ebenfalls in ärmlichen Verhältnissen und arbeitete als Tellerwäscher und Küchengehilfe. Zugleich entstanden erste schriftstellerische Arbeiten, die aber nicht erhalten sind. Vgl. G. Orwell, Introduction to the French Edition of Down and Out in Paris and London, in: Ders., CEJL, a.a.O., Bd. I, S. 113. G. Orwell, The Road to Wigan Pier, a.a.O., S. 138.

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„I could feel their two thousand wills pressing me forward, irresistibly. […] Here was I, the white man with his gun, standing in front of the unarmed native crowd – seemingly the leading actor of the piece; but in reality I was only an absurd puppet pushed to and fro by the will of those yellow faces behind. I perceived in this moment that when the white man turns tyrant it is his own freedom that he destroys. He becomes a sort of hollow, posing dummy, the conventionalised figure of a sa58 hib.“

In seiner Skizze Marrakech (1939), entstanden während eines halbjährigen Aufenthalts in Marokko, reflektiert Orwell zudem kritisch seine Wahrnehmung der einheimischen Bevölkerung als Europäer. Er muss feststellen, dass er diese nicht als Menschen, sondern nur als undifferenzierte braune Masse sieht, die ihn an Insekten denken lässt. „… when you see how the people live, and still more how easily they die, it is always difficult to believe that you are walking among human beings. All colonial empires are in reality founded upon that fact. The people have brown faces – besides, there are so many of them! Are they really the same flesh as yourself? Do they have even names? Or are they merely a kind of undifferentiated brown stuff, 59 about as individual as bees or coral insects?“

Mit der Arbeit an Animal Farm hatte Orwell im November 1943 begonnen. Im Februar 1944 war die Erzählung fertig gestellt, wurde aber erst im August 1945 bei dem Verlag Secker&Warburg veröffentlicht.60 Bereits der russische Schriftsteller und Historiker N. I. Kostomarov hatte in seiner Orwell allerdings wohl nicht bekannten Erzählung Skotskoj bunt (Die Tierrebellion; entstanden 1879/80)61 einen phantastischen Aufstand von Bauernhoftieren geschildert. Kostomarov reagierte hierbei insbesondere auf das 1879 veröffentlichte Programm der Narodnaja volja und wollte verdeutlichen, dass eine spontane Revolution ohne organisierte Planung zwangsläufig zum Scheitern verurteilt sei. So sind die Erzählanfänge bei Kostomarov und Orwell durchaus ähnlich, Kostomarovs Farmtiere sind allerdings nicht in der Lage, sich nach der Rebellion selbst zu versorgen und kehren reumütig in die menschliche Knechtschaft zurück. Orwell gibt an, dass die Idee zu einer allegorischen Tiergeschichte entstanden sei, als er einen Jungen beobachtete, der unablässig ein Zugpferd peitschte. „However the actual details of the story [Animal Farm; Anm. M. M.] did not come to me for some time until one day (I was then living in a small village) I saw a little 58 59 60 61

G. Orwell, Shooting an Elephant, in: Ders., CEJL, a.a.O., Bd. I, S. 239. G. Orwell, Marrakech, in: Ders., CEJL, a.a.O., Bd. I, S. 388. Vgl. I. Angus, Appendix II: Chronology, in: G. Orwell, CEJL, a.a.O., Bd. III, S. 409ff. und B. Crick, George Orwell. A Life, London 1980, S. 308. Die Erzählung fand sich in den nachgelassenen Papieren Kostomarovs und wurde erstmals posthum in den Nummern 34 bis 37 des Journals Niva 1917 veröffentlicht.

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boy, perhaps ten years old, driving a huge cart-horse along a narrow path, whipping it whenever it tried to turn. It struck me that if only such animals became aware of their strength we should have no power over them, and that men exploit animals in much the same way as the rich exploit the proletariat. 62 I proceeded to analyse Marx’s Theory from the animals’ point of view.“

Seit seiner Rückkehr aus dem Spanischen Bürgerkrieg 1937 hatte Orwell zudem die Intention, eine einfache und verständliche Erzählung zu schreiben, die den „Mythos“ Sowjetunion entlarven sollte. „On my return from Spain I thought of exposing the Soviet myth in a story that could be easily understood by almost anyone and which could be easily translated into other languages.“63 Wie ein Brief an den Literaturwissenschaftler G. Struve allerdings zeigt, schätzte Orwell die Möglichkeiten einer Veröffentlichung aufgrund der Thematik eher gering ein. „I am writing a little squib which might amuse you when it comes out, but it is not OK politically that I don’t feel certain in advance that anyone will publish it.“64 In dem Brief an Struve bedankte sich Orwell zudem für die Übersendung von dessen Buch 25 Years of Soviet Russian Literature (25 Jahre sowjetrussischer Literatur; 1944). Zwar wird hierin auch Bulgakovs Werk auf mehreren Seiten behandelt, dieser wird aber von Orwell nicht erwähnt. Vielmehr bekundete Orwell sein Interesse an Zamjatins anti-utopischem Roman My.65 Orwells Befürchtungen, die er Struve gegenüber äußerte, erwiesen sich als berechtigt. Das Manuskript wurde von mehreren Verlagen abgelehnt, da die Erzählung ob der scharfen Kritik am sowjetischen Alliierten politisch nicht opportun war. Der Verleger J. Cape besprach etwa eine mögliche Veröffentlichung mit einem Beamten des Informationsministeriums. Dieser riet von einer Publikation ab, um die guten Beziehungen mit Russland im Krieg gegen Deutschland nicht zu beschädigen.66 62

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G. Orwell, Author’s Preface to the Ukrainian Edition of „Animal Farm“, in: Ders., CEJL, a.a.O., Bd. III, S. 405f. Eine wesentliche Voraussetzung für das Entstehen der Fabel ist wohl zudem Orwells große Tierliebe. „Most of the good memories of my childhood, and up to the age of about twenty, are in some way connected with animals.“ G. Orwell, Such, such were the joys, in: Ders., CEJL, a.a.O., Bd. IV, S. 345. G. Orwell, Author’s Preface to the Ukrainian Edition of „Animal Farm“, a.a.O., S. 405. Orwell ließ die ukrainische Übersetzung in die Sowjetunion schmuggeln und war bereit, auf seine Tantiemen an weiteren slawischsprachigen Übersetzungen zu verzichten. Vgl. W. Steinhoff, George Orwell and the Origins of Nineteen Eighty-Four, Ann Arbor 1976, S. 75 und B. Crick, a.a.O., S. 373. G. Orwell, Letter to G. Struve, in: Ders., CEJL, a.a.O., Bd. III, S. 95f. „It [25 Years of Soviet Russian Literature; Anm. M. M.] has already roused my interest in Zamyatin’s We, which I had not heard of before. I am interested in that kind of book, and even keep making notes for one myself that may get written sooner or later.“ G. Orwell, Letter to G. Struve, a.a.O., S. 95. Bei diesem geplanten Werk handelt es sich um Orwells Anti-Utopie Nineteen Eighty-Four. Vgl. zu Parallelen und Unterschieden von Zamjatins My und Orwells Nineteen Eighty-Four W. Steinhoff, a.a.O., S. 23ff. Vgl. B. Crick, a.a.O., S. 312f. Auch V. Gollancz, Mitbegründer des Left Book Club und anfänglicher Verleger Orwells, teilte mit, dass er keine generelle Kritik dieser Art an der Sow-

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Als problematisch wertete Cape aber nicht nur die offensichtliche Kritik, sondern auch die Darstellung der sowjetischen Führungsriege als Schweine. „I think the choice of pigs as the ruling caste will no doubt give offence to many people, and particularly to anyone who is a bit touchy, as undoubtedly the Russians are.“67 Ende Juni 1944 bot Orwell die Erzählung schließlich dem Verlag Secker&Warburg an, der Animal Farm im August 1945 veröffentlichte.68 Während der Verlag die lange Produktionsdauer mit der bestehenden Papierknappheit begründete, nahm Orwell an, dass mit der Veröffentlichung von Animal Farm bis Kriegsende gewartet werden sollte.69 Neben den politisch motivierten Schwierigkeiten war die Erzählung zudem nicht vereinbar mit einer von Orwell wiederholt konstatierten und verurteilten bedingungslosen Begeisterung für die Sowjetunion in breiten Intellektuellenkreisen.70 Das kommunistische Russland fungiere, so Orwell, als eine Art Ersatzreligion und befriedige das tiefsitzende Verlangen einer nur vermeintlich aufgeklärten, aber vor allem entwurzelten Elite nach Disziplin und Gefolgschaft. Geradezu dogmatisch werde jede Form von Kritik zurückgewiesen. It [Communism; Anm. M. M.] was simply something to believe in. Here was a church, an army, an orthodoxy, a discipline. […] All the loyalties and superstitions that the intellect had seemingly banished could come rushing back under the thinnest of disguises. Patriotism, religion, empire, military glory – all in one word, Russia. Father, king, leader, hero, savior – all in one word, Stalin. God – Stalin. […] So, after all, the ‚Communism‘ of the English intellectual is something explicable 71 enough. It is the patriotism of the deracinated.“

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jetunion veröffentlichen könne. Vgl. G. Orwell, Letter to F. J. Warburg, in: Ders., CEJL, a.a.O., Bd. III, S. 386f. und B. Crick, a.a.O., S. 312. Zitiert nach G. Orwell, The Freedom of the Press, in: Ders., The Complete Works, a.a.O., Bd. VIII, S. 99. Der Direktor des Verlags Faber&Faber, der Schriftsteller T. S. Eliot, lehnte das Manuskript ebenfalls aus politischen Gründen ab und gab zu bedenken, dass es ohne die Klugheit der Schweine letztlich überhaupt keine Farm der Tiere geben würde. Vgl. B. Crick, a.a.O., S. 315 und G. Orwell, Letter to L. Moore, in: Ders., CEJL, a.a.O., Bd. III, S. 186. Fraglich ist, weshalb Orwell sein Manuskript Secker&Warburg nicht früher anbot, obwohl der Verlag bereits sein umstrittenes Spanienbuch Homage to Catalonia publiziert hatte, das die Rolle der Kommunistischen Partei im Spanischen Bürgerkrieg kritisch beleuchtet. Crick gibt zu bedenken, dass Orwell seine Erzählung wohl bei einem der großen und renommierten Verlagshäuser publiziert sehen wollte. Die Veröffentlichung bei Secker&Warburg, der als ein der Sowjetunion gegenüber kritisch eingestellter „Trotskyite publisher“ galt, erschien Orwell wohl als falscher Ausgangspunkt für eine einflussreiche Entlarvung des „Mythos“ Sowjetunion. Vgl. B. Crick, a.a.O., S. 313 u. 316. Vgl. G. Orwell, Letter to L. Moore, in: Ders., CEJL, a.a.O., Bd. III, S. 187 und ders., Letter to F. Barber, ebd., S. 402. Vgl. hierzu auch H.-Ch. Schröder, George Orwell. Ein intellektuelle Biographie, München 1988, S. 116f. u. 205ff. G. Orwell, Inside the Whale, in: Ders., CEJL, a.a.O., Bd. I, S. 515. Vgl. generell zum Verständnis des Kommunismus als „neuem Glauben“ auch Cz. Milosz, Verführtes Denken, mit einem Vorwort v. K. Jaspers, Frankfurt/M. 1974.

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In der einfachen Bevölkerung („common people“) sah Orwell die Vorstellung vom Recht auf Meinungsfreiheit dagegen weitaus stärker ausgeprägt. Eine deutliche Skepsis gegenüber tradierten Masse-Elite-Konzeptionen zeigt sich auch in seiner wiederholten Feststellung, dass im Gegensatz zu den Intellektuellen das einfache Volk über eine grundsätzliche Anständigkeit („common decency“) verfüge, die es in gewisser Weise auch gegen totalitäre Parolen immunisiere.72 Allerdings registrierte Orwell gleichzeitig eine ausgeprägte politische Apathie, die das Volk zum willfährigen Instrument machthungriger Eliten werden lasse.73 So vergleicht Orwells Held Winston in Nineteen Eighty-Four die „breite stumme Masse“ („the dumb masses“)74 der unterprivilegierten Bevölkerungsmehrheit der Proles auch mit einer Viehherde, die zu einer Rebellion gegen die Parteielite nicht in der Lage sei, da sich ihre Daseinsform in einem fortgesetzten Präsentismus erschöpfe. „… the proles were natural inferiors who must be kept in subjection, like animals, by the application of a few simple rules. […] Left to themselves, like cattle turned loose upon the plains of Argentina, they had reverted to a style of life that appeared to be natural to them, a sort of ancestral pattern. […] Heavy physical work, the care of home and children, petty quarrels with neighbours, films, football, beer and, 75 above all, gambling, filled up the horizon of their minds.“

Angesichts der Schwierigkeiten, Animal Farm zu veröffentlichen, hatte Orwell ein Vorwort verfasst, das der Erzählung bei einer Publikation im Selbstverlag vorangestellt werden sollte. Hierin konstatiert er eine zunehmende Aushöhlung der Presse- und Meinungsfreiheit und lastet diese Entwicklung, ähnlich wie Cµapek, vor allem den Gebildeten und Intellektuellen an. In ihrer ideologischen Verblendung und ihrem feigen Konformismus beförderten sie eine dumpfe „Grammophon-Mentalität“, die jeden differenzierten Meinungsaustausch unterbinde. „The enemy is the gramophone mind, whether or not one agrees with the record that is being played at the moment. […] [I]ntellectual freedom is a deep-rooted tradition without which our characteristic western culture could only doubtfully exist. From that tradition many of our intellectuals are visibly turning away. They have accepted the principle that a book

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Vgl. G. Orwell, Charles Dickens, in: Ders., CEJL, a.a.O., Bd. I, S. 459 und ders., The Lion and the Unicorn, in: Ders., CEJL, a.a.O., Bd. II, S. 58ff. Vgl. ebenfalls H.-Ch. Schröder, a.a.O., S. 159ff. Vgl. G. Orwell, James Burnham and the Managerial Revolution, in: Ders., CEJL, a.a.O., Bd. IV, S. 177ff. und ders., The Road to Wigan Pier, a.a.O., S. 211f. Vgl. zu Orwells ambivalentem Verhältnis gegenüber den Massen sowie zu seiner wiederholten Intellektuellenkritik J. Carey, a.a.O., S. 21f. u. 39ff. sowie S. Collini, a.a.O., S. 350ff. G. Orwell, Nineteen Eighty-Four, in: Ders., The Complete Works, a.a.O., Bd. IX, S. 217. Ebd., S. 74. An anderer Stelle werden die Proles mit Ameisen verglichen. „They were like the ant, which can see small objects but not large ones.“ Ebd., S. 96f.

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should be published or suppressed, praised or damned, not on its merits but according to political expediency. And others who do not actually hold this view assent to it from sheer cowardice. […] One can only explain this contradiction in one way: 76 that is, by a cowardly desire to keep in with the bulk of the intelligentsia,…“

Orwells kritische Auseinandersetzung mit dem Kommunismus sowjetischer Prägung und den Funktionsweisen totalitärer Herrschaft in einer vergleichenden Gegenüberstellung von Kommunismus und Faschismus ist nicht zuletzt eine Konsequenz seiner Erfahrungen im Spanischen Bürgerkrieg.77 „The Spanish war and other events in 1936-37 turned the scale and thereafter I knew where I stood. Every line of serious work that I have written since 1936 has been written, directly or indirectly, against totalitarianism and for democratic Socia78 lism,…“

Orwell hatte in den Reihen der P.O.U.M., der Vereinigten Marxistischen Arbeiterpartei gekämpft, die im Verlauf des Bürgerkriegs von Seiten der Kommunistischen Partei als trotzkistische Vereinigung verleumdet beziehungsweise ihre Mitglieder als angeblich faschistische Provokateure verfolgt wurden.79 Nachfolgend konstatierte Orwell wiederholt kritisch, dass die Kommunistische Partei entgegen ihres revolutionären Habitus tatsächlich nur einen totalitären Machtanspruch durchzusetzen suche.80 Deutlich werde dies auch in der Abschichtung einer neuen Herrschaftskaste, die lediglich aus machtpolitischem Interesse die Kollektivierung des Privateigentums anstrebe, der Bevölkerung aber die elementarsten Grund- und Persönlichkeitsrechte entziehe. Orwell, der einen ähnlichen Vorgang auch für den Faschismus feststellt, spricht angesichts einer kollektiven Gesellschaftsorganisation bei gleichzeitiger Machtkonzentration in den Händen einer Parteielite von einem Kollektivismus mit oligarchischer Herrschaftsstruktur („a form of oligar76 77

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G. Orwell, The Freedom of the Press, a.a.O., S. 107f. Vgl. zur Herausbildung von Orwells Totalitarismuskonzeption auch H.-Ch. Schröder, a.a.O., S. 181ff. Während Orwell die sowjetische Führungsriege als Schweine abbildete, beschrieb er faschistische beziehungsweise nationalsozialistische Gesellschaften als eine Welt von Kaninchen, die von Hermelinen regiert wird („a world of rabbits ruled by stoats“). Vgl. G. Orwell, The Road to Wigan Pier, a.a.O., S. 200. G. Orwell, Why I write, in: Ders., CEJL, a.a.O., Bd. I, S. 5. (Hervh. im Orig.). Mit den weiteren Ereignissen sind wohl insbesondere die „Säuberungen“ und Schauprozesse in der Sowjetunion (1936-38) gemeint. Orwell spricht in diesem Zusammenhang von einem propagandistischen „‚Trotsky-Fascist‘ plot“. Vgl. G. Orwell, Letter to the Editor of Time and Tide, in: Ders., CEJL, a.a.O., Bd. I, S. 298. Siehe etwa G. Orwell, Spilling the Spanish Beans, in: Ders., CEJL, a.a.O., Bd. I, S. 270: „It is unfortunate that so few people in England have yet caught up with the fact that Communism is now a counter-revolutionary force; that Communists everywhere are in alliance with bourgeois reformism and using the whole of their powerful machinery to crush or discredit any party that shows signs of revolutionary tendencies.“

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chical collectivism“)81 . Auch in Orwells Roman Nineteen Eighty-Four erfüllt die Kollektivierung des Privateigentums allein die machtpolitische Funktion, die uneingeschränkte Verfügungsgewalt der Partei des Großen Bruders sicherzustellen. „It had long been realised that the only secure basis for oligarchy is collectivism. Wealth and privilege are most easily defended when they are possessed jointly. The so-called ‚abolition of private property‘ which took place in the middle years of the century meant, in effect, the concentration of property in far fewer hands than before: but with this difference, that the new owners were a group instead of a mass of individuals. Individually, no member of the Party owns anything, except the petty personal belongings. Collectively, the Party owns everything in Oceania, because it controls everything, and disposes the products as it thinks fit. In the years following the Revolution it was able to step into this commanding position almost unopposed, 82 because the whole process was represented as an act of collectivisation.“

Gleichzeitig macht Orwell auf eine gänzlich neue Dimension gleichschaltender Uniformierung in totalitären Systemen des 20. Jahrhunderts aufmerksam. Der moderne Staatsapparat erlaube sowohl die Koordination einer lückenlosen Überwachung und effizienten Pressezensur als auch einer flächendeckenden ideologischen Erziehung und propagandistischen Indoktrination mit Hilfe moderner Massenmedien. Als Konsequenz dieser unausgesetzten Manipulation und Massensuggestion antizipiert Orwell die „Züchtung“ eines willfährigen Herdenmenschen, dem persönliche Freiheitsrechte nichts mehr bedeuten. „The terrifying thing about the modern dictatorships is that they are something entirely unprecedented. […] In the past every tyranny was sooner or later overthrown […] because of ‚human nature‘, which as a matter of course desired liberty. But we cannot be at all certain that ‚human nature‘ is constant. It may be just as possible to produce a breed of men who do not wish for liberty as to produce a breed of hornless cows. The Inquisition failed, but then the Inquisition had not the resources of the modern state. The radio, press-censorship, standardised education and the secret police have altered everything. Mass-suggestion is a science of the last twenty 83 years, and we do not yet know how successful it will be.“

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Vgl. G. Orwell, The Totalitarian Enemy by F. Borkenau, in: Ders., CEJL, a.a.O., Bd. II, S. 25f. G. Orwell, Nineteen Eighty-Four, a.a.O., S. 214f. Siehe zudem ders., The Road to Wigan Pier, a.a.O., S. 200: „As I pointed out earlier, the advance of machine-technique must lead ultimately to some form of collectivism, but that form need not necessarily be equalitarian; that is, it need not be Socialism. Pace the economists, it is quite easy to imagine a world-society, economically collectivist – that is, with the profit principle eliminated – but with all political, military and educational power in the hands of a small caste of rulers and their bravos. […] And that, of course, is the slave-state, or rather the slave-world…“ (Hervh. im Orig.). G. Orwell, Review. „Russia under Soviet Rule“ by N. de Basily, in: Ders., CEJL, a.a.O., Bd. I, S. 380f.

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IV. 4. Euge`ne Ionesco (1912 bis 1994) Ionescos Theaterstück Rhinocéros wurde am 6. November 1959 in Düsseldorf uraufgeführt.84 Am 22. Januar 1960 folgte die Inszenierung am Pariser OdeónThéatre de France. Bereits 1952 war die gleichnamige Erzählung entstanden, die erstmals 1957 in der Zeitschrift Les Lettres Nouvelles publiziert und schließlich in den Erzählband La Photo du Colonel (Die Photographie des Obersten; 1962) aufgenommen wurde.85 Den wesentlichen Deutungshintergrund für die Düsseldorfer Uraufführung der Nashörner bildete der deutsche Nationalsozialismus.86 Ionesco selbst hatte die Anhänger der faschistischen rumänischen Eisernen Garde in frühen Tagebuchaufzeichnungen mit Nashörnern verglichen. „Je suis e´tonné de voir à quel point cela ressemble à ma pièce le Rhinocéros. C’est bien cela la gènese de cette pièce. Ce n’est que tout récemment, en reprenant des pages anciennes de mon journal, que j’ai vu que je les appelais rhinoce´ros, ce que 87 j’avais complètement oublié,…“

Teils in Rumänien, teils in Frankreich aufgewachsen, studierte Ionesco ab 1929 an der Bukarester Universität Romanistik und registrierte nicht nur den rasanten Aufstieg, sondern auch die Anfälligkeit einiger Freunde und Bekannter für die Parolen der faschistischen Gruppierung.88 Ihre Anpassung an unmenschliche Ideologievorgaben ist Ionesco Ausdruck einer Vertierung. Gleichsam von einer Bestie besprungen, vollziehe sich in ihnen die Entfaltung des tierischen Keims.

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Am 26. August 1959 war das Theaterstück bereits von der BBC in einer Hörspielfassung ausgestrahlt worden. Vgl. G. Pacthod-Ronte, a.a.O., S. 136. Ebenso gingen den Theaterstücken Victimes du devoir (Opfer der Pflicht; 1953), Ame´dée ou comment s’en de´barrasser (Ame´dée oder Wie wird man ihn los; 1954), Tueur sans gages (Mörder ohne Bezahlung; 1959) und Le Pie´ton de l’air (Fußgänger der Luft; 1963) Erzählfassungen voraus. Das Stück Ce formidable bordel (Welch gigantischer Schwindel; 1973) ist eine Dramatisierung von Ionescos erstem Roman Le solitaire (Der Einzelgänger; 1973). Vgl. U. Quint-Wegemund, a.a.O., S. 124ff. In der für die Düsseldorfer Inszenierung komponierten Bühnenmusik wurde in Auszügen das „Horst-Wessel-Lied“ rezitiert. Vgl. H. Hanstein, Studien zur Entwicklung von Ionescos Theater, Heidelberg 1971, S. 102. E. Ionesco, pre´sent passe´, passe´ pre´sent, Paris 1968, S. 170. Ionescos Mutter war Französin, der Vater Rumäne. 1913 siedelte die Familie von Rumänien nach Frankreich über, 1925 kehrte Ionesco allein nach Rumänien zurück. Mit einem Promotionsstipendium kam Ionesco 1938 wieder nach Frankreich, wo er ab 1941 dauerhaft lebte. Vgl. zu biographischen Daten die Zeittafeln bei F. Bondy, Euge`ne Ionesco in Selbstzeugnissen und Bilddokumenten, Reinbek b. Hamburg 1975, S. 142f. und S. Benmussa, Euge`ne Ionesco, Paris 1966, S. 146ff. M. Reinke untersucht in ihrer Dissertation Ionescos Werk hinsichtlich seiner Erfahrung zweier Kulturen. Ihre biographischen Angaben sind jedoch zum Teil falsch. So ist laut Reinke Ionesco 1909 in Paris geboren. Vgl. M. Reinke, Zwei Welten und zwei Zeiten im Werk Euge`ne Ionescos, Köln 1966 (Diss.), S. 4.

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Biographische Notizen

„C’est à partir de ce moment-là que A. a commencé d’eˆtre un autre. Progressivement, quelqu’un d’autre l’a remplacé. La beˆte l’avait posséde´, elle avait laissé en lui sa semence. J’ai rencontre´, par hasard, re´cemment, le nouveau A. J’e´tais stupéfait, effrayé. La germination, la croissance, l’épanouissement du germe de la beˆte est ac89 compli.“

Angesichts dieser um sich greifenden Bestialisierung sieht sich Ionesco inmitten einer bedrohlichen „Tierwelt“ gefangen, in der er allein, ohne menschliches Gegenüber und somit ohne Möglichkeit zur Verständigung zurückbleibt. „Seul, seul je suis, entouré de ces gens qui sont pour moi durs comme pierre, aussi dangereux que les serpents, aussi implacables que les tigres. Comment peut-on communiquer avec un tigre, avec un cobra, comment convaincre un loup ou u n rhinoce´ros de vous comprendre, de vous épargner, quelle langue leur parler. 90 Comment leur faire admettre mes valeurs, le monde intérieur que je porte.“

Auch Ionesco versteht sein Theaterstück als Beschreibung eines Nazifizierungsprozesses. „Je dois dire que le propos de la pièce a bien éte´ de de´crire le processus de la nazification d’un pays…“91 Gleichzeitig will er Rhinoce´ros aber in einen allgemeineren Deutungsrahmen gestellt sehen. Er versteht das Theaterstück auch als „Studie über den Konformismus und der Verseuchung“ („l’étude clinique du conformisme, de la contamination“)92 und verweist auf die generelle Gefahr einer ideologischen Fanatisierung, die, als wirkungsvolles Instrument der Massenbeherrschung, ein ganzes Volk in den Zustand einer kollektiven Hysterie versetze. „… de de´noncer, de démarquer, de montrer comment une idéologie se transforme en idiolaˆtrie, comment elle envahit tout, comment elle hyste´rise les masses, comment une pensée raisonnable au de´part, et discutable a` la fois peut devenir monstrueuse lorsque les meneurs, puis dictateurs totalitaires, chefs d’iˆles, d’arpents ou de continents en font un excitant a` haute dose dont le pouvoir male´fique agit monstrueuse93 ment sur ,le peuple‘ qui devient foule, masse hyste´rique.“

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E. Ionesco, pre´sent passe´, a.a.O., S. 172f. Ebd., S. 164. E. Ionesco, Notes et contre-notes, Paris 1962, S. 183. Ebd., S. 55. Ebd., S. 186. Siehe auch ebd., S. 177: „Rhinoce´ros est sans doute une pie`ce anti-nazie mais elle est aussi surtout une pièce contre les hystéries collectives et les épidémies qui se cachent sous le couvert de la raison et des idées mais qui n’en sont pas moins de graves maladies collectives dont les idéologies ne sont que les alibis…“ G. Pinkernell setzt die Erzählung und das Theaterstück Rhinoce´ros in Beziehung zu den Massenhysterien während des Algerienkrieges 1956/57 beziehungsweise zur progaullistischen Massenbewegung 1958 in Frankreich. Vgl. G. Pinkernell, Eugène Ionescos „Rhinoce´ros“: Erzählung (1957) und Stück (1958) als Reflexe der politischen Situation ihrer Zeit, in: Ders., Interpretationen: gesammelte Studien zum romanischen Mittelalter und zur französischen Literatur des 18. und 20. Jahrhunderts, Heidelberg 1997, S. 175-191.

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Wie Ionescos Tagebuchnotizen zeigen, war er mit Le Bons Abhandlung Psychologie des foules und dessen Schilderung massenpsychotischer Zustände vertraut.94 Verwendung finden bei Ionesco auch bereits bekannte naturmetaphorische Beschreibungsmuster. Wie eine Flut („comme une marée“) sieht er die Hysterie die Massen ergreifen und überschwemmen. Ausbruch und Entladung des Spannungszustandes erfolgen in Form eines kollektiven Gewitters („l’orage collectif“).95 Ideologien sind für Ionesco nicht mehr als „monolithische Dogmen“ („dogmes monolithiques“) und „geschlossene Systeme mittelmäßiger Schlagwörter“ („un système de pensées fermé, un système de slogans me´diocres“) oder auch Ansammlungen „ephemerer Klischées“ und „flügellahmer Eintagswahrheiten“ („ces cliche´s éphémères, ces vérités sans envergure du jour“)96 , die nur einen vermeintlich rationalen Vorwand für irrationale Aggressionen liefern. „… nos angoisses, notre agressivité, notre fureur, ce mécontentement irrationnel, c’est-à-dire profond, qui se déchaiˆne sous le couvert d’idéologie,…“97 Den mit ideologischen Schlagwörtern und vorgefertigten Denkschablonen angefütterten Menschen bezeichnet Ionesco als Kleinbürger, wobei er den Begriff schichtenunspezifisch und nicht im Sinne einer sozialen oder historischen Kategorie verwendet. Vielmehr ist er Ionesco Synonym für den konformistischen Massenmenschen, dem die Mittelmäßigkeit zum Lebensprinzip geworden ist. „Le petit bourgeois, c’est pour moi l’homme de ces idées reçues que l’on retrouve dans toutes les sociétés, dans tous les temps: le conformiste, celui qui adopte le système de pensée de sa société quelle qu’elle soit (ou de l’idéologie dominante) et ne 98 critique plus. Cet homme moyen est partout.“

Auch in einer Vielzahl zeitgenössischer Intellektueller erkennt Ionesco lediglich „aufgeregte Kleinbürger des Gedankens“ („petits-bourgeois agités de la pensée“), die sich, vom Dämon der Macht besessen („de[s] petits bourgeois […] qui sont habités par le démon du pouvoir“)99 , zu Fürsprechern verschiedener Ideologien

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Vgl. E. Ionesco, pre´sent passe´, a.a.O., S. 171. Vgl. E. Ionesco, Notes, a.a.O., S. 176. Ionesco bezieht sich hierbei auf eine Schilderung seines Schriftstellerkollegen D. de Rougemont, der 1938 in Nürnberg eine Kundgebung der Nationalsozialisten miterlebte. Siehe zu Rougemonts Erlebnis S. 218. Vgl. E. Ionesco, Notes, a.a.O., S. 84 u. 223 sowie ders., présent passé, a.a.O., S. 62. E. Ionesco, Journal en miettes, Paris 1967, S. 78. Ebenso wie Ideologien sieht Ionesco auch Religionen nur als Masken eines tief sitzenden „zerstörerischen Instinkts“ („l’instinct destructeur“) und „Willens zum Morden“ („cette volonté de meurtre“). Vgl. E. Ionesco, Notes, a.a.O., S. 138. E. Ionesco, Notes, a.a.O., S. 110. Vgl. ebd., S. 217. Vgl. ähnlich E. Ionesco, présent passé, a.a.O., S. 257. Ionesco spricht in diesem Zusammenhang auch von der „libido dominandi“ der Intellektuellen. Vgl. E. Ionesco, Notes, a.a.O., S. 218.

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machten („des intellectuels qui […] ne font que propager les rhinocérites“)100 . Für Ionesco ist letztlich jede Ideologie nur ein verkürzendes, da allein in Kategorien des Gesellschaftlichen operierendes Deutungsmuster, das somit auch den Menschen auf eine bloß abstrakte und gesellschaftliche Funktion reduziert.101 Mit der generellen Zurückweisung einer gesellschaftsabhängigen Definition des Menschen korrespondiert insbesondere Ionescos Ablehnung kollektivistischer Ideologievorgaben. „C’est bien cela que poursuivent les collectivismes: réduit au social, l’homme ne serait plus qu’une particule de la sociéte´ ne vivant que pour la sociéte´, n’imaginant meˆme pas de ne pouvoir vivre autrement qu’en tant que fonctionnaire social. Il serait socialisé jusque dans ses reˆves, jusque dans son inconscient, perdant sa troisième ou quatrième dimension: l’esprit, ce qui lui est essentiel et ce qui n’est pas me102 surable.“

Nationalsozialistisches und bolschewistisches Gedankengut erscheinen ihm gerade in der übersteigerten Wertschätzung des Kollektiven und Verneinung der individuellen Selbstbestimmung des Menschen durchaus wesensverwandt. „L’agression contre le ,moi‘ individuel (si je puis dire), la ne´gation de ce moi personnel me semble eˆtre, consciemment ou non, comme le fruit attarde´ des deux tendances collectivistes, antipersonnalistes, principales de ce sie`cle: nazisme, totalitaris103 me de gauche…“

Negatives Sinnbild einer kollektivistischen Gesellschaftsorganisation, die den Menschen sozial determiniert und die Dimension des Persönlich-Individuellen aggressiv zurückweist, ist auch Ionesco die Ameisenzivilisation „L’homme n’y est plus que ‚social‘, unidimensionnel, totalement politisé, sans vie et vocation personelles, sans possibilité d’un choix culturel, fourmi.“104 Ionescos Ideologiekritik entspricht eine grundsätzliche Ablehnung der gesellschaftlichen Sphäre als Ausdruck der Entfremdung und Entpersönlichung unabhängig von ihrem weltanschaulichen Charakter.105 Der Gesellschaft setzt Ionesco die Vorstellung einer wesentlich übersozialen und unhistorischen Gemeinschaft entgegen, in der die Menschen über alle gesellschaftlichen Schranken hinweg aufgrund ihrer gemeinsamen existentiellen Grunderfahrungen miteinander verbunden sind.

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Vgl. ebd., S. 187. Vgl. ebd., S. 205. E. Ioneco, Antidotes, Paris 1977, S. 80. E. Ionesco, Journal en miettes, a.a.O., S. 211. E. Ionesco, Antidotes, a.a.O., S. 52. Vgl. auch E. Ionesco, pre´sent passe´, a.a.O., S. 193. Vgl. beispielhaft E. Ionesco, Notes, a.a.O., S. 60, 88f. u. 95.

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„Je crois toutefois que l’homme ne se réduit pas à l’organisation sociale, à la machinerie sociale. J’ai de´ja` dit, moi aussi, en forçant un peu les termes, que la profonde socie´te´ est extra-sociale. Nos reˆves essentiels ne sont-ils pas les meˆmes? Ne re´ve`lentils pas nos angoisses communes, nos de´sirs communs? Et l’organisation sociale n’est-elle pas alie´nante? C’est bien ce qui fait qu’il y a des ‚asociaux‘. Lorsque je suis le plus profondément moi-meˆme, je rejoins une communauté oubliée. […] Je pre´fe`re le mot communaute´ à celui de sociale, sociologie etc.… Cette communaute´ extra-historique me paraiˆt eˆtre fondamentale. Nous pouvons la rejoindre par-dela` 106 les barrie`res (et barricades), castes, classes, etc.…“

Ionescos Gemeinschaftsvorstellung ist nicht zuletzt von der personalistischen Bewegung um E. Mounier beeinflusst, der sich Ionesco Ende der 1930er Jahre anschloss.107 Der Personalismus wendet sich mit seinem Modell einer personalen Gemeinschaft sowohl gegen den bürgerlichen Individualismus, der Gesellschaft aufgrund der Überbetonung individueller Freiheitsrechte nur als bloße Summe von Einzelnen verstehe, als auch gegen kollektivistische Alternativen, deren Verabsolutierung des Gesellschaftlichen das Individuum aus dem Blick geraten lasse.108 Dem Begriff der Person ist dagegen ein spannungsvolles Verhältnis zwischen dem Einzelnen und seinem Gegenüber inhärent. Vor allem in ihrem Handeln, das sich sowohl auf sie selbst als auch auf andere Personen sowie die sie umgebende Umwelt bezieht, zeigt sich die unverwechselbare Identität der Person. Als „Zweck an sich“, so etwa bei Kant, ist sie in diesem dreifachen Bezugsfeld aber nicht durch andere Personen oder das gesellschaftliche Umfeld zu funktionalisieren.109 Das personale Gemeinschaftsmodell garantiert nun idealerweise diesen Selbstzweck der Person. Sie wahrt die Einzigartigkeit und Freiheit ebenso wie die individuelle Bestimmung des Einzelnen, der gleichzeitig in der Anerkennung dieser Selbstbestimmung mit allen anderen Gemeinschaftsgliedern verbunden ist.110 Ionesco spricht hierbei von einem Gegensatz, der aber ob der gegenseitigen Ak106

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Ebd., S. 92f. Wiederholt verwendet Ionesco zur Beschreibung dieser existentiellen Grunderfahrungen auch die Begriffe „mythes“, „vérité universelle“, „arche´types“, „réalite´ essentielle/universelle“. Vgl. ebd., S. 4, 18, 108, 110, 134, 165 u. 197. Ionesco hatte Mounier 1939 für eine rumänische Zeitschrift interviewt und wollte 1941 eine personalistische Sektion in Rumänien ins Leben rufen. Der Versuch scheiterte aber aufgrund der Ereignisse des Zweiten Weltkrieges. Vgl. M. Börnemeier, a.a.O., S. 55. Vgl. M. Börnemeier, a.a.O., S. 16ff. Vgl. M. Müller/W. Vossenkuhl, Person, in: H. Krings/H. M. Baumgartner/Ch. Wild (Hgg.), Handbuch philosophischer Grundbegriffe, 6 Bde., München 1973f., Bd. IV, S. 1060ff. Der Personenbegriff wird in der christlichen Spätantike geprägt und bezieht sich hier auf die religiöse Erfahrung der Trinität, die Gott in dreifacher Gestalt, aber doch ungeteilter Natur personifiziert (griech. „Hypostase“). Das lateinische „persona“ bezeichnet sowohl die Maske (des Schauspielers) als auch die Rolle beziehungsweise den Charakter in Bezug auf die Bühne und im übertragenen Sinne. Gleichzeitig kommt dem Wort die Bedeutung von „Persönlichkeit“ und „Individualität“ zu. Vgl. M. Börnemeier, a.a.O., S. 38f.

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zeptanz als Personen schließlich in einem Gleichgewicht aufgehoben sei. „Moi, c’est ce qui s’oppose aux autres, les autres sont ceux qui s’opposent à moi. C’est cette opposition, cet équilibre qui constitue le personnel.“111 Ein anerkennendes Verständnis des Anderen entsteht für Ionesco vor allem aus einer Fokussierung auf die eigene Person und Problematik. „Pour découvrir le problème fondamental commun à tous les hommes, il faut que je me demande quel est mon problème fondamental, quelle est ma peur la plus indéracinable. C’est alors que je découvrirai quels sont les peurs et les proble`mes de chacun. Voilà la vraie grand-route, celle qui plonge dans mes propres ténèbres, nos 112 te´nèbres, que je voudrais amener à la lumière du jour.“

Negative Kontrastfigur zur personalen Gemeinschaft ist die uniformierte und entpersönlichte Massengesellschaft, bestehend aus „gesichtslosen Menschen“, die nur allgemeinen Ideen, vagen Meinungen und neutralen Positionen anhängen. „La de´personnalisation du monde moderne et la de´cadence de l’idée communautaire sont pour nous une seule et meˆme de´sagre´gation. Elles aboutissent au meˆme sous-produit d’humanite´: la société sans visage, faite d’hommes sans visage, le monde de l’on, où flottent, parmi des individus sans charactère, les idées générales et les opinions vagues, le monde des positions neutres et de la connaissance objective. C’est de ce monde, règne de l’‚ont dit‘ et de l’‚ont fait‘, que relèvent les masses, agglome´rats humains secoués parfois de 113 mouvements violents, mais sans responsabilité différenciée.“

Kennzeichnend für die Herrschaft der austauschbaren Nummernmenschen und konformistischen Marionetten ist eine tiefe Kommunikationslosigkeit, die letztlich in eine Tyrannei der Anonymität mündet. Negatives Sinnbild dieser Vereinigung standardisierter Massenmenschen ist auch Mounier das unberechenbare vielköpfige Tier.

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E. Ionesco, présent passé, a.a.O., S. 61. E. Ionesco, Notes, a.a.O., S. 74. (Hervh. im Orig.). Entsprechend legt Ionesco wiederholt dar, dass er mit seinem dramatischen Schaffen weder lehrhaft sein noch eine Botschaft übermitteln wolle, sondern Zeugnis ablege von seinen persönlichen Ängsten und Träumen. Vgl. E. Ionesco, L’impromtu de l’alma ou le caméléon du berger, in: Théaˆtre, a.a.O., Bd. II, S. 107f. und Ders., Notes, a.a.O., S. 72. E. Mounier, Manifeste au service du personnalisme, in: Ders., Oeuvres, 4 Bde., Paris 1961ff., Bd. I, S. 536. (Hervh. im Orig.). Börnemeier verweist im Zusammenhang mit obigem Zitat zum einen auf Mouniers Verwendung von M. Heideggers Terminus „des Man“, der wesentlich mit Durchschnittlichkeit und dem Verlust des eigentlichen „Selbstseins“ zu bestimmen ist. Vgl. M. Heidegger, Sein und Zeit, 10. Aufl., Tübingen 1963, S. 126ff. Zum anderern führt sie Nietzsches Charakterisierung der Herdenmenschen als „Neutra“ und „die Ewig-Objectiven“ an. Vgl. F. Nietzsche, Unzeitgemäße Betrachtungen, in: Ders., Werke, a.a.O., Bd. I, S. 242 und M. Börnemeier, a.a.O., S. 39f.

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„Quand la communaute´ s’est entie`rement défaite (les masses sont des déchets plus que des origines), quand les hommes ne sont plus que les éléments d’un nombre, les jouets d’un conformisme, on obtient cette sorte de gros animal, tour a` tour sentimental et furieux comme tous les gros animaux. L’inertie de toute communauté humaine la met en danger, a` chaque instant, de se de´grader en masse. De´personnalisée dans chacun de ses membres, de´personnalisée comme tout, la masse offre u n régime propre d’anarchie et de tyrannie meˆlées, exactement la tyrannie de l’ano114 nyme…“

Der Einzelgänger Jean in Ionescos Roman Le solitaire fühlt sich beim Anblick des großstädtischen Treibens, das er wiederholt am Fenster seiner Pariser Wohnung beobachtet, an Insekten erinnert. „Et qu’étions-nous, Jacques Dupont et moi, deux hommes, deux malheureux insectes parmi trois milliards d’autres.“115 Angesichts der Homogenität und Uniformität der Masse erscheinen ihm die Menschen als ununterscheidbare, seriell gefertigte Kopien. „Mais partout, partout, les meˆmes gens qui se ressemblaient tous. C’e´tait comme une ou deux personnes indéfiniment multipliées.“116 Erfährt die Massenthematik bei Ionesco auch eine umfängliche Betrachtung, so ließ ihn doch gerade die begeisterte Aufnahme seiner Nashörner am Problembewusstsein eines Großteils seines Publikums zweifeln. Erstaunt über den Erfolg des Theaterstücks, gab er letztlich zu bedenken, dass sich doch auch bornierte „Nashörner“ jederzeit die Behauptung zu Eigen machen könnten, Individualisten zu sein. „Le succès de cette pièce [Rhinoce´ros; Anm. M. M.] me stupe´fie. Les gens la comprennent-ils comme il faut? Y voient-ils le phénomène monstrueux de la ‚massification‘? En meˆme temps qu’ils sont ‚massifiables‘, sont-ils aussi, et essentiellement, 117 au fond d’eux-meˆmes, tous, des individualistes, des aˆmes uniques?“

IV. 5. Felix Mitterer (*1948) Mitterers Das Fest der Krokodile ist ein Kinder- und Jugendtheaterstück (UT – Kinderstück über den Krieg), das er im Auftrag des Theaters Schrille Stille vor dem Hintergrund der Anfang der 1990er Jahre beginnenden jugoslawischen Bürgerkriege schrieb. Die Theatergruppe hatte zuvor Gespräche mit österreichischen Schülern zum Thema Krieg geführt und stellte Mitterer das protokollierte Mate114 115 116

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E. Mounier, Révolution personnaliste et communautaire, in: Ders. Oeuvres, a.a.O., Bd. I, S. 197. (Hervh. im Orig.). E. Ionesco, Le solitaire, Paris 1973, S. 23. Ebd., S. 37f. Siehe auch: „Des dizaines de milliers qui se ressemblaient tous, ils couraient, ils allaient tous droit devant eux comme s’ils avaient un but détermine´, précis. On aurait dit des rues peuplées de chiens. Ebd., S. 37. E. Ionesco, Notes, a.a.O., S. 188. Vgl. ähnlich ebd., S. 57f.

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rial zur Verfügung. Im September 1994 wurde Das Fest der Krokodile bei einem Kindertheaterfestival („Szene Bunte Wähne“) in Niederösterreich uraufgeführt und im November mehrere Wochen im Wiener Künstlerhaus gespielt. Trotz guter Publikumsresonanz sowohl bei Kindern als auch Erwachsenen war Mitterer mit dem Stück unzufrieden und ließ es für weitere Aufführungen sperren.118 Nur durch Zufall gelangte es 1998 am Wiener Theater Experiment neuerlich zur Aufführung. Eine Mitarbeiterin des Innsbrucker Haymon-Verlags hatte dem Theater den Text in Unkenntnis der Sperrung zugesandt. Mitterer, der die Aufführung besuchte, revidierte sein früheres Urteil und befürwortete schließlich die Aufnahme des Stücks in die seit 2007 nun vierbändige Werkausgabe des Verlags (vgl. FK, 166). Mitterers Das Fest der Krokodile zielt wesentlich auf Entlarvung. Sowohl der Mythos soldatischen Heldentums als auch die manipulativen Mechanismen politischer (Ver-)Führung sollen hinterfragt und aufgezeigt werden. „Es war mir in dem Stück [Das Fest der Krokodile; Anm. M. M.] vor allem um Entlarvung gegangen, um Entlarvung der Führer und Entlarvung der Helden, und Entlarvung funktioniert am besten mit einer absurden, respektlosen Komödie.“ (FK, 165).

Geboren und aufgewachsen in Tirol, war Mitterer zunächst ab 1966 beim Zollamt in Innsbruck tätig, bevor ihn sein Theaterstück Kein Platz für Idioten 1977 gewissermaßen über Nacht bekannt machte, und er seine Anstellung kündigte.119 Kein Platz für Idioten schildert die Ausgrenzung eines behinderten Jungen aus einer dörflichen Gemeinschaft. Ihr Argument, die Gegenwart des Jungen sei für den aufblühenden Tourismus geschäftsschädigend, enthüllt den umfassenden Konformismus der Dorfbevölkerung und ihre fragwürdige Definition von „Normalität“, die letztlich jede Form des Andersseins sanktioniert und diffamiert.120 Personal („Wirt“, „Dorftrottel“, „Betrunkener“) und Schauplatz („Dorfgasthof“) des Theaterstücks verweisen scheinbar auf die Form des Bauernschwanks. Mitterers Umsetzung zielt aber entgegen der Publikumserwartung nicht auf eine unterhaltende Konfliktdarstellung und heiter-komische Lösung; ebensowenig ist der „Dorftrottel“ Quelle der Erheiterung. Kritisch hinterfragt werden vielmehr Motive und Mechanismen der Ausgrenzung.

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Für Mitterer war es zunehmend problematisch geworden, das Theaterstück in einem engen Austausch mit den Mitgliedern der Theatergruppe zu erarbeiten (vgl. FK, 165). Vgl. zu ersten Arbeiten und Hörspielproduktionen Mitterers ab den 1970er Jahren F. Mitterer, Lebenslauf, in: Ders., Stücke, Innsbruck 1992ff., Bd. II, S. 353ff. Wie auch in weiteren seiner Theaterstücke (vgl. Anm. 129, S. 125) bezog sich Mitterer in Kein Platz für Idioten auf einen konkreten, realen Vorfall. Laut einer Zeitungsmeldung hatte ein Wirt in einem Tiroler Fremdenverkehrsort eine Mutter mit ihrem behinderten Kind seiner Gastwirtschaft verwiesen, da er um seinen Umsatz fürchtete. Vgl. H. Demel (Hg.), F. Mitterer. Materialien zu Person und Werk, Innsbruck 1995, S. 83.

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„Mit diesem Stück hat Mitterer das verluderte Genre des Bauernschwanks inhaltlich erneuert: Er hat das herkömmliche Schwank-Personal – den ‚Bürgermeister‘, den ‚Dorftrottel‘, den ‚Besoffenen‘ – zwar beibehalten, aber entlöwingert und umgepolt zum kritischen Volksstück über Unduldsamkeit und Außenseiter-Hatz im tou121 ristisch devastierten und demoralisierten ländlichen Milieu.“

Mitterers Dramenschaffen wird vornehmlich im Zusammenhang mit der Ausformung eines kritischen beziehungsweise neuen Volksstücks in den 1960er/1970er Jahren rezipiert.122 Der Terminus „Volksstück“, unter dem verschiedene Spielformen (z. B. Posse, Schwank oder Lokalstück) gefasst werden, ist letztlich aufgrund der vielschichtigen Bedeutungsimplikationen, die der Begriff „Volk“ mit sich führt, überaus vieldeutig und definitorisch problematisch.123 Wesentlich inhärent ist dem Terminus aber eine Opposition von „oben“ und „unten“, d. h. eine – jeweils historisch festzustellende – Abgrenzung des „einfachen“ Volkes von einer Oberschicht oder Elite. Für Horváth, dessen Dramenschaffen bereits für die Zwischenkriegszeit eine kritische Erneuerung der Volksstücktradition zeigt, besteht das Volk in Deutschland sowie „alle[n] übrigen europäischen Staaten zu neunzig Prozent aus vollendeten oder verhinderten Kleinbürgern, auf alle Fälle aus Kleinbürgern“, somit der „großen Masse“, die durch Krieg, Wirtschaftsmisere und Arbeitslosigkeit alle Wertorientierung verloren zu haben scheint.124 In seinen Volksstücken zielt er auf die „Demaskierung“ kleinbürgerlicher Bewusstseinslagen, wie er sie beispielhaft in seinem Roman Der ewige Spießer (1930) beschreibt. „Der Spießer ist bekanntlich ein hypochondrischer Egoist, und so trachtet er danach, sich überall feige anzupassen und jede neue Formulierung der Idee zu ver125 fälschen, indem er sie sich aneignet.“ 121

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Ebd., S. 64. Siehe auch Mitterer selbst: „… my play contains all the stock figures of traditional peasant farce – the cross wife, the Bürgermeister, the gendarm, the village idiot – but they were used differently.“ Zitiert nach K. Palm (Hg.), Burgtheater. Vier österreichische Stücke: Elfriede Jelinek, Burgtheater. Heinz R. Unger, Zwölfeläuten. Käthe Kratz, Blut. Felix Mitterer, Besuchszeit, Berlin 1986, S. 252f. Schaarschmidt spricht vom „modernen Volksstück“ und behandelt in seinem Aufsatz auch das Dramenschaffen Ö. v. Horváths sowie M.-L. Fleißers. Vgl. P. Schaarschmidt, a.a.O., S. 201ff. Siehe hierzu folgende, entsprechend weitgefasste Definition: „…Volk [spielt] für Produktion, Thematik und Rezeption der Stücke eine entscheidende Rolle. Volksstück kann ein Stück von dem, über das, für das Volk sein, es kann auf der thematischen Ebene Probleme des Volkes erfassen oder unterhaltend und belehrend auf das Volk einwirken.“ H. Aust/P. Haida/J. Hein, a.a.O., S. 18. (Hervh. im Orig.). Mitterer selbst lehnt den Begriff als zu „verwaschen“ ab, wählt aber bewusst Volksbühne und Volksfestspiele als Aufführungsorte für seine Stücke, um breite Bevölkerungsschichten zu erreichen. Vgl. H. Demel (Hg.), a.a.O., S. 74. Vgl. Ö. v. Horva´th, Gebrauchsanweisung, in: Ders., Gesammelte Werke, 5 Bde., Frankfurt/M. 1988, Bd. IV, S. 858f. u. 861 sowie P. Schaarschmidt, a.a.O., S. 201. Ö. v. Horva´th, Der ewige Spießer. Erbaulicher Roman in drei Teilen, in: Ders., Gesammelte Werke, a.a.O., Bd. IV, S. 275.

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Für das neue, kritische Volksstück ist eine Thematisierung der zeitgenössischen sozialen Verhältnisse und der Lebenswirklichkeit „unterer“ Volksschichten, aber auch sozialer Randgruppen kennzeichnend. Die dialektale Sprache, das bekannte sowie begrenzte Personal und der zumeist regionale Schauplatz rufen traditionelle Spielformen des Volksstücks auf. Die konventionellen Sehgewohnheiten des Publikums werden aber unterlaufen. Der vermeintlich vertraute heimatliche Raum zeigt sich als „unheimlicher“ Ort einengend-konformistischer Be- und Ausgrenzung, der nicht zuletzt von einer tiefen Kommunikationslosigkeit geprägt ist, da sich die Sprache der Figuren zur Problemdurchdringung und -lösung als untauglich erweist. „… die Vertreter des ‚neuen‘ Volksstücks [wollen] Stoff und Dramaturgie ihrer Stücke aus der gegenwärtigen sozialen und politischen Realität gewinnen. Gemeinsam ist den Stücken die Darstellung der sozialen und psychischen Verhaltensweise von Vertretern der Unterschicht oder auch Randgruppen, wobei mit unterschiedlichen dramatischen Modellen und Sprachstilen experimentiert wird. […] Ausgehend von konventionellen Hör- und Sehgewohnheiten des Publikums, von der scheinbar heiteren Atmosphäre des Dialekts, dem Hintergrund regionaler und sozialer Begrenzung, ‚einfachen‘ Problemen und Konflikten, einem überschaubaren Personal in einer kleinen Welt, wird dem Zuschauer das ‚Heimatliche‘ zur unheim126 lichen und bedrückenden Enge verfremdet.“

Die für das kritische Volksstück merkmalhafte Außenseiter- und Randgruppenproblematik ist auch für Mitterers Arbeit bestimmend und durchzieht sein Werk. Er ist wirkungsorientiert und spricht im Zusammenhang mit der Darstellung von Außenseitern auch von einem sozialkritischen Impetus seines Schaffens.127 „Die Opfer sind ‚die Anderen‘. Und diese ‚Anderen‘ – die Außenseiter, die Ausgestoßenen – sind ein durchgehendes Thema meiner literarischen Arbeit. Ein großer Teil der Menschen hat ständig Angst vor ‚den Anderen‘, hegt ständig Aggressio128 nen gegen sie, ganz gleich, auf welche Art sie anders sind…“

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H. Aust/P. Haida/J. Hein, a.a.O., S. 318. Für das kritische Volksstück der 1960er/1970er Jahre seien beispielhaft angeführt M. Sperrs Jagdszenen aus Niederbayern (1966) sowie R. W. Faßbinders Katzelmacher (1968), P. Turrinis Rozznjodg (1971) und Kroetz’ Stallerhof (1972). Vgl. H. Demel (Hg.), a.a.O., S. 37. Da Mitterer versucht, das Publikum „beim Gefühl zu packen“, werden ihm von Seiten der Kritik teilweise allzu moralisierende und didaktische Tendenzen vorgeworfen. Vgl. ebd., S. 65 u. 74 sowie J. Holzner, a.a.O., S. 817f. Generell zur Aufnahme von Mitterers Stücken von Seiten der Kritik vgl. K. E. Webb, An Introduction to Felix Mitterer and his Critics, in: N. J. Meyerhofer/K. E. Webb (Hgg.), a.a.O., S. 7-18. H. Demel (Hg.), a.a.O., S. 30. Mitterer verweist hinsichtlich seiner Beschäftigung mit Außenseitern sowie sozialen Randgruppen und Mechanismen der Ausgrenzung wiederholt auf seine eigene Biographie: „… nach dem Krieg war an den Bauernhöfen noch das neunzehnte Jahrhundert. […] [I]ch bin in einer ganz alten archaischen Zeit aufgewachsen […] Außenseiter war man damals am Land schon, wenn man gelesen hat, viel gelesen hat. Das wurde

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Sein Theaterstück Kein schöner Land (UA 1987) thematisiert die nationalsozialistische Vergangenheit Österreichs anhand der Ereignisse in einem Tiroler Bergdorf und schildert die Ausgrenzung des einst angesehenen jüdischen Viehhändlers Stefan Adler, der schließlich – ebenso wie der Dorfpfarrer – deportiert und ermordet wird.129 An Brisanz gewann das Theaterstück aufgrund der Waldheim-Affäre 1986 und des Gedenkjahres 1988 zum „Anschluss“ Österreichs an das nationalsozialistische Deutschland 1938.130 Mitterer stellt in Kein schöner Land nicht nur die Opferrolle Österreichs im Dritten Reich in Frage, sondern räumt auch mit der Vorstellung von moralisch intakten ländlichen Dorfgemeinschaften auf, die angeblich für antisemitische Hassparolen nicht empfänglich waren.131 Die Konfliktlinien sind in Mitterers Theaterstück aber nicht so eindeutig, wie dies die obige kurze Schilderung der Ereignisse nahe legt. Während der Viehhändler Adler selbst bereits 1933 der zu dieser Zeit noch verbotenen „Bewegung“ beitritt und erst mit dem sogenannten „Ariernachweis“ von seiner Abstammung erfährt, zeigt sich der antifaschistische Dorfpfarrer in seinen Predigten als überzeugter Antisemit. Der Bürgermeister vermag sich wiederum als machtbewusster Konformist den wechselnden politischen Verhältnissen jederzeit anzupassen. Übergibt er als Repräsentant der Dollfuß-Regierung zunächst seinen mit den Nationalsozialisten sympathisierenden Sohn den staatlichen Sicherheitsbehörden, so tritt er, den veränderten politischen Verhältnissen gehorchend, später selbst der nationalsozialistischen Partei bei, um seinen Posten als Bürgermeister nicht zu verlieren. Nach dem Krieg ruft er – ebenfalls in der Funktion als Bürgermeister – die Bevölkerung auf, die jüngste Vergangenheit auf sich beruhen zu lassen und sich auf den Aufbau eines zukünftigen Österreichs zu konzentrieren. „Mag da auch manches passiert sein, was jetzt von manchen breitgetreten und maßlos übertrieben wird – der Krieg, liebe Mitbürger, ist nun einmal kein Honigschlecken! Keinen soll ein Vorwurf treffen! […] Denn keiner, keiner von uns wuß-

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als fast etwas Krankhaftes angesehen. Abgesehen davon, daß es am Abend Strom verbraucht hat. Viele haben gemeint, Lesen macht blöd.“ Ebd., S. 45f. Auch mit Kein schöner Land bezieht sich Mitterer auf einen konkreten historischen Fall. Als Vorlage diente ihm das Schicksal des Fremdenverkehrspioniers Rudolf Gomperz. Vgl. F. Mitterer, Kein schöner Land, Innsbruck 1987, S. 95ff. K. Waldheim wurde vorgeworfen, an Kriegsverbrechen auf dem Balkan beteiligt oder zumindest davon gewusst zu haben. Trotz nationaler und internationaler Proteste wurde er 1986 zum Präsidenten gewählt. Die Moskauer Deklaration (1943), die Österreich als erstes Opfer von Hitlers nationalsozialistischer Aggressionspolitik darstellte, bildete eine wesentliche Grundsäule des Selbstverständnisses der Zweiten Republik. Herzmann behandelt Mitterers Theaterstück dementsprechend unter dem Stichwort der „Mythoszerstörung“. Vgl. H. Herzmann (1997), a.a.O., S. 108ff., 118 u. 122ff. Zum Antisemitismus im konservativ-katholischen Tirol bemerkt G. Köfler: „Als ‚Antisemitismus ohne Juden‘ läßt sich das Verhältnis der Tiroler zu ihren jüdischen Mitbürgern am treffendsten umschreiben, denn der Anteil der Juden an der Gesamtbevölkerung kam über die Promillgrenze nie hinaus.“ G. Köfler, Die Juden in Tirol, in: F. Mitterer, Kein schöner Land, a.a.O., S. 121.

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Biographische Notizen

te, daß wir von einem Wahnsinnigen angeführt wurden! Alle, alle wurden wir mißbraucht; ausgenützt hat man unsere edelsten Gefühle, ausgenützt hat man unseren Idealismus, unseren Glauben, unsere Treue! […] Vergessen wir das jetzt, ich appelliere an euch! Streichen wir durch diese Zeit, löschen wir sie aus unserem Herzen und in unserem Gedächtnis! […] Denn nun, Freunde, geht es an den Wiederauf132 bau; und nur mit vereinten Kräften werden wir diesen Wiederaufbau schaffen!“

Mitterers Bürgermeister rekurriert – allerdings nun gewissermaßen mit umgekehrten Vorzeichen – auf die bereits bekannte Opposition von Masse und Elite. Die breite Masse der willfährigen „Befehlsempfänger“ delegiert problemlos die eigene Veranwortung an eine verbrecherische Elite und rechtfertigt bequem den eigenen todbringenden Konformismus mit dem Argument, von dieser Elite missbraucht und verführt worden zu sein. Im Jahr der Uraufführung von Kein schöner Land wurde Mitterer beauftragt, für das Wiener Theater in der Josefstadt eine Neufassung des Jedermann-Stoffes zu erarbeiten (UA 1991). Er orientierte sich insbesondere an H. v. Hofmannsthals Jedermann – Das Spiel vom Sterben des reichen Mannes (UA 1920), lässt sein Stück aber im Manager- und Globalisierungszeitalter spielen.133 Im Vergleich zu Hofmannsthals Müßiggänger ist Mitterers Jedermann Generaldirektor eines Stahlund Waffenkonzerns, Buhlschaft seine Sekretärin. Der Teufel tritt als WallstreetBroker auf, ein noch skrupelloserer Geschäftsmann als Jedermann selbst. Mammon, Gute Werke und Guter Gesell, von Mitterer als Bankdirektor, Gewerkschaftspräsident und Bundeskanzler auf die Bühne gebracht, sind in ihrem Streben nach Geld, Macht und Einfluss allesamt korrupt.134 Im Gegensatz zu Hofmannsthal, der auf das individuelle Fehlverhalten Jedermanns abzielt, zeigen sich in Mitterers Fassung angesichts börsennotierter Aktienkurse und einer vielfältig korrupten Verflechtung von politischen und wirtschaftlichen Interessen persönliche Verantwortlichkeit und Schuld sowohl anonymisiert als auch potenziert.135 „Das Anachronistische an Hofmannsthals ‚Jedermann‘ besteht dann unter anderem darin, daß dort die Schuld des Jedermann ausschließlich individuell gesehen wird; […] Bei Mitterer gelangt im Gegensatz hierzu das zur Darstellung, was der brasilianische Bischof Erwin Kräutler als ‚strukturelle Sünde‘ bezeichnet. Diese schließt in-

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F. Mitterer, Kein schöner Land, a.a.O., S. 85f. Vgl. ausführlicher zu Mitterers Orientierung an Hofmannsthal F. Mitterer, Ein Jedermann, in: Ders., Werke, a.a.O., Bd. II, S. 277. Die Allegorie des Glaubens strich Mitterer dagegen ersatzlos. Er hatte allerdings zunächst ein Gespräch zwischen Gott, Jesus und dem Heiligen Geist dem Stück als Vorspiel vorangestellt, nach einer Klage wegen des „Verdachts auf Herabwürdigung religiöser Lehren“ aber auf diese einleitenden Passagen verzichtet. Vgl. H. Demel (Hg.), a.a.O., S. 106. So beruft sich Mitterers Jedermann bei seinen Waffengeschäften auf die Mitschuld aller und rechtfertigt seine verspätete Einsicht mit dem Umstand, dass er mit den Konsequenzen seines Handels nie unmittelbar konfrontiert worden sei. Vgl. F. Mitterer, Ein Jedermann, a.a.O., S. 328 u. 333.

Biographische Notizen

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dividuelle Versündigung nicht aus, entsteht und setzt sich jedoch fort durch ge136 meinsames Handeln von Lobbies, Multis, politischer Machtgruppen usw.“

Gleichzeitig ist der Einzelne bloß machtloses Objekt und Spielball eines weitverzweigten Interessen- und Einflusssystems, das er nicht zu durchschauen vermag. Individuell-persönliche Weltaneignung und -durchdringung erweisen sich als zunehmend problematisch. So ist Jedermanns um ihre Arbeitsplätze kämpfende Firmenbelegschaft auch lediglich willfähriges und manipulierbares Druckmittel in den Händen eines korrupten Gewerkschaftsfunktionärs. „Jedermann: Sie bekommen heute noch Ihren Vertrag. Als Präsident des Fußballvereins. Natürlich zurückdatiert. Damit kein Zusammenhang besteht. […] Werke: Ich hab’ die Bilanzen geseh’n. Er muß freistellen, sonst kracht die Firma zusammen. Dann seid ihr alle arbeitslos! Ein paar Arbeiter wollen trotzdem auf Jedermann zustürmen, Werke hält sie auf. Werke: Die Regierung ist schuld! Die Regierung! Los, kommt! Denen heizen wir ein! (Er geht los zur Tür.) Nieder mit der Regierung! Die Arbeiter folgen Werke. Die Arbeiter: Nieder mit der Regierung! Werke geht hinaus, die Arbeiter folgen ihm […] von der Straße her hört man die Arbeiter tosen. (Ein wenig später hört man Werke unten auf der Straße durch Lautsprecher reden, die Leute umstimmen, aufhetzen, die Masse brüllt auf, der Zug 137 der 100.000 entfernt sich langsam, das Tosen verebbt.)“

Wie auch an anderer Stelle bedient sich Mitterer zur Beschreibung der Massen des bereits bekannten Meeresbildes. „Es nähert sich weit unten auf der Straße der Lärm von 100.000 demonstrierenden Arbeitern wie tosende Brandung.“138 Charakterisiert finden sich die Arbeiter zudem als gesichtslose Masse dumpfer Arbeitstiere („biersaufende, rußgeschwärzte, grobschlächtige Arbeitstiere“)139 . Schließlich ist es ein Unternehmerkollege Jedermanns, der sowohl hinlänglich bekannte pejorative Bezeichnungen der Vielen als auch demokratiefeindliche Elitekonzeptionen aktualisiert; die um ihre Arbeitsplätze kämpfenden Arbeiter werden zum Pöbel gestempelt, dem das Stimmrecht zu entziehen ist. „Die Stimme des Pöbels! Warum zählt jede Stimme gleich? […] Die Stimme des allerletzten Primitivlings in meiner Firma wiegt genauso viel wie meine! Ist das richtig? Ich hasse drei Dinge wie nichts auf der Welt: die Arbeiter, die Politiker, die 140 Demokratie!“

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H. Demel (Hg.), a.a.O., S. 107. Auch Tanzer spricht von „struktureller Sünde“, die sie als „Mangel an Verantwortung für Umwelt und Mitwelt“ und „schuldhaftes Versagen angesichts ungerechter und schädlicher Institutionen“ definiert. Vgl. U. Tanzer, a.a.O., S. 241. F. Mitterer, Ein Jedermann, a.a.O., S. 311f. Ebd., S. 310. Vgl. ebd., S. 309. Ebd., S. 295.

V. Aufbau und Komposition V. 1. Michail A. Bulgakovs povest’ Rokovye Jajca Die „povest’“ („Kurzroman“; „Erzählung“) ist anhand ihres Textumfangs als Prosaform mittlerer Länge und russische Gattungsvariante zwischen dem Roman und der Erzählform des „rasskaz“ („(Kurz-)Erzählung“1 ) zu bestimmen.2 Nach V. G. Belinskij ist die Handlung des „roman v miniatjure“3 auf einen Ausschnitt beziehungsweise Teil der Großform begrenzt. „Kogda-to i gde-to bylo prekrasno skazano, çto ,povest´ est´ qpizod iz bespredel´noj poqmy sudeb çeloveçeskix‘. Qto oçen´ verno; da, povest´ – ras4 pav‚ijsä na çasti, na tysäçi çastej, roman; glava, vyrvannaä iz romana.“

Im Vergleich zum Roman berichtet die „povest’“ von einer bestimmten, zeitlich sowie räumlich begrenzten Entwicklungsphase oder Erfahrung einer einzelnen Person oder auch einer, allerdings zahlenmäßig begrenzten, Gruppe von Personen. Während sich die Erzählform des „rasskaz“ zumeist auf ein Ereignis („edinicˇnoe sobytie“) konzentriert, zeigt die „povest’“ eine additive und wesentlich chronikalisch geordnete Aneinanderreihung mehrerer miteinander verbundener Episoden.5 Die erzählte Handlung in Bulgakovs „povest’“ Rokovye Jajca ist in die nahe Zukunft verlegt und setzt am 16. August 1928 ein. Zentraler Handlungsort ist Moskau, das sich ob der extrapolierten zeitgenössischen Verhältnisse der NE∆PPeriode als lichterstrahlende, dynamisch-moderne und letztlich doch weitgehend unsozialistische Großstadt präsentiert.

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Vgl. zu den deutschen Entsprechungen für die Gattungsvarianten „povest’“ und „rasskaz“ W. Kasack (1992), a.a.O., Sp. 917 und B. Schultze, Jurij Trifonovs „Der Tausch“ und Valentin Rasputins „Geld für Maria“. Ein Beitrag zum Gattungsverständnis von Povest’ und Rasskaz in der russischen Gegenwartsprosa, Göttingen 1985, S. 16 u. 20. Vgl. K. Städtke, Die Entwicklung der russischen Erzählung (1800-1825). Eine gattungsgeschichtliche Untersuchung, Berlin 1971, S. 11 und B. Schultze (1985), a.a.O., S. 14. Zu N. I. Nadezˇdins Definition der „povest’“ als „Roman en miniature“ vgl. K. Städtke, Zur Geschichte der russischen Erzählung (1825-1840), Berlin 1975, S. 22. V. G. Belinskij, O russkoj povesti i povestjach g. Gogolja („Arabeski“ i „Mirgorod“), in: Ders., Sobranie socˇinenij v devjati tomach, Moskau 1976ff., Bd. I, S. 150. (Hervh. im Orig.). Vgl. B. Schultze (1985), a.a.O., S. 15 u. 18. Angesichts der Konzentration des „rasskaz“ auf ein wesentliches Ereignis zeigen verschiedene Definitionsversuche dieser Erzählform auch eine Nähe zur klassischen deutschen Auffassung der Novelle als Schilderung einer „unerhörten Begebenheit“. So etwa Belinskijs Kennzeichnung der Handlung von Pusˇkins Pikovaja Dama als „slisˇkom iskljucˇitel’no, i slucˇajno.“ Vgl. K. Städtke (1971), a.a.O., S. 9. Vgl. zu Goethes Kennzeichnung der Novelle als „unerhörte Begebenheit“ H. Aust, Novelle, 2., überarb. u. erg. Aufl., Stuttgart/Weimar 1995, S. 11 u. 175.

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„Ona [Moskva; Anm. M. M.] svetilas´, ogni tancevali, gasli i vspyxivali. Na Teatral´noj plowadi vertelis´ belye fonari avtobusov, zelenye ogni tramvaev; nad byv‚im Mür i Merilizom, nad desätym nadstroennym na nego qtaΩom, prygala qlektriçeskaä raznocvetnaä Ωenwina, vybrasyvaä po bukvam raznocvetnye slova: ,Raboçij kredit‘. V skvere protiv Bol´‚ogo teatra, gde bil noç´ü raznocvetnyj fontan, tolklas´ i gudela tolpa. A 6 nad Bol´‚im teatrom gigantskij rupor zavyval…“ (RJ, VI, 335f.).

Neben Moskau ist das ländliche Russland Schauplatz der Ereignisse. Mit Nikol’skoe, wo Rokks Sowchose „Krasnyj lucˇ“ gelegen ist (vgl. RJ, VIII, 350), und der Provinzstadt Vjaz’ma, die von den monströsen Reptilienmassen bedroht wird (vgl. RJ, X, 371 u. XI, 374), sind zwei Ortschaften genannt, wo Bulgakov als Zemstvo-Arzt tätig war.7 Bulgakovs Rokovye Jajca gliedern sich in zwölf Kapitel und lassen einen gewissen symmetrischen Aufbau erkennen. Die ersten Sätze des ersten Kapitels deuten zukunftsgewiss auf die späteren Ereignisse voraus. „16 aprelä 1928 goda, veçerom, professor […] Persikov vo‚el v svoj kabinet […] Professor zaΩeg verxnij matovyj ‚ar i oglädelsä. Naçalo uΩasaüwej katastrofy nuΩno sçitat´ zaloΩennym imenno v qtot zlosçastnyj veçer, ravno kak pervopriçinoü qtoj katastrofy sleduet sçitat´ imenno professora Vladimira Ipat´eviça Persikova.“ (RJ, I, 8 305).

Gleichsam expositorisch schildert der Erzähler nachfolgend in einer kurzen aufbauenden Rückwendung Persikovs bisherigen Lebenslauf.9 Nach einer neuerlichen Ankündigung der katastrophalen Geschehnisse, die das erste Kapitel beschließt („A letom 1928 goda proizosˇlo to neverojatnoe, uzˇasnoe…“; RJ, I, 308), wendet sich der Erzähler mit Beginn des zweiten Kapitels wieder dem Abend des 16. April 1928 zu, als Persikov sein Labor betritt und das Licht einschaltet. „Itak, professor zaΩeg ‚ar i oglädelsä.“ (RJ, II, 309). Korrespondierend mit dem expositorischen ersten Kapitel berichtet das letzte Kapitel 12 in der Art eines Epilogs über den rettenden Frosteinbruch in der Nacht vom 19. auf den 20. August 1928, der die monströsen Tiermassen tötet.

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Zu einer ähnlich dynamisch-modernen und lichterstrahlenden Beschreibung Moskaus vgl. auch M. A. Bulgakov, Sorok sorokov, in: Ders., Sobranie socˇinenij v desjati tomach, a.a.O., Bd. I, S. 236ff. Vgl. E. C. Haber (1998), a.a.O., S. 19f. und V. Ja. Laksˇin, Mir Michaila Bulgakova, in: M. A. Bulgakov, Sobranie socˇinenij v pjati tomach, Moskau 1989, Bd. I, S. 13. Kapitel 10, das schließlich das Vorrücken der Reptilien auf Moskau schildert, scheint mit der Kapitelüberschrift „Katastrofa“ auf diese anfänglichen Andeutungen Bezug zu nehmen. Vgl. zu den Termini „aufbauende Rückwendung“, „zukunftsgewisse Vorausdeutung“ und nachfolgend „abschließende Vorausdeutung“ E. Lämmert, Bauformen des Erzählens, 8. Aufl., Stuttgart 1991, S. 104ff., 143ff. u. 153f.

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Aufbau und Komposition

„V noç´ s 19-go na 20-e avgusta 1928 goda upal neslyxannyj, nikem iz staroΩilov nikogda ewe ne otmeçennyj, moroz. […] Ix [merzkix presmykaüwixsä; Anm. M. M.] zadu‚il moroz. Dvux sutok po 18 gradusov ne vyderΩali omerzitel´nye stai,…“ (RJ, XII, 377).

In einer abschließenden, über die erzählte Zeit hinausweisenden Vorausdeutung erfährt der Leser, dass die Aufräumarbeiten und das Entsorgen der Tierkadaver noch bis zum Frühjahr des Jahres 1929 andauern (vgl. RJ, XII, 378). Insgesamt zeigt die Erzählung eine gewisse Ringstruktur. Unverändert präsentiert sich das lichtdurchflutete Moskau nach der überstandenen Katastrophe wieder in seinem hektischen großstädtischen Treiben. Der ehemalige Assistent Ivanov ersetzt Persikov als Leiter des neu errichteten Instituts. „A vesnoj 29-go goda opät´ zatancevala, zagorelas´ i zavertelas´ ognämi Moskva, i opät´ po-preΩnemu ‚arkalo dviΩenie mexaniçeskix qkipaΩej […] i na meste sgorev‚ego v avguste 28-go goda dvuxqtaΩnogo instituta vystroili novyj zoologiçeskij dvorec, i im zavedoval privat-docent Ivanov,…“ (RJ, XII, 378).

Kapitel 6 und 7 nehmen im Aufbau eine Mittelstellung ein und schildern ein wiederholtes Aufeinandertreffen von Persikov und Rokk. Zunächst stößt der Professor am Ende des sechsten Kapitels in einem Menschengewühl mit einem altmodisch gekleideten Unbekannten zusammen und verletzt sich an dessen Revolverhalfter. „Zdes´, ne glädä krugom, poglowennyj svoimi myslämi, on [Persikov; Anm. M. M.] stolknulsä so strannym, staromodnym çelovekom, prebol´no tknuv‚is´ pal´cami prämo v derevännuü koburu revol´vera, visäwego u çeloveka na poäse.“ (RJ, VI, 338).

Im siebten Kapitel registriert Persikov bei einer Vortragsveranstaltung das gelbe Futteral von Rokks Revolverhalfter und hat nachfolgend mit schweren Kreislaufproblemen und Brechreiz zu kämpfen. Das Wahrnehmen von Brandgeruch und Persikovs Gefühl, Blut fließe heiß seinen Hals hinab, verweisen auf das gewaltsame Ende des Professors. „… i vdrug Ωeltaä kobura pistoleta mel´knula i propala gde-to za beloj kolonnoj. Persikov ee smutno zametil i zabyl. No […] on vdrug poçuvstvoval sebä nexoro‚o. Na mig zaslonilo çernym ärkuü lüstru v vestibüle, i Persikovu stalo smutno, to‚novato… Emu poçudilas´ gar´, pokazalos´, çto krov´ teçet u nego lipko i Ωarko po ‚ee…“ (RJ, VII, 341).

Schließlich spricht Rokk bei Persikov im Institut vor. Die Personenbeschreibung macht deutlich, dass es sich bereits zuvor bei dem Unbekannten mit dem Revolver um Rokk handelte. „On byl stranno staromoden […] a na boku ogrom-

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nyj staroj konstrukcii pistolet ,mauzer‘ v Ωeltoj bitoj kobure.“ (RJ, VII, 342). Ironisierend unterstreicht das Wortspiel mit Rokks Nachnamen („rok“ – „Schicksal“) die schicksalhafte Bedeutung der Unterredung. Allerdings scheint in der Welt von Bulgakovs Erzählung nicht zuletzt das Schicksal der Autorisierung durch die Verwaltung des Kremls zu unterliegen. „– Tam do vas, gospodin professor, Rokk pri‚el. […] – Qto interesno. Tol´ko ä zanät. – Oni govorät, çto s kazennoj bumagoj s Kremlä. – Rok s bumagoj? Redkoe soçetanie, – vymolvil Persikov…“ (RJ, VII, 342).

Bulgakovs Projektion der Ereignisse in die Zukunft impliziert nur scheinbar einen (anti-)utopischen Charakter der Erzählung. Bei Bulgakovs Moskau des Jahres 1928 handelt es sich weder um ein geographisches Nirgendwo („ou“ – „nicht“; „topos“ – Ort“), noch sind wesentliche thematische Merkmale der Gattung erfüllt, da die gesellschaftliche Ordnung nicht von Fremdeinflüssen isoliert nach einer planenden Vernunft entworfen ist.10 Allerdings erwächst aus Bulgakovs Gestaltung einer zukünftig-fiktiven Gesellschaft zwangsläufig eine auch für die Utopie merkmalhafte Spannung zwischen fiktiver und tatsächlicher Lebenswelt, auf deren Missstände sie satirisch verweist, indem sie deren gültige Normen und Werte ironisierend und verfremdend bricht und somit in Frage stellt. „… im satirischen Text [wird] eine fiktive Welt entworfen, die […] auf die sie umgebende Lebenswelt und die in ihr gültigen Normen- und Sinnsysteme verweist, aber diese gleichzeitig durch die verschiedenen Formen der Ironisierung, des aggressiven Lachens oder der Verfremdung in Frage stellt oder zumindest problemati11 siert.“

In Rokovye Jajca wird nun ein allein auf Wissenschaft und Technik basierender Fortschrittsoptimismus in Frage gestellt, während die rote Farbe des Strahls zudem eine generell satirische Brechung der revolutionären Umwälzungsprozesse in

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Vgl. zu „Isolation“, „Selektion“ und „Idealität“ als thematische Merkmale der Utopie beispielhaft H. Schulte-Herbrüggen, Utopie und Anti-Utopie. Von der Strukturanalyse zur Strukturtypologie, Bochum-Langendreer 1960, S. 9. Nikol’skij spricht im Zusammenhang mit Bulgakovs Rokovye Jajca wiederholt von einer antiutopischen Metaphorik, ohne aber Begriff und Gattungsmerkmale hinlänglich zu definieren. Vgl. S. V. Nikol’skij (2001), a.a.O., S. 30, 33, 35 u. ö. J.-U. Peters, Tendenz und Verfremdung. Studien zum Funktionswandel des russischen satirischen Romans im 19. und 20. Jahrhundert, Bern 2000, S. 17. Siehe zur Nähe von Satire und negativer Utopie auch ebd., S. 23: „Indirekter spricht keine Dichtung von Utopie als Satire, denn sie spricht nur von der verkehrten Zeit. Aber auch keine eindringlicher. Denn sie spricht gegen diese Zeit, damit sie richtig gestellt werde. Satire ist Utopie ex negativo.“

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der Sowjetunion impliziert.12 Explizit formuliert Bulgakov in seinem Brief an die sowjetische Regierung 1930, dass sein satirisches Erzählen nicht zuletzt aus seiner tiefen Skepsis gegenüber jeder Form von revolutionärer Umgestaltung anstatt evolutionärer Veränderung erwächst. „Bor´ba s censuroj […] moj pisatel´skij dolg, takΩe kak i prizyvy k svobode peçati. […] Vot odna iz çert moego tvorçestva i ee odnoj sover‚enno dostatoçno, çtoby moi proizvedeniä ne suwestvovali v SSSR. No s pervoj çertoj v sväzi vse ostal´nye, vystupaüwie v moix satiriçeskix povestäx: çernye i mistiçeskie kraski […], v kotoryx izobraΩeny besçislennye urodstva na‚ego byta, äd, kotorym propitan moj äzyk, glubokij skepticizm v otno‚enii revolücionnogo processa, proisxodäwego v moej otstaloj 13 strane, i protivopostavlenie emu izlüblennoj i Velkoj Qvolücii,…“

Wesentlich für die satirische Brechung des dargestellten Geschehens ist eine komisch-ironische Distanzierung des Erzählers gegenüber den Ereignissen.14 Korrespondierend mit der satirischen Infragestellung gültiger Normen- und Wertsysteme zieht diese ironisierende Distanzierung des Erzählers auch auf kompositorischer Ebene wiederholt „Normbrechungen“ nach sich. So ist beispielsweise in Bulgakovs „povest’-grotesk“ Rokovye Jajca weder eine schlüssige Erzählorganisation noch eine logische Kommentierung der Ereignisse durchgängig gewährleistet. Der Erzähler verfügt über kein zuverlässig-konsistentes Urteilsvermögen und ermöglicht dem Leser keine sichere Orientierung und Bewertung des Geschehens.15 Als irreführend erweisen sich bereits einige Kapitelüberschriften, da sie nicht oder nur partiell mit dem Berichteten übereinstimmen. Das vierte Kapitel 12

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Vgl. zur satirischen Lesart auch S. McLaughlin, Structure and Meaning in Bulgakov’s Fatal Eggs, in: Russian Literature Triquaterly 15 (1978), S. 263 und P. Doyle, a.a.O., S. 469ff. Eine umfassend satirisch-allegorische Lesart auf die Ereignisse seit der Oktoberrevolution, wie dies Haber versucht und Partridge einfach behauptet, ist allerdings problematisch, da die Erzählung nicht durchgängig auf zwei in sich kohärenten Bedeutungsebenen gelesen werden kann. Vgl. E. C. Haber (1998), a.a.O., S. 188ff. und H. H. Partridge, a.a.O., S. 133. Gleichzeitig ist die Farbgebung aber auch allgemeiner mit den Aspekten des Wahnsinns und des Bösen in Verbindung zu bringen. In Frances Erzählung ist es etwa das titelgebende L’oeuf rouge (Das rote Ei; 1892), das die Figur des Alexander in geistiger Umnachtung enden lässt. Da sich, ähnlich wie im Alexanderlied Lamprechts (um 1130), am Tag seiner Geburt im elterlichen Hühnerstall ein rotes Ei findet, hält sich Alexander größenwahnsinnig letztlich selbst für eine Inkarnation des Kaisers. Zu verweisen ist in diesem Zusammenhang zudem auf Dostoevskijs Symbol der roten Spinne in dem Roman Besy oder auch auf L. N. Andreevs apokalyptische Vision des Grauens und des Wahnsinns in der Erzählung Krasnyj smech (Das rote Lachen; 1905). M. A. Bulgakov, Dnevnik, a.a.O., S. 224f. Vgl. J.-U. Peters, a.a.O., S. 41. Vgl. zur Frage nach der Glaubwürdigkeit („reliability“) des Erzählers F. K. Stanzel, Theorie des Erzählens, 3., durchges. Aufl., Göttingen 1985, S. 200ff. Zum unzuverlässigen Erzähler in Bulgakovs Rokovye Jajca vgl. auch S. McLaughlin, a.a.O., S. 264ff.

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ist etwa mit „Popenwitwe Drozdova“ überschrieben, Erwähnung findet diese aber lediglich in der Überschrift einer Zeitungsnachricht. „Ko‚marnoe poävlenie bolezni kur u vdovy popad´i Drozdovoj s ee portretom!“ (RJ, IV, 321). Ausführlich thematisiert wird das Ausbrechen der Hühnerpest auf ihrem Hof allerdings erst im darauf folgenden Kapitel. Als äußerst disparat und episodenhaft zeigt sich auch das mit „Rokk“ betitelte siebte Kapitel. Der Erzähler berichtet zunächst über die Maßnahmen zur Eindämmung der um sich greifenden Hühnerpest sowie über die Einberufung staatlicher Kommissionen und zitiert verschiedene Zeitungsnachrichten. Zwar wird schließlich auch das Zusammentreffen zwischen Rokk und Persikov im Labor des Professors geschildert. Weiterreichende Informationen zu Rokks Vorleben erhält der Leser aber ebenfalls erst im darauf folgenden achten Kapitel.16 Zudem findet sich der Leser wiederholt mit einer Fülle unwesentlicher Details konfrontiert. Im ersten Kapitel schildert der Erzähler nicht nur Persikovs äußere Erscheinung und Charaktereigenschaften sowie seine private und berufliche Situation, sondern hält auch die unwichtige Information bereit, dass der Professor Tee mit Beeren liebt (vgl. RJ, I, 306). Ebenso gelten dem Erzähler die Umbenennung der Nikitskaja-Straße und das Stehenbleiben der Uhr in der Gercen-Straße als erwähnenswerte, da vermeintlich wesentliche Ereignisse des Jahres 1920, die zudem, scheinbar dem Ursache-Wirkungsprinzip folgend, in unmittelbarer Beziehung zueinander zu sehen sind. „Proizo‚li sobytiä, i pritom odno za drugim. Bol´‚uü Nikitskuü pereimenovali v ulicu Gercena. Zatem çasy, vrezannye v stenu doma na uglu 17 Gercena i Moxovoj, ostanovilis´ na 11 s 1/4,…“ (RJ, I, 306).

Zielscheibe von Bulgakovs Satire sind zudem die staatlichen Behörden. Diese erwächst wiederholt aus unlogischen und inkongruenten Satzkonstruktionen, die Günther unter dem Oberbegriff des „Alogismus“ auch als Spielform des grotesken Stils bespricht. Wesentlich für diese Kategorie ist abermals die Vereinigung des Unvereinbaren; das „Alogische“ zeigt sich in einer deutlichen Diskrepanz zwischen „logischem Kontext und sprachlicher, d. h. grammatisch-syntaktischer

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Vgl. auch ebd., S. 269f. Eine ähnliche Anhäufung unwesentlicher Details sowie ein unpassendes Inbeziehungsetzen von Ereignissen zeigt auch die Aussage zu Persikovs verbesserten Arbeitsbedingungen. Weder werden Persikovs Veröffentlichungen zur Vermehrung der Käferschnecke und Embryologie der Pipas, Knoblauchkröten und Frösche tatsächlich von einem breiten Publikum registriert, noch interessieren den Leser Verlag, Seitenzahl und Preis von Persikovs Studien. „Persikov oΩil, i ves´ mir neoΩidanno uznal ob qtom, li‚´ tol´ko v dekabre 1926 goda vy‚la v svet bro‚üra: ,Ewe k voprosu o razmnoΩenii blä‚konosnyx, ili xitonov‘. 126 str. ,Izvestiä IV Universiteta‘. A v 1927, osen´ü, kapital´nyj trud v 350 stranic, perevedennyj na 6 äzykov, v tom çilse äponskij: ,Qmbriologiä pip, çesnoçnic i lägu‚ek‘. Cena 3 rub. Gosizdat.“ (RJ, I, 308).

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Ausformung“18 . So ergeht sich Bulgakovs Erzähler hinsichtlich der Bemühungen der staatlichen Behörden zur Eindämmung der Hühnerpest in weitschweifigen Mutmaßungen über den Erfolg der Maßnahmen, um seine Ausführungen schließlich in einem einfachen, gegenüber dem zuvor Geäußerten sinnwidrigen Hauptsatz enden zu lassen. Da die gesamte Hühnerpopulation des Landes der Pest zum Opfer gefallen ist, können die getroffenen Eindämmungsmaßnahmen letztlich nur erfolglos geblieben sein. „Neizvestno, toçno li xoro‚i byli lefortovskie veterinarnye privivki, umely li zagraditel´nye samarskie oträdy, udaçny li krutye mery, prinätye po otno‚eniü k skupwikam äic v Kaluge i VoroneΩe, uspe‚no li rabotala çrezvyçajnaä moskovskaä komissiä, no xoro‚o izvestno, çto çerez dve nedeli posle poslednego svidaniä Persikova s Al´fredom v 19 smysle kur v Soüze respublik bylo sover‚enno çisto.“ (RJ, VII, 338).

Als der Erzähler über das Vorgehen der Geheimpolizei berichtet, nachdem eine Menschenmenge in Anbetracht des Hühnersterbens und aufgewiegelt durch einen „Propheten“ einige Fenster des Volokolamsker Postamtes einworfen hat, bleibt dem Leser das Lachen gleichsam im Halse stecken. In seiner Kommentierung setzt der Erzähler zwei in ihrer Tragweite nicht zu vergleichende Maßnahmen als vermeintlich gleichwertig nebeneinander. „Dank“ des Eingreifens der GPU verschwindet der die Verantwortlichkeit der staatlichen Behörden anprangernde „Prophet“ spurlos, was auf seine Deportation oder Ermordung hindeutet, und im Postamt werden die Scheiben erneuert. „Obßävilsä bylo, pravda, v Volokolamske prorok, vozvestiv‚ij, çto padeΩ kur vyzvan ne kem inym, kak komissarami, no osobennogo uspex ne imel. Na volokolamskom bazare pobili neskol´kix milicionerov, otnimav‚ix kur u bab, da vybili stekla v mestnom poçtovo-telegrafnom otdelenii. Po sçast´ü, rastoropnoe volokolamskoe gepeu prinälo mery, v rezul´tate kotoryx, vo-pervyx, bessledno isçez prorok, a vo-vtoryx, stekla na telegrafe vstavili.“ (RJ, VII, 339).

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H. Günther (1968), a.a.O., S. 64. Zu verschiedenen Beispielen, die sich auch mit der oben angesprochenen Anhäufung unwesentlicher Details und dem unpassenden Inbeziehungsetzen von Ereignissen berühren, vgl. ebd., S. 50ff. Ironisch gebrochen findet sich auch die nachfolgende Einlassung zu den angeblich unausgesetzten und „außerordentlichen“ Bemühungen der Regierung, denn der Erzähler berichtet allein von einer formalen Umbenennung und Mitgliederaufstockung der „Außerordentlichen Kommission zur Eindämmung der Hühnerpest“ (vgl. RJ, VII, 339). Ebenso zielt Bulgakovs Satire im Zusammenhang mit der Figur Rokks auf die einschneidenden gesellschaftsverändernden Umwälzungen in der Sowjetunion. Während die Oktoberrevolution eine Vielzahl aussichtsreicher Karrieren schlagartig beendete, hat sie aber doch zumindest den einst drittklassigen Flötisten Aleksandr Semenovicˇ Rokk zu seiner angeblich wahren Berufung als Revolutionär im Dienste der Bolschewiki geführt (vgl. RJ, VIII, 353f.).

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Die unzuverlässige und inkonsistente Bewertung und Kommentierung der Ereignisse verweist auf den Verlust eines tragfähigen Normen- und Wertesystems, wobei die umfänglich satirische und teils groteske Schilderung des Geschehens letztlich den Eindruck einer gänzlich sinnentleerten Welt vermittelt.20

V. 1. 1. Massenszenen in Michail A. Bulgakovs Rokovye Jajca Bei der Beschreibung des lichterstrahlenden zukünftigen Moskau konzentriert sich Bulgakov wiederholt auf die Darstellung der großstädtischen Menschenmenge, um zum Ende der Erzählung sogar eine um sich greifende Massenpanik ins Bild zu setzen. Verwendung finden verschiedene, bereits bekannte Beschreibungsmuster der Vielen. In einer Straße staut sich die großstädtische Menschenmenge wie ein Fluss („… tolpa zaprudila Mochovuju.“ RJ, IV, 322), und das aufgeregte Treiben eines Menschenauflaufs lässt den Erzähler an einen Bienenstock denken. „… gorodok Steklovsk gudel i kipel, kak ulej,…“ (RJ, V, 326). Neben diesen traditionellen Natur- und Tierbildern fällt eine vornehmlich auf Stimmen und einzelne Körperteile reduzierte Beschreibung der Menge auf. Ursächlich hierfür ist nicht zuletzt der Standpunkt des Erzählers. Da er sich selbst wiederholt im dichten Gedränge zu befinden scheint, ist sein Wahrnehmungsfeld zwangsläufig eingeschränkt. In Kapitel 4 gerät er etwa an der Seite Persikovs in ein Menschengewühl. Aus der Position in der Menge sind vornehmlich Köpfe zu erkennen sowie Stimmen und Geräusche zu hören, die sich aber keiner spezifischen Person zuordnen lassen. „– Tu-tu, – gluxo kriçali avtomobili na Moxovoj. – Go-go-go… I‚´ ty, go-go-go, – ‚ur‚ala tolpa, zadiraä golovy.“ (RJ, IV, 21 322).

Auch als Persikov nach seinem Vortrag mit Übelkeit kämpfend zusammenbricht, vermag er inmitten der ihn umgebenden Menge nur eine Vielzahl von gelben Gesichtern und weißen Männerbrüsten wahrzunehmen. „Pered nim v dyxanii i tumane byli sotni Ωeltyx lic i muΩskix belyx grudej,…“ (RJ, VII, 341).22 Korrespondierend mit der auf einzelne Körperteile reduzierten Beschreibung der Menge erkundigen sich nicht Menschen, sondern aufgeregte Stimmen nach seinem Befinden. „– Vam nexoro‚o, Vladimir Ipat´iç? – nabrosilis´ so vsex storon vstrevoΩennye golosa.“ (RJ, VII, 341). 20 21 22

Vgl. J.-U. Peters, a.a.O., S. 41. Siehe zur lautlichen Darstellung der großstädtischen Menge auch RJ, IV, 321: „… zavyvali neestestvennye siplye golosa…“ Siehe zur reduzierten Beschreibung der Moskauer Bevölkerung auch RJ, XI, 371: „… v kvartirax çto-to vykrikivali, i pominutno iskaΩennye lica vyglädyvali v okna vo vsex qtaΩax,…“

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Aufbau und Komposition

Anschaulich vermittelt die lautliche Schilderung der um sich greifenden Massenpanik auch die zunehmende Orientierungslosigkeit und Erregtheit der großstädtischen Menschenmenge. Der Gesang und das Rufen der Menge gehorchen immer nur kurzfristig einem gewissen ordnenden Prinzip. Ebenso wie sich ein Lied zunächst gleichmäßig wie eine Welle durch die Reihen ergießt („Po rjadam razlivalos’ gluchoe i sˇcˇipljusˇcˇee serdce penie…“; RJ, XI, 373), wechseln sich Frauen- und Männerstimmen nach dem Muster von Gesang und Gegengesang ab. „– Da zdravstvuet konnaä armiä! – kriçali isstuplennye Ωenskie golosa. – Da zdravstvuet! – otzyvalis´ muΩçiny.“ (RJ, XI, 373).

Diese scheinbare Ordnung lässt sich in den erregten und gedrängt stehenden Massen nicht aufrechterhalten und verliert sich im Chaotischen. Zurufe, Schreie und Liedfetzen ertönen unkontrolliert und springen in rascher Folge durch die Reihen. Im Gegensatz zu kommunistischen Ideologievorgaben werden die Massen nicht positiv-geschönt, beispielsweise als geordnete klassenkämpferische Einheit, sondern objektiv, in ihrem emotionalen Aufruhr dargestellt.23 „– Zadavät!!! davät!… – vyli gde-to. – Pomogite! – kriçali s trotuatra. […] Gde-to peli veselo i razuxabisto […] – Vyruçajte, bratcy, – zavyvali s trotuarov, – bejte gadov… Spasajte Moskvu! – Mat´… mat´… – perekatyvalos´ po rädam.“ (RJ, XI, 373).

Rasant verbreitet sich in der lärmenden Menge nicht nur jede neue Nachricht, sondern in der Vervielfachung verfälschen sich die Informationen zum Gerücht. Als ein Zeitungsjunge die neuesten Schlagzeilen ausruft, vermischen sich in der Menschenmenge die Nachrichten über einen Mord und Persikovs Entdeckung (vgl. RJ, IV, 321). Schließlich verbreitet sich das Gerücht, Persikov und seine 23

Vgl. auch E. C. Proffer (1970), a.a.O., S. 85. In V. N. Vojnovicˇs Schelmenroman Zµizn’ i neobycˇajnye prikljucˇenija soldata Ivana Cµonkina (Die denkwürdigen Abenteuer des Soldaten Ivan Cµonkin; 1976) sind u. a. die geordneten und straff durchorganisierten Massenversammlungen und Massenaufmärsche in der Sowjetunion sowie die These von der Bewusstheit der Parteikader und den unbewussten Kräften des gemeinen Volkes Zielscheibe der Satire. Als sich nach Bekanntwerden von Hitlers Überfall auf die Sowjetunion eine emotional aufgewühlten Dorfbevölkerung spontan vor dem Büro des Kolchosleiters versammelt, wird dieser von seinem Vorgesetzten gerügt, dass er eine Versammlung der Bevölkerung ohne Kontrolle seitens der Führer nicht zulassen könne. „Anarxiü razvel, vot çego ty nadelal! – Borisov ronäl slova, kak svincovye kapli. – Da gde Ωe qto vidano, çtoby narod sam po sebe sobiralsä bez vsäkogo kontrolä so storony rukovodstva? […] Stixiej, tovariw Kilin, nuΩno upravlät´ […] Esli daΩe ona sama dviΩetsä v Ωelatel´nom napravlenii, ee nado vozglavit´, inaçe ona moΩet re‚it´, çto ona voobwe moΩet dvigat´sä sama po sebe.“ V. N. Vojnovicˇ, Zµizn’ i neobycˇajnye prikljucˇenija soldata Ivana Cµonkina, Leningrad 1990, S. 80f.

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Kinder seien erstochen worden. „– Çitali?! Çego orut´?… Professora Persikova s deti‚kami zarezali na Maloj Bronnoj!… – kriçali krugom v tolpe.“ (RJ, IV, 323). Auffällig ist neben dieser auf einzelne Körperteile sowie Stimmen reduzierten Darstellung eine das menschliche und tierische Verhalten parallelisierende Beschreibung. Nicht nur für Persikovs Versuchstiere, sondern auch für die Großstadtbevölkerung scheinen künstliche Lichtquellen bedeutsam. Während der Leben spendende rote Strahl nur durch elektrisches Licht erzeugt werden kann, ist für die Schilderung des großstädtischen Treibens die Aufzählung unterschiedlichster Beleuchtungsquellen auffällig.24 Neben dem bereits erwähnten vielfarbig sprudelnden Springbrunnen und der mit bunten Glühbirnen behängten Frau strahlen rote Scheinwerfer, buntschillernde elektrische Reklamen sowie grüne und orangefarbene Laternen. „Teatral´nyj proezd, Neglinnyj i Lubänka pylali belymi i fioletovymi polosami, bryzgali luçami […] Tolpy naroda tesnilis´ u sten u bol´‚ix listov obßävlenij, osvewennyx rezkimi krasnymi reflektorami […] V Petrovskix liniäx zelenymi i oranΩevymi fonarämi siäl znamenityj na ves´ mir restoran ,Ampir‘ […] V QrmitaΩe, gde businkami Ωalobno goreli kitajskie fonariki v neΩivoj, zadu‚ennoj zeleni, na ubivaüwej glaza svoim porazitel´nym svetom qstrade kupletisty Írams i Karmançikov peli […] Teatr imeni pokojnogo Vsevoloda Mejerxol´da […] vybrosil dviΩuwuüsä raznyx cvetov qlektriçeskuü vyvesku…“ (RJ, VI, 336f.).

Parallelen zeigen sich auch hinsichtlich des gesteigerten Wachstums der Versuchstiere. Nachdem Persikovs Assistent Ivanov den roten Strahl mit Hilfe von Spiegeln und Linsen verbreitern konnte, spricht Persikov gegenüber dem Journalisten Bronskij von einer tausendfach gesteigerten Wachstumstätigkeit der Tierpopulationen. „VozmoΩno, çto on [luç; Anm. M. M.] povy‚aet Ωiznedeätel´nost´ protoplazmy… – Vo skol´ko raz? – toroplivo sprosil molodoj çelovek [Bronskij; Anm. M. M.]. […] – Çto za obyvatel´skie voprosy?… PredpoloΩim, ä skaΩu, nu, v tysäçu 25 raz!…“ (RJ, IV, 319). 24

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Siehe zum Umstand, dass sich der rote Strahl nur durch elektrisches Licht erzeugen lässt, RJ, III, 314: „– Nado polagat´, çto v spektre solnca ego net […] odnim slovom, nado polagat´, çto dobyt´ ego moΩno tol´ko ot qlektriçeskogo sveta.“ Zur Vielzahl künstlicher Lichtquellen und zu Menschliches und Tierisches parallelisierenden Beschreibungsmustern vgl. auch den kurzen Abschnitt bei E∆. A. Jablokov, a.a.O., S. 40ff. Siehe zum gesteigerten Wachstum von Persikovs ersten Versuchsamöben RJ, III, 314: „Vopervyx, oni obßemom priblizitel´no v dva raza prevy‚ali obyknovennyx ameb,…“

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Aufbau und Komposition

Tausendfach vergrößert erscheint wenig später der Journalist Bronskij selbst auf einer Leinwand, als er für die „Sprechende Zeitung“ über sein Interview mit Persikov berichtet. („…zavyl […] golos uvelicˇennogo v tysjacˇu raz Alfreda Bronskogo,…“; RJ, IV, 322). Sowohl der Großstadt Moskau („… v gigantskoj kipjasˇcˇej Moskve…“; RJ, IV, 317) als auch den mutierten Tierpopulationen unter dem roten Strahl wird brodelndes Leben bescheinigt. „V krasnoj polosoçke kipela Ωizn´.“ (RJ, III, 313). Zudem findet sowohl zur Kennzeichnung der großstädtischen Menschenmassen als auch zur Beschreibung von Rokks mutierten Züchtungen wiederholt das Wort „kasˇa“ („Brei“, „Grütze“; „Durcheinander“) Verwendung, das auf die Ausführungen zum amorphen und ungeformten Charakter der Masse und den bereits aufgezeigten Bedeutungsaspekt des Gärens verweist.26 Persikov und Rokk stoßen erstmals in einem „Menschenbrei“ zusammen („… oni rascepilis’ v ljudskoj kasˇe.“ RJ, VI, 338), und auch die von Panik erfassten Menschenmassen im elften Kapitel werden mit einem dicken Brei verglichen. „… i po Tverskoj-Ämskoj beΩali [lüdi; Anm. M. M.] gustoj ka‚ej, exali v avtobusax, exali na kry‚ax tramvaev, davili drug druga i popadali pod 27 kolesa.“ (RJ, XI, 372).

Das mit „Zµivaja kasˇa“ („lebender Brei“)28 übertitelte neunte Kapitel zeigt dagegen das von Rokk in der Orangerie der Sowchose „Roter Strahl“ gezüchtete Gewimmel der Reptilien als „wurmartigen Brei“. „Vsä oranΩereä Ωila kak çervivaä ka‚a. Svivaäs´ i razvivaäs´ v klubki, ‚ipä i razvoraçivaäs´, ‚arä i kaçaä golovami, po polu oranΩerei polzli ogromnye zmei.“ (RJ, IX, 364).

Die Schilderungen des Reptiliengewühls und der um sich greifenden Massenpanik sind zudem über das Bild der Lokomotive miteinander verbunden. Während in den Moskauer Bahnhöfen das Pfeifen der eintreffenden Evakuierungszüge zu hören ist („Na vokzale […] vyli vse parovozy.“ RJ, XI, 372), zischt die Orangerie wie eine Lokomotive.

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Daneben wird das „Gewühl“ der großstädtischen Massen wiederholt mit dem Wort „gusˇcˇa“ als zähe, dickflüssige Masse beschrieben. Siehe beispielhaft RJ, IV, 323: „… zakriçal taksomotor i vrezalsä v guwu.“ Sowie RJ, X, 368: „– Pri çem tut Persikov, – otveçali iz guwi,…“ Zur Beschreibung der sich drängenden Menschenmassen findet neben dem Verb „davit’“ das Verb „sbit’sja“ („sich zusammendrängen“; „sich verwirren“; „irre werden“) Verwendung, das somit nicht nur auf das räumliche Gedrängtsein, sondern auch auf den verwirrten Geisteszustand der Masse zu verweisen scheint. Th. Reschke wählte in seiner deutschen Übersetzung den Ausdruck „Der lebende Wimmelklumpen“ (vgl. VE, IX, 93).

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„Strannyj i oçen´ zyçnyj zvuk tänulsä v oranΩeree i gde-to za neü. PoxoΩe bylo, çto gde-to ‚ipit parovoz. Zau-zau… zau-zau… s-s-s-s-s… – ‚ipela oranΩereä.“ (RJ, IX, 364).

Dagegen gleicht die Reiterarmee, die einen Zug von Tankwagen mit Schläuchen sowie gepanzerten Fahrzeugen anführt und die Moskauer Bevölkerung vor den vorrückenden, todbringenden Reptilien schützen soll, selbst einer vieltausendköpfigen Schlange („mnogotysjacˇnaja zmeja konnoj armii“; RJ, XI, 373), während die himbeerroten Kapuzen der Reiter farblich an Rokks Eier unter dem roten Strahl („malinovye jajca“; RJ, VIII, 357) erinnern.29 „… i s konej smotreli v zybkom reklamnom svete lica v zalomlennyx malinovyx ‚apkax.“ (RJ, XI, 373).30 Auf engstem Raum stoßen schließlich Menschen- und Reitermasse („konnaja gromada“; RJ, XI, 374) aufeinander, wobei die stärkere berittene Einheit die ihr entgegenstehenden Menschenmassen verdrängt. Diese werden in Hauseingänge gequetscht, Schaufensterscheiben gehen unter ihrem Gewicht zu Bruch (vgl. RJ, XI, 372). Zudem verändern sich mit dem unaufhaltsamen Vordringen der Reiterarmee Aggregatzustand und Eigenschaften des breiigen Menschengewühls. Es entsteht eine erhitzte Brühe des Irrsinns. „Tolpa, meçuwaäsä i voüwaä, kak budto oΩila srazu, uvidav lomäwiesä vpered, rassekaüwie rasplesnutoe varevo bezumiä, ‚erengi.“ (RJ, XI, 373).31 Ein Teil der aufgeheizten Massen wird zum rasenden, lynchenden Mob, der sich an Persikov für die drohende Katastrophe rächen will. Geschildert wird das Vorrücken des hasserfüllten Mobs aus der Perspektive der im Institut befindlichen Figuren. Obwohl zunächst kein Straßenlärm zu hören ist, deutet sich im Bild des kochenden Teekessels die näher kommende, bis zum Siedepunkt erregte und brodelnde Masse bereits an („… cˇajnik s cˇaem […] zakipal na trenozˇnike gazovoj gorelki.“ RJ, XI, 375).32 Plötzlich ertönen lauter werdende Schreie. Glasscheiben werden eingeworfen und Schüsse, Schreie, das Aufbrechen der Institutstür sowie dröhnendes Trampeln sind zu hören (vgl. RJ, XI, 375f.). Diese indirekte, insbesondere laut-

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Auch die Moskauer Straßen sind in himbeerrotes Scheinwerferlicht getaucht. „Vse ulicy byli useäny plakatami, bro‚ennymi i rastoptannymi, i qti Ωe plakaty pod Ωguçimi malinovymi reflektorami glädeli so sten.“ (RJ, XI, 372). Im Argot ist „Himbeere“ („malina“) ein Ausdruck für einen verbrecherischen Plan. Vgl. V. S. Elistratov, Slovar’ russkogo argo (materialy 1980-1990-x gg.), Moskau 2000, S. 238 sowie N. Ja. Mandel’sˇtam, Das Jahrhundert der Wölfe. Eine Autobiogaphie, Frankfurt/M. 1973, S. 396. Obwohl die Reiter aus der Menschenmasse auf der Straße herausragen, ist die Beschreibung auch hier, wie obiges Zitat zeigt, reduzierend. Siehe auch RJ, XI, 373: „… i belye zuby skalilis´ na o‚alev‚ix lüdej s konej.“ Ähnlich gerät die Reptilienmasse in der Orangerie ob der Schüsse des Polizisten Sµcˇukin in rasende Bewegung: „… i v otvet na strel´bu Wukina vsä oranΩereä pri‚la v be‚enoe dviΩenie,…“ (RJ, IX, 365). Zu thermodynamischen Prozessen und Modellen der Physik als wichtige interdiskursive Beschreibungsmuster für das Wesen und Verhalten der Masse seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts vgl. M. Gamper (2007), a.a.O., S. 435ff. u. 460ff.

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liche Beschreibung wird abgelöst von einer neuerlich auf einzelne Körperteile und Kleidungsstücke reduzierten Schilderung, als der Mob zu Persikovs Labor vordringt. In den Institutskorridoren wüten vollständig entmenschlicht nur verzerrte Gesichter und zerrissene Kleider. „IskaΩennye lica, razorvannye plat´ä zaprygali v koridorax…“ (RJ, XI, 376). Persikov erscheinen die Eindringlinge in ihrer Raserei wie wilde Tiere. „Qto formennoe sumas‚estvie… vy sover‚enno dikie zveri.“ (RJ, XI, 376).33 Die rasende, lynchende Masse erinnert letztlich an die bösartigen und aggressiven Versuchsamöben unter dem roten Strahl, die sich in Stücke reißen und verschlingen. „Vnov´ roΩdennye ärostno nabrasyvalis´ drug na druga i rvali v kloç´ä i glotali. Sredi roΩdennyx leΩali trupy pogib‚ix v bor´be za suwestvovanie.“ (RJ, III, 314). Parallelen zum mörderischen Daseinskampf der mutierten Tierpopulation lassen sich insbesondere für den gewaltsamen Tod des Institutswächters Pankrat feststellen. Ebenso wie die Amöben von ihren Artgenossen wird Pankrat von der hasserfüllten Masse in Stücke gerissen. „Pankrat, s razbitoj golovoj, istoptannyj i rvanyj v kloç´ä, leΩal nedviΩimo v vestibüle, i novye i novye tolpy rvalis´ mimo nego,…“ (RJ, XI, 377). Persikov selbst wird schließlich von einem primitiven kleinen Mann mit Affenbeinen erschlagen. Nizkij çelovek, na obez´än´ix krivyx nogax, v razorvannom pidΩake, v razorvannoj mani‚ke, sbiv‚ejsä na storonu, operedil drugix, dorvalsä do Persikova i stra‚nym udarom palki raskroil emu golovu.“ (RJ, XI, 377).

Das Bild des affenbeinigen Mörders entspricht zum einen massenpsychologischen Vorstellungen, dass der Einzelne als Teil einer Masse auf eine primitive Entwicklungsstufe regrediert. Zum anderen scheint das Bild des affenbeinigen Mörders kritisch auf die gesellschaftsverändernden Umwälzungen nach der Oktoberrevolution zu verweisen. In der Diktatur des Proletariats wird der gebildete und begabte Wissenschaftler zum Opfer eines primitiven Halbaffen.34

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In einem Brief an seine Schwester im Revolutionsjahr 1917 berichtet Bulgakov, dass e r während einer Zugfahrt nach Saratov Zeuge war, wie eine rasende Menschenmenge die Zugscheiben einwarf und auf Menschen einprügelte. Die dumpfen Gesichter der primitiven Menge zeigten einen tierischen Ausdruck. „Nedavno v poezdke v Moskvu i Saratov mne pri‚los´ vse videt´ vooçiü, i bol´‚e ä ne xotel by videt´. Ä videl, kak serye tolpy s gikan´em i gnusnoj rugan´ü b´üt stekla v poezdax, videl, kak b´üt lüdej. Videl razru‚ennye i obgorev‚ie doma v Moskve… Tupye i zverskie lica…“ M. A. Bulgakov, Dnevnik, a.a.O., Bd. V, S. 10. Vgl. zu Bulgakovs Beschreibung einer von einem ungebildeten und zerstörungswütigen Pöbel beherrschten nachrevolutionären Gesellschaftsordnung auch ders., Sobacˇ’e serdce, a.a.O., S. 71f.

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V. 2. Karel Cµapeks Roman Va´lka s Mloky Cµapeks Roman besteht aus drei Büchern, wobei sich der Romantitel im dritten Buch wiederholt, das ebenfalls mit Va´lka s Mloky überschrieben ist. Die Aufteilung der insgesamt sechsundzwanzig Kapitel auf die einzelnen Bücher ergibt einen gewissen symmetrischen Aufbau. Das erste Buch, Andrias Scheuchzeri, besteht aus zwölf Kapiteln und einem Nachtrag („dodatek“). Kapitel 6 und 7 bilden allerdings eine Art Doppelkapitel. Dies wird allein schon durch die Titelgebung Jachta na laguneˇ („Die Jacht in der Lagune“) und Pokracˇova´ní jachty na laguneˇ („Fortsetzung von Die Jacht in der Lagune“), die an die Publikationsform des Fortsetzungsromans erinnert, unterstrichen. Als zusammenhängender Abschnitt gezählt, umfassen somit das erste wie das dritte Buch elf Kapitel, während das zweite Buch, übertitelt mit Po stupních civilizace („Auf den Stufen der Zivilisation“) aus drei Kapiteln besteht. Die Beschreibung der weltumspannenden Entwicklungsgeschichte der Molche und ihr Aufstieg zu einer politischen, wirtschaftlichen und militärischen Macht im zweiten Kapitel des zweiten Buches (Po stupních civilizace (Deˇjiny Mloku˚) – „Auf den Stufen der Zivilisation; Geschichte der Molche“) ist mit etwas mehr als fünfzig Seiten nicht nur das umfangreichste Kapitel, sondern erhält als dreizehntes von insgesamt fünfundzwanzig Kapiteln eine zentrale Position im Aufbau. Die erzählte Zeit lässt sich nur anhand von beiläufig in den Roman eingestreuten Hinweisen erschließen. Einen ersten Anhaltspunkt bietet das Kapitel Salamander-Syndicate (VSM, I, 12). In einem Bericht über die Lage des Perlenmarktes wird das wirtschaftlich erfolgreiche Jahr 1925 erwähnt („Po lonˇske´m roce, kdy byla produkce perel proti prˇíznive´mu roku 1925 témeˇrˇ zvacetinásobena,…“; VSM, I, 12, 100f.). Da das Geschäft mit den Molchen bereits einige Jahre betrieben wird, dürfte die Romanhandlung etwa zu Beginn der 1920er Jahre einsetzen und die Gründung des Salamandersyndikates im zwölften Kapitel gegen Ende der 1920er Jahre erfolgen. Gleichzeitig erlauben die Figuren des Portiers Povondra und seines Sohnes Frantík, für die erzählte Zeit insgesamt einen Rahmen von etwa dreißig bis fünfunddreißig Jahren festzulegen. Als Frantík zeitnah zur Gründung des Salamandersyndikats im zehnten Kapitel des ersten Buches mit seinem Vater auf einer Kirchweih eine Vorstellung von van Tochs dressierten Molchen besucht, ist er acht Jahre alt (vgl. VSM, I, 10, 90). Zum Ende der erzählten Ereignisse, als Povondra und sein Sohn beim sonntäglichen Angelausflug die ersten Molche vor Prag sichten, ist Frantík schließlich selbst Vater zweier Kinder und Povondra etwa siebzig Jahre alt (vgl. VSM, III, 10, 233f. u. 11, 241). Die Handlungsorte des Romans wechseln häufig und umspannen die ganze Welt, so dass Nikol’skij Cµapeks Roman auch als „planetarní“ beziehungsweise 35 „globa´lní utopie“ bezeichnet. Allein in den ersten sieben Kapiteln des ersten Buches werden mit der Insel Tana Masa bei Sumatra (I, 1), der böhmischen Pro35

S. V. Nikol’skij (1978), a.a.O., S. 168 u. 185.

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vinzstadt Jevícˇko (I, 2), Prag (I, 3 u. 4), Marseille (I, 5) und der Insel Taraiva (I, 6 u. 7) die Ereignisse an fünf verschiedenen Schauplätzen geschildert. Gleichzeitig tritt eine nahezu unübersehbare Vielzahl von Figuren auf, so dass die episodenhaft geschilderten Ereignisse nur zu Beginn des Romans noch partiell über einzelne Figuren wie van Toch oder Povondra miteinander verbunden sind. Der Roman verfügt über keinen zentralen Handlungsträger, dessen Erlebnisse, Werdegang und Schicksal den Gang der Handlung entscheidend vermitteln könnte. Zwar zieht sich die Figur des Portiers Povondra durch den ganzen Roman. Sein Teilhaben an den Ereignissen beschränkt sich aber auf eine sporadische Kommentierung sowie das Sammeln von Zeitungsausschnitten über die Molche (vgl. VSM, II, 1). Im Gegensatz zu diesen wesentlich episodisch konzipierten Figuren sind die Molche als Handelnde oder Redegegenstand der Menschen durchgängig präsent. Sie sind, wie bereits Mukarˇovsky´ feststellte, das Motiv, das, beständig wiederholt und in Bezug auf verschiedene thematische Aspekte variiert, die disparaten Kapitel des Romans miteinander verbindet. „Jiny´ zpu˚sob vyuzˇití komposicˇního zpu˚sobu opakova´ní nacha´zíme konecˇneˇ v roma´nech Tova´rna na absolutno a Válka s Mloky. Oba tyto romány jsou komponova´ny prˇirˇadˇova´ním kapitol navza´jem velmi samostatny´ch, zaveˇsˇovany´ch ru˚z36 ny´m zpu˚sobem na jisty´ u´strˇední motiv,…“

Das Fehlen eines zentralen menschlichen Handlungsträgers kann aber nicht kompensiert werden. Da die Molche nur als weitgehend homogene und vor allem anonyme Masse auftreten, findet sich kein einzelner Molch, der gewissermaßen als „Individuum“ an den Ereignissen teilhat und durch den Gang der Handlung führen könnte. Bezeichnenderweise ist der aus der anonymen Molchmasse herausgehobene Chief Salamander, der die Forderungen der Molchpopulation an die Menschen übermittelt, kein Molch, sondern selbst ein Mensch. „Chief Salamander je cˇloveˇk. Jmenuje se vlastneˇ Andreas Schultze a byl za sveˇtove´ va´lky neˇkde sˇikovatelem.“ (VSM, III, 11, 245).37 Da die entindividualisierte Molchmasse zudem, wie Ohme bemerkt, allein aus Sicht der Menschen und somit konsequent von einer Außenperspektive geschildert wird, der Mensch aber nur eingeschränkte Zugangsmöglichkeiten zum Meer als natürlichem Lebensraum der Molche besitzt, bleibt eine differenzierendere Schilderung des Molchkollektivs zwangsläufig aus und der Eindruck des Massenhaft-Anonymen bestimmend.38 So bedauert auch der Erzähler, nur sehr begrenzt über die internen Angelegenheiten der Molche informiert zu sein. Über die Ausmaße eines angeblichen Generationenkonflikts in36 37

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J. Mukarˇovsky´, Trojice studií o Karlu Cµapkovi, in: Ders., Kapitoly z cˇeské poetiky, 3 Bde., Prag 1948, Bd. II, S. 393. Die Figur des krächzenden Chief Salamanders lässt an Hitler denken, der im Rang eines Gefreiten als Meldegänger am Ersten Weltkrieg teilnahm. Vgl. S. V. Nikol’skij (1978), a.a.O., S. 259. Vgl. auch A. Ohme, a.a.O., S. 23.

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nerhalb des Molchkollektivs kann er lediglich anhand von an der Wasseroberfläche schwimmenden Tierleichen Vermutungen anstellen. „… víme sice neobycˇejneˇ ma´lo o interních za´lezˇitostech Mloku˚, ale podle neˇktery´ch zna´mek (naprˇíklad podle toho, zˇe se nasˇly mrtvoly Mloku˚ s ukousany´mi nosy a hlavami) se zda´, zˇe po delsˇí dobu panoval pod hladinou morˇskou vlekly´ a va´sˇnivy´ ideovy´ spor mezi staromloky a mladomloky. […] Byly tu nepochybneˇ vsˇechny prˇedpoklady pro cˇily´ generacˇní konflikt na´zoru˚ a pro hluboké duchovní revoluce ve vy´voji Salamandru˚; litujeme, zˇe o nich nemu˚zeˇ me uve´st blizˇsíˇ podrob39 nosti,…“ (VSM, II, 2, 169f.).

Cµapek selbst fasst die Kompositionsstruktur mit dem Begriff des „FeuilletonRomans“ („roma´n fejeton“40 ) beziehungsweise spricht in seinem Vorwort zu Tova´rna na absolutno, das eine ähnlich lose Aneinanderreihung episodenhafter Kapitel wie Va´lka s Mloky aufweist, von einer Feuilleton-Serie. „Toto jest pravy´ deˇj románu, jenzˇ skutecˇneˇ není roma´nem, ny´brzˇ fejetonovy´m seria´lem.“41 Nikol’kijs obige Kennzeichnung des Romans als Utopie findet sich nicht nur wiederholt in der Forschungsliteratur42 , sondern trifft sich auch mit Cµapeks eigener Aussage, die gerade auf das Gemeinsame von Utopie und Satire abhebt. Ähnlich wie bei Bulgakov sind auch bei Cµapek die fiktive Welt der Molchzivilisation und die tatsächliche Lebenswelt spannungsvoll aufeinander bezogen, so dass der Roman satirisch auf zeitgenössische Missstände und negative Konsequenzen zu verweisen vermag, die aus geltenden sozialen und politischen Normen zukünftig zwangsläufig zu erwachsen scheinen. „Heute habe ich das letzte Kapitel eines utopischen Romans beendet. Held des Romans ist der Nationalismus. Die Handlung ist ganz einfach: der Untergang der Welt und der Menschheit. […] Keine kosmische Katastrophe, lediglich Staats- und Wirtschaftsinteressen, Prestigefragen u. ä. […] Eine Satire schreiben: das Schlechteste, was man den Menschen sagen kann; es bedeutet, sie nicht anzuklagen, sondern nur Schlußfolgerungen aus ihrer aktuellen Wirklichkeit und ihrem Denken zu 43 ziehen.“

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Cµapek spielt hierbei satirisch auf die politischen Auseinandersetzungen der sogenannten Altund Jungtschechen im Zuge der Spaltung der Nationalpartei 1863 an. Vgl. auch A. Ohme, a.a.O., S. 155. S. V. Nikol’skij (1978), a.a.O., S. 102. Unter einem Feuilleton-Roman wird gemeinhin eine spezifische Art des Fortsetzungs- und Zeitungsromans für die Presse des 19. Jahrhunderts verstanden, der aktuelle gesellschaftspolitische Themen aufgreift und fiktional illustriert. Vgl. G. v. Wilpert, a.a.O., S. 297. K. Cµapek, Tova´rna na absolutno, a.a.O., S. 10. Vgl. beispielhaft W. E. Harkins (1962), a.a.O., S. 96f. und S. V. Nikol’skij (2001), a.a.O., S. 4, 49 u. ö. Zitiert nach E. Thiele, Karel Cµapek, Leipzig 1988, S. 284. In Auszügen auch abgedruckt in A. Platonov, a.a.O., S. 458.

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Gleichzeitig wehrt sich Cµapek in einem Nachwort zu Va´lka s Mloky gegen die Einschätzung, es handle sich bei seinem Roman um eine Utopie. Dies ist aber weniger als Zurückweisung eines Gattungsbegriffs zu verstehen, vielmehr betont Cµapek neuerlich den Wirklichkeitsbezug seines Romans und will ihn nicht mit einem phantastischen Gedankenexperiment über eine zukünftige Gesellschaft identifiziert sehen. „Kritika ji [Válku s Mloky; Anm. M. M.] oznacˇilo jako roma´n utopicky´. […] Není to utopie, ny´brzˇ dnesˇek. Není to spekulace o cˇemsi budoucím, ny´brzˇ zrcadelní toho, co jest a prostrˇed cˇeho zˇijeme. Nesˇlo tu o fantasii; […] ale sˇlo mi o tu skutecˇ44 nost.“

Cµapek bezieht sich in Va´lka s Mloky zudem kritisch auf utopische Texte und ihre funktionalen Gesellschaftsentwürfen, die für das Individuum generell problematisch sind. Cµapeks Roman zeigt somit eine thematische Nähe zur Anti-Utopie, für die eine kritische Auseinandersetzung mit den individualitätsnivellierenden Ordnungsprinzipien utopischer Gesellschaften wesentlich konstitutiv ist.45 Auf Autoren utopischer Texte verweist Cµapek schon mit der Namensgebung einzelner Figuren. Der Offizier Bellamy lässt an den englischen Schriftsteller E. Bellamy denken, der in seinem Roman Looking Backward: 2000 – 1887 (Ein Rückblick aus dem Jahre 2000 auf 1887; 1888) einen sozialistisch-technokratischen Zwangsstaat entwirft. Passend erscheint, dass der Offizier, der sich am illegalen Molchfang beteiligt, mit einem Sklavenhändler verglichen wird (vgl. VSM, II, 2, 131ff.). Mit einem Molch namens Charles Mercier scheint Cµapek auf S. Mercier und dessen Utopie L’an deux mille quatre cent quarante, reˆve s’il en fut jamais (Das Jahr 2240, ein Traum aller Träume; 1770) anzuspielen, die eine im aufklärerischen Sinn reformierte zukünftige Welt zeigt. Die Ausführungen des städtischen Bürgermeisters, dass gerade mit der Geburt der ozeanischen Molchkultur die Zivilisierung des gesamten Planeten zum Abschluss gebracht worden sei, mag darauf hindeuten, dass sich im Molchzeitalter aufklärerische Ideale gänzlich pervertiert haben (vgl. VSM, II, 2, 164ff.).46 Mit der ersten expliziten Erwähnung des Utopiebegriffs in Va´lka s Mloky verbindet sich schließlich eine Reflexion über den Erzählvorgang selbst. Im Zusammenhang mit der Gründung des Salamandersyndikats vergleicht der Geschäftsmann und „Industriekapitän“ („kapita´n nasˇeho pru˚myslu“; VSM, I, 2, 28) G. H. Bondy van Tochs „Unternehmensphilosophie“ mit dem exotischen, aber jugend44 45

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K. Cµapek, O vzniku svého díla, a.a.O., S. 254. Vgl. zur Problematik des Begriffs „Anti-Utopie“ H. U. Seeber, Bemerkungen zum Begriff „Gegenutopie“, in: K. L. Berghahn/H. U. Seeber (Hgg.), Literarische Utopien von Morus bis zur Gegenwart, Königstein 1983, S. 163-171. Fraglich scheint dagegen Ohmes Annahme, die Identifizierung des aufklärerischen Utopisten Mercier mit einem Molch erwecke den Eindruck, dass die Menschheit zu utopischem Denken nicht mehr in der Lage sei. Vgl. A. Ohme, a.a.O., S. 125.

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lichen Stil eines Abenteuerromans. Tatsächlich zeigt das erste Buch mit dem Schauplatz der fernen Inselwelten (I, 6 u. 7) und der Rettung der Geliebten aus der Gefahr (I, 6) Motive des Abenteuerromans.47 Mit van Tochs Tod sei das Molchgeschäft aber den Kinderschuhen entwachsen und verlange nach einer neuen Imagination und Konzeption, was ein Mitglied der Versammlung mit dem Einwurf kommentiert, Bondy spreche wie über einen Roman. Sloh kapita´na van Tocha, to byl, rˇekl bych, styl dobrodruzˇny´ch roma´nu˚. To byl styl Jack Londona, Josepha Conrada a jiny´ch. Stary´, exoticky´, kolonia´lní, te´meˇrˇ heroicky´ sloh. Nezapíra´m, zˇe meˇ svy´m zpu˚sobem okouzloval. Ale po smrti kapita´na van Tocha nema´me pra´va pokracˇovat v te´ dobrodruzˇne´ a juvenilní epice. To, co je prˇed námi, není nova´ kapitola, ny´brzˇ nova´ koncepce, pánové, úkol pro novou a podstatneˇ jinou imaginaci. (Vy o tom mluvíte jako o románu!)“ (VSM, I, 12, 104).

Da die Ausbeutung der Molche dem Menschen zukünftig erlauben werde, neue Kontinente und Inseln zu erschaffen, die Ozeane zu beherrschen und die Erde nach seinen Vorstellungen umzugestalten, sieht Bondy die Menschheit nun an der Schwelle Utopias.48 Bondys Rede impliziert somit parallel zur Gründung des Salamandersyndikats einen Wechsel der Erzählgattung vom Abenteuer- zum utopischen Roman.49 „Salamander-Syndicate bude na celém sveˇteˇ vyhleda´vat práci pro milióny mloku˚. Bude dodávat plány a mysˇlenky na ovla´dnutí morˇí. Bude propagovat utopie a gigantické sny. Bude doda´vat projekty na nové brˇehy a pru˚plavy, na hráze spojující kontinenty, na celé rˇeteˇzy umeˇly´ch ostrovu˚ pro oceánské lety, na nové pevniny vybudované uprostrˇed ocea´nu˚. Tam lezˇí budoucnost lidstva. […] Mu˚zˇeme dnes mluvit o budoucích Atlantida´ch, o stary´ch pevnina´ch, které se budou rozpínat dál a da´l do sveˇtového morˇe, o Novy´ch Sveˇtech, které si postaví lidstvo samo – Prominˇte, pa´nové, snad vám to prˇipada´ utopické. Ano, vstupujeme skutecˇneˇ d o 50 Utopie. Jsme uzˇ v ní, prˇat´ ele´.“ (VSM, I, 12, 108). 47

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Vgl. auch S. V. Nikol’skij (1978), a.a.O., S. 169ff. und M. Mravcova´, Karel Cµapek. Va´lka s Mloky, in: M. Zeman a kol. (Hgg.), Rozumeˇt literaturˇe. Interpretace za´kladni´ch deˇl cˇ e ske´ literatury, Prag 1986, S. 300. Die Figur des Vorsitzenden der MEAS-Aktiengesellschaft, G. H. Bondy, findet sich bereits in Cµapeks Roman Tova´rna na absolutno. Lässt der Nachname des „Industriekapitäns“ an die tschechische Unternehmerfamilie Bondy denken, könnten die Vornameninitialen im Zusammenhang mit Bondys utopischem Entwurf auf H. G. Wells verweisen. Da Kapitän van Toch auf seiner Reise durch ferne Inselwelten die „fremde Zivilisation“ der Molche entdeckt, lassen sich bereits zu Beginn des Romans auch Anklänge an das für die Utopie merkmalhafte Reise- und Inselmotiv feststellen. Auch die formale ein- und abgeschlossene Position des Kapitels II, 2, das die weltumspannende Entwicklung der Molchpopulation schildert, erinnert in gewisser Weise an die isolierte Insellage, wie sie von Autoren utopischer Gesellschaftsentwürfe generell bevorzugt wird. Siehe zu Bondys Propagierung einer Utopie auch VSM, I, 12, 109: „A k jinému se ty potvory nehodí, pane Weissberger, nezˇ aby se s nimi podnikla neˇjaká utopie.“

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Im Anschluss an Bondys wiederholte Propagierung eines utopischen (Molch-) Zeitalters lässt Cµapek seinen Erzähler im folgenden Nachtrag, der das erste Buch beschließt und zur Entwicklungsgeschichte der Molche im zweiten Buch überleitet, über die literarische Gattung der Utopie reflektieren. Da für Autoren utopischer Texte die Regelung des Geschlechtslebens von wesentlichem Interesse sei, beispielhaft nennt der Erzähler P. Adam, A. Huxley und Wells, sieht er sich nun in die Pflicht genommen, den Leser über die Fortpflanzungspraktiken der Molche zu informieren.51 Veˇtsˇina teˇch utopií vsˇak nezapomína´ velmi zˇiveˇ se zajímat o otázku, jak to v tom lepsˇím, pokrocˇilejsˇím nebo asponˇ technicky dokonalejsˇím sveˇteˇ dopadne s institucí tak starou, ale stále popula´rní, jako je pohlavní zˇivot, rozplozování, láska, manzˇelství, rodina, zˇenská ota´zka a podobneˇ. Viz v tom smeˇru prˇ´íslusˇnou literaturu, jako Paul Adam, H. G. Wells, Aldous Huxley a mnozí jiní. Dovolávaje se teˇchto prˇíkladu˚, povazˇuje autor za svou povinnost, aby, kdyzˇ uzˇ vrhá pohled do budoucnosti nasˇí zemeˇkoule, pojednal také o tom, jak se v tom budoucím sveˇteˇ Mloku˚ bude utvárˇet sexuální rˇád.“ (VSM, I, Dodatek, 110).

Die Paarung der Molche ist ein gänzlich unpersönlicher Akt, der keiner Kopulation mehr bedarf. Da die zeugungsfähigen Molche ihr Sperma ins Wasser abgeben, das die vom Weibchen ausgestoßenen Eierschnüre befruchtet, fungieren sie als sogenannte Massenmännchen („Hromadny´ Samec“) und Kollektivbräutigame („Kolektivní Zµenich“; beide Angaben VSM, I, Dodatek, 113). Die entindividualisierte Fortpflanzungspraxis der Molche ist Ausdruck einer wesentlich vernunftbestimmten Ordnung, die für eine utopische Gesellschaftsorganisation generell charakteristisch ist. Sie soll sowohl persönliche Affekte als auch gesellschaftliche Konflikte nachhaltig harmonisieren. Um harmoniegefährdenden egoistischen Einzelinteressen vorzubeugen, ist in Utopia nicht nur das Privateigentum zugunsten einer Gütergemeinschaft und allgemeinen Arbeitspflicht abgeschafft, sondern auch Eheschließung sowie Ausbildung und Erziehung der Nachkommenschaft sind reglementiert.52 Zwar garantiert diese straffe Regulierung divergierender Einzelinteressen im Verbund mit der von Fremdeinflüssen isolierten Lage die Idealität der Ordnung. Gleichzeitig befördert die Reglementierung aber die individualitäts51

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Bei P. Adam ist wohl dessen utopiekritischer Briefroman Lettres de Malaisie (Briefe aus Malaysia; 1898) gemeint. Adam wird bereits in der Erzähl- und Skizzensammlung Krakonosˇova zahrada (Rübezahls Garten; 1918) der Cµapek-Brüder erwähnt. Vgl. K. Cµapek/J. Cµapek, Krakonosˇova zahrada, in: K. Cµapek, Spisy, a.a.O., Bd. II, S. 97. Aufgrund der isolierten Lage und der umfänglichen Zurückweisung egoistischer Einzelinteressen findet die Organisation des idealen Staatswesens gleichsam unter experimentellen Bedingungen statt, der sich auch die Naturwissenschaften bedienen. Vgl. H. Schulte-Herbrüggen, a.a.O., S. 9. Wie Ohme feststellt, scheint Cµapek diese „utopische Laborsituation“ nun bei seiner Schilderung des Geschlechtslebens der Molche wörtlich zu nehmen, denn der Bericht präsentiert sich als wissenschaftliche Abhandlung, die sich auf Ergebnisse angeblich „tatsächlicher“ Laborversuche stützt. Vgl. A. Ohme, a.a.O., S. 127f.

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nivellierende Uniformierung utopischer Kollektive. Diese Problematik findet sich nun mit deutlichem Bezug zu zeitgenössischen Gesellschaftsvorstellungen zu Beginn des 20. Jahrhunderts auch im dritten Buch thematisiert. Der Erzähler referiert die Thesen eines gewissen Wolf Meynert, der in seinem Werk Der Untergang der Menschheit die Zivilisation der uniformen Molchmasse euphorisch als Verwirklichung einer „glücklichen neuen Welt“ preist. Die explizite Bezugnahme zu Huxleys Antiutopie Brave New World entlarvt allerdings Meynerts vermeintlich visionäres Ideal einer entpersönlichten Massengesellschaft, die nach dem rationalistischen Prinzip der Arbeitsteilung organisiert ist und alles Individuelle getilgt hat, als wesentlich inhuman und gefährlich. „Není pochyby, zˇe mlocˇí sveˇt bude sˇtˇastneˇjsˇí, nezˇ by´val sveˇt lidí; bude jednotny´, homogenní a ovládany´ stejny´m duchem. Mlok se nebude od Mloka lisˇit rˇecˇí, názory, vírou ani zˇivotními nároky. Nebude mezi nimi kulturních ani trˇídních rozdílu˚, ny´brzˇ jen deˇlba práce. Nikdo nebude pánem ani otrokem, nebot’ vsˇichni budou slouzˇit jenom Velikému Mlocˇímu Celku, jenzˇ bude bohem, vládcem, zameˇstnavatelem i duchovím vu˚dcem. Bude jen jeden národ a jen jedna úrovenˇ. Bude to lepsˇí a dokonalejsˇí sveˇt, nezˇ by´val násˇ. Bude to jediny´ mozˇny´ Sµtaˇ stny´ No53 vy´ Sveˇt.“ (VSM, III, 5, 205).

Die Figur des Philosophen Meynert mit seinem Werk Untergang der Menschheit verweist wohl auf O. Spengler und dessen Untergang des Abendlandes (191822).54 Den Endzustand der abendländischen Zivilisation („Cäsarismus“) sieht Spengler zum einen von wenigen politisch-militärischen Führergestalten bestimmt, die über reprimitivierte, duldende Massen („Fellachen“) als Inbegriff des Amorphen, Gestalt- und Qualitätslosen gebieten. Zum anderen versteht auch Spengler, hierbei dem Neokonservatismus der Weimarer Republik nahe stehend, das Volk als höhere Einheit, in der gesellschaftliche und soziale Differenzierungen gänzlich bedeutungslos und getilgt werden.55 Im Mittelkapitel Po stupních civilizace des zweiten Buches, eingerahmt von den beiden kurzen, fast gleich lautenden Kapiteln Pan Povondra cˇte noviny („Herr Povondra liest Zeitung“) und Pan Povondra opeˇt cˇte noviny („Herr Povondra liest abermals Zeitung“), schildert der Erzähler mit nochmaligem Hinweis auf Bondys „prophetische Worte über eine beginnende Utopie“ („prorock[a´] slov[a] o pocˇínající se utopii“; VSM, II, 2, 122) die Entwicklung der Molchzivilisation aus der Retrospektive in der Art eines Chronisten.56 Er rekonstruiert die Ereignisse 53

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Entgegen der wörtlichen Übersetzung des Titels lautete die 1933 erschienene tschechische Übersetzung von Huxleys Roman Konec civilisace (Das Ende der Zivilisation). Vgl. A. Ohme, a.a.O., S. 130. Vgl. auch S. V. Nikol’skij (1978), a.a.O., S. 261ff. Vgl. O. Spengler, Der Untergang des Abendlandes. Umrisse einer Morphologie der Weltgeschichte, Stuttgart 1998, S. 46, 681, 1003ff. u. ö. Vgl. auch S. V. Nikol’skij (1978), a.a.O., S. 224ff. und M. Mravcova´, a.a.O., S. 302. Erstmals berichtet der Erzähler in Kap. I, 7 die Ereignisse kurzfristig aus der Retrospektive, während

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u. a. anhand von Zeitungsausschnitten, die, allerdings unsystematisch und lückenhaft, von der Figur des Portiers Povondra gesammelt wurden und schließlich in den Besitz des Erzählers gelangten (vgl. VSM, II, 1, 120f.). Die Schilderung der Ereignisse anhand dieses Quellenmaterials motiviert das für das Mittelkapitel des zweiten Buches zentrale Verfahren der Montage. In den Erzähltext ist eine Vielzahl von „Zeitdokumenten“ eingefügt: Reportagen, Reiseskizzen, Umfragen, Briefe, wissenschaftliche Abhandlungen und Gutachten, Protokolle, Forschungsberichte, Flugblätter, ebenso Ausschnitte aus einer Papstenzyklika sowie Texte in fremden (Phantasie-)Sprachen und Schriften. Der Großteil dieses zumeist von Cµapek fingierten Dokumentmaterials ist graphisch vom Erzähltext abgehoben und findet sich in einem Fußnotenapparat.57 In der Sekundärliteratur wird Cµapeks Verwendung „fremder“ Textsegmente sowohl als Montage als auch Collage bezeichnet58 , was auf den generell uneinheitlichen Gebrauch der Termini und definitorische Schwierigkeiten in der Forschung verweist.59 Weitgehende Einigkeit besteht darüber, dass die Montage als allgemeiner Oberbegriff und die Collage als eine besondere Spielart derselben zu sehen ist. Für Cµapeks Válka s Mloky lässt sich im Anschluss an V. Zµmegacˇ die Montage als Verfahren bestimmen, bei dem fremde Textsegmente in den eigenen Text aufgenommen sind (mögen diese, wie in Cµapeks Fall, auch zumeist vom selben Verfasser stammen wie der Erzähltext selbst), und – im Sinne einer verdeckten oder demonstrativen Montage – mit diesem verbunden oder diesem konfrontiert sind.60 Für die Rezeption des Textes hat Cµapeks demonstratives Montageverfahren im Mittelkapitel des zweiten Buches weitreichende Konsequenzen. Die eingefügten Fremdtexte stören den gewohnt linearen Textablauf. Da das Dokumentmaterial zumeist im Fußnotenapparat eingearbeitet ist, wird der Text insgesamt stark zersplittert. Will der Leser den Erzählerbericht mit den eingefügten Fremdtexten

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diese zuvor durchgängig als erzählte Gegenwart vermittelt wurden. Diskutieren die Figuren auf der Jacht noch über einen möglichen Film, in dem die Molche eine wesentliche Rolle spielen sollen, so weiß der Erzähler zu berichten, dass der Film tatsächlich gedreht wurde (vgl. VSM, I, 7, 75 und ähnlich VSM, I, 8, 81). Ebenfalls festzustellen, allerdings weitaus weniger auffällig als in Kapitel II, 2, ist die Verarbeitung fremder Texte sowohl im ersten als auch im dritten Buch; vgl. etwa I, 9, 87ff. und I, 11, 96f. Während allerdings in III, 2, 189 und III, 7, 215 u. 217 Zeitungsschlagzeilen und Telegrammtexte graphisch abgesetzt in den Erzähltext eingefügt sind, finden sich in den Kapiteln III, 4 (198f.), III, 5 (201ff.) und III, 6 (207ff.) längere Passagen eines Fremdtextes, ohne dass dies graphisch markiert ist. Mukarˇovsky´ spricht von einer Montage: „Motiv [Mloku˚; Anm. M. M.] […] je zarˇadeˇn […] do monta´zˇe z novinovy´ch reporta´zˇí,…“ J. Mukarˇovsky´, a.a.O., S. 394. Mravcova´ bezeichnet Cµapeks Verfahren dagegen als Collage: „Lze rˇíci, zˇe tu Cµapek pouzˇil principu kola´zˇe.“ M. Mravcova´, a.a.O., S. 303. Vgl. V. Zµmegacˇ, Montage/Collage, in: D. Borchmeyer/V. Zµmegacˇ (Hgg.), Moderne Literatur in Grundbegriffen, Frankfurt/M. 1987, S. 259. Da die Montage auch im Bereich des Films und der bildenden Kunst ein wesentlicher Begriff ist, sei hier ausdrücklich vermerkt, dass obige Begriffsbestimmungen nur auf den Bereich der Literatur bezogen sind. Vgl. ebd., S. 259f.

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in Beziehung setzen, bleiben ein Vor- und Zurückblättern sowie Springen zwischen den Seiten nicht aus. Die Aufnahme des Textes wird erschwert und die Aufmerksamkeit des Lesers auf die Konstruktion beziehungsweise den Herstellungsprozess gelenkt.61 Wesentlich uneinheitlicher zeigen sich dagegen die Bestimmungen der Collage. Während diese für Zµmegacˇ ausschließlich aus entlehnten Fremdtexten besteht, will V. Hage einen Text bezeichnet sehen, der erkennbares und nachprüfbares Zitatmaterial enthält.62 Gewinnbringend für Cµapeks Roman ist Ohmes Definition, die das Einfügen von nicht-sprachlichem Material in den Text als Collage bestimmt. Visualisierte Gegenstände wie Bondys Klingelschild (I, 3, 30) oder van Tochs Visitenkarte (I, 3, 31) sowie eine handschriftliche Quittung des Iren Pat Dingle (I, 5, 53) oder stilisierte Jahrmarktplakate (I, X, 90 u. 91) finden sich als ikonisches Material ebenso in den Text eingearbeitet wie die Abbildung eines Molchskeletts (I, 8, 79) oder eine Photographie (II, 2, 125), die verschwommen eine Gruppe von Molchen zeigt. Bedeutsam ist diese Verarbeitung ikonischen Materials, da mit der Abbildung von Gegenständlichkeiten und Photographien der Textstatus des literarischen Werks gebrochen wird. Anhand der sogenannten „papiers colle´s“ eines P. Picasso oder G. Braque lässt sich zudem ein weiterer, für die Textrezeption wesentlicher Bedeutungsaspekt des Montage- beziehungsweise Collageverfahrens verdeutlichen. In die Bilder sind „Realitätsfragmente“ wie beispielsweise ein Stück Stoff, eine Fahrkarte oder Zeitungsausschnitte eingeklebt, so dass nicht nur ein künstlerisches Abbild der Wirklichkeit geschaffen, sondern diese gleichsam unbearbeitet präsentiert wird. Dieses Nebeneinander verschiedener Wirklichkeitsebenen hebt die Einheit des Kunstwerkes auf.63 Ebenso scheint mit der Verarbeitung vornehmlich nichtliterarischer Textsorten und einem Fußnotenapparat, der als Form der Textgestaltung nicht aus einem künstlerischen, sondern wissenschaftlichen Kontext bekannt ist, die strikte Trennung von Kunst und Lebenswirklichkeit aufgebrochen. Der Leser wird aufgefordert, ganz im Sinne von Cµapeks obiger Aussage, Válka s Mloky zeige ein satirisches Spiegelbild der Wirklichkeit, Analogien zwischen den fiktiven Ereignissen und der realen Lebenswelt herzustellen. Wesentlich verstärkt wird diese Aufforderung mit der Erwähnung einer ganzen Reihe zeitgenössischer

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Vgl. V. Klotz, Zitat und Montage in neuerer Literatur und Kunst, in: Sprache im technischen Zeitalter 60 (1976), S. 268. Zµmegacˇ spricht in diesem Zusammenhang vom „metapoetischen Moment“ der Montage. Vgl. V. Zµmegacˇ, a.a.O., S. 261. Für die Form der integrierenden Montage, bei der die eingearbeiteten Fremdtexte illusionsfördernd wirken oder der Erhöhung der Authentizität dienen und letztlich so eingebunden sind, dass keine Brüche im Erzähltext entstehen, schlägt Zµmegacˇ vor, von einer „besonderen Form der Stoffverwertung“ zu sprechen. Vgl. ebd., S. 260. Vgl. ebd., S. 259 und V. Hage, Collagen in der deutschen Literatur. Zur Praxis und Theorie eines Schreibverfahrens, Frankfurt/M. 1984, S. 68f. Vgl. P. Bürger, Theorie der Avantgarde, 2. Aufl., Frankfurt/M. 1989, S. 104 und V. Klotz (1976), a.a.O., S. 268.

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Persönlichkeiten wie der Schauspieler J. Weismuller und M. West (II, 2, 142), des Schriftstellers G. B. Shaw (II, 2, 142) oder auch des damaligen Prager Bürgermeisters Dr. K. Baxa (II, 2, 151). Die Figuren Golombek und Valenta, die ein Interview mit van Toch führen (I, 2, 22ff.), weisen ebenfalls über die Textgrenzen hinaus in die zeitgenössische Lebenswelt, denn B. Golombek und E. Valenta waren, wie Cµapek selbst, Redakteure der Lidové noviny.64 Als auffälliges künstlerisches Verfahren der Moderne ist die Montage aber auch Ausdruck der Fragmentarisierung und Widersprüchlichkeit einer rapide modernisierten und pluralisierten Lebenswelt, die keine zuverlässige Orientierung mehr zu erlauben scheint.65 Auch der mit Fremdtexten angereicherte Bericht des Erzählers in Va´lka s Mloky zeigt sich als wesentlich kontrastreiches und chaotisches Nebeneinander von Ideen, Überzeugungen, Meinungen und Ansichten. Berichte über grausame Experimente an lebenden Molchen sind gefolgt von einer Zeitungsumfrage, ob Molche eine Seele haben, sowie Diskussionen über eine passende Schulerziehung für junge Molche (vgl. VSM, II, 2, 138ff.). Die Einlassung, dass einige Staaten die Vivisektion bereits gesetzlich verbieten, findet sich wiederum kontrastierend in einer beigefügten Fußnote kommentiert. Insbesondere in Deutschland seien wissenschaftliche Experimente an lebenden Molchen untersagt – allerdings nur jüdischen Forschern (vgl. VSM, II, 2, 151). Ähnlich wie bereits Bulgakovs Stilgroteske in Form der „Montage“ alogischer Aussagestrukturen sowie seine menschliches und tierisches Verhalten parallelisierenden Beschreibungen enthüllt Cµapeks Montageverfahren die Orientierungslosigkeit einer weitgehend seelenlosen und entmenschlichten Gesellschaft, die in ihrer eindimensionalen Fortschrittsbegeisterung jedwedes tragfähige Ordnungs- und Wertesystem verloren zu haben scheint. Folgerichtig wird ihr die rationalistische und entindividualisierte Organisation der uniformen Molchmasse zum nachahmenswerten Vorbild. Die sich in Capeks Montage aussprechende vereinsamende Partikularisierung zeigt sich umso deutlicher, wird sie im Vergleich zu traditionellen „pars pro toto“-Verfahren betrachtet. Bereits in Gogol’s ersetzender Beschreibung der über den Nevskij Prospekt promenierenden Petersburger Gesellschaft als reduziertverdinglichte Körperteile und Kleidungsstücke (s. S. 92f.) sprach sich die Leere und Hohlheit einer entindividualisierten Gesellschaft aus. Was G. Langer in ihrer Habilitationsschrift Kunst – Wissenschaft – Utopie für den russischen Symbolismus und Futurismus hinsichtlich der Beschreibungsverfahren wie Synekdoche oder „pars pro toto“ feststellt, lässt sich schließlich auch auf Cµapeks Montage-Verfahren übertragen. 64

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B. Golombek und E. Valenta verfassten zudem einige Bücher über den tschechischen Abenteurer J. Welzl, der ebenfalls in Va´lka s Mloky erwähnt wird (vgl. VSM, I, 2, 23). Vgl. A. Ohme, a.a.O., S. 47. Siehe etwa E. Bloch: „In der technischen und kulturellen Montage jedoch wird der Zusammenhang der alten Oberfläche zerfällt, ein neuer wird gebildet. Er kann nur gebildet werden, weil der alte Zusammenhang sich immer scheinhafter, brüchiger, als einer der Oberfläche enthüllt.“ E. Bloch, Erbschaft der Zeit, 13. Aufl., Frankfurt/M. 1981, S. 221.

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„In den Beschreibungen manifestiert sich die auffallend analysierende und depersonalisierende Sichtweise des Erzählers. Dieses auf Gogol’ verweisende Verfahren wird stellenweise mit hyperbolischer Deutlichkeit durchgeführt […] Lebendige, menschliche Einheiten werden in ihre Bestandteile zerlegt, kategorisiert, um schließlich als erschreckende Wesen zu erscheinen. […] [D]ie traditionellen Bezeichnungen Synekdoche und Pars pro toto [erfassen] nur die Erscheinungsform des Beschreibungsverfahrens, sie treffen aber nicht dessen […] Sinn; die Einzelteile können nicht mehr auf ein ursprüngliches Ganzes verweisen, die atomisierte Wirk66 lichkeit wird zum Chaos…“

Auch Cµapeks Montageverfahren zeigt die moderne Lebenswelt als unverbundenes Neben- und Gegeneinander von Ideen, Meinungen, Überzeugungen und Ereignissen, dessen Teile nicht für ein übergeordnetes, umgreifendes Ganzes stehen. Die Wirklichkeit präsentiert sich vielmehr als Chaos, wobei der Einzelnen in seiner Fragmentarisierung und Atomisierung das Vermögen zu einer die Ereignisse sinnstiftend verbindenen Interpretation und Ordnung verloren hat.

V. 3. George Orwells fairy story Animal Farm Orwells Animal Farm gliedert sich in zehn Kapitel. Handlungsschauplatz ist die in der Nähe der fiktiven englischen Kleinstadt Willingdon gelegene Manor beziehungsweise spätere Animal Farm.67 Zwar ist eine exakte zeitliche Verortung der Ereignisse nicht möglich. Die Beschreibung des Farmlebens scheint aber den tatsächlichen ländlichen Lebensverhältnissen in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts zu entsprechen, da die Arbeit beispielsweise noch weitgehend ohne den Einsatz größerer Maschinen verrichtet wird.68 Die erzählte Zeit in den Kapiteln 1 bis 9 umfasst etwa dreieinhalb Jahre, wobei die Angaben, die das Vergehen der Handlungszeit anzeigen, den für einen Farmbetrieb wesentlichen Jahreszeitenwechsel widerspiegeln. So ist etwa der Monat Juni mit der bevorstehenden Heumahd verbunden (vgl. AF, II, 11), und der Herbst wird in Verbindung mit den Erntearbeiten genannt (vgl. AF, VIII, 65). Das letzte Kapitel weist in einer abschließenden Vorausdeutung über die erzählte Zeit hinaus und zeigt die Herrschaft der Schweineoligarchie in eine unbestimmte Zeit verlängert.

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G. Langer, Kunst – Wissenschaft – Utopie: die „Überwindung der Kulturkrise“ bei V. Ivanov, A. Blok, A. Belyj und V. Chlebnikov, Frankfurt/M. 1990, S. 323. Orwell bezog Mitte der 1930er Jahre in Wallington bei London ein Haus auf dem Land und hielt dort selbst auch verschiedene Tiere. Vgl. B. Crick, a.a.O., S. 128. Das fiktive Willingdon mag an die Ortschaft Wallington erinnern. Der Erzähler spricht von einer altmodischen und primitiven Farmausstattung. „… the farm was an old-fashioned one and had only the most primitive machinery…“ (AF, V, 32).

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„Years passed. The seasons came and went, the short animal lives fled by. A time came when there was no one who remembered the old days before the Rebellion, except Clover, Benjamin, Moses the raven, and a number of the pigs.“ (AF, X, 85).

Ähnlich wie Bulgakovs Rokovye Jajca zeigt auch Orwells Animal Farm eine Ringstruktur.69 Zu Beginn der Erzählung rebellieren die Tiere gegen den Farmbetreiber Jones, jagen diesen vom Hof und gründen die dem Gemeinschaftsprinzip verpflichtete Farm der Tiere (vgl. AF, I u. II). Nachfolgend höhlen die Schweine aber sukzessive die Regeln für ein gleichberechtigtes Zusammenleben aus. Unter der Führung des Ebers Napoleon (vgl. AF, V, 35ff.) etablieren sie sich als Herrschaftsclique, die schließlich, gewissermaßen analog zu Jones, uneingeschränkt über die zu Arbeitssklaven degradierten Farmtiere gebietet. Die anfängliche Ausgangssituation ist wiederhergestellt, wobei insbesondere die Schlussszene sinnbildhaft die Ringstruktur verdeutlicht. Anlässlich des Zusammentreffens der nun ebenfalls aufrecht gehenden Schweine mit den Gutsbesitzern der Nachbarhöfe vermögen die Tiere nicht mehr zwischen Mensch und Schwein zu unterscheiden. „The creatures outside looked from pig to man, and from man to pig, and from pig to man again: but already it was impossible to say which was which.“ (AF, X, 95). Der Gutshof, der nun alleiniger Besitz der Schweine ist (vgl. AF, X, 93), wird neuerlich in Manor Farm umbenannt (vgl. AF, X, 94). Auch die wechselnde Bedeutung, die der Tierhymne Beasts of England zukommt, verweist auf die ringförmige Struktur.70 Zu Beginn der Erzählung ist die Vermittlung des subversiven Liedes, das von einer zukünftigen herrschaftsfreien Tiergesellschaft kündet und, obwohl der Text selbst in Vergessenheit geraten war, über Generationen tradiert wurde, wesentlicher Bestandteil von Old Majors Aufruf zur Rebellion.71

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Vgl. auch R. Fowler, a.a.O., S. 161 und R. Höppner, Grundzüge und Wandlungen in George Orwells Stil. Eine Untersuchung seiner Prosadichtung, Lübeck 1969 (Diss.), S. 183. Vgl. auch ebd., S. 186. Die Antizipation einer egalitären und im Einklang mit der Natur lebenden Tiergemeinschaft zeigt gewisse Anknüpfungspunkte zu Entwürfen industriefeindlicher und zivilisationskritischer „utopischer Idyllen“ Ende des 19. Jahrhunderts wie etwa W. Morris’ News from Nowhere, or an Epoch of Rest. Being some Chapters from an Utopian Romance (Neuigkeiten von Nirgendwo oder Ein Zeitalter der Ruhe. Einige Kapitel einer utopisch-romantischen Erzählung; 1890), der hiermit insbesondere auf Bellamys Entwurf eines technokratischen Zwangsstaates antwortete. Vgl. auch R. I. Smyer, Animal Farm. Pastoralism and Politics, Boston 1988, S. 25, 46ff. u. 88f., Ch.-H. Schröder, a.a.O., S. 237 und ausführlicher zur Kategorie „utopischer Idyllen“ H. U. Seeber, Wandlungen der Form in der literarischen Utopie. Studien zur Entfaltung des utopischen Romans in England, Göppingen 1970, S. 112ff. Fowler bezeichnet Animal Farm dagegen generell als „animal utopia“, während B.-P. Lange von einem literarisch konkretisierten Beispiel antiutopischen Denkens spricht. Vgl. R. Fowler, a.a.O., S. 174 und B.-P. Lange, George Orwell „1984“, München 1982, S. 27. Als problematisch muss allerdings gelten, dass sich die Einschätzungen der beiden Autoren nicht auf eine fundierte Darstellung und Definition spezifischer Gattungsmerkmale der Utopie stützen können.

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„Many years ago, when I was a little pig, my mother and the other sows used to sing an old song of which they knew only the tune and the first three words. I had known that tune in my infancy, but it had long since passed out of my mind. Last night, however, it came back to me in my dream. And what is more, the words of the song also came back – words, I am certain, which were sung by the animals of long ago and have been lost to memory for generations.“ (AF, I, 7).

Im Zuge ihrer Herrschaftsetablierung untersagen die Schweine allerdings das Absingen der Hymne mit der Begründung, die Rebellion sei durchgeführt und die bessere Gesellschaft verwirklicht (AF, VII, 59).72 Angesichts der ausbeutenden Herrschaftspraxis der Schweineoligarchie und der entbehrungsreichen Lebensbedingungen der Tiere kommt der Hymne wieder der subversive Charakter eines Revolutions- und Befreiungsliedes zu, den sie zu Jones’ Zeiten hatte. „None of the old dreams had been abandoned. The Republic of the Animals which Major had foretold, when the green fields of England should be untrodden by human feet, was still believed in. Some day it was coming: it might not be soon, it might not be within the lifetime of any animal now living, but still it was coming. Even the tune of ‚Beasts of England‘ was perhaps hummed secretly here and there…“ (AF, X, 88).

Der Untertitel weist Orwells Animal Farm als „fairy story“ („Märchen“) aus. Insbesondere das Sprach- und Denkvermögen der Tiere, ihre Rebellion gegen die Menschen sowie ihre Befähigung zu organisierter Farmarbeit korrespondieren mit dem für das Märchen merkmalhaften Element des Wunderbaren.73 Allerdings erscheint die Schilderung des Arbeitsalltags stellenweise durchaus nachvollziehbar. Explizit wird darauf hingewiesen, dass die Tiere, da sie nicht in der Lage sind, mit den Geräten und Werkzeugen der Menschen umzugehen, die anfallenden Arbeiten ihrem körperlichen Vermögen und ihren motorischen Fähigkeiten entsprechend verrichten. Bei der Getreideernte treten die Tiere beispielsweise das Korn noch aus und trennen es durch Pusten von der Spreu (vgl. AF, III, 18). Auch der Aufstand selbst ist in gewisser Weise realistisch motiviert, da die Tiere ob Jones’ Nachlässigkeit nicht gefüttert und von den Farmmitarbeitern geschlagen werden, als sie sich Zugang zur Futterkammer verschaffen. Ebenso vorstellbar erscheint die Reaktion der Menschen. Überrascht und geängstigt vom aggressiven Verhalten der Tiere, bleibt ihnen aufgrund ihrer körperlichen Unterlegenheit letztlich tatsächlich nur die Flucht.

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„Beasts of England“ wird von den Schweinen durch eine neue, das Wohlergehen der Farm preisende Hymne ersetzt. Siehe hierzu S. 301. Vgl. zum Element des Wunderbaren als Kennzeichen des Märchens beispielhaft G. v. Wilpert, a.a.O., S. 494 und M. Lüthi (1990), a.a.O., S. 2f.

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„Jones and his men suddenly found themselves being butted and kicked from all sides. The situation was quite out of their control. They had never seen animals behave like this before, and this sudden uprising of creatures whom they were used to thrashing and maltreating just as they chose, frightened them almost out of their wits. After only a moment or two they gave up trying to defend themselves and took to their heels.“ (AF, II, 12).

Die erfolgreiche Herrschaftsetablierung der Schweine korrespondiert dagegen nicht mit dem für das Märchen merkmalhaften abschließenden Glückszustand. Zwar zeigt auch Orwells Erzählende eine für den Märchenschluss typische Stillstellung der Zeit, die einen Ausfall weiterer Ereignisse impliziert. Aber weder vermag sich „das Gute“ durchzusetzen noch wird „das Böse“ seiner gerechten Strafe zugeführt.74 Neben der für Animal Farm wesentlichen Verwendung der Tierfiguren verweist gerade auch der Ausgang der Ereignisse auf die Nähe zur Fabeldichtung. Diese zeigt nicht nur vielfach gerade „unmoralische Tiere“ als zentrale Handlungsträger, sondern deren Handeln wird im Gegensatz zum Märchen auch häufig nicht bestraft.75 Aufgrund der zwei in sich kohärenten und voneinander abhebbaren Bedeutungsebenen ist Animal Farm aber nicht nur als „einfache“ Tiergeschichte lesbar, sondern auch, im Sinne von Orwells diktatur-kritischer Intention, als satirische Allegorie auf die Ereignisse in der Sowjetunion beziehungsweise auf jede „verratene Revolution“ und eine sich etablierende totalitäre Herrschaft. Von der Rebellion der Tiere (Oktoberrevolution 1917) über Napoleons Alleinherrschaft und „Säuberungen“ (stalinistischer Personenkult und Moskauer Schauprozesse) sowie den Bau der Windmühle (erster Fünf-Jahres-Plan 1928) bis zum Treffen der Schweine mit den Besitzern der Nachbarhöfe zum Ende der Erzählung (Teheraner Konferenz 1943) lassen sich für alle relevanten Textstellen Parallelen zu den politischen Entwicklungen in Sowjetrussland feststellen.76 Mit Milosz sei bemerkt, dass allein die mehrdeutige Anlage der Erzählung als satirische Allegorie den Vorgaben des Sozialistischen Realismus sowie den richtungweisenden Prinzipien der „Parteilichkeit“ („partijnost’“), „Massengemäßheit“ („massovost’“) und der „Volkstümlichkeit“ („narodnost’“) sowie „Verständlichkeit“ („ponjatnost’“) widerspricht.

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Vgl. zum Märchenschluss beispielhaft ebd., S. 25 und G. v. Wilpert, a.a.O., S. 495. Vgl. H. Bausinger, Die moralischen Tiere. Anmerkungen zu Märchen und Fabel, in: A. Esterl/W. Solms (Hgg.), Tiere und Tiergestaltige im Märchen, Regenburg 1991, S. 165f. Orwell selbst bemerkt in seinem Vorwort zur ukrainischen Ausgabe, dass er die verschiedenen Episoden der Erzählung den russischen Revolutionsereignissen entnommen, aber teils die chronologische Reihenfolge verändert habe. Vgl. G. Orwell, Author’s Preface to the Ukrainian Edition of „Animal Farm“, a.a.O., S. 406. In einer Reihe von Untersuchungen finden sich obige Entsprechungen herausgearbeitet und diskutiert. Vgl. beispielhaft J. R. Hammond, a.a.O., S. 160ff., V. Meyers, a.a.O., S. 101ff. und H.-Ch. Schröder, a.a.O., S. 225.

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„Orwell […] fasziniert durch die scharf beobachteten Einzelheiten […] und durch die an Swift gemahnende Satire. Diese Form ist in den Ländern des Neuen Glaubens ausgeschlossen, denn die allegorische Aussage, die von Natur aus mehrdeutig ist, würde die Vorgaben des sozialistischen Realismus und die Anweisungen der 77 Zensur übertreten.“

Gleichzeitig versucht Orwell, den Vorgang einer sich sukzessive etablierenden oligarchischen Herrschaft und Degradierung der Bevölkerungsmehrheit zu willfährigen Arbeitssklaven in einer spezifischen Gestaltung des Erzählerberichts einzufangen. Bereits die Verwendung des Kollektivbegriffs „the animals“ verweist auf die gesellschaftliche Zweiteilung, da er nicht die Gesamtheit aller, sondern nur die Farmtiere mit Ausnahme der Schweine („the pigs“) bezeichnet. Grundsätzlich wird das Geschehen von einem auktorialen Erzähler vermittelt, der beispielsweise Kenntnis hat, dass Jones in einen anderen Landesteil verzogen ist, während den Farmtieren von Seiten der Schweine immer wieder mit der Rückkehr des ehemaligen Farmbetreibers gedroht wird (vgl. AF, VI, 44 u. 46). Ebenso hält er sich nicht durchgängig an die chronologische Abfolge der Ereignisse, sondern nimmt kleinere Umstellungen vor. Zu Beginn des neunten Kapitels berichtet er zunächst über den harten Winter und die neuerlichen Kürzungen der Futterrationen. Etwas später im Text informiert er den Leser, dass bereits im Herbst einunddreißig Ferkel geboren wurden (vgl. AF, IX, 74f.). Zwar legt dies die Vermutung nahe, dass die gekürzten Futterzuteilungen weniger auf eine karge Ernte oder den harten Winter als vielmehr auf den Zuwachs der gefräßigen Schweinepopulation zurückzuführen sind. Der Erzähler selbst enthält sich aber einer eindeutigen Kommentierung und Bewertung der Ereignisse. Vielmehr passt er sich in seinem Bericht dem Vorstellungs- und Wahrnehmungsvermögen der Tiere an, die aufgrund ihrer Einfalt und Naivität gerade nicht in der Lage sind, die beiden Vorgänge in kausaler Beziehung zueinander zu sehen.78 Mit der psychologischen Schlichtheit der Tiere und dem einfachen ländlichen Leben korrespondiert die Einfachheit der Sprache und der Syntax.79 Der Erzählerbericht verzichtet weitgehend auf Metaphern, Vergleiche oder Fremdwörter. Ebenso weist er keine komplexen und wenig hypotaktische Satzkonstruktionen auf. Charakteristisch sind vielmehr einfache, zumeist parataktisch miteinander verbundene aktivische Sätze. „Conciseness of form and simplicity of language are the qualities which immediately strike one on opening Animal Farm […] it is written in a bare English, uncluttered by metaphor […] So it begins, and so it continues to the end, direct, exact and 80 sharply concrete,…“

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Cz. Milosz, a.a.O., S. 53. Vgl. zu dieser Anpassung des Erzählerberichts auch R. Fowler, a.a.O., S. 168 u. 170. Fowler spricht auch von einer „mundane lexis of farmyard affairs“. Vgl. ebd., S. 169. G. Woodcock, The crystal spirit, London 1967, S. 156. Vgl. auch R. Fowler, a.a.O., S. 166f.

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Die spezifische, an das Wahrnehmungs- und Vorstellungsvermögen der Tiere angepasste Perspektivierung der Ereignisse befördert auf Seiten des Lesers Empathie und Mitleid mit den unterdrückten Farmtieren. Entscheidend ist hierfür, dass die Farmtiere nicht nur als anonymes Farmtierkollektiv präsent sind, sondern, stellvertretend für das Kollektiv, aus einer individualisierenden Innenperspektive die Gedanken und Gefühle einzelner Tiere geschildert werden. Anschaulich zeigt dies der zwischen Plural- und Singular-Form wechselnde Gedankenbericht des Pferdes Clover angesichts der Massentötungen im Rahmen der „Schauprozesse“. Clovers mit Ratlosigkeit und Verwirrung gepaartes Entsetzen beschreibt auch die Verfassung der sie umringenden Farmtiere. „The animals huddled about Clover, not speaking. The knoll where they were lying gave them a wide prospect across the countryside. Most of Animal Farm was within their view […] As Clover looked down the hillside her eyes filled with tears. If she could have spoken her thoughts, it would have been to say that this was not what they had aimed at when they had set themselves years ago to work for the overthrow of the human race. These scenes of terror and slaughter were not what they had looked forward to on that night when Old Major first stirred them to rebellion. If she herself had had any picture of the future, it had been of a society of animals set free from hunger and the whip, all equal, each working according to his capacity, the strong protecting the weak,…“ (AF, VII, 58).

Demgegenüber erscheinen die Schweine als weitgehend gesichts- und namenloses Kollektiv, deren Verhalten, analog zur Sicht der Farmtiere, konsequent von einer Außenperspektive geschildert wird. Zwar sind Napoleon als „Führerpersönlichkeit“ und Squealer als sein „Propagandaminister“ aus dem anonymen Schweinekollektiv herausgehoben. Aber in ihre Gedankenwelt erhält der Leser ebensowenig Einblick wie die Farmtiere.81 Zudem schafft die spezifische Beschränkung des Erzählers eine ironisierende Distanzierung der Ereignisse und verdeutlicht, dass die Tiere in ihrer Einfalt und Naivität das Regime der Schweine wesentlich stützen.82 Entscheidend ist, dass der Leser im Gegensatz zu den Farmtieren das manipulative Vorgehen der Schweine durchschaut, und somit die Gutgläubigkeit der Tiere mit dem differenzierteren Urteilsvermögen des Lesers kollidiert. So sind die Tiere nicht in der Lage, offensichtlichste Indizien wie Leiter, Farbtopf und Pinsel sowie Squealers Anwesenheit bei der Scheune zu einer Beweiskette zusammenzufügen und die Pervertierung der Sieben Gebote zu durchschauen. Der nächtliche Vorfall ist ihnen vielmehr unerklärlich, während der Leser sehr wohl weiß, dass die Tiere von den

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Lediglich in Kapitel 7 finden sich Napoleons manipulative Erwägungen angesichts der Nahrungsmittelknappheit explizit formuliert: „Napoleon was well aware of the bad results that might follow if the real facts of the food situation were known, and he decided to make use of Mr Whymper to spread a contrary impression.“ (AF, VII, 50). Vgl. zu dieser doppelten Funktion des Erzählerberichts ähnlich R. Fowler, a.a.O., S. 173.

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Schweinen betrogen werden (vgl. AF, VIII, 73). Ebenso wertet es der Leser nicht als Zufall, dass Squealer von bedrohlich knurrenden Hunden begleitet wird, sondern als weitere gezielte, machtstabilisierende Terrormaßnahme der Schweine. „The animals were not certain what the word meant, but Squealer spoke so persuasively, and the three dogs who happened to be with him growled so threateningly, that they accepted his explanation without further argument.“ (AF, V, 39).

V. 4. Eugène Ionescos Theaterstück Rhinocéros Rhinocéros ist ein Theaterstück in drei Akten und vier Bildern, wobei je ein Bild auf den ersten und dritten sowie zwei Bilder auf den zweiten Akt entfallen. Schauplatz ist eine kleine, geographisch nicht näher bestimmte Provinzstadt („une petite ville de province“; RH, I, 9). Die Handlungsorte präsentieren eine unspezifische, dem Publikum vertraute alltägliche Szenerie.83 Präzise Angaben zur Handlungszeit finden sich nur in den ersten beiden Akten. Während der erste Akt an einem späten Sonntagvormittag im Sommer („C’est un dimanche, pas loin de midi, en e´té.“ RH, I, 9) auf dem Marktplatz spielt, zeigt der zweite Akt Ionescos Helden Bérenger zunächst am darauf folgenden Montagmorgen in seinem Büro (1. Bild) und nachmittags zu Besuch bei seinem Bekannten Jean (2. Bild).84 Für den dritten Akt in Bérengers Wohnung fehlen dagegen präzisierende Zeitangaben. Im Gegensatz zu Ionescos frühen Einaktern zeigt Rhinoce´ros einen traditionellen dreigliedrigen Aufbau.85 Wesentlich scheint für die Veränderung der formalen Gestaltung, dass Ionesco mit der Figur des Bérenger, der erstmals in dem ebenfalls abendfüllenden Stück Tueur sans gages auftritt, einen „konfliktfähigen“ Helden auf die Bühne bringt.86 Dessen konflikthafte Konfrontation mit der entpersönlichten Nashorngesellschaft findet sich im ersten Akt expositorisch vorbereitet. Nicht nur stürmt während Bérengers Gespräch mit Jean wiederholt ein Nashorn über den Marktplatz („Un rhinocéros, à toute allure, sur le trottoir d’en face!“ R H , I, 14 u. 31), sondern auch in der anmaßenden Selbstgefälligkeit sowie Intoleranz und Arroganz seines Bekannten ist die um sich greifende Rhinozeritis 83 84

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Vgl. zur Alltäglichkeit des Schauplatzes auch J. S. Doubrovsky, Ionesco und die Komik der Absurdität, in: K. A. Blüher (Hg.), a.a.O., S. 275. Sowohl die Regieanweisung (vgl. RH, II/1, 45) als auch eine Zeitungsmeldung über den sonntäglichen Vorfall (vgl. RH, II/1, 46) machen obige Zeitstruktur deutlich. Den Besuch bei seinem Bekannten Jean kündigt Be´renger bereits zum Ende des ersten Bildes des zweiten Aktes an, als der Verlagsleiter seinen Mitarbeitern den Nachmittag frei gibt (vgl. RH, II/1, 65). Zum traditionellen Aufbau von Ionescos Rhinoce´ros, auf den in der Sekundärliteratur wiederholt abgehoben wird, vgl. beispielhaft W. Leiner, a.a.O., S. 344 und H. Seipel, Untersuchungen zum experimentellen Theater von Beckett und Ionesco, Bonn 1963 (Diss.), S. 111f. Vgl. H. Mayer, Ionesco und die Ideologien, in: K. A. Blüher (Hg.), a.a.O., S. 311f., W. Leiner, a.a.O., S. 343 u. 349 sowie U. Quint-Wegemund, a.a.O., S. 128f.

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bereits erkennbar. Die Nashornwerdung veranschaulicht die „Infektion“ letztlich nur noch und erlaubt gleichzeitig eine parabelhafte Verallgemeinerung des Geschehens.87 Der zweite Akt zeigt die Entfaltung des Konflikts. Im ersten Bild, als Mme. Boeuf in einem Nashorn ihren Ehemann erkennt, entdecken sich die rätselhaften Dickhäuter nun als Menschen in Tiergestalt. „Mme. Boeuf: C’est mon mari! Boeuf, mon pauvre Boeuf, que t’est-il arrivé? Daisy, a` Mme. Boeuf: Vous en eˆtes suˆre? Mme. Boeuf: Je le reconnais, je le reconnais.“ (RH, II/1, 58).

Im zweiten Bild findet sich die konflikthafte Situation für Bérenger intensiviert. Er wird unmittelbar Zeuge, wie sich sein Bekannter Jean in ein Nashorn verwandelt, das ihn schließlich attackiert.88 Der ausführlich geschilderte Tierwerdungsprozess steht beispielhaft für die zahllosen weiteren Verwandlungsvorgänge, die sich an den übrigen Bewohnern der Provinzstadt vollziehen. Abweichend vom traditionellen Dramenschema führt der dritte Akt nicht zu einer tatsächlichen Lösung des Konflikts, das kathartische Moment bleibt aus.89 Der auf sich selbst zurückgeworfene und isolierte Bérenger zeigt sich als widersprüchlicher und ohnmächtiger Held, dessen Widerstand nicht einer eigenen freien Entscheidung geschuldet ist, sondern sich wesentlich aus seiner trotzhaften Verzweiflung speist, selbst niemals zum Nashorn werden zu können.90 Die Schlussszene, die Bérenger allein unter all den Nashörnern zeigt, weist auf die Ausgangssituation zurück, da sie Bérengers bereits zu Beginn gegebene Isolation und Einsamkeit inmitten einer weitgehend entpersönlichten Gesellschaft ebenfalls nur noch sinnbildhaft verdeutlicht.91 „He´las, jamais je ne deviendrai rhinocéros, jamais, jamais! Je ne peux plus changer. Je voudrais bien, je voudrais tellement, mais je ne peux pas. […] Eh bien tant pis! Je me de´fendrai contre tout le monde! […]"Je suis le dernier homme, je le resterai jusqu’au bout! Je ne capitule pas!“ (RH, III, 117). 87

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Vgl. zur parabelhaften Verallgemeinerung auch H. Seipel, a.a.O., S. 114 und W. Hildesheimer, Erlanger Rede über das absurde Theater, in: Akzente 7, 6 (1960), S. 552. Problematisch ist dagegen die Einschätzung J. Kaisers, der von einer „lehrstückhaften Allegorie“ spricht, obwohl Ionescos Theaterstück nicht wie Orwells Animal Farm zwei voneinander unabhängige, aber in sich kohärente Bedeutungsebenen aufweist. Vgl. J. Kaiser, Ein Kampf um Ionesco, in: Ders., Kleines Theatertagebuch, Reinbek b. Hamburg 1965, S. 168. Siehe ausführlicher zu Jeans Nashornwerdung S. 221f. Vgl. W. Hildesheimer, a.a.O., S. 552 und allgemein zur Unvereinbarkeit des dreigliedrigen traditionellen Dramenaufbaus mit den Inhalten des absurden Theaters M. Esslin, Das Theater des Absurden. Von Beckett bis Pinter, Frankfurt/M. 1968, S. 430ff. Vgl. allgemein zum ohnmächtigen Helden „moderner Tragikomödien“ N. Mennemeier, Drama, in: D. Borchmeyer/V. Zµmegacˇ (Hgg.), a.a.O., S. 91f. und zu Rhinoce´ros M. Esslin, a.a.O., S. 189. Vgl. auch H. Hanstein, a.a.O., S. 105 und W. Hildesheimer, a.a.O., S. 551.

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Traditionelles Dramenschema und parabelhafter Charakter des Theaterstücks bleiben von der Kritik nicht unbemerkt. Während einerseits der konventionelle Aufbau und die Verständlichkeit des Stückes positiv vermerkt werden, muss sich Ionesco andererseits vorwerfen lassen, er habe sowohl das Avantgarde-Theater als auch seine eigene Theaterkonzeption verraten.92 Als „reaktionärer Vertreter der Schule der Theater-Nashörner“ („re´presentant réactionnaire de l’acade´misme des rhinocéros du théaˆtre“)93 mache er nun ebenfalls politisch-engagiertes Theater.94 Ungeachtet des Wechsels vom Einakter zur dreigliedrigen Langform betont Ionesco die Kontinuität seines Schaffens. Rhinoce´ros, von ihm selbst auch als farcenhafte Tragödie beziehungsweise tragische Farce bezeichnet95 , sei zwar etwas länger, aber letztlich ebenso „klassisch“ gebaut wie seine frühen Stücke. „Cette pie`ce [Rhinoce´ros; Anm. M. M.] est peut-eˆtre un peu plus longue que les autres. Mais tout aussi traditionelle et d’une conception tout aussi classique. Je respecte les lois fondamentales du théaˆtre: une idée simple, une progression égale96 ment simple et une chute.“

Da es sich aber um eine dramatisierte Erzählung („un conte que j’ai rendu scénique“) handle, sei die Darstellung des Geschehens wohl einer mehr literarischen, erzählerischen Form („un peu plus littéraire“) verpflichtet.97 Ein Theaterstück versteht Ionesco aber vor allem als Gefüge und Aneinanderreihung sich sukzessiv steigernder und verdichtender Bewusstseinszustände oder Situationen. „Je n’écris pas du théaˆtre pour raconter une histoire. Le théaˆtre ne peut pas eˆtre e´pique…, puisqu’il est dramatique. Pour moi, une pie`ce de théaˆtre ne consiste pas dans la description du déroulement de cette histoire: ce serait faire un roman ou d u cinéma. Une pièce de théaˆtre est une construction, constituée d’une série d’e´tats de conscience, ou de situations, qui s’intensifient, se densifient, puis se nouent, soit 98 pour se dénouer, soit pour finir dans un inextricable insoutenable.“

Ihre bühnenwirksame Umsetzung erhält diese dramatische Spannungssteigerung und -verdichtung in dem für Ionescos Schaffen auffälligen Prinzip der „prolife´ration“. Explizit erwähnt Ionesco dieses auch hinsichtlich der Kompositionsstruktur seiner Nashörner. 92 93 94

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Entsprechende Überblicke zu den unterschiedlichen Einschätzungen bieten W. Leiner, a.a.O., S. 341f. und S. Spengler, a.a.O., S. 32f. Zitiert nach W. Leiner, a.a.O., S. 342. Auch in der Forschung wird von einem „Lehrstück“, „Ideendrama“ beziehungsweise „pie` c e a` the`se“ gesprochen. Vgl. beispielhaft W. Hildesheimer, a.a.O., S. 550, H. Seipel, a.a.O., S. 112 und S. Spengler, a.a.O., S. 33. Ionesco selbst nahm auf die widersprüchlichen Aussagen der Kritik in ironisierender Weise Bezug. Vgl. E. Ionesco, Notes, a.a.O., S. 52f. „… bien qu’elle soit une farce, elle est surtout trage´die.“ Ebd., S. 185. Ebd., S. 183. Vgl. ebd., S. 102. Ebd., S. 219f. Vgl. ähnlich ebd., S. 160.

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„Le Rhinoce´ros, c’était la construction d’un récit transposée scéniquement; mais aussi une progression dramatique, une prolife´ration; un piège qui se resserre sur 99 quelqu’un.“

Ursprünglich ist der Begriff der „prolife´ration“ in der Botanik und Medizin gebräuchlich und bezeichnet eine Vermehrung von Zellen und Gewebe durch den Prozess der Sprossung (lat. „proles“ – Sprössling“) und Wucherung.100 Ab Ende der 1950er Jahre findet der Terminus aber auch im Zusammenhang mit Ionescos Stücken Verwendung. Ionesco selbst verweist auf den Kritiker und Journalisten Morvan Lebesque, der ihm seine „obsession de la prolifération“101 erst zu Bewusstsein gebracht habe. „Dans l’ordre de la compréhension, un critique, Morvan Lebesque m’a fait prendre conscience du thème de la prolife´ration dans Amédée ou comment s’en débarrasser et dans d’autres pièces. Avant, c’est un thème que je traitais avec une demi102 conscience.“

Für Ionescos Theater ist, korrespondierend mit obigem Bedeutungsinhalt des Begriffs, eine stetig fortschreitende quantitative Anhäufung und Vermehrung von Gegenständen oder organisch-belebter Materie charakteristisch, die zu einer Überwucherung und teils regelrechten Verstopfung der Bühne führt.103 Während in Ionescos Le nouveau locataire (Der neue Mieter; 1953) unzählige Möbelstücke die Bühne versperren, die den Mieter schließlich unter sich begraben, häuft sich in Les Chaises (Die Stühle; 1951) eine Vielzahl von Stühlen. In Amédée ou comment s’en débarrasser wachsen in Ame´dées und Madeleines Wohnung nicht nur Unmengen von Champignons, sondern auch eine in „geometrischer Progression“ wuchernde Leiche verdrängt das Paar aus seiner Wohnung. Analog zu den Eigenschaften des Massenhaften ist Ionesco die gleichsam bis ins Unendliche gesteigerte, rein quantitative Vervielfachung des nur Stofflich-Materiellen Ausdruck einer geistlos-dumpfen und entpersönlichten Lebenswelt, die den Menschen gänzlich zu erdrücken droht. „… la matière remplit tout, prend toute la place, anéantit toute liberté sous son poids, l’horizon se rétrécit, le monde devient un cachot étouffant. […] C’est là, certainement, le point de de´part de quelques-unes de mes pièces que l’on considère drama-

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C. Bonnefoy, Entretiens avec Eugène Ionesco, Paris 1966, S. 102. Vgl. Reallexikon der Medizin, 6 Bde., München/Berlin 1973, Bd. V, S. 275 und R. Schubert/ G. Wagner, Botanisches Wörterbuch. Pflanzennamen und botanische Fachwörter, 12. Aufl., Stuttgart 2000, S. 448. E. Ionesco, Notes, a.a.O., S. 204. C. Bonnefoy, a.a.O., S. 114. Vgl. ausführlicher zu Begriff und Funktion insbesondere G. Pacthod-Ronte, a.a.O., S. 20ff. Pacthod-Ronte unterscheidet neben der Wucherung im gegenständlichen und organischbelebten Bereich auch noch den im Bereich der Sprache. Vgl. ebd., S. 27.

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tiques: Comment s’en débarrasser ou Victimes du devoir. A partir d’un tel e´tat, les mots, e´videmment, dénués de magie, sont remplacés par les accessoires, les objets: des champions innombrables poussent dans l’appartement des personnages, Amédée et Madeleine; un cadavre, atteint de ‚progression géométrique‘ y pousse également, déloge les locataires; dans Victimes du devoir des centaines de tasses s’amoncellent pour servir du café à trois personnes; les meubles, dans Le Nouveau locataire, après avoir bloqué les escaliers de l’immeuble, la scène, ensevelissent le personnage qui voulait s’installer dans la maison; dans Les Chaises, des dizaines de chaises, avec des invités invisibles, occupent tout le plateau […] Lorsque la parole est usée, c’est que l’esprit est usé. L’univers, encombré par la matière, est vide, alors, de présence: le ‚trop‘ rejoint ainsi le ‚pas assez‘ et les objets sont la concrétisation de 104 la solitude, de la victoire des forces antispirituelles,…“

In L’avenir est dans les oeufs ou il faut de tout pour faire un monde (Die Zukunft liegt in den Eiern oder wie fruchtbar ist der kleinste Kreis; 1951) werden die Figuren Jakob und Jakobine von ihren Familien gedrängt, die „Nachkommenschaft“ zu sichern. Während Jakobine Unmengen von Eiern legt, ist es Jakobs Aufgabe, diese auszubrüten. Das Interesse der Familienmitglieder gilt aber vor allem dem quantitativen Ergebnis. Während bei Bulgakov aus den rot bestrahlten Eiern eine teuflische Brut entsteht, ist das Ei, Symbol des Lebensprinzips, das als Keim der Schöpfung alle Möglichkeiten in sich birgt, in Ionescos Theaterstück nur noch Sinnbild des Seriellen.105 Mit anfeuernden Zurufen fordern die Familien zu fortgesetzter und gesteigerter Produktion auf. „Vive la production! Encore de la production! Produisez! Produisez!“106 Ganz im Sinne des Massenbegriffs ist diese seriell gefertigte, identitätslose „Nachkommenschaft“ nicht mehr als ein amorpher Teig, aus dem uniforme und automatenhaft-seelenlose Produkte geformt und schließlich wieder vernichtet werden. Das wahllose Produzieren und Zerstören sowie unterschiedslose Nebeneinander von Belebtem und Unbelebtem zeigen den Menschen als verdinglichtes und austauschbares Objekt.107 „Roberte-Mère: Que va-t-on faire de la proge´niture? Jacques-Père, continuant son jeu: De la chair à saucisson! Robert-Père, entre deux allées et venues: De la chair à camion! Jacques-Grand-Mère: Il en faudra pour les omelettes. Jacqueline, entre deux allées et venues: On en fera des athlètes! Jacques-Mère: On en conservera pour la reproduction. 104 105

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E. Ionesco, Notes, a.a.O., S. 141f. Vgl. beispielhaft zum Ei als Lebens- und Fruchtbarkeitssymbol M. Lurker, Wörterbuch der Symbolik, 4., durchges. u. erw. Aufl., Stuttgart 1988, S. 159 und H. Bächtold-Stäubli (Hg.), a.a.O., Bd. II, Sp. 595. E. Ionesco, L’avenir est dans les oeufs, in: Ders., Théaˆtre, 7 Bde. Paris 1974ff., Bd. I, S. 153. Vgl. auch R. C. Lamont, a.a.O., S. 325. Bereits der aus dreißig absurden Prosaminiaturen bestehende Zyklus Slucˇai (Fälle; 1939) des russischen Schriftstellers D. I. Charms zeigt den Menschen entsprechend dem Titel des Zyklus nur noch als mit Gewalt und Verbrechen konfrontierten entpersönlichten „Fall“.

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Aufbau und Komposition

Roberte-Mère: De la paˆte à modeler. Robert-Père, meˆme jeu: De la paˆte à paˆte´. Jacques-Père: On va en faire des officiers, des officiels, des officieux. Jacques-Grand-Mère: On en mettra de coˆte´ pour en manger. Jacqueline: Des valets, des patrons! Jacques-Père: Des diplomates. 108 Jacques-Mère: De la laine à tricoter.“

In Rhinocéros vollzieht sich der Wucherungsprozess nun als zunehmend beschleunigte Perpetuierung von Verwandlungsvorgängen am Menschen selbst. Stürmt im ersten Akt zunächst nur ein einzelnes Nashorn über den Marktplatz, so werden im ersten Bild des zweiten Aktes schon Nashörner aus allen Teilen der Stadt gemeldet (vgl. RH, II/1, 61). Zum Ende des zweiten Aktes sieht sich Bérenger bereits bedrohlich von einer ganzen „Armee“ uniformer Nashörner eingekreist, die sowohl die Mietshäuser bevölkern als auch unaufhaltsam durch die Straßen stürmen sowie, analog zu naturmetaphorischen Beschreibungsmustern der Vielen, sich über die Boulevards der Provinzstadt „ergießen“ („Ils se de´versent sur les boulevards!“ RH, III, 102) und die Bürgersteige regelrecht „überschwemmen“. „Bérenger: […] Il y en a tout un tropeau maintenant dans la rue! Une armée de rhinoce´ros, ils dévalent l’avenue en pente!… (Il regarde de tous les coˆtés.) Par ou` sortir, par ou` sortir!… Si encore ils se contentaient du milieu de la rue! Ils se débordent sur le trottoir, par ou` sortir, par ou` partir!“ (RH, II/2, 79).

Sind die Nashörner zunächst noch in der Minderheit („C’est une minorité déjà nombreuse, qui va croissant.“ RH, III, 99), ändert sich das zahlenmäßige Verhältnis angesichts der sich häufenden Verwandlungen rasch zugunsten der Tiere, die schließlich eine sich stetig vergrößernde Mehrheit stellen. „Dudard: Nous n’avons de´jà plus le nombre pour nous.“ (RH, III, 102). Eingekreist von der uniformen Nashornmasse bleibt Bérenger schließlich ohne menschliches Gegenüber allein und isoliert in seiner Wohnung zurück. „Bérenger, regardant par la feneˆtre: Il n’y a plus qu’eux, dans les rues. (Il se pre´cipite vers la feneˆtre du fond.) Il n’y a plus qu’eux! […] (Il regarde de nouveau par la feneˆtre de face.) A perte de vue, pas un eˆtre humain. Ils ont la rue.“ (RH, III, 104).

In Rhinocéros mündet die für Ionescos Theater merkmalhafte dramatische Spannungssteigerung und -verdichtung nicht zu einer optisch wirksamen Überwucherung der Bühne, wie beispielsweise in den Stücken Les Chaises und Le nouveau locataire, sondern vermittelt sich dem Zuschauer indirekt. Nicht nur konstatieren die Figuren die stetige Vermehrung der Tiere, sondern auch ihre Dis-

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E. Ionesco, L’avenir est dans les oeufs, a.a.O., S. 154.

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kussionsbeiträge und Argumente gegenüber Bérenger für die uniformen Nashörner verdeutlichen die epidemische Ausbreitung der Rhinozeritis. Der Wucherungsprozess findet sich somit vor allem in den psychologischen Bereich verlegt.109 Allerdings zeigen auch Geräusche und Bühnenbild das beständige Wachsen der Nashornmasse an. Im dritten Akt ist wiederholt das Schnauben und Galoppieren der Tiere zu hören (vgl. RH, III, 80), das schließlich sogar das Gespräch der Figuren übertönt. „Bérenger: […] (Bruits grandissants des rhinoce´ros. Les paroles des deux personnages sont couvertes par les bruits des fauves qui passent sous les deux feneˆtres; pendant un court instant, on voit bouger les lèvres de Dudard et Bérenger, sans 110 qu’on puisse les entendre.) Encore eux! Ah, ça n’en finira pas!“ (RH, III, 95).

Die Tiere stürmen aber nicht nur lärmend um die Häuserblocks, sondern unterbinden jede Kontaktaufnahme zur Außenwelt über moderne Kommunikationsmittel. Auch Telefon und Radio übermitteln nur noch das Schnauben der Nashörner (vgl. RH, III, 109 u. 110). Parallel zur lautlichen Vermittlung der Tiermassen im dritten Akt zeigt das Bühnenbild eine wachsende Zahl stilisierter Nashornköpfe, die ebenso wie das vernehmbare Schnauben und Galoppieren der Tiere die zunehmende Einkreisung Bérengers verdeutlichen. Auch Bérengers persönliches Bedrohtsein durch die Nashörner findet sich im Verlaufe des Theaterstücks stetig gesteigert und intensiviert. Vom öffentlichen Marktplatz über seine Arbeitsstelle sowie der Verwandlung seines Bekannten Jean dringen die Tiere sukzessive in Bérengers persönliche Lebenwelt vor, bis sie schließlich auch seinen privaten Raum vollständig okkupieren.111 Sinnbildhaft veranschaulichen dies die stilisierten Nashornköpfe, die immer zahlreicher an der Rückwand des Zimmers zu sehen sind (vgl. RH, III, 104). Obwohl in Rhinocéros die für Ionescos Theater merkmalhafte dramatische Spannungssteigerung und -verdichtung nicht wie in Le nouveau locataire zu einer optisch wirksamen Überwucherung der Bühne führt, gleichen sich Bérenger und der neue Mieter letztlich in ihrer Isolation inmitten einer feindlichen, geistlos-entpersönlichten Umwelt. „Dans Rhinoce´ros, il y a la prolifération de ces pachydermes. Et quelqu’un, Be´renger, est encerclé, assailli. Il reste seul parmi les rhinocéros comme reste seul dans un monde encombrant et hostile ‚le nouveau locataire‘. En réalité, c’est la meˆme 112 chose.“ 109 110

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Vgl. auch G. Pacthod-Ronte, a.a.O., S. 145ff. Siehe ausführlicher zu den Gründen der Figuren, sich der uniformen Nashornmasse anzuschließen, S. 210ff. Das Trampeln der Tiere, die Bérengers Haus bevölkern, lässt das ganze Gebäude erzittern und in Bérengers Wohnung Putz von der Decke fallen (vgl. RH, III, 110). Vgl. zu weiteren Regieanweisungen, die sich auf das hörbare Schnauben und Galoppieren der Nashörner beziehen, RH, III, 81, 85, 88, 90, 95, 101 u. ö. Vgl. auch S. Spengler, a.a.O., S. 153. C. Bonnefoy, a.a.O., S. 128.

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V. 5. Felix Mitterers Theaterstück Das Fest der Krokodile Mitterer bezeichnet seinen Einakter113 Das Fest der Krokodile als absurde und respektlose Komödie (vgl. FK, 165). Zwar klingen in diesem Theaterstück komödientypische Motive an. Diese fügen sich aber nicht zu einem heiter-komischen Verwirr- und Verwicklungsspiel mit einem glücklich-versöhnlichen Ende, das die bestehende Welt- und Gesellschaftsordnung letztlich affirmiert.114 Vielmehr zeigt das Stück eine angesichts von Krieg und Gewalt aus den Fugen geratene Welt, deren pervertierte Werteordnung sich wesentlich in tief greifender Unmenschlichkeit, in Identitätsverlust sowie Beziehungs- und Kontaktlosigkeit ausdrückt. Korrespondierend mit Mitterers Anliegen, soldatisches Heldentum und politische Verführer zu entlarven, nutzt er die satirische Intention der Komödie, sowohl menschliche Schwächen bloßzustellen, sie zu brandmarken oder der Lächerlichkeit preiszugeben als auch, so U. Profitlich im Anschluss an F. Dürrenmatt, „falschem Pathos und falschem Ernst entgegenzutreten“115 . Der komödientypische Motivkomplex von Täuschung und Verwechslung116 scheint in Mitterers Stück aufgerufen, als die Figur des Hubertus im Verlaufe des Geschehens sein Inkognito lüftet und sich als Staatspräsident zu erkennen gibt (vgl. FK, 179). Hubertus’ nachfolgende Behauptung, lediglich einer von mehreren Doppelgängern des Präsidenten zu sein (vgl. FK, 204), zeigt ihn aber vor allem als Figur, die jedwede Identität anzunehmen vermag, da sie keine eigene besitzt. Das für die Komödie merkmalhafte Anagnorisis-Motiv klingt an, als Stephan in der Ruine Zuflucht findet, und Tini überzeugt ist, Stephan sei ihr Sohn, während Eva meint, Stephan sei ihr Bräutigam (vgl. FK, 176ff.). Da Eva aber nicht Stephan als Person, sondern tatsächlich nur seine Füße zu erkennen scheint, Stephan dagegen seine Waffe als Braut bezeichnet (vgl. FK, 180) und Tini nahezu wahllos jeden Soldaten für einen ihrer Söhne hält (vgl. FK, 199), enthüllt sich vor allem die tiefe Beziehungslosigkeit der Figuren. Grotesk gebrochen findet sich schließlich das komödientypische Schlussmotiv des Festes beziehungsweise Tanzes, das sowohl das versöhnliche Ende anzeigt als auch eine glückliche Zu-

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Zur Terminologie „Einakter“, „Kurzdrama“ oder „Kurzschauspiel“ vgl. beispielhaft die weitgehend auf die Einakter seit 1890 ausgerichtete Untersuchung von D. Schnetz, Der moderne Einakter. Eine poetologische Untersuchung, Bern 1967, S. 8ff. sowie B. Schultze, Studien zum russischen literarischen Einakter. Von den Anfängen bis A. P. Cµechov, Wiesbaden 1984, S. 3ff. Vgl. zu diesen allgemeinen Charakteristika beispielhaft U. Profitlich (Hg.), Komödientheorie. Texte und Kommentare. Vom Barock bis zur Gegenwart, Reinbek b. Hamburg 1998, S. 234f. Ebd., S. 232. Vgl. zur satirischen Intention auch W. Hinck, Einleitung. Die Komödie zwischen Satire und Utopie, in: R. Grimm/W. Hinck, Zwischen Satire und Utopie. Zur Komiktheorie und zur Geschichte der europäischen Komödie, Frankfurt/M. 1982, S. 16. Die folgende Auswahl bezieht sich auf die Darstellung „bühnenerprobter Motive und Kunstgriffe“ der Komödie bei W. Hinck, Vom Ausgang der Komödie. Exemplarische Lustspielschlüsse in der europäischen Literatur, in: R. Grimm/W. Hinck, a.a.O., S. 131f.

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kunft impliziert.117 Dagegen erweisen sich die Feiernden des Mitterer-Stückes im Sinne Dürrenmatts als Gemeinschaft, die kein Recht hat, einen feierlichen Chor anzustimmen.118 Die todbringende Konfrontation mit den verschlingenden Krokodilmassen in der Schlussszene ist Ausdruck der zerstörerischen Bestialität der Figuren, die sich bereits in der stummen Eingangsszene andeutet. Eva, Tini und Hubertus erscheinen in ihren als Schlafplatz dienenden Lüftungsschläuchen selbst als stilisierte Krokodile. „… Lüftungsschläuche (grün-braun wie Krokodile) […] Ein Lüftungsschlauch beginnt sich zu bewegen, setzt sich auf, steht auf, geht ratlos herum, legt sich wieder hin, dann kriecht Eva heraus […] Plötzlich hört man Stöhnen wie bei einer Geburt, ein weiterer Lüftungsschlauch bewegt sich rhythmisch dazu. […] Ein dritter Lüftungsschlauch bewegt sich, steht auf, geht zur Seite, ein Prasseln ist zu hören. […] Der Lüftungsschlauch kommt wieder zurück, zwei Hände umfassen den unteren Rand, ziehen den Schlauch hoch, entfernen ihn über den Kopf. Hubertus kommt zutage.“ (FK, 167f.).

So enthüllt sich geradezu schlaglichtartig eine gewisse Doppeldeutigkeit der Titelgebung. Während diese sich vordergründig auf die hungrigen Tiere bezieht, scheint sie gleichzeitig auf die Figuren selbst und ihr unmenschliches Verhalten abzuzielen. Das eigentlich spannungslösende komödientypische Schlussmotiv des Tanzes mündet bei Mitterer in eine weniger befreiende, als vielmehr beklemmende groteske Pointe, die nach Schnetz als charakteristisches Merkmal der einaktigen Kompositionsstruktur zu gelten hat.119 Der Handlungsort des Stücks ist geographisch nicht näher bestimmt. Schauplatz des Geschehens ist eine auf einem Hügel gelegene Kriegsruine, in der sich die Figuren vor dem Feind verschanzt und eine improvisierte Wohnstatt geschaffen haben. „Kriegsruine auf Hügel, halb Vorratslager, halb Müllplatz. Säcke, Kisten, Lumpen, […] ein Tarnnetz, darunter ein improvisierter Tisch mit improvisierten Hockern sowie ein Liegestuhl, ein Hometrainer, Feldtelefon, Herdplatte, Töpfe, ein Plastikeimer, eine Gießkanne, ein Plastikschafferl mit Waschrumpel, ein rostiger Tresor, ein zerbrochener Spiegel, vorne eine hohe, dürre Blume, oben am Trümmergrat ein Maschinengewehr mit eingelegtem Munitionsgurt. Dahinter Wüste (links noch etwas Vegetation vom Fluß), weiter Horizont.“ (FK, 167).

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Hinck spricht in diesem Zusammenhang auch von der „utopischen Intention“ des Komödiengenres. Vgl. W. Hinck, Einleitung, a.a.O., S. 12. Vgl. F. Dürrenmatt, Der Besuch der alten Dame – Anhang, in: Ders., Werkausgabe, 30 Bde., Zürich 1980, Bd. V, S. 139. Vgl. zur grotesken Pointe als charakteristischem Merkmal der einaktigen Kompositionsstruktur D. Schnetz, a.a.O., S. 77 und ähnlich R. Halbritter, Konzeptionsformen des modernen angloamerikanischen Kurzdramas. Dargestellt an Stücken von W. B. Yeats, Th. Wilder und H. Pinter, Göttingen 1975, S. 187f.

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Requisiten und Dekor präzisieren im Gegensatz zur Unbestimmtheit des Handlungsortes die Szenerie.120 Nicht nur gleicht der Schauplatz einer Müllhalde, sondern auch der rostige Tresor, der zerbrochene Spiegel und die dürre Blume scheinen anzuzeigen, dass Wertvorstellungen brüchig und Identitätsbestimmung sowie natürliches Wachstum problematisch geworden sind. Die Figuren sind in der Ruine weitgehend ein- und von der Außenwelt abgeschlossen. Ursächlich für ihre Einkreisung sind sowohl die Stellungen des Feindes als auch die unzähligen, am Fluss lauernden Krokodile, die Stephan bereits angegriffen haben. Der klassisch-aristotelische Einort wird hier zum Gefängnis, wobei die „kerkerhafte Enge“ gleichzeitig in eine „tödliche Weite“ übergeht.121 „Hubertus: (zu Stephan) Also! Wie schaut’s denn aus, da draußen? Stephan: Sie hausen in Erdlöchern und Schützengräben. (Zeigt auf die Karte.) Da und da – überall. Die einzige Möglichkeit ist wohl hier (deutet drauf), abseits vom Fluß. Bin ich auch reingekommen. Da ist alles Sand, sie können sich nicht eingraben. Da lungern nur noch ein paar halb verhungerte Typen herum.“ (FK, 185).

So beendet der Tod der Feinde auch nur scheinbar die Gefangenensituation der Figuren, denn die bedrohliche Umzingelung durch die feindlichen Gefechtsstellungen wird lediglich von der weitaus gefährlicheren Einkreisung durch die Krokodile abgelöst. „Stephan: Augen, Sir! Tausende Augen! Stephan holt eine Leuchtpistole aus einer Seitentasche an seiner Hose, schießt sie ab. Ein roter Ball sinkt langsam am Himmel nieder, erleuchtet alles mit rotem Licht. Stephan schaut erschreckt, weicht zurück, kollert über die Trümmer herunter. […] Stephan: (steht auf) Die Krokodile! Ein Meer von Krokodilen! Sie kommen auf uns zu! Ihre Mäuler triefen von Blut! Die Leuchtkugel ist verklommen, es ist wieder dunkel geworden. Das Fauchen wird lauter. […] Hubertus: Wir müssen weg! Wir müssen sofort weg! Rückzug, Sergeant-Major! Stephan: Sir, wohin, Sir? Da kommen sie auch schon! (Deutet ins Publikum.) Hubertus dreht sich um, schaut ins Publikum, weicht angstvoll zurück.“ (FK, 203).

Allerdings zeigt bereits die Eingangsszene eine Endsituation. Konsequenz ist, dass weniger die Figuren durch ihr Handeln das Geschehen bewusst gestalten, vielmehr ist es die umfängliche Bedrohung durch Krieg, Gewalt, Nahrungs- und Wassermangel, welche die Figuren in ihrem Verhalten wesentlich bestimmt. An120 121

Vgl. zur geographischen Unbestimmtheit des Handlungsortes bei gleichzeitiger Präzisierung der szenischen Details D. Schnetz, a.a.O., S. 122. Vgl. D. Schnetz, a.a.O., S. 125 und generell zum Einort des Einakter ebd., S. 123ff. sowie B. Schultze (1984), a.a.O., S. 11ff. und Y. Pazarkaya, Die Dramaturgie des Einakters. Der Einakter als eine besondere Erscheinungsform im deutschen Drama des 18. Jahrhunderts, Göppingen 1973, S. 194ff.

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gesichts dieser für den Einakter charakteristischen Dominanz der Situation scheint dem Einzelnen sein individuelles Wollen und Handeln weitgehend entzogen. „Im Einakter aber dominiert nicht mehr der Mensch, es dominiert die Situation. Konflikt und Spannung entstehen nicht mehr zwischen Individuen, sondern zwischen Individuum und Situation. […] Die Auseinandersetzung mit der vorgefundenen Lage ist primär, erst sekundär und als Folgeerscheinung gerät der einzelne 122 in einen zwischenmenschlichen Konflikt.“

In Mitterers Stück wird etwa die Entscheidung, Eva aufgrund des Wassermangels zu erschießen, von allen Figuren, auch von Eva selbst, als situationsgemäße Notwendigkeit akzeptiert. Gleichzeitig dient aber gerade die Zwangslage als Rechtfertigung für das eigene unmenschliche Verhalten, das somit, da der persönlichen Verantwortlichkeit scheinbar entzogen, auch nicht mehr reflektiert werden muss. Anschaulich zeigt sich dieser Verlust an reflektiertem Verantwortungsbewusstsein gegenüber dem eigenen Handeln an der Figur Tinis, die sich an ihren Waschzuber am Trümmergrat zurückzieht, um die Erschießung nicht unmittelbar mitzuerleben. Dass auch ihr regelmäßiges Waschen der Wäsche ursächlich mit der Wasserknappheit und Evas Erschießung zusammenhängt, wird von ihr nicht erkannt. „Hubertus: Ob das wahr ist, was Herr Andreas gesagt hat, oder nicht, spielt keine Rolle. Auch nicht, daß Sie mit dem Feind zum Tanze gingen. Wir haben einfach nicht genug Wasser für alle. (Zu Stephan:) Erschießen. Stephan schaut ihn an. Hubertus: Erschießen, Sergeant-Major! Stephan schaut zu Eva. Tini: Aber Herr Hubertus… Hubertus zieht die Feldflasche hervor, zeigt sie Tini, diese sieht es ein, geht zu Eva. Tini: Fräulein Eva, ich möchte mich entschuldigen, daß ich des öfteren etwas gehässig war. […] Tini geht – sie will die Erschießung nicht wahrnehmen – zum Waschzuber, beginnt die Wäsche auszuwringen, steigt dann auf den Trümmergrat, wo eine Wäscheleine gespannt ist, hängt dort die Wäsche auf. […] Stephan: Fräulein Eva, ich tu das nicht gern. Aber Befehl ist Befehl. Keiner da außer mir. Es ist wegen dem Wasser. Sonst hätten wir Sie gern mitgenommen, zum Bunker.“ (FK, 201).

Zudem verfügt das Stück über keine wirklich zielgerichtete Handlungsbewegung, sondern zeigt, gewissermaßen in Variation, wie die entfesselte Gewalt und die brutalen Spielregeln des Krieges die Figuren beherrschen. Schnetz spricht in diesem Zusammenhang von einer weitgehend „handlungslosen Katastrophe“ des Einakters, dessen Anfangssituation mit einem „Bazillus“ infiziert ist, der sich im 122

D. Schnetz, a.a.O., S. 31. Vgl. ähnlich R. Halbritter, a.a.O., S. 186f.

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Laufe des Stücks nur stetig ausbreitet.123 So deutet sich auch in der stummen Eingangsszene, als Eva mit kahlem Schädel aus ihrem Lüftungsschlauch kriecht, das Unvermögen der Figuren zur Mitmenschlichkeit und zu eigenverantwortlichem Handeln bereits an (vgl. FK, 168). Hubertus und Tini haben Eva wegen angeblicher Kollaboration mit dem Feind geschoren und erweisen sich somit als willige Vollstrecker eines vermeintlich angestammten „kriegsnotwendigen“ Maßnahmenkatalogs. „Tini kommt her, nimmt ihr [Eva; Anm. M. M.] die Perücke herunter. […] Hubertus: Jawohl! So eine ist sie, Sergeant-Major Stephan! Eine Kollaborateurin! […] Tini: (zu Stephan) […] Geschoren haben wir sie! Kahlgeschoren! Weil sie mit dem Feind zum Tanze ging! Strafe muß sein!“ (FK, 181f.).

Korrespondierend mit dem Verzicht auf eine tatsächliche Handlungsentwicklung zeigt sich das Geschehen losgelöst von einer motivierenden Ereigniskette und lässt sich nicht in einem größeren Bezugsrahmen verorten. Das Publikum erfährt weder etwas über die Kriegsparteien noch über die tatsächlichen Gründe der kriegerischen Auseinandersetzung. Zwar wird in einem von Hubertus’ Gedichten das vermeintlich kriegsauslösende Moment genannt („… primitive Untermenschen,/anerkennen keine Grenzen,/überschwemmen unser Land,…“; F K , 187). Die rassistisch-propagandistische Rechtfertigung des Krieges gibt aber vor allem Aufschluss über Hubertus’ ideologische Fanatisierung. Auf den Gegenwartsbezug des Theaterstücks verweisen einige Requisiten sowie verschiedene Aussagen der Figuren. Hubertus’ Bunker ist mit Satellitenfernsehen, Sauna und Whirlpool ausgestattet (vgl. FK, 185). Andreas filmt mit einer Videokamera (vgl. FK, 170), ein Hometrainer dient zur Stromerzeugung (vgl. FK, 173). Die Handlungszeit umfasst einen Tag. Während die Schilderung des Geschehens mit der Morgendämmerung einsetzt (vgl. FK, 168), bricht zum Ende des Theaterstücks die Abenddämmerung herein (vgl. F K , 200), und es wird schließlich Nacht (vgl. FK, 203). Für die Figuren scheint sich der Zeitfaktor aber ins Unendliche zu weiten, da sie in einer Warteposition gefangen sind, die sie selbst nicht beenden können.124 So bestimmt der feindliche Beschuss nicht nur wesentlich die Zeitwahrnehmung der Figuren, sondern befördert ob seiner gleich bleibenden Regelmäßigkeit auch den Verlust des Zeitgefühls. Die Tage erschöpfen sich in steter Wiederholung.

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Vgl. D. Schnetz, a.a.O., S. 57 u. 62. Vgl. ähnlich auch Y. Pazarkaya, a.a.O., S. 193 und P. Szondi, Theorie des modernen Dramas (1880-1950), in: Ders., Schriften, 2 Bde., Frankfurt/M. 1978, Bd. I, S. 85ff. Ist die Einheit der Zeit als charakteristisches Merkmal des Einakters in Mitterers Stück auch nicht verwirklicht, so zeigt sich doch die insbesondere von Schnetz konstatierte Weitung des Zeitfaktors ins Unendliche. Vgl. D. Schnetz, a.a.O., S. 135ff. Zur Einheit der Zeit im Einakter vgl. auch Y. Pazarkaya, a.a.O., S. 202ff. sowie B. Schultze (1984), a.a.O., S. 12f.

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„Hubertus: (schaut auf seine Taschenuhr) Gleich geht’s los! Eva und Tini kriechen in ihre Schläuche, Hubertus wartet noch mit der Taschenuhr in der Hand. […] Drüben werden Granaten abgefeuert und explodieren in der Nähe. Hubertus kriecht auch in seinen Schlauch. […] Tini: Da soll man nicht eine Frühgeburt bekommen (Nach unten:) Beruhige dich, Butzi, ist schon vorbei. Die tun jetzt frühstücken. Vor dem Frühstück tun die immer ein paar herüberpfeffern. Aber eh nur pro forma.“ (FK, 170).

Die Loslösung des Geschehens von einem übergeordneten zeitlichen Bezugsrahmen verstärkt den Eindruck einer schier endlosen Wartesituation. Nicht nur ist unklar, wie lange Eva, Tini und Hubertus in der Kriegsruine ausharren, sondern auch, wie lange die kriegerische Auseinandersetzung bereits andauert. Für die Figuren scheint der Zeitfaktor unwesentlich geworden und wird somit auch nicht explizit thematisiert. Als Tini Hubertus zu Friedensverhandlungen auffordert, stellt sie lediglich fest: „Der Krieg dauert schon zu lange!“ (FK, 183).125 Der Tod der Feinde beendet zunächst die „zeitlose“ Warteposition und eröffnet den Ausblick auf ein konkretes Morgen. „Heute feiern wir, morgen brechen wir auf!“ (FK, 202). Diese dem Festmotiv inhärente zukünftig-utopische Zeitdimension wird aber ebenfalls aufgehoben und durch die unvermutete sowie ganz gegenwärtige Bedrohung durch die Krokodile abgelöst (vgl. FK, 203). Kennzeichnend für die einaktige Kompositionsstruktur ist nach Schnetz nicht nur das plötzliche Umschlagen der Zeitdimension in höchste Gegenwärtigkeit, sondern dass sich diese unmittelbar nach der Spannungsentladung des Zusammenbruchs neuerlich ins Unendliche weitet.126 Auch in Mitterers Stück wird die sinnfällige Konfrontation des Menschen mit seiner eigenen monströsen Bestialität gewissermaßen stillgestellt und somit über die Schlussszene hinaus verlängert. Evas letzte Aussage „Wir wollen alles vergessen. Alles vergessen.“ (FK, 204) bestätigt die Gültigkeit der bedrohlichen Bewusstseinslage der Figuren und unterstreicht die Aussichtslosigkeit auf einen Neuanfang, da mit der Verdrängung nicht Veränderung, sondern nur eine stete Wiederholung des Geschehenen korrespondiert.

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Zur Dauer des Krieges lassen sich lediglich Vermutungen anstellen. Einem Gespräch zwischen Hubertus und Andreas ist zu entnehmen, dass demnächst Olympische Spiele stattfinden sollen, die letzten beiden aber ausgefallen sind (vgl. FK, 171). Konnten diese aufgrund des Krieges nicht stattfinden, was allerdings weder von Hubertus noch Andreas explizit formuliert wird, dauert der Krieg bereits mindestens acht Jahre. Vgl. D. Schnetz, a.a.O., S. 147.

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V. 6. Zusammenfassung der Ergebnisse Die Betrachtung des Aufbaus und der Komposition ergibt für die Massenthematik wesentliche Aspekte. Cµapeks Montageverfahren verweist nicht nur auf die Fragmentarisierung und Widersprüchlichkeit einer rapide modernisierten und pluralisierten Lebenswelt, sondern enthüllt auch die Orientierungslosigkeit einer wesentlich inhumanen und entpersönlichten Gesellschaft, die ein tragfähiges Normen- und Wertesystem verloren hat. Ihre Begeisterung für die rationalistische und entindividualisierte Gesellschaftspraxis der Molchzivilisation ist sinnfälliger Ausdruck dieser defizitären Verfasstheit. Mit dem wiederholten Bezug auf Texte der utopischen Literatur thematisiert Cµapek zudem die identitätsnivellierenden Aspekte ausschließlich funktional organisierter Kollektive. Nur scheinbar mündet die vernunftbestimmte und straffe Reglementierung utopischer Gesellschaftsentwürfe in eine ideale Ordnung, vielmehr ist die Individualität des Einzelnen ob der uniformierenden Tendenzen fortgesetzt gefährdet. Auch die unzuverlässigen sowie inkonsistenten Bewertungen und Kommentierungen des Erzählers in Bulgakovs Rokovye Jajca scheinen auf den Verlust eines tragfähigen Normen- und Wertekanons zu verweisen, wobei die umfänglich satirische, teils groteske Schilderung des Geschehens letztlich den Eindruck einer gänzlich sinnentleerten Welt vermittelt. Gleichzeitig lassen die reduzierenden Darstellungen der großstädtischen Menschenmenge sowie die Beschreibungsmuster, die durchgängig das menschliche Verhalten mit den Eigenschaften der mutierten Tierpopulationen parallelisieren, das Bild einer nachrevolutionären Gesellschaft entstehen, die sich vor allem durch seelenlose Oberflächlichkeit und Bestialität auszeichnet. Mit dem Hinweis auf die im natürlichen Sonnen- beziehungsweise Mondlicht glänzende Kuppel der Moskauer Erlöserkirche scheint zwar ein auf evolutionäre Veränderung und Verinnerlichung zielendes Gegenmodell zur seelenlosen nachrevolutionären Gesellschaftspraxis angedeutet. Dieses wird aber im schnelllebigen, von zahllosen künstlichen Beleuchtungskörpern erhellten Moskau nicht zur Kenntnis genommen. Bei Ionesco ist die Überwucherung der Bühne, die bis ins Unendliche gesteigerte, rein quantitative Vervielfachung des nur Stofflich-Materiellen analog zu den Eigenschaften des Massenhaften Ausdruck einer geistlosen und entpersönlichten Lebenswelt. Die zunehmend beschleunigte Perpetuierung der Verwandlungsvorgänge erzeugt eine dumpf-monströse Nashornmasse ohne Identität. Angesichts von Ringstruktur und offener Konzeption, welche die Bedrohungs- und Konfliktsituation über die Schlussszene beziehungsweise das Erzählende hinaus verlängert, scheinen die dem Menschen im Vergleich zum Tier zugeschriebenen Befähigungen zu Reflexion und Erkenntnis sowie bewusster und verändernder Problemlösung in Frage gestellt. In Cµapeks Válka s Mloky muss der Autor, der im letzten Kapitel die Szene betritt, seinem Alter ego gegenüber zugeben, dass die Ereignisse seinem persönlichen Wollen entzogen seien, sich vielmehr eine dem bislang Berichteten immanente Logik selbständig fortschreibe, der

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er ohnmächtig gegenüberstehe (vgl. VSM, III, 11, 241). Den Vorschlag, die Menschheit, gleichsam analog zu Bulgakovs eisigem Frost im August, durch ein unverhofftes Eingreifen der Natur zu retten und die Katastrophe nur als vorübergehenden Spuk erscheinen zu lassen, lehnt er ab. „‚Nesˇlo by ty Mloky neˇjak zastavit?‘ Nesˇlo. Je jich prˇílisˇ mnoho. Musí se pro neˇ udeˇlat místo. ‚Nesˇlo by, aby neˇjak vymrˇeli? Trˇeba by na neˇ mohla prˇijít neˇjaká nemoc nebo degenerace –‘ Prˇílisˇ lacine´, brachu. Copak má porˇa´d Prˇíroda napravovat, co si lidí nadrobili?“ (VSM, III, 11, 243).

Der Autor sieht dagegen einen zukünftigen Kampf Molch gegen Molch als einzig mögliche Rettung des Menschen. Erst wenn sich die homogene Molchmasse ebenso wie die Menschen aus nationalen und wirtschaftlichen Gründen auseinander dividiert, bekriegt und selbst ausrottet, werden die Menschen aus ihren Zufluchtsorten in den Bergen zurückkehren und den Rest der Landmassen, die durch Anschwemmungen wieder zu Kontinenten zusammenwachsen, neuerlich in Besitz nehmen können. Dass die Menschen aus dem Krieg mit den Molchen tatsächlich etwas lernen, bezweifelt der Autor aber. Die vom Menschen selbst verschuldete Katastrophe wird zur unabwendbaren Strafe Gottes im Sinne einer neuen Sintflut uminterpretiert. Da den Ereignissen somit im Nachgang eine gottgewollte Zwangsläufigkeit unterstellt wird, ist der Mensch in seinem Handeln nur noch partiell, als ununterscheidbarer Teil einer per se sündigen Menschengemeinschaft haftbar. „Lidé? Ah pravda, lidé. Nu, ti se zacˇnou pomalu vracet z hor na brˇehy toho, co zu˚stane z pevnin; ale oceán bude jesˇteˇ dlouho smrdeˇt rozkladem Mloku˚. Pevniny zase pomalu porostou na´nosem rˇek; morˇe krok za krokem ustoupí a vsˇechno bude skoro jako drˇív. Vznikne nová legenda o potopeˇ sveˇta, kterou seslal Bu˚h za hrˇíchy lidí. Budou také zkazky o potopeny´ch myticky´ch zemích, ktere´ pry´ byly koléb127 kou lidské kultury…“ (VSM, III, 11, 247).

Auch der an das Wahrnehmungs- und Vorstellungsvermögen der Tiere angepasste Erzählerbericht in Orwells Animal Farm offenbart eine defizitäre Verfasstheit der „breiten Masse“. Als problematisch muss gelten, dass sich die Farmtiere 127

Bemerkt sei, dass die Sintflut etwa bei Locke im Zusammenhang mit der „gärenden Masse“ der aufständischen Besitzlosen als Massensymbol und gleichsam unpersönliche, rächende und vergeltende Macht firmiert. „… for the labourer’s share, being seldom more than a bare subsistence, never allows that body of men time or opportunity to raise their thoughts above that, or struggle with the richer for theirs, […] unless when some common and great distress, uniting them in one universal ferment, makes them forget respect, and emboldens them to carve to their wants with armed force; and then sometimes they break in upon the rich, and sweep all like a deluge.“ Zitiert nach H. König, a.a.O., S. 50.

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in ihrer Einfalt, Naivität und politischen Apathie nur allzu leicht zu sprachlosen Befehlsempfängern und willigen Arbeitssklaven reduzieren lassen und das Unterdrückungssystem einer machthungrigen Elite wesentlich stützen und zementieren helfen. Das Verhalten von Mitterers Figuren zeigt sich schließlich von einer äußeren Bedrohungssituation umfänglich determiniert. Unfähig zu einer humanen, individuellen Handlungsbestimmung sind sie nur willige Vollstrecker eines vermeintlich „kriegsnotwendigen“ Maßnahmenkatalogs. Die raum-zeitliche Geschlossenheit – eine wesentliche Forderung gerade des klassischen Dramas, das den autonomen und freien Menschen in den Mittelpunkt rückte,128 – verdeutlicht in Mitterers Einakter gerade die Unfreiheit und das Gefangensein der Figuren in der Situation. Während sich im handlungslosen Einakter als gleichsam „formgewordene Skepsis“129 eine generell pessimistische Einstellung gegenüber den Möglichkeiten verändernden Handelns ausdrückt, impliziert die bewegte Dreierkomposition von Exposition, Konflikt und Lösung, dass der Einzelne sowohl seine Lage als auch die Konfliktsituation durch selbstbestimmtes Handeln zu verändern vermag. Allerdings zeigt sich auch Ionescos Bérenger von Beginn an als wesentlich ohnmächtiger und von der ihn umgebenden gesellschaftlichen Lebenswelt isolierter Held. Zwar gelingt es Bérenger, sein Menschsein zu bewahren. Doch bleibt er letztlich ausweglos und verzweifelt inmitten der konformistischen Nashornmasse ohne menschliches Gegenüber zurück.

128 129

Vgl. P. Szondi, a.a.O., S. 16ff. D. Schnetz, a.a.O., S. 84.

VI. Figurenkonzeption und Tiermotivik Da Menschliches und Tierisches in den Vergleichstexten eng aufeinander bezogen sind, soll nachfolgend zunächst eine Analyse der Figurenkonzeptionen erfolgen, um in einem zweiten Schritt die Verhaltens- und Eigenschaftszuschreibungen sowie die defizitäre menschliche Verfasstheit mit dem Auftreten der Tierpopulationen in Beziehung zu setzen. Die Tatsache, dass es sich bei diesen nicht um Fabelwesen, sondern um allgemein bekannte Tierarten handelt, bedingt zwangsläufig erste Assoziationen zu merkmalhaften Äußerlichkeiten und Verhaltensweisen. Diese lassen sich anhand einschlägiger Standardwerke, wie etwa A. Brehms Tierleben oder B. Grzimeks Enzyklopädie der Tierwelt, überprüfen und fundieren. Zudem ist aufzuzeigen, mit welchen, teils von den naturwissenschaftlichen Tatsachen abweichenden Eigenschaften die Autoren ihre Tierpopulationen ausstatten, und schließlich, welche Bedeutungsinhalte sowohl Volksglaube als auch Mythologie, Bibel und christliche Ikonographie sowie Emblematik oder Fabeldichtung den jeweiligen Tieren zuschreiben. Für die Analyse der Figurenkonzeption erweist sich in Bezug auf die übergeordnete Massenthematik die Opposition von „Typ“ und „Charakter“ beziehungsweise „Individuum“ als wesentlich. Der Charakter besitzt eine Vielzahl von Eigenschaften, die ihm sowohl persönliches Gepräge als auch individuelle Eigenart verleihen, ihn somit unverwechselbar machen.1 Im Anschluss an Dostoevskij, der in einem Charakter die „volle Wahrheit über einen Menschen“2 ausgedrückt sieht, spricht Kasack von einem allseitigen Erfassen des Wesens.3 Der Typ zeigt dagegen eine nur begrenzte Auswahl allgemeinmenschlicher Züge oder psychologisch und soziologisch merkmalhafter Kennzeichen, die ihn bestimmte menschliche Verhaltensweisen verkörpern lassen oder als Vertreter einer gesellschaftlichen Schicht oder Berufsgruppe ausweisen. Zwar verbleibt die Darstellungsform der Typisierung im Bereich persönlich-individueller Erfahrung, abstrahiert aber doch vom Individuellen, da sie auf ein Muster abzielt, beispielhaft Kollektives veranschaulicht.4 Tatsächlich zeigt auch der Charakter notwendigerweise eine Zuschreibung an allgemeinmenschlichen Eigenschaften. Während diese aber neben einer Vielzahl weiterer Züge stehen, bilden sie beim Typus das Wesen schlechthin.5 1

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5

Vgl. A. Nünning (2004), a.a.O., S. 82 und Th. Koch, Literarische Menschendarstellung: Studien zu ihrer Theorie und Praxis (Retz, La Bruyère, Balzac, Flaubert, Proust, Lainé), Tübingen 1991, S. 136f. Zitiert nach W. Kasack, Die Technik der Personendarstellung bei Nikolaj Vasilevicˇ Gogol, Wiesbaden 1957, S. 118. Vgl. ebd., S. 120. Vgl. A. Nünning (2004), a.a.O., S. 82 u. 83 und A. Graczyk (1993), a.a.O., S. 49. Daneben ist die sogenannte „Personifikation“ zu nennen, die Figuren als Verkörperung abstrakter Begriffe, bestimmter Tugenden oder Laster zeigt. Vgl. Th. Koch, a.a.O., S. 137. Vgl. W. Kasack (1957), a.a.O., S. 122f.

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Die Typisierung erfährt im 19. Jahrhundert im Zusammenhang mit physiognomischen und phrenologischen Studien und Untersuchungen eine scheinbar wissenschaftliche Fundierung. Das Äußere des Menschen, seine Gesichtszüge, Körperund Schädelform, sollen Aufschluss geben über innere Verfasstheit, Anlagen und Neigungen.6 Ähnliche Theoriemodelle kannte allerdings bereits die Antike, wobei die Aristoteles zugeschriebene Physiognomika vor allem eine Vielzahl vergleichender Beschreibungen von Menschen und Tieren zeigt. „Die kleine Augen haben, sind kleinen Sinnes […] Die großäugigen sind träge (Kühe) […] Die mit hervorstechenden Augen sind unverbesserlich dumm […] Bei denen die Augen ein wenig tiefliegend sind, die sind hochgemut (die Löwen). Bei denen etwas mehr, die sind zahm (die Kühe). Die mit verhältnismäßig kleiner Stirn, können nichts lernen (die Schweine). Die aber eine sehr große Stirn haben, sind 7 träge (die Kühe). Die eine runde haben, sind unempfindlich (die Esel).“

Großer Beliebtheit erfreuten sich im 19. Jahrhundert auch die sogenannten „Physiologien“, die in vornehmlich soziologisch aufgefächerter Form die Gesellschaft, ihre verschiedenen Milieus und die dazugehörenden Menschentypen beschreiben und nicht zuletzt den Versuch darstellen, sich mit dem Phänomen der großstädtischen Menschenmengen vertraut zu machen.8 Für E. A. Poes soziologische Ausdifferenzierung der Londoner Bevölkerung in The Man of the Crowd (Der Mann der Menge; 1840) ist die individuelle Einmaligkeit des Einzelnen unwesentlich, fokussiert wird, wie etwa bei der Beschreibung der Büroangestellten, auf das Typische, so dass der Einzelne letztlich nicht mehr ist als ein unbedeutender Teil eines uniformen Berufsgruppenkollektivs. „The division of the upper clerks of staunch firms […] it was not possible to mistake. These were known by their coats and pantaloons of black or brown, made to sit comfortably, with white cravats and waistcoats, broad solid-looking shoes, and thick hose or gaiters. They had all slightly bald heads, from which the right ears, long used to pen-holding, had an odd habit of standing off on end. I observed that they always removed or settled their hats with both hands, and wore watches, with short gold chaines of a substantial and ancient pattern. Theirs was the affecta9 tion of respectability…“ 6

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Beispielhaft sei auf den Begründer der Phrenologie, F. J. Gall (1741-1801), sowie auf J. K. Lavater (1758-1828) und seine Physiognomischen Fragmente zur Beförderung der Menschenkenntnis und Menschenliebe (1775-1778) verwiesen. Vgl. auch Th. Koch, a.a.O., S. 99ff. und A. Graczyk (1993), a.a.O., S. 49. Zur Auseinandersetzung mit Lavaters Physiognomik vgl. P. v. Matt, … fertig ist das Angesicht. Zur Literaturgeschichte des menschlichen Gesichts, München/Wien 2000, S. 78ff., 107ff. u. 159ff. Aristoteles, Physiognomik. Schlüsse vom Körperlichen auf Seelisches, übers. u. eingel. v. M. Schneidewin, Heidelberg 1929, S. 58. Vgl. A. Graczyk (1993), a.a.O., S. 49f. E. A. Poe, The Man of the Crowd, in: Ders., Complete Stories and Poems, New York 1966, S. 216. Verwiesen sei zudem auf E. Sue, der in seinem Feuilletonroman Les Myste`res de Paris

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Ebenso wird in den Ocˇerki moskovskoj zˇ i zni (Skizzen des Moskauer Lebens; 1842) von P. F. Vistengof die Berufsgruppe der Beamten nur als undifferenziertes Kollektiv gezeigt. Vormittags „strömen“ sie gleich „Schwärmen“ mit sorgenvollen Gesichtern und Aktenstößen unter dem Arm in die Behörden und verlassen diese, nun in Sorge um ihre hungrigen Mägen, um drei Uhr nachmittags wieder, um die nahe liegenden Restaurants und Schankstuben zu bevölkern. „V 9 çasu utra, esli vam sluçitsä byt´ u Iverskix vorot, to vy uvidite, kak oni [çinovniki; Anm. M. M.] staämi stekaütsä so vsex storon, s ozaboçennymi licami, s zaväzannymi v platke kipami bumag […] V tri çasa çinovniki vyxodät iz prisutstviä; tut opät´ vy moΩete ix vstretit´, na licax opät´ vidna zabotlivost´, no qta uΩe ne zabota sluΩby, a zabota towego Ωeludka. Protiv prisutstvennyx mest tänetsä dlinnyj räd traktirov; […] tuda spe‚at prikaznye, çtob nasytit´ svoj progo10 lodav‚ij Ωeludok…“

Den Kategorien „Typ“ und „Charakter“ entsprechen E. M. Forsters „flache“ („flat“) und „runde“ („round“) Figuren. Erstere zeigt eine stark begrenzte und wesentlich beständige Zuschreibung an Eigenschaften. „Flat characters were called ‚humours‘ in the seventeenth century, and are sometimes called types, and sometimes caricatures. In their purest form, they are constructed round a single idea or quality […] The really flat character can be ex11 pressed in one sentence…“

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(Die Geheimnisse von Paris; 1842/43) die Pariser Unterwelt und Lebensverhältnisse der Benachteiligten schildert. Mit den beigefügten Illustrationen wird hierbei nicht zuletzt in physiognomischer Zuspitzung auch auf das atavistische Verhalten der Menge abgehoben sowie im Vorwort auf das bereits von den Französischen Revolutionsereignissen bekannte Barbarenmotiv rekurriert. „… folgt er [der Leser; Anm. M. M.] uns, so wird er in schreckliche, grauenvolle, unbekannte Gegenden gelangen; es wimmelt in diesen schmutzigen Kloaken von häßlichen, entsetzlichen Menschen, wie es in Sümpfen von Reptilien wimmelt. Man hat die bewundernswürdigen Stellen gelesen, in denen Cooper, der amerikanische Walter Scott, die rohen Sitten der Wilden […] schildert […] Wir wollen versuchen, an den Augen des Lesers einige Episoden aus dem Leben anderer Wilden vorüberzuführen, die eben so fern von der Civilisation stehen, als die wilden Völkerschaften, welche Cooper so vortrefflich geschildert hat. Der Unterschied ist nur der, daß die Wilden, von denen wir sprechen, mitten unter uns leben…“ E. Sue, Die Geheimnisse von Paris, 20 Bde., Leipzig 1943f., Bd. I, S. 3f. P. F. Vistengof, Ocˇerki moskovskoj zˇizni, in: V. I. Kulesˇov (Hg.), Russkij ocˇerk 40-50-e gody XIX veka, Moskau 1986, S. 112. In diesem Sammelband finden sich noch weitere „Physiologische Skizzen“ russischer Berufs- und Bevölkerungsgruppen, wie beispielsweise A. P. Basˇuckijs Nasˇi, spisannye s natury russkimi (Die Unsrigen, nach der Natur gemalt von Russen; 1841) oder der von N. A. Nekrasov herausgegebene Almanach Fiziologija Peterburga (Physiologie von Petersburg; 1845). E. M. Forster, Aspects of the Novel, London 1960, S. 65. Die Bezeichnung „Humore“ verweist auf die antike Lehre von den Körpersäften („Humores“), deren Mischung als ausschlaggebend für Temperament und Charakter galt. Vgl. G. Schweikle/I. Schweikle (Hgg.), Metzler-Literatur-Lexikon. Begriffe und Definitionen, 2., völlig neu bearb. Aufl, Stuttgart

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Die runde Figur vermag dagegen, so Forster, zu überraschen, denn ihr Verhalten kennzeichnen gerade auch widersprüchliche Motive und Eigenschaften, die einen inneren Konflikt bedingen.12 Korrespondierend mit Forster unterscheidet Pfister in seiner Dramentheorie zwischen ein- und mehrdimensionalen Figuren13 , während Wellek/Warren der statischen die dynamische Figur gegenüberstellen, die im Zuge des Handlungsgeschehens eine charakterliche Entwicklung durchläuft.14 Koch formuliert schließlich im Anschluss an obige Differenzierungen für die Opposition von typisierender und individualisierender Figurendarstellung: „Der Typ ist eine flache und statische, das Individuum eine runde, dynamische Figur.“15 Abschließend sei bemerkt, dass die literarische Figurengestaltung bereits wiederholt in Verbindung mit der modernen Massenthematik gesehen und gerade für die Literatur des 20. Jahrhunderts verschiedentlich eine Zunahme an individualitätseinebnenden Darstellungsmustern verzeichnet wurde. So konstatiert etwa W. Weidlé einen nicht zuletzt der soziologischen und psychologischen Theoriebildung geschuldeten Verlust der Idee der menschlichen Person sowie die Reduktion der literarischen Figur auf einen uniformen „Musterprobenmenschen“. „Freilich kann man in der Soziologie nicht umhin, den Menschen als Vertreter einer Alters- oder Gesundheitsklasse, einer Sippe, einer Familie, einer Generation, einer Berufsgruppe, einer Gesellschaftsschicht, eines Stammes, eines Volkes zu betrachten, und jeder der zahllosen derart eingegrenzten Gesichtspunkte kann zu mehr oder weniger nützlichen Feststellungen führen. Jedoch besteht immer die Gefahr, daß man das Teilhafte ins Totale, das Relative ins Absolute verkehrt. […] Vielmehr geht es darum, in uns selber und in jedem Einzelmenschen, mit dem wir zu tun bekommen, über die Registriernummer hinaus das unvertilgbare Siegel der menschlichen Person zu gewahren. Allerdings wird uns der Mut zum Ausharren auf diesem Wege schwer gemacht, da man uns allenthalben – in Traktaten, auf Plakaten, in der Zeitung wie im Roman – Menschen schildert, die nichts weiter sind als Musterproben, und die Dasein nur im Verhältnis zu einem zwischen den Zeilen 16 zu lesenden Allgemeinbegriff haben.“

K. Migner spricht vom reduzierten Helden und lässt den französischen Schriftsteller A. Robbe-Grillet zu Wort kommen, der für das Zeitalter der „Kennnummer“ eine zwangsläufige Auflösung des engen Individuums- und Persönlichkeitsbegriffs des 19. Jahrhunderts verzeichnet.

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1990, S. 211. Da die flachen Figuren keine Plastizität gewinnen, vergleicht Forster sie auch mit einer Photographie. Vgl. E. M. Forster, a.a.O., S. 69. Vgl. ebd., S. 71ff. Vgl. M. Pfister, Das Drama. Theorie und Analyse, 8. Aufl., München 1994, S. 243f. Vgl. R. Wellek/A. Warren, Theorie der Literatur, durchges. Neuaufl., Weinheim 1995, S. 237. Th. Koch, a.a.O., S. 136. W. Weidlé, Die Sterblichkeit der Musen. Betrachtungen über Dichtung und Kunst in unserer Zeit, Stuttgart 1958, S. 75f.

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„Der Heldenroman gehört der Vergangenheit an. Er kennzeichnet ein Zeitalter: jenes, wo die Herrschaft des Individuums ihren Höhepunkt erreicht hatte. Vielleicht ist es kein Fortschritt, sicher ist aber, daß unsere Zeit die der Kenn-Nummer ist. Das Weltschicksal hat für uns aufgehört, mit dem Aufstieg oder dem Niedergang Einzelner, einiger Familien, gleichbedeutend zu sein. Die Welt selbst ist nicht mehr erbliches und münzbares Privateigentum, eine Art Werkzeug, das es weniger zu kennen als zu erobern galt. Ein Familienname war zweifellos sehr wichtig zur Zeit der Balzacschen Bourgeoisie. Charakter war wichtig, umso wichtiger als er Waffe im Nahkampf, Hoffnung auf Erfolg, Ausübung der Herrschaft bedeutete. Es hieß etwas, ein Gesicht in der Welt zu haben, wo Persönlichkeit zugleich Mittel und Zweck allen Suchens darstellte. Unsere Welt ist heutzutage weniger selbstsicher, vielleicht 17 bescheidener, da sie auf die Allmacht der Persönlichkeit verzichtet hat,…“

Angesichts „mächtiger sozialer Bewegungen und organisierter Massenhandlungen“ hielt bereits O. E∆. Mandel’sˇtam in seinem Essay Konec romana (Das Ende des Romans; 1922) die Vorstellung von einer eigenständigen Persönlichkeit für fragwürdig. So werde sich auch die weitere Geschichte des Romans vor allem als eine der „Zerpulverung der Biographie“ darstellen. „Äsno, çto, kogda my vstupili v polosu moguçix social´nyx dviΩenij, massovyx organizovannyx dejstvij, akcii liçnosti v istorii padaüt i vmeste s nimi padaüt vliänie i sila romana, dlä kotorogo obwepriznannaä rol´ liçnosti v istorii sluΩit kak by manometrom […] Dal´nej‚aä sud´ba romana budet niçem inym, kak istoriej raspyleniä biografii, kak formy liçnogo suwestvovaniä, daΩe bol´‚e çem raspy18 leniä – katastrofiçeskoj gibeli biografii.“

VI. 1. Michail A. Bulgakovs Rokovye Jajca VI. 1. 1. Figurenkonzeption Die beiden Haupthandlungsträger Vladimir Ipat’evicˇ Persikov und Aleksandr Semenovicˇ Rokk werden mit einer Schilderung ihres Äußeren sowie einer Art Kurzbiographie eingeführt. Im Anschluss an Kasack ist hierbei generell zwischen den Darstellungsweisen des „Lebenslaufs“ und der „Lebensform“ zu unterscheiden. Während erstere die Dynamik einer Charakterentwicklung zum Ausdruck bringt, zeigt sich die Schilderung der Lebensform statisch, da sie, wie auch für Persikov

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A. Robbe-Grillet, Bemerkungen über einige Wesenszüge des herkömmlichen Romans, in: Akzente 5, 1 (1958), S. 27. Vgl. zu K. Migners Darstellung des reduzierten Helden Theorie des Romans. Eine Einführung, Stuttgart 1970, S. 70ff. Eine zusammenfassende Darstellung und Diskussion verschiedener Positionen findet sich bei Th. Koch, a.a.O., S. 142ff. O. E∆. Mandel’sˇtam, Konec romana, in: Ders., Sobranie socˇinenij, New York 1955, S. 356 u. 357.

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und Rokk, vornehmlich auf typische Eigenschaften und Verhaltensweisen fokussiert.19 Das erste Kapitel zeigt Persikov zunächst beim Betreten seines Labors am 16. April 1928, nachfolgend wird das Bild allerdings gewissermaßen „stillgestellt“. Der Erzähler berichtet der Kapitelüberschrift („Curriculjum vite professora Persikova“/„Curriculum vitae des Professors Persikov“) entsprechend sowohl über Alter, Beruf und Aussehen des Professors als auch über verschiedene Ereignisse seines bisherigen Lebens. Persikov, der als Professor für Zoologie an der Staatlichen Universität Moskau arbeitet und dem Zoologischen Institut als Direktor vorsteht, ist 58 Jahre alt (vgl. RJ, I, 305).20 Der Erzähler preist ihn als erstklassigen Wissenschaftler („ucˇenyj pervoklassnyj“; RJ, I, 306), der mit dem Auge des Genies („genial’nyj glaz“; RJ, III, 313) begabt sei. Die Beschreibung seines Äußeren zeigt aber vor allem eine komische Figur mit Glatze und seitlich abstehenden Haarbüscheln, Brille und roter Nase sowie kleinen und von der Arbeit am Mikroskop ewig entzündeten Augen. Aufgrund seiner vorgeschobenen Unterlippe wirkt der Professor zudem launenhaft und ewig beleidigt. Er spricht mit knarrender Quäkstimme, wobei sein Zeigefinger beim Reden einen Haken bildet, der die Bedeutsamkeit seiner Aussagen unterstreichen soll (vgl. RJ, I, 305 u. II, 310). Persikov gilt als gelehrter Sonderling („ucˇenyj cˇudak“; RJ, V, 327 – „zoolog-cˇudak“; RJ, VII, 341) und verkörpert das Stereotyp des zerstreuten und weltfremden Professors, der weder Zeitung liest noch seine Galoschen richtig überzuziehen weiß (vgl. RJ, I, 305 u. II, 312) und von seiner Wirtschafterin Marja Stepanovna wie von einer Kinderfrau bemuttert wird (vgl. RJ, I, 306). Menschen gegenüber unfähig zu emotionaler Bindung und Empathie, verbindet sich Persikovs einseitige Fixierung auf seine Forschungsarbeit mit einer generell übersteigerten Wertschätzung des Tierischen. So wird die physische und psychische Verfassung des Professors wiederholt parallelisierend zum Leben und Sterben seiner Versuchstiere geschildert. Als diese ob der winterlichen Kälte eingehen, erkrankt Persikov an einer Lungenentzündung. „Izdoxli kroliki, lisicy, volki, ryby i vse do edinogo uΩi. Persikov stal molçat´ celymi dnämi, potom zabolel vospaleniem legkix, no ne umer.“ (RJ, I, 307). Dagegen lebt Persikov ebenso wie eine seiner Amphibienpopulationen wieder auf, als sich die Lebensumstände bessern. „Podobno tomu kak amfibii oΩivaüt posle dolgoj zasuxi pri pervom obil´nom doΩde, oΩil pro19 20

Vgl. W. Kasack (1957), a.a.O., S. 60ff. u. 66ff. In der Forschungsliteratur werden verschiedene Personen als Vorbilder für die Figur Persikovs genannt. So etwa E. N. Tarnovskij, ein Verwandter von Bulgakovs zweiter Frau, oder der Zoologe A. N. Severcov, der Vater eines Freundes von Bulgakov. Vgl. E. C. Haber (1998), a.a.O., S. 188 und M. O. Cµudakova, a.a.O., S. 242ff. Proffer verweist dagegen auf den Physiologen I. P. Pavlov. Vgl. E. Proffer (1984), a.a.O., S. 113. Ebenfalls genannt wird der Biologe A. I. Aprikosov. Vgl. B. V. Sokolov, a.a.O., S. 407. Aufgrund der Initialen V. I. des Vor- und Vatersnamens wird aber auch auf eine Parallele zu Lenin hingewiesen. Vgl. beispielhaft P. Doyle, a.a.O., S. 470.

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fessor Persikov v 1926 godu,…“ (RJ, I, 308). Auch den Tod seines Institutswärters Vlas vermag der Professor nur im Zusammenhang mit dem Sterben seiner Versuchstiere zu konstatieren, wobei seine Trauer vornehmlich dem Tod einer Surinam-Kröte gilt.21 „Neposredstvenno vsled za Ωabami, opusto‚iv‚imi tot pervyj oträd golyx gadov, kotoryj po spravedlivosti nazvan klassom gadov besxvostyx, pereselilsä v luç‚ij mir bessmennyj storoΩ instituta starik Vlas, ne vxodäwij v klass golyx gadov. Priçina smerti ego, vproçem, byla ta Ωe, çto i u bednyx gadov, i ee Persikov opredelil srazu: – Beskormica! […] Dejstvie smertej, i v osobennosti Surinamskoj Ωaby, na Persikova ne poddaetsä opisaniü.“ (RJ, I, 306f.).

Persikovs merkmalhafte Eigenschaften und Verhaltensweisen finden ihren sinnfälligen Ausdruck in den Reaktionen seiner Gegenüber, die ihn entweder wie ein Kind behandeln oder ihm mit Ehrerbietung, aber gepaart mit Entsetzen begegnen. „S Persikovym vse voobwe razgovarivali ili s poçteniem i uΩasom, ili Ωe laskovo usmexaäs´, kak malen´komu, xotä i krupnomu rebenku.“ (RJ, VII, 341). Für Rokks äußeres Erscheinungsbild ist seine an die Zeit der Revolution und des Bürgerkriegs erinnernde Kleidung kennzeichnend. Diese wirkt allerdings im dynamisch-modernen Moskau des Jahres 1928 sogar auf den weltfremden Professor seltsam altmodisch.22 Rokk, der eine geradezu dreist anmutende Selbstsicherheit ausstrahlt (vgl. RJ, VII, 343), trägt neben der bereits erwähnten Mauserpistole grüne Hosen und Lederjacke, Wickelgamaschen und Halbstiefel. Das Wortspiel mit seinem Nachnamen („Rok(k) prisˇel“) in gewisser Weise fortsetzend, wird er zunächst nur geheimnisvoll-anonymisiert als „vosˇedsˇij“ („der Eintretende“; vgl. RJ, VII, 343) und „prisˇelec“ („der Ankömmling/der Fremde“; vgl. RJ, VII, 343, 344 u. 345) bezeichnet. „Persikov byl sli‚kom dalek ot Ωizni – on eü ne interesovalsä, no tut daΩe Persikovu brosilas´ v glaza osnovnaä i glavnaä çerta vo‚ed‚ego çeloveka. On byl stranno staromoden. V 1919 godu qtot çelovek byl by sover‚enno umesten na ulicax stolicy, on byl by terpim v 1924 godu, v

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Ebenso trifft ihn der Tod seiner Frau weitaus weniger als die zeitgleiche Mitteilung des Kremls, er habe seine Gehäuse mit dem roten Strahl an Rokk abzugeben (vgl. RJ, VII, 346f.). Zudem sorgt er sich, im Gegensatz zu seiner Unfähigkeit zur Empathie gegenüber seinen Mitmenschen, wie eine Mutter um den roten Strahl. „Professor […] zanes ruki nad mikroskopom, tak, slovno mat´ nad ditätej, kotoromu ugroΩaet opasnost´.“ (RJ, II, 310). Ebenso wie Rokks revolutionärer Aufzug wirkt im Jahr 1928 die von Rokk verwendete Anrede „Genosse“ fremd und ungewohnt. „Ot slova ,tovariw‘ Persikov nastol´ko otvyk, çto sejças ono reznulo emu uxo. On ävno razdraΩilsä.“ (RJ, VII, 343).

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naçale ego, no v 1928 godu on byl stranen. […] [N]a vo‚ed‚em byla koΩanaä dvubortnaä kurtka, zelenye ‚tany, na nogax obmotki i ‚tiblety,…“ (RJ, VII, 342).

Wie Proffer bereits anmerkte, erinnert Rokk an B. A. Pil’njaks Beschreibung der Bolschewiki als uniformes Kollektiv entschlossener und willenstarker, aber intellektuell beschränkter „Lederjacken“ in seinem Roman Golyj god (Das nackte Jahr; 1922).23 „V dome Ordyninyx, v Ispolkome […] sobralis´ naverxu lüdi v koΩanyx kurtkax, bol´‚eviki. Qti vot, v koΩanyx kurtkax, kaΩdyj v stat´, koΩanyj krasavec, kaΩdyj krepok, i kudri kol´com pod furaΩkoj na zatylok, u kaΩdogo krepko obtänuty skuly, skladki u gub, dviΩeniä u kaΩdogo utüΩny. Iz russkoj ryxloj, korävoj narodnosti – otbor. V koΩanyx kurtkax – ne podmoçi‚´. […] Na sobraniäx govoril [Arxip Arxipov; Anm. M. M.] slova inostrannye, vygovarival tak: – konstantirovat´, qnegriçno, litefonogramma, fukcirovat´, buΩdet […] Sme‚no? – i ewe sme‚nee: prosypalsä Arxip Arxipov s zareü i ot vsex potixon´ku: – knigi zubril, algebru Kiseleva, qkonomiçeskuü geografiü Kistäkovskogo, istoriü Ros24 sii XIX veka […], ,Kapital‘ Marksa,…“

Der ehemalige Flötist Rokk redigiert unter den neuen Machthabern nicht nur Zeitungen und kümmert sich als Mitglied der Obersten Wirtschaftskommission um Bewässerungsprojekte in Turkestan (vgl. RJ, VIII, 354), sondern zeigt sich fest entschlossen, auch ohne spezifische Fachkenntnisse eine neue Hühnerpopulation zu züchten. Persikov gilt ihm als übervorsichtiger Bedenkenträger, dessen Befürchtungen er mit dem Hinweis beiseite wischt, mit dem Strahl ließen sich letztlich auch Elefanten züchten (vgl. RJ, VII, 346). Rokk verkörpert beispielhaft sowohl den für die Bolschewiki typischen uneingeschränkten Glauben an die Macht von Wissenschaft und Technik als auch deren teils verhängnisvolle Inkompetenz, da verantwortungsvolle Posten weniger nach Qualifikation, sondern

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Vgl. E. C. Proffer (1984), a.a.O., S. 111 u. 601 (Anm. 8). Vgl ebenfalls I. Gutkin, a.a.O., S. 187. Haber verweist zudem auf Trockij als Vorbild für die Figur Rokks. Vgl. E. C. Haber (1998), a.a.O., S. 197ff. B. A. Pil’njak, Golyj god, in: Ders., Sobranie socˇinenij v sˇesti tomach, Moskau 2003f., Bd. I, S. 156. Vgl. ähnlich ebd., S. 44. In Bezug auf Bulgakovs Rokk sei zudem bemerkt, dass sich in Pil’njaks Golyj god die Figur des Leiters des Volkssicherheitsdienstes, Jan Laitis, findet, der in seiner Freizeit Klarinette und Geige spielt sowie wiederholt beim Besuch des städtischen Kinos „Venedig“ gezeigt wird. Vgl. ebd., S. 41, 45, 114ff., 119 u. 123. Der Schriftsteller A. Paquet, 1918 als Korrespondent für die „Frankfurter Zeitung“ in Moskau, beschrieb die neuen Machthaber als „Männer, wie Motorradfahrer von Kopf bis Fuß in schwarzes Leder gekleidet, lederne Mütze, lederne Jacke, lederne Hosen und Gamaschen“ und sah in ihnen „die leibhaftigen Menschen des Thomas Morus“. Zitiert nach G. Koenen, Utopie der Säuberung. Was war der Kommunismus?, Berlin 1998, S. 97.

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vielmehr nach Herkunft und Klassenbewusstsein vergeben wurden.25 Zudem sprechen sich in Rokks Argumentation Unterlegenheitsgefühle und politisches Konkurrenzdenken gegenüber dem kapitalistischen Westen aus, wenn er sein Handeln mit der negativen Darstellung der sowjetischen Regierung in der ausländischen Presse rechtfertigt (vgl. RJ, VII, 345).26 Sowohl der lederbejackte Revolutionär Rokk als auch der einseitig auf seine Forschungsarbeit fixierte Persikov sind keine individualisierten Charaktere, sondern Figuren ohne vertiefte psychologische Ausformung. Während Persikov und Rokk allerdings noch eine begrenzt-typisierende Zuschreibung an merkmalhaften Eigenschaften und Verhaltensweisen erfahren, sind die Nebenfiguren in Bulgakovs Erzählung nur durch Äußerlichkeiten und Requisiten gekennzeichnet. Es sind seelenlose, sich in eindimensionaler Oberflächlichkeit erschöpfende Existenzen in einer ebenso lichterstrahlenden wie leeren Welt des schönen Scheins. Sinnfällig veranschaulicht dies nicht zuletzt das lackglänzende Äußere einer Reihe von Figuren. Der Reporter Bronskij trägt ebenso Lackschuhe („lakirovannye botinki“; RJ, IV, 318) wie ein GPU-Beamter, der nur als Engel in Lackstiefeln („angel v lakirovannych sapogach“; RJ, V, 329) bezeichnet wird, während ein von Lack glänzender Agent („Tot ves’ svetilsja lakom…“; RJ, V, 327) Persikov überzeugen will, den roten Strahl ins Ausland zu verkaufen. Ausdruck der Entseelung und Entpersönlichung der Figuren ist auch die groteske Durchdringung von Organisch-Belebtem und Unbelebt-Gegenständlichem. Deutlich zeigt sich diese an der Figur des automatenhaften Reporters Stepanov. Das erste Auftreten Stepanovs macht sich zunächst nur lautlich als „seltsam rhythmisches Knarren einer Maschine“ („strannoe mernoe skripenie masˇiny“; RJ, IV, 320) bemerkbar. Dann erst erscheint der Reporter in der Tür. Der Grund für die Geräusche ist ein „mechanisches linkes Bein“. „… i v kabinete poävilsä neobyçajnoj tolwiny çelovek, odetyj v bluzu i ‚tany, s‚itye iz odeäl´nogo drapa. Levaä ego, mexaniçeskaä, noga wel27 kala i gromyxala,…“ (RJ, IV, 320).

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So kann in Bulgakovs Erzählung beispielsweise auch der Vorsitzende eines Hauskommitees nicht lesen und schreiben (vgl. RJ, V, 329). Gerade mit der Farbgebung des gelben Revolverhalters scheint Rokk im Zusammenhang mit seinem Vorhaben ein wahnsinniges Moment zugeschrieben zu werden, denn die russische traditionelle Farbsymbolik verbindet „gelb“ mit dem Wahnsinn. So bezeichnet „Ωeltyj dom“ in der russischen Umgangssprache auch das „Irrenhaus“. Vgl. Ch. Collins, Evgenij Zamjatin. An Interpretative Study, Den Haag 1973, S. 52. Korrespondierend mit den Unterlegenheitsgefühlen hält der in zoologischen Fragen gänzlich unbedarfte Rokk die vertauschten Schlangen- und Echseneier auch voller Bewunderung für große deutsche Hühnereier (vgl. RJ, VIII, 349f.). Auch als der Reporter und Professor Persikov in einer Menschenmenge neuerlich aufeinander treffen, wird zunächst nur ein mechanisches Knarren beschrieben (vgl. RJ, IV, 322).

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Im Folgenden wird der Reporter zum einen mehrfach als „Dickwanst“ („tolstjak“; RJ, IV, 320, 322 u. 323) bezeichnet, zum anderen das äußere Merkmal des mechanischen Beins leitmotivisch verwendet. Gilt Stepanov zunächst als Besitzer eines mechanischen Beins („vladelec mechanicˇeskoj nogi“; RJ, IV, 322), so zeigt sich nachfolgend der ganze Mensch mechanisiert und zu einer Maschine reduziert („mechanicˇeskij cˇelovek“; RJ, IV, 322). Schließlich verbinden sich in den Bezeichnungen „mechanisierte Kugel“ („mechanicˇeskij sˇar“; RJ, V, 326) und „mechanisierter Dickwanst“ („mechanicˇeskij tolstjak“; RJ, VII, 340 und 368) die beiden auffälligsten äußeren Merkmale des Reporters. Mit der dinghaft-reduzierenden Beschreibung geht eine weitgehende Anonymisierung des Reporters einher. Nur einmal, jedoch vermittelt über die Werbeleinwand einer Zeitung, wird tatsächlich der Name Stepanovs genannt (vgl. RJ, V, 326). Zwei Wächter, die Persikov gegen aufdringliche Besucher abschirmen sollen, treten verdinglicht nur als Melonenhüte in Erscheinung. Mensch und Gegenstand sind identisch, wobei der Gegenstand letztlich bedeutsamer ist, als der Mensch selbst. Zudem sind die beiden Wächter ob der wenig signifikanten Kennzeichnung als Melonenhüte nicht zu unterscheiden und zeigen sich als bloß vervielfältigte serielle Existenzen. „No kotelok bystro utixomiril Persikova, neΩnej‚im golosom na‚eptav, çto professor naprasno bespokoitsä. On, kotelok, imenno zatem zdes´ i naxoditsä, çtoby izbavit´ professora ot vsäkix nazojlivyx po28 setitelej…“ (RJ, V, 332).

Diese verdinglicht-reduzierenden Figurenzeichnungen korrespondieren mit einer Anthropomorphisierung und Belebung von Gegenständen. So spricht nicht eine Telefonistin, sondern ein Telefonhörer mit schwarzem Mund und weiblicher Stimme. „– S vami sejças budet govorit´ provinciä, – tixo s ‚ipeniem otozvalas´ trubka Ωenskim golosom. – Nu. Slu‚aü, – brezglivo sprosil Persikov v çernyj rot telefona…“ 29 (RJ, VIII, 350).

Ein Lautsprecher klagt im Bass. „Zatem rupor menäl tembr […] i […] Ωalovalsä basom…“ (RJ, VI, 336). Die Nachricht von Persikovs Entdeckung hüpft wie ein angeschossener Vogel durch die Stadt. „Izvestie o çudodejstvennom otkrytii prygalo, kak podstrelennaä ptica v svetäwejsä stolice,…“ (RJ, IV, 317).30 Und während das Gewehr des Sowchoswächters bei der Tür 28 29 30

Vgl. ebenfalls RJ, V, 332f. sowie abermals wiederholt RJ, VII, 347f. Vgl. auch nachfolgend RJ, VIII, 350f. sowie RJ, VII, 340. Ebenso hat der Ofen in Persikovs Wohnung einen tiergleichen Rachen („past’ ognennoj pecˇurki“; RJ, I, 307).

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schlummert („Ochranitel’, vintovka kotorogo mirno dremala u dverej,…“; RJ, VIII, 349), findet ein Gebäude gerade keinen Schlaf. „… i ne spal li‚´ gromadnyj seryj korpus na Tverskoj ulice…“ (RJ, X, 368). Ließ sich eine Parallelisierung von menschlichen und tierischen Verhaltensweisen bereits für die Beschreibung Persikovs sowie der großstädtischen Menschenmenge feststellen, wird einer Vielzahl weiterer Figuren aufgrund von Vergleichen oder Namensgebung ein tierisches Moment zugeschrieben. Der lackglänzende Agent, der Persikov zum Verkauf des roten Strahls überreden will, lacht wie eine Hyäne. „… gost´, smeäs´, vsxlipyval, kak giena.“ (RJ, V, 327). Pankrat, der Institutswärter, knurrt wie ein Kettenhund. „Professor dobralsä do komnaty Pankrata i dolgo i bezuspe‚no stuçal v nee. Nakonec za dver´ü posly‚alos´ urçanie kak by cepnogo psa, […] i Pankrat […] predstal v svetlom pätne.“ (RJ, II, 311).

Ebenso verweisen die Namen der Popenwitwe Drozdova („drozd“ – „Drossel“), des Wissenschaftlers Ptacha-Porosjuk („ptica“ – „Vogel“/„porosenok“ – „Ferkel“)31 , des Dirigenten Petuchov („petuch“ – „Hahn“) sowie des GPU-Beamten Sµcˇukin („sˇcˇuka“ – „Hecht“) und des Propheten Kozij Zob („kozel“ – „Ziegenbock“) auf das Tierische. Persikovs Nachname („persik“ – „Pfirsich“) wirkt analog hierzu gleichfalls reduzierend.32 Ist die verdinglichende Figurenzeichnung von einer Anthropomorphisierung und Belebung von Gegenständen begleitet, so werden im Zuge der umfänglichen Parallelisierung von Menschlichem und Tierischem Tieren menschliche Eigenschaften und Verhaltensweisen zugeschrieben. So zeigen Schaben eine negative Haltung gegenüber dem Kriegskommunismus. „Persikov ostav‚iesä 20 qkzemplärov kvak‚ poproboval perevesti na pitanie tarakanami, no i tarakany kuda-to provalilis´, pokazav svoe zlostnoe otno‚enie k voennomu periodu kommunizma.“ (RJ, I, 306f.).

Die Hühner der Popenwitwe Drozdova legen sich früh schlafen („… kury lozˇatsja rano,…“; RJ, V, 325), während ein von der Hühnerpest befallener Hahn wie ein Säufer torkelt. „… iz kurätnika vydralsä kak-to bokom, toçno bespokoj31

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Der Nachname des Wissenschaftlers ist wiederholt Anlass komischer Wortspiele. So beauftragt Persikov Pankrat, sich bei Ptacha-Porosjuk wegen einer verspäteten Eierlieferung zu beschweren und diesem „Ptacha“ auszurichten, er sei ein Schwein (vgl. RJ, X, 367). Ebenso schimpft Persikov, Ptacha-Porosjuk sei weniger ein „Vogel“, als vielmehr ein Rindvieh. „… qto kakaä-to skotina, a ne Ptaxa.“ (RJ, X, 369). Auch in anderen Werken Bulgakovs finden sich wiederholt Figurennamen, die auf eine entpersönlichte dingliche oder tierische Sphäre verweisen. In der Erzählung D’javoliada treten beispielsweise die Verwaltungsbeamten Kal’soner („kal’sony“ – „Unterhose“), Nomerackij („nomer“ – „Nummer“) oder Musˇka („kleine Fliege“) auf. In Bulgakovs Roman Master i Margarita heißen Figuren etwa Pavianov, Glucharev („gluchar’“ – „Auerhahn“) oder Zµukopov („zˇuk“ – „Käfer“).

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nyj p´änica iz pivnogo zavedeniä, obdergannyj podΩaryj petux.“ (RJ, V, 325).33 Als Persikov seine Gehäuse mit dem roten Strahl an Rokk abgeben muss, befällt die Labortiere vermeintlich tiefe Trauer, wobei die schwermütige Stimmung eine Natter angeblich das Weite suchen lässt. „… v qtot veçer neobßäsnimo tosklivoe nastroenie ovladelo lüd´mi, naseläüwimi institut, i Ωivotnymi. ˇaby poçemu-to podnäli osobenno tosklivyj koncert […] Pankratu pri‚los´ lovit´ v koridorax uΩa, kotoryj u‚el iz svoej kamery, i, kogda on ego pojmal, vid u uΩa byl takoj, slovno tot sobralsä kuda glaza glädät, li‚´ by tol´ko ujti.“ (RJ, VII, 346).

VI. 1. 2. Schlangen, Eidechsen, Krokodile und Straußenvögel Die anfängliche Schilderung von Rokks monströsen Züchtungen verweist neuerlich auf die großstädtische Moskauer Szenerie. Nachdem Rokk in der Orangerie des Sowchos einige aufgebrochene Eier vorgefunden hat, vernimmt er auf seinem Weg zum Teich ein Schleifen im Gebüsch, das ebenfalls von einem Zischen wie von einer Lokomotive begleitet wird. „… vdrug ‚orox v zeleni povtorilsä i k nemu prisoedinilos´ korotkoe sipenie, kak budto vysoçilos´ maslo i par iz parovoza.“ (RJ, VIII, 359). Die sich im Gebüsch zeigende Mutation vermag Rokk zunächst nicht mit einem ihm bekannten tierischen Wesen zu identifizieren. Er erkennt nur einen Balken, der ihn nun wiederum an eine Moskauer Straßenlaterne mit einem überaus breiten und schön gemusterten Pfahl erinnert. „Zatem verx brevna nadlomilsä, nemnogo sklonilsä, i nad Aleksandrom Semenoviçem okazalos´ çto-to napominaüwee po vysote qlektriçeskij moskovskij stolb. No tol´ko qto çto-to bylo raza v tri tolwe stolba i gorazdo krasivee ego, blagodarä çe‚ujçatoj tatuirovke.“ (RJ, VIII, 360).

Tatsächlich handelt es sich um eine Schlange von riesigem Ausmaß. „Zmeä priblizitel´no v pätnadcat´ ar‚in i tolwinoj v çeloveka,…“ (RJ, VIII, 361). Der spitze Kopf des olivgrauen Tiers zeigt einen runden gelben Fleck. Während dem Rachen heißer Atem („zˇarkoe dychanie“; RJ, VIII, 361) entsteigt, funkeln die eisigen Augen bösartig und verbreiten eine fühlbar frostige Atmosphäre. „Emu [Aleksandru Semenoviçu; Anm. M. M.] pokazalos´, çto moroz udaril vnezapno v avgustovskij den´ […]

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Ebenso werden Hunden feste Schlafenszeiten zugeschrieben: „Imenno v Koncovke sobaki, kotorym po vremeni uΩe sledovalo by spat´,…“ (RJ, VIII, 354). Und Hühner „wünschen“ nicht zu trinken. „… no xoxlatka pit´ ne Ωelala.“ (RJ, V, 324).

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Na verxnem konce brevna okazalas´ golova. Ona byla splüwena, zaostrena i ukra‚ena Ωeltym kruglym pätnom po olivkovomu fonu. Li‚ennye vek, otkrytye ledänye i uzkie glaza sideli v kry‚e golovy, i v glazax qtix 34 mercala sover‚enno nevidannaä zloba.“ (RJ, VIII, 360).

Rokk wird Zeuge, wie seine Frau Manja von dem bösartig-aggressiven Untier zunächst erwürgt und schließlich verschlungen wird, worauf der Sowchosleiter, von tödlichem Entsetzen gepackt, vollständig ergraut (vgl. RJ, VIII, 361). Rokks Experimente haben nicht nur riesige Schlangen („ogromnye zmei“; RJ, IX, 364) hervorgebracht. Ausmachen lassen sich in dem „madigen Brei“ („cˇervivaja kasˇa“) in der Orangerie zudem ein seltsamer storchartiger Riesenvogel („strann[aja] gigantsk[aja] golenast[aja] ptic[a]“; RJ, IX, 364), wobei später wiederholt Straußenvögel erwähnt werden („straus(y)“; RJ, X, 366/371), ein Krokodil („krokodil“; RJ, IX, 365)35 sowie ein monströses Wesen mit vier auswärtsgebogenen Beinen, einer riesigen spitzen Schnauze und einem kammartig gezackten Schwanz, das einer gigantischen Eidechse ähnelt, aber auch an einen Drachen denken lässt. „Suwestvo, na vyvernutyx lapax, koriçnevo-zelenogo cveta, s gromadnoj ostroj mordoj, s grebençatym xvostom, poxoΩee na stra‚nyx razmerov äwericu, vykatilos´ iz-za ugla saraä…“ (RJ, IX, 365).

Das Motiv eines todbringenden Drachen zeigt bereits eine frühe, nicht erhaltene Arbeit Bulgakovs mit dem Titel Ognennyj zmej (Feuerdrache, enstanden 1912/13), die, so Bulgakovs Schwester Nadezˇda, von einem Alkoholiker handelte, der im Delirium einen Feuerdrachen halluzinierte, der ihn schließlich erwürgte oder verbrannte. „Ä pomnü, çto oçen´ davno (v 1912-13 g.), kogda Mi‚a byl ewe studentom, a ä pervokursnicej kursistkoj, on dal mne poçitat´ svoj rasskaz ,Ognennyj zmej‘ – ob alkogolike, dopiv‚emsä do beloj goräçki i pogib‚em vo vremä ee pristupa: ego zadu‚il (ili sΩeg) vpolz‚ij v ego komnatu zmej 36 (gallücinaciä)…“ 34 35

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Die frostige Atmosphäre mag zudem auf den unvorhergesehenen Wintereinbruch verweisen, der die monströsen Tiere schließlich umkommen lässt (vgl. RJ, XII, 377). Nachfolgend wird hier auf das Krokodil nicht mehr eingegangen, da eine ausführliche Darstellung zum Bedeutungsgehalt des Krokodils im Zusammenhang mit Mitterers Das Fest der Krokodile erfolgt. Zitiert nach L. Parsˇin, a.a.O., S. 155. In Bulgakovs Roman Master i Margarita ist das Traumbild einer Krake mit langen und kalten Fangarmen Ausdruck der psychischen Erkrankung des Meisters. „Slovom, nastupila stadiä psixiçeskogo zabolevaniä. […] [M]ne kazalos´, çto çerez okonce, xotä ono i bylo zakryto, vlezaet kakoj-to sprut s oçen´ dlinnymi i xolodnymi wupal´cami.“ M. A. Bulgakov, Master i Margarita, in: Sobranie socˇinenij v desjati tomach, a.a.O., Bd. IX, S. 287. Auch Persikovs mutierte Amöben erinnern mit ihren vergrößerten Füßchen an Kraken: „DviΩeniä ix byli stremitel´ny, ix

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Als Halluzinationen eines Geisteskranken wertet zunächst auch der örtliche GPUBeamte Polaitis Rokks Schilderungen, während sein Kollege Sµcˇukin vermutet, bei der Schlange handle es sich um eine Boa constrictor, die einem in der Nähe gastierenden Zirkus entflohen sei (vgl. RJ, IX, 362). Die mutierten Tiere schließen sich Vögeln oder Insekten ähnlich in Schwärmen zusammen und vermehren sich stetig aufgrund einer beständigen Eiablage. „Zmei idut staämi v napravlenii MoΩajska… otkladyvaä neimovernye koliçestva äic.“ (RJ, X, 371).37 Armeeeinheiten versuchen zwar die Tierpopulationen mit Hilfe von Feuer („Smolensk gorit ves’.“ RJ, XI, 374)38 und Gas zu vernichten. Letztlich fallen den Maßnahmen aber vornehmlich Menschen zum Opfer. „Soobwalos´, çto qskadril´ä aqroplanov pod Väz´moü dejstvovala ves´ma udaçno, zaliv gazom poçti ves´ uezd, no çto Ωertvy çeloveçeskie v qtix prostranstvax neisçislimy…“ (RJ, XI, 374).

Rokks monströse Züchtungen zählen, abgesehen von den Straußenvögeln, zur Klasse der Reptilien (Kriechtiere). Neben dem zoologischen Fachterminus „presmykajusˇcˇiesja“ (vgl. beispielhaft RJ, XI, 375 u. XII, 377) findet sich vor allem die umgangssprachliche Bezeichnung „gad(y)“ (vgl. etwa RJ, X, 371 u. XI, 374 u. 375), wobei „gad“ im Sinne von „Scheusal“ oder „ekelerregender Mensch“ auch als Schimpfwort gebräuchlich ist.39 Die das Land mit Tod und Verwüstung überziehenden Tierschwärme lassen ebenso wie die bereits erwähnte Hühnerpest oder auch Persikovs außer Kontrolle geratene Froschzüchtungen (vgl. RJ, III, 316) an biblische Plagen denken.40 In

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loΩnonoΩki gorazdo dlinnee normal´nyx, i rabotali oni imi, bez preuveliçeniä, kak spruty wupal´cami.“ (RJ, III, 314). Siehe zum Zusammenschluss der Tiere in artgleiche Schwärme auch RJ, XI, 374 u. XII, 377. Verschiedentlich wird sowohl ob des brennenden Smolensk als auch des vernichtenden Frostes zum Ende der Erzählung ein Bezug zwischen den Moskau bedrohenden Reptilienmassen und Napoleons Armeen 1812 hergestellt. Vgl. etwa V. V. Gudkova, a.a.O., S. 679 und E. C. Haber (1992), a.a.O., S. 508. Vgl. zu den zoologischen Termini auch N. Ju. Sµvedova, Russkij semanticˇeskij slovar’. Tolkovyj slovar’, sistematizirovannyj po klassam slov i znacˇenij, 3 Bde., Moskau 2000ff., Bd. I, S. 443. Auf die negative Bedeutung der Bezeichnung „gad“ verweisen auch das Adjektiv „gadkij“ – „scheußlich“, „widerlich“ und das Substantiv „gadost’“ – „Unflat“, „Niederträchtigkeit“. Frösche sind die zweite ägyptische Plage (vgl. 2. Mos. 7, 26ff.). Die Viehpest ist die fünfte Plage (vgl. 2. Mos. 9, 1ff.). Bemerkt sei, dass in Bulgakovs kurz vor Rokovye Jajca entstandener satirischer Erzählung Bagrovyj ostrov (Die Purpurinsel; 1923) die Revolution selbst als Plage gilt, gegen deren Ausbreitung sich die benachbarten Länder zu schützen suchen. Auch in Rokovye Jajca ist nur die Sowjetunion von der Hühnerpest betroffen, während von den Nachbarländern berichtet wird, hierbei wohl auf den sogenannten „cordon sanitaire“ anspielend, dass diese entsprechende Schutzmaßnahmen („zagraditel’nye kordonnye mery“;

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der christlichen Ikonographie bilden Kröten, Schlangen und Eidechsen wiederholt eine gleichsam diabolische Trias.41 Wie Gerhardts Beschreibung der Kanzel des Wiener Stephansdoms zeigt, ist es der Hund als Sinnbild des Predigers und des Glaubens, der dieses Teufelsgezücht mit seinem Bellen zu vertreiben sucht.42 Hiermit korrespondiert das wiederholt peinigende Heulen einiger Hunde, als Rokks Mutationen zu schlüpfen beginnen. „… sobaki […] podnäli vdrug nevynosimyj laj, kotoryj postepenno pere‚el v obwij muçitel´nej‚ij boj.“ (RJ, VIII, 354). Obwohl der Schlange Klugheit (vgl. Gen. 3, 1 u. Matth. 10, 16) und Weisheit zugeschrieben werden, und das sich häutende Tier Heilung (Arztsymbol des Äskulapstabes) sowie Unsterblichkeit symbolisiert, verkörpert sie doch vielfach, in Erinnerung an die Paradiesschlange, die den Menschen verführt (vgl. Gen. 3, 4ff.), das Prinzip des Bösen.43 Als „alte Schlange, die da heißt Teufel und Satan“ (Off. 12, 9), kehrt die Paradiesschlange in der Offenbarung als großer, roter Drache wieder. Der barocken Emblematik sind Schlange und Weltkugel Sinnbild der sündigen Welt.44 Auch die Eidechse symbolisiert aufgrund des Winterschlafs und der regelmäßigen Häutung den Wechsel von Tod und Auferstehung. Wegen ihrer Sonnenliebe wird sie zudem mit einem jenseitigen Reich des Lichts assoziiert und findet sich in diesem Sinnzusammenhang auf antiken Grabsteinen abgebildet. Dem Christentum gilt sie dagegen vornehmlich als Teufels- und Hexentier sowie als Sinnbild des Bösen und der Sündhaftigkeit.45

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RJ, VII, 339) ergriffen hätten. Vgl. zu weiteren möglichen Bezügen zwischen den Erzählereignissen und der zeitgenössischen politischen Situation E. C. Haber (1998), a.a.O., S. 194f. Vgl. Ch. Gerhardt, Der Hund, der Eidechsen, Schlangen und Kröten verbellt. Zum Treppenaufgang der Kanzel im Wiener Stephansdom, in: Wiener Jahrbuch für Kunstgeschichte 38 (1985), S. 121ff. J. v. Eichendorff zeigt in seiner Erzählung Auch ich war in Arkadien mit Bezug zum Hambacher Fest 1832 die Masse ebenfalls als reptilienhafte Vielheit und verweist somit auf die gleichsam teuflischen republikanischen Umtriebe. Vgl. J. v. Eichendorff, Auch ich war in Arkadien, in: Ders., Sämtliche Werke, hrsg. v. W. Kosch u. a., 18 Bde., Tübingen/Stuttgart 1965ff., Bd. V, 3, S. 164 u. 165. Hierzu weiterführend vgl. M. Gamper (2007), a.a.O., S. 269ff. Vgl. Ch. Gerhardt, a.a.O., S. 121. Vgl. H. Bächtold-Stäubli (Hg.), a.a.O., Bd. VII, Sp. 1115f., 1135f. u. 1144, E. Kirschbaum (Hg.), Lexikon der christlichen Ikonographie, 8 Bde., Freiburg 1994, Bd. IV, Sp. 75ff. und A. V. Gura, Simvolika zˇivotnych v slavjanskoj narodnoj tradicii, Moskau 1997, S. 280ff. Vgl. M. Lurker, a.a.O., S. 630 und S. Dittrich/L. Dittrich, Lexikon der Tiersymbole. Tiere als Sinnbilder in der Malerei des 14.-17. Jahrhunderts, Petersberg 2004, S. 445. Vgl. ebd., S. 78f., M. Lurker, a.a.O., S. 160, H. Bächtold-Stäubli (Hg.), a.a.O., Bd. III, Sp. 675f. und A. V. Gura, a.a.O., S. 359 u. 361f. In dem Roman Pokloninnja jasˇcˇirci. Jak nysˇcˇyty anheliv (Die Anbetung der Eidechse oder Wie man Engel vernichtet; 2002) des Ukrainers L. Deresˇ wollen sich drei Jugendliche vom alltäglichen Terror des brutalen Fedja befreien und diesen umbringen. Im Zusammenhang mit der Planung und Durchführung des Mordes wird wiederholt auf den Song The Celebration of the Lizard („I’m the Lizard King/I can do anything/I can make the earth stop in its tracks…“) der Rockgruppe The Doors angespielt.

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Der Strauß, der mit seinen Flügeln zu schlagen, aber nicht zu fliegen vermag, und seine Eier „zum Ausbrüten auf dem Boden [liegenläßt] und vergißt, daß ein Fuß sie zertreten und ein wildes Tier sie zerbrechen kann“ (Hiob 39, 14f.) ist sowohl Sinnbild der Heuchelei als auch des sündigen Menschen, der seine Pflicht vergisst.46 Gleichzeitig lassen Bulgakovs Schlangen und Eidechsen im Verbund mit den Straußenvögeln sowohl an die monströsen Tierwesen in den Höllen- und Unterweltlandschaften eines H. Bosch oder J. Brueghel47 als auch an das todbringende Fabeltier des Basilisken denken.48 Das Aussehen dieses Mischwesens aus Vogel und Reptil variiert. Neben der Kombination aus einem Hahnenkopf und einem Schlangenleib kann der Basilisk auch Drachenflügel und einen Eidechsenschwanz tragen. Er entsteht aus missgebildeten Hühnereiern ohne Dotter, die von Schlangen oder Kröten ausgebrütet werden. Ebenso wie die riesige Schlange in Bulgakovs Erzählung trägt das Fabelwesen einen weißen oder gelblichen Fleck auf dem spitzen Kopf, und der Blick des Basilisken lässt den Menschen erstarren oder tötet, wie auch sein feurig-heißer und giftiger Atem.49 In der Bibel wird der Basilisk gemeinsam mit dem Aspis genannt (vgl. Ps. 91, 13), der als schlangenartiges Wesen vorgestellt wird und als Sinnbild der Verstocktheit gilt, verstopft er doch sein eines Ohr mit seinem Schwanz, das andere mit Erde.50 Bereits die unzuverlässige und inkonsistente Bewertung und Kommentierung der Ereignisse durch den Erzähler sowie die Parallelisierung und Durchdringung von Menschlichem und Tierischem sowie Organisch-Belebtem und Gegenständlich-Unbelebtem der Figurendarstellung ließen auf den Verlust eines tragfähigen Normen- und Wertesystems schließen und den Eindruck einer verkehrten und sinnentleerten Welt entstehen. Mit den monströsen Tiermassen, die an todbringende Fabelwesen denken lassen und einer biblischen Plage gleich Tod und Verwüstung nach sich ziehen, wird zudem eine apokalyptische Endzeitstimmung

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Vgl. D. Forstner, Die Welt der christlichen Symbole, 5. Aufl., Wien/Innsbruck 1986, S. 239 und E. Kirschbaum (Hg.), a.a.O., Bd. IX, Sp. 218. Auf die apokalytischen Bilder von Bosch und Brueghel verweist auch I. Gutkin, a.a.O., S. 288. Vgl. auch ebd., S. 285f. sowie E∆. A. Jablokov, a.a.O., S. 12ff. Vgl. hierzu die Beschreibung des Basilisken in einschlägigen Lexika: M. Lurker, a.a.O., S. 187, H. Bächtold-Stäubli (Hg.), a.a.O., Bd. I, Sp. 935 u. Bd. II, Sp. 600f. und E. Kirschbaum (Hg.), a.a.O., Bd. I, Sp. 251f. Vgl. M. Lurker, a.a.O., S. 187 und E. Kirschbaum (Hg.), a.a.O., Bd. I, Sp. 191f. Bezüge lassen sich in gewisser Weise auch zur antiken Mythologie herstellen, deren Ungeheuer und gefährliche Mischwesen auf einen vorzivilisatorischen Zustand verweisen, der im Namen der Ordnung überwunden werden muss. Gehört allerdings im Mythos zu jedem gefährlichen Urwesen ein individueller Held, der diese bezwingt, so kann in Bulgakovs Erzählung das massierte Auftreten der chaotischen Macht weder von einem Einzelnen noch von den Vertretern einer scheinbar neuen Ordnung bezwungen werden. Vgl. zur Bedeutung des mythologischen Ungeheuerkatalogs M. Giebel, Tiere in der Antike. Von Fabelwesen, Opfertieren und treuen Begleitern, Darmstadt 2003, S. 14ff.

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evoziert.51 Unter der Oberfläche des lichterstrahlenden schönen Scheins zeigt sich eine Gesellschaft, die sich dem Teufel verschrieben und ihre Höllenfahrt angetreten hat.

VI. 2. Karel Cµapeks Va´lka s Mloky VI. 2. 1. Figurenkonzeption Cµapeks Roman zeigt eine Vielzahl von lediglich episodisch auftretenden Figuren. Diese sind, wie etwa der isländische Matrose Gudmundson (vgl. VSM I, 1, 15), die Direktorin eines Schweizer Mädchenpensionats, Louise Zimmermann (vgl. VSM, II, 2, 142), oder der amerikanische Seismologe Dr. Wilbur R. Brownell (vgl. VSM, III, 7, 216) häufig nur als Vertreter einer Nationalität und eines Berufszweigs eingeführt, was vor allem den globalen Charakter der Ereignisse verdeutlicht. Gleichzeitig ist eine Vielzahl der typisierten Figurenzeichnungen Cµapeks satirischer Intention geschuldet. Diese zielt beispielsweise mit den Figuren des Filmsternchens Lily Valley und des amerikanischen Milliardärssohns Abe Loeb auf die seichte Unterhaltung amerikanischer Hollywoodfilme.52 Die sich in wohlhabenden Kreisen bewegende Lily Valley heißt eigentlich Lilian Nowak (vgl. VSM, I, 6, 54). Ihr weitverbreiteter tschechischer Nachname scheint im Gegensatz zu der gespielten Exklusivität auf ihre Durchschnittlichkeit zu verweisen. Die Amerikanisierung des Namens könnte zudem als Hinweis auf den oberflächlichen Charakter des „Herzchens Li“ („drahousˇek Li“; VSM, I, 6, 54) gedacht sein. Hierzu passt die übertreibende Ausdrucksweise der Schauspielerin, die ihrem belanglosen Gerede über ihren neuen „großartigen“ Film („uzˇasny´ film“) nur vermeintlich Gewicht verleiht (vgl. VSM, I, 7, 69). Lilys „unglaublicher“ Film soll von einer jungen schönen Frau handeln, die sich nach einem Schiffbruch auf eine einsame Insel retten kann, zunächst von einem Gorilla entführt und dann von einem jungen Wilden zu einem Stamm von Kannibalen gebracht wird. Als diese sie ihrem Gott opfern wollen, befreit ein weiterer Gefangener die junge Frau, worauf beide schließlich von urzeitlichen Meeresechsen angegriffen werden, sich aber neuerlich retten können (vgl. VSM, I, 6, 56ff.). Abe, dessen Vorname an das englische „ape“ („Affe“) erinnert, wobei die Assoziation noch verstärkt wird, da mehrmals von seinen stark behaarten Beinen die Rede ist (vgl. VSM, I, 6, 54, 56 u. 57), hält den Film für eine herausragende Idee und seine Geliebte für eine große Schauspielerin und Künstlerin.

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Vgl. zu einer apokalyptischen Endzeitstimmung in Bulgakovs Rokovye Jajca auch P. W. Powell, „The Fatal Eggs“ and „Adam and Eve“: Disruption and restoration of the natural order, in: L. Milne (Hg.), a.a.O., S. 100ff. Vgl. auch S. V. Nikol’skij (1978), a.a.O., S. 196ff.

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Mit den Figuren des Ehepaares Jindrˇisˇa Seidl-Chrudimská und Jaromír SeidlNovomeˇstsky´, die auf den Galapagos-Inseln einen tschechisch sprechenden Molch treffen, zielt Cµapeks Satire auf die nationale Selbststilisierung der Tschechen.53 Der Molch spricht nicht nur die Sprache der nationalen Wiedergeburtszeit („národní obrození“) des 19. Jahrhunderts, sondern in stereotypen Formulierungen werden auch die traumatische Schlacht am Weißen Berg (1620) und die nachfolgende sogenannte „doba temna´“ der 300-jährigen österreichischen Vorherrschaft aufgerufen, wobei der Nachname „Seidl“ doch gerade auf die österreichischen Wurzeln der Familie hinzuweisen scheint.54 „‚Vás tedy upoutaly i nasˇe deˇjiny,‘ zvolal jsem [J. Seidl-Novomeˇstsky´; Anm. M. M.] radostneˇ. ‚Zajisté, pane,‘ odtusˇil Mlok. ‚Zejme´na pohroma beˇlohorska´ a trˇistaleta´ poroba. Cµetl jsem o nich velmi mnoho v této knize. Jste zajiste´ velmi hrdi na svou trˇistaletou porobu. Byla to velika´ doba, pane.‘ ‚Ano, teˇzkˇ a´ doba,‘ prˇitakal jsem. ‚Doba u´tisku a horˇe.‘ ‚A u´peˇli jste?‘ ptal se na´sˇ prˇítel s dychtivy´m za´jmem. ‚Úpeˇli, trpíce nevy´slovneˇ pod jarˇmem sverˇepy´ch utiskovatelu˚.‘“ (VSM, II, 2, 150).

Eine Ausnahme zu diesen nur episodisch auftretenden Figuren bilden die des Kapitäns van Toch55 und des Portiers Povondra. Die Figur van Tochs verbindet nicht nur die Ereignisse in den ersten vier Kapiteln des Romans56 , sondern motiviert auch den Schauplatzwechsel von Indonesien in die Tschechoslowakei, denn der vermeintliche Holländer van Toch entpuppt sich als Tscheche Vantoch, der in seiner Geburtsstadt Jevícˇko in der böhmischen Provinz Urlaub macht (vgl. VSM, I, 2, 23). Lassen van Tochs Reisen in exotische Länder sowie die Perlen fischenden Molche den Unternehmer Bondy an einen Abenteuerroman denken, so wird dies sowohl durch van Tochs Aussagen als auch die der indonesischen Einheimischen korrigiert. Die Gattung selbst wird gewissermaßen parodiert, so dass der Kapitän in diesem Zusammenhang vor allem als parodistischer Charakter fungiert. Van

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Vgl. auch A. Ohme, a.a.O., S. 154f. Vgl. zu den geschichtlichen Hintergründen W. Schamschula, Geschichte der tschechischen Literatur, 3 Bde., Köln/Wien 1990ff., Bd. I, S. 269ff. u. 329ff. In der Forschungsliteratur werden für die Figur van Tochs verschiedene Personen als Vorbilder genannt. Nach F. Tova´rek diente Cµapek der bereits erwähnte Polarforscher Jan Welzl als Vorlage. Vgl. F. Tova´rek, Pozna´mky o „Válce s Mloky“, in: Host do domu. Meˇsícˇník pro literaturu, umeˇní a kritiku 4 (1957), S. 94. I. Seehase stellt zudem fest, dass Welzl im Almanach Kmen (Stamm), in dem auch Cµapek publizierte, einen Artikel über einen gewissen Kapitän Emerson veröffentlichte, der Jagd auf See-Elefanten machte und diese gewinnbringend an verschiedene Zoos verkaufen wollte. Vgl. I. Seehase, Eine neue Quelle zu „Va´lka s mloky“, in: Zeitschrift für Slawistik 9, 2 (1964), S. 196. Nachfolgend findet van Toch nur noch namentlich Erwähnung: vgl. VSM, I, 5, 9 u. 12; II, 1; III, 1 u. 10.

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Toch ist weniger ein Abenteurer, sondern ein gewinnorientierter Handelsmarinekapitän, dessen Reisen allein der wachsenden Nachfrage nach Perlen geschuldet sind. „To prˇece není pra´ce pro poctive´ho obchodního kapita´na, pane. J. van Toch není zˇadny´ proklety´ dobrodruh,…“ (VSM, I, 1, 11). Bei der einheimischen Bevölkerung handelt es sich nicht um einen von der Zivilisation unberührten Volksstamm, vielmehr zeigt sich diese ob der kolonialen Verhältnisse weitgehend europäisiert. So berufen sich die vermeintlich primitiven Indonesier in einer geschäftlichen Auseinandersetzung mit van Toch auf Recht und Gesetz, während der „zivilisierte“ van Toch den Konflikt dagegen mit Gewalt zu regeln droht. „Kapitán pocˇal nabíhat do fialova. ‚Tam jim rˇekni, kdyzˇ nepu˚jdou… zˇe jim vyrazím vsˇechny zuby… zˇe jim utrha´m usˇi… zˇe je poveˇsím […].‘ Mísˇenec to poctiveˇ prˇelozˇil, nacˇezˇ opeˇt na´sledovala delsˇí zˇivá porada. Konecˇneˇ se mísˇenec obra´til ke kapitánovi. ‚Rµíkají, pane, zˇe si pu˚jdou steˇzoˇ vat do Padangu na policii, zˇe jim tuan vyhrozˇoval. Na to pry´ jsou paragrafy. Starosta rˇíka´, zˇe to tak nenecha´.‘“ (VSM, I, 1, 14).

Auch dass auf den fernen Inseln noch ungezählte Schätze und Geheimnisse der Entdeckung harrten, wird von den Einheimischen als naive Vorstellung europäischer „Landratten“ zurückgewiesen. Tatsächlich neu sei lediglich ein Bordell in Padang. „‚Ty krysy v Evropeˇ si prˇedstavují, zˇe se tady da´ jesˇteˇ neˇco najít, o cˇem nikdo neví! Jezˇísˇmarja´, jsou to moulove´! […] Nova´ lovisˇteˇ! V Padangu je novy´ bordel, to ano, ale nova´ lovisˇteˇ? Pane, já tady ty vsˇechny ostrovy znám jako sve´ kalhoty"[…] Trˇicet let tady jezdím, a ted’ na mneˇ ti pitomci chteˇjí, abych tu neˇco objevil! […] V Evropeˇ, tam by se dalo jesˇteˇ ledacos objevit; ale tady…‘“ (VSM, I, 1, 10).

Van Tochs umgangssprachliche und derbe Ausdrucksweise sowie die Verwendung englischer Wörter und die Kenntnis mehrerer Fremdsprachen lassen einerseits an einen weitgereisten und mit allen Wassern gewaschenen „Seebären“ denken. Andererseits scheint der wiederholte Verweis auf sein (himmel)blaues Taschentuch („(blankytneˇ) modry´ kapesník“57 ) sowie seine hell-, himmel- beziehungsweise vergissmeinnichtblauen Augen („bledeˇ modre´/pomneˇnkové/blankytne´ ocˇi“) auf eine gewisse Naivität und Kindlichkeit hinzudeuten.58 Damit korrespondiert, dass er die Molche liebevoll „tapa-boys“ nennt, ihnen Namen gibt und sie als eine Art Familienersatz versteht. „‚Oni jsou moc hodny a moudry, ty tapa-boys; kdyzˇ jim cˇloveˇk neˇco povída´, tak da´vají pozor, jako kdyzˇ posloucha´ pes svyho pa´na. A nejvíc ty jejich deˇtinsky

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Vgl. zu van Tochs (himmel)blauem Taschentuch VSM, I, 1, 10; I, 2, 27 u. 29; I, 3, 31 u. 33. Zu van Tochs hell-, vergissmeinnicht- beziehungsweise himmelblauen Augen vgl. VSM, I, 2, 24; I, 3, 31, 34, 36 u. 40; I, 4, 45.

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rucˇicˇky – vísˇ, chlapcˇe, ja´ jsem stary chlap a rodinu zˇa´dnou nema´m… Ja, stary cˇlo59 veˇk je tuze sa´m,‘ brucˇel kapita´n, prˇema´haje sve´ pohnutí.“ (VSM, I, 3, 40).

Zwar wird der Kapitän im Vergleich zu den episodisch auftretenden Figuren mit einer ausführlicheren und detaillierteren Zuschreibung an Eigenschaften und Verhaltensweisen versehen. Diese verbleibt aber doch im Rahmen einer begrenzten Typisierung. Hinzu kommt, dass van Tochs Auftreten wesentlich auf die Funktion beschränkt ist, die Molche zu entdecken und Geschäftsbeziehungen mit dem Unternehmer Bondy anzuknüpfen, so dass sich die Ereignisse im Folgenden thematisch entwickeln können. Bezeichnenderweise stirbt van Toch bereits zum Ende des ersten Buchs. Der weltumspannende Molchhandel sowie der Aufstieg der Molchzivilisation setzten erst nach seinem Ableben ein. Auch van Tochs liebevolle Behandlung der Molche scheint im Zusammenhang mit der späteren, allein gewinnmaximierenden Ausbeutung der Tiere vor allem die Funktion einer kontrastierenden Beschreibung zu erfüllen. Während van Toch nur in den ersten vier Kapiteln des ersten Buchs auftritt, zieht sich die Figur des Portiers Povondra, dessen Leben mit dem Molchzeitalter zusammenfällt, durch den ganzen Roman.60 Povondra ist der Prototyp des durchschnittlichen Kleinbürgers, des kleinen Mannes, der die häusliche Ruhe am heimischen Herd genießt. „Zavla´dlo du˚stojne´ rodinne´ ticho, tak drahe´ otci Povondrovi; jen noviny sˇustí a jim odpovída´ rychle provle´kana´ nit.“ (VSM, II, 3, 175). Er sieht sich als rechtschaffenen, vorbild- und tugendhaften Bürger seines Landes und ist überzeugt, den blühenden Molchhandel ob seiner Menschenkenntnis, seines Pflichtbewusstseins und seiner Weitsicht erst ermöglicht zu haben. „‚On ten kapita´n, jakpak on se jmenoval, Vantoch, na to ani nevypadal. Takovy´ tlusty´ strejc to byl. Jiny´ vra´tny´ by mu rˇekl, kampak, cˇloveˇceˇ , pa´n není doma, a vu˚ bec; ale ja´ ti meˇl takove´ jako tusˇení nebo co. Ja´ ho ohla´sím, rˇekl jsem si […] Z toho vidísˇ, Frantíku, co mu˚zˇe vykonat cˇloveˇk i v podrˇízene´m postavení. Vem si z toho prˇíklad a snazˇ se vzˇdycky splnit svou povinnost, jak jsem to deˇlal ja´.‘ Pan Povondra ky´val hlavou slavnostneˇ a dojateˇ. ‚Ja´ jsem toho kapita´na mohl odby´t ve vratech, a byl bych si usˇetrˇil ty schody. Jiny´ vra´tny´ by se byl nafoukl a prˇirazil by mu vrata prˇed nosem. A byl by tím zmarˇil takovy´ ba´jecˇny´ pokrok na sveˇteˇ. Pamatuj si, Frantíku, kdyby kazˇdy´ cˇloveˇk plnil svou povinnost, tak by bylo na sveˇteˇ hej. […]‘“ (VSM, II, 1, 118).

Geradezu berauscht von seiner vermeintlichen Bedeutung, schwingt er sich seiner Frau gegenüber zum ausgewiesenen Kenner der weltpolitischen Lage auf und vermeint in seiner maßlosen Selbstüberschätzung, diese entscheidend mitbestimmt zu haben. Tatsächlich ist der Portier aber ein Mensch, der den Erklärungen der

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Obiges Zitat zeigt beispielhaft die sowohl fehlerhafte als auch umgangssprachliche Ausdrucksweise des Kapitäns. Vgl. VSM, I, 3 u. 8; II, 1 u. 3; III, 10.

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Zeitungen uneingeschränkt Glauben schenkt, Nachrichten nicht hinterfragt und über keine eigene differenzierte Meinung verfügt. Die Gespräche mit seiner Frau über den sich zuspitzenden Konflikt zwischen Mensch und Molch offenbaren zudem die tief greifende Unmenschlichkeit und Ignoranz des selbstgerechten Durchschnittsbürgers. Er befürwortet einen Weltkrieg mit dem Argument, dieser allein garantiere eine zuverlässige Aufteilung der Meere. Aufgabe der neutralen Staaten, wie beispielweise der Tschechoslowakei, sei es, die Kriegsparteien mit Waffen zu beliefern. „‚Bude muset by´t sveˇtova´ va´lka, aby si sta´ty mohly rozdeˇlit morˇe. Ale my zu˚staneme neutra´lní. Neˇkdo prˇece musí zu˚stat neutra´lní, aby doda´val zbraneˇ a vsˇecko teˇm druhy´m. Tak je to,‘ rozhodl pan Povondra. […] ‚A kdyzˇ si pova´zˇím,‘ ozval se otec Povondra s teˇzˇce tlumenou hrdostí, ‚zˇe by tahle hroziva´ situace beze mne nebyla! Kdybych byl tehdy neprˇivedl toho kapita´na k panu Bondymu, tak by cele´ deˇjiny vypadaly jina´cˇ. […]‘“ (VSM, II, 3, 177).

Nachrichten über die fortgesetzten Landversenkungen der Molche beunruhigen Povondra nicht, da er nicht unmittelbar betroffen ist. Die Befürchtungen seines Sohnes, die Molche könnten nach Dresden auch Prag fluten, weist Povondra als völlig unsinnig zurück, denn schließlich besitze die Tschechoslowakei keinen Zugang zum Meer und sei zudem durch seine Gebirge geschützt (vgl. VSM, III, 10, 236f.). Aufgebracht ist er lediglich über die moderne Kriegsführung, die sich auf die strategische Versenkung beziehungsweise Sicherung von Landmassen konzentriere, aber nicht mehr Millionen von Menschen zum Kampf auf die Schlachtfelder führe. „‚S teˇmi Mloky to uzˇ ta´hnou dvana´ct let, a porˇa´d nic, jen sama´ prˇíprava vy´ h odneˇjsˇích pozic – Kdepak, za my´ch mlady´ch let, to by´valy bitvy! To byly tady trˇi milio´ny lidí a tam trˇi milio´ny lidí,‘ ukazoval stary´ pa´n […] ‚a ted’, kruci, to na sebe u´tocˇilo – Tohle není ani zˇádna´ porˇa´dna´ va´lka,‘ zlobil se otec Povondra.“ (VSM, III, 10, 236).

Dem vermeintlich weitsichtigen Povondra wird das Ausmaß der weltumspannenden Katastrophe erst bewusst, als er einen Molch in der Moldau schwimmen sieht und persönlich mit den Ereignissen konfrontiert wird. Erneut ist er aber nicht in der Lage, die Situation zu verstehen und seine tatsächliche Mitschuld zu erkennen. Zwar glaubt Povondra, er trage die Verantwortung für diese neue Sintflut, weil er van Toch ein Gespräch mit Bondy ermöglichte (vgl. VSM, III, 10, 239). Einen Zusammenhang zwischen dem Aufstieg der uniformen Molchzivilisation und seiner angepassten Durchschnittlichkeit, seiner unreflektierten Fortschrittsgläubigkeit sowie seiner Unmenschlichkeit und Ignoranz vermag er aber nicht zu sehen.

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VI. 2. 2. Die Molche Abgesehen von der Titelgebung des Romans bleibt für den Leser zunächst unklar, um welche Tiere es sich bei den von van Toch entdeckten Lebewesen tatsächlich handelt. Die einheimische asiatische Bevölkerung fürchtet die Tiere als dämonische „Tapas“ und See-Teufel. Zu Tausenden („Tisíce, tisíce cˇertu˚!“; VSM, I, 1, 16) sollen sie die sogenannte Devil Bay bevölkern und auf dem Meeresgrund eine eigene Stadt errichtet haben. „‚… Jsou tam cˇerti, pane. Morˇstˇ í cˇerti.‘ ‚Co je to morˇsky´ cˇert? Ryba?‘ ‚Zµa´dna´ ryba,‘ namítal vyhy´baveˇ krˇízˇenec. ‚Prosteˇ cˇert, pane. Podmorˇsky´ cˇert. Batakove´ mu rˇíkají tapa. Tapa. Oni tam pry´ mají sve´ meˇsto, ti cˇerti. […]‘“ (VSM I, 1, 12).

Tatsächlich gelten der Molch ebenso wie sein an Land lebendes Gegenstück, der Salamander, der einen gifthaltigen milchig-weißen Saft abzusondern vermag (vgl. auch VSM, I, 7, 72), im Volksglauben verschiedentlich als Teufelstier.61 Ein Mitglied von van Tochs Schiffsbesatzung erinnern die Lebewesen dagegen an Seehunde („tuleni“) beziehungsweise Pinguine („pingvíni“; VSM, I, 1, 20).62 Der Kapitän spricht Bondy gegenüber vornehmlich von Eidechsen („lizards“, „jesˇteˇrky“; beispielhaft VSM, I, 3, 34).63 Da sie Löcher ins Ufer graben und Dämme errichten, vergleicht sie van Toch aber auch mit Bibern. „‚[…] Oni si vyhraba´vají pod vodou aji takovy hluboky díry do brˇehu˚, a v teˇch díra´ch oni ve dne zˇijou. Hrozneˇ chytry zvírˇata, pane, docela jako beavers.‘ ‚Bobrˇi.‘ ‚Ja, ty veliky mysˇi, co dovedou staveˇt ty prˇehrady na rˇece. Oni tam meˇli spoustu teˇch hra´zí a hra´zicˇek, v tom Devil Bay, takovy kra´sneˇ rovny dams, zˇe to vypadalo 64 jako neˇjaky meˇsto. […]‘“ (VSM, I, 4, 42).

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Vgl. H. Bächtold-Stäubli, a.a.O., Bd. VI, Sp. 455ff. So soll sich die Bezeichnung „Salamander“ auch von persisch „samandra“ – „Gift“ ableiten. Vgl. A. Pauly/ G. Wissowa (Hgg.), Paulys Real-Encyclopädie der classischen Altertumswissenschaft, Stuttgart 1894ff., Bd. I, 2 (2. Reihe), Sp. 1821. Ebenfalls dämonisch-ambivalent ist das Tier in V. F. Odoevskijs Novelle Salamandra (1841) konnotiert, das der Hauptfigur als sprechendes Trugbild wiederholt im Zusammenhang mit dessen alchemistischen Versuchen erscheint. Auch van Toch und die amerikanischen Jugendlichen auf der Jacht erinnern die Tiere an Seehunde (vgl. VSM, I, 3, 35 u. I, 6, 61). Van Toch spricht auch von „sˇcˇo´r“ und „sˇtír“ (vgl. VSM, I, 3, 34). Beide Wörter bezeichnen als eine Art Sammelbegriff Amphibien wie Molche oder Frösche, aber auch Reptilien, wie beispielsweise Eidechsen. Gleichzeitig kann mit „sˇtír“ aber auch ein tüchtiger und kluger Mensch gemeint sein. Vgl. Prˇírucˇní slovník jazyka cˇeského, a.a.O., Bd. V, S. 1027 u. 1178. Bemerkt sei, dass Nordamerikareisende des 18. Jahrhunderts wiederholt dort beobachtete Biberkolonien von einer Art kollektiven Intelligenz gesteuert sahen, die sich zu „einem gemeinschaftlichen Endzwecke, zur Wohlfahrt der ganzen Gesellschaft“ vereinigten. C. Le

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Über das Aussehen der Tiere ist zu erfahren, dass sie etwa die Körpergröße eines Seehundes („asi metr dvacet“; VSM, I, 1, 16) beziehungsweise zehnjährigen Kindes, menschenähnliche Hände mit vier Fingern sowie einen Schwanz und eine schwarze schuppenlose Haut haben. Die Tiere schwimmen nicht nur, sondern sind auch in der Lage, aufrecht auf den hinteren Extremitäten zu gehen. „‚No, velky by byly jako tuleneˇ, ale kdyzˇ tˇapkají po zadních tlapicˇka´ch, tak jsou tak vysoky,‘ ukazoval kapita´n. ‚Zµe by byly hezky, to nejsou. Oni nemají na sobeˇ zˇa´dny ty sˇlupky.‘ ‚Sµupiny?‘ ‚Ja, sˇlupiny. Docˇista jsou holy, pane Bondy, jako neˇjake´ zˇaby nebo takove´ ty salamanders. A ty jejich prˇední tlapicˇky, to ti je jako pracicˇky od deˇcek, ale prsty mají 65 jenom cˇtyrˇi. […]‘“ (VSM, I, 3, 35).

Im Gegensatz zur Einschätzung der Einheimischen beschreibt van Toch die Lebewesen der Devil Bay als überaus liebenswürdige Tiere („moc mily a hodny zvírˇata“; VSM, I, 3, 35) mit teils kindlichen Bewegungen und Verhaltensweisen „On nic, jen tak prˇesˇlapuje a kroutí se, jako kdyzˇ se deˇcko stydí.“ (VSM, I, 3, 37). Der asiatischen Bevölkerung seien sie aufgrund ihrer Klugheit weit überlegen und erwiesen sich letztlich als die besseren, da lernfähigeren Arbeitskräfte. „‚[…] On takove´ Singhales vypada´ ve vodeˇ dost podobneˇ jako jesˇteˇrka, ale takove´ jesˇteˇrka je chytrˇejsˇí nezˇ Singhales nebo Batak, protozˇe se chce neˇco naucˇit. A Batak se nikdy nenaucˇí nic nezˇ samy zlodeˇjství,‘ dodal kapita´n J. van Toch rozhorˇcˇeneˇ.“ (VSM, I, 3, 38).

Ebenso wie van Tochs abwertender Mensch-Tier-Vergleich weist die spätere Beschreibung des Molchhandels als „humanen Sklavenhandel“ die menschliche Gesellschaft als wesentlich inhuman aus. Dieser gilt nicht die Versklavung des Menschen, sondern die schlechte Organisation der Ausbeutung als unmenschlich. „Stejneˇ huma´nneˇ a hygienicky se deˇje transport Mloku˚ v tankovy´ch lodích; […] Jsou lide´, kterˇí zkratku S-Trade (Salamander-Trade) prˇekla´dají jako Slave-Trade cˇili obchod s otroky. Nuzˇe, jako nestranní pozorovatele´ mu˚zˇeme rˇíci, zˇe kdyby neˇkdejsˇí obchod s otroky byl tak dobrˇe organizova´n a hygienicky tak neza´vadneˇ prova´deˇn jako dnesˇní obchod s Mloky, mohli bychom otroku˚m jenom gratulovat.“ (VSM, II, 2, 129f.).

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Beau verwies, hierbei in gewisser Weise an die Ausführungen der Figur des Unternehmers Bondy erinnernd, zudem auf den Nutzen für den Menschen. Um Kosten zu sparen, könnten die Biber etwa in Holland den Deichbau übernehmen. Vgl. L. M. Gisi, Von der Selbsterhaltung zur Selbstorganisation. Der Biber als politisches Tier des 18. Jahrhunderts, in: E. Horn/L. M. Gisi (Hgg.), a.a.O., S. 235 u. 238. Zum fischähnlichen Schwanz vgl. VSM, I, 1, 18. Zur Körpergröße der Tiere vgl. auch VSM, I, 3, 37.

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Die amerikanischen Jugendlichen um das Filmsternchen Lily Valley und den Milliardärssohn Abe Loeb halten die Tiere einerseits für vorsintflutliche Urechsen („prˇedpotopní jesˇteˇriˇ “, „prajesˇteˇriˇ “; VSM, I, 7, 73 u. 74), andererseits für mythische Tritonen („trito´ni“; VSM, I, 6, 63 u. 68 sowie 7, 74). Hierbei handelt es sich um Meeresgötter mit menschlichem Oberkörper und fischartigem Unterleib.66 Allerdings ergibt sich noch ein zweiter Bedeutungsaspekt, denn die Termini „Triton“ beziehungsweise „Triturus“ bezeichnen die Gattung der Wassermolche.67 Anhand der Filmsequenzen, welche die Jugendlichen gedreht haben, werden schließlich zum Ende des siebten Kapitels auch erstmals Vermutungen geäußert, die Tiere seien möglicherweise als Molche zu klassifizieren. „Vyskytli se ovsˇem lidé, kterˇí pod za´minkou odborného vzdeˇla´ní tvrdili, zˇe – pokud lze soudit podle snímku˚ – nejde o zˇa´dne´ praveˇke´ jesˇteˇry, ny´brzˇ o neˇjaky´ druh mloku˚.“ (VSM, I, 7, 76).

Die nachfolgend angeführten lateinischen Fachtermini („Cryptobranchus japonicus“, „Sieboldia maxima“, „Tritomegas Sieboldii“ und „Megalobatrachus Sieboldii“; VSM, I, 7, 76) verweisen in verfremdend abgewandelter Form auf tatsächlich in Asien und Amerika existierende Riesensalamander, die eine Körpergröße von bis zu 1,50 m erreichen können.68 Die Vorstellung, die Lebewesen seien Vertreter einer frühzeitlichen Tierart, findet sich im nachfolgenden achten Kapitel neuerlich aufgegriffen. Anhand des fossilen Abdrucks eines Molchskeletts werden diese mit einem vermeintlich ausgestorbenen Urmolch identifiziert. Da der Theologe und Geologe J. J. Scheuchzer diesen im deutschen Öhningen entdeckten fossilen Riesensalamander („Andrias Scheuchzeri“) mit etwa einem Meter Länge tatsächlich 1726 in seiner Schrift Homo diluvii testis als die Überreste eines vorsintflutlichen Menschen ausgab, wird gleichzeitig eine Ähnlichkeit von Molch und Mensch impliziert. „Kdyzˇ jsme vypreparovali kostry zabity´ch zvírˇat, dosˇli jsme nejzajímaveˇjsˇího poznatku: zˇe totizˇ kostra teˇchto mloku˚ se shoduje te´meˇrˇ dokonale s fosilním otiskem mlocˇí kostry, jejzˇ nalezl na kamenné desce z öhningensky´ch lomu˚ dr. Johannes Jakob Scheuchzer a vyobrazil ve spise ‚Homo diluvii testis‘, vydaném roku 1726. Méneˇ znaly´m cˇtena´rˇu˚m budizˇ prˇipomenuto, zˇe rˇecˇeny´ dr. Scheuchzer povazˇoval tuto fosilii za pozu˚statky prˇedpotopního cˇloveˇka. […] Pozdeˇji Cuvier rozpoznal v öhningenske´m otisku kostru zkameneˇle´ho mloka, ktery´ byl nazva´n Cryptobranchus primaevus nebo Andrias Scheuchzeri Tschudi a povazˇova´n za species da´ v no 66

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Triton ist ursprünglich der Sohn des Poseidon und der Amphitrite. Später gelten die Tritonen mit den Nereiden als Gegenstück zu den auf dem Festland lebenden Satyrn und Nymphen. Vgl. Herder Lexikon. Griechische und römische Mythologie. Götter, Helden, Ereignisse, Schauplätze, Freiburg 1995, S. 223. Vgl. R. Barth, Die Tierwelt nach Brehm, 11. Aufl., München 1970, S. 230 und B. Grzimek (Hg.), Enzyklopädie der Tierwelt, 16 Bde., Zürich 1971ff., Bd. V, S. 330f. Vgl. R. Barth, a.a.O., S. 229 und B. Grzimek (Hg.), a.a.O., Bd. V, S. 317 u. 319ff.

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vymrˇelou. Osteologicky´m srovna´ním se na´m podarˇilo identifikovat nasˇe mloky s 69 domneˇle vyhynuly´m pramlokem Andriasem.“ (VSM, I, 8, 79f.; Hervh. i. Orig.).

Kapitel 11 mit dem bezeichnenden Titel O Lidogesˇteˇrka´ch („Über Menschenechsen“) knüpft an diese vermeintliche Ähnlichkeit von Molch und Mensch an. Ein gewisser Professor Uher formuliert die These, dass sich der Molch unter günstigeren Bedingungen möglicherweise zum „Menschen des Miozäns“ hätte entwickeln können. „… geho [mloku; Anm. M. M.] evolucˇní pochod se zastavil; bylo to gako natazˇene´ pruzˇne´ pe´ro, ktere´ se nemu˚zˇe rozvinaut. Není vylaucˇeno, zˇe Prˇíroda meˇla s tímto mlokem velike´ pla´ny, zˇe se meˇl vyvíget gesˇteˇ da´l a da´l, vy´sˇ a vy´sˇ, kdoví gak vysoko… (Profesor Uher cítil azˇ lehke´ mrazení prˇi te´to prˇedstaveˇ; kdoví nemeˇl-li se 70 vlastneˇ Andrias Scheuchzeri sta´t cˇloveˇkem mioce´nu!)“ (VSM, I, 11, 99).

Hierbei lässt sich an Cµapeks eigene Aussagen zur Tiermotivik in Válka s Mloky anknüpfen. Angesichts der europäischen Krisensituation fragt er sich zunächst, ob nicht eine andere Gattung eine dem Menschen analoge Evolutionsgeschichte hätte durchlaufen und zum Träger kultureller und zivilisatorischer Entwicklung hätte werden können, um nachfolgend allerdings zu bezweifeln, dass diese weniger kriegerisch, nationalistisch und profitgierig sein würde als der Mensch. „Ve té dobeˇ – bylo to loni zjara, kdy na sveˇteˇ vypadalo hospoda´rˇsky prasˇpatneˇ a politicky jesˇteˇ o neˇco hu˚rˇ – jsem napsal prˇi jakési prˇílezˇitosti veˇtu: ‚Nesmíte si myslet, zˇe vy´voj, ktery´ dal vzniknout nasˇemu zˇivotu, byl jedinou vy´vojovou mozˇností na te´to planeteˇ.‘ – A uzˇ to tu bylo. Ta veˇta je vinna tím, zˇe napsal Va´lku s Mloky. Vzˇdyt’ je to pravda: nemu˚zˇeme vyloucˇit, zˇe by se za prˇíznivy´ch okolností nemohl jiny´ typ zˇivota, rˇekneme jiny´ zˇivocˇisˇny´ druh nezˇ cˇloveˇk, stát vehiklem kulturního vy´voje. Cµloveˇk se svou civilizací a kulturou, se svy´mi cely´mi deˇjinami se vyvinul z trˇídy savcu˚, z cˇeledi prima´tu˚; je prˇece myslitelno, zˇe by podobna´ evolucˇní energie mohla okrˇ´ídlit vy´voj jine´ho zˇivocˇisˇne´ho rodu. Není vyloucˇeno, zˇe by se za jisty´ch zˇivotních podmínek mohly vcˇely nebo mravenci vyvinout ve vysoce inteligentní tvory, jejichzˇ civilizacˇní schopnosti by nebyly nizˇsˇí nezˇ nasˇe. […] To byla první mysˇlenka; a ta druha´ byla: Kdyby jiny´ zˇivocˇisˇny´ druh nezˇ cˇloveˇk dosa´hl toho stupneˇ, ktere´mu rˇíka´me civilizace, co myslíte: deˇlal by stejne´ nesmysly jako lidstvo? Vedl by stejne´ va´lky? Prodeˇla´val by stejne´ deˇjinne´ katastrofy? A jak bychom se dívali na imperialismus jesˇteˇru˚, na nacionalismus termitu˚, na hospoda´rˇskou expanzi 71 racku˚ nebo sledˇu˚?“ 69 70

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Vgl. zu Scheuchzers Fehlurteil auch ebd., S. 297. Der Forscher bezieht sich bei seinen Überlegungen auf einen Zeitungsausschnitt aus den 20er Jahren des 19. Jahrhunderts. Die Nachahmung der historischen Sprachform durch den Professor scheint hierbei Kritik an einem distanzlosen Umgang mit Quellen von Seiten der Wissenschaft zu üben. Vgl. auch A. Ohme, a.a.O., S. 153. K. Cµapek, Prˇedna´sˇka pro rozlas (1936), in: F. Buriánek, Karel Cµapek, Prag 1978, S. 275f. In G. Grass’ Die Rättin (1986) durchlaufen nach einem Atomkrieg die zwitterhaften Ratten-

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Gerade die Tatsache, dass Scheuzer die Versteinerung des Öhninger Riesenmolchs aus der Tertiärzeit fälschlicherweise für den fossilen Abdruck eines Menschen hielt, ließ Cµapek die Tierart der Molche als gleichnishaftes Bild für seinen Roman wählen. „… psal jsem své Mloky, protozˇe jsem myslel na lidi, vybral jsem si za podobenství zrovna Mloky, ne zˇe bych je meˇl radeˇji nebo mínˇ ra´d nezˇli jiné bozˇí tvory, ale proto, zˇe jednou byl opravdu otisk trˇetihorního velemloka omylem povazˇova´n za zkameneˇlinu nasˇeho lidske´ho prˇedka; mají tedy mloci mezi vsˇemi zvírˇa´tky zvla´stˇ ní 72 historicke´ pra´vo, aby vystoupili na sce´nu jako na´sˇ obraz.“

Wie der Mensch vermögen Cµapeks Molche nicht nur aufrecht zu gehen, sondern besitzen auch die Fähigkeit, sprechen und lesen zu lernen. Zu selbständigem Denken sind die Tiere aber nicht in der Lage und geben – ähnlich wie der Portier Povondra – lediglich die Ansichten und Meinungen wieder, die sie gehört oder in der Zeitung gelesen haben. Letztlich sei der Molch in seiner Intelligenz und seinem Verhalten, so eine wissenschaftliche Untersuchung, durchaus mit einem typischen Durchschnittsbürger vergleichbar. „1. Andrias Scheuchzeri, mlok chovany´ v londy´nske´m zoo, dovede mluvit, […] disponuje asi cˇtyrˇmi sty slovy; rˇíka´ jen to, co slysˇel nebo cˇetl. O samostatném mysˇlení u neˇho nelze ovsˇem mluvit. […] 2. Ty´zˇ mlok dovede cˇíst, ale jenom vecˇerníky novin. Zajíma´ se o tyte´zˇ veˇci jako pru˚meˇrny´ Anglicˇan a reaguje na neˇ podobny´m zpu˚sobem, to jest ve smeˇru usta´leny´ch, obecny´ch na´zoru˚. Jeho dusˇevní zˇivot – pokud lze o neˇjake´m mluvit – pozu˚sta´va´ pra´veˇ z prˇedstav a míneˇní toho cˇasu beˇzˇny´ch. 3. Jeho inteligenci není naprosto trˇeba prˇecenˇovat, nebot’ v zˇa´dne´m ohledu neprˇekracˇuje inteligenci pru˚meˇrne´ho cˇloveˇka nasˇich dnu˚.“ (VSM, I, 9, 89).

Ebenso wie der Mensch gilt der Molch als vernunftbegabtes, aber instinktarmes Mängelwesen. „… Andrias je smysloveˇ stejneˇ sˇpatneˇ vybaven jako cˇloveˇk a vyznacˇuje se stejnou chudobou instinktu˚; cˇisteˇ biologicky vzato, je pry´ to práveˇ tak úpadkove´ zvírˇe jako cˇloveˇk, a podobneˇ jako on hledí svou biologickou me´neˇcennost nahradit tím, cˇemu se rˇíka´ intelekt.“ (VSM, II, 2, 137).

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menschen der Watsoncricks ebenfalls eine der Menschheitsgeschichte ähnliche Entwicklung. Gleichzeitig ist ein Bezug zu Orwells Animal Farm herzustellen, wenn diese Mischkreaturen schließlich die uneingeschränkte Herrschaft an sich reißen und wie Orwells Schweine in Zeiten des Hungers Gerste beiseite schaffen, um Bier zu brauen. Vgl. hierzu auch V. Neuhaus, Das Motiv der Ratte in den Werken von Günter Grass, in: D. Römhild (Hg.), Die Zoologie der Träume. Studien zum Tiermotiv in der Literatur der Moderne, Opladen/Wiesbaden 1999, S. 170-184. K. Cµapek, Prˇednásˇka pro rozhlas, a.a.O., S. 276.

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Die Angleichung von Molch und Mensch im Zuge der rasanten Entwicklungsgeschichte der Tierpopulation zieht gleichzeitig eine Vermolchung („pomlocˇova´ní“73 ) der menschlichen Gesellschaft nach sich. Die Lebensform der Molche gewinnt zunehmend Vorbildfunktion.74 Die Bewunderung der menschlichen Gesellschaft für die ständig wachsende Molchpopulation speist sich allerdings allein aus einer übersteigerten Wertschätzung für das rein Quantitative, das eindimensional mit Erfolg und Fortschrittlichkeit identifiziert wird. „Tak vida, uzˇ se mu˚zˇe cˇloveˇk u Mloku˚ ledacˇemus ucˇit – a není to divu: cozˇ nejsou Mloci ohromneˇ u´speˇsˇní, a z cˇeho jine´ho si mají lide´ bra´t prˇíklad, ne-li z úspeˇchu˚? Jesˇteˇ nikdy v deˇjina´ch lidstva se tolik nevyhra´beˇlo, nebudovalo a nevydeˇla´valo jako v te´to velike´ dobeˇ. Nic platno, s Mloky prˇisˇel do sveˇta obrovsky´ pokrok a idea´l, ktery´ se jmenuje Kvantita.“ (VSM, II, 2, 171).

Der uniforme Massenmolch, eine roboterhafte Arbeitsmaschine („pocˇítací stroj nebo jiny´ automat“; VSM, II, 2, 137f.) ohne Phantasie, gilt ob seiner Effizienz und Nützlichkeit als Mensch der Zukunft. Die Beschreibung der Molchzivilisation stimmt im Wesentlichen mit Cµapeks Einschätzung der amerikanischen Lebensform überein, wie er diese in seinem Aufsatz O amerikanismu schildert. Cµapek sieht Amerika ein „neues Evangelium“ vermitteln, das in Europa begeistert aufgenommen werde. Bemerkt sei, dass in der christlichen Ikonographie ein Salamander in Schlösser- oder Riegelform an Kirchentüren der Hoffnung Ausdruck gab, durch ausdauernden Glauben die Kraft zur Auferstehung und Wiedergeburt als neuer Mensch zu finden 75 Als „Glaubensinhalte“ der aus Amerika kommenden vermeintlich neuen „frohen Botschaft“ nennt Cµapek allerdings Geschwindigkeit und Leistungsfähigkeit („rychlost a vy´konnost“), Erfolg („úspech“) und Quantität.76 „Trˇetí heslo, které na´s ohrozˇuje, je Kvantita. Lidé z Ameriky k na´m prˇina´seˇ jí podivnou a fantastickou víru, zˇe jen to nejveˇtsˇí je dosti velike´. […] Amerika na´s korumpuje svou za´libou ve velikostech. Evropa ztratí sebe samu, jakmile si osvojí fana77 tism rozmeˇru˚.“ 73 74

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Vgl. S. V. Nikol’skij (1978), a.a.O., S. 245. Das wachsende Gewicht, das der Molchpopulation zugeschrieben wird, mag sich auch in der Klein- und Großschreibung des Wortes „Mlok“ ausdrücken. Im Nachtrag zum ersten Buch (O pohlavním zˇivoteˇ Mloku˚), der zur Beschreibung der Entwicklungsgeschichte der Molche im zweiten Buch überleitet, wird „Molch“ erstmals großgeschrieben. Bestimmend für diesen Bedeutungsgehalt ist wohl die seit der Antike verbreitete Überzeugung, der Salamander könne im Feuer leben und Brände löschen. So symbolisiert der Salamander nicht zuletzt die Gerechten, die angesichts der Peinigungen ihr Vertrauen auf Gott nicht verlieren. Vgl. C. Zerling/W. Bauer, Lexikon der Tiersymbolik. Mythologie – Religion – Psychologie, München 2003, S. 253f. und H. Bächtold-Stäubli, a.a.O., Bd. VI, Sp. 456f. Vgl. K. Cµapek, O amerikanismu. Dopis vydavateli New York Sunday Times, in: Ders., Spisy, a.a.O., Bd. XXI, S. 122 u. 123. Ebd., S. 124.

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VI. 3. George Orwells Animal Farm VI. 3. 1. Die Farmtiere Im Gegensatz zu den anderen vier Vergleichstexten ist für Orwells Animal Farm eine Zweiteilung des Kapitels wenig sinnvoll. Zwar verfügt die Erzählung auch über vier menschliche Nebenfiguren. Die überaus flache und schemenhafte Zeichnung erlaubt es aber, die für diese kennzeichnenden Eigenschaften und Verhaltensweisen in wenigen Sätzen hinreichend zusammenzufassen. Der Gutsbesitzer Jones war ehemals ein strenger und tüchtiger Farmer, der sich aber aufgrund eines verlorenen Gerichtsprozesses dem Alkohol zuwandte (vgl. AF, II, 11). Nach der Rebellion der Tiere und dem Verlust seines Hofes zieht er in einen anderen Landesteil und stirbt in einer Trinkerheilanstalt (vgl. AF, VI, 44 u. X, 85).78 Pilkington ist ein leichtlebiger Gutsherr, der seinen Hof verwahrlosen lässt, während Frederick seine Farm als gewiefter Geschäftsmann weitaus erfolgreicher zu führen weiß (vgl. AF, IV, 24). Der gerissene Rechtsanwalt Whymper schließlich hat frühzeitig erkannt, dass die Tiere für ihre Geschäfte mit den Menschen eines Vermittlers bedürfen (vgl. AF, VI, 44). Weitere Informationen, wie etwa dass Napoleons Rivale Snowball ein Verbündeter Fredericks oder Pilkingtons sei, sind dagegen nur Gerüchte und Teil der manipulativen Propaganda der Schweine. Orwells Tierfiguren veranschaulichen gemäß des Fabelcharakters der Erzählung menschliche Verhaltensweisen und sind ob einer begrenzten und beständigen Zuschreibung an Eigenschaften sowie feststehender Redeweisen wesentlich als Typen gekennzeichnet.79 Das Zugpferd Clover gilt als mütterlich und fürsorglich. „Clover was a stout motherly mare approaching middle life, who had never quite got her figure back after her fourth foal.“ (AF, I, 2). Selbständiges Denken fällt ihr ebenso schwer wie Boxer, dem zweiten Pferd auf dem Hof. „Their [the pigs’; Anm. M. M.] most faithful disciples were the two cart-horses, Boxer and Clover. These two had great difficulty in thinking anything out for themselves, but having once accepted the pigs as their teachers they absorbed everything that they were told, and passed it on to the other animals by simple arguments. They were unfailing in their attendance at the secret meetings in the barn, and led the singing of ,Beasts of England‘ with which the meetings always ended.“ (AF, II, 11).

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Über seine Frau, Mrs. Jones, erfährt der Leser lediglich, dass sie schnarcht (vgl. AF, I, 1). Siehe zur Funktion der Tierfiguren als Träger menschlicher Verhaltensweisen und Eigenschaften auch Orwells eigene Aussage: „Humour is the debunking of humanity, and nothing is funny except in relation to human beings. Animals, for instance, are only funny because they are caricatures of ourselves.“ G. Orwell, Funny, but not vulgar, in: Ders., CEJL, a.a.O., Bd. III, S. 286.

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Ob seiner Zuverlässigkeit und seines immensen Arbeitspensums wird der etwas einfältige Boxer, der sich mit seiner Maxime „I will work harder!“ (AF, III, 18) zu freiwilliger Mehrarbeit motiviert, aber allseits respektiert. „Boxer was an enormous beast, nearly eighteen hands high, and as strong as any two ordinary horses put together. A white stripe down his nose gave him a somewhat stupid appearance, and in fact he was not of first-rate intelligence, but he was universally respected for his steadiness of character and tremendous powers of work.“ (AF, I, 2).

Boxer verkörpert den intellektuell beschränkten Arbeitertyp, der sich gutgläubig für die vermeintlich hehren Ziele einer totalitären Führungsriege engagiert und ausbeuten lässt. Jedwedem Zweifel an der Alleinherrschaft Napoleons begegnet er mit der Devise „Napoleon is always right!“ (AF, V, 37).80 Selbst als er im Zuge der „Schauprozesse“ von Napoleons Hunden angegriffen wird, hält Boxer an seiner kritiklosen Gefolgschaft gegenüber Napoleon fest (vgl. AF, VII, 56f.). Der Esel Benjamin ist das älteste Tier auf dem Hof und hält sich auf seine Erfahrung einiges zugute („Donkeys live a long time.“ AF, III, 19). Er gilt als übellaunig, schweigsam und zynisch. „Benjamin was the oldest animal on the farm, and the worst tempered. He seldom talked, and when he did it was usually to make some cynical remark…“ (AF, I, 2). Da seiner pessimistischen Grundhaltung zufolge das Leben lediglich aus Hunger, Entbehrung und Enttäuschung besteht, nimmt er die ausbeutende Alleinherrschaft der Schweine nur teilnahmslos zur Kenntnis. „Only old Benjamin professed to remember every detail of his long life and to know that things never had been, nor ever could be, much better or much worse – hunger, hardship and disappointment being, so he said, the unalterable law of life.“ (AF, X, 87).

Als sein Freund Boxer entgegen der Versprechungen der Schweine zum Abdecker gebracht wird, verliert er zwar kurzzeitig die Fassung (vgl. AF, IX, 81). Seine Verhaltensweise ändert sich aber nicht. Benjamin kann als Vertreter einer angepassten Mittelschicht gelten, die sich weder empört noch für politische Veränderungen engagiert.81 Gerade die Beschreibung des übellaunigen und teilnahmslosen Esels Benjamin verweist auf einen weiteren Aspekt der Figurentypisierung. Orwells Tiere sind mit Eigenschaften ausgestattet, die traditionell mit diesen in Verbindung gebracht werden. So gilt der Esel, im Gegensatz zum liebenswürdi-

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Boxers Maxime mag an L. Fürnbergs allerdings erst 1949 verfasstes Lied der Partei („Die Partei, die Partei, die hat immer recht.“) erinnern, das u. a. der SED, der Staatspartei der DDR, als Hymne diente. Vgl. ausführlicher zu Orwells Charakterisierung der englischen Mittelschicht H.-Ch. Schröder, a.a.O., S. 49f.

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gen und loyalen Pferd82 , als starrsinnig, träge und faul. Gleichzeitig werden ihm aufgrund seiner Verwendung als geduldiges Lasttier und stoisch im Kreis gehender Mühlesel sowohl Dummheit als auch Demut zugeschrieben.83 Ebenso zeigen die Figurenzeichnungen des Raben Moses sowie der Katze und der auf Napoleon eingeschworenen Hundemeute Übereinstimmungen mit traditionellen Deutungsmustern. Analog zur Bedeutung des Raben als Seelenvogel in der antiken und germanischen Mythologie oder auch christlichen Ikonographie, die das Tier wiederholt als Boten Gottes abbildet84 , ist Moses wesentlich durch seine Berichte über ein paradiesisches Jenseits gekennzeichnet. „He claimed to know of the existence of a mysterious country called Sugarcandy Mountain, to which all animals went when they died. It was situated somewhere u p in the sky, a little distance beyond the clouds, Moses said. In Sugarcandy Mountain it was Sunday seven days a week, clover was in season all the year round, and lump sugar and linseed cake grew on the hedges.“ (AF, II, 10f.).

Die Katze zeigt sich von Old Majors Vision einer egalitären Tiergemeinschaft unbeeindruckt (vgl. AF, I, 3). Ihren eigenen Vorteil suchend und ihrem Freiheitsdrang gehorchend, entzieht sie sich der Farmarbeit, weiß die anderen Tiere aber durch ihr ergebenes Schnurren immer wieder zu besänftigen (vgl. AF, III, 19).85 Ob ihres schmeichelnden Wesens symbolisiert die Katze Falschheit, aber auch Liebe und Gefühl. Gleichzeitig wahrt sie ihre Unabhängigkeit, widersetzt sie sich doch jeder Beschränkung ihrer Bewegungs- und Handlungsfreiheit und lässt sich im Vergleich zum Hund nicht abrichten.86 Die Hunde Bluebell und Jessie werden zu Beginn von Orwells Erzählung ebenfalls mit Namen eingeführt. Tatsächlich von Bedeutung sind beide aber nur insoweit, als sie neun Welpen zur Welt bringen, die Napoleon den Müttern entzieht und auf sich abrichtet (vgl. AF, III, 22). Diese Napoleon treu ergebenen Hunde treten, korrespondierend mit ihrer Hörigkeit gegenüber dem Alleinherrscher, nur als namen- und gesichtsloses Kollektiv („the dogs“) auf, das Napoleon auf jeden Kritiker seiner Herrschaft hetzt.87 Das Verhalten der Tiere verweist auch

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Vgl. R. Schenda, Who’s who der Tiere. Märchen, Mythen und Geschichten, München 1998, S. 264 und K. Ranke/R. W. Brednich, a.a.O., Bd. X, Sp. 911 u. 913f. Vgl. S. Dittrich/L. Dittrich, a.a.O., S. 104 und R. Schenda, a.a.O., S. 69 u. 74. Vgl. E. Kirschbaum (Hg.), a.a.O., Bd. III, Sp. 489 und S. Dittrich/L. Dittrich, a.a.O., S. 375. Bei einer Abstimmung, ob wild lebende Tiere wie Vögel oder Ratten ebenfalls als Genossen gelten sollen, stimmt die wendige Katze für beide Seiten (vgl. AF, I, 6). Vorübergehend engagiert sich die Katze beim „Reedukationskomittee für Wilde Tiere“ und versucht einem Sperling glaubhaft zu versichern, dass er sich gefahrlos auf ihrer Pfote niederlassen könne. Als diese Versuche, leichte Beute zu machen, fehlschlagen, verliert die Katze das Interesse an dem Projekt (vgl. AF, III, 20). Vgl. S. Dittrich/L. Dittrich, a.a.O., S. 254 u. 255 und R. Schenda, a.a.O., S. 168. In gewisser Weise vergleichbar bezeichnet der Ich-Erzähler in C. Münchbergs Roman Kettenhunde die NS-Schergen mit ihren silbernen Plaketten vor der Brust wiederholt als Ketten-

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hier auf zwei traditionelle, allerdings gegensätzliche Deutungsmuster. Einerseits ist der seinem Herrn gegenüber gehorsame und loyale Hund Sinnbild der Treue. Andererseits gilt der Hund, der andere Tiere zu Tode hetzt und reißt, als Symbol des Bösen.88 Mit der Beschreibung der Schafe, die sich von den Schweinen widerstandslos indoktrinieren lassen, rekurriert Orwell auf die Vorstellung des willenlosen und uniformen (menschlichen) Herdentieres ohne Individualität. Als Vertreter der von Orwell kritisierten Grammophon-Mentalität ersticken sie Diskussion und Widerspruch, indem sie ihr stereotypes „Four legs good, two legs bad!“ blöken. „But suddenly the dogs sitting round Napoleon let out deep, menancing growls, and the pigs fell silent and sat down again. The sheep broke out into a tremdendous bleating of ‚Four legs good, two legs bad!‘ which went on for nearly a quater of an 89 hour and put an end to any chance of discussion.“ (AF, V, 36f.).

Die negative Darstellung der Schweine korrespondiert ebenfalls mit bekannten Deutungsmustern. In der Bibel sind die Schweine die Zerstörer des Weinbergs Gottes (vgl. Ps. 79, 14), und die Dämonen des Besessenen fahren in die Schweine, die sich daraufhin ins Meer stürzen (vgl. Mk. 5, 11ff. od. Lk. 8, 32ff.).90

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hunde: „Da ich ein wenig abseits stand, konnte ich die Straße überblicken und sah frühzeitig das Gespann mit den zwei Uniformierten, das langsam und fast lautlos näherkam. Die beiden trugen Stahlhelme und vor der Brust halbmondförmige Schilder: Kettenhunde.“ C. Münchberg, Kettenhunde. Aufzeichnungen aus einem letzten Jahr, Hamburg/München 1988, S. 80. Vgl. K. Ranke/R. W. Brednich, a.a.O., Bd. VI, Sp. 1319, 1326 u. 1327 und S. Dittrich/L. Dittrich, a.a.O., S. 226 u. 227. In Platons Politeia gilt der Hund, der den Fremden verbellt, dem Bekannten aber freundlich entgegentritt, als idealer Wächter des Staates. Vgl. Platon, Politeia, a.a.O., § 374e-376e. Im 20. Jahrhundert wird vor allem der Schäferhund zum Sinnbild autoritärer Herrschaft und unterdrückender Macht. Insbesondere für die Nationalsozialisten zeigte der Schäferhund mit den ihm zugeschriebenen Eigenschaften der Treue und Wildheit, des Mutes, des Gehorsams und der Grausamkeit all jene Qualitäten, die auch der Mensch kultivieren sollte. Vgl. A. Skabelund, Rassismus züchten: Schäferhunde im Dienst der Gewaltherrschaft, in: D. Brantz/Ch. Mauch (Hgg.), a.a.O., S. 58-78, B. Sax, Animals in the Third Reich: Pets, Scapegoats, and the Holocaust, New York 2000, S. 75f. oder auch Grass’ Roman Hundejahre (1963), in dem leitmotivisch auf Hitlers Hund und dessen Stammbaum rekurriert wird. Vgl. auch AF, III, 22 u. IX, 77. Weitere, nicht ausdifferenzierte Tierkollektive sind die Hühner, Tauben, Enten und Kühe. Diese spielen aber bis auf die Hühner, die sich weigern, ihre Eier für den Verkauf abzugeben, in der Erzählung keine Rolle. Die Hühner werden von Napoleon zunächst mit Nahrungsentzug bestraft und die Anführer des Aufstandes schließlich von Napoleons Hunden getötet (vgl. AF, VII, 51 u. 56). Als Motto stellte Dostoevskij die Bibelstelle seinem Roman Besy voran. Zum Ende sinniert die Figur Stepan Verchovenskij darüber, ob nicht auch Russland seit Jahrhunderten von Dämonen heimgesucht werde, diese aber nun nicht in die Schweine, sondern die Menschen gefahren seien, auf dass diese sich in den Abgrund stürzen und Russland gerettet werde. In Gogol’s Erzählung O tom, kak possorilis’ Ivan Ivanovicˇ s Ivanom Nikiforovicˇem (Wie sich Ivan Ivanovicˇ mit Ivan Nikiforovicˇ zerstritt; 1832), in der er die aus nichtigen Gründen ausgebrochene Todfeindschaft und den jahrelangen Rechtsstreit zwischen den beiden ehemaligen

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Sprichwörtlich sind zudem sowohl die Faulheit als auch die Gefräßigkeit und Trunkenheit des Schweins.91 Gilt allerdings das Schwein gemeinhin auch als ungelehrig, so wird ihm doch in Tiermärchen und Fabeln wiederholt kluges und listiges Handeln bescheinigt.92 Orwells Schweine beteiligen sich als sogenannte „Kopfarbeiter“ („brainworkers“; AF, III, 23 – „the brains of the farm“; AF, VI, 45) nicht an der Farmarbeit, sondern dirigieren und überwachen diese. „The pigs did not actually work, but directed and supervised the others. With their superior knowledge it was natural that they should assume the leadership.“ (AF, III, 17). Während die Farmtiere Hunger leiden, werden die Schweine zunehmend dicker (vgl. AF, X, 85 u. 87) und verfügen, dass auf der für pensionierte Tiere vorgesehenen Weide Getreide zum Brauen von Bier angebaut wird (vgl. AF, VIII, 72f.). Wie Steinhoff und Schröder anmerken, ist der Begriff „brainworkers“ wiederholt von Angehörigen der sozialistischen „Fabian Society“ verwendet worden. Vertreter wie die Sozialreformerin B. Webb befürworteten ein Gesellschaftsmodell, das die Führung durch einen effizienten Verwaltungsapparat von Experten („expert brains“) vorsah.93 Orwell selbst konstatierte bei einem Teil der englischen Linksintellektuellen ein problematisches Sozialismusverständnis. „The truth is that to many people, calling themselves Socialists, revolution does not mean a movement of the masses with which they hope to associate themselves, it means a set of reforms which ‚we‘, the clever ones, are going to impose upon 94 ‚them‘, the Lower Orders.“

Weist einerseits die Kollektivform „the pigs“ die (Mast-)Schweine ähnlich der anonymen Hundemeute und Schafherde als vor allem gesichtslose Herrschaftskaste aus95 , sind andererseits mit den drei Ebern Old Major, Snowball und Napoleon drei „Führungspersönlichkeiten“ aus der uniformen Masse herausgehoben. Die Figurenzeichnung bleibt aber dennoch flach. Kennzeichnende Eigenschaften Old Majors – in allegorischer Lesart sowohl mit Marx als auch Lenin zu identifizieren – sind sein hohes Ansehen, seine Weisheit und Güte (vgl. AF, I, 1). Die Charakterisierung der beiden Eber Snowball und Napoleon, die sich nach der erfolgreichen Rebellion zunächst als „Doppelspitze“ exponieren, ist wesentlich auf das Aufzeigen von Gegensätzen ausgelegt. Während Napoleon als durchset-

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Freunden schildert, scheint sich die Besessenheit Ivan Ivanovicˇs gleichsam auf eines seiner Schweine zu übertragen. Dieses stürmt in das Gerichtsgebäude, entwendet eine der Klageschriften und heizt somit den Rechtsstreit der beiden Ivane noch zusätzlich an. Vgl. S. Dittrich/L. Dittrich, a.a.O., S. 484f. Vgl. zur umfänglich negativen Deutung des Schweins im Christentum auch E. Kirschbaum (Hg.), a.a.O., Bd. IV, Sp. 134f. Vgl. K. Ranke/R. W. Brednich, a.a.O., Bd. XII, Sp. 395. Vgl. W. Steinhoff, a.a.O., S. 7, 80 u. 145 und H.-Ch. Schröder, a.a.O., S. 59, 122 u. 154f. G. Orwell, The Road to Wigan Pier, a.a.O., S. 167. In dem 1977 von der englischen Rockgruppe Pink Floyd veröffentlichten Album Animals werden die Menschen, inspiriert von Orwells Animal Farm, ebenfalls in Hunde, Schweine und Schafe unterteilt.

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zungsfähig und charakterfest gilt, ist Snowball redegewandt und steht für innovative Veränderungen des Farmbetriebs. „Napoleon was a large, rather fierce-looking Berkshire boar, the only Berkshire o n the farm, not much of a talker but with a reputation for getting his own way. Snowball was a more vivacious pig than Napoleon, quicker in speech and more inventive, but was not considered to have the same depth of character. All the other male pigs on the farm were porkers.“ (AF, II, 9).

Snowball setzt sich für den Bau einer Windmühle ein und intendiert sowohl die Elektrifizierung als auch technische Modernisierung der Farm (vgl. AF, V, 32). Ebenso sendet er Tauben aus, um eine Rebellion auch auf anderen Farmen zu schüren. Napoleon ist dagegen an einer Ausweitung der Rebellion nicht interessiert. Vielmehr plädiert er zur Verteidigung der Farm für eine Bewaffnung der Tiere (vgl. AF, V, 34). Den Bau der Windmühle lehnt Napoleon zunächst ebenfalls ab, um das Projekt aber nach Snowballs Vertreibung wieder aufzugreifen und als seine Idee auszugeben (vgl. AF, V, 33 u. 38f.). In diesem Machtkampf, dessen Inhalte auf eingängige Parolen reduziert werden, sind die übrigen Farmtiere nicht mehr als bloßes „Stimmvieh“. „The animals formed themselves into two factions under the slogans ‚Vote for Snowball and the three-day week‘ and ‚Vote for Napoleon and the full manger.‘“ (AF, V, 33f.). Orwell bildet hier, freilich vereinfacht und verkürzt, Richtungsstreitigkeiten und Fraktionskämpfe innerhalb der Kommunistischen Partei nach Lenins Tod ab. Snowball ist mit Trockij zu identifizieren, der sich für die Industrialisierung des Landes sowie die Kommunistische Internationale einsetzte. Der Name Snowball weckt Assoziationen zu Trockijs These von der „permanenten Revolution“, die gleichsam einen „Schneeballeffekt“ auslösen und die alte Ordnung unter einer revolutionären Lawine begraben sollte. Stalin vertrat dagegen die These vom „Sozialismus in einem Lande“ und lehnte das Industrialisierungsprogramm zunächst ab, um dieses aber schließlich ab 1928 selbst wesentlich kompromissloser umzusetzen.96 Den Namen Napoleon mag Orwell gewählt haben, da Stalins Herrschaft wiederholt als bonapartistisch bezeichnet und seine Rolle mit der Napoleons verglichen wurde, der durch einen Staatsstreich 1799 die Alleinherrschaft an sich riss und die Französische Revolution beendete.97 Während damit korrespondierend Old Majors Vision einer egalitären Tiergemeinschaft noch den Grundsätzen der Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit verpflichtet war (vgl. AF, I, 5), verlangt der Eber Napoleon von seinen Untergeben vor allem Gehorsam („obedience“), Loyalität („loyalty“) und eiserne Disziplin („iron discipline“; AF, V, 37). Dane96

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Vgl. G. v. Rauch, a.a.O., S. 194ff. u. 212ff. und R. Koselleck, Revolution, in: O. Brunner/W. Conze/R. Koselleck (Hgg.), a.a.O., Bd. V, S. 765f. Zu einer Analyse von Orwells Darstellung vgl. auch H.-Ch. Schröder, a.a.O., S. 225ff. und V. Meyers, a.a.O., S. 108. Vgl. etwa L. D. Trotzki, Verratene Revolution. Was ist die Sowjetunion und wohin treibt sie?, Vorwort v. J.-J. Marie, 3. Aufl., Köln 1980, S. 265ff. und H.-Ch. Schröder, a.a.O., S. 225f.

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ben wird mit dem Bild des machthungrigen Ebers Napoleon, der seinen Herrschaftsanspruch brutal und rücksichtlos („ruthless“; AF, VII, 51) durchzusetzen weiß, in gewisser Weise auch auf den traditionellen Symbolgehalt des Tieres rekurriert. Wiederholt als Sinnbild des Teufels und Bösen dargestellt, wird dem einzelgängerischen Eber von Augustinus diabolischer Hochmut zugeschrieben und nachfolgend mit einem Menschen gleichgesetzt, der sich von der Gemeinschaft mit Gott und den Gläubigen gelöst hat.98 Bereits 1943 ließ Orwell in einer Hörspielfassung zu I. Silones Erzählung La volpe (Der Fuchs; 1934) die Figur des Sozialisten Agostino ein neugeborenes Schwein mit dem Namen Benito Mussolini belegen.99 Identifiziert Orwell Stalin mit einem Schwein beziehungsweise Eber, sieht ihn der russische Liedermacher B. Sµ. Okudzˇava als schwarzen Kater, der in einem ewig dunkeln Hausaufgang spöttisch lächelnd sein Unwesen treibt und die Bewohner in Angst und Schrecken hält. „So dvora podßezd izvestnyj pod nazvan´em çernyj xod. V tom podßezde, kak v pomest´e, proΩivaet çernyj kot.

On davno my‚ej ne lovit, usmexaetsä v usy, lovit nas na çestnom slove, na kusoçke kolbasy.

On v usy usme‚ku präçet, temnota emu, kak wit. Vse koty poüt i plaçut, tol´ko çernyj kot molçit.

On ne begaet, ne prosit, Ωeltyj glaz ego gorit, kaΩdyj sam emu vynosit 100 i spasibo govorit.“

Während auch K. M. Simonov im zweiten Band seiner Romantriologie Zµivye i mertvye (Die Lebenden und die Toten; 1959-72) eine seiner Figuren den Gang Stalins als katzenhaft beschreiben lässt, gebietet in V. P. Aksenovs Erzählung Stal’naja ptica (1967) die titelgebende Figur des phantastisch-zwitterhaften „stählernen Vogels“ über Wohl und Wehe einer Moskauer Hausgemeinschaft.101 Mandel’sˇtam erinnern die Finger des „Seelenverderbers und Bauernschlächters“ („dusˇegubca i muzˇikoborca“) Stalin dagegen an Maden („Ego tolstye pal’cy, kak cˇer-

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Vgl. S. Dittrich/L. Dittrich, a.a.O., S. 559. Vgl. W. J. West (Hg.), Orwell: The War Broadcasts, London 1985, S. 139. B. Sµ. Okudzˇava, Cµernyj kot, in: K. Borowsky (Hg.), Russische Liedermacher. Wyssozkij – Galitsch – Okudschawa, russ./dt., Stuttgart 2000, S. 140. Eine Karikatur M. Szewczuks zur Stalin-Note 1952 zeigt Stalin ebenfalls als schwarzen Kater, der mit einer in Aussicht gestellten Wiedervereinigung eines neutralen Deutschlands die „Maus“ Deutschland ködern und nachfolgend seinen bereits in Käfigen sitzenden Satellitenstaaten zuschlagen will. Vgl. K. M. Simonov, Soldatami ne rozˇdajutsja, in: Ders., Sobranie socˇinenij v sˇesti tomach, Moskau 1966ff., Bd. V, S. 497 und V. P. Aksenov, Stal’naja ptica, in: Ders., Sobranie socˇinenij, 5 Bde., Moskau 1994f., Bd. II, S. 237-300.

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vi, zˇirny“), der Schnurrbart an Küchenschaben („tarakan’i smejutsja usisˇcaˇ “)102 . Gleichzeitig sieht er mit der Herrschaft der Bolschewiki das „Jahrhundert der Wölfe“ („Mne na plecˇi kidaetsja vek-volkodav“)103 anbrechen und rekurriert somit in gewisser Weise auf biblische und antike Vorstellungen, die den Wolf als Sinnbild des Tyrannen zeigen. „Ist es nun nicht ebenso, wenn ein Volksvorsteher, der die Menge sehr lenksam findet, sich einheimischen Blutes nicht enthält, sondern – wie sie es gern machen – auf ungerechte Beschuldigungen vor Gericht führt und Blutschuld auf sich lädt, indem er Menschenleben vertilgend und mit unheiliger Zunge und Lippe Verwandtenmord kostend bald vertreibt, bald hinrichtet, wobei er auf Niederschlagungen der Schulden und Verteilung der Grundstücke von ferne hindeutet, daß dann einem solchen von da an bestimmt ist, entweder durch seine Feinde unterzugehen 104 oder ein Tyrann und also aus einem Mensch ein Wolf zu werden?“

V. P. Nekrasov schließlich beschreibt in Po obe storony stena (Zu beiden Seiten der Mauer; 1978) die sowjetische Nomenklatura der Chrusˇcˇev-Ära einmal mehr als gesichtsloses Kollektiv bornierter Schweineschnauzen.

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O. E∆. Mandel’sˇtam, My zˇivem, pod soboju ne cˇuja strany… (Epigramm na Stalina), in: Ders., Mitternacht in Moskau, a.a.O., S. 164. In K. I. Cµukovskijs Kindergedicht Tarakanisˇcˇe (Die Kakerlake; 1923) hält eine riesige schnurrbärtige Kakerlake die gesamte Tierwelt in Angst und Schrecken, da sie alle zu verschlingen droht. Vgl. K. I. Cµukovskij, Tarakanisˇcˇe, in: Ders., Sobranie socˇinenij v pjatnadcati tomach, Moskau 2001ff., Bd. I, S. 22-29. O. E∆. Mandel’sˇtam, Za gremucˇuju doblest’ grjadusˇcˇich vekov…, in: Ders., Mitternacht in Moskau, a.a.O., S. 56. In V. S. Vysockijs Liedtext Ochota na volkov (Wolfsjagd; 1968) steht der Wolf dagegen für den Unangepassten, den Außenseiter, der beständig gejagt und gehetzt wird. Vgl. V. S. Vysockij, Ochota na volkov, in: K. Borowsky, a.a.O., S. 36ff. Bereits in der Zarenzeit wurde der sogenannte „Wolfspass“ („volcˇij bilet/pasport“) ausgegeben, der seine Inhaber ob eines Vermerks in den Dokumenten als moralisch oder politisch „unzuverlässig“ oder kriminell auswies. Vgl. hierzu beispielhaft E. A. Evtusˇenkos Autobiographie Volcˇ i j pasport, Moskau 1998, S. 50f. Zur Identifizierung des Unangepassten mit dem Wolf vgl. ebenfalls H. Hesses Erzählung Der Steppenwolf (1927). In Pil’njaks Roman Masˇiny i volki ist der Wolf schließlich Symbol für den Menschen des alten Russland, der mit der Oktoberrevolution in einem Umerziehungsprozess in die fortschrittliche Welt der Maschinen eingegliedert werden soll. Durchaus ambivalent erscheint diese Entwicklung, wenn Pil’njak das Verhalten eines Wolfs schildert, der, gefangen in einem Käfig, einer Maschine vergleichbar seine Kreise zieht. Vgl. B. A. Pil’njak, Masˇiny i volki, in: Ders., Sobranie socˇinenij v sˇesti tomach, a.a.O., Bd. II, S. 107. Platon, Politeia, a.a.O., § 565ef. Zur Verbindung von Wolf und Tyrann in der Bibel siehe etwa Hes. 22, 27: „Die Oberen in seiner Mitte sind wie reißende Wölfe, Blut zu vergießen und Menschen umzubringen, um ihrer Habgier willen.“ Zur Monstrosität der „herrschenden Werwölfe“ vgl. zudem J. Vogel/E. Matala de Mazza, Bürger und Wölfe: Versuch über politische Zoologie, in: Ch. Geulen/A. v. d. Heiden/B. Liebsch (Hgg.), Vom Sinn der Feindschaft, Berlin 2002, S. 215ff.

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„A vot i drugoj na‚ Nikita Sergeeviç. Smotrit na stenu [v Berline; Anm. M. M.] i uxmyläetsä. Molodcy, molodcy, pokazali im kuz´kinu mat´! A 105 vokrug mordy, ryla, odno drugogo tupee.“

Wie die verschiedenen Beispiele zeigen, rekurriert Orwell mit der negativen Darstellung der Schweine einerseits auf gemeinhin bekannte Deutungsmuster. Andererseits werden den Schweinen im Gegensatz zu den übrigen Farmtieren doch von Beginn an deutlich menschliche Eigenschaften zugeschrieben, wenn sie lesen und schreiben lernen oder den Farmbetrieb ob ihrer planenden Organisation zu führen vermögen. Die Parade der aufrecht gehenden Schweine zum Ende der Erzählung zeigt schließlich eine für die Fabel untypische, ebenfalls grotesk anmutende Vermischung des menschlichen und tierischen Bereichs, so dass die Gemeinschaft der Schweine mit den Gutsbesitzern der Nachbarhöfe in der Schlussszene als Gemeinschaft tierisch-menschlicher Zwitterwesen erscheint.106 „Startled, the animals stopped in their tracks. It was Clover’s voice. She neighed again, and all the animals broke into a gallop and rushed into the yard. Then they saw what Clover had seen. It was a pig walking on his hind legs. […] And a moment later, out from the door of the farmhouse came a long file of pigs, all walking on their hind legs. Some did it better than others, one or two were even a trifle unsteady and looked as though they would have liked the support of a stick, but every one of them made his way right round the yard successfully.“ (AF, X, 89).

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V. P. Nekrasov, Po obe storony stena, New York 1984, S. 10. Wie Schröder darauf hinweist, findet sich das Schwein als Symbol eigensüchtiger Macht bereits in H. Manns Essay Reichstag (1911). „… wieviel edler genährt als an den geistlichen Freuden glänzt in diesen Mienen der Speck! Nun geht ein Lächeln darüber […] Es ist das Wulstlächeln aller Schweine der Weltgeschichte: aller Herrenschweine.“ H. Mann, Reichstag, in: Ders., Macht und Mensch. Essays, Frankfurt/M. 1989, S. 28. G. Benns Gedicht Arzt II mit den Anfangszeilen „Die Krone der Schöpfung, das Schwein der Mensch/geht doch mit anderen Tieren um!“ ist dagegen eine Aneinanderreihung von Bildern der Krankheit und des körperlichen Zerfalls. Vgl. G. Benn, Der Arzt, in: Ders., Gesammelte Werke in zwei Bänden, hrsg. v. D. Wellershoff, Wiesbaden/Zürich 1968, Bd. I, S. 12. M. Darrieusecqs gesellschaftskritischer Roman Truismes (Schweinerei; 1996) ist der Bericht einer namenlosen Prostituierten, die sich im Laufe der Ereignisse in eine Sau verwandelt, sich schließlich in die Wälder zurückzieht und mit ihrem Leben in tierischer Gestalt durchaus einverstanden ist.

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VI. 4. Eugène Ionescos Rhinoce´ros VI. 4. 1. Figurenkonzeption Neben Ionescos Held Be´renger treten sechzehn weitere Figuren auf, die in zwei Gruppen unterteilt werden können.107 Die Figuren der ersten Gruppe – die Hausfrau (la ménagère), das Ehepaar, das den Lebensmittelladen betreibt (l’épicier/ l’épicière), die Kellnerin (la serveuse) sowie der Wirt des Cafe´s (le patron du café), ein Feuerwehrmann (un pompier), der alte Herr (le vieux monsieur) und der Logiker (le logicien) – befinden sich zum Großteil an jenem Sonntagmorgen, als die ersten Nashörner in der Stadt auftauchen, auf dem Marktplatz. Sie tragen keine Eigennamen und sind vornehmlich über ihren Beruf gekennzeichnet. Nur vereinzelt, wie im Fall des Logikers und des alten Herren (vgl. RH, I, 15), ist der Regieanweisung etwas über ihr Aussehen zu entnehmen.108 Handlungen und Aussagen dieser Figuren erschöpfen sich im Typischen. Die Hausfrau kauft ein, die Kellerin bedient Bérenger und Jean im Cafe´, der Wirt hält die Kellnerin zur Arbeit an, und die Lebensmittelhändlerin registriert, wer in ihrem Laden einkauft oder zur Konkurrenz geht. Im Anschluss an C. Abastado handelt es sich um „anonyme Typen der Gesellschaft“ („des types sociaux anonymes“)109 . Etwas komplexer fällt allein die Darstellung des Logikers aus, der sich selbstgefällig an seinen vermeintlich logischen, aber letztlich alles relativierenden Beweisführungen berauscht und die Umstehenden mit seiner vermeintlichen Klugheit zu beeindrucken sucht. In überzeichneter Form repräsentiert er, korrespondierend mit Ionescos Intellektuellenkritik, den „aufgeregten Kleinbürger des Gedankens“.110 „Le Logicien, au Vieux Monsieur: Voici donc un syllogisme exemplaire. Le chat a quatre pattes. Isidore et Fricot ont chacun quatre pattes. Donc Isidore et Fricot sont chats. Le Vieux Monsieur, au Logicien: Mon chien aussi a quatre pattes. Le Logicien, au Vieux Monsieur: Alors, c’est un chat. […] Le Vieux Monsieur, au Logicien après avoir longuement re´fle´chi: Donc, logiquement, mon chien serait un chat. Le Logicien, au Vieux Monsieur: Logiquement, oui. Mais le contraire est aussi vrai. […] 107 108

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Vgl. auch S. Spengler, a.a.O., S. 54f. Zu dieser ersten Gruppe sind auch Mon. Jean und seine Frau zu zählen, die im zweiten Bild des zweiten Aktes auftreten. Zwar wird diesen ein Eigenname zugeschrieben, dieser ist aber nur insoweit von Belang, als er zu einer Verwechslung mit Bérengers Freund Jean beiträgt (vgl. RH, II/2, 66). C. Abastado, Eugène Ionesco, Paris 1971, S. 230. Frois und Leiner sprechen vom Typus des „falschen Intellektuellen“ („faux intellectuel“). Vgl. E. Frois, a.a.O., S. 13 und W. Leiner, a.a.O., S. 347.

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Le Vieux Monsieur, au Logicien: C’est très beau, la logique. 111 Le Logicien, au Vieux Monsieur: A condition de ne pas en abuser.“ (RH, I, 24).

Dass der Logiker wie alle anderen Bewohner der Provinzstadt zum Nashorn wird, aber ob seines Strohhutes doch aus der uniformen Masse heraussticht, verweist schließlich auf ein problematisches, da allein auf Äußerlichkeiten reduziertes Verständnis von Individualität. „Dudard: C’est le seul rhinocéros a` canotier. […] Bérenger: Le Logicien… rhinoce´ros! Dudard: Il a tout de meˆme conservé un vestige de son ancienne individualité.“ (RH, III, 96).

Bei den Figuren der zweiten Gruppe – neben Mon. Papillon sowie Mme. Boeuf sind dies Jean, Botard, Dudard und Daisy – handelt es sich um Bérengers Arbeitskollegen und Freunde.112 Im Vergleich zur ersten Gruppe sind diese Figuren mit Eigennamen belegt, die Regieanweisung nennt Alter, beschreibt ihr Äußeres und gibt teilweise Informationen zu ihrem Vorleben. Jean zeigt bereits während seines Gesprächs mit Bérenger im Cafe´ auf dem Marktplatz all jene Eigenschaften, die ihn schließlich im zweiten Akt die Gemeinschaft mit den uniformen Nashörnern suchen lassen. Von Beginn an macht er Bérenger Vorwürfe und kritisiert dessen Unpünktlichkeit, Alkoholkonsum und heruntergekommenes Äußeres. Wiederholt fordert er Bérenger auf, seine Kleidung und sein Äußeres in Ordnung zu bringen, indem er ihm einen Schlips, Kamm und Spiegel aufdrängt (vgl. RH, I, 11f.). Seine eigene Erscheinung ebenso wie seine angepasste Lebensführung beurteilt er dagegen eitel, selbstgerecht und dünkelhaft als vorbildlich. Er erfülle die an ihn gestellten Erwartungen der Gesellschaft. „Jean, interrompant: Je vous vaux bien; et meˆme, sans fausse modestie, je vaux mieux que vous. L’homme supérieur est celui qui remplit son devoir. Bérenger: Quel devoir? Jean: Son devoir… son devoir d’employé par exemple.“ (RH, I, 13).

Auf Bérengers depressiv-melancholische Verfassung reagiert er mit Unverständnis. Weder hat Jean peinigende Träume („Je ne reˆve jamais…“; RH, II, 2, 69) noch jemals Zweifel an seinen Entscheidungen. Jean: Moi, inconsciemment? Je suis maiˆtre de mes pensées, je ne me laisse pas aller à la dérive. Je vais tout droit, je vais toujours tout droit.“ (RH, II/2, 69). 111

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Siehe zur selbstgefälligen Begeisterung des Logikers auch die beiden Regieanweisungen: „Le Logicien, enchanté de son raisonnement…“ und „Le Logicien, à Bérenger, en souriant d’un air compétent…“ (beide RH, I, 42). Mme. Boeuf steht hierbei stellvertretend für ihren Mann, der ebenfalls ein Arbeitskollege von Bérenger ist, aber im Theaterstück nur in Nashorngestalt auftritt.

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Neben seiner beständigen Forderung nach Anpassung an die herrschende Ordnung sind es zudem Jeans mangelnde Kritikfähigkeit (vgl. RH, I, 20f.) sowie sein dumpfer Rassismus (vgl. RH, I, 36f.), die ihn als wesentlich intoleranten und mittelmäßigen Charakter zeigen und den Nährboden für die sich ausbreitende Rhinozeritis bilden. Bérenger, der selbstgerechten Ignoranz seines Freundes im Verlaufe des Gesprächs überdrüssig, nennt ihn einen Angeber („un prétentieux“) und Pedanten („un pe´dant“; beide Angaben RH, I, 35). Bérengers Arbeitskollege Botard ist ein etwa sechzig Jahre alter, überaus rechthaberischer ehemaliger Volksschullehrer, der vorgibt, alles zu wissen. (vgl. RH, II/1, 45f.).113 In seinen Vorurteilen gegenüber Akademikern spricht sich aber vor allem ein schwerwiegender Minderwertigkeitskomplex aus, der insbesondere im Umgang mit seinem Arbeitskollegen Dudard, einem Juristen, deutlich wird. „Botard, à Dudard: Ce qui manque aux universitaires, ce sont les idées claires, l’esprit d’observation, le sens pratique. […] Botard, à Dudard: Les universitaires sont des esprits abstraits qui ne connaissent rien 114 à la vie.“ (RH, II/1, 50).

In seiner Forderung nach einer wissenschaftlichen und methodischen Durchdringung der Nashornproblematik erinnert Botard an den Logiker. „En temps qu’ancien instituteur, j’aime la chose précise, scientifiquement prouvée, je suis un esprit méthodique, exact.“ (RH, II/1, 46f.).115 Tatsächlich offenbaren seine undifferenzierten Verallgemeinerungen sowie seine unreflektierte und zusammenhangslose Verwendung von Begriffen, Schlagwörtern und Parolen gerade seine intellektuelle Beschränktheit. Während er das Nashorn auf dem Marktplatz als „Mythos“ bezeichnet, vergleichbar mit einer fliegenden Untertasse, erkennt er in der Diskussion der Verlagsmitarbeiter über den Vorfall den Beginn einer Massenpsychose, um schließlich Marx’ Beschreibung der Religion als „Opium des Volkes“ anzuführen.

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114 115

Wie P. Vernois zeigt, verwendet der ehemalige Volksschullehrer Botard verschiedene Redewendungen, die in den 1920er und 1930er Jahren tatsächlich zum feststehenden Vokabular eines Lehrers gehörten. Vgl. P. Vernois, La dynamique théaˆtrale d’Eugène Ionesco, Paris 1972, S. 240f. Weitere undifferenzierte Verallgemeinerungen Botards trafen zuvor bereits die Journalisten (vgl. RH, II/1, 46 u. 48), die Südländer (vgl. RH, II/1, 47) oder die Pfarrer (vgl. RH, II/1, 48). Siehe hierzu auch die Aufforderung des Logikers an die Hausfrau und den alten Herrn, sie sollen die auf der Straße liegenden Einkäufe „mit Methode“ aufsammeln („Remettez-les méthodiquement.“ RH, I, 17). Oder die Einlassung des Logikers gegenüber dem alten Herrn, er solle versuchen, die Aufgabe methodisch („avec me´thode“) zu lösen (vgl. RH, I, 28). Leiner bezeichnet Botard ebenso wie den Logiker als einen „faux intellectuel“. Vgl. W. Leiner, a.a.O., S. 348.

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„Botard, continuant: Votre rhinocéros est un mythe! Daisy: Un mythe? […] Botard, à Daisy: Un mythe, tout comme les soucoups volantes! Dudard: Il y a tout de meˆme eu un chat écrasé, c’est indéniable! […] Botard, a` Dudard: Psychose collective, monsieur Dudard, psychose collective! 116 C’est comme la religion qui est l’opium des peuples!“ (RH, II/1, 52).

Botards Aussage, bei den Nashörnern handle es sich um einen „Mythos“117 , den er aber anhand eines „unfehlbaren Deutungssystems“ („un système d’interprétation infaillible“; R H , II/1, 63) aufzuklären wisse, lässt einerseits an Ionescos Ideologiekritik denken, andererseits klassifiziert Ionesco in seinen theatertheoretischen Schriften den Begriff der „Entmystifizierung“ als gängige und jederzeit einsetzbare Worthülse, wobei die vermeintlichen „Aufklärer“ nur ein altes durch ein neues Tabu ersetzten. „On parle beaucoup en ce moment de ‚de´mystification‘; hélas! les démystificateurs remplacent les tabous par des tabous anti-tabous qui deviennent des tabous bien plus encombrants que les anciens tabous. Les démystificateurs ne font donc que nous mystifier et nous enchaîner, et nous fournir un vocabulaire figé, un nouveau 118 langage aveuglant et trompeur.“

Entgegen seiner Überzeugung, er als kluger Kopf könne sich über die breite Masse erhaben fühlen, wird auch Botard mit der Begründung, es gelte dem Zeitgeist zu folgen („… il faut suivre son temps!“ RH, III, 98) zum Nashorn. Botards Phrasen sind nicht mehr als eine durchsichtige Maskierung einer umfassenden Positionslosigkeit und Hohlheit seiner Person. Er hat keine individuelle Meinung ausgebildet, sondern, so legt seine Einlassung zum Zeitgeist nahe, wiederholt nur die jeweils gängigen und aktuellen Schlagworte, Parolen und Losungen. Der Jurist und stellvertretende Abteilungsleiter Dudard ist fünfunddreißig Jahre alt und gilt im Verlag als Angestellter mit großer Zukunft (vgl. RH, II/1, 45). Den Angriffen seines Kollegen Botard begegnet er mit einer gewissen Langmut. Ebenso versucht er geduldig, Bérenger angesichts der beständig wachsenden Nashornpopulation zu beruhigen. Dudards Duldsamkeit und vermeintliche Toleranz im Umgang mit seinen Mitmenschen erweisen sich aber in dem längeren Dialog mit Bérenger als bedenkliche Gleichgültigkeit und Beliebigkeit seiner Positionen, so dass ihm Bérenger Schwäche und Blindheit vorwirft. „Je sens, comme ça, que 116

117 118

Siehe beispielhaft weitere Phrasen Botards wie „C’était peut-eˆtre tout simplement une puce écrasée par une souris. On en fait une montagne.“ (RH, II/1, 47) oder „Je lutte contre l’ignorance, où je la trouve. […] Dans les palais, dans les chaumières!“ (RH, II/1, 49). Wenig später spricht Botard auch von einer Mystifikation: „C’est une mystifikation!“ (RH, II/1, 53). E. Ionesco, Notes, a.a.O., S. 122.

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votre tolérance excessive, votre généreuse indulgence… en réalité, croyez-moi, c’est de la faiblesse… de l’aveuglement…“ (RH, III, 95).119 Tatsächlich entdeckt sich Dudards vermeintlich liberale und tolerante Haltung als Unvermögen, Gut und Böse unterscheiden zu können.120 „Dudard: […] A mon avis, il est absurde de s’affoler pour quelques personnes qui ont voulu changer de peau. Ils ne se sentaient pas bien dans la leur. Ils sont bien libres, ça les regarde. Bérenger: Il faut couper le mal à la racine. Dudard: Le mal, le mal! Parole creuse! Peut-on savoir où est le mal, où est le bien? Nous avons des préférences, évidemment.“ (RH, III, 89).

Dudard verkennt die Gefahr und fordert Bérenger auf, den Verwandlungsvorgängen mit Humor zu begegnen (vgl. RH, III, 87).121 Seine Fehleinschätzung der Ereignisse gipfelt in der Aussage, dass es sich doch letztlich nur um wenige Fälle handle, wobei die Rhinozeritis womöglich nur Außenseiter und Sonderlinge befalle, zu denen er fälschlicherweise auch Bérengers Freund Jean zählt. Dudards generelle Abwertung des Originellen und Besonderen sowie seine Wertschätzung des Durchschnitts entlarven ihn selbst als mittelmäßigen Menschen. „Dudard: Oh, n’y pensez plus. Vraiment, vous attachez trop d’importance a` la chose. L’example de Jean n’est pas symptomatique, n’est pas repre´sentatif, vous avez dit vous-meˆme que Jean e´tait orgueilleux. A mon avis, excusez-moi de dire du mal de votre ami, c’e´tait un excité, un peu sauvage, un excentrique, on ne prend pas en considération les originaux. C’est la moyenne qui compte.“ (RH, III, 84).

Im weiteren Verlauf des Gesprächs mit Bérenger zeigt sich anschaulich Dudards zunehmende Infizierung mit dem „Nashornvirus“. Zwar wolle er nicht Partei für die Tiere ergreifen, doch beginne er, sich an diese zu gewöhnen. „Dudard: Moi aussi, j’ai été surpris, comme vous. Je ne le suis plus. Je commence déjà à m’habituer. […] Dudard, l’interrompant: Je ne dis certainement pas que c’est un bien. Et ne croyez 122 pas que je prenne parti à fond pour les rhinocéros…“ (RH, III, 88). 119 120 121 122

Bereits zuvor hatte Bérenger Dudard vorgeworfen, zu tolerant zu sein (vgl. RH, III, 93). Vgl. auch W. Leiner, a.a.O., S. 348. So wertet er die Verwandlungsvorgänge auch als Launen der Natur, als Spiel. „Des curiosite´s de la nature, des bizarreries, des extravagances, un jeu, qui sait?“ (RH, III, 84). Daisy stellt etwas später fest, dass sich die gesamte Bevölkerung der Provinzstadt bereits an die Tiere gewöhnt habe. „On s’y habitue, vous savez. Plus personne ne s’e´tonne des tropeaux de rhinocéros parcourant les rues à toute allure. Les gens s’e´cartent sur leur passage, puis reprennent leur promenade, vaquent à leurs affaires, comme si de rien n’était.“ (RH, III, 101).

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Dudards Aussagen zeigen Parallelen zu Ionescos Tagebuchaufzeichnungen, in denen er die schleichende Vereinnahmung von Freunden und Bekannten durch die totalitäre Ideologie des Nationalsozialismus schildert. Die beginnende Fanatisierung deutet sich für Ionesco bereits in der punktuellen Relativierung der vormals uneingeschränkten Ablehnung an. „Je bavardais avec S. On bavardait tranquillement. Puis, nous parlons politique. Evidemment, il est anti-nazi et anti-Garde de fer. Il dit pourtant: ‚Les Gardes de fer n’ont pas raison. Ils n’ont pas raison sur tous les points. Cependant, il faut bien admettre, vous savez que je ne suis pas antisémite, il faut bien admettre que les Juifs, qu’eux aussi…, etc. Vous savez que je suis contre les Gardes de fer. Toutefois, il y a chez eux une exigence morale et spirituelle qui…‘ Je me dresse, effrayé. C’est ainsi qu’ils commencent tous. Ils admettent certaines choses, en toute objectivité. Il faut bien discuter raisonnablement et objectivement. En réalité ils cèdent, sans s’en rendre compte un peu sur la droite, un peu sur la gauche. Ils font des concessions. […] 123 Si on admet un seul de leurs postulats, on finit par les admettre tous.“

Dudards zunehmende Annäherung an die „Partei“ der Nashörner wird zudem an einigen Formulierungen deutlich, die an Botard sowie den Logiker erinnern. So lässt Dudards Aufforderung, Bérenger solle die Begrifflichkeit des Abnormen erst definieren, bevor er sie auf die Nashörner anwende, an Botard denken. „Dudard: […] Je me dis aussi qu’il n’y a pas de vices véritables dans ce qui est naturel. Malheur à celui qui voit le vice partout. C’est le propre des inquisiteurs. Bérenger: Vous trouvez, vous, que c’est naturel? Dudard: Quoi de plus naturel qu’un rhinocéros? Bérenger: Oui, mais un homme qui devient rhinocéros, c’est indiscutablement anormal. […] Dudard: Vous me semble bien suˆr de vous. Peut-on savoir où s’arreˆte le normal, o ù commence l’anormal? Vous pouvez définir ces notions, vous, normalité, anormalité? Philosophiquement et me´dicalement, personne n’a pu résoudre le problème. 124 Vous devriez eˆtre au courant de la question.“ (RH, III, 93).

Dudards Anerkennung der vermeintlich natürlichen Nashörner ist die Ablehnung des Menschen als Abnormität bereits inhärent. So will er letztlich auch die Überlegenheit des Nashorns gegenüber dem Menschen nicht mehr ausschließen. 123

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E. Ionesco, présent passé, a.a.O., S. 116f. Siehe auch Dudards Formulierung, als er Bérengers kategorische Verurteilung der Nashörner zurückweist. „Je vous répe`te que je n’approuve pas non plus les rhinocéros, non, pas du tout, ne pensez pas cela. Seulement,…“ (RH, III, 92). An den Logiker erinnern beispielsweise Dudards nichts sagende Ausführungen über die Beziehung von Theorie und Praxis sowie seine relativierende Antwort auf Bérengers Frage, ob die Nashörner nun „theoretisch“ oder „praktisch“ zu betrachten seien. „L’un et l’autre ou l’un ou l’autre. C’est à de´battre!“ (RH, III, 94).

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„Bérenger, à Dudard: L’homme est supe´rieur au rhinocéros! Dudard: Je ne dis pas le contraire. Je ne vous approuve pas non plus. Je ne sais pas, c’est l’expérience qui le prouve.“ (RH, III, 103).

Ebenso wie Dudard Botards Verwandlung mit dessen Obrigkeitshörigkeit und Wunsch, sich einer großen Gemeinschaft anzuschließen, erklärt (vgl. RH, III, 99), rechtfertigt er schließlich sein eigenes Überwechseln zu den Nashörnern mit seinem Pflichtgefühl gegenüber Vorgesetzten und Freunden sowie der Aussicht, in einen universellen Familienverbund aufgenommen zu werden (vgl. R H , III, 103).125 Fälschlicherweise ist er der Meinung, er könne sich als Teil der uniformen Nashornmasse, trotz seiner Anpassung an die tierische Daseinsform und deren Präsentismus sowie Fehlens eines reflektierenden Bewusstseins, sein vermeintlich differenziertes Denkvermögen bewahren und die weitere Entwicklung kritisch beurteilen. „Je conserverai ma lucidité. […] Toute ma lucidite´. S’il y a à critiquer, il vaut mieux critiquer du dedans que du dehors.“ (RH, III, 103). Dudards obige Argumentation in gewisser Weise fortführend, bezeichnet schließlich die junge Verlagssekretärin Daisy den Menschen explizit als Abnormität. „Après tout, c’est peut-eˆtre nous qui avons besoin d’eˆtre sauvés. C’est nous, peut-eˆtre, les anormaux.“ (RH, III, 112). Zum einen ist es die scheinbar fröhliche Gemeinschaft der Nashörner, die Daisy überzeugt. „C’est ça les gens. Ils ont l’air gais. Ils se sentent bien dans leur peau. Ils n’ont pas l’air d’eˆtre fous. Ils sont très naturels. Ils ont eu des raisons.“ (RH, III, 113). Zum anderen ist es vor allem die Kraft, Stärke und Energie der Tiere, die Daisy bewundert. „… l’ardeur, l’énergie extraordinaire que dégagent tous ces eˆtres qui nous entourent.“ (RH, III, 113). Daisys Ansteckung zieht eine verzerrte Wahrnehmung nach sich, denn das Schnauben und die Bewegungen der Nashörner interpretiert sie als Gesang und Tanz gottgleicher Wesen. „Bérenger: Ils barrissent, je te dis. Daisy: Tu es fou. Ils chantent. Bérenger: Tu n’as pas l’oreille musicale, alors! Daisy: Tu n’y connais rien en musique, mon pauvre ami, et puis regarde, ils jouent, ils dansent. Bérenger: Tu appelles ça de la danse? Daisy: C’est leur façon. Ils sont beaux. […] Daisy: Ce sont des dieux.“ (RH, III, 114).

Zusammenfassend ist mit Ionesco für die Figuren in Bérengers näherem Umfeld eine entpersönlichte Leere und Hohlheit zu konstatieren, die zur Folge hat, dass sich ihre Wirklichkeitsbewältigung in einer beständigen Anpassung an die herr125

Ähnliche Beweggründe führt auch Mme. Boeuf an, die ihren Mann nicht im Stich lassen will (vgl. RH, II/1, 59f.).

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schende Ordnung und einem Reproduzieren gängiger Schlagworte und Parolen erschöpft. „On s’apercevra certainement que les répliques de Botard, de Jean, de Dudard ne sont que les formules clefs, les slogans des dogmes divers cachant, sous le masque 126 de la froideur objective, les impulsions les plus irrationelles et véhémentes.“

Bérenger ist dagegen zunächst als gesellschaftlicher Außenseiter gekennzeichnet. Sein äußeres Erscheinungsbild drückt vor allem Nachlässigkeit aus. Er ist weder rasiert noch gekämmt, seine Kleidung zerknittert (vgl. RH, I, 10). Nur mit Mühe vermag Bérenger den Anforderungen des Alltags und der Gesellschaft gerecht zu werden. Seine Arbeit als Verlagsangestellter ermüdet, das Leben in der Provinzstadt langweilt ihn (vgl. RH, I, 12). Gleichzeitig beschweren ihn unbestimmte Ängste. Sich selbst fremd, empfindet er sein Leben sowie seine Person vornehmlich als Last. Er ist erschöpft. „Bérenger: […] Des angoisses difficiles à définir. Je me sens mal à l’aise dans l’existence, parmi les gens, alors je prends un verre. […] Jean: Vous vous oubliez! Bérenger: Je suis fatigué, depuis des années fatigué. J’ai du mal à porter le poids de mon propre corps… […] Bérenger, continuant: Je sens a` chaque instant mon corps, comme s’il était de plomb, ou comme si je portais un autre homme sur le dos. Je ne me suis pas habitué à moi-meˆme. Je ne sais pas si je suis moi.“ (RH, I, 23).

Zwar empfindet Bérenger seine Einsamkeit als quälend, fühlt sich aber ebenso in Gesellschaft unwohl. „La solitude me pèse. La socie´té aussi.“ (RH, I, 24). Bereits das Wahrnehmen seiner Ängste und Fremdheitserfahrungen sowie sein Versuch, diese zu artikulieren, weisen Bérenger im Vergleich zu den übrigen Figuren als deutlich individualisierteren Charakter aus.127 Hinzu kommt, dass Bérenger mit fortschreitender Handlung eine gewisse Entwicklung durchläuft. Als das erste Nashorn über den Marktplatz stürmt, bleibt er im Gegensatz zu den anderen Figuren, die das Tier aufgeregt beobachten, zunächst apathisch (vgl. RH, I, 14 u. 15). Sowohl Jeans Verwandlung als auch das stetige Anwachsen der uniformen Nashornmasse reißen Bérenger allerdings aus seinem lethargischen Zustand. Er reagiert zunehmend beunruhigt und betroffen.

126 127

E. Ionesco, Notes, a.a.O., S. 177. Dementsprechend schreibt Ionesco seiner Figur des Bérenger auch das Potential zu, sich „gegen die Zeit zu halten“. „Toutefois, Be´renger est, j’espère, surtout un personnage. Et s’il re´siste au temps c’est parce qu’il aura e´té un personnage…“ E. Ionesco, Notes, a.a.O., S. 97. Ebenso nennt er Bérenger einen Einzelgänger und Individualisten („un personnage individualiste et solitaire“). Vgl. ebd., S. 184.

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„Bérenger, sursautant: Les [rhinocéros; Anm. M. M.] voilá encore. […] Ah non, rien à faire, moi je ne peux pas m’y habituer. J’ai tort peut-eˆtre. Ils me préoccupent tellement malgré moi que cela m’empeˆche de dormir. J’ai des insomnies.“ (RH, III, 128 88).

Bérenger begründet sein Entsetzen und seinen Widerstand mit einem unbestimmten Gefühl und steht somit in deutlicher Opposition zu den Figuren, die sich auf ihre vermeintliche Intellektualität berufen.129 „Bérenger: […] Je ne suis pas calé en philosophie. Je n’ai pas fait d’études; vous, vous avez des diploˆmes. Voilà pourquoi vous eˆtes plus à l’aise dans la discussion, moi, je ne sais quoi vous répondre, je suis maladroit. […] Mais je sens, moi, que vous eˆtes dans votre tort… je le sens instinctivement, ou plutoˆt non, c’est le rhinocéros qui a de l’instinct, je le sens intuitivement, voilà le mot, intuitivement.“ (RH, III, 94f.).

Er reagiert intuitiv, während Jean und Botard die Situation „aufklären“ und sich an politische Instanzen wenden wollen (vgl. RH, I, 19 u. II/1, 64), oder der Logiker und Dudard grundsätzlich die Überzeugung vertreten, alles sei logisch und rational erklärbar (vgl. RH, I, 26 bzw. III, 84). So kritisierte Ionesco auch eine Aufführung seiner Nashörner in New York, die Bérenger als Intellektuellen zeigte, obgleich er ihn als unentschiedenen Helden konzipiert hatte. „Il m’a semblé également que la mise en scène avait fait d’un personnage indécis, héros malgre´ lui, allergique à l’épidémie rhinocérique, de Bérenger, une sorte d’intellectuel lucide, dur, une sorte d’insoumis ou de révolutionnaire sachant bien ce qu’il faisait (le sachant, peut-eˆtre, mais ne voulant pas nous expliquer les raisons 130 de son attitude).“

Einerseits als gesellschaftlicher Außenseiter gekennzeichnet, verkörpert Bérenger andererseits gerade den einfachen und durchschnittlichen Normalbürger.131 Er ist ein kleiner Angestellter. Seine Wohnung gleicht der seines Freundes Jean (vgl. RH, III, 80), und Bérengers Äußerungen muten ebenso banal und stereotyp an wie 128 129

130 131

Vgl. auch RH, III, 83f. u. 87. Vgl. auch H. Hanstein, a.a.O., S. 103f. Wie Ionesco angibt, sah er sich gerade ob Bérengers gefühlsbestimmter Ablehnung dem Vorwurf ausgesetzt, er klage an, biete aber keine Lösungen: „Certains critiques me reprochent d’avoir de´nonce´ le mal mais de ne pas avoir dit c e qu’e´tait le bien. On m’a reproche´ de ne pas avoir fait dire à Bérenger, au nom de quelle idéologie il re´sistait. On s’imagine que ce reproche est fondamental: pourtant, il est si facile d’adopter un système plus ou moins automatique de pensée.“ E. Ionesco, Notes, a.a.O., S. 187. Ebd., S. 185. So bezeichnet M. Dietrich Bérenger auch als „Jedermann“. Hanstein spricht von einem „citoyen moyen“. Vgl. M. Dietrich, Das moderne Drama. Strömungen – Gestalten – Motive, 3., überarb. u. erw. Aufl., Stuttgart 1974, S. 625 u. 671 und H. Hanstein, a.a.O., S. 97.

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die seiner Umwelt, wenn er dem sich verwandelnden Jean nur einzelne Schlagwörter wie „Humanismus“, „Zivilisation“ oder „Moral“ entgegenzuhalten vermag (vgl. RH, II/2, 75f.). Nicht zuletzt muss auch Bérengers Einschätzung der Figuren in seinem Umfeld als problematisch bewertet werden. Den eitlen und oberflächlichen Jean, der ihn beständig kritisiert, bezeichnet er als Freund („mon ami Jean“; RH, II/1, 51). Der von sich selbst überzeugte Logiker gilt ihm als überaus gebildeter Intellektueller („un intellectuel subtil, érudit“; RH, III, 95), als außerordentliche Persönlichkeit („une personnalité distinguée“; RH, III, 96), und der rechthaberische Botard ist ein feiner Kerl („un brave homme“; RH, III, 99). Ob seiner Unzulänglichkeiten und seiner Durchschnittlichkeit wird deutlich, dass Bérengers Abwehrhaltung und Immunität gegen die Rhinozeritis nicht aus einem überlegenen Verständnis der Lage oder einer festen Überzeugung resultieren. Es ist vielmehr, wie Ionesco dies auch am Beispiel seines Schriftstellerkollegen de Rougemont beschreibt, die Persönlichkeit Bérengers und sein teils ängstliches sowie zweifelndes Sosein, die ihn notwendig von der ihn umgebenden Gesellschaft trennen und die er dem um sich greifenden Massenwahn entgegenzusetzen hat.132 „En 1938 l’écrivain Denis de Rougemont se trouvait en Allemagne à Nuremberg au moment d’une manifestation nazie. Il nous raconte qu’il se trouvait au milieu d’une foule compacte attendant l’arrivée de Hitler. […] L’hystérie se re´pandait, avançait, avec Hitler, comme une marée. Le narrateur e´tait d’abord étonne´ par ce délire. Mais lorsque le Führer arriva tout près et que tous les gens, à ses coˆte´s, furent contamine´s par l’hyste´rie ge´ne´rale, Denis de Rougemont sentit, en lui-meˆme, cette rage qui tenait de l’envahir, ce de´lire qui ‚l’électrisait‘. Il était tout preˆt à succomber à cette magie, lorsque quelque chose monta des profondeurs de son eˆtre et résista à l’orage collectif. […] A ce moment-là, ce n’était pas sa pensée qui résistait, ce n’e´tait pas des arguments qui lui venaient à l’esprit mais c’e´tait tout son eˆtre, tout ‚sa personnalite´‘ qui se rebiffait. Là est peut-eˆtre le point de de´part de Rhinoce´ros; il est impossible, sans doute, lorsqu’on est assailli par des arguments, des doctrines, des slogans ‚intellectuels‘, des propagandes de toutes sortes, de donner sur place une explication de ce refus. La pensée discursive viendra, mais vraisemblablement, plus tard, pour appuyer ce refus, cette re´sistance naturelle, inte´rieure, cette re´ponse 133 d’une aˆme.“

132 133

Vgl. auch H. Hanstein, a.a.O., S. 105. Börnemeier bezeichnet Bérenger auch als „Antipodenfigur zum Kollektivmenschen“. Vgl. M. Börnemeier, a.a.O., S. 104. E. Ionesco, Notes, a.a.O., S. 176f. Vgl. hierzu auch E. Ionesco, Antidotes, a.a.O., S. 96 u. 97.

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VI. 4. 2. Die Nashörner Nach der Genese seines Nashornbildes befragt, berichtet Ionesco in einem Interview, dass er während des Entstehungsprozesses der Erzählung und des Theaterstücks in den 1950er Jahren zunächst nach einem bornierten, unaufhaltsam vorwärts stürmenden Tier gesucht habe. Als er im Larousse zufällig auf das Nashorn gestoßen sei, habe er sich an seine Tagebucheinträge aus den 1930er Jahren erinnert. Wie bereits erwähnt, finden sich Nashorn und Verwandlungsmotiv schon in Ionescos damaligen Aufzeichungen als Beschreibungsmuster für einen Vermassungsprozess der rumänischen Gesellschaft angesichts der sich ausbreitenden nationalsozialistischen Ideologie. „Je cherchais un animal terrible, borné, qui fonce droit devant lui. En feuilletant le Larousse, je suis tombe´, par hasard, sur le mot et l’image d’un rhinoce´ros. A dire vrai, ce mot, je venais de le retrouver, car je l’avais employe´ auparavant dans mon 134 Journal intime de Roumanie, des années 30, et je l’avais complètement oublié.“

Merkmalhaft für das äußere Erscheinungsbild des Nashorns sind insbesondere die dicke, panzerartige Haut, die kräftige, massige Gestalt sowie ein Horn oder zwei Hörner. Mit der Panzerung des Tieres lassen sich ganz im Sinne von Büchners Danton Unempfindlichkeit und Dickhäutigkeit sowie eine daraus resultierende Beziehungs- und Kontaktlosigkeit assoziieren. „Wir wissen wenig voneinander. Wir sind Dickhäuter, wir strecken die Hände nacheinander aus, aber es ist vergebliche Mühe, wir reiben nur das grobe Leder anei135 nander ab, – wir sind einsam.“

Auch in Ionescos Theaterstück wird die Bezeichnung „pachyderme“ („Dickhäuter“) unterschiedslos für Tier und Mensch verwendet. Zunächst im Zusammenhang mit dem Auftauchen der Nashörner eingeführt (vgl. RH, II/1, 46), bezeichnet schließlich die Verlagssekretärin Daisy ihren Chef Papillon als Dickhäuter. „Daisy, repoussant la main du Chef de Service: Ne mettez pas sur ma figure votre main rugueuse, espèce de pachyderme!“ (RH, II/1, 58). Eine Vermischung des menschlichen und tierischen Bereichs ist ebenfalls gegeben, wenn eine Diskussion der Figuren über die Ein- beziehungsweise Zweihörnigkeit asiatischer und afrikanischer Nashörner unvermutet in eine Kontroverse über die asiatische Bevölkerung mündet (vgl. RH, I, 35ff.).136 Dass die Hausfrau ihre Katze für sprachbe134 135

136

Ebd., S. 95. G. Büchner, Dantons Tod, a.a.O., S. 9. Es passt zu dieser den Tieren zugeschriebenen Unempfindlichkeit, dass das Nashorn tatsächlich nur wenig hoch entwickelte Sinnesorgane besitzt. Vgl. R. Barth, a.a.O., S. 551. Eine Vermischung von Menschlichem und Tierischem ist ebenfalls gegeben, wenn sich im ersten Akt zwischen den wiederholten Ausrufen „Pauvre petite beˆte!“ die einmalige Formulierung „Pauvre femme!“ findet (vgl. RH, I, 32ff.). Es sei darauf hingewiesen, dass im Fran-

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gabt hält und sie dem Menschen gleichsetzt (vgl. RH, I, 36 u. 37), verweist wie auch die Zeitungsrubrik mit dem Titel „Katzenunfälle“ (vgl. RH, II/1, 46) zudem auf eine überzogene und unverhältnismäßige Wertschätzung des Tierischen. Nicht zuletzt ist sowohl dem Ehepaar Boeuf (Ochs) als auch dem Verlagsleiter Papillon (Schmetterling) ob der Nachnamen ein tierisches Moment zugeschrieben. Während das Bild des Ochsen als „dummer Wiederkäuer“ an das Reproduzieren inhaltsleerer Phrasen und Schlagwörter erinnert, das bereits für die anderen Figuren konstatiert wurde, mag der Nachname Papillons zunächst auf dessen flatterhafte, unbeständige Lebenweise hindeuten. Das fast gleich lautende „papillome“ bezeichnet allerdings eine warzenartige Geschwulst und lässt somit an die lederartige Haut des Nashorns denken. Zudem verbindet sich für Ionesco mit dem Bild des Schmetterlings die Vorstellung einer umgekehrten Metamorphose. Mit fortschreitendem Alter verwandle sich der Mensch aufgrund der zunehmenden Zurückdrängung des Kindlichen vom Schmetterling neuerlich in eine Raupe. „La me´tamorphose inverse: je deviens chenille. Où donc a pu disparaître celui que j’étais, celui que je dois eˆtre encore, l’enfant freˆle, l’eˆtre neuf, et meˆme l’adolescent 137 qui gardait encore quelque chose de son enfance?“

Die wuchtige Gestalt sowie der schnelle Lauf des Nashorns, das, so Barth, „der einmal gewählten Angriffsrichtung treu bleibt und mit niederschmetternder Wucht auf den gewitterten Feind losstürmt“138 , mag zudem auf einen engstirnigen und blindwütigen Menschen verweisen, der in seiner geradezu fanatischen Verfolgung eines Ziels jede Fähigkeit zur Differenzierung verloren hat. Damit korrespondiert, dass das Nashorn ob seines kleinen Gehirns als dummes Tier gilt. Die Beschreibung des Nashorns in einem französischen Tierlehrbuch aus dem 19. Jahrhundert zeigt die umfassend negative Deutung des Tiers, wobei den Autoren fälschlicherweise das vergleichsweise intelligente Schwein als kleinere Ausgabe des dummen Rhinozeros gilt. „Er [!] [das Rhinozeros; Anm. M. M.] ist so ungefähr in großem Maßstab das, was das Schwein im kleinen ist: schroff und roh, ohne Intelligenz, ohne Gefühl und 139 Gelehrigkeit.“

Ionesco selbst wies allerdings auf eine Unstimmigkeit seines Nashornbildes hin. Tatsächlich lebt das Nashorn als „Einzelgänger“, nur selten in kleinen Grup-

137 138 139

zösischen die Formulierung „une bonne/brave beˆte“ einen gutmütigen Dummkopf bezeichnet. Die dem Tier zugeschriebene Dummheit zeigt sich auch im Adjektiv „beˆte“ – „dumm“, „einfältig“ sowie im Substantiv „beˆtise“ – „Dummheit“, „Unsinn“. Vgl. W. v. Wartburg, Französisches etymologisches Wörterbuch, 26 Bde., Bonn 1928ff., Bd. I, S. 341ff. E. Ionesco, pre´sent passé, a.a.O., S. 42. R. Barth, a.a.O., S. 551. R. Schenda, a.a.O., S. 243.

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pen.140 So wundert sich auch Bérenger über das Herdenverhalten der Tiere. „Tout un tropeau de rhinocéros! Et on disait que c’est un animal solitaire! C’est faux, il faut reviser cette conception!“ (RH, II/2, 79). Ionesco merkte dazu an, dass das Bild einer tollwütigen Schaf- oder Hammelherde letztlich wohl passender gewesen wäre. „Mais rhinocéros, à mon avis, n’est pas le mot qu’il faut, parce que le rhinocéros est un animal solitaire. On devrait employer le mot mouton. […] Cependant, le mot mouton ne vas tre`s bien non plus car le mouton est doux. J’aurais duˆ dire ‚mouton féroce‘. Mes rhinoce´ros sont des moutons qui deviennent en141 ragés.“

Bérengers Kennzeichnung der Tiermassen als Nashornarmee („une armée de rhinoce´ros“; RH, II, 79) verweist auf Aggressivität, Gleichschritt sowie eine allein schon äußerlich merkmalhafte Uniformierung, die Bérenger auch zum Ende des dritten Aktes für die Nashornmasse konstatiert. „Ils sont tous pareils, tous pareils.“ (RH, III, 104). Lediglich die Ein- oder Zweihörnigkeit der Tiere ist noch ein Unterscheidungsmerkmal. „Ils ont la rue. Des unicornes, des bicornus, moitié moitié, pas d’autres signes distinctifs!“ (RH, III, 104). Aufschlussreich ist in diesem Zusammenhang auch das in der Singular- und Pluralform gleich lautende „rhinoce´ros“ der Titelgebung ohne Artikel. Zeigte das Gespräch zwischen Bérenger und Dudard vor allem eine zunehmende Infizierung der Gedankenwelt des Juristen mit dem „Nashornvirus“, so wird Bérenger im zweiten Bild des zweiten Aktes Zeuge von Jeans körperlichem Gestaltwechsel. Die Symptome der sich vollziehenden Verwandlung erinnern an eine Grippeerkrankung. Bereits Mme. Boeuf hatte ihren Ehemann im Verlag wegen einer leichten Grippe entschuldigt (vgl. RH, II/1, 55). Jean klagt Bérenger gegenüber zunächst über ein allgemeines Unwohlsein, Fieber und Kopfschmerzen. „Jean, se retournant et s’asseyant sur son lit défait, face à Bérenger: Je ne me sens pas très bien, je ne me sens pas très bien! Bérenger: J’en suis de´solé! Qu’avez-vous donc? Jean: Je ne sais pas trop, un malaise, des malaises… […] Jean: Je ne sais pas. Si, sans doute un peu de fièvre. J’ai mal a` la teˆte.“ (RH, II/2, 68f.).

140 141

Vgl. R. Barth, a.a.O., S. 551f. E. Ionesco, Antidotes, a.a.O., S. 95. Ionesco erwähnt in diesem Zusammenhang eine Stelle in F. Rabelais’ Gargantua et Pantagruel. Panurge wirft einen Hammel ins Meer und alle anderen Hammel folgen diesem, wobei sich der Autor in seiner Beschreibung des „Hammelmäßigen“ auf Aristoteles und dessen Historia animalium beruft. Vgl. F. Rabelais, Gargantua und Pantagruel, Frankfurt/M./Leipzig 1994, S. 535f.

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Ihn schmerzt insbesondere seine Stirn, als habe er sich gestoßen (vgl. RH, II/2, 69). Tatsächlich bemerkt Bérenger eine kleine Beule (vgl. RH, II/2, 70), die sich schließlich zu einem Horn auswächst. „La bosse de son front est presque devenue une corne de rhinocéros.“ (RH, II/2, 77). Jeans dicker werdende Haut nimmt eine grünliche Farbe an. „Bérenger: On dirait… oui, on dirait, qu’elle [la peau; Anm. M. M.] change de couleur a` vue d’oeil. Elle verdit. (Il veut reprendre la main de Jean) Elle durcit aussi.“ 142 (RH, II/2, 71).

Zudem vermag Bérenger seinen Freund aufgrund von dessen zunehmender Heiserkeit kaum mehr zu verstehen. „Jean, […] d’une voix tre`s rauque difficilement compréhensible…“ (RH, II/2, 76).143 Jeans ständiges Husten und Keuchen wird schließlich von einem Schnauben abgelöst (vgl. RH, II/2, 72 u. 73). Gleichzeitig verspürt er eine innere Hitze („J’ai chaud, j’ai chaud.“ RH, II/2, 73f.)144 , die ebenso wie sein geradezu blindwütiges Verlangen, ein nicht näher bestimmtes Ziel anzugreifen, auf eine wachsende Aggressivität und fortschreitende Fanatisierung hinzudeuten scheint. „J’ai un but, moi. Je fonce sur lui.“ (RH, II/2, 73). Korrespondierend mit dem körperlichen Gestaltwechsel zeigen auch Jeans Aussagen seine zunehmende Vertierung an. Er will sich auf Futtersuche begeben („Je doit chercher ma nourriture.“ RH, II/2, 71) und nur von einem Tierarzt untersuchen lassen („Je n’ai confiance que dans les vétérinaires.“ RH, II/2, 71). Zudem zieht es ihn in die Sümpfe („Les marécages! les mare´cages!…“; RH, II/2, 77). Be´renger wirft er vor, dieser betrachte ihn wie ein seltenes Tier. „Qu’avez-vous à m’examiner comme une beˆte curieuse?“ (RH, II/2, 71). Ionesco vergleicht den Vorgang einer psychologischen Massenbildung, ähnlich wie Le Bon, mit dem Umsichgreifen einer ansteckenden Krankheit, einer Epidemie, wobei die Infizierung vor allem eine geistige Mutation zur Folge habe und den Menschen zu einem gleichsam monströsen Wesen werden lasse.145 142

143 144 145

Vgl. zur Veränderung der Haut auch RH, II/2, 73, 74, 75, 77 u. 78. Jeans allmählicher Gestaltwechsel scheint bühnentechnisch zunächst schwer umsetzbar. Ionesco lässt Jean deshalb mehrfach zwischen dem Wohnzimmer und einem für das Publikum nicht einsehbaren Badezimmer wechseln. So ist es möglich, dass sich die Figur mit einer zunehmend grünlicheren Hautfarbe und einem stetig größer werdenden Horn auf der Bühne zeigt. Vgl. beispielhaft RH, II/2, 70 u. 74 sowie Ionesco hierzu in Ch. Bonnefoy, a.a.O., S. 119. Vgl. zu Jeans Heiserkeit ebenfalls RH, II/2, 69, 70, 73, 75 u. 77. Jean kocht innerlich („Ça bouillonne…“; RH, II/2, 68), und seine Adern sind deutlich angeschwollen. („Vos veines ont l’air de se gonfler.“ RH, II/2, 71). Wie Link zeigt, kam das Bild der epidemischen Ansteckung als Massensymbol wesentlich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts auf und ist nicht zuletzt im Zusammenhang mit den Erkenntnissen eines L. Pasteur und R. Koch zu sehen. Die sich überaus schnell vermehrenden Mikroben galten, so Link, als kollektive Leitsymbole für die „exponentiellen“ Wachstumstendenzen der Moderne. Vgl. J. Link, Tendenz Denormalisierung oder Tendenz Normalität? Zur Massensymbolik im 19. Jahrhundert, in: M. Gamper/P. Schnyder (Hgg.), a.a.O., S. 167f.

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Ausgedrückt findet sich das pathologische Moment des Vermassungsprozesses auch in den von Ionesco gewählten Begriffen des „fieberhaften Fanatismus“ („un fanatisme de´lirant“) oder der „Volkshysterie“ („une hyste´rie populaire“)146 . „Je me suis souvenu d’avoir été très frappé au cours de ma vie par ce qu’on pourrait appeler le courant d’opinion, par son évolution rapide, sa force de contagion qui est celle d’une véritable épidémie. Les gens tout à coup se laissent envahir par une religion nouvelle, une doctrine, un fanatisme […] On assiste alors à une ve´ritable mutation mentale. Je ne sais pas si vous l’avez remarqué, mais lorsque les gens ne partagent plus votre opinion, lorsqu’on ne peut plus s’entendre avec eux, on a l’impression de s’adresser à des monstres… – A des rhinoce´ros? – Par example. Ils en ont la cadeur et la férocité meˆlées. Ils vous tueraint en toute 147 bonne conscience si vous ne pensiez pas comme eux.“

So fürchtet auch Bérenger, sich mit dem epidemischen Virus der Rhinozeritis zu infizieren („… j’ai peur de la contagion.“ RH, III, 84), und konstatiert schließlich angesichts der umfänglichen Nashornwerdung der Provinzstadtbewohner den pathologischen Zustand der Gesellschaft. „Ils sont tous devenus fous. Le monde est malade. Ils sont tous malades.“ (RH, III, 111).148 Eingefangen findet sich auch Ionescos obige Kennzeichnung der Nashörner als zugleich treuherzige und grausame Ungeheuer. Dudard bezeichnet sie als große Kinder („Ils jouent! De grands enfants!“ RH, III, 97) und schreibt ihnen eine naive Unschuld zu. „Dudard: Ils ne vous attaquent pas. Si on les laisse tranquilles, ils vous ignorent. Dans le fond, ils ne sont pas me´chants. Il y a meˆme chez eux une certaine innocence naturelle, oui; de la candeur.“ (RH, III, 87).

Der grausam-zerstörerische Aspekt zeigt sich in der Verwüstung der Stadt (vgl. RH, II/2, 79; III, 100 u. 101) und wird offensichtlich, wenn Jean nur noch Ekel und Abscheu für den Menschen empfindet und diesem letztlich mit Vernichtung droht. „A vrai dire, je ne déteste pas les hommes, ils me sont indifférents, ou bien ils me dégouˆtent, mais qu’ils ne se mettent pas en travers de ma route, je les e´craserais.“ (RH, II/2, 72). 146 147 148

E. Ionesco, Notes, a.a.O., S. 129. Daneben spricht Ionesco von einer „Kollektivwut“ („une rage collective“). Ebd., S. 182. Bereits Dudard gab zu bedenken, dass es sich bei den Nashornwerdungen um eine Krankheit und Epidemie handeln könnte (vgl. RH, III, 84). Zu Beginn des Theaterstücks war zudem von einer Epidemie die Rede. Der städtische Zoo musste geschlossen werden, da die Tiere der Pest zum Opfer gefallen waren (vgl. R H , I, 20). Im Zusammenhang mit Ionescos Kennzeichnung der psychologischen Massenbildung als um sich greifende Epidemie sei abermals auf Mandel’sˇtam verwiesen, der Stalin auch als „Pesthauch-Präsidenten“ („E∆to cˇumnyj predsedatel’…“) bezeichnet. Vgl O. E∆. Mandel’sˇtam, Fae˙tonsˇcˇik, in: Ders., Mitternacht in Moskau, a.a.O., S. 92.

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Charakterisierte Ionesco einerseits die fanatisierten Nashörner als monströs, so zeigt er in seinem Theaterstück doch andererseits, dass der uniformen Masse jeder Außenstehende als ungeheuerliche und bedrohliche Normabweichung gilt. So sieht auch Bérenger seine menschliche Gestalt als hässliche Abnormität („… je suis un monstre,…“; RH, III, 117), und Ionesco selbst bezeichnete sich angesichts der „faschistischen Nashörner“ Rumäniens nicht nur als „letzten Menschen“, sondern ebenfalls als Monstrosität. „En fait, étant comme le dernier homme dans cette île monstrueuse, je ne représente plus rien, sauf une anomalie, un monstre.“149 Im Hinblick auf die Außenseiterposition des Einzelnen angesichts der uniformen Nashornmasse gilt es allerdings zu bedenken, dass es letztlich allein der Mensch ist, der für das Nashorn, das in der Tierwelt kaum natürliche Feinde besitzt, die größte Bedrohung darstellt.150

VI. 5. Felix Mitterers Das Fest der Krokodile VI. 5. 1. Figurenkonzeption Korrespondierend mit Mitterers Anliegen, fragwürdige kollektive Vorstellungsmuster und deren manipulative Instrumentalisierung durch politische Führer zu entlarven, repräsentiert das Personal seines Stücks vor allem einen gesellschaftlichen Mikrokosmos. Die für den Einakter charakteristische Dominanz der Situation sowie der Verzicht auf eine tatsächliche Handlungsentwicklung bedingen zum einen eine reduzierte, auf bestimmte Eigenschaften begrenzte Figurenzeichnung, die von der Komplexität des Individuellen abstrahiert. Analog zur äußeren Gefängnissituation bleiben die Figuren weitgehend in angestammten und gewohnten Verhaltensweisen gefangen.151 Zum anderen ist für Mitterers Figuren im Anschluss an Schnetz aber eine widersprüchliche „Zwiegesichtigkeit“ und „janusköpfige Doppelgestalt“ zu konstatieren, welche die typisierende Eigenschaftszuschreibung fragwürdig erscheinen lassen, denn hinter der vermeintlichen Harmlosigkeit typenhafter Durchschnittlichkeit verbergen sich tiefsitzende Unmenschlichkeit und ungezügelte Brutalität, die jederzeit hervorbrechen können.152 Die Kleidung – Frack, Hemd, Fliege und Zylinder (vgl. FK, 168) – weist Hubertus als Vertreter einer höheren, einflussreichen und vermögenden Gesell149 150

151 152

E. Ionesco, présent passé, a.a.O., S. 164. Dieser „Ebenbürtigkeit“ von Mensch und Nashorn mag es geschuldet sein, dass Chlebnikov in einem Vierzeiler gleichmütig feststellt, dass sich letztlich Mensch und Nashorn in der Weltherrschaft abwechselten. „Zakon kaçelej velit/Imet´ obuv´ to ‚irokuü, to uzkuü./Vremeni to noç´ü, to dnem,/A vladykam zemli byt´ to nosorogu, to çeloveku.“ V. V. Chlebnikov, Zakon kacˇelej velit, in: Ders., Sobranie socˇinenij, a.a.O., Bd. I, 2, S. 94. Vgl. allgemein zur typisierenden Figurenzeichnung des Einakters D. Schnetz, a.a.O., S. 89ff. sowie Y. Pazarkaya, a.a.O., S. 216ff. und R. Halbritter, a.a.O., S. 60ff., 131ff. u. 183ff. Vgl. D. Schnetz, a.a.O., S. 98 u. 103.

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schaftsschicht aus. Allerdings ist Hubertus nur äußerlich ein Herr aus besseren Kreisen. Zwar behauptet er von sich, ein sowohl feingeistiger als auch ziviler Mensch zu sein, dem Gewalt und Befehle zutiefst wesensfremd seien. Von seinen Soldaten fordert er aber fanatisch den bedingungslosen Kampf bis zum letzten Mann. „Andreas: Herr Hubertus! Ich staune! Ich dachte, Sie sind auch Zivilist! Hubertus: Bin ich auch! Ein zutiefst ziviler Mensch bin ich! Ein Dichter, ein Poet! Nur die Zeiten haben mich zum Militär gemacht.“ (FK, 179). „Hubertus: Muß man andere Saiten aufziehen. So ungern ich das tu. Liegt mir gar nicht. Ist mir wesensfremd. (Schreit Stephan an:) […] Das ist der Endkampf, den stehen wir durch, und wenn wir alle dabei draufgehen, Mann! Solange noch eine 153 Kugel im Lauf ist, wird geschossen!“ (FK, 188).

Die groteske Monstrosität der Figur zeigt sich, wenn er einerseits die Soldaten seiner Armee zu Abschaum und bloßem Material degradiert. „Die reagieren ja nur auf Befehle, wenn überhaupt. Abschaum! Nur zum Verheizen geeignet.“ (FK, 191).154 Andererseits aber Tini zur Verwendung von Weichspüler anhält, weil er kratzende Unterwäsche nicht erträgt (vgl. FK, 184).155 Tini ist dagegen eine einfache Bäuerin (vgl. FK, 169) und wird gleich zu Beginn als „Muttertyp“ (FK, 169) vorgestellt. Sowohl ihr Mann als auch ihre sechs Söhne sind bereits gefallen. „Ich hab dir alle meine Kinder geopfert! Und meinen Mann!“ (FK, 186). Während Tini an ehemalige Mutterkreuzträgerinnen denken lässt, die dem „Führer“ bereitwillig ihre Söhne „schenkten“, steht Eva repräsentativ für eine Vielzahl junger Frauen, die angesichts schneidig wirkender Uniformträger in Begeisterung geraten. Ihre Zuneigung gilt gerade nicht einem einzelnen jungen Mann, sondern tatsächlich nur der uniformierten Masse. „Ihr habt so toll ausgesehen, wie ihr in den Krieg gezogen seid. Ich habe mich in euch alle verliebt.“ (FK, 193). Zeigte sich Tini bereits Eva gegenüber als wenig fürsorglich und mütterlich (s. S. 168), so schickt sie Andreas ohne Warnung vor den gegnerischen Scharfschützen zum Wasserholen und nimmt seinen Tod somit billigend in Kauf (vgl. F K , 172f.). Zudem entdeckt sich die angebliche Zivi153

154

155

Siehe hierzu auch FK, 183: „Hubertus: Ich will keine Friedensverhandlungen! Ich will doch keine Friedensverhandlungen! Ich will den Sieg! Den Endsieg! (Schreit:) Ich will die totale Kapitulation des Feindes! (Leise, deutet zu Boden:) Hier, hier vor mir soll er liegen, der Feind! Auf den Knien!“ Siehe hierzu auch FK, 186: „Hubertus: […] (Zu Stephan:) Schlappschwanz! (Zu Andreas:) Natürlich verlieren wir den Krieg mit solchen Schlappschwänzen! Wie ein Weib benimmt e r sich, wie ein verdammtes Weib! (Brüllt:) Aufstehen! Stillgestanden! Haltung!“ Die Erschießung des fliehenden Andreas durch die gegnerische Kriegspartei kommentiert Hubertus mit dem freudigen Hinweise auf die Materialersparnis (vgl. FK, 199). Vgl. zur Entlarvung einer latenten Unmenschlichkeit des Menschen mittels grotesker Verzerrung in der Komödie des 20. Jahrhunderts auch U. Profitlich (Hg.), a.a.O., S. 233.

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lisierung des Menschen letztlich als bloßes Oberflächenphänomen, wenn Tini diese allein mit dem Tragen sauberer Wäsche identifiziert. „Saubere Wäsche ist wichtig, Herr Hubertus! Wir sind ja keine Wilden!“ (FK, 184). Eva ist zum einen wiederholt Opfer eines angestammten „kriegsnotwendigen“ Maßnahmenkatalogs. Zum anderen ist doch gerade ihre einseitige Fixierung auf Äußerlichkeiten Ausdruck einer defizitären Verfasstheit. Zwar schätzt sie die gut aussehenden Uniformträger als Begleiter. Mit dem Schicksal dieser jungen Männer will sie aber nicht behelligt werden. Ihre Sorge gilt allein ihrem Aussehen und ihrer Garderobe für den abendlichen Regimentsball. „Eva: Schaun Sie sich das an, Herr Hubertus, schaun Sie sich meine Knöchel an. Damit soll ich heute auf den Regimentsball gehen! Mit blutigen Knöcheln auf den Regimentsball! Das ist doch peinlich. Was denken sich die Leute! (Weint fast.) Nicht 156 einmal eine blickdichte Strumpfhose habe ich mehr!“ (FK, 170).

Die kriegerische Wirklichkeit mit Tod und Gewalt blendet Eva aus, indem sie sich in eine Scheinwelt von rosa Flamingos, Blumen und Tanzvergnügen flüchtet. „Tini: Fräulein Eva, das müssen Sie sich anschauen! Eva: Rosa Wolken von Flamingos, Frau Tini? Tini: Wolken schon, aber nicht gerade rosa. Eher dunkelrot, eher schwarz. Blut, Fräulein Eva, Blut! Eva: Oh! Blut… (Will nichts davon wissen, streichelt ihre Blume.)“ (FK, 195).

Stephan, in Uniform sowie mit Messer, Handgranaten und Schnellfeuergewehr (vgl. FK, 176), ist der Vertreter des einfachen Soldaten, der seinem Befehlshaber in blindem Gehorsam folgt und ergeben ist. „Hubertus: Präsentiert das Gewehr! Stephan präsentiert. Hubertus geht zu ihm, starrt ihm – Nasenspitze an Nasenspitze – in die Augen. Hubertus: Wirst du meinen Befehlen gehorchen, Soldat? Stephan: Jawohl, Sir, Herr General! Hubertus: Du wirst tapfer gegen den Feind kämpfen? Stephan: Jawohl, Sir! Hubertus: Du wirst gnadenlos sein? Stephan: Jawohl, Sir! Hubertus: Absolut gnadenlos? Stephan: Jawohl, Sir, absolut gnadenlos!

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Vgl. zu Evas Sorge um ihre Attraktivität auch FK, 181. Von ihrem ursprünglichen Begleiter für den abendlichen Regimentsball wechselt sie zunächst zu dem „schmuckeren“ Andreas (vgl. FK, 172), um schließlich Stephan zu bitten, mit ihr auf den Ball zu gehen (vgl. FK, 181).

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Hubertus: Was heißt das? Stephan: (brüllt) Keine Gefangenen! Keine Gefangenen! Hubertus: Gut. Gut, Soldat.“ (FK, 188f.).

Gleichzeitig begreift Stephan die kriegerische Auseinandersetzung aber als vermeintlich legitime Möglichkeit, seine persönlichen, zu Friedenszeiten sanktionierten Gewaltphantasien auszuleben. Auch hier erweist sich die Zivilisierung des Menschen als nur dünne und wenig tragfähige Schicht, unter der sich eine nach wie vor ungezügelte Brutalität verbirgt. „Stephan: […] Und alles ist erlaubt. Alles. Wofür man bestraft wird im Frieden, hier wird es belohnt. Einmal – ich war sechzehn – machte ich mit meinen Eltern eine Bergtour. In den südlichen Alpen. Weit oben, ganz weit oben hielten wir an und rasteten. Ich blickte hinunter ins Tal, zur Autobahn. Die Autos waren ganz winzig, wie Spielzeug. Und ich stellte mir vor, ich hätte eine Kanone und würde hinunterschießen auf die Autobahn, auf die winzigen Fahrzeuge. Diese Vorstellung begeisterte mich. Kannst du das verstehen? […] Stephan: Ich habe es gemacht. Gleich nach Kriegsbeginn. Von genau derselben Stelle aus. Es war noch toller, als ich es mir vorgestellt hatte. Noch viel toller. Ich hörte erst auf zu schießen, als die Munition ausging.“ (FK, 193).

Stephan wird zwar die Grausamkeit des Krieges und seines eigenen Handelns kurzzeitig bewusst. Er ist verzweifelt und angeekelt angesichts des nicht enden wollenden Tötens und Blutvergießens, das ihn in seinen Augen zum Monster hat werden lassen. „Stephan: Ja, ich weiß. Jetzt bin ich ein Ungeheuer. Ein Unhold. Ein Monster. Ich fühle mich so schmutzig. Alles voller Blut. (Er schaut seine Hände an.) Alles voller 157 Blut. (Er wischt seine Hände langsam an der Brust ab.)“ (FK, 194).

Seine Einsicht zieht aber kein verändertes Verhalten nach sich. Als Hubertus anordnet, zunächst Andreas und wenig später Eva zu erschießen, zeigt sich Stephan neuerlich als williger Befehlsempfänger, obwohl Hubertus keinerlei Möglichkeiten hat, eine Befehlsverweigerung tatsächlich zu sanktionieren (vgl. FK, 198 u. 201). Die Figur des Sportlers und Olympiateilnehmers Andreas verweist zunächst auf Fairness und Völkerfreundschaft. „Na ja, schon ein Patriot, auf jeden Fall.

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Siehe hierzu auch FK, 193f.: „Stephan: […] Dreck und Blut. Dreck und Blut. Rauchende Ruinen. Bei meinem letzten Urlaub – es ist lange her – war ich daheim. Aber ich fand das Haus nicht mehr, in dem wir gewohnt hatten. Fand meine Eltern nicht mehr, meine Geschwister. […] Meine Freunde fehlten mir. Ja, sie fehlten mir. Alle meine Freunde sind tot, alle aus meinem Viertel sind tot. Ich habe das Gefühl, ich bin der einzige, der übriggeblieben ist.“

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Aber als Sportler sozusagen der Völkerfreundschaft verpflichtet, irgendwie, nicht?“ (FK, 196). Andreas’ Bekenntnis zu Neutralität und Völkerfreundschaft ist allerdings nicht mehr als eine leere Floskel, denn tatsächlich ist er, seiner körperlichen Flinkheit entsprechend, ein überaus wendiger Mitläufer, der nur auf seinen Vorteil bedacht ist und sich letztlich jedem politischen System anzupassen vermag. Während er Stephan einerseits wiederholt zu einem Fluchtversuch überreden und sowohl Hubertus als auch Tini und Eva in der Ruine zurücklassen will, preist er andererseits die Führerqualitäten und die Autorität des Präsidenten Hubertus. „Andreas: (leise zu Stephan) […] Die sind doch alle nur eine Belastung! Das schaffen wir nie mit denen. Und der Präsident, der soll nur selber auslöffeln, was er uns eingebrockt hat!“ (FK, 190). „Andreas: Ich hatte mal einen Trainer, […] der war wie Sie, genau wie Sie, Herr Präsident! Diese Autorität, diese Führerqualität, diese (überlegt) imposante Mannhaftigkeit! Durch dick und dünn sind wir für den gegangen!“ (FK, 190f.).

Der gegnerischen Kriegspartei dient er sich als hoffnungsvoller Olympiateilnehmer an (vgl. FK, 199) und denunziert Eva, um seine eigene Haut zu retten (vgl. FK, 198). Die kriegerische Auseinandersetzung begreift er vornehmlich als Spiel, anspruchsvolles Training sowie – verbunden mit seiner Wahrnehmung der Wirklichkeit durch eine Kamera (vgl. FK, 180, 182, 186) – als Szenario für einen spannenden Action- und Abenteuerfilm. „Andreas: Na, hören Sie, das war noch harmlos! Bin ja doch schon längere Zeit unterwegs. – Nein, gestern, sage ich Ihnen! Da hat mich den ganzen Tag ein Tiefflieger verfolgt, na, der war vielleicht hartnäckig. Dauernd hat er seine Raketen auf mich abgeschossen. Aber für einen Dreispringer muß der früher aufstehen. Ich bin in Top-Form. In der Dämmerung ist er dann gegen eine Bergflanke gedonnert. Das war ein Feuerwerk!“ (FK, 173).

So erinnert die Figur des Andreas nicht zuletzte an Ortega y Gassets Beschreibung des „zufriedenen jungen Herren“, der keinerlei Verpflichtungen eingeht und dessen Handlungen letztlich nur vom Lustprinzip bestimmt sind.158 Angesichts der zwiegesichtigen Doppelgestalt, des unverbundenen Nebeneinanders widersprüchlicher Eigenschaften sowie des mangelnden Bewusstseins, Reflexionsvermögens und Verständnisses der Figuren für die Situation bei gleichzeitigem Zurückweisen individueller Verantwortlichkeit wird die Vorstellung einer einheitlichen Persönlichkeit generell in Frage gestellt. Damit verbun-

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Vgl. J. Ortega y Gasset, a.a.O., S. 74f. Zutreffend ist auch die nach Ortega y Gasset für den Massenmenschen typische „Neigung, Spiel und Sport zur Hauptaufgabe zu machen; die Lust am eigenen Leib…“ Ebd., S. 73.

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den kann in Mitterers Theaterstück auch die Identität der Figuren nur unzureichend geklärt werden.159 Die verwandtschaftliche Beziehung zwischen Stephan und Tini beziehungsweise Eva bleibt ebenso fragwürdig wie die Identität des angeblichen Sportlers, aber möglichen Spions Andreas (vgl. FK, 197). Nur zu offensichtlich wird der Verlust einer konsistenten Ich-Größe in Bezug auf die angebliche Doppelgängerfunktion des Präsidenten Hubertus. Die Figur ist letztlich nur ein Serienerzeugnis ohne Identität. „Hubertus: Was wollt ihr von mir? Ich bin es nicht! Ich bin es doch gar nicht! Ich bin doch gar nicht der Präsident! Ich habe nichts damit zu tun! Ich bin auch nur 160 ein Doppelgänger!“ (FK, 204).

Fragwürdig gewordene Identität und Ich-Verlust führen notwendig zu einer Fremdheit der Figuren sich selbst und den anderen gegenüber, die sich nicht zuletzt in der Sie-Form der Anrede ausspricht. Ob der umfänglichen Beziehungsund Kontaktlosigkeit prägen vornehmlich entpersönlichte, kollektiv-bestimmte Verhaltensmuster, automatisierte Denkschablonen und stereotype Aussagen das zwischenmenschliche Miteinander.161 Es ist letztlich allein die Figur der Tini, die zumindest in Bezug auf ihr ungeborenes Kind ihre persönlichen Erfahrungen in veränderndes Bewusstsein umsetzt. Sie vermag sich vom massenwirksamen Einfluss des Staatspräsidenten freizumachen und ist nicht bereit, ihr nunmehr siebtes Kind den kriegerischen Verhältnissen zu opfern.

VI. 5. 2. Die Krokodile Die Krokodile – bis zu drei Meter lange Tiere mit riesigen Mäulern (vgl. FK, 175) – leben, angelockt durch das Blut der Gefallenen, an einem austrocknenden Flussbett zwischen den kriegerischen Frontstellungen. Aus Angst vor einem weiteren Anwachsen der bedrohlichen Tierpopulation wird Stephan auch davon abgehalten, einige der Tiere zu erschießen.

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Vgl. zur Brüchigkeit der Identität auch D. Schnetz, a.a.O., S. 100f. Zuvor hatte Hubertus gegenüber Andreas noch behauptet, dass bei Attentaten bereits zwei seiner Doppelgänger ums Leben gekommen seien (vgl. FK, 182). Dass sich der Staatspräsident des Mitterer-Stücks von Doppelgängern vertreten lässt, hat einen durchaus realistischen Hintergrund. So ließen sich Stalin oder, als Beispiel aus der jüngsten Vergangenheit, Saddam Hussein aus Angst vor Attentaten in der Öffentlichkeit von Doppelgängern doublen. In E. Kästners Theaterstück Schule der Diktatoren (UA 1957) präsentiert eine Führungsriege nach dem Tod eines auf Lebzeiten gewählten Diktators dem Volk immer wieder neue Doppelgänger aus ihrer „Präsidentenfabrik“ und stellt somit das unbegrenzte Fortbestehen der Diktatur sicher. Schnetz spricht deshalb auch von „Konsorten“, die zwar das gleiche Schicksal teilen, aber zu einem persönlichen Kontakt nicht fähig sind. Vgl. D. Schnetz, a.a.O., S. 109.

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„Stephan: Ich geh’ runter und knall ein paar ab, Sir, Herr General. Gibt gutes Gulasch. Hubertus: Dann kommen immer mehr. Wenn sie das Blut schmecken, kommen immer mehr. Sie werden die Blutspuren verfolgen und zu uns kommen.“ (FK, 185).

Der Stellungskrieg hat zu einer starken Veränderung der Fauna des umkämpften Gebiets geführt. Ebenso wie die unzähligen Krokodile eine ehemals am Fluss lebende Flamingopopulation vertrieben haben (vgl. FK, 195), wurde der Bestand der Springböcke drastisch dezimiert, da sie Mensch und Krokodil gleichermaßen als Nahrung dienen. „Eva: Verstand ich recht, wir essen Nager? Tini: Vorwiegend Ratten, Fräulein Eva. Eva: Oh! (Nach einer Weile:) Wo sind denn die süßen, kleinen Springböcke hinverschwunden? […] Hubertus: Na, der Feind braucht ja auch etwas zu essen, nicht wahr? Den Rest fressen die Krokodile.“ (FK, 175).

Während sich die Figuren in dieser problematischen Nahrungssituation an Nagetiere halten, zerfleischen sich, ähnlich wie Bulgakovs Amöben unter dem roten Strahl, die hungrig-aggressiven Krokodile gegenseitig. Das Blutbad lockt nicht nur, wie befürchtet, weitere Tiere an, sondern verunreinigt zudem – hierbei an die Verwandlung aller Gewässer in Blut der ersten ägyptischen Plage erinnernd (vgl. 2. Mos. 7, 14ff.) – das wenige Trinkwasser. „Tini: Die Krokodile, Fräulein Eva. Sie fressen einander auf. Sie zerreißen sich gegenseitig. Eva: Das ist gut. Dann kommen wieder die Flamingos. Hubertus: (steigt auch wieder hinauf, schaut) Eine Katastrophe! Wir haben kein Wasser mehr! Wir können doch kein Blut trinken! Wir brauchen Wasser!“ (FK, 195f.).

Scheint das Verhalten der Tiere sinnbildhaft auf das der Menschen zu verweisen, so erkennen die Figuren keine Parallelen. Andreas begeistert sich an den „imposanten Naturgewalten“, während Tini das gegenseitige Zerfleischen der Krokodile lediglich als „unappetitlich“ empfindet, und Eva abermals mit dieser blutigen Angelegenheit nicht behelligt werden will (vgl. FK, 195). Analog zu Ionescos Nashornbild lässt sich die dicke Hornschildpanzerung des Krokodils mit der Dickhäutigkeit sowie der daraus resultierenden Gefühl- und Empfindungslosigkeit der Figuren assoziieren.162 Ausgedrückt findet sich diese 162

Die Krokodile, die zur Ordnung der sogenannten Panzerechsen zählen, werden wissenschaftlich auch als „loricata“ („mit Leder Gepanzerte“) bezeichnet. Das Wort „Krokodil“ ist auf griechisch „kroko´dilos“ zurückzuführen, das, dissimiliert aus „kro´ke“ – „Kies“ und

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Abgestumpftheit und Verrohung der Figuren in einer Reduzierung des Menschlichen bei gleichzeitiger Aufwertung des Tierischen und Stofflich-Materiellen. So gilt Eva nicht die kriegerische Auseinandersetzung, sondern allein das Töten der Springböcke als barbarische Schlächterei. „Andreas: Wovon ernähren Sie sich denn, wenn ich diese persönliche Frage stellen darf? Eva: Vom edlen Wild, man muß es leider sagen, so barbarisch es klingen mag. Gott, sind sie süß, diese kleinen Springböcke. Wie sie in die Luft hüpfen, auf allen vieren gleichzeitig – entzückend! Ich schau da jedenfalls nicht zu, bei dieser Schlächterei!“ (FK, 175).

Als in der Nähe der Ruine ein Lastwagen mit Hilfsgütern von einer Mine zerfetzt wird, fliegen für Tini Menschen und Kisten nicht nur unterschiedslos durch die Luft, sondern von Belang ist letztlich allein die unverhoffte Kaffeelieferung. Die getöteten Menschen interessieren dagegen nicht. „Tini: Nein, nein, das war eine Hilfslieferung. Der Lastwagen fuhr auf eine Mine, die Mannschaft und die Kisten flogen durch die Luft. Direkt zu uns herein. Wir mußten den Kaffee nur mehr einsammeln.“ (FK, 175).

Ebenfalls analog zum Nashorn besitzt das Krokodil in der Tierwelt kaum natürliche Feinde, so dass der Mensch die größte Bedrohung für das Tier darstellt. Gleichzeitig ist das Krokodil aber auch als „Menschenfresser“ gefürchtet.163 Aus Sicht des Menschen mag es grausam und unbarmherzig anmuten, wenn die Krokodile angeblich ihren Nachwuchs fressen, zeigen die Jungtiere weder Jagdinstinkt noch Neigung zur Selbstversorgung.164 Tatsächlich vertreten Mitterers Figuren aber ähnliche Vorstellungsmuster. Hubertus plädiert für eine frühzeitige Abhärtung der Kinder, auf dass sie später auf dem Schlachtfeld wie bedingungslose Kampfmaschinen funktionieren. „Hubertus: […] Der Soldat ist eine Kampfmaschine. Muß er sein! Und nebenbei gesagt: Ein wenig Abhärtung kann dem Butzi [Tinis ungeborenem Kind; Anm. M. M.] nicht schaden. Lernt er den Ernst des Lebens früh genug kennen.“ (FK, 194).

Die Vorstellung von der Grausamkeit der Krokodile nutzt auch das Puppentheater und lässt das Tier wiederholt als Gegenspieler des Kasperls auftreten. F. Pocci zeigt es beispielsweise als zorniges und rachsüchtiges Ungeheuer, das als Zauberer

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„drilos“ – „Wurm“, eigentlich „Kieswurm“ bedeutet. Vgl. DUDEN. Das Herkunftswörterbuch, a.a.O., S. 389. Pauly/Wissowa gelten dagegen „kerkos“ – „Schwanz“ und „drilos“ als Wortbestandteile. Vgl. A. Pauly/G.Wissowa, a.a.O., Bd. XI, 2 (1. Reihe), Sp. 1947. Vgl. R. Barth, a.a.O., S. 246. Vgl. R. Schenda, a.a.O., S. 180 und A. Pauly/G. Wissowa, a.a.O., Bd. XI, 2 (1. Reihe), Sp. 1950.

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Crokodilus seine Frau und seine Tochter fressen will, oder in Kasperl unter den Wilden als ein unterschiedslos alles verschlingendes Untier („Gemütlich ist mein Lebenslauf,/Was mir in’ Weg kommt, freß ich auf,/Und mir ist es ganz einerlei,/ In meinem Magen wird’s zu Brei.“)165 . Während das Krokodil als ebenfalls rächendes Tier in der Fabel Glück und Unglück begegnet – ein Mörder vermag zwar sowohl dem Wolf als auch der Schlange zu entfliehen, wird aber vom Krokodil verschlungen166 –, ist es in K. Kordons Roman Krokodil im Nacken (2002) Sinnbild des Zweifels und des Gewissens, das sich immer wieder meldet, geht die Hauptfigur, der DDR-Bürger Manfred Lenz, allzu konform mit den Vorgaben der Obrigkeit. „Lenz konnte es nicht einsehen, doch natürlich durfte er das nicht sagen, und so kam es am Ende zu einem Kompromiss: Lenz wurde ‚Freund der Jugend‘, musste das FDJ-Hemd aber nicht tragen, da er ja an Dienstagen mit unverhofften Kundenbesuchen aus dem westlichen Ausland rechnen musste. Dass er sich jedes Mal umzog, konnte man nicht verlangen. Andere profitierten von dieser Lex Lenz; das Krokodil aber machte sich Gedanken über den Unterschied zwischen einem klu167 gen und einem faulen Kompromiss.“

In Orwells Roman Burmese Days (Tage in Burma; 1934) kennzeichnet das Krokodil dagegen den einflussreichen, machthungrigen und skrupellosen U Po Kyin, einen burmesischen Magistrat des Britischen Empires. „He recalls to me a crocodile in human shape. He has the cunning of the crocodile, its cruelty, its bestiality.“168 Der Magistrat will seinen Einfluss mehren und Aufnahme in den britischen Klub finden, wobei er zur Erreichung seiner Ziele die anderen Bewerber diffamiert. Den Erfolg und Sieg U Po Kyins kommentiert sein Konkurrent, der Arzt Veraswami, ebenfalls in Verbindung mit dem Bild des Krokodils. „It is the triumph of the crocodile. U Po Kyin is now the Hero of the district.“169 Die Redewendung von den sogenannten „Krokodilstränen“ assoziiert das Tier mit der Heuchelei. Grund hierfür ist die Vorstellung, dass das Krokodil angeblich Mitleid erregend schluchzt, um seine Beute anzulocken und diese dann unter vermeintlichen Tränen der Reue frisst.

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F. Pocci, Kasperl unter den Wilden. Ein kulturhistorisches Drama in zwei Aufzügen, in: Ders., Kasperls Heldentaten. Neunzehn Puppenkomödien und Kasperliaden, Berlin 1981, S. 163. Vgl. zum rachsüchtigen Crokodilus in Poccis Stück Crokodilus und Persea oder Der verzauberte Krebs ebd., S. 325 u. 326. Vgl. K. Ranke/R. W. Brednich, a.a.O., Bd. VIII, Sp. 487. K. Kordon, Krokodil im Nacken, 3. Aufl., Frankfurt/M. 2006, S. 589. Vgl. ähnlich ebd., S. 587f., 613 u. 654. G. Orwell, Burmese Days, in: Ders., The Complete Works, a.a.O., Bd. II, S. 44. Ebd., S. 233. Vgl. zudem G. Beauchamp, a.a.O., S. 59ff.

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„Das fürchterliche Tier, das Krokodil genannt, wohnt in Ägypten nahe an des Niles Strand. Bevor es wirklich frißt die heißersehnte Beute, tut es nach außen so, als ob’s die Tat bereute, läßt heiße Tränen aus den falschen Augen dringen 170 und hat doch nur im Sinn, zu töten und zu schlingen.“

Insbesondere Tinis und Stephans Entschuldigungen, als der Erschießungsbefehl gegen Eva vollstreckt werden soll, lassen an diesen Symbolgehalt des Tieres denken. Ihr Mitleid wirkt geheuchelt, da sie nur ihr eigenes schlechtes Gewissen zu beruhigen suchen, die Erschießung aber nicht verhindern (vgl. FK, 201). In der Antike und christlichen Ikonographie versinnbildlicht das Krokodil vornehmlich den Teufel und das Böse.171 In der Geschichte mit dem Fischotter, der vom Krokodil verschlungen wird, aber dessen Eingeweide zerreißt und und schließlich wieder unbeschadet herausgelangt, symbolisiert das Krokodil die Hölle und den Tod, der Fischotter den auferstandenen Christus.172 Der mit dem Verschlungenwerden assoziierte Neubeginn verweist hierbei auf die vorchristliche, beispielsweise für das alte Ägypten wesentliche Vorstellung vom Krokodil als Schwellenwärter.173 Das Buch Hiob setzt das Krokodil mit dem vielköpfigen Meeresungeheuer des Leviathan gleich (vgl. Hiob 3, 8 u. 40, 25).174 Allerdings lässt die Beschreibung des Untiers auch an einen Drachen denken. „Wer kann ihm den Panzer ausziehen, und wer darf es wagen, ihm zwischen die Zähne zu greifen? Wer kann die Tore seines Rachens auftun? Um seine Zähne herum herrscht Schrecken. Stolz stehen sie wie Reihen von Schilden, geschlossen und eng aneinandergefügt. […] Sein Niesen läßt Licht aufleuchten; seine Augen sind wie die Wimpern der Morgenröte. Aus seinem Rachen fahren Fackeln, und 170 171 172

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R. Schenda, a.a.O., S. 181. Vgl. zu den „Krokodilstränen“ auch M. Lurker, a.a.O., S. 398. Vgl. S. Dittrich/L. Dittrich, a.a.O., S. 277 und M. Lurker, a.a.O., S. 398. Vgl. W. v. Blankenburg, Heilige und dämonische Tiere. Die Symbolsprache der deutschen Ornamentik im frühen Mittelalter, 2. Aufl., Köln 1975, S. 141 und ähnlich B. Rowland, Animals with Human Faces. A guide to animal symbolism, Knoxville 1974, S. 57. In Dostoevskijs grotesker Satire Krokodil (1865), die im Zusammenhang mit seiner Kritik an den Ideen des Sozialismus zu sehen ist, wird die Figur des Beamten Ivan Matveicˇ während des Besuchs einer Tierschau von einem Krokodil verschlungen, richtet sich allerdings im Innern des Tieres ein und sucht die Welt mit neuen wissenschaftlichen Theorien zu beeindrucken. Dies schien sich offensichtlich auf Cµernysˇevskij zu beziehen, der im Gefängnis seinen Roman Cµto delat’? verfasst hatte. Vgl. C. Zerling/W. Bauer, a.a.O., S. 176. Aufgrund des verstärkten Auftretens der Krokodile im Zuge der jährlichen Überschwemmungen galten die Tiere den Ägyptern zudem als Symbol der Fruchtbarkeit und Zeichen für reiche Ernte. In diesem Zusammenhang allgemein zum Krokodil als Kulturbringer vgl. K. Ranke/R. W. Brednich (Hgg.), a.a.O., Bd. VIII, Sp. 488. Ebenso wird der Leviathan aber auch als Wal oder siebenköpfige Schlange vorgestellt. Vgl. ebd., Bd. VIII, Sp. 994 und M. Lurker, a.a.O., S. 420.

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feurige Funken schießen heraus. Aus seinen Nüstern fährt Rauch wie von einem siedenden Kessel und Binsenfeuer. Sein Odem ist wie lichte Lohe, und aus seinem Rachen schlagen Flammen. Auf seinem Nacken wohnt die Stärke, und vor ihm her tanzt die Angst.“ (Hiob 41, 5ff.).

Der Leviathan symbolisiert gemeinsam mit dem als Nilpferd vorgestellten Behemoth (vgl. Hiob 40, 15) die uranfänglichen Chaosmächte.175 Beide Fabelwesen werden von Gott zwar mit dem Schöpfungsakt besiegt (vgl. Ps. 74, 13f.), aber erst zum Ende der Zeit endgültig vernichtet. So hat der Leviathan auch Ähnlichkeit mit dem apokalyptischen Drachen – geschildert als vielköpfiges satanisches Meeres- und Chaosuntier (vgl. Off. 12, 3 u. 13, 1) –, der das Weib mit dem Kind bedroht, die aber von Gott gerettet werden (vgl. Off. 12, 13ff.).176 Ähnlich gelangt Tini mit ihrem neugeborenen Kind letztlich unbeschadet durch die bedrohliche Krokodilmasse. „Hubertus: Sie [die Krokodile; Anm. M. M.] tun ihr nichts! Warum tun die ihr nichts?“ (FK, 204). Angesichts der Furcht einflößenden Macht und Stärke des Leviathan definierte Hobbes diesen in seiner gleichnamigen staatstheoretischen Abhandlung als absolute Staatsgewalt, der sich die Mitglieder eines Gemeinwesens per Gesellschaftsvertrag unterwerfen und somit den gewaltsamen Naturzustand des „bellum omnium contra omnes“ beenden.177 Im 20. Jahrhundert verbinden sich mit dem Fabelwesen wiederholt negativ-pessimistische Schilderungen gesellschaftlicher Verhältnisse.178 J. Green beschreibt in seinem Roman Léviathan (1929) eine dumpfe Kleinstadtbevölkerung, die eine gleichsam dämonische Zerstörungskraft entfaltet, da sie ihre Leidenschaften, Ängste und Wünsche aufgrund der Anpassung an herrschende Konventionen unterdrückt. In A. Schmidts Erzählung Leviathan oder die beste der Welten (1949), die zum Ende des Zweiten Weltkriegs spielt, wird der Leviathan schließlich zur Chiffre des totalitären Staates. „Die HJ verglich die Panzerfäuste […] sie spielten so eifrig damit, echte Kinder des Leviathan […] böses Eisen und tödliches Feuer; ei, die Wohlgeratenen. Ich dachte 175

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In Bulgakovs Master i Margarita trägt ein Begleiter des Magiers Voland den Namen Behemoth, der sowohl in Gestalt eines Katers als auch als katzengesichtiger Dickwanst in Erscheinung tritt. Vgl. K. Ranke/R. W. Brednich (Hgg.), a.a.O., Bd. VIII, Sp. 995 und H. D. Betz/D. S. Browning u. a. (Hgg.), Religion in Geschichte und Gegenwart. Handwörterbuch für Theologie und Religionswissenschaft, 8 Bde., 4., völlig neu bearb. Aufl., Tübingen 1998ff., Bd. V, Sp. 296. Es sei erwähnt, dass Hobbes’ kritische Betrachtung des englischen Bürgerkriegs den Titel Behemoth or The Long Parliament (Behemoth oder das lange Parlament; 1668) trägt. F. Neumann bezieht sich im Vorwort zu seiner Darstellung Behemoth. The Structure and Practice of National Socialism (Behemoth. Struktur und Praxis des Nationalsozialismus; erstmals 1942) explizit auf Hobbes’ Schrift. In Anlehnung an diese kennzeichnet Neumann die Ordnung des Nationalsozialismus als manipuliertes Chaos, als Nicht-Staat, beherrscht von Anarchie und Gesetzlosigkeit. Vgl. F. Neumann, Behemoth. The Structure and Practice of National Socialism, New York 1966, S. XII. Vgl. auch K. Ranke/R. W. Brednich (Hgg.), a.a.O., Bd. VIII, Sp. 996.

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an die irrsinnigen Hetzplakate des Gauleiters Hanke in Breslau; wie er mit der schnalzenden Eloquenz des Wahnsinnigen die Staatsjugend aufrief: Schnee in die Flüsse und Bäche zu schaufeln, daß sie anschwellen und die Feinde festhal179 ten…“

Auf das Krokodil im Zusammenhang mit den Ereignissen des 20. Jahrhunderts rekurriert auch der tschechische Maler A. Kubin und zeigt einen von einer Rednertribüne die Massen agitierenden politischen Führer. Auf dem menschlichen Rumpf des demagogischen Redners sitzt der Kopf eines Krokodils.

VI. 6. Zusammenfassung der Ergebnisse Die defizitäre Verfasstheit der dargestellten Gesellschaften, die sich sowohl in der Unmenschlichkeit und Brutalität als auch dem Mangel an Bewusstsein und Reflexionsvermögen des weitgehend typisierten Personals ausspricht, findet ihre sinnfällige Entsprechung in einer unheilvollen Annäherung von Menschlichem und Tierischem sowie der teils grotesken Vermischung der beiden Bereiche. In Bulgakovs Rokovye Jajca verbindet sich Persikovs Unfähigkeit zur Empathie gegenüber seinen Mitmenschen mit einer generell übersteigerten Wertschätzung des Tierischen, so dass seine physische und psychische Verfassung wiederholt in Beziehung zum Leben und Sterben der Versuchstiere im Institut gesetzt wird. Während zudem einer Vielzahl weiterer Figuren aufgrund von Vergleichen oder Namensgebung ein tierisches Moment zugeschrieben ist, werden sowohl Persikovs Institutstiere als auch Gegenstände anthropomorphisiert. Cµapeks Molche – vernunftbegabte Mängelwesen und in ihrer Intelligenz sowie ihrem Verhalten mit einem typischen Durchschnittsbürger vergleichbar – sind als tierische Doppelgänger des Menschen konzipiert. Vorgestellt wird der typische Durchschnittsbürger in der Figur des Portiers Povondra, der sich in seiner Unmenschlichkeit sowie seiner unreflektierten Fortschrittsgläubigkeit, seiner dumpfen Befürwortung eines neuen Weltkrieges und Propagierung gängiger Meinungen 179

A. Schmidt, Leviathan oder die beste der Welten, in: Ders., Werke, 8 Bde., Zürich 1987, Bd. VII, S. 46f. Siehe zum Leviathan als negativem Sinnbild staatlicher Gewalt auch G. R. Hockes Autobiographie Im Schatten des Leviathan und seine Ausführungen im Vorwort: „Nicht immer hat es ein utopisches Gericht mit Irrenden, sondern viel häufiger mit dem Irrtum zu tun, mit anonymen psychischen Epidemien. Diese haben meist eine teuflisch-verbrecherische Bilanz. Ihr Irrgang ist von Millionen Opfern umzäunt. Dieser Leviathan ist zu entlarven. Dabei werden angeprangert die verführerischen Zerstörer unseres Jahrhunderts, die im Namen Leviathans, des ‚mythischen‘ totalen Staates, in ganz Europa das menschliche Leben im so ‚progressiven‘ 20. Jahrhundert vergiftet, die den moralischen Fortschritt gegenüber dem technischen erst gehemmt, dann unmöglich gemacht haben.“ G. R. Hocke, Im Schatten des Leviathan. Lebenserinnerungen 1908-1984, München/Berlin 2004, S. 9. Weitere Texte, die sich in der Titelgebung auf das Fabelwesen beziehen, sind etwa J. Roths Novelle Leviathan (1940) oder P. Austers Roman Leviathan (1992).

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als ebenso seelenlose Existenz wie der uniforme Massenmolch erweist. Ob ihrer Effizienz und Nützlichkeit gelten die Molche aber als moderne Menschen der Zukunft, ihrer Lebensform wird unbedingte Vorbildfunktion zugesprochen sowie die Annäherung an das bewunderte Tierkollektiv in einem Prozess der „Vermolchung“ als fortschrittlich erachtet. Orwells Farmtiere repräsentieren zunächst dem Fabelcharakter der Erzählung entsprechend Typen menschlichen Verhaltens und sind mit Eigenschaften ausgestattet, die traditionell mit diesen in Verbindung gebracht werden. So rekurriert Orwell etwa mit der Schafherde auf die Vorstellung vom menschlichen Herdentier ohne Individualität, das sich widerstandslos indoktrinieren lässt, und greift auch mit der negativen Darstellung der Schweine auf gemeinhin bekannte Deutungsmuster zurück. Die Parade der aufrecht gehenden Schweine, die im Vergleich zur Vermolchung und Nashornwerdung der Figuren bei Cµapek und Ionesco eine umgekehrte Metamorphose durchlaufen, zeigt allerdings eine für die Fabel untypische, groteske Vermischung des menschlichen und tierischen Bereichs. Zudem verweisen diese aufrecht gehenden zwitterhaften „Schweinemenschen“ auf einen wesentlichen Aspekt der Identifizierung der Tyrannen und Mächtigen mit dem Tierischen. Im grotesken Tierbild wird diesen in ihrer von Machtgier getriebenen Brutalität und Grausamkeit nicht nur Menschliches abgesprochen, sondern gleichzeitig ein bestialisch-monströses Moment zugeschrieben. Während Cµapeks Menschengesellschaft in ihrer Anpassung an das bewunderte Molchkollektiv vor allem psychologisch vermolcht, vollziehen Ionescos Figuren schließlich auch einen äußerlich sichtbaren Gestaltwechsel. Allerdings zeigen die Figuren bereits vor ihrer Tierwerdung all jene Eigenschaften, die sie letztlich die Gemeinschaft mit der uniformen „Nashornarmee“ suchen lassen. Cµapeks Povondra durchaus ähnlich, erschöpft sich auch die Wirklichkeitsbewältigung des eitlen und selbstgerechten Jean oder des rechthaberischen und mit Komplexen beladenen Botard in der Anpassung an die herrschende Ordnung sowie im Reproduzieren gängiger Vorstellungen und Parolen. Die Entpersönlichung der Figuren wird nur zu offensichtlich, wenn der positionslose Dudard alles Originelle abwertet, die Individualität und Einzigartigkeit einer Person aber anhand von Äußerlichkeiten bemisst. Wie schon für Bulgakovs „serielle“ Melonenhüte scheint der Gegenstand angesichts der Hohlheit der Figuren bedeutsamer als der Mensch selbst. In seinem Einakter Victimes du devoir stellt Ionesco den Persönlichkeitsbegriff generell in Frage. Sich selbst fremd, sei der Mensch nur noch ein Gefäß widerstreitender Kräfte, die er aber weder verstehe noch zu beherrschen vermöge. „Nous abandonnerons le principe de l’identite´ et de l’unite´ des caractères […] Nous ne sommes pas nous-meˆmes… La personnalite´ n’existe pas. Il n’y a en nous que 180 des forces contradictoires ou non contradictoires…“

180

E. Ionesco, Victimes du devoir, in: Ders., Théaˆtre, a.a.O., Bd. I, S. 204f.

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Kennzeichnend ist das Fehlen einer gesicherten Identität und konsistenten IchGröße auch für das zwiegesichtige Personal des Mitterer-Stücks. Der daraus resultierende Mangel an reflektierendem Bewusstsein führt zu einem umfänglichen Bestimmtsein durch angestammte kollektive Verhaltensmuster, die sie vermeintlich jeder individuellen Verantwortung entheben. Die Zivilisierung des Menschen erweist sich letztlich als bloßes Oberflächenphänomen, als dünne und wenig tragfähige Schicht, unter der eine nach wie vor zerstörerische Bestialität lauert. So bezieht sich die doppeldeutige Titelgebung des Mitterer-Stücks zwar vordergründig auf die hungrigen Tiere, scheint aber gleichzeitig auf die Figuren selbst und ihr unmenschliches Verhalten abzuzielen. Die regressive Vertierung der Gesellschaften beziehungsweise die Herrschaft der zwitterhaften „Schweinemenschen“ in Orwells Fabel münden in ausweglose Bedrohungssituationen. Ob Cµapeks neue Sintflut oder Bulgakovs und Mitterers apokalyptische Szenarien, ob die Übermacht der aggressiven und uniformen Nashornarmee oder die Unterdrückung der Farmtiere durch den gottgleichen Napoleon und einen anonymen Herrschaftsapparat – es handelt sich analog zur Entpersönlichung der Figuren nicht mehr um persönliche, zwischenmenschliche Konflikte, diese sind vielmehr durchgängig ins Überindividuelle und Unpersönliche geweitet. Ionescos Bérenger formuliert letztlich die entscheidende und unheilvolle Konsequenz, die sich aus den regressiven Vertierungs- und identitätsnivellierenden Vermassungsprozessen ergibt. Ist bereits in Cµapeks Roman der Bewunderung der menschlichen Gesellschaft für den effizienten und phantasielosen Massenmolch die Klassifizierung des Menschen als hässliche Normabweichung inhärent, so ist in Ionescos Rhinoce´ros der Mensch und individuelle Einzelne angesichts des uniformen Nashornkollektivs tatsächlich nur noch eine monströse Abnormität, die es zu vernichten gilt.

VII. Individuum und Gesellschaft In diesem abschließenden Kapitel soll die defizitäre Verfasstheit der Gesellschaften anhand der thematischen Aspekte „Lebens- und Arbeitswelt“, „Visionen von ‚neuen Menschen‘“, „Masse-Führer-Konstellationen“, „Sprache“ sowie „Bildung und kulturelles Leben“ nochmals eingehender kontrastiv beleuchtet werden. Angesichts der unterschiedlichen Schwerpunktsetzungen der Autoren ist für das absichtlich weiter gefasste Unterkapitel „Lebens- und Arbeitswelt“ eine getrennte Betrachtung der einzelnen Vergleichstexte allerdings noch sinnvoll. Während in Mitterers Theaterstück Denkmuster gebündelt werden, die Weltkriegs- und Totalitarismuserfahrungen des 20. Jahrhunderts widerspiegeln, problematisieren Bulgakov und Cµapek einen allein auf Wissenschaft und Technik gegründeten Fortschrittsoptimismus, wie sich dieser etwa in der eindimensionalen Verknüpfung von einer „Elektrifizierung des Landes“ und einer „Elektrifizierung der Seelen“ ausspricht. Orwell zeigt dagegen, wie die aus der harten Arbeit resultierende körperliche Erschöpfung der Farmtiere sowie der Mangel an Stille und Privatheit die Vorherrschaft der Schweine wesentlich stabilisieren, da Reflexion und Gedankenaustausch nachhaltig gestört werden. Für Ionescos Rhinoce´ros ist schließlich auf den Konnex zwischen der Anpassung der Figuren an die abstumpfende Langeweile des Provinzstadtlebens und der Aggressivität der Nashörner einzugehen. Die folgenden, enger gefassten Gliederungspunkte sind dagegen zwangsläufig nicht mehr für jeden der Vergleichstexte in gleichem Maße relevant. So ist für den Topos des „neuen Menschen“ eine Zusammenschau von sozialistischen und nationalsozialistischen Ideologievorgaben erhellend, wie sie von Bulgakov, Cµapek und Ionesco aufgerufen werden. Die Betrachtung zu Masse-Führer-Konstellationen konzentriert sich auf Mitterers Theaterstück und Orwells Fabel. Aufschlussreich sind sowohl die von Hubertus vermeintlich visionär geschaute und propagierte Schicksalsgemeinschaft von Volk und Staatspräsident als auch Napoleons Stilisierung zur gottgleichen Autorität sowie die Geschichtsfälschung der Schweineoligarchie. Während das Kapitel zur Sprache zeigen wird, wie sich angesichts der unheilvollen Annäherung von Menschlichem und Tierischem geschrumpftes Bewusstseins- und Sprachvermögen wechselseitig bedingen, und Orwells Schweine eine umfängliche Sprach- und Begriffsverwilderung zur Zementierung ihres totalitären Machtanspruchs nutzen, lässt das abschließende Kapitel „Bildung und kulturelles Leben“ nochmals die unterschiedlichen, aber sich ergänzenden thematischen Schwerpunktsetzungen der Autoren deutlich werden. In Mitterers Theaterstück und Orwells Fabel gilt eine platte propagandistische, aber massenwirksame Agitationslyrik als höchster künstlerischer Ausdruck. Gleichzeitig fokussiert Orwell ähnlich wie auch Ionesco und Cµapek auf die Differenz zwischen Bildung und karrierebewusster oder abrichtender Ausbildung und Schulung, während schließlich in Bulgakovs Erzählung auf die Vereinnahmung des kulturellen Bereichs zur Heranziehung des „neuen Menschen“ angespielt wird.

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VII. 1. Lebens- und Arbeitswelt VII. 1. 1. Michail A. Bulgakovs Rokovye Jajca Da der rote Strahl nur durch elektrisches Licht erzeugt werden kann und im Rahmen von Bulgakovs Großstadtschilderungen eine auffällige Vielzahl künstlicher Beleuchtungsquellen genannt wird, ist es aufschlussreich, im Zusammenhang mit Bulgakovs Erzählung näher auf das ambitionierte Elektrifizierungsprogramm der Bolschewiki und die damit verbundenen, weitgespannten Hoffnungen einzugehen. Wie nicht zuletzt Lenins These „Kommunismus ist Sowjetmacht plus Elektrifizierung des ganzen Landes“1 zeigt, gilt den neuen Machthabern die Elektroenergie als entscheidender Faktor umfänglicher, gesamtgesellschaftlicher Veränderungen. Eine forcierte Elektrifizierung sollte zum einen den Industrialisierungsprozess in dem rückständigen Land beschleunigen und somit die für einen unmittelbaren Übergang zum Sozialismus entscheidenden ökonomischen Verhältnisse schaffen. Zum anderen spricht sich im Schlagwort „Aufklärung durch Licht“ die Vorstellung aus, mit einer landesweiten Einführung der Elektroenergie auch den Bildungsstandard einer Bevölkerung mit vorwiegend bäuerlicher Struktur und überaus niedriger Alphabetisierungsquote anheben zu können.2 So sieht etwa der Proletkul’t-Dichter Gerasimov in der „gigantischen Elektrowerkstatt Sowjetrussland“ nicht nur modernste Maschinentechnik eine umfängliche Naturbeherrschung ermöglichen, sondern antizipiert auch eine „Elektrifizierung der Seelen“, auf dass zukünftig in jedem Arbeiter- und Bauernklub beim Licht „elektrischer Sonnen“ Skrjabin, Bach, Mozart und Schubert zu hören sein werden.3 „Ich weiß: Die Elektrifizierung der Seelen Wird die Landleute mit Flügeln versehen Und die Krähwinkel mit Propellern aufscheuchen. […] Der Kreml Ist Dynamogigant […]

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2

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V. I. Lenin, Unsere außen- und innenpolitische Lage und die Aufgaben der Partei (Rede auf der Moskauer Gouvernementskonferenz der KPR(B) vom 21. November 1920), in: Ders., Werke, a.a.O., Bd. XXXI, S. 414. Vgl. H. Haumann, Beginn der Planwirtschaft. Elektrifizierung, Wirtschaftsplanung und gesellschaftliche Entwicklung Sowjetrußlands 1917-1921, Düsseldorf 1974, S. 109ff. und J. Coopersmith, The Electrification of Russia, New York 1992, S. 151ff. K. Redkos Bild Vosstanie (Aufstand; 1924/25) zeigt, wie Lenin als gleichsam lichtbringendes Zentrum Parteimitglieder und Bevölkerung rauten- und strahlenförmig organisiert. In ländlichen Gebieten galt die Glühbirne auch als „Il’icˇs Lämpchen“ („Lampocˇka Il’icˇa“). Vgl. R. Löhmann, a.a.O., S. 47. Passend zur Elektrifizierungsthematik bezeichnete der Künstler und Architekt E∆l’ Lisickij die Arbeiterklubs auch als „soziale Kraftwerke“. Vgl. ebd., S. 177.

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Der Kreml – Ein Knoten kupferner Nerven, Die hier aus allen Ländern sich schürzen Die Flamme fließt durch Adern aus Messing, Beseelt das Lebendige Und vernichtet das Tote. Wir schmelzen mit dem Voltbogen Alle Rückstände ein. Nicht den Glanz goldener Kuppeln und Türme Sehen wir über dem steinernen Bau. In der Maschine uns’res Gehirns Entzündet der Dynamo das Feuer. […] Das Herz in der Brust des Bauern – Eine elektrische Birne. Vorbei der Winterschlaf auf dem Flohpelz, In den Bärenhöhlen der Bauernkaten Im Bauernklub Erklingen jetzt bis morgens früh 4 Skrjabin, Bach, Mozart und Schubert…“

Ein Bezug zum Bildbereich des Prometheischen wird hergestellt, wenn in Majakovskijs Revolutionsdrama Misterija-Buff (Mysterium Buffo; 1918) die Figur des Maschinisten dazu auffordert, Gott der Blitze zu berauben, oder der Vorsitzende der Elektrifizierungskommission, G. M. Krzˇizˇanovskij, die elektrische Energie als vom Himmel herabgefahrenes Feuer bezeichnet. „Nado u boga molnii vyrvat´. Beri ix! Na delo prigodätsä – qlektrificirovat´. 5 Neçego popustomu gromami uxat´!“ „Das Feuer vom Himmel ist in der Tat zur Erde gefahren, aber nicht mehr in der elementaren Form der einstmals von einem Wilden der Urzeit entfachten Weltflamme, sondern in ihrem natürlichen ‚himmlischen‘ Wesen – in Form der elektrischen 6 Energie.“ 4

5 6

M. P. Gerasimov, Elektrifizierung, in: R. Lorenz (Hg.), a.a.O., S. 99ff. Zur Resonanz der Elektrifizierung in der Literatur sei beispielhaft auch auf die Produktionsromane Skutarevskij (Professor Skutarevskij; 1933) von L. M. Leonov und E∆nergija (1933) von F. V. Gladkov verwiesen. V. V. Majakovskij, Misterija-buff, in: Ders., Polnoe sobranie socˇinenij, a.a.O., Bd. II, S. 327. Zitiert nach H. Haumann, a.a.O., S. 113. Als wahrer Prometheus versteht sich in Zamjatins My auch das Kollektiv der uniformen Nummernmenschen, da es ihm gelang, das Feuer in Maschine und Stahl zu zwingen. „No ävilsä Prometej (qto, koneçno, my) – I vpräg ogon´ v ma‚inu, stal´,/I xaos zakoval zakonom.“ E. I. Zamjatin, My, a.a.O., S. 242.

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Der Vision, mit einer planmäßigen Elektrifizierung eine weitgehend ungebildete Bevölkerung zu aufgeklärten und bewussten Mitgliedern einer allseits entwickelten sozialistischen Gesellschaft zu machen, steht das den Versuchstieren vergleichbare Verhalten der Moskauer Großstadtbevölkerung in Bulgakovs Rokovye Jajca diametral entgegen. Bulgakovs Skepsis gegenüber der revolutionären Fortschrittseuphorie trifft sich mit Cµapeks Kritik an einem problematischen, da wesentlich reduzierten Aufklärungsbegriff, wie sich dieser in den vereinfachenden Losungen von einer „Elektrifizierung der Seelen“ oder einer „Aufklärung durch Licht“ ausspricht. Ironisch bemerkt Cµapek in seinem Artikel Vla´da stroju˚ (Die Herrschaft der Maschinen; 1929), dass für ein aufgeklärtes Zeitalter nicht die Anzahl brennender Glühbirnen entscheidend sei. „… není na´sˇ obdiv ke stroju˚m, to jest k mechanické civilizaci, takovy´, zˇe zatlacˇuje nasˇi pozornost k skutecˇny´m tvorˇivy´m schopnostem cˇloveˇka? My vsˇichni veˇrˇíme v pokrok lidstva; ale zda´ se, zˇe jsme nakloneˇni prˇedstavovat si tento pokrok v podobeˇ benzínovy´ch motoru˚, elektricity a jiny´ch technicky´ch vymozˇeností. Domníva´me se, zˇe zˇijeme v osvícené dobeˇ, jelikozˇ svítíme elektrˇinou; ve skutecˇnosti zˇije7 me v jakémsi zmateném a sˇpatneˇ organizovane´m praveˇku,…“

Im Gegensatz zur Vielzahl künstlicher Lichtquellen in der Großstadt Moskau ist die ländliche Szenerie in Bulgakovs Erzählung ausnahmslos von natürlichem Sonnen- oder Mondlicht beschienen.8 Lichtverhältnisse und Farbgebung der Landschaft sind allein von Tages- und Jahreszeit abhängig. Tagsüber brennt die Sonne heiß vom Himmel und bringt die Luft über den Feldern, die in gelben Quadraten zwischen grünen Wäldern liegen (vgl. RJ, VIII, 348), zum Flimmern. Nachts taucht der Mond die Landschaft in ein trügerisches grünlich-weißes Licht. „Dni stoäli Ωarkie do çrezvyçajnosti. Nad polämi vidno bylo äsno, kak perelivalsä prozraçnyj, Ωirnyj znoj. A noçi çudnye, obmançivye, zelenye. Luna svetila i takuü krasotu navela na byv‚ee imenie Íeremetevyx, çto ee nevozmoΩno vyrazit´. Dvorec-sovxoz, slovno saxarnyj, svetilsä, v parke teni droΩali, a prudy stali dvuxcvetnymi popolam – kosäkom lunnyj stolb, a polovina bezdonnaä t´ma.“ (RJ, VIII, 353).

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K. Cµapek, Vla´da stroju˚. K anketeˇ Daily Expressu, in: Ders., Spisy, a.a.O., Bd. XV, S. 317. Als künstliche Lichtquellen werden neben einer Lampe in der Küche der Sowchose (vgl. RJ, VIII, 353) nur die Milchglaskugel, deren Licht den roten Strahl erzeugen soll, und der rote Strahl selbst erwähnt (vgl. RJ, VIII, 348). Tatsächlich machte sich das ambitionierte Elektrifizierungsprogamm, mit dem nicht zuletzt der kulturelle und wirtschaftliche Gegensatz von Stadt und Land überwunden werden sollte, zunächst nur in der Industrie, in landwirtschaftlichen Großbetrieben sowie den Städten bemerkbar. Die Elektrifizierung der ländlichen Gebiete verlief dagegen bis zum Zweiten Weltkrieg überaus schleppend. Vgl. J. Coopersmith, a.a.O., S. 243f. und C. Goehrke, Russischer Alltag. Eine Geschichte in neun Zeitbildern, 3 Bde., Zürich 2003ff., Bd. III, S. 68, 80 u. 310.

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Dass im Rahmen der Großstadtschilderungen die natürlichen Lichtquellen Sonne und Mond dagegen lediglich in Verbindung mit der Moskauer Erlöserkirche erwähnt werden, lässt abermals an Bulgakovs Verteidigung eines evolutionären Fortschrittsprinzips und seine Kritik an den revolutionären Umbruchprozessen denken. Zu Beginn der Erzählung zeigt sich neben der Kirchenkuppel eine dunstig-weiße Mondsichel. „… i daleko i vysoko byl viden rädom s temnoj i gruznoj ‚apkoj xrama Xrista tumannyj, blednyj mesäçnyj serp.“ (RJ, II, 309). Lodert das Kirchendach gleichsam in der Sonne, als Persikov nach seiner Entdeckung des roten Strahls das Institut verlässt (vgl. RJ, II, 312 u. 313), kehrt nach der Vernichtung der bedrohlichen Tiermassen zum Ende der Erzählung nicht nur die Stadt zu ihrem hektischen Treiben zurück, sondern neben der Kirchenkuppel ist auch wieder eine Mondsichel zu sehen. „… i nad ‚apkoü xrama Xrista visel, kak na nitoçke, lunnyj serp,…“ (RJ, XII, 378). Die von natürlichem Licht beleuchtete Kirchenkuppel bleibt von der Großstadtbevölkerung jedoch weitgehend unbeachtet.9 Für diese ist vielmehr ein umfänglicher Verlust von Spiritualität und Innerlichkeit kennzeichnend. Zwar stehen die Menschenmengen mit erhobenen Köpfen und lauschen der Worte vom Himmel („slova s neba“; RJ, IV, 322). Hierbei handelt es sich aber nur um aktuelle Nachrichten der „Sprechenden Zeitung“. Dagegen zeigt sich das ländliche Russland trotz der gegen Religion und Kirche gerichteten Aufklärungskampagnen und repressiven Maßnahmen der Bolschewiki noch stark religiösen Anschauungen verhaftet. Der neue Ortsname Steklovsk („steklo“ – „Glas“) des ehemaligen Troick („Troica“ – „Dreieinigkeit“, „Pfingsten“) mag hierbei auf die Intention der Bolschewiki verweisen, die vornehmlich religiös geprägten Interpretationen der ländlichen Bevölkerung von Naturerscheinungen wie Wetterlagen, Seuchen oder Insektenplagen im Zuge ihrer Aufklärungsmaßnahmen durch wissenschaftliche, gleichsam „transparente“ Erklärungsmodelle zu ersetzen.10 Mit der Figur des Domoberpopen Drozdov, der im Zuge „antireligiöser Propaganda“ zu Tode gekommen ist, wird auf das Schicksal einer Vielzahl Geistlicher nach der bolschewistischen Machtübernahme angespielt.11 „… vdova otca protoiereä Savvatiä Drozdova, skonçav‚egosä v 26-m 9

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Die Christ-Erlöser-Kirche wurde unter Stalin 1929/1930 wie eine Vielzahl der „vierzig mal vierzig“ („sorok sorokov“) Kirchen Moskaus abgerissen. An der Stelle sollte der monumentale Palast der Sowjets entstehen, der aber schließlich aus Geldmangel nicht gebaut wurde. Vgl. ebd., Bd. II, S. 362 u. Bd. III, S. 156f. Vgl. beispielhaft J. S. Curtiss, Die Kirche in der Sowjetunion (1917-1956), München 1957, S. 196f. u. 202f. sowie S. Plaggenborg (1996), a.a.O., S. 325f. Siehe zum Bildbereich des Gläsernen im Zusammenhang mit einer materialistischen Weltanschauung auch die Ausführungen zum „Glas-“ beziehungsweise „Kristallpalast“ auf S. 40. Vgl. zur Verfolgung und Ermordung von Geistlichen und Gläubigen in den ersten Jahren nach der Oktoberrevolution beispielhaft die Darstellung von A. N. Kaschewarow, Die sowjetische Kampagne gegen die Reliquienverehrung in den Jahren 1918 bis 1920, in: P. Koslowski/W. F. Fjodorow (Hgg.), Religionspolitik zwischen Cäsaropapismus und Atheismus. Staat und Kirche von 1825 bis zum Ende der Sowjetunion, München 1999, S. 57ff.

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godu ot antireligioznoj propagandy,…“ (RJ, V, 324). Wie Curtiss’ Darstellung zu entnehmen ist, wurden die Bolschewiki ob ihrer atheistischen Haltung von Gläubigen und Vertretern der orthodoxen Kirche wiederholt mit dem Tierischen gleichgesetzt. Der Religionsphilosoph und Universitätsprofessor E. N. Trubeckoj geißelte die Sowjetherrschaft als „Königreich des Tieres“, während Patriarch Tichon mit den neuen Machthabern das Bild Gottes in den Seelen der Menschen verdunkelt und mit dem „Zeichen des Tieres“ versehen sah.12 Den antireligiösen Maßnahmen der sowjetischen Regierung ist in Bulgakovs Erzählung letztlich wenig Erfolg beschieden. Trotz Repressionen und wissenschaftlicher Aufklärungskampagnen gilt der ländlichen Bevölkerung das Hühnersterben nach wie vor als Strafe eines erzürnten Gottes beziehungsweise Folge eines bösen Zaubers (vgl. RJ, V, 325), so dass nach einem Geistlichen geschickt wird, der für die kranken Hühner eine Messe liest. „V ‚est´ çasov veçera […] na dvore kurovodstva otec Sergij, nastoätel´ sobornogo xrama, zakonçiv moleben, vylezal iz epitraxili. […] Skorbnaä popad´ä, priloΩiv‚aäsä k krestu, gusto smoçila kanareeçnyj rvanyj rubl´ slezami i vruçila ego otcu Sergiü, na çto tot, vzdyxaä, zametil çto-to nasçet togo, çto vot, mol, Gospod´ prognevalsä na nas.“ (RJ, V, 325).

Im Gegensatz zu den fortschrittsbegeisterten Großstädtern wertet die ländliche Bevölkerung auch die experimentelle Hühnerzucht als empfindliche Störung des natürlichen Gleichgewichts und sündhaftes Teufelswerk. Den Revolutionär Rokk identifiziert sie gar mit dem Antichristen. „– A vy znaete, Aleksandr Semenoviç, – skazala Dunä, ulybaäs´, – muΩiki v Koncovke govorili, çto vy antixrist. Govorät, çto va‚i äjca d´ävol´s13 kie. Grex ma‚inoj vyvodit. Ubit´ vas xoteli.“ (RJ, VIII, 355).

Bestätigt sieht sich das einfache Landvolk in seiner religiösen Vorstellungswelt letztlich insbesondere ob des ungewöhnlichen Verhaltens der Tierwelt. Während die Hunde unerträglich heulen, bleiben die Vögel ebenso stumm wie die Frösche. „Veçer toΩe byl ne bez sürprizov. Esli utrom umolkli rowi, […] to k veçeru umolk prud v Íeremeteve. Qto bylo poistine izumitel´no, ibo vsem v okrestnostäx na sorok verst bylo prevosxodno izvestno znamenitoe strekotanie ‚eremetevskix lägu‚ek. A teper´ oni slovno vymerli. S pruda ne donosilos´ ni odnogo golosa, i bezzvuçno stoäla osoka. NuΩno 12 13

Vgl. J. S. Curtiss, a.a.O., S. 64 u. 67. Allerdings scheint sich das Landleben auch auf Rokks Charakter mäßigend auszuwirken, wie der Erzähler positiv vermerkt. Nicht nur legt er seine an die Revolutionszeit gemahnende Kleidung ab, sondern er wirkt nun auch gelassen und gutmütig („I glaza ego uspokoilis´ i podobreli.“ RJ, VIII, 348).

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priznat´sä, çto Aleksandr Semenoviç okonçatel´no rasstroilsä. Ob qtix prois‚estviäx naçali tolkovat´ i tolkovat´ samym nepriätnym obrazom, to est´ za spinoj Aleksandra Semenoviça.“ (RJ, VIII, 356).

VII. 1. 2. Karel Cµapeks Va´lka s Mloky Cµapeks seelenlose und wesentlich utilitaristisch bestimmte menschliche Gesellschaft begeistert sich in ihrer einseitigen Fokussierung auf technischen Fortschritt, wirtschaftlichen Erfolg und Gewinnmaximierung für die rationalistische Organisation der ebenso homogenen wie effizienten Molchpopulation und gesteht dieser zukunftsweisende Vorbildfunktion zu. Für ihre Arbeitseinsätze lässt Bondys Salamander-Syndikat die Tiere auf sogenannten Molchfarmen von einem ehemaligen Soldaten militärisch drillen. Einmal im Jahr werden die Tiere gemustert und schließlich in alle Welt als billige Arbeitskräfte verschifft (vgl. VSM, II, 2, 129). Das einzelne Tier, schon rein äußerlich ein unbedeutender Teil einer uniformen Molchmasse, definiert sich allein über seine Nützlichkeit für das Molchganze und seine Funktion im arbeitsteiligen Prozess. „Azˇ na bezvy´znamné odchylky se Mloci prˇedstavují jako jediny´ ohromny´ a homogenní celek; […] jsou sice mezi nimi rozdíly ulozˇene´ jim deˇlbou pra´ce, ale sama v sobeˇ je to stejnoroda´, jednolita´, tak rˇíkajíc stejnozrnna´ masa,…“ (VSM, III, 5, 14 203).

Arbeitskraft und Vitalität der Molchmännchen gehen verloren, werden sie von der Molchmasse isoliert. . „… zˇe podle dosavadních zkusˇeností izolovaní mlocˇí samci ztra´cejí po cˇase cˇilost a pracovní hodnotu; jsou líní, netecˇní a cˇasto uhynou steskem.“ (VSM, I, 12, 106). Da die große „Molchgemeinschaft“ als ausschließlich bestimmender Identifikationsfaktor fungiert, ist die Biographie des Einzelnen nicht mehr als eine normierte Biographie der Masse. Zwar ist Cµapeks Kritik wie bereits in seinem Roboterdrama R.U.R. vorrangig gegen eine effizienzsteigernde kapitalistische Massenproduktion gerichtet. Doch unterscheidet sich der Massenmolch letztlich nur unwesentlich von Gastevs seelenlosen menschlichen Arbeiterautomaten in einer umfänglich taylorisierten Lebenswelt (s. S. 73f.). Verbunden mit der begeisterten Aufnahme des „neuen (Molch)-Evangeliums“, das neben Leistungsfähigkeit, Erfolg und Quantität auch für eine Entpersönlichung und uniformisierende Anpassung an das Kollektiv steht, lässt sich für 14

Den unterschiedlichen Funktionen im arbeitsteiligen Prozess entspricht auch die Kategorisierung der Molche durch das Salamander-Syndikat. Dieses unterscheidet zwischen intelligenten Führungstieren („Leading“), harten Arbeitern („Heavy“), Teamarbeitern („Team“) sowie ungeschulten und körperlich beeinträchtigten Tieren („Odd Jobs“ und „Trash“) (vgl. VSM, II, 2, 127f.).

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Cµapeks Menschengesellschaft ebenso wie für Bulgakovs Großstädter ein Verlust an Spiritualität und Innerlichkeit feststellen. Dienstfertig unterstützen die Kirchen den expansiven und profitablen Molchhandel, indem sie dem SalamanderSyndikat nicht nur eine „humane“ Behandlung der Tiere bescheinigen, sondern den Molchen auch Gehorsam und Liebe gegenüber ihren zukünftigen Arbeitgebern predigen. „Na zˇa´dost spolku˚ pro ochranu zvírˇat je na kazˇdé tankové lodi prˇítomen lodní kaplan, ktery´ bdí nad lidsky´m zacha´zením se Salamandry a noc co noc ma´ k ním ka´za´ní, v neˇmzˇ jim klade na srdce zejme´na u´ctu k lidem a vdeˇcˇnou poslusˇnost i la´sku k jejich budoucím zameˇstnavatelu˚m, kterˇí nechteˇjí nic nezˇ otecky pecˇovat o jejich blahobyt.“ (VSM, II, 2, 130).

Zudem intendieren die Kirchen eine Missionierung der Tiere, so dass die Frage der Molchtaufe in einer Vielzahl theologischer Schriften sowie einer Enzyklika des Papstes ernsthaft und umfänglich diskutiert wird (vgl. VSM, II, 2, 157f.). Entgegen der kirchlichen Bemühungen findet die christliche Glaubenslehre unter den Molchen aber kaum Anhänger. Vielmehr neigen die Tiere dem Monismus15 und Materialismus zu (vgl. VSM, II, 2, 158) oder beten den als Zwitterwesen aus Molch und Mensch vorgestellten Moloch an. Zwar weiß der Erzähler nur wenig über diesen Kult zu berichten. Allein der Name Moloch legt aber die Vermutung nahe, dass der grausame Götze von den Molchen immer neue Opfer in Form von uneingeschränkter Arbeitsleistung für den technischen Fortschritt fordert.16 Ihre religiösen Figuren lassen die Tiere bezeichnenderweise bei den Stahl- und Maschinenfabriken Krupp und Armstrong fertigen. „Mloci sami v pozdeˇjsˇích doba´ch te´meˇrˇ obecneˇ prˇijali jinou víru, o ktere´ ani není zna´mo, kde se mezi nimi vzala; bylo to uctíva´ní Molocha, kterého si prˇedstavovali jako obrovske´ho Mloka s lidskou hlavou; meˇli pry´ ohromne´ podmorˇské modly z litiny, ktere´ si dali deˇlat u Armstronga nebo u Kruppa,…“ (VSM, II, 2, 159f.).

Abermals sinnfällig wird schließlich die Vertierung der menschlichen Gesellschaft, wenn dagegen ein eigens für die Molche konzipierter Salamander-Kult un15

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Zu verweisen ist wohl insbesondere auf den weltanschaulich vertretenen Monismus eines E. Haeckel und M. Ostwald, die sich gegenüber als rückständig bewerteten Positionen in Religion, Philosophie und Politik auf eine rein wissenschaftliche Reformvernunft berufen, wobei diesem weltanschaulichen Monismus letztlich selbst ersatzreligiöse Funktion zukommt. Vgl. H. Hillermann/A. Hügli, Monismus, in: J. Ritter (Hg.), a.a.O., Bd. VI, Sp. 134f. Im Alten Testament wird Moloch mehrfach als Götze der Ammoniter erwähnt, dem Kinderopfer dargebracht werden (vgl. beispielhaft 3. Mos. 18, 21 u. 20, 2-5 sowie 2. Kön. 23, 10 und Jer. 32, 35). Heute bezeichnet Moloch vor allem eine grausame Macht, die immer neue Opfer fordert und alles zu verschlingen droht. In A. I. Kuprins Erzählung Moloch (1896) belegt die Figur des Ingenieurs Bobrov seine Fabrik mit dem Namen des alttestamentarischen Götzen, denn dem Fortschritt fallen in den Produktionshallen, so Bobrovs Rechnung, monatlich fünfzehn Arbeiter zum Opfer.

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ter den Menschen Verbreitung findet, bei dem die „Gläubigen“ in Tempelbädern einen schwarzen Molch anbeten. Der Entwicklungsprozess einer zunehmenden Anthropomorphisierung der Gottesvorstellungen im Zuge der Selbstbewusstwerdung des Menschen scheint hier eine unheilvolle Umkehrung zu erfahren. „Za zpeˇvu Mlocˇích litanií vstupují do duhového bazénu po mramorovy´ch stupních nicˇím neodeˇní veˇrˇící Salamandrˇi a Salamandry; z jedne´ strany muzˇi, z druhé strany zˇeny, vesmeˇs z nejlepsˇí spolecˇnosti; […] Na´hle oza´rˇí modry´ reflektor obrovsky´ mramorovy´ balvan vycˇnívající nad vodu, na neˇmzˇ spocˇíva´ a teˇzˇce oddychuje veliky´, stary´ cˇerny´ Mlok, zvany´ Mistr Salamandr. Po chvíli mlcˇení zacˇne Mistr mluvit; vyzy´va´ veˇríˇ cí, aby se plneˇ a s celou dusˇí oddali nasta´vajícím obrˇadu˚m Mlocˇího tance a uctili Velkého Salamandra.“ (VSM, II, 2, 159).

VII. 1. 3. George Orwells Animal Farm Ließ Orwell den Eber Old Major noch eine in Wohlstand lebende egalitäre Tiergemeinschaft antizipieren, so prosperiert zwar die Farm nach der Rebellion. Der Betrieb kann sich im Laufe der Jahre vergrößern, moderne Maschinen werden angeschafft. „The farm was more prosperous now, and better organised; it had even been enlarged by two fields […] The windmill had been successfully completed at last, and the farm possessed a threshing machine and a hay elevator of its own, and various new buildings had been added to it.“ (AF, X, 86).

Aufschwung und Fortschritt kommen den Farmtieren aber entgegen Old Majors Vision nicht zugute, vielmehr sind die Lebensbedingungen schlechter als zu Jones’ Zeiten. Von den Schweinen wie Sklaven gehalten, arbeiten die Farmtiere mit sonntäglichen Sonderschichten bis zu sechzig Stunden die Woche, nur um abends hungrig und frierend in erschöpften Schlaf zu sinken. „They knew that life nowadays was harsh and bare, that they were often hungry and often cold, and that they were usually working when they were not asleep.“ (AF, IX, 75).17 Napoleons Rivale Snowball hatte noch erklärt, dass die mit einer Elektrifizierung verbundene technische Modernisierung der Farm den Lebensstandard erhöhen sowie die Arbeitsbelastung verringern werde. So bliebe den Farmtieren mehr freie Zeit, sich zu erholen und weiterzubilden. „… Snowball declared that this was just the place for a windmill, which could be made to operate a dynamo and supply the farm with electrical power. This would light the stalls and warm them in winter, and would also run a circular saw, a chaff-

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Vgl. zum entbehrungsreichen Alltag der Farmtiere auch AF, VI, 40; VII, 49; IX, 74f., 76 u. 79.

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cutter, a mangel-slicer and an electric milking machine. […] [A]nd they [the animals; Anm. M. M.] listened in astonishment while Snowball conjured up pictures of fantastic machines which would do their work for them while they grazed at their ease in the fields or improved their minds with reading and conversation.“ (AF, V, 32).

Napoleon macht sich zwar Snowballs Modernisierungspläne zu Eigen und treibt den Bau der Windmühle voran. Aber weder ist er an einer Arbeitsentlastung noch an einem Aufklärungs- und Bildungsprogramm interessiert.18 Vielmehr nutzen die Schweine die rücksichtslose Ausbeutung und körperliche Erschöpfung der Farmtiere bewusst zur Stabilisierung ihrer Vorherrschaft. So schmiedet etwa Boxer nach langen entbehrungsreichen Jahren Pläne für den Ruhestand. Die freie Zeit will er nutzen, das Alphabet zu lernen und sich weiterzubilden. „… he [Boxer; Anm. M. M.] looked forward to the peaceful days that he would spend in the corner of the big pasture. It would be the first time that he had had leisure to study and improve his mind. He intended, he said, to devote the rest of his life to learning the remaining twenty-two letters of the alphabet.“ (AF, IX, 81).

Da das altersschwache Pferd für den Farmbetrieb aber nur eine Belastung darstellt und die Ausbildung eines kritischen Bewusstseins auf Seiten des anerkannten Arbeiters für die Herrschaft der Schweine gefährlich werden könnte, wird er kurzerhand zum Pferdemetzger gebracht und durch andere willige, aber umso einfältigere Arbeitstiere ersetzt. „The farm possessed three horses now besides Clover. They were fine upstanding beasts, willing workers and good comrades, but very stupid. […] They accepted everything that they were told about the Rebellion and the principles of Animalism,…“ (AF, X, 85f.).

Gleichzeitig organisieren und kontrollieren die Schweine die wenige freie Zeit der Tiere. Mit Propagandaveranstaltungen, auf denen mit Liedern, Gedichten, Reden und Aufmärschen die Erfolge und Errungenschaften der Farm gefeiert werden, sollen die Tiere von ihrem entbehrungsreichen Dasein abgelenkt und über ihren Sklavenstatus getäuscht werden. Die Farmtiere finden sich mit diesen Kampagnen militärischen Zuschnitts vordergründig und in ritualisierter Form in das politi-

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Hinsichtlich der gegensätzlichen Positionen von Napoleon und Snowball sei allerdings angemerkt, dass Orwell nicht der Meinung war, dass die Entwicklung in der Sowjetunion unter Trockij oder auch unter Lenin wesentlich anders verlaufen wäre. So kritisierte er beispielsweise an Koestlers Roman The Yogi and the Commissar (1945), negative Auswüchse der bolschewistischen Herrschaft allein mit der Person Stalins in Verbindung zu bringen, da doch „sämtliche Keime des Übels“ („all seeds of evil“) von Beginn an zu erkennen gewesen seien. Vgl. G. Orwell, Catastrophic Gradualism, in: Ders., CEJL, a.a.O., Bd. IV, S. 17f. Ähnlich ebd., S. 168 u. Bd. I, S. 381.

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sche Leben eingebunden, tatsächlich bleiben sie aber von allen politischen und ökonomischen Entscheidungsprozessen ausgeschlossen. „But if there were hardships to be borne, they were partly offset by the fact that life nowadays had a greater dignity than it had had before. There were more songs, more speeches, more processions. Napoleon had commanded that once a week there should be held something called a Spontaneous Demonstration, the object of which was to celebrate the struggles and triumphs of Animal Farm. […] But by and large the animals enjoyed these celebrations. They found it comforting to be reminded that, after all, they were truly their own masters and that the work they did was for their own benefit. So that what with the songs, the processions, Squealer’s lists of figures, the thunder of the gun, the crowing of the cockerel and the fluttering of the flag, they were able to forget that their bellies were empty, at least part of the time.“ (AF, IX, 77).

Neben dem harten Arbeitsalltag ist es diese von den Schweinen kontrollierte Freizeitgestaltung, welche die machtstabilisierende Unmündigkeit der Farmtiere befördert, denn Rückzug sowie Stille und Privatheit werden verhindert und damit verbunden Reflexion und Gedankenaustausch nachhaltig gestört. Bereits Kant hatte in seiner Schrift Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht (1784) bemerkt, dass die Menschen ohne Abgrenzung und Einsamkeit auf dem Niveau „eines arkadischen Schäferlebens“ verharrten, und „gutartig wie Schafe, die sie werden, […] ihrem Dasein kaum einen größeren Werth verschaffen [würden], als dieses ihr Hausvieh hat…“19 Bezieht sich Orwell wohl insbesondere auf die pseudomilitärische „Aufmarschkultur“20 des Stalinismus, so ist dieser totalitäre Zugriff, wie er in der umfänglichen Organisation und fortgesetzten Mobilisierung der Bevölkerung zum Ausdruck kommt, auch für den Nationalsozialismus kennzeichnend.21 Kritisch

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21

E. Kant, Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht, a.a.O., S. 21. Goehrke wählt diesen Begriff in dem Kapitel zur „Schauseite“ des Stalinismus. Vgl. C. Goehrke, a.a.O., Bd. III, S. 180. Zur permanenten Erwähnung von „Kampagnen“, „Schlachten“ und „Offensiven“ an der „gesellschaftlichen, wirtschaftlichen, internationalen und heimischen Front“ vgl. zudem O. Figes, a.a.O., S. 162 und zu einer Militarisierung bereits der frühen sowjetischen Festkultur S. Plaggenborg (1996), a.a.O., S. 267ff. In seinem Essay The Lion and the Unicorn spricht Orwell von der Privatheit des englischen Lebens und erwähnt die Bezeichnung der „Spontan-Demonstration“ im Zusammenhang mit dem Nationalsozialismus. „… another English characteristic which is so much a part of us that we barely notice it, and that is the addiction to hobbies and spare-time occupations, the privateness of English life. […] It is obvious, of course, that even this purely private liberty is a lost cause. Like all other modern peoples, the English are in process of being numbered, labelled, conscripted, ‚co-ordinated‘. But the pull of their impulses is in the other direction, and the kind of regimentation that can be imposed on them will be modified in consequence. No party rallies, no Youth Movements, no coloured shirts, no Jew-baiting or ‚spontaneous‘ demonstrations. No Gestapo either, in all probability.“ G. Orwell, The Lion and the Unicorn, a.a.O., S. 59. (Hervh. im Orig.).

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fällt allerdings auch Orwells Einschätzung moderner Freizeit- und Vergnügungsangebote aus. Sowohl die unausgesetzte Beschallung mit Musik als auch der Mangel an Privatheit trübten ebenso wie die Künstlichkeit der Umgebung das Bewusstsein des Menschen entscheidend und beförderten, so Orwell, eine Annäherung des Menschen an das Tier. „On a pleasure cruise or in a Lyons Corner House one already gets something more than a glimpse of this future paradise. Analysed, its main characteristics are these: 1. One is never alone. 2. One never does anything for oneself. 3. One is never within sight of wild vegetation or natural objects of any kind. 4. Light and temperature are always artificially regulated. 5. One is never out of the sound of music. The music – and if possible it should be the same music for everybody – is the most 22 important ingredient. Its function is to prevent thought and conversation,…“ „Much of what goes by the name of pleasure is simply an effort to destroy consciousness. […] For man only stays human by preserving large patches of simplicity in his life, while the tendency of many modern inventions – in particular the film, the radio and the aeroplane – is to weaken his consciousness, dull his curiosity, 23 and, in general, drive him nearer to the animals.“

VII. 1. 4. Eugène Ionescos Rhinoce´ros Ionescos Theaterstück zeigt eine dem Zuschauer bekannte alltägliche Szenerie, so dass die provinzstädtische Lebenswelt stellvertretend für die einer Vielzahl von Menschen steht. Unter der Woche gehen die Figuren ihrer Arbeit nach, am Wochenende machen sie letzte Besorgungen, erholen sich, treffen sich mit Freunden und Bekannten. Der in der Regieanweisung zum Bühnenbild des ersten Aktes erwähnte staubbedeckte Baum („Un arbre poussiéreux près des chaises de la terrasse.“ RH, I, 9) scheint dabei auf eine gewisse leblose Monotonie des ewig gleich bleibenden Wochenrhythmus zu verweisen und lässt an Ionescos Tagebuchaufzeichnungen über „das schmutzige Grau der vielen Tage“ denken. „Tous les jours, sauf pendant quelques moments si rares que je puis les compter, s’e´coulent, comme les nuits, entre le jour et la nuit, dans une clarte´ gris, ce vieux gris 24 sale, des jours nombreux, des jours comme tous les jours.“

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G. Orwell, Pleasure Spots, in: Ders., CEJL, a.a.O., Bd. IV, S. 79f. Ebd., S. 81. Insbesondere Orwells kritische Beurteilung von Radio und Kino zeigt die bereits bekannte kulturpessimistische Sichtweise moderner Freizeitvergnügungen für die breite Masse. E. Ionesco, présent passe´, a.a.O., S. 221f.

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Zudem liegt die Stadt in einem vegetationsarmen Landstrich. Die Provinz gleicht einer Wüste. „Jean: […] Notre province est surnommée: ‚La Petite Castille‘ tellement elle est désertique!“ (RH, I, 20). Ebenso verweist das seit Jeans und Bérengers Kindheit bestehende Zirkusverbot der Stadt auf ein abgeschlossenes Dasein ohne Abenteuer und Phantasie (vgl. RH, I, 20). In seinem Gespräch mit Jean thematisiert Bérenger die abstumpfende Langeweile des Provinzstadtlebens (s. S. 216) und der täglichen Büroroutine, die sich vor allem im Redigieren teils sinnloser Gesetzestexte zu erschöpfen scheint (vgl. RH, II/1, 53).25 Zu ertragen vermag Bérenger diese lähmende Eintönigkeit nur, indem er sich an den Wochenenden regelmäßig betrinkt. „Bérenger: […] je ne suis pas fait pour le travail que j’ai… tous les jours, au bureau, pendant huit heures, trois semaines seulement de vacances en été! Le samedi soir, je 26 suis plutoˆt fatigué, alors, vous me comprenez, pour me détendre…“ (RH, I, 12).

Auch der Ich-Erzähler in Ionescos Roman Le solitaire betrinkt sich sonntags, um die jeden Montag aufs Neue beginnende „Alltagshölle“ kurzfristig zu vergessen. „C’e´tait pour oublier que je devais recommencer la semaine le lundi matin que je m’enivrais le dimanche. Le lundi matin, mal à la teˆte, la langue gonflée dans la bouche, c’était le désespoir. […] Je n’habitais pas loin du bureau. Je descendais dans la rue, il n’y avait que des gens pressés qui réinte´graient leur enfer journalier 27 comme moi.“

Darüber hinaus enthüllt Ionescos „Einzelgänger“, der sich selbst als Gefangenen des Alltags und Scheintoten in einer grenzenlosen Wüste sieht, einen für das Theaterstück wesentlichen Konnex zwischen der erstarrten Lebensführung der Figuren und ihrer späteren Aggressivität als Nashörner. Sowohl die abstumpfende Langeweile als auch die deformierende Anpassung an die konventionelle Ordnung seien, so der „Einzelgänger“, nicht zuletzt der Nährboden für zerstörerisches Handeln. „L’ennui paralyse ou ne vous fait faire que des actions destructrices ou vous met dans un état voisin de la mort. […] Un mort qui ne serait pas mort, un vivant qui ne serait plus vivant. Seul, dans un désert illimite´. Ou, au contraire, dans une cellule entoure´e de murs, très hauts, avec une lumière grise tout en haut, pas capable de lire 28 un livre.“

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Ionesco selbst arbeitete nach seiner Übersiedlung nach Frankreich 1945 zunächst als Korrektor in einem Verlag für Verwaltungspublikationen in Paris. Vgl. F. Bondy, a.a.O., S. 142. Siehe zur „kräftezehrenden“ Monotonie des Alltags auch RH, I, 24: „Bérenger, à Jean: Moi, j’ai à peine la force de vivre. Je n’en ai plus envie peut-eˆtre.“ E. Ionesco, Le solitaire, a.a.O., S. 17. Ebd., S. 81f.

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Während auch Bérenger Jean gegenüber ein Unbehagen angesichts einer Gesellschaft formuliert, die mehrheitlich aus bereits zu Lebzeiten toten Menschen bestehe, sind es die platten und floskelhaften Einwände seines Bekannten, die diesen als angepassten und leblos-abgestumpften Vertreter einer auf eindimensionale Erklärungsmuster reduzierten Daseinsbewältigung kennzeichnen. „Bérenger, à Jean: C’est une chose anormale de vivre. Jean: Au contraire. Rien de plus naturel. La preuve: tout le monde vit. Bérenger: Les morts sont plus nombreux que les vivants. Leur nombre augmente. Les vivants sont rares. Jean: Les mortes, ça n’existe pas, c’est le cas de le dire!… Ah! Ah!… (Gros rire.) Ceux-là aussi vous pe`sent? Comment peuvent peser des choses qui n’existent pas? Bérenger: Je me demande moi-meˆme si j’existe! Jean, à Bérenger: Vous n’existe pas, mon cher, parce que vous ne pensez pas! Pensez, et vous serez.“ (RH, I, 24f.).

Jean, der auf Bérengers Bedrückung angesichts des schmutzig-staubigen Graus des provinzstädtischen Alltags und der „todbringenden“ Büroroutine mit abwertender Geringschätzung reagiert, dessen eigene verdrängte Unzufriedenheit sich aber jederzeit in der Zerstörungswut seines Nashornwesens Bahn zu brechen vermag, zeigt beispielhaft den Verlust einer existentiellen Tiefendimension, der Ionesco wesentlicher Ausdruck einer Vertierung der menschlichen Gesellschaft ist. „Notre époque est une époque de´chue, parce que, à la préoccupation de l’absolu s’est substitué le problème politique, la fureur politique: lorsque l’homme ne se préoccupe plus des problèmes des fins dernières, lorsque seul l’intéresse le destin d’une nation politique, de l’économie, lorsque les grands problèmes me´taphysiques ne font plus souffrir, laissent indifférent, l’humanité est de´gradée, elle devient 29 bestiale.“

VII. 1. 5. Felix Mitterers Das Fest der Krokodile Für die Figuren in Mitterers Theaterstück ist der Krieg gewissermaßen zum Alltag geworden. Die Kampfhandlungen folgen einem stets gleichen Ablaufplan. „Hubertus: Um diese Zeit probieren sie’s manchmal. Spielen Indianer, schleichen sich an. Gehen Sie hinauf und halten Sie ein wenig die Augen offen.“ (FK, 186).

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E. Ionesco, présent passe´, a.a.O., S. 64. Siehe zu einem dem Tier vergleichbaren Präsentismus des Menschen auch ebd., S. 78: „Il y a deux races d’hommes: ceux qui sont indifférents aux problèmes de la religion, de la me´taphysique, de la mort, et ceux que les problèmes politiques laissent ou pourraient laisser indifférents. Les politiciens ne pensent pas à la mort, l’action les situe dans un présent perpe´tuel.“

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„Hubertus: […] (Schaut auf seine Uhr, schaut zu Stephan hinauf.) Sergeant-Major Stephan, Sie dürfen sich zwei Stunden aufs Ohr hauen. Das machen die da drüben um diese Zeit auch.“ (FK, 193).

Der feindliche Beschuss wird nicht mehr bewusst wahrgenommen und nicht als lebensgefährliche Bedrohung erlebt. „Tini geht […] zum Waschzuber, beginnt die Wäsche auszuwringen, steigt dann auf den Trümmergrat, wo eine Wäscheleine gespannt ist, hängt dort die Wäsche auf. […] Ein Scharfschütze beginnt auf sie zu schießen, die Querschläger heulen. Hubertus: Frau Tini! Was machen Sie da? Tini: Da geht so schön der heiße Wind. In fünf Minuten ist die Wäsche trocken.“ 30 (FK, 201).

Die Sinnlosigkeit der kriegerischen Auseinandersetzung ist nur allzu offensichtlich, denn der lang anhaltende Stellungskrieg hat das umkämpfte Gebiet in eine für Menschen unbewohnbare karge Wüstenlandschaft (vgl. FK, 167) mit bedrohlich veränderter Fauna verwandelt. Verweisen sowohl die Aussagen der Figuren als auch die Requisiten auf eine zeitgenössische Lebenswelt, so werden im Verlauf des Theaterstücks Denk- und Verhaltensmuster aufgerufen, die Weltkriegs- und Totalitarismuserfahrungen des 20. Jahrhunderts kaleidoskopartig widerspiegeln. Einerseits scheint etwa ein Gedicht des Staatspräsidenten Hubertus auf aktuelle Zuwanderungs- und Flüchtlingsproblematiken sowie irrationale Überfremdungsängste zu rekurrieren, die undifferenziert-populistisch ausgeschlachtet auch im 21. Jahrhundert Wahlerfolge bescheren. Andererseits erinnert die stereotype Betonung der eigenen Überlegenheit gegenüber einer fremden Kultur, deren Angehörige als primitive Untermenschen abgewertet werden, vor allem an nationalsozialistisches Gedankengut. „Land der Berge, Land am Strome, Land der Hünen, Land der Dome! Heimat bist du großer Söhne, geboren seid ihr für das Schöne, edle Nasen, edle Stirn, […] jeder Topf voll Schweinebraten, Supermärkte, Videotheken, der Erfolg macht uns zum Schrecken! Drum voller Neid sind unsre Nachbarn,

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Siehe auch FK, 172: „Andreas winkt lächelnd zurück, verschwindet über den Trümmergrat. Immer wieder sind dann Schüsse von Scharfschützen zu hören. Eva steigt hinauf und beobachtet Andreas. Sie stellt sich einfach hin, geht nicht in Deckung.“ Ebenfalls FK, 175: „Es wird wieder geschossen, sie achten nicht darauf.“

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wir mit 130 PS, die mit Schubkarren! Land der Gnome, Land der Zwiebeln, Storchennester auf den Giebeln, primitive Untermenschen, anerkennen keine Grenzen, überschwemmen unser Land,…“ (FK, 187).

Mitterers Theaterstück macht allerdings deutlich, dass diese Abwertung Ausdruck eines generell reduzierten Menschenbildes ist, das zwangsläufig auch für die eigene Bevölkerung zur Bedrohung wird. Ebenso wie die Angehörigen einer fremden Kultur analog zu naturmetaphorischen Beschreibungsmustern der Vielen nur als zerstörerische Flut wahrgenommen werden, sind Hubertus auch die eigenen Soldaten nicht mehr als eine gesichtslose Masse von Befehlsempfängern und austauschbare Teile der Kriegsmaschinerie (s. S. 225). Werden die einen zu primitiven Untermenschen reduziert, so sind die anderen nicht mehr als bloßes Material. Dies erinnert, wie auch Hubertus’ Gleichgültigkeit gegenüber dem Tod einer ganzen Einheit, nicht zuletzt an das anonyme Massensterben der Soldaten in den Materialschlachten des Ersten Weltkriegs. „Stephan: Melde, wir haben Sie auf einem Satellitenfoto entdeckt, Herr Präsident! Trupp von 500 Mann losgeschickt, um Sie zu entsetzen! Alle gefallen, nur einer kam durch! Ich, Herr Präsident! Soll Sie hier rausholen! Hubertus: Stehen Sie bequem, Infanterist. Stephan tut es, Hubertus geht zu ihm, klopft ihm auf die Schulter. Hubertus: Gut gemacht, Soldat!“ (FK, 180).

Mitterer zeigt ebenfalls eine nur vermeintlich fortschrittliche Konsum- und Industriegesellschaft. Tatsächlich ist diese aber nach wie vor von einem eindimensional-defizitären Menschenbild bestimmt, das sich bereits in den Weltkriegen und Totalitarismen des 20. Jahrhunderts katastrophal ausgesprochen hat.

VII. 2. Visionen von „neuen Menschen“ Der Vorstellung der Bolschewiki, mit einer planmäßigen Elektrifizierung eine weitgehend rückständige Bevölkerung zu aufgeklärten und bewussten Mitgliedern einer allseits entwickelten sozialistischen Gesellschaft zu machen, ist die Idee einer Neuschöpfung des Menschen bereits in gewisser Weise inhärent. Bevor nun in diesem Zusammenhang insbesondere auf Persikovs und Rokks Experimente mit dem roten Strahl näher eingegangen wird, sind zunächst einige für den Begriff des „neuen Menschen“ wesentliche Bedeutungsaspekte in der langen Diskurstradition aufzuzeigen. Ausgehend vom Corpus Paulinum ist Christus als „Erstgeborener von den Toten“ (Kol. 1, 18) gleichsam das Urbild des „neuen Menschen“ (vgl. Eph. 2, 15). In der Nachfolge Christi kann auch der gläubige Mensch sein

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Neusein in der diesseitigen Welt erfahren und hat Aussicht, bewaffnet mit dem „Schwert des Geistes, welches ist das Wort Gottes“ (Eph. 6, 17), Apokalypse und jüngstes Gericht zu bestehen.31 Sein endgültiges Neuwerden bleibt aber an den Eingang ins Jenseits gebunden und ist somit Teil des eschatologischen Schöpfungshandelns Gottes.32 Eine wesentliche Neubestimmung erfolgt mit der zunehmenden Säkularisierung der Vorstellung in der Aufklärung. Die Neuwerdung wird nun nicht mehr als der menschlichen Verfügbarkeit entzogen, sondern durch gesellschaftliches Handeln als erreichbar gedacht. Kommt im Begriff des „neuen Menschen“ durchgängig „das Bewusstsein einer definitiv erlösten gegenüber einer bloß vorläufigen Wirklichkeit zur Anschauung“33 , so ist der „neue Mensch“ nun nicht mehr Teil einer jenseitigen, sondern einer innerweltlichen, diesseitigen Heilsversprechung und Erlösungshoffnung.34 Insbesondere die „neue Glaubensmacht“ der Wissenschaften scheint es dem Menschen selbst zu ermöglichen, die wahre Ordnung der Dinge sowohl in der Natur als auch in Gesellschaft und Politik zu enthüllen und somit eine vollkommene Ordnung mit „neuen Menschen“ zu gestalten.35 Trotz der Vorstellung von einer diesseitigen Veränderung der gesellschaftlichen Ordnung und des Menschen werden allerdings religiös geprägte Motive und Wortwahl durchaus weitergeführt und übernommen, wenn etwa politisch-revolutionäres Denken und Handeln das Anbrechen einer neuen Zeit antizipiert und eine Vervollkommnung des Menschen unter neuen gesellschaftlichen Bedingungen verspricht. Der Aufruf zu einer ebenso erbarmungslosen wie restlosen Zertrümmerung der alten Welt, die der wahren Erneuerung vorauszugehen hat, mag dabei nicht zuletzt an biblische Endzeitvorstellungen erinnern.36 Ionesco, der einem revolutionären Fortschrittsoptimismus generell skeptisch gegenübersteht, erkennt in dieser Propagierung einer umfänglichen Zerstörung als wesentliche Voraussetzung einer Erneuerung ein ebenso verbindendes wie klägliches Klischee sowohl rechter als auch linker revolutionärer Heilsversprechungen. Spreche sich in diesen Phrasen auch vordergründig der Wunsch nach einer reinigenden Läuterung aus, so seien doch Hass und Dummheit die eigentlichen Triebfedern dieses Aufrufs zur Zerstörung.

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Vgl. hierzu auch Röm. 5, 12-21 u. 6, 2, Kor. 5, 17, Gal. 6, 15 sowie Eph. 4, 22-24. Vgl. G. Küenzlen, Der Neue Mensch. Eine Untersuchung zur säkularen Religionsgeschichte der Moderne, München 1994, S. 54ff. M. Arndt/U. Dierse, Mensch, neuer, in: J. Ritter (Hg.), a.a.O., Bd. V, Sp. 1112. Vgl. G. Küenzlen, a.a.O., S. 58ff. Vgl. ebd., S. 86ff. Vgl. allgemein ebd., S. 76ff. Zum apokalyptischen Weltbild des russischen Bolschewismus und deutschen Nationalsozialismus vgl. G. Koenen, Bolschewismus und Nationalsozialismus. Geschichtsbild und Gesellschaftsentwurf, in: M. Vetter (Hg.), Terroristische Diktaturen im 20. Jahrhundert. Strukturelemente der nationalsozialistischen und stalinistischen Herrschaft, Opladen 1996, S. 173ff.

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„Jean me disait que Virgile de´clarait qu’il fallait tout de´truire pour que tout recommence à zero. […] Cette idée n’est pas du tout originale, elle n’est qu’un lamentable cliché propre aux ‚révolutions‘ de gauche ou de droite et ne correspond, en quelque sorte, à aucun contenu; ou si, à la beˆtise haineuse, non pas à un désir de purifi37 cation.“

Bulgakov, der die revolutionären Umwälzungsprozesse in seinem Land ebenfalls skeptisch beurteilt, bezieht sich nun mit der „roten Bestrahlung“ lebender Organismen satirisch auf die Idee von der Neuschöpfung eines sozialistischen Menschen. Da er allerdings zu Beginn der Erzählung Persikov beim Sezieren aufgenadelter, „gekreuzigter“ Frösche zeigt, scheint er zudem auf die revolutionären Vorstellungen der russischen Intelligenz der 1860er Jahre anzusprechen, als – verbunden mit einer breiten Popularisierung naturwissenschaftlichen Denkens und materialistischer Anschauungen – der Topos eines säkularisierten „neuen Menschen“ Eingang in die russische Literatur und Geistesgeschichte findet.38 „Tam, na steklännom stole, poluzadu‚ennaä i obmer‚aä ot straxa i boli lägu‚ka byla raspäta na probkovom ‚tative, a ee prozraçnye slüdänye vnutrennosti vytänuty iz okrovavlennogo Ωivota v mikroskop.“ (RJ, II, 309).

Verwiesen sei im Zusammenhang mit dem Motiv des aufgenadelten Frosches insbesondere auf den russischen Physiologen I. M. Secˇenov (1829-1905), der an Fröschen Versuche zur Reflexhemmung durchführte, die Ergebnisse aber auch auf die Nerventätigkeit des menschlichen Organismus übertrug. Die Reflexhemmung, so Secˇenov, verhindere eine gleichsam automatisierte Muskelbewegung, der Nervenimpuls werde stattdessen über das Gehirn geleitet, wo er, nun als Gedanke rational erfassbar, gemeinsam mit anderen gehemmten Reflexen in ein bewusstes Entscheiden und Handeln umgesetzt werden könne. Secˇenov führt somit anhand seiner Froschexperimente psychische Erscheinungen, nicht zuletzt auch die menschliche Entscheidungs- und Handlungsfreiheit, auf ausschließlich physiologisch bestimmte Grundlagen zurück.

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E. Ionesco, présent passé, a.a.O., S. 54. Vgl. zu Ionescos kritischer Beurteilung von Revolutionen, die nach Erlangen der Macht erstarrten und in eine neue Tyrannei führten ebd., S. 265 sowie ders., Antidotes, a.a.O., S. 135 und Notes, a.a.O., S. 39. Zu diesem Verweischarakter von Persikovs Froschexperimenten vgl. auch I. Gutkin, a.a.O., S. 292f. Zur Popularisierung naturwissenschaftlichen Denkens und materialistischer Anschauungen in den 1860er Jahren vgl. beispielhaft T. Rüting, a.a.O., S. 57. Im Zusammenhang mit Bulgakovs Schilderung des lichterstrahlenden Moskau ist bemerkenswert, dass es gerade der Frosch ist, an dem sich zum Ende des 18. Jahrhunderts die Kontroverse um eine tierische Elektrizität entzündet und im Zuge der Experimente von L. Galvani und A. Volta „das Wissen von der Elektrizität Kontur gewinnt“. Vgl. B. Bühler/S. Rieger, Vom Übertier. Ein Bestiarium des Wissens, Frankfurt/M. 2006, S. 99-113 und M. Pera, The Ambigious Frog. The Galvani-Volta Controversy on Animal Electricity, Princeton 1992.

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„I shall now show the reader the first and most important result of man’s capacity to inhibit the last member of a reflex. This can be summarised as the ability to think, meditate, and reason. What, actually, is the process of thinking? It is the series of interconnected notions and concepts which exists in man’s consciousness at a given time and which is not expressed in external manifestations resulting from these psychical acts. But a psychical act […] cannot appear in consciousness without an external sensory stimulation. Consequently, thought is also subordinated to this law. It manifests, therefore, the beginning of a reflex and its continuation; only the end of the reflex, i. e., movement, is apparently absent. A thought is the first two-thirds of a 39 psychical reflex.“

Zugeordnet ist das Froschpräparat auch der Figur des Bazarov aus Turgenevs Roman Otcy i deti (Väter und Söhne; 1862), der die Opposition von „alten“ und „neuen“ Menschen als Generationenkonflikt zeigt. Bazarov, der den „Vätern“ empfiehlt, statt Pusˇkin lieber Kraft und Stoff (1855) des Vulgärmaterialisten L. Büchner zu lesen40 , erwartet sich von seinen physiologischen Untersuchungen am Frosch uneingeschränkt Aufschluss über die Funktionen des menschlichen Organismus. „– A vot na çto, – otveçal emu Bazarov, […] – ä lägu‚ku rasplastaü da posmotrü, çto u nee tam vnutri delaetsä; a tak kak my s toboj te Ωe lägu‚ki, 41 tol´ko çto na nogax xodim, ä i budu znat´, çto i u nas vnutri delaetsä.“

Diese unterschiedslose Gleichsetzung von Frosch und Mensch entspricht durchaus Büchners Vorstellung, dass „Menschen- und Thierseele fundamental dasselbe“ sind. Jeder lebende Organismus wird von Büchner vor allem als „chemisches Laboratorium“ und die (menschliche) Geistes- und Seelentätigkeit als ein Produkt des (chemischen) Stoffwechsels vorgestellt.42 Analog zum Bild der „gekreuzig39

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I. Sechenov, Reflexes of the Brain, Cambridge (Mass.) 1965, S. 86. (Hervh. im Orig.). Das Bild neben dem Titelblatt stammt von 1861 und zeigt Secˇenov vor drei „gekreuzigten“ Fröschen. Secˇenov schrieb die Abhandlung 1863 im Auftrag von Cµernysˇevskijs Sovremennik (Der Zeitgenosse), wo sie auch unter dem Titel Versuch, die Entwicklung psychischer Erscheinungen auf physiologische Grundlagen zurückzuführen erscheinen sollte. Nach Cµernysˇevskijs Verhaftung im Dezember 1863 verfügte die Zensur, dass Secˇenovs Abhandlung unter dem Titel Reflexe des Gehirns lediglich in einer medizinischen Fachzeitschrift erscheinen dürfe. Vgl. T. Rüting, a.a.O., S. 72f. Vgl. I. S. Turgenev, Otcy i deti, in: Ders., Polnoe sobranie socˇinenij i pisem v tridcati tomach, Moskau 1978ff., Bd. VII, S. 45. Die Figuren vertauschen allerdings die Titelwörter und sprechen von Büchners „Stoff und Kraft“. Ebd., S. 21f. Vgl. zur Parallelisierung von Bazarov und Secˇenov M. Holquist, Bazarov and Secˇenov: The Role of Scientific Metaphor in „Fathers and Sons“, in: Russian Literature 16, 4 (1984), S. 363 u. 366f. Vgl. L. Büchner, Kraft und Stoff. Oder Grundzüge der natürlichen Weltordnung, 9. Aufl., Leipzig 1867, S. 132, 161, 206, 216, 227, 235ff. Vgl. zu Büchners Kraft und Stoff und Turgenevs Otcy i deti auch P. Thiergen, Nachwort, in: I. Turgenjew, Väter und Söhne, Stuttgart 1989, S. 296ff.

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ten“ Frösche findet sich das Froschpräparat religiös konnotiert, wenn der Literaturkritiker Pisarev in seinem Aufsatz Motivy russkoj dramy (Motive des russischen Dramas; 1864) dieses zum Symbol für die Erlösung und Erneuerung des russischen Volkes durch die Wissenschaft proklamiert. „… molodeΩ´ […] proniknetsä gluboçaj‚im uvaΩeniem i plamennoü lübov´ü k rasplastannoj lägu‚ke. A tol´ko qto i nuΩno. Tut-to imenno, v samoj lägu‚ke-to, i zaklüçaütsä spasenie i obnovlenie russkogo naro43 da.“

Bazarovs materialistischer Verabsolutierung in gewisser Weise vergleichbar, interessieren sich Persikov und sein Assistent Ivanov im Zuge ihrer Experimente mit dem roten Strahl allein für die Tatsache, dass sich die Tiere rasend schnell vermehren und zu ungewöhnlicher Größe anwachsen.44 Das veränderte, bösartige Verhalten der Tiere und der durch die Bestrahlung entfachte mörderische Existenzkampf erscheinen ihnen dagegen wenig bedeutsam. Als zum Ende der Erzählung der rasende Mob Persikovs Labor stürmen will, breitet Persikov, den gekreuzigten Fröschen ähnlich, selbst wie ein Gekreuzigter die Arme aus, um die wütende Menschenmenge aufzuhalten. „Persikov nemnogo otstupil nazad, prikryl dver´, veduwuü v kabinet, gde v uΩase na polu na kolenäx stoäla Mar´ä Stepanovna, rasproster ruki, kak raspätyj… on ne xotel pustit´ tolpu…“ (RJ, XI, 376).

Cµernysˇevskijs ein Jahr nach Turgenevs Otcy i deti erschienener Roman Cµto delat’? Iz rasskazov o novych ljudjach, von Zeitgenossen als „Katechismus des neuen Glaubens“ und „sozialistisches Evangelium“45 apostrophiert, spricht schließlich bereits im Untertitel von der Heraufkunft der „neuen Menschen“. Das von Cµernysˇevskij vertretene Programm zur Erneuerung von Mensch und Gesellschaft lässt an Secˇenovs Ausführungen zur Reflexhemmung denken, soll die Unterdrückung der körperlichen Bedürfnisse und spontanen Leidenschaften doch ein jederzeit vernünftiges und bewusstes sowie für das Gemeinwohl nützliches Entscheiden und Handeln garantieren.46 Die Figur des selbstbeherrschten und durch

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D. I. Pisarev, Motivy russkoj dramy, in: Ders., Polnoe sobranie i pisem, a.a.O., Bd. V, S. 385. Gutkin bezeichnet Persikov als „an heir to the ‚men of the sixties‘, of the Bazarov generation“. I. Gutkin, a.a.O., S. 292. Zu einer einseitig religiös unterlegten Interpretation des „gekreuzigten“ Forschers und seiner Frösche, die den Bezug zur vorrevolutionären Intelligenz nicht berücksichtigt vgl. dagegen B. Gasparov, Das Neue Testament in den Werken M. A. Bulgakovs, in: Neue russische Literatur 5 (1982), S. 391f. u. 400f. Vgl. I. Paperno, Chernyshevsky and the Age of Realism. A Study in the Semiotics of Behaviour, Stanford 1988, S. 195. Tatsächlich wird Secˇenov verschiedentlich als Vorbild für Cµernysˇevskijs Figur des Doktor Kirsanov genannt. Zum einen vertritt Kirsanov eine an Secˇenov erinnernde „Theorie der Funktionen des Nervensystems“, zum anderen leben Kirsanov sowie die Figuren Lopuchov

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harte Arbeit gestählten Revolutionärs Rachmetov, der seine „Hemmfunktionen“ durch strenge Diät und Enthaltsamkeit zusätzlich trainiert, bildet gewissermaßen die Vorhut dieser von Cµernysˇevskij visionär geschauten neuen Menschheit. Vorweggenommen findet sich hier Lenins Vorstellung einer elitären Organisation von bewussten Berufsrevolutionären, die als Avantgarde „neuer Menschen“ die rückständigen Bevölkerungsmassen im Revolutionsprozess anleiten (s. S. 56f.). Dass dieser „Erziehungsauftrag“ insbesondere diktatorische Unterwerfung und Kontrolle bedeutet, zeigt Lenins Schrift Ocˇerednye zadacˇi sovetskoj vlasti (Die nächsten Aufgaben der Sowjetmacht; 1918). Das Volk soll in ein Heer disziplinierter Arbeiter überführt werden, das sich widerspruchslos den weiteren Zielsetzungen zum Aufbau des Sozialismus unterordnet. „… zur Bedeutung gerade der diktatorischen Macht einzelner Personen vom Standpunkt der spezifischen Aufgaben des gegebenen Moments muß man sagen, daß jede maschinelle Großindustrie – d. h. gerade die materielle, die produktive Quelle und das Fundament des Sozialismus – unbedingte und strengste Einheit des Willens erfordert, der die gemeinsame Arbeit von Hunderten, Tausenden und Zehntausenden Menschen leitet. […] Wie aber kann die strengste Einheit des Willens gesichert werden? Durch die Unterordnung des Willens von Tausenden unter den Willen eines einzelnen. Diese Unterordnung kann bei idealer Bewußtheit und Diszipliniertheit der an der gemeinsamen Arbeit Beteiligten mehr an die milde Leitung eines Dirigenten erinnern. Sie kann die scharfen Formen der Diktatorschaft annehmen, wenn keine ideale Diszipliniertheit und Bewußtheit vorhanden ist. Aber wie dem auch sein mag, die widerspruchslose Unterordnung unter einen einheitlichen Willen ist für den Erfolg der Prozesse der Arbeit, die nach dem Typus der maschinellen Großindustrie 47 organisiert sind, unbedingt notwendig.“

Galten Marx noch die Arbeiter als „neue Menschen“, deren Revolution eine Erneuerung der Gesellschaft ins Werk setzen werde48 , so haben diese nun nach Maßgabe der revolutionären Kader restlos als gleichsam funktionstüchtige Teile in einem mechanisierten Wirtschaftskörper beziehungsweise einem Mensch und Maschine organisierenden „Produktionsorchester“ aufzugehen.49 Zamjatin entwirft in seiner Anti-Utopie My das Bild eines „Maschinenballetts“ („masˇinnyj balet“), dessen exaktem Rhythmus die nach Taylors Bewegungsstudien gedrillten

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und Maria Pavlova in Cµernysˇevskijs Roman ebenso in einer Art „ménage à trois“ wie Secˇ e nov und Cµernysˇevskijs Freund, der Arzt P. I. Bokov, sowie dessen Frau M. A. Obrucˇeva-Bokova. Vgl. ebd., S. 133ff. W. I. Lenin, Die nächsten Aufgaben der Sowjetmacht, a.a.O., S. 259f. (Hervh. im Orig.). Zum obigen Zitat passend wird nach Lenins Tod die Partei mit einem „Orchester ohne Dirigenten“ verglichen. Vgl. R. Löhmann, a.a.O., S. 64. Vgl. M. Arndt/U. Dierse, a.a.O., Sp. 1115. Zur Vorstellung eines „mechanisierten kollektiven Menschentypus“ vgl. auch R. Fülöp-Miller, Geist und Gesicht des Bolschewismus. Darstellung und Kritik des kulturellen Lebens in Sowjet-Russland, Wien 1926, S. 13ff. sowie die Abbildungen S. 17, 25 u. 31.

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Nummernmenschen freudig gehorchen, da sie die Anpassung an die von der Maschine vorgegebene „Choreographie“ als Akt der Vervollkommnung begreifen. „… po Tqjloru, razmerenno i bystro, v takt, kak ryçagi odnoj ogromnoj ma‚iny, nagibalis´, razgibalis´, povoraçivalis´ lüdi vnizu. […] [P]o steklännym rel´sam medlenno katilis´ prozraçno-steklännye çudoviwa-krany, i tak Ωe, kak lüdi, poslu‚no povoraçivalis´, nagibalis´ […] 50 I qto bylo odno: oçeloveçennye, sover‚ennye lüdi.“

Ähnlich wie von Orwell mehrfach kritisch thematisiert (s. S. 103 u. 113f.), wird die Erneuerung von Mensch und Gesellschaft auf eine allein ökonomisch verstandene Kollektivität heruntergebrochen, während dagegen die ideellen Zielsetzungen des Sozialismus vollständig getilgt scheinen. Bulgakovs Persikov nun allein aufgrund seines Alters oder gleich lautender Vor- und Vatersnameninitialen mit Lenin zu identifizieren, greift zu kurz. Allerdings lassen insbesondere die „rote Bestrahlung“ sowie das Experimentieren des Zoologieprofessors mit lebenden Organismen in seinem Institutslabor an Vorstellungen denken, die Lenin und Mitglieder der Parteiführung als Experimentatoren im „Laboratorium der Sowjetunion“51 zeigen. In seinen Nesvoevremennye mysli (Unzeitgemäße Gedanken; 1917/18) bezeichnet etwa Gor’kij, der die Partei in den Händen blinder Fanatiker, gewissenloser Abenteurer und professioneller Demago-

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E. Zamjatin, My, a.a.O., S. 266. Zum „Maschinenballett“ vgl. ebd., S. 213 Rüting spricht vom „Großlaboratorium Sowjetunion“. Stites verwendet die Formulierung „Laboratory of the Revolution“. Vgl. T. Rüting, a.a.O., S. 169 und R. Stites, a.a.O., S. 219. Zu den Begrifflichkeiten der „Laborsituation“ und des „Experiments“ in Bezug auf Bulgakovs Erzählung vgl. auch I. Grossman-Rosˇcˇin, Stabilizacija intelligentskich dusˇ i problemy literatury, in: Oktjabr’ 7 (1925), S. 128f. und generell zum Modell des „Experiments“ als leitendem Paradigma sozialer und politischer Umgestaltung ab dem letzten Drittel des 19. Jahrhunderts M. Gamper (2007), a.a.O., S. 395f. Wie Koenen bemerkt, habe sich Lenin in Gesprächen mit Pavlov, dem Entdecker des „bedingten Reflexes“, über die Möglichkeiten informiert, das Verhalten des Individuums gezielt zu konditionieren. Vgl. G. Koenen (1998), a.a.O., S. 131. M. Bryld und R. C. Tucker zeigen, dass auch unter Stalin wiederholt Parallelen zwischen den konditionierten Pavlovschen Hunden und dem zu formenden neuen „homo sovieticus“ gesehen wurden. Vgl. R. C. Tucker, The Soviet Political Mind. Studies in Stalinism and Post-Stalin Change, New York/London 1963, S. 108ff. und M. Bryld, The Days of Dogs and Dolphins: Aesopian Metaphors of Soviet Science, in: M. Bryld/E. Kulavig (Hgg.), Soviet Civilzation between Past and Present, Odense 1998, S. 53ff. Pavlov selbst zog 1935 Vergleiche zwischen seinen Laborexperimenten und der Formierung einer neuen Sowjetgesellschaft: „Wie Sie wissen, bin ich von Kopf bis Fuß ein Experimentator. Mein ganzes Leben bestand aus Experimenten. Unsere Regierung ist ebenfalls ein Experimentator, jedoch ein Experimentator unvergleichlich höherer Kategorie. Ich habe den leidenschaftlichen Wunsch zu leben, um den siegreichen Abschluß dieses historischen sozialen Experiments mitzuerleben (unter stürmischem Beifall der Anwesenden brachte Pavlov einen Trinkspruch ,auf die großen sozialen Experimentatoren‘ aus.)“ Zitiert nach T. Rüting, a.a.O., S. 221.

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gen sieht52 , Lenin überaus kritisch als Chemiker und Metallurgen, der mit dem menschlichen Material der rückständigen Bevölkerungsmassen mitleidlos operiere. Entfesselt hätten die Experimentatoren vor allem die tierischen Instinkte der Volksmassen und dadurch das Land in einen nicht enden wollenden gigantischen Pogrom gestürzt. „Die Kompliziertheit des Lebens ist Lenin unbekannt, er kennt die Volksmassen nicht, er hat nie mit ihnen zusammen gelebt; aber er weiß aus Büchern, wie man diese Massen zur Raserei bringen und ihre Instinkte am leichtesten aufpeitschen kann. Für die Lenins ist die Arbeiterklasse dasselbe, was für den Metallurgen das Erz ist. Ist es denn möglich, aus diesem Erz – unter allen gegebenen Bedingungen – den sozialistischen Staat zu gießen? Offensichtlich ist es unmöglich – aber warum sollte man es nicht einmal versuchen? Was riskiert Lenin, wenn das Experiment mißlingt? Er arbeitet wie ein Chemiker im Labor. Während ein Chemiker aber totes Material benutzt und dabei für das Leben wertvolle Resultate erzielt, operiert Lenin mit lebendem Material und führt die Revolution in den Untergang. Die klassenbewußten Arbeiter, die Lenin folgen, müssen begreifen, daß mit der russischen Arbeiterklasse 53 ein erbarmungsloses Experiment gemacht wird,…“

1920 wiederholt Gor’kij in seinem Artikel Vladimir Il’icˇ Lenin die Ansicht, dass Russland Lenin nur als Versuchsfeld diene, zeigt sich aber nun von der Notwendigkeit des blutigen Experiments überzeugt. Die Geschichte habe Lenin auferlegt, den faulen Ameisenhaufen Russland bis auf den Grund aufzuwühlen. „Er ist […] ein Mensch, dessen Willen die Geschichte die furchtbare Aufgabe auferlegt hat, den bunten, plumpen, faulen menschlichen Ameisenhaufen, Rußland genannt, bis auf den Grund aufzuwühlen […] Ich glaube auch heute noch, wie ich es vor zwei Jahren geglaubt habe, daß Rußland für Lenin nur das Material ist zu einem im Weltumfang, im Planetenumfang angelegten Versuch. Früher hat dieser Gedanke, durch das Gefühl des Mitleids mit dem russischen Volk verdunkelt, mich empört, aber da ich beobachte, wie der Lauf der Ereignisse der russischen Revolution, immer weiter und tiefer greifend, immer mehr Kräfte belebt und organisiert, die imstande sind, die Grundlagen der kapitalistischen Ordnung zu zerstören, finde ich jetzt, daß, wenn Rußland schon dazu be52

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Vgl. M. Gorkij, Unzeitgemäße Gedanken über Kultur und Revolution, veröffentlicht in der Tageszeitung „Novaja Zµizn“ (Neues Leben) von 1917 bis 1918, Frankfurt/M. 1972, S. 88, 96, 102, 110f. u. ö. Ebd., S. 98. Vgl. zu Gor’kijs Vorstellung eines bolschewistischen „Experiments“ auch ebd., S. 89, 96, 113, 114, 120 u. ö. Zu Gor’kijs Sicht der Volksmasse als Bestie und der Revolutionsereignisse als gigantischer Pogrom ebd., S. 97, 102, 103, 107, 109, 110 u. ö. Als die Pravda Gor’kij aufforderte, nicht gegen die Arbeiterklasse zu agitieren, sonst werde er beim kommenden „Festmahl der Völker“ keinen Platz finden, antwortete Gor’kij, dass er „bei dem Fest, an dem der Despotismus der halbanalphabetischen Massen einen leichten Sieg feiert und die menschliche Persönlichkeit wie immer unterdrückt bleibt“ nichts zu suchen habe. Vgl. ebd., S. 104.

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stimmt ist, als Versuchsobjekt zu dienen, es ungerecht wäre, die Verantwortung einem Menschen zuzuschieben, der bestrebt ist, die potenzielle Energie der russi54 schen arbeitenden Masse in eine bewegliche, aktuelle Energie zu verwandeln.“

Verweist die Figur Persikovs in gewisser Weise auf Lenin, kann Rokks künstliche Züchtung einer neuen Hühnerpopulation im Zusammenhang mit Trockijs Visionen einer umfänglichen Neu- und Umgestaltung des Landes sowie der Bevölkerung gesehen werden.55 Zum einen ist auch für Trockij die Durchsetzung einer sozialistischen Gesellschaftsordnung eng mit einer umfänglichen Naturbeherrschung durch modernste Maschinentechnik verbunden. Aufgerufen findet sich hier neuerlich die bereits bekannte Opposition von stichijnost’ und soznatel’nost’.56 Den elementaren und chaotischen Kräften der Natur wird der bewusste und organisierende Wille der bolschewistischen Machthaber entgegengesetzt. „Socialistiçeskij çelovek xoçet i budet komandovat´ prirodoj vo vsem ee obßeme, s teterevami i osetrami, çerez ma‚inu. On ukaΩet, gde byt´ goram, a gde rasstupit´sä. Izmenit napravlenie rek i sozdast pravila dlä okeanov. […] Ma‚ina ne protivostoit zemle. Ma‚ina est´ orudie sovre57 mennogo çeloveka vo vsex oblastäx Ωizni.“

Zum anderen antizipiert Trockij im Zuge von Affektregulierung und Bewusstwerdungsprozessen sowie künstlicher Auslese und psychophysischen Trainings die „Züchtung“ eines sozialistischen Übermenschen. „Çelovek primetsä nakonec vser´ez garmonizirovat´ sebä samogo. […] Çeloveçeskij rod, zastyv‚ij homo sapiens, snova postupit v radikal´nuü pererabotku i stanet – pod sobstvennymi pal´cami – obßektom sloΩnej‚ix metodov iskusstvennogo otbora i psixofiziçeskoj trenirovki. […] Çelovek postavit sebe cel´ü ovladet´ sobstvennymi çuvstvami, podnät´ instinkty na ver‚inu soznatel´nosti, sdelat´ ix prozraçnymi, protänut´ provoda voli v podspudnoe i podpol´noe i tem samym podnät´ sebä na novuü stupen´ – sozdat´ bolee vysokij obwestvenno-biologiçeskij 58 tip, esli ugodno – sverxçeloveka.“

Künftig werde sich bereits der sowjetische Durchschnittsbürger mit einem Aristoteles, Goethe oder Marx messen können: „Srednij çeloveçeskij tip podni-

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M. Gor’kij, Vladimir Ilicˇ Lenin, in: Kommunistische Internationale 12 (1920), S. 2f. Angesichts von Gor’kijs Argumentation und Wortwahl verstand Lenin selbst die Eloge zu seinem 50. Geburtstag wohl nicht völlig zu Unrecht trotzdem als verkappten Angriff und legte Gor’kij schließlich 1921 nahe, auf unbestimmte Zeit ins Exil zu gehen. Vgl. hierzu auch E. C. Haber (1998), a.a.O., S. 198ff. Vgl. L. D. Trockij, Literatura i Revoljucija, S. 195f. Ebd., S. 194. Ebd., S. 196f.

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metsä do urovnä Aristotelä, Gete, Marksa.“59 Nicht zuletzt ist es die Lektüre ausgewählter Werke der Weltliteratur, die nach Trockij diese Transformierung des Menschen befördern soll. „To, çto raboçij voz´met u Íekspira, u Gete, u Pu‚kina, u Dostoevskogo, qto preΩde vsego bolee sloΩnoe predstavlenie o çeloveçeskoj liçnosti, ee strastäx i çuvstvax, on glubΩe i ostree pojmet ee psixiçeskie sily, 60 rol´ v nej bessoznatel´nogo i pr. V itoge on stanet bogaçe.“

Trockijs Vision einer umfänglichen Naturbeherrschung vergleichbar, ist Bulgakovs Rokk überzeugt, mit Hilfe des roten Strahls problemlos eine neue Hühnerpopulation künstlich züchten zu können. Allein der Name des Kinotheaters „Volsˇebnye grezy“ („Zauberträume“), wo der Revolutionär seinerzeit als Flötist arbeitete, scheint diese Vorstellung allerdings als unrealistische und naiv-phantastische Träumerei auszuweisen. Zwar gab Rokk nach der Revolution seine Anstellung im Haus der „Zauberträume“ auf. Aber auch die Orangerie der Sowchose, in der er die künstliche Züchtung neuer Lebewesen vornimmt, ist in „eigenartiges Kinolicht“ getaucht. „Vverxu bledno gorel ogromnoj sily qlektriçeskij ‚ar, i ot qtogo vsä vnutrennost´ oranΩerei osvewalas´ strannym kinematografiçeskim sve61 tom.“ (RJ, IX, 364).

Entgegen der antizipierten Disziplinierung und Höherentwicklung der rückständigen Volksmassen werden mit der „roten Bestrahlung“ der Eier allerdings allein blindwütig-zerstörerische und zivilisationsfeindliche Kräfte freigesetzt. Als das Land im Chaos zu versinken droht, bedarf es einer außergewöhnlichen Naturerscheinung, eines Frosteinbruchs im August, um die Monstermassen zu vernichten. Der Mensch verdankt sein Überleben letztlich den Launen der Natur, die er anmaßend zu beherrschen und regulieren trachtete. Trockijs Vorstellung, vorrevolutionäre Musik, Kunst und Literatur könnten eine Höherentwicklung des Proletariats wesentlich befördern, findet sich ebenfalls konterkariert. Als Rokk eine der aggressiven Riesenschlangen besänftigen will, indem er auf seiner Flöte den Walzer aus P. I. Cµajkovskijs Oper Evgenij Onegin anstimmt, reagiert diese mit unversöhnlichem Hass. „Golova [zmei; Anm. M. M.] vnov´ vzvilas´, i stalo vyxodit´ i tuloviwe. Aleksandr Semenoviç podnes flejtu k gubam, xriplo pisknul i zaigral, 59 60 61

Ebd., S. 197. Ebd., S. 175. Bemerkt sei, dass Trockij das Medium Kino als Propagandainstrument zur Erziehung der Massen sah, das von staatlicher Seite unbedingt zu nutzen sei. Vgl. L. Trotsky, Vodka, the Church, and the Cinema, in: W. G. Rosenberg (Hg.), Bolshevik Visions. First Phase of the Cultural Revolution in Soviet Russia, 2 Bde., 2. Aufl., Ann Arbor 1990, Bd. I, S. 107ff.

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eΩesekundno zadyxaäs´, val´s iz ,Evgeniä Onegina‘. Glaza v zeleni totças Ωe zagorelis´ neprimirimoü nenavist´ü k qtoj opere.“ (RJ, VIII, 360).

Und schließlich ist auch der sowjetische Durchschnittsbürger nicht in einem triebregulierenden und bewusstseinsbildenden Transformationsprozess zur Ausnahmebegabung begriffen. Vielmehr zeigt Bulgakov eine triebgesteuerte, auf die Stufe des Tierischen regredierte Gesellschaft, die gerade ihre wenigen Ausnahmebegabungen ermordet. Die von den Bolschewiki mittels Wissenschaft und Technik antizipierte Neuund Umgestaltung von Mensch und Natur weist Bulgakov letztlich als teuflische Überhebung des Menschen aus. Als Persikov die erste Froschpopulation dem „höllisch blinkenden Strahl“ („… kamery, v kotorych, kak v adu, mercal malinovyj, razbuchsˇij v steklach lucˇ.“ RJ, VII, 343) aussetzt, ist in seinem Labor „der Teufel los“ (vgl. RJ, III, 316). Und während der Landbevölkerung von Koncovka („konec“ – „Ende“) der Revolutionär Rokk schlichtweg als Antichrist gilt, scheint der von seinen Forschungen besessene und an die Faust-Figur erinnernde Persikov einen Pakt mit dem Teufel zu schließen, als er den Schutz der dämonischen und lackglänzenden GPU-Beamten in Anspruch nimmt (vgl. R J , V, 330f.).62 In der ein Jahr nach Rokovye Jajca fertig gestellten Erzählung Sobacˇ’e serdce lässt Bulgakov schließlich die Figur des Professors Preobrazˇenskij das natürlichevolutionäre Fortschrittsprinzip gegenüber einer künstlichen Züchtung von Ausnahmebegabungen und Übermenschen explizit verteidigen. „MoΩno privit´ gipofiz Spinozy ili ewe kakogo-nibud´ takogo le‚ego i soorudit´ iz sobaki çrezvyçajno vysoko stoäwego. No na kakogo d´ävola, spra‚ivaetsä. Obßäsnite mne, poΩalujsta, zaçem nuΩno iskusstvenno fabrikovat´ Spinoz, kogda lübaä baba moΩet ego rodit´ kogda ugodno. Ved´ rodila Ωe v Xolmogorax madam Lomonosova qtogo svoego znamenitogo. Doktor, çeloveçestvo samo zabotitsä ob qtom i v qvolücionnom porädke kaΩdyj god, uporno vydelää iz massy vsäkoj mrazi, sozdaet des63 ätkami vydaüwixsä geniev, ukra‚aüwix zemnoj ‚ar.“

Cµapek rekurriert in dem deutschsprachig überschriebenen Kapitel Der Nordmolch im dritten Buch seines Romans auf nationalsozialistische Vorstellungen einer „neuen Menschenschöpfung“. Von Hitler selbst als zentrale Idee des Nationalsozialismus propagiert, wird die Heraufkunft der „neuen Menschen“, in diesem Fall einer „neuen deutschen Herrenrasse“, in zahllosen Schriften mit dem Anbruch

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Vgl. zum Topos des „neuen Menschen“ und Fausts Teufelspakt B. Bauer, Der Neue Mensch und Fausts Streben, in: N. Lepp/M. Roth/K. Vogel (Hgg.), Der Neue Mensch. Obsessionen des 20. Jahrhunderts, Ostfildern-Ruit 1999, S. 21. Zu einem Vergleich von sowohl Persikov als auch Rokk mit der Figur des Faust vgl. auch E. C. Proffer (1984), a.a.O., S. 113f. M. A. Bulgakov, Sobacˇ’e serdce, a.a.O., S. 122.

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eines „goldenen Zeitalters“ identifiziert. „Wer den Nationalsozialismus nur als politische Bewegung versteht, weiß fast nichts von ihm. Er ist mehr als Religion: er ist der Wille zur neuen Menschenschöpfung.“64 Auch hier wird in Kategorien historischer Ausnahmebegabungen gedacht und erwartet, „dass die ausgezeichneten Dichter und Philosophen der Zukunft einen Homer und Shakespeare, Goethe und Humboldt entschieden überragen werden“ sowie „Nietzsches Übermensch auf züchterischem Wege zu erreichen“ sei.65 In Cµapeks Roman vertritt nun ein deutscher Forscher, ein gewisser Dr. Thüring, die Auffassung, dass sich wenige Jahre nach der Ansiedlung einiger Molchkolonien in der Nord- und Ostsee der rassisch höher stehende Molchtypus des „Nord-“ beziehungsweise „Edelmolchs“ entwickelt habe. Mit seiner helleren Haut, seinem aufrechteren Gang und seiner längeren und schmaleren Schädelform („… je o neˇco sveˇtlejsˇí, kra´cíˇ vzprˇímeneˇji a jeho lebecˇní index sveˇdcˇí o lebce delsˇí a uzˇsˇí, nezˇ je hlava jiny´ch Mloku˚.“ VSM, III, 4, 196) unterscheide er sich deutlich von dem degenerierten, körperlich und sittlich verkümmerten, barbarischen und „tierischen“ Mittelmeermolch. Begeistert von Thürings Ausführungen wird nachfolgend die Losung „Vom Riesenmolch zum deutschen Übermolch“ geprägt. „Zvla´sˇtní váha se kladla na to, zˇe pra´veˇ vlivem neˇmeckého prostrˇedí se tento Mlok vyvinul v odlisˇny´ a vysˇsˇí rasovy´ typus, nesporneˇ nadrˇadeˇny´ vsˇem jiny´m Salamandru˚m. S opovrzˇením se psalo o degenerovany´ch Mlocích meditera´nních, zakrneˇly´ch teˇlesneˇ i mravneˇ, o divosˇsky´ch Mlocích tropicky´ch a vu˚bec o nízky´ch, barbarsky´ch a zvírˇecích Salamandrech jiny´ch na´rodu˚.“ (VSM, III, 4, 196).

Analog zu nationalsozialistischen Vorstellungen von einem fortschreitenden Rasseverfall und somit Niedergang des deutschen Volkes, dem durch die bewusste Züchtung einer „neuen deutschen Herrenrasse“ Einhalt geboten werden müsse, ist Cµapeks Forscher überzeugt, dass die Molchpopulation ob ihrer Zerstreuung in fremde Meere und Regionen degeneriert und in ihrer Entwicklung entscheidend gehemmt worden sei. Nur auf deutschem Boden – wie Scheuchzers Öhninger Funde bewiesen, die Urheimat aller neuzeitlichen Molche („prapu˚vod vsˇech novodoby´ch Mloku“; VSM, III, 4, 196) – könnten sich die Tiere wieder zu dem ursprünglichen Typus eines rassereinen Andrias Scheuchzeri entwickeln. „Není tudízˇ nejmensˇí pochybnosti, zˇe pu˚vodní Andrias Scheuchzeri se zrodil prˇed geologicky´mi veˇky na pu˚deˇ germa´nske´; rozpty´lil-li se potom do jiny´ch morˇí a pa´sem, doplatil na to svy´m vy´vojovy´m sestupem a degenerací; jakmile se vsˇak usadil opeˇt na pu˚deˇ své pravlasti, stáva´ se znovu tím, cˇím byl pu˚vodneˇ: usˇlechtily´m nordicky´m Mlokem Scheuchzerovy´m, sveˇtly´m, vzprˇímeny´m a dlouholeby´m.“ (VSM, III, 4, 196).

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Zitiert nach J. C. Fest, Hitler. Eine Biographie, Hamburg 2006, S. 347. Zitiert nach J. C. Fest, Die Gesichter des Nationalsozialismus. Profile einer totalitären Herrschaft, 9. Aufl., Frankfurt/M. 2006, S. 370.

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Cµapek hatte bereits im zweiten Buch auf Deutschlands Expansionsdrang angespielt. Wohl weniger in Anlehnung an Platons Bericht als vielmehr an eine Vielzahl deutsch-völkischer Utopien der späten 1920er und 1930er Jahre, die ein mythisches Atlantis-Reich der Germanen beschwören, lässt Cµapek seinen ErzählerChronisten von der Erschaffung eines künftigen Atlantis („budoucí Atlantida“) durch deutsche Ingenieure berichten (vgl. VSM, II, 2, 135).66 Das NordmolchKapitel verweist nun wohl vor allem auf Hitlers Idee von der „Raumeroberung im Osten“, die im Zuge der Vernichtung und Unterwerfung der einheimischen Bevölkerungsgruppen sowie breitangelegter Umsiedlungsaktionen „Experimentierfelder rassischer Neu- und Höherzüchtung“ und „Pflanzgärten germanischen Blutes“ schaffen sollte.67 Entsprechend lässt Cµapek in seinem Roman die Theorie vom rassereinen deutschen Übermolch in die Forderung Deutschlands nach „neuem Lebensraum“ für deutsche Molche münden. „Proto Neˇmecko potrˇebuje novy´ch a delsˇích brˇehu˚, potrˇebuje kolonií, potrˇebuje sveˇtovy´ch morˇí, aby se vsˇude v neˇmecky´ch voda´ch mohly vyvinout nove´ generace rasoveˇ cˇisty´ch, prapu˚vodních neˇmecky´ch Salamandru˚. Potrˇebujeme nove´ ho prostoru pro své Mloky, psaly neˇmecké noviny…“ (VSM, III, 4, 197).

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Der einzige unvollständige Bericht über den sagenhaften Inselstaat ist bei Platon in den Dialogen mit Kritias und Timaios überliefert. Wie populär seinerzeit in Deutschland ein ins Völkisch-Nationale gewendeter Atlantismythos war, mögen Romane wie etwa H. Wirths Aufgang der Menschheit. Untersuchungen zur Geschichte der Religion, Symbolik und Schrift der atlantisch-nordischen Rasse (1928) oder die Atlantis-Tetralogie von E. Kiß zeigen (Das gläserne Meer;1930, Die letzte Königin von Atlantis; 1931, Frühling in Atlantis; 1933 und Die Singschwäne von Thule; 1939). Vgl. hierzu ausführlicher J. Hermand, Der alte Traum vom neuen Reich. Völkische Utopien und Nationalsozialismus, Frankfurt/M. 1988, S. 234f. u. 238f. Vgl. J. C. Fest (2006a), a.a.O., S. 1026ff. und ders. (2006b), a.a.O., S. 160 u. 171. Koenen weist darauf hin, dass Stalin in den späten Jahren wiederholt als „großer Gärtner“ beschrieben wurde, vor dem sich nicht nur die üppigen Kolchosfelder im Sonnenlicht erstrecken, sondern der das menschliche Unkraut ausrupft, die Fähigsten aus der „sozialen Rohmasse“ auswählt und zu Stalinschen „neuen Menschen“ heranzieht. Dies ist insbesondere vor dem Hintergrund der Pflanzenzüchtungsprogramme und der neolamarckistischen Theoriebildung des von Stalin protegierten Biologen D. I. Lysenko zu sehen, der durch Umwelteinflüsse erworbene Eigenschaften für vererbbar hielt. Vgl. G. Koenen (1996), a.a.O., S. 195. Beispielhaft verwiesen sei im Zusammenhang mit der Pflanzen- und Gärtnermetaphorik auf P. A. Pavlenkos Roman Scˇast’e (Das Glück; 1947), E. G. Polonskajas und V. I. Lebedev-Kumacˇs Gedichte mit dem Titel Sadovnik (Der Gärtner; 1936 u. 1948) und die von I. G. E∆ r enburg festgehaltene Äußerung Stalins: „Lüdej nado zabotlivo i vnimatel´no vyrawivat´, kak sadovnik vyrawivaet oblübovannoe plodovoe derevo.“ I. G. E∆renburg, Ljudi, gody, zˇizn’, in: Ders., Sobranie socˇinenij v devjati tomach, Moskau 1962ff., Bd. IX, S. 85. Zu weiteren Beispielen vgl. auch G. Koenen, Die großen Gesänge. Lenin, Stalin, Mao, Castro… Sozialistischer Personenkult und seine Sänger von Gorkij bis Brecht – von Aragon bis Neruda, Frankfurt/M. 1987, S. 103f. u. 106ff.

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Konterkariert Cµapek die Vorstellung eines „neuen deutschen Herrenmenschen“, indem er diesen, entsprechend seiner Kennzeichnung des Nationalsozialismus als animalische Doktrin, als langschädligen und hellhäutigen Nordmolch ins Bild setzt, identifiziert Ionesco vor dem Hintergrund des Aufstiegs der Eisernen Garde den propagierten neuen Menschentypus mit einem Nashorn. „On dirait qu’il y a deux races humaines: l’homme et l’homme nouveau. L’homme nouveau me semble eˆtre non seulement psychologiquement mais aussi physiquement différent de l’homme. Je ne suis pas un homme nouveau. Je suis u n homme. Imaginez-vous un beau matin où vous vous apercevez que les rhinoce´ros ont pris le pouvoir. Ils ont une morale de rhinoce´ros, une philosophie de rhinoce´68 ros, un univers rhinoce´rique.“

Die Nashörner in Ionescos Theaterstück vertreten zwar weder eine Ideologie noch ist ihr Verhalten politisch bestimmt. Aber bereits mit Jeans Parolen der Stärke und des Gesunden scheinen jene „Phrasen vom Instinkthaften, vom Vitalen“ aufgerufen, die Ionesco, so eine Notiz aus dem Jahr 1936, „Brechreiz [verursachen], gefolgt von der Sehnsucht, dieser unerträglichen Atmosphäre zu entrinnen.“69 Während Jean Bérenger für verwirrt („vous eˆtes ahuri“; RH, I, 23), überdreht („des élucubrations“; RH, I, 23) und krank („malade“; RH, I, 28) hält, brüstet er sich selbst seiner gesunden Erbmasse („Je suis sain d’esprit et de corps. Mon he´rédité…“; RH, II/2, 69) sowie geradezu redundant seiner geistigen und körperlichen Stärke. „Jean: Oui, j’ai de la force, j’ai de la force pour plusieurs raisons. D’abord, j’ai de la force parce que j’ai de la force, ensuite j’ai de la force parce que j’ai de la force 70 morale.“ (RH, I, 24).

Der Dialog sowie Jeans auch äußerlich sichtbare Tierwerdung lassen den umfänglich primitiven und barbarischen Charakter nationalsozialistischer Neu- und Höherzüchtungsvisionen deutlich werden. Im Zuge seiner Nashornwerdung plädiert Jean für eine rücksichtslose und ungebremste Auslese der Stärksten und physisch Überlegenen, die an den mörderischen Daseinskampf von Persikovs Versuchstieren unter dem roten Strahl erinnert. Den Menschen sieht er als Gefangenen einer widernatürlichen Moral, wobei mit der Zurückweisung von Moral, Humanität und Zivilisierung die Rückkehr zu einem natürlichen Urzustand ausgerufen wird, die der Menschheit die Rückgewinnung einer nicht näher bestimmten 68 69

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E. Ioneco, présent passé, a.a.O., S. 96f. Zitiert nach F. Bondy, a.a.O., S. 28f. Mit den nachfolgend aufgezeigten Berührungspunkten von Jeans Formulierungen mit nationalsozialistischen Ideologievorgaben soll der umfassendere Bedeutungszusammenhang, in den Ionesco sein Theaterstück ebenso gestellt sehen will, nicht negiert werden. Siehe auch RH, II/2, 71: „Bérenger […]: Vos veines ont l’air de se gonfler. Elles sont saillantes. Jean: C’est un signe de force.“

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ursprünglichen Einheit garantieren soll. Dudard wird später ebenso vage wie mythisch überhöht von der Vereinigung mit einer großen universellen Familie („la grande famille universelle“; RH, III, 103) sprechen. „Bérenger: Tout de meˆme, nous avons notre morale à nous, que je juge incompatible avec celle de ces animaux. Jean: La morale! Parlons-en de la morale, j’en ai assez de la morale, elle est belle la morale! Il faut de´passer la moral. Bérenger: Que mettriez-vous à la place? Jean […]: La nature! Bérenger: La nature? Jean […]: La nature a ses lois. La morale est antinaturelle. Bérenger: Si je comprends, vous voulez remplacer la loi morale par la loi de la jungle! Jean: J’y vivrai, j’y vivrai. Bérenger: Cela se dit. Mais dans le fond, personne… Jean […]: Il faut reconstituer les fondements de notre vie. Il faut retourner à l’inte´grité primordiale. […] Bérenger: Réfléchissez, voyons, vous vous rendez bien compte que nous avons une philosophie que ces animaux n’ont pas, un système de valeurs irremplaçable. Des sie`cles de civilisation humaine l’ont baˆti!… Jean […]: Démolissons tout cela, on s’en portera mieux. […] Bérenger: Je vous connais trop bien pour croire que c’est là votre pensée profonde. Car, vous le savez aussi bien que moi, l’homme… Jean […]: L’homme… Ne prononcez plus ce mot! Bérenger: Je veux dire l’eˆtre humain, l’humanisme… Jean: L’humanisme est périme´! Vous eˆtes un vieux sentimental ridicule.“ (RH, II/2, 75f.).

In der Verteidigung der „Dschungelgesetze“ spricht sich ein vulgärer Sozialdarwinismus aus, der auch Hitler im Kampf ums Dasein ein ehernes Natur- und vermeintlich bestimmendes Weltgesetz erkennen ließ.71 Gefeiert wird die Überlegenheit des Rücksichtslosen und Brutalen dabei nicht zuletzt in groben Vergleichen zwischen Tierreich und menschlicher Gesellschaft. Das von Fest in seiner HitlerBiographie angeführte Beispiel der Affen, die, so Hitler, jeden Außenseiter als gemeinschaftsfremd tottrampelten72 , lässt an Jeans Drohung denken, jeden zu zertrampeln, der sich ihm in den Weg stellt. Verbunden mit dem Glauben an die Macht der Brutalität ergeht der Aufruf zur Wiedergewinnung des „guten Gewissens zur Grausamkeit“73 , während, analog zu Jeans Aussagen, Humanismus, 71 72 73

Vgl. zu Hitlers Weltbild sowie zu einer generellen Popularisierung sozialdarwinistischen Gedankenguts in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts J. C. Fest (2006a), a.a.O., S. 103ff. Vgl. ebd., S. 339. Vgl. ebd., S. 537.

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christliche Moral und Zivilisierung als naturwidrige Vorstellungen und Ausdruck von Dummheit, Feigheit, Schwäche oder Dekadenz abgelehnt werden. „Die Natur […] setzt die Lebewesen zunächst auf diesen Erdball und sieht dem freien Spiel der Kräfte zu. Der Stärkste an Mut und Fleiß erhält dann als ihr liebstes Kind das Herrenrecht des Daseins zugesprochen […] Nur der geborene Schwächling kann dies als grausam empfinden, dafür aber ist er auch nur ein schwacher und beschränkter Mensch; denn würde dieses Gesetz nicht herrschen, wäre jede vorstellbare Höherentwicklung aller organischen Lebewesen undenkbar […] Am Ende siegt ewig nur die Sucht der Selbsterhaltung. Unter ihr schmilzt die sogenannte Humanität als Ausdruck einer Mischung von Dummheit, Feigheit und eingebil74 detem Besserwissen, wie Schnee in der Märzensonne.“

Jeans rückwärtsgewandte antizivilisatorische Vision eines ursprünglichen Naturzustandes sowie seine Tierwerdung finden ihre Entsprechung in der nationalsozialistischen Mystifizierung einer organischen Volksgemeinschaft und ursprünglichen Schollen-Existenz75 sowie in der Vorstellung einer Wiederanzüchtung vermeintlich gesunder, raubtierhafter Instinkte. „Das Schwache muß weggehämmert werden. In meinen Ordensburgen wird eine Jugend heranwachsen, vor der sich die Welt erschrecken wird. Eine gewalttätige, herrische, unerschrockene, grausame Jugend will ich. Jugend muss das alles sein. Schmerzen muß sie ertragen. Es darf nichts Schwaches und Zärtliches an ihr sein. Das freie, herrliche Raubtier muß erst wieder aus ihren Augen blitzen. Stark und 76 schön will ich meine Jugend […] So kann ich das Neue schaffen.“

In einer von raubtierhaften Gewaltmenschen bevölkerten Welt sind zwischenmenschliche Bindungen zwangsläufig obsolet geworden. So ist Freundschaft für Ionescos Jean nur ein leerer Begriff. „L’amitié n’existe pas. Je ne crois pas en votre amitié.“ (RH, II/2, 72). Ebenso bewertet die in ihrer Bewunderung für die rohe Kraft der Nashörner gefangene Daisy Liebe als krankhaftes Gefühl. „Daisy: J’en ai un peu honte, de ce que tu appelles l’amour, ce sentiment morbide, cette faiblesse de l’homme. Et de la femme. Cela ne peut se comparer avec l’ardeur, l’énergie extraordinaire que dégagent tous ces eˆtres qui nous entourent.“ (RH, III, 77 113).

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Zitiert nach ebd., S. 338. Vgl. auch S. 339f. u. 1037 sowie J. C. Fest (2006b), S. 74. Vgl. hierzu auch das mit diesen Begrifflichkeiten operierende antidemokratische Denken der Weimarer Republik bei K. Sontheimer, a.a.O., S. 250ff. u. 255ff. sowie J. C. Fest (2006a), a.a.O., S. 177f. und J. Hermand, a.a.O., S. 253ff. Zitiert nach J. C. Fest (2006b), a.a.O., S. 316. Vgl. auch ebd., S. 315. Auch Cµapeks Menschengesellschaft hält Liebe und Leidenschaft für nutzlose Gefühlsregungen einer überlebten Zivilisationsform, die unpersönliche Geschlechtspraxis der Molche dagegen für fortschrittlich und zeitgemäß (vgl. VSM, I, Dodatek, 112).

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Mit der bedingungslosen Einordnung der Figuren in eine Armee uniformer Nashörner wird allerdings ein weiterer wesentlicher Aspekt des nationalsozialistischen „Rebarbarisierungsprojektes“ deutlich. Die Wiederanzüchtung vermeintlich natürlicher raubtierhafter Instinkte soll ihre Entsprechung in einer umfänglichen Entpersönlichung und Bereitschaft zur Unterwerfung finden, so dass die Grausamkeit und Aggressivität der „neuen Menschen“ ganz im Sinne eines totalitären Zugriffs beherrschbar bleiben und je nach Maßgabe der politischen Zielsetzung einsetzbar sind. Die zügellose Masse findet sich hierbei in eine entpersönlichte Gefolgschaft verwandelt, wobei die im Zivilisationsprozess verdrängten Leidenschaften nun organisiert entfesselt werden. Im Zusammenhang mit diesen manipulierten und für Machtinteressen eingesetzten Leidenschaften sprechen Horkheimer/Adorno in ihrer Schrift Dialektik der Aufklärung (1947) auch von einer „autoritären Freigabe des Verbotenen“ beziehungsweise des „verpönten Triebs“.78 Gerade die umfängliche Tilgung des Persönlichen ist Ionesco schließlich wesentliches Charakteristikum der „neuen Nashornmenschen“ und, wie dies auch die einseitige Verpflichtung von Cµapeks uniformem Massenmolch auf das große Molchganze zeigt, zwangsläufige Konsequenz eines ausschließlich kollektiv bestimmten und auf abstrakte Identifikationsgrößen bezogenen Menschenbildes. „Voici un slogan rhinoce´rique, un slogan ‚d’homme nouveau‘ qu’un homme ne peut comprendre: tout pour l’État, tout pour la Nation, tout pour la Race. Cela me paraiˆt monstrueux, e´videmment. Ce que j’admettrai, c’est ceci: tout pour Dieu, si o n est croyant; ou sinon, tout pour l’homme, pour les hommes […] L’homme nouveau peut vivre dans l’impersonnel. Il a renoncé à sa personne. Dieu peut eˆtre conçu seulement comme une personne. Les hommes sont des personnes. 79 Si on se donne à la Nation, si la Nation, la Sociéte´ est Dieu, il n’y plus personne.“

VII. 3. Masse-Führer-Konstellationen In Mitterers Theaterstück geriert sich der Staatspräsident Hubertus als liebender Übervater seines Volkes, wobei die Beziehung von Führer und Volk als besondere Form der Schicksalsgemeinschaft gewertet wird. „Hubertus: Mein Volk hat den Mut verloren. Mein Volk hat aufgegeben. Ich weiß es. Sonst gäbe es keine Friedensverhandlungen. Mein Volk liebt mich nicht mehr. Mein Volk hat mich verraten. […] Oh, wie sehr habe ich mein Volk geliebt.“ (FK, 200).

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Vgl. M. Horkheimer/Th. W. Adorno, Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente, 16. Aufl., Frankfurt/M. 2006, S. 193. Vgl. zur Umwandlung entfesselter Massen in eine entpersönlichte Gefolgschaft auch H. König, a.a.O., S. 246f. E. Ionesco, pre´sent passe´, a.a.O., S. 115f.

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Diese deutlich emotional unterfütterte Konzeption von Führerschaft und kollektiver Gefolgschaft hat für die Stellung des Einzelnen weitreichende Konsequenzen. Sein persönliches Schicksal ist primär mit einer vom Führer vermeintlich visionär geschauten überpersönlichen Bestimmung des Volkes verknüpft. Diese verleiht seinem Leben und Sterben vordergründig eine scheinbar herausragende Bedeutung. Tatsächlich ist der Einzelne aber, wie dies die Reduktion der Soldaten zu bloßem Material zeigt, gänzlich bedeutungslos. Krieg und Kampf werden religiös überhöht („Hubertus: Man muß nur einen Glauben haben, an die Sache,…“; FK, 190), wobei der militärische Sieg als Liebesbeweis, die Niederlage dagegen als Verrat des Volkes an seinem Führer gilt. Die Verabsolutierung der Einheit von Volk und Führer lässt Kritik und Gegenposition als unzulässig erscheinen und mündet zwangsläufig in eine rigorose Freund-Feind-Schematisierung. So kann es sich auch bei Oppositionellen nur um fanatische Vaterlandsverräter handeln. „Hubertus: (leise) Verschwörung. Attentäter. Man will mich beseitigen. […] Andreas: Nein, sowas! Also, da sollten Sie wirklich durchgreifen! Es kann sich da nur um eine kleine Minderheit von vaterlandslosen Gesellen handeln! Hubertus: Natürlich! Natürlich! Aber fanatisch! Unglaublich fanatisch!“ (FK, 182f.)

Angesichts des Eingebundenseins des Einzelnen in das überhöhte Wir-Ich der Volksgemeinschaft und der emotionalen Anbindung an eine zum Übervater stilisierte Führerfigur werden familiäre Bindungen und individuelle Beziehungen zweitrangig. Insbesondere Stephan vermag Liebe und Respekt nur diesen übergeordneten Bezugsgrößen entgegenzubringen. „Tini: (zu Stephan) Warum läßt du dich so behandeln? Warum erschießt du ihn nicht? (Zu Hubertus:) Einmal muß Schluß sein, hörst du?! Jetzt wird Frieden gemacht! Hubertus: (zu Stephan) Befördere sie zum Waschzuber zurück. Wo sie hingehört. Stephan nimmt Tini am Kragen, zerrt sie zum Waschzuber, sie wehrt sich. Tini: Laß mich los, laß mich los, Stephan! Was erlaubst du dir? Ich bin deine Mutter! Loslassen, sage ich! Stephan läßt sich nicht beirren, stößt sie zum Waschzuber. Sie nimmt ein nasses Wäschestück, schlägt damit auf ihn ein, er wehrt sie mit dem Kolben des Gewehres ab, stößt ihr dabei in den Bauch, sie geht stöhnend in die Knie.“ (FK, 189).

Die wechselseitige Bezogenheit von Volk und Führer wird von beiden Seiten geradezu rauschhaft erlebt. Der Staatspräsident berauscht sich an den Begeisterungsstürmen der Volksmassen und damit verbunden an seiner Macht und Größe. Nicht zuletzt soll ihm der Krieg zu einem Platz in den Geschichtsbüchern verhelfen. „Aber sicher! In Marmor werden sie unsere Namen meißeln! Bronzene Denkmäler werden sie uns errichten! In die Schulbücher werden wir eingehen!“ (FK, 188). Ebenso verfällt Tini angesichts der Erfolge einer siegreichen Armee

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und des ebenso telegenen wie rhetorisch-mitreißenden Staatspräsidenten in einen hysterischen Zustand, der ihr nach den Erfahrungen der leidvollen Kriegsjahre nicht mehr nachvollziehbar erscheint. Entsprechend hilflos wirkt ihr Versuch, ihre massenpsychotische Begeisterung und damit verbunden ihre Bereitschaft zu bedingungsloser Gefolgschaft zu erklären. Als Stephan Tini ihre Verführbarkeit und Anfälligkeit vorwirft, vermag diese lediglich zu antworten, sie sei von Hubertus manipuliert und getäuscht worden. „Stephan: Du hast mich auch losgeschickt, du auch! Sei tapfer, mein Sohn, damit ich stolz sein kann auf dich, hast du gesagt! Tini: (stöhnend, kriecht weiter) Ja, ich weiß! Stephan: Du hast ihm auch zugejubelt! (Deutet auf Hubertus.) Heiser geschrien hast du dich! Tini: Ja, ich weiß! […] Tini: Oh Gott, hätte ich das gewußt, oh hätte ich das gewußt! Es war ein Taumel, Stephan, ein Taumel. Wir haben auf allen Linien gesiegt! Und er kommt so gut, auf der Rednertribüne und im Fernsehen! Er hat mich reingelegt, er hat mich reingelegt! Alle meine Söhne habe ich ihm geopfert, alle!“ (FK, 190).

In Orwells Erzählung konstelliert sich bereits vor der Vertreibung des Gutbesitzers Jones ein deutliches Machtgefälle innerhalb der Tiergemeinschaft. Mit Old Majors Tod kurz nach dem Aufruf zur Rebellion agitieren die „klugen“ Schweine als „revolutionäre Vorhut“ die Farmtiere, wobei sich die Eber Napoleon und Snowball gegenüber den übrigen Zuchtsäuen und kastrierten Mastschweinen als Führungspersönlichkeiten exponieren. Gemeinsam mit dem späteren „Propagandaminister“ Squealer überführen Napoleon und Snowball Old Majors Lehren in die Ideologie des sogenannten Animalismus, dessen Grundprinzipien sich schließlich in den an die biblischen Zehn Gebote erinnernden Seven Commandments festgeschrieben finden (vgl. AF, II, 9f. u. 15).80 Nach der Rebellion wird den Schweinen ob ihrer Intelligenz die Entscheidungsbefugnis in allen Fragen der Farmpolitik übertragen. Im Rahmen der vom Konkurrenzkampf zwischen Snowball und Napoleon bestimmten sonntäglichen Debatten werden ihre Beschlüsse

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Steinhoff nennt als mögliche Vorlage für die Sieben Gebote den Gesetzeskatalog von Wells’ Dr. Moreau, der den tierisch-menschlichen Zwitterwesen tierische Verhaltensweisen verbietet. Vgl. H. G. Wells, The Island of Dr. Moreau, in: Ders., The Works of H. G. Wells, a.a.O., Bd. II, S. 72f. und W. Steinhoff, a.a.O., S. 9 u. 145. Hinsichtlich der allegorischen Lesart der Erzählung ist an die forcierte Überführung von Lenins Werken nach dessen Tod in einen Kanon unbezweifelbarer Lehrsätze zu verweisen. B. Ennker spricht in diesem Zusammenhang von der Erfindung des Leninismus als Herrschaftsdoktrin. Ebenso ist an Stalins sieben Punkte umfassende Schwurrede bei der Totenfeier für Lenin im Januar 1924 zu denken, die nachfolgend auch unter der Überschrift „Die Gebote Lenins“ veröffentlicht wurde. Vgl. B. Ennker, Die Anfänge des Leninkults in der Sowjetunion, Köln/Weimar/Wien 1987, S. 59ff., 126, 135ff. u. 312f.

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aber zunächst noch diskutiert und sind zudem durch eine Mehrheit der Farmtiere zu ratifizieren (vgl. AF, V, 31). Mit Snowballs Vertreibung verwehrt Napoleon den Farmtieren allerdings jegliche Partizipationschancen und grenzt sie von den politischen Entscheidungsprozessen vollständig aus, indem er die Debatten abschafft und Fragen des Farmbetriebs von einem geheimen Schweine-Sonderkommittee mit ihm als Vorsitzenden regeln lässt (vgl. AF, V, 36). Nachfolgend erschöpft sich das Gemeinhandeln im Rituellen81 , die Farmtiere werden zu bloßen Befehlsempfängern degradiert. Sonntags haben sie sich zum Flaggengruß und Absingen der Hymne einzufinden, wobei Napoleon den Schädel Old Majors neben dem Flaggenmast aufspießen lässt. Ehrfürchtig haben die Tiere nun an diesem vorüberzuziehen, bevor sie in der Scheune ihre wöchentlichen Befehle entgegennehmen (vgl. AF, V, 38).82 Eindrücklich werden die neuen Machtverhältnisse auch durch eine veränderte Sitzordnung demonstriert. Napoleon sitzt nun erhöht den übrigen Farmtieren gegenüber, so dass diese zu ihm aufsehen müssen. Hundemeute und Schweineoligarchie formieren sich als homogene Blöcke halbkreisartig hinter dem nachfolgend als „Leader“ titulierten Eber (vgl. AF, VI, 45). „Nowadays they did not sit all together as they had done in the past. Napoleon, with Squealer and another pig named Minimus, who had a remarkable gift for composing songs and poems, sat on the front of the raised platform, with the nine young dogs forming a semicircle round them, and the other pigs sitting behind. The rest of the animals sat facing them in the main body of the barn.“ (AF, V, 38).

Orwell bildet in vereinfachter Form ab, wie sich Stalin nach Lenins Tod als dessen legitimer Nachfolger zu inszenieren weiß. Dass sich Napoleon als „Leader“ titulieren lässt, korrespondiert mit dem zu Stalins 50. Geburtstag 1929 gestifteten Kult, der ihn als treuesten Schüler und Gefährten Lenins zeigt und ihn in der Nachfolge Lenins als „vozˇd’“ („Führer“) im Sinne eines politischen (Partei-)Führers anerkennt. Der Führerpanegyrik sind allerdings noch wesentliche Beschränkungen auferlegt, da Stalin als „primus inter pares“ zunächst auf das oligarchische Prinzip kollektiver Herrschaft verpflichtet bleibt.83 Mit der nachfolgenden quasireligiösen Überhöhung des Ebers Napoleon gelingt es Orwell dagegen einzufangen, wie sich ab etwa 1933 die Verehrung Stalins als politischer (Partei-)Führer 81 82

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Vgl. auch H.-Ch. Schröder, a.a.O., S. 221. Orwell rekurriert hierbei wohl auf die auch in der westlichen Forschung verbreitete These, dass die Einbalsamierung Lenins auf eine schon im Oktober 1923 ergriffene Initiative Stalins zurückgeht. Dagegen zeigt Ennkers Darstellung der Streitigkeiten und Diskussionen in der nach Lenins Tod eingesetzten „Kommission für die Verewigung des Andenkens V. I. Lenins“ Stalin zwar als Befürworter einer Mumifizierung. Die Ansicht aber, dass es sich bei den Konservierungsmaßnahmen um einen von Stalin vorgefassten Plan handelte, erscheint zweifelhaft. Vgl. B. Ennker (1987), a.a.O., S. 154ff u. 315ff. Vgl. Stalin. Sbornik statej k pjatidesjatiletiju so dnja rozˇdenija, Moskau/Leningrad 1930 sowie B. Ennker, Führerdiktatur – Sozialdynamik und Ideologie. Stalinistische Herrschaft in vergleichender Perspektive, in: M. Vetter (Hg.), a.a.O., S. 95 und R. Löhmann, a.a.O., S. 64ff.

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hin zum Führerkult um die Person Stalins als „geliebter Vater“ („ljubimyj otec“), „Freund“ („drug“) und „Lehrer“ („ucˇitel’“) verschiebt und die Herrschaftslegitimierung von der Partei auf die Person des väterlichen Führers umgelenkt wird.84 So heben die Festschriften zu Stalins 60. Geburtstag 1939 insbesondere auf die innige Beziehung zwischen Stalin und seinem Volk ab. Die Liebe des Volkes sowie seine Verkörperung im Führer, der wiederum selbst als Inkarnation der Massen gilt, werden zum zentralen Topos der Stalinverehrung.85 Beispielhaft sei im Zusammenhang mit der Fiktion einer patriarchal legitimierten Führerschaft auf das wiederkehrende Motiv des niemals schlafenden und stets wachsamen Übervaters Stalin verwiesen, der sich in seinem Arbeitszimmer im Kreml unausgesetzt um das Wohlergehen seiner Bevölkerung kümmert.86 V. I. Govorkovs Plakat mit der Bildunterschrift „O kazˇdom iz nas zabotitsja Stalin v Kremle“ (Um jeden von uns kümmert sich Stalin im Kreml; 1940) zeigt etwa einen gütig lächelnden Stalin, wie er beim Licht der Schreibtischlampe Korrespondenzen erledigt. Auch in Ja. Z. Sµvedovs Gedicht Nocˇ’ju zvezdnoj (In sternklarer Nacht) oder V. M. Gusevs Stalin v Kremle (Stalin im Kreml; 1938) ist das in Stalins Arbeitszimmer niemals erlöschende Licht Sinnbild für dessen väterliche Fürsorge.87 In Orwells Animal Farm werden Napoleon neben der formalen Anrede „Our Leader, Comrade Napoleon“ ebenfalls weitere Epitheta wie „Father of All Animals“, „Protector of the Sheepfold“ oder „Ducklings’ Friend“ (AF, VIII, 62) beigelegt, die ihn als angeblich treu sorgenden und liebevollen Beschützer der Tiere ausweisen. Implizieren die Bezeichnungen „Freund“ oder „Vater“ auch ein enges, familiäres Verhältnis, handelt es sich doch tatsächlich um eine unpersönliche und entindividualisierte Verbindung zwischen sowohl namen- als auch gesichtslosen Kollektiven und einem allmächtigen sowie einsamen und geheimnisvollen „Einzelnen“. Napoleon sondert sich nicht nur von den Farmtieren, sondern auch von 84 85

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Vgl. hierzu sowie zur Dominanz Stalins gegenüber Lenin im zuvor geteilten „Kult der zwei Führer“ ebd., S. 305f. und B. Ennker (1996), a.a.O., S. 106. Vgl. M. I. Kalinin, Zum sechzigsten Geburtstag des Genossen Stalin, Moskau 1939 sowie Stalin. K sˇestidesjatiletiju so dnja rozˇdenija, Moskau 1940. Wie Ennker zeigt, ist dieses Beziehungsmuster von Volk und Führer bereits durch den Lenin-Kult wesentlich vorgebildet. Vgl. B. Ennker (1987), a.a.O., S. 38ff. u. 87ff. Zur Beziehung zwischen dem Übervater Stalin und seinen „ewigen“ Söhnen, den Stalinschen „Sprösslingen“ beziehungsweise „Zöglingen“ („stalinskie pitomcy, vospitanniki“), sowie zur Metapher der „großen Familie“ vgl. weiterführend K. Clark, The Soviet Novel. History as Ritual, Chicago/London 1981, S. 114ff., H. Günther (1993), a.a.O., S. 158ff. und F. B. Schenk, Vater des Volkes, Mutter Heimat, kämpfende Söhne. Die Historisierung der „großen Familie“ in Sergej E∆jzensˇtejns „Aleksandr Nevskij“ (1938), in: E. Cheauré/R. Nohejl/A. Napp (Hgg.), Vater Rhein und Mutter Volga. Diskurse um Nation und Gender in Deutschland und Russland, Würzburg 2005, S. 185-203. Vgl. Ch. Garstka, a.a.O., S. 429ff. und R. Marsh, a.a.O., S. 29. Vgl. ebenfalls das Gedicht Im Kreml ist noch Licht (1940) des deutschen Kommunisten E. Weinert in G. Koenen (1987), a.a.O., S. 81. In Vojnovicˇs Erzählung V krugu druzej (Im Freundeskreis; 1967) befindet sich in Stalins Arbeitszimmer, in dem immer das Licht brennt, allerdings nur noch eine Pfeife rauchende Puppe.

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den Schweinen ab. Er bewohnt von diesen getrennte Räume, isst allein und zeigt sich nur selten in der Öffentlichkeit. „All orders were now issued through Squealer or one of the other pigs. Napoleon himself was not seen in public as often as once in a fortnight. […] Even in the farmhouse, it was said, Napoleon inhabited separate apartments from the others. He took his meals alone, with two dogs to wait upon him,…“ (AF, VIII, 62).

Im Hinblick auf Stalin ist hierbei auf zwei Aspekte zu verweisen. Zum einen ist in der Forschungsliteratur gezeigt worden, dass während der Großen Säuberungen und dem Pakt mit Hitler Stalins Präsenz in der Öffentlichkeit deutlich eingeschränkt wurde.88 Zum anderen wird wiederholt auf eine generelle Distanzierung und Isolierung abgehoben, wenn etwa N. Ja. Mandel’sˇtam vom „Einsiedler im Kreml“ („kremlevskij zatvornik“)89 oder L. S. Kopelev vom Enthobensein Stalins spricht, der bei Paraden nicht richtig zu sehen war und sonst öffentlich kaum in Erscheinung trat. „Stalin war in den dreißiger und vierziger Jahren der Mächtige, aber doch enthoben. Wer konnte ihn auch auf dem Roten Platz bei den Paraden oben auf der Tribüne richtig wahrnehmen. Er war in jedem Sinne weit weg. Sonst trat er öffentlich kaum in Erscheinung. Wenn aber, dann als ‚Stimme‘ im Rundfunk, sehr sachlich, 90 beherrscht.“

Ähnlich wie bei Cµapek die Menschen den Molchen von Seiten der Kirche religiös verbrämt als väterliche Beschützer präsentiert werden, findet die religiös-kultische Überhöhung Napoleons ihren sinnfälligen Ausdruck, als er sein Porträt sowie ein Gedicht, das seine uneingeschränkte Fürsorge und nie ermüdende Wachsamkeit zum Wohle der Farmtiere preist, an der Wand gegenüber den Sieben Geboten anbringen lässt (vgl. AF, VIII, 63).91 Die Stilisierung Napoleons zur gott-

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Vgl. R. C. Tucker (1990), a.a.O., S. 443f. und B. Ennker, Politische Herrschaft und Stalinkult 1929-1939, in: S. Plaggenborg (Hg.), Stalinismus. Neue Forschungen und Konzepte, Berlin 1998, S. 177f. Auch in Orwells Animal Farm werden Napoleons öffentliche Auftritte kurz vor den Hinrichtungen kritischer Farmtiere merklich seltener (vgl. AF, VII, 50). Vgl. N. Ja. Mandel’sˇtam, Vospominanija, Moskau 2006, S. 172. L. S. Kopelev, Zur Situation der deutschen Emigranten in der Sovjetunion, in: Exilforschung. Ein internationales Jahrbuch 1 (1983), S. 164. Die proklamierte enge familiäre, aber tatsächlich gänzlich unpersönliche Verbindung des Übervaters Stalin zu seinem Volk mag sich auch darin aussprechen, dass Stalin aus Zeitungen Bilder von unbekannten Kindern ausschnitt und aufhängte. Vgl. hierzu I. Paperno, Intimacy with Power: Soviet Memoirists remember Stalin, in: K. Heller/J. Plamper (Hgg.), a.a.O., S. 335. Thematisiert wird dies u. a. auch in G. Salvatores Theaterstück Stalin (1985) oder Vojnovicˇs bereits erwähnter Erzählung V krugu druzej. Korrespondierend mit Stalins eingeschränkter Präsenz in der Öffentlichkeit bilden die Zeitungen Stalin ab etwa Mitte der 1930er Jahre in den immer gleichen Porträts sowie photographisch reproduzierten und stark idealisierten Gemälden ab, so dass letztlich der Eindruck

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gleichen Autorität hat eine problematische Selbstwahrnehmung der Farmtiere zur Folge. Ebenso wie mit der kultischen Stalinverehrung alle sozialen und wirtschaftlichen Errungenschaften vor allem als Schöpfungen des niemals müden Kremlherren gelten, wird jeder Erfolg des Farmbetriebs allein Napoleon als Verdienst zugerechnet (vgl. AF, VIII, 62). Die Farmtiere sehen ihr Dasein umfänglich von der Verfügungsgewalt und Allmacht Napoleons bestimmt, so dass letztlich selbst das Eierlegen der Hühner oder die gute Wasserqualität des Teiches der „umsichtigen“ Führerschaft des Alleinherrschers zugeschrieben werden. „You would often hear one hen remark to another, ‚Under the guidance of our Leader, Comrade Napoleon, I have laid five eggs in six days‘; or two cows, enjoying a drink at the pool, would exclaim, ‚Thanks to the leadership of Comrade Napoleon, how excellent this water tastes!‘“ (AF, VIII, 62).

Entsprechend hilflos und verstört reagieren die Farmtiere, als nach einem exzessiven Alkoholkonsum des Ebers kurzzeitig vermutet wird, Napoleon liege im Sterben. Ein Leben ohne den „gütigen“ Übervater ist für die Farmtiere nicht mehr vorstellbar. „With tears in their eyes they asked one another what they should do if their Leader were taken away from them.“ (AF, VIII, 72). Obwohl bereits Mitte der 1940er Jahre geschrieben, nimmt das in Orwells Erzählung geschilderte Verhalten der Farmtiere in gewisser Weise die Reaktionen auf Stalins Tod 1953 vorweg. Neben der landesweiten Trauer sowie der Verzweiflung und Zukunftsangst der sowjetischen Bevölkerung zeigen verschiedene Tagebuchaufzeichnungen und Erinnerungen von Zeitgenossen, wie die kultische Stalinverehrung eine Verschmelzung des Mythos mit der realen Person Stalins bedingte und damit die „zeitliche Begrenztheit seiner Herrschaft und physische Endlichkeit seiner Person“ nahezu vollständig aus dem Bewusstsein der Zeitgenossen rückte.92 Beispielhaft angeführt seien die Erinnerungen des Schriftstellers E∆renburg und der damaligen Strafgefangenen in den Zwangsarbeitslagern des Kolyma-Gebiets, E. S. Ginzburg. Sowohl Ginzburg als auch E∆renburg heben darauf ab, dass insbesondere die medizinische Terminologie der ärztlichen Bulletins zu Krankheit und Tod des Menschen Stalin der Wahrnehmung Stalins als gottgleicher Führer diametral entgegenstand.

92

entsteht, Stalin sei gewissermaßen dem Lauf der Zeit enthoben. Vgl. R. Löhmann, a.a.O., S. 309 und N. Hülbusch, Dzˇugasˇvili der Zweite, in: K. Heller/J. Plamper (Hgg.), a.a.O., S. 207f. u. 212. Im Zusammenhang mit der quasi-religiösen Verehrung sowjetischer Führer sei zudem auf die sogenannte „rote Ecke“ („krasnyj ugol“) verwiesen, in der ab 1923 zunächst Leninbilder und schließlich auch Stalinbilder den Platz der traditionellen Heiligen einnahmen. Vgl. zur traditionellen „schönen Ecke“ C. Goehrke, a.a.O., Bd. II, S. 189, 225 u. 425 und zur „Leninecke“ B. Ennker (1987), a.a.O., S. 60. Vgl. R. Löhmann, a.a.O., S. 310.

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„Smätenie oxvatilo znatnyx kolymçan ewe do soobweniä o smertel´nom isxode bolezni VoΩdä i Druga. UΩe i predvaritel´nye bülleteni povergli na‚e naçal´stvo v muçitel´noe nedoumenie. Ved´ oni naçisto zabyli o tom strannom fakte, çto Generalissimus sotvoren iz toj Ωe samoj nesover‚ennoj ploti, çto i ostal´nye gre‚nye. […] Krovänoe davlenie… Belok v moçe… Çert voz´mi, vse qto goditsä dlä prostyx smertnyx, no kakoe otno‚enie takaä podlaä materiä moΩet 93 imet´ k NEMU?“ „Medicinskoe zaklüçenie govorilo o lejkocitax, o kollapse, o mercatel´noj aritmii. A my davno zabyli, çto Stalin – çelovek. On prevratilsä vo vsemoguwego i tainstvennogo boga. I vot bog umer ot krovoizliäniä v mozg. Qto kazalos´ neveroätnym. […] Mne ne bylo Ωalko boga, kotoryj skonçalsä ot insul´ta v vozraste semidesäti trex let, kak budto on ne bog, a obyknovennyj smertnyj; no ä ispytyval strax: çto teper´ budet?… Ä boälsä xud‚ego. […] Kul´t liçnosti ne sdelal iz menä veruüwego, no on povliäl na moi ocenki: ä sväzyval buduwee strany s tem, çto eΩednevno v teçenie dvadcati let imenovalos´ 94 ,mudrost´ü genial´nogo voΩdä‘.“

Neben seiner eigenen Stilisierung zur gottgleichen Autorität weiß Napoleon religiöse Inhalte und Heilsversprechen auch in anderer Hinsicht für die Stabilisierung seiner eigenen Machtposition und der seiner loyalen Herrscherkaste zu nutzen. Als die Tiere zunehmend verelenden und der Rabe Moses mit seinen Verheißungen auf ein jenseitiges Paradies zurückkehrt, wird er auf der Farm nicht nur geduldet, sondern von den Schweinen auch verköstigt (vgl. AF, IX, 78f.). Indem sie Moses gewähren lassen, nähren sie unter den Farmtieren die Überzeugung, dass eine Veränderung des entbehrungsreichen Daseins erst mit dem Übergehen in eine jenseitige Welt zu erhoffen ist. Etwaige Widerstandsbestrebungen werden somit nachhaltig eingedämmt.95 Begleitet ist die Stilisierung Napoleons zum liebenden Übervater und zur gottgleichen Autorität von Terrormaßnahmen auch gegen Kritiker in der oligarchischen Führungsriege der Schweine (vgl. AF, VII, 55f.). Gleichzeitig wird Na93 94

95

E. S. Ginzburg, Krutoj marsˇrut. Chronika vremen kul’ta licˇnosti, Moskau 1990, S. 544f. I. G. E∆renburg, Ljudi, gody, zˇizn’, in: Ders., Sobranie socˇinenij, a.a.O., Bd. IX, S. 731. Vgl. weitere Beispiele bei I. Paperno (2004), a.a.O., S. 334ff. oder auch Semprúns Gedicht zu Stalins Tod, der die Menschheit verwaist zurücklässt. Vgl. J. Sempru´n, Federico Sánchez. Eine Autobiographie, Frankfurt/M. 1981, S. 171ff. Semprún war ab 1953 als Funktionär der verbotenen Kommunistischen Partei Spaniens unter dem Decknamen Federico Sánchez tätig, wurde 1964 allerdings aus der Partei ausgeschlossen. Von 1988 bis 1991 war er schließlich spanischer Kulturminister. Zur Annäherung des Stalin-Regimes an die orthodoxe sowie die katholische Kirche und Einstellung der anti-religiösen Propaganda während des Zweiten Weltkriegs vgl. beispielhaft M. W. Schkarowskij, Die russisch-orthodoxe Kirche und der Sowjetstaat in den Jahren 1940 bis 1950, in: P. Koslowski/W. F. Fjodorow (Hgg.), a.a.O., S. 79ff. und O. Figes, a.a.O., S. 622f.

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poleons ehemaliger Rivale Snowball als Spion und Saboteur diffamiert und für jegliche Misserfolge des Farmbetriebs verantwortlich gemacht. „Suddenly, early in the spring, an alarming thing was discovered. Snowball was secretly frequenting the farm by night! […] Every night, it was said, he came creeping in under cover of darkness and performed all kinds of mischief. He stole the corn, he upset the milk-pails, he broke the eggs, he trampled the seed-beds, he gnawed the bark off the fruit trees. Whenever anything went wrong it became 96 usual to attribute it to Snowball.“ (AF, VII, 52).

Verwiesen sei in diesem Zusammenhang insbesondere auf die in der Sowjetunion mit der forcierten Industrialisierung einsetzenden Kampagnen gegen sogenannte „Schädlinge“ („vrediteli“), die den Aufbau des Landes angeblich vorsätzlich sabotierten. Nicht zuletzt der im Exil lebende „Volksfeind“ („vrag naroda“) Trockij galt dabei als Organisator der „Schädlingsarbeit“ („vreditel’stvo“).97 Die abwertende tiermetaphorische Kennzeichnung der Feinde und Saboteure als „Schädlinge“ – der Schriftsteller Gladkov beschreibt diese in seinem Aufbauroman Cement (Zement; 1925) etwa als „Tiermenschen“ („Gory i lesa kisˇat zveroljudom“) und vergleicht sie mit Kriechtieren („gady“) und Heuschrecken („sarancˇovye“) – impliziert dabei eine Verbindung der vermeintlichen Feinde mit dem Dämonischen und legt deren Liquidierung nahe.98 96

97

98

Vgl. zu Snowballs Rolle als angeblichem Initiator und Organisator vermeintlicher Sabotageakte, der mit einigen Farmtieren geheime Verbindungen unterhält sowie Napoleon nach dem Leben trachtet, auch AF, VI, 47f., VII, 55f. sowie VIII, 65 u. 72. Zur „Schädlings-“ und Spionagehysterie in der Sowjetunion und zu Trockij als vermeintlichem Organisator der Sabotageakte vgl. C. Goehrke, a.a.O., Bd. III, S. 195ff. und R. C. Tucker (1990), a.a.O., S. 392ff. Allerdings sprach bereits Lenin in seinem internen Memorandum Wie man den Wettbewerb organisieren soll (1917) von einer „Säuberung der russischen Erde von allem Ungeziefer“ und bezeichnete die Feinde der Revolution u. a. als „Wanzen“ und „Flöhe“. Stalin veröffentlichte Lenins Schrift zehn Jahre später am Vorabend der Kollektivierung. Vgl. V. I. Lenin, Wie man den Wettbewerb organisieren soll, in: Ders., Werke, a.a.O., Bd. XXVI, S. 413. Da unter Stalin jeder zum „Schädling“ oder „Volksfeind“ werden konnte und jede Berufsgruppe, Nationalität, Schicht oder sonstige Gemeinschaft gespalten, atomisiert oder liquidiert wurde, entstand eine Gesellschaft, in der tatsächlich alle überkommenen Klassen zerschlagen waren. Die sowjetische Gesellschaft teilte sich danach in eine „untere Hälfte, die sich nur als entwurzelt, weitgehend amorphe Masse beschreiben lässt, und eine obere Hälfte, die von einer politischen und funktionellen Hierarchie bestimmt wurde, in der allerdings jedes einzelne Glied disponibel war.“ G. Koenen (1998), a.a.O., S. 282 und zu einer Atomisierung und Vermassung der russischen Gesellschaft durch den stalinistischen Terror H. Arendt, a.a.O., S. 688ff. Vgl. F. V. Gladkov, Cement, Charkov 1983, S. 137. Vgl. weiterführend H. Günther, Held und Feind als Archetypen des totalitären Mythos, in: M. Vetter (Hg.), a.a.O., 53ff. In Leonovs Roman Barsuki (Die Dachse; 1924) erhebt sich eine Dorfbevölkerung ob eines Flurstreits gegen die Sowjetmacht. Die rebellierenden Bauern, die Dachse, verbünden sich mit einer Gruppe von „Konterrevolutionären“, ziehen sich in die Wälder zurück und verüben Sabotageakte, unterliegen aber schließlich den neuen roten Machthabern. Als tierisch-menschlicher Zwitter ist auch das „Waldgelichter“ in E. Jüngers Auf den Marmorklippen beschrieben,

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Sukzessive verfälschen die Schweine in Orwells Erzählung auch Snowballs tatsächliche Rolle in der sogenannten „Battle of the Cowshed“, als Jones seine Farm zurückerobern wollte. Napoleons ehemaliger Rivale leitete seinerzeit erfolgreich die Verteidigungsmaßnahmen und war mit dem Orden „Tierheld erster Klasse“ ausgezeichnet worden (vgl. AF, IV, 26f. u. 28), während sich Napoleon bei der Schlacht im Hintergrund gehalten hatte. Nach seiner Vertreibung gilt Snowball nun als Jones’ Verbündeter. Seine Kampfstrategie habe allein die Niederlage der Tiere zum Ziel gehabt, die aber Dank Napoleon, der sich bereits selbst die entsprechenden Orden verliehen hat (vgl. AF, VII, 55), verhindert werden konnte. Napoleons vermeintlich auf das Wohl der Gemeinschaft gerichtetes Handeln wird in die Vergangenheit hinein verlängert und sein Führungsanspruch somit nachhaltig unterstrichen. „‚[…] The plot was for Snowball, at the critical moment, to give the signal for flight and leave the field to the enemy. And he very nearly succeeded – I will even say, comrades, he would have succeeded if it had not been for our heroic Leader, Comrade Napoleon. Do you not remember how, just at the moment when Jones and his men had just got inside the yard, Snowball suddenly turned and fled, and many animals followed him? And do you not remember, too, that it was just at that moment, when panic was spreading and all seemed lost, that Comrade Napoleon sprang forward with a cry of ‚Death to Humanity!‘ and sank his teeth in Jones’s leg? Surely you remember that, comrades?‘ exclaimed Squealer, frisking from side to side.“ (AF, VII, 54; Hervh. im Orig.).

Schließlich behaupten die Schweine, Snowball sei nie ein Orden verliehen worden (vgl. AF, VIII, 65), und bei der „Schlacht am Kuhstall“ habe er sich mit dem Ruf „Long live Humanity!“ in den Kampf gestürzt (vgl. AF, IX, 78).99 Orwell hatte bereits nach seinen Erfahrungen im Spanischen Bürgerkrieg eine alptraumhafte Welt skizziert, in der die Vorstellung einer wahrheitsgetreuen Geschichtsschreibung nicht mehr existiert. Diktatoren und politische Eliten erheben nicht nur den Anspruch, die Zukunft zu kontrollieren, sondern bemächtigen sich mit einer Umschreibung geschichtlicher Fakten auch der Vergangenheit.

99

das, eine blutrünstige Rotte aus trainierten Kämpfern, Jägern, Gesetzlosen und Kampfhunden, die Bewohner eines Küstenstreifens angreifen. Zur Schilderung eines tierhaften, ordnungslosen und grausamen Feindes in Texten der Moderne vgl. weiterführend E. Horn, Die Ungestalt des Feindes: Nomaden, Schwärme, in: Modern Language Notes 123 (2008), S. 656675. Orwell hat wiederholt kritisch bemerkt, dass die sowjetische Geschichtsschreibung die historische Rolle Trockijs während der Revolution und des Bürgerkrieges verfälsche sowie ihn als Verbündeten des nationalsozialistischen Deutschland denunziere, sich aber zum Teil auch die westliche Presse den sowjetischen Vorgaben nur allzu bereitwillig anpasse. Vgl. G. Orwell, CEJL, a.a.O., Bd. II, S. 367f., Bd. III, S. 77 u. 371 und Bd. IV, S. 62f. u. 115f.

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„I know it is the fashion to say that most of recorded history is lies anyway. I am willing to believe that history is for the most part inaccurate and biased, but what is peculiar to our own age is the abandonment of the idea that history could be truthfully written. […] The implied objective of this line of thought is a nightmare world in which the Leader, or some ruling clique, controls not only the future but the past. If the Leader says of such and such an event, ‚It never happened‘ – well, it never happened. If he says that two and two are five – well, two and two are five. This prospect frightens me much more than bombs – and after our experiences of the last few 100 years that is not a frivolous statement.“

Als Napoleon in Geschäftsbeziehungen zu den Betreibern der Nachbarfarmen, Pilkington und Frederick, tritt und einen Stapel Bauholz zum Kauf anbietet, werden je nach aktuellem Verhandlungsstand wechselnde Hassparolen lanciert sowie Snowball als Verbündeter des jeweils angefeindeten Bauern denunziert (vgl. AF, VII, 52). Eine zunächst erwartete Einigung mit Pilkington lässt Napoleon verkünden, er habe zu keiner Zeit in Erwägung gezogen, das Bauholz an Frederick zu verkaufen, denn dieser wolle die Farm überfallen und behandle seine Tiere schlecht (vgl. AF, VIII, 64f.). Da der Geschäftsabschluss aber letztlich doch mit Frederick zustande kommt, mit dem Napoleon angeblich die ganze Zeit in geheimem Einvernehmen gestanden habe, wird die vormalige Hassparole „Tod Frederick“ kurzerhand in „Tod Pilkington“ geändert. Ebenso erklärt Napoleon, Frederick habe niemals die Farm der Tiere überfallen wollen, die kursierenden Gerüchte über Fredericks angebliche Brutalität seien maßlos übertrieben und auch Snowball sei zu keiner Zeit ein Kostgänger Fredericks gewesen (vgl. AF, VIII, 66f.). Wie Orwell wiederholt feststellte, kollidiert der Unfehlbarkeitsanspruch totalitärer Führerschaft zwangsläufig mit wechselnden machtpolitischen und wirtschaftlichen Interessen und zwingt zu abrupten Kurskorrekturen. „The peculiarity of the totalitarian state is that though it controls thought, it does not fix it. It sets up unquestionable dogmas, and it alters them from day to day. It needs the dogmas, because it needs absolute obedience from its subjects, but it cannot avoid the changes, which are dictated by the needs of power politics. It declares it101 self infallible, and at the same time it attacks the very concept of objective truth.“

100

101

G. Orwell, Looking Back on the Spanish War, in: Ders., CEJL, a.a.O., Bd. II, S. 258f. (Hervh. im Orig.). Siehe auch G. Orwell, As I Please, in: Ders., CEJL, a.a.O., Bd. III, S. 88: „The really frightening thing about totalitarianism is not that it commits ‚atrocities‘ but that it attacks the concept of objective truth: it claims to control the past as well as the future.“ G. Orwell, Literature and Totalitarianism, in: Ders., CEJL, a.a.O., Bd. II, S. 136. In seinem Roman Nineteen Eighty-Four baut Orwell das Thema der Geschichtsfälschung weiter aus. Je nach Bündnislage zwischen Ozeanien, dem Staat des Großen Bruders, und einem der anderen beiden Großmächte, Eurasien oder Ostasien, werden nicht nur ständig wechselnde Hassparolen ausgegeben, sondern alle Schriftstücke und Zeitungsmeldungen der Bündnislage entsprechend umgeschrieben.

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So erfordert auch die starre und dogmatische Setzung, dass Napoleon qua seiner gottgleichen Autorität allein im Besitz der Wahrheit ist („Napoleon is always right!“), letztlich eine flexibel-manipulative Anpassung der Wirklichkeit an seine Entscheidungen. Die manipulative Geschichtsfälschung der Schweine wird allerdings ob des Präsentismus der Farmtiere wesentlich begünstigt. Sie sind allein dem Augenblick und der Gegenwart verhaftet, das Vergangene bildet dagegen keine gesicherten Koordinaten. „Sometimes the older ones among them [the animals; Anm. M. M.] racked their dim memories and tried to determine whether in the early days of the Rebellion, when Jones’s expulsion was still recent, things had been better or worse now. They could not remember. There was nothing with which they could compare their present lives: they had nothing to go upon except Squealer’s lists of figures,…“ 102 (AF, X, 87).

Da sich die Farmtiere niemals bewusst erinnern können, verfügen sie über keine eigene Geschichte. Die eigene Biographie ist immer nur eine Biographie der Masse, die wesentlich von einer Führungselite diktiert wird. Diese schafft allerdings mit ihrer Manipulation geschichtlicher Daten und Ereignisse gleichfalls eine endlose Gegenwart. So korrespondiert letztlich in gewisser Weise das nur bruchstückhafte Erinnerungsvermögen der Unterdrückten mit dem nur selektiven Gedächtnis der Unterdrücker, wie dies etwa Semprún in seiner Autobiographie seinen ehemaligen kommunistischen Parteigenossen attestiert. „Du staunst ein weiteres Mal, was für ein selektives Gedächtnis Kommunisten haben. An manches erinnern sie sich, anderes vergessen sie. Wieder anderes verbannen sie aus ihrem Gedächtnis. Kommunistisches Gedächtnis ist im Grunde keins, denn es speichert die Vergangenheit nicht, sondern es zensiert sie. Das Gedächtnis kommunistischer Funktionäre funktioniert pragmatisch, auf die momentanen politischen Interessen und Ziele abgestimmt. Es ist kein historisches, kein Zeitgedächtnis, 103 sondern ein ideologisches Gedächtnis.“

102

103

Siehe zur Übernahme der geschichtsverfälschenden Version der „Schlacht am Kuhstall“ durch die Farmtiere AF, VII, 54: „Now when Squealer described the scene so graphically, it seemed to the animals that they did remember it.“ J. Semprún (1981), a.a.O., S. 283f. Vgl. ähnlich auch ebd., S. 140, 166f. u. 234f. Koenen bemerkt hinsichtlich der stalinistischen Säuberungen und der ideologisch-selektiven sowjetischen Geschichtsschreibung: „… man löschte das Gedächtnis der Menschen aus und erfand ihre Geschichte neu, während man ihnen versicherte, sie seien gerade dabei, Geschichte zu schreiben…“ G. Koenen (1998), a.a.O., S. 21. Zur ewigen Gegenwart und zum Stillstand der Geschichte in totalitären Regimen siehe zudem G. Orwell, Nineteen Eighty-Four, a.a.O., S. 162: „Every record has been destroyed or falsified, every book has been re-written, every picture has been repainted, every statue and street and building has been re-named, every date has been altered. And that process is continuing day by day and minute by minute. History has stopped. Nothing exists except an endless present in which the Party is always right.“

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VII. 4. Sprache Ebenso wie die Fälschung geschichtlicher Ereignisse ist in Orwells Animal Farm die bewusste Verwirrung von Sprache und Begriffen wesentliches Instrument der Massenbeherrschung.104 Bereits die zu Beginn der Erzählung aufgezeigten Unterschiede in der intellektuellen Befähigung, lesen und schreiben zu lernen, deuten auf das spätere hierarchische Gefälle innerhalb der Tiergemeinschaft voraus. Während sich die Schweine bereits Monate vor der Rebellion das Lesen und Schreiben selbst beigebracht haben (vgl. AF, II, 15), werden die übrigen Farmtiere erst nach Jones’ Vertreibung unterrichtet. Lediglich der ewig gleichgültige und teilnahmslose Benjamin erreicht die Perfektion der Schweine. Clover lernt das Alphabet, ist aber nicht in der Lage, Wörter zu bilden. Boxer kommt über den Buchstaben D nicht hinaus, und den übrigen Farmtieren bereitet schon der zweite Buchstabe des Alphabets Probleme (vgl. AF, III, 20f.). Mit Squealer findet sich unter den Schweinen zudem ein brillianter und überzeugender Redner, der, analog zu seiner Körpersprache, jedes Argument in sein Gegenteil zu verkehren vermag. „… a small fat pig named Squealer, with very round cheeks, twinkling eyes, nimble movements and a shrill voice. He was a brilliant talker, and when he was arguing some difficult point he had a way of skipping from side to side and whisking his tail which was somehow very persuasive. The others said of Squealer that he could turn black into white.“ (AF, II, 9).

Der einfache Stil, der die Sprache der Farmtiere kennzeichnet (s. S. 155), steht in auffälligem Gegensatz zur pervertierten Sprache der Schweine, die vor allem als Machtinstrument dient, um die gutgläubigen Farmtiere zu manipulieren und ihre eigene Vorherrschaft zu zementieren.105 Deutlich zeigt dies die Aushöhlung der Sieben Gebote. Die zunächst einfach und klar formulierten Regeln wie „No animal shall kill any other animal“ oder „No animal shall drink alcohol“ (AF, II, 15) verlieren in ihrem veränderten Wortlaut „No animal shall kill any other animal without cause“ und „No animal shall drink alcohol to excess“ (AF, VIII, 61 u. 73) an Eindeutigkeit. Sinn und Bedeutung der Gesetze sind nun wesentlich komplexer. Da die Ergänzungen zudem nicht definiert werden, schaffen die Schweine einen ihrer Willkürherrschaft dienlichen rechtsfreien Raum. 104

105

Thiergen macht auf den diabolischen Aspekt eines Sprach- und Begriffsmissbrauchs aufmerksam, wenn er in diesem Zusammenhang auf das griechische „diaballein“ verweist, das u. a. „Begriffe durcheinander werfen“ bedeutet. Vgl. P. Thiergen, Begriffsgeschichte: Traditionen, Probleme, Desiderat, in: Ders. (Hg.), Russische Begriffsgeschichte der Neuzeit. Beiträge zu einem Forschungsdesiderat, Köln/Weimar/Wien 2006, S. XXIX. Zu anschaulichen Beispielen für die vorsätzliche Sprach- und Begriffsverwirrung beziehungsweise -schändung durch den Kommunismus sowie den Nationalsozialismus vgl. A. I. Solzˇenicyn, Archipelag Gulag, 3 Bde., Paris 1973ff. Bd. I, S. 66f., 86, 289f. u. 295f., Bd. II, S. 289f. und Bd. III, S. 368f. sowie V. Klemperer, LTI, 10. Aufl., Leipzig 1990. Vgl. auch R. Fowler, a.a.O., S. 165.

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Die Ausgrenzung der Farmtiere von den politischen Entscheidungsprozessen interpretiert Squealer als einen von Fürsorge und Verantwortungsbewusstsein bestimmten Akt Napoleons und höhlt mit seiner Argumentation den Gleichheitsgrundsatz entscheidend aus. So sei Napoleon zwar unbedingt von der Gleichheit aller Farmtiere überzeugt, wolle sie aber vor falschen Entscheidungen bewahren. „‚Comrades!‘ he [Squealer; Anm. M. M.] said, ‚I trust that every animal here appreciates the sacrifice that Comrade Napoleon has made in taking this extra labour upon himself. Do not imagine, comrades, that leadership is a pleasure! On the contrary, it is a deep and heavy responsibility. No one believes more firmly than Comrade Napoleon that all animals are equal. He would be only too happy to let you make your decisions for yourselves. But sometimes you might make the wrong decisions, comrades, and then where should we be?“ (AF, V, 37).

Indirekt-manipulativ identifiziert Squealer die Gewaltherrschaft mit dem Begriff der Liebe, wenn er nach den Hinrichtungen die Herzensgüte Napoleons preist. „In his speeches Squealer would talk with the tears rolling down his cheeks of Napoleon’s wisdom, the goodness of his heart, and the deep love he bore to all animals everywhere,…“ (AF, VIII, 62).

Das Sklavendasein der Farmtiere setzt der „Propagandaminister“ mit einem Leben in Freiheit gleich (vgl. AF, IX, 75)106 und verweist zynisch auf die Freuden des Dienens sowie die Würde der Arbeit (vgl. AF, VII, 49). Napoleon selbst legitimiert den Sklavenstaat mit der Erklärung, dass allein harte Arbeit und karges Leben wahres Glück garantierten. „But the luxuries of which Snowball had once taught the animals to dream, the stalls with electric light and hot and cold water, and the three-day week, were n o longer talked about. Napoleon had denounced such ideas as contrary to the spirit of Animalism. The truest happiness, he said, lay in working hard and living frugally.“ (AF, X, 86).

Aussage und Wirklichkeit stehen sich diametral entgegen, wenn das Fernbleiben von der angeblich freiwilligen Sonntagsarbeit Futterentzug zur Folge hat (vgl. AF, VI, 40), und die straff durchorganisierten Propagandaveranstaltungen der Schweine als „Spontan-Demonstrationen“ bezeichnet werden. 106

In Orwells Nineteen Eighty-Four ist im sogenannten „Newspeak“ des Zwangsstaates der Begriff der politischen und geistigen Freiheit des Menschen schließlich vollständig eliminiert. Das Wort „frei“ ist nur noch in Zusammenhängen wie „frei von Läusen“ oder „frei von Unkraut“ gebräulich. „The word free still existed in Newspeak, but it could only be used in such statements as ‚This dog is free from lice‘ or ‚This field is free from weeds‘. It could not be used in its old sense of ‚politically free‘ or ‚intellectually free‘, since political and intellectual freedom no longer existed even as concepts, and were therefore of necessity nameless.“ G. Orwell, Nineteen Eighty-Four, a.a.O., S. 313.

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„Napoleon had commanded that once a week there should be held something called a Spontaneous Demonstration […] At the appointed time the animals would leave their work and march round the precincts of the farm in military formation, with the pigs leading, then the horses, then the cows, then the sheep, and the poultry. […] Boxer and Clover always carried between them a green banner marked with the hoof and the horn and the caption, ‚Long live Comrade Napoleon!‘ Afterwards there were recitations of poems composed in Napoleon’s honour, and a speech by Squealer giving particulars of the latest increases in the production of foodstuffs,…“ (AF, IX, 77).

Die Kürzungen der Futterrationen werden euphemistisch als (Wieder-)Anpassungen („readjustment“; AF, IX, 75) verbrämt, wobei Squealer betont, dass es sich trotz gelegentlicher Nahrungsmittelengpässe insgesamt wesentlich besser lebe als zu Jones’ Zeiten. „… in comparison with the days of Jones the improvement was enormous. Reading out the figures in a shrill rapid voice, he proved to them in detail that they had more oats, more hay, more turnips than they had had in Jones’s day, that they worked shorter hours, that their drinking water was of better quality, that they lived longer, that a larger proportion of their young ones survived infancy, and that they had more straw in their stalls…“ (AF, IX, 75).

Während Squealers Schilderung der verbesserten Lebensumstände an Stalins 1935 in einer Rede an die Stachanov-Arbeiter ausgegebene Losung „Zµit’ stalo lucˇsˇe, tovarisˇcˇi. Zµit’ stalo veselee.“ („Es lebt sich jetzt besser, Genossen. Es lebt sich jetzt fröhlicher.“)107 erinnert, lässt seine Erklärung, weshalb nur die Nahrungsmittelzuteilungen der Farmtiere, nicht aber die der Schweine und Hunde gekürzt werden, an Stalins zu Beginn der 1930er Jahre einsetzende Kampagne gegen die als unsozialistisch und kleinbürgerlich gebrandmarkte „Gleichmacherei“ („uravnilovka“) denken.108 So teilt Squealer den Farmtieren mit, dass eine strikte Gleichbehandlung aller Tiere den Grundsätzen des Animalismus widerspreche. „Once again all rations were reduced except those of the pigs and the dogs. A toorigid equality in rations, Squealer explained, would have been contrary to the principles of Animalism.“ (AF, IX, 75). 107 108

Vgl. I. V. Stalin, Rede in der ersten Unionsberatung der Stachanov-Leute (17. November 1935), Moskau/ Leningrad 1953, S. 15. Vgl. I. V. Stalin, Neue Verhältnisse – neue Aufgaben des wirtschaftlichen Aufbaus. Rede auf der Beratung der Wirtschaftler (23. Juni 1931), in: Ders., Werke, 13 Bde., Berlin 1955, Bd. XIII, S. 50ff. Zu Beginn der 1930er Jahre wurde das Prinzip der gleichen Entlohnung von qualifizierten und ungelernten Arbeitern aufgegeben. Materielle Anreize sowie ein abgestuftes Tarifsystem sollten sowohl zum Erwerb von höheren Qualifikationen stimulieren als auch die Arbeiter nachhaltig an ihre Betriebe binden. Stalin stützte sich in seiner Argumentation auf die Aussagen von Marx und Lenin, dass auch in einer klassenlosen Gesellschaft der Arbeiter vor allem nach seiner Leistung zu bezahlen sei.

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Gänzlich in sein Gegenteil verkehrt ist der Begriffsinhalt, wenn zum Ende der Erzählung der Animalismus auf das Gebot „All animals are equal, but some animals are more equal than others.“ (AF, X, 90) reduziert und mit dem Bekenntnis zur Gleichheit tatsächlich das einer umfänglichen Ungleichheit transportiert wird. In Orwells Anti-Utopie Nineteen Eighty-Four wird es schließlich das von der Partei des Großen Bruders dekretierte „double-think“ erlauben, wie in den Parteiparolen „War is Peace“, „Freedom is Slavery“ und „Ignorance is Strength“ sich ausschließende Prinzipien widerspruchslos zusammenzuspannen. Und ebenso wie der Begriff einer geistigen und politischen Freiheit des Menschen in der Sprache des Zwangstaates vollständig eliminiert ist, kann im „Newspeak“ auch die Vorstellung von einer politischen Gleichheit aller Bürger nicht mehr artikuliert werden. „For example, All mans are equal was a possible Newspeak sentence, but only in the same sense in which All men are redhaired is a possible Oldspeak sentence. It did not contain a grammatical error, but it expressed a palpable untruth – i. e. that all men are of equal size, weight or strength. The concept of political equality no longer existed, and this secondary meaning had accordingly been purged out of 109 the word equal.“

Mit der umfänglichen Sprach- und Begriffsverwirrung in Animal Farm und Nineteen Eighty-Four ist gleichzeitig auf Orwells mehrfach geäußerte Befürchtung angesprochen, dass sich Sprache und Denken ob des engen Wechselverhältnisses gegenseitig korrumpieren. Während Sprach- und Begriffsverwilderung einerseits einem mangelnden Bewusstseinsvermögen zuzuschreiben seien, befördere andererseits verantwortungloser Sprachgebrauch gerade die Genese eines irrationaldefizitären Gedankenguts. „It [the English language; Anm. M. M.] becomes ugly and inaccurate because our thoughts are foolish, but the slovenliness of our language makes it easier for us to have foolish thoughts.“110 Bereits in seinen Essays der 1940er Jahre äußerte sich Orwell wiederholt kritisch zum Sprachgebrauch politisch motivierter Rede, die vor allem mit ungeprüften Annahmen und Vermutungen sowie euphemistisch-verbrämenden und vagen Formulierungen arbeite und somit den tatsächlichen Sachverhalt wenn nicht verdrehe, so doch zumindest wesentlich verschleiere. „In our time, political speech and writing are largely the defence of the indefensible. Things like the continuance of British rule in India, the Russian purges and deportations, the dropping of the atom bombs on Japan, can indeed be defended, 109 110

G. Orwell, Nineteen Eighty-Four, a.a.O., S. 323. (Hervh. im Orig.). Zum Konnex von Orwells Newspeak und den Totalitarismen des 20. Jahrhunderts vgl. J. W. Young, a.a.O. G. Orwell, Politics and the English language, a.a.O., S. 128. Siehe auch ebd., S. 137: „But if thought corrupts language, language can also corrupt thought.“ Ähnlich vgl. zudem G. Orwell, Politics vs. Literature. An Examination of „Gulliver’s Travels“, in: Ders., CEJL, a.a.O., Bd. IV, S. 214.

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but only by arguments which are too brutal for most people to face, and which d o not square with the professed aims of political parties. Thus political language has to consist largely of euphemism, question-begging and sheer cloudy vagueness. […] Millions of peasants are robbed of their farms and sent trudging along the roads with no more than they can carry: this is called transfer of population or rectification of frontiers. People are imprisoned for years without trial, or shot in the back of the neck or sent to die of scurvy in Arctic lumber camps: this is called elimination o f 111 unreliable elements.“

Demgegenüber plädiert Orwell für einen Sprachgebrauch, der sich in seiner Verständlichkeit der sogenannten „demotic speech“ wieder annähere und auf abgenutzte Metaphern, bedeutungslose Phrasen sowie Fremdwörter und Passivkonstruktionen verzichte.112 Der einfache und direkte Stil in Orwells Animal Farm ist somit auch Ausdruck eines politischen Anliegens. „The problem of language is subtler and would take too long to discuss. I will only say that of late years I have tried to write less picturesquely and more exactly. […] Animal Farm was the first book in which I tried, with full consciousness of what I was doing, to fuse political purpose and artistic purpose into one whole. […] Good prose is like a window pane. I cannot say with certainty which of my motives are the strongest, but I know which of them deserve to be followed. And looking back through my work, I see that it is invariably where I lacked a political purpose that I wrote lifeless books and was betrayed into purple passages, sentences without 113 meaning, decorative adjectives and humbug generally.“

In Mitterers Theaterstück haben Krieg und Gewalt nur zu offensichtlich Sprache als Mittel der Konfliktbewältigung abgelöst. Gleichzeitig bringen die sprachlichen Formulierungen und Benennungen der Figuren deren Brutalisierung und Bestimmtsein durch die Kriegssituation zum Ausdruck. Der Tod wird nur in der Dimension des Massenhaften wahrgenommen. Soldaten erhalten „silberne Nahkampfspangen für konsequentes Bauchaufschlitzen“ sowie „goldene Massakerkreuze mit Edelweiß“ (FK, 180), und Hubertus erklärt Tini, dass ein MG „zum Niedermähen von Menschen“ (FK, 175) konzipiert sei. Meinungsverschiedenheiten und Unmutsäußerungen gehen beständig mit der Androhung von körperlicher Gewalt und Tod einher. Sollte etwa Tini die Geburt ihres Kindes verzögern, so will Hubertus es aus ihr herausprügeln.

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G. Orwell, Politics and the English language, in: Ders., CEJL, a.a.O., Bd. IV, S. 136. (Hervh. im Orig.). Vgl. hierzu inbesondere G. Orwell, Propaganda and Demotic Speech, in: Ders., CEJL, a.a.O., Bd. III, S. 135ff. und die Auflistungen in ders., Politics and the English language, a.a.O., S. 130ff. u. 139. G. Orwell, Why I write, a.a.O., S. 7. (Hervh. im Orig.).

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„Hubertus: Das werden wir noch sehen, Frau Tini! (Schreit:) Sie bringen ihr Kind gefälligst ordnungsgemäß zur Welt, haben Sie verstanden? Sonst prügle ich es aus Ihnen heraus, verdammt nochmal!“ (FK, 190).

Dagegen ist nach Tinis Ansicht Hubertus wegen des Rezitierens seiner platten Agitationslyrik zu erschießen („Man sollte ihn erschießen, man sollte ihn wirklich erschießen! Und für sowas kriegt man noch einen Literaturpreis!“ FK, 188), während Stephans „schlagendes“ Argument sein Gewehr ist. „Stephan: Zivilistenschwein, was? (Zu Andreas:) Drückeberger, was? Steh auf, du! Sonst hast du den Kolben in der Fresse!“ (FK, 176). „Stephan: […] Wo ist mein Gewehr? Ich bring euch alle um!“ (FK, 179).

Den Figuren selbst gelten die beständigen Todes- und Gewaltdrohungen allerdings lediglich als Ausdruck schlechter Umgangsformen. „Hubertus: Sie bleiben hier. Sonst bin ich leider gezwungen, Sie zu erschießen. Tini schenkt mit Kelle Kaffee in die Tassen. Tini: Reden Sie nicht immer so unanständig, Herr Hubertus.“ (FK, 174).

Scheint die Sie-Form der Anrede einerseits anzuzeigen, dass die Figuren angesichts ihres Bestimmtseins von überpersönlichen Bezugsgrößen nicht in der Lage sind, persönliche zwischenmenschliche Beziehungen zu gestalten, so spricht sich in dieser andererseits eine nur floskelhafte Höflichkeit aus, die der Brutalisierung und Verrohung der Figuren deutlich kontrastiert. In Cµapeks Va´lka s Mloky bestimmen Funktionalität und Nützlichkeit den Sprachgebrauch der effizienten Molchmasse. Wie der Erzähler-Chronist berichtet, erlernen die Tiere zwar die Sprache des Landes, für das sie tätig sind.114 Ihr Sprachvermögen bleibt aber ob der Beschaffenheit ihrer Sprechwerkzeuge sowie ihrer psychischen Verfasstheit begrenzt. Den Buchstaben R sprechen die Molche als L, Zischlaute leicht lispelnd aus. Mehrsilbige Wörter reduzieren sie auf eine Silbe, grammatikalische Endungen lassen sie weg. Die Personalpronomen „ich“ und „wir“ werden von den Molchen synonym verwendet und Substantive nicht mehr nach männlichem oder weiblichem Genus unterschieden. So weist auch der Sprachgebrauch den einzelnen Molch als nur unbedeutenden Teil des uniformen Molchkollektives aus, dem als bestimmendem Identifikationsfaktor unbedingte Vorrangstellung vor dem Einzelnen zugeschrieben wird.115 114

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Zudem wird von Bemühungen berichtet, eine für Molch und Mensch gemeinsame Universalsprache zu entwickeln. Das von einem lettischen Telegrafenbeamten entwickelte Molchisch findet dagegen nur unter den Menschen Verbreitung und etabliert sich sogar als Studienfach an Universitäten (vgl. VSM, II, 2, 146). Bereits in seiner den phrasenhaften Wortschatz der journalistischen Sprache kritisierenden Kolumne Kritika slov (Eine Kritik der Worte) bemängelte Cµapek den nur allzu häufigen Ge-

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„Acˇkoliv se Salamandrˇi ucˇili cizím rˇecˇem pomeˇrneˇ snadno a horliveˇ, jevila jejich jazykova´ schopnost zvla´sˇtní nedostatky jednak pro uzpu˚sobení jejich mluvidel, jednak z du˚vodu˚ spísˇe psychicky´ch; tak naprˇíklad jen s obtízˇí vyslovovali dlouha´, mnohoslabicˇna´ slova a hledeˇli je zredukovat na jedinou slabiku, […] rˇíkali l místo r a v sykavkách mírneˇ sˇisˇali; odpousˇteˇli si gramaticke´ koncovky, nikdy se nenaucˇili deˇlat rozdíl mezi ‚ja´‘ a ‚my‘ a bylo jim jedno, je-li neˇjake´ slovo rodu zˇenského nebo muzˇske´ho […] Prosteˇ kazˇdy´ jazyk se v jejich u´stech charakteristicky prˇetvorˇil a jaksi zracionalizoval na nejjednodusˇsˇí a rudimenta´rní formy.“ (VSM, II, 2, 147).

Der rationalisierte Sprachgebrauch der Molchmasse wird nicht nur von den einfachen Bevölkerungsschichten in den Häfen, sondern auch von den einflussreichen Kreisen der Menschengesellschaft übernommen und findet schließlich Eingang in die Tageszeitungen. „Je hodno pozoru, zeˇ si jejich neologismy [Mloku˚; Anm. M. M.], jejich vy´slovnost i gramatickou primitivnost pocˇala rychle osvojovat jednak lidská spodina v prˇístavech, jednak takzvana´ nejlepsˇí spolecˇnost; odtud se ten zpu˚sob vyjadrˇova´ní sˇírˇil do novin a za´hy zobecneˇl. I u lidé namnoze vymizely gramatické rody, odpadaly koncovky, vyhynulo sklonˇova´ní…“ (VSM, II, 2, 147).

Im Zusammenhang mit der wissenschaftlichen Untersuchung des Molchs Andrew Scheuchzer im Londoner Zoo war bereits im ersten Buch kritisch der begrenzte Wortschatz des Durchschnittsbürgers sowie dessen Unvermögen, selbständig zu denken, vermerkt worden (s. S. 198). Nun vermag im Zuge der Sprachvereinfachung auch der gebildete Mensch Wörter wie „Indeterminismus“ oder „Transzendenz“ nicht mehr auszusprechen und deren Begriffsinhalt zu erfassen. „… steˇzíˇ kdo ze vzdeˇlany´ch lidí by mohl rˇíci, co znamena´ indeterminismus nebo transcendentno, prosteˇ proto, zˇe se ta slova stala i pro lidi prˇílisˇ dlouhy´mi a nevyslovitelny´mi.“ (VSM, II, 2, 147).

Anschaulich bringen gerade diese beiden vom Erzähler beispielhaft genannten Begriffe die defizitäre Verfasstheit der menschlichen Gesellschaft und deren Regression auf die Stufe einer tierischen Daseinsform zum Ausdruck. Angesichts der Begeisterung der menschlichen Gesellschaft für die Uniformität, Funktionalität und Nützlichkeit des Molchkollektivs müssen die Vorstellung von der Willensfreiheit des Menschen sowie Erfahrungen, die das sinnlich Erfassbare überschreiten, zwangsläufig als obsolet gelten.

brauch des unpersönlichen und unverbindlichen Personalpronomens „my“. Da die damit verbundenen generalisierenden Aussagen über ein nicht näher spezifiziertes Kollektiv zumeist abstrakt-theoretischer Natur und nur bedingt mit den Erfahrungen und Biographien von Einzelpersonen in Deckung zu bringen seien, werde auf Seiten des Lesers ein Bewusstsein und Erkenntnis förderndes Nachdenken verhindert. Vgl. K. Cµapek, Kritika slov, in: Ders., Spisy, a.a.O., Bd. XVII, S. 478f.

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Während bei Cµapek dem geschrumpften Bewusstseinsvermögen der menschlichen Gesellschaft ein beschränktes Sprachvermögen entspricht, ist mit der Nashornwerdung der Figuren in Ionescos Rhinoce´ros schließlich ein umfänglicher Sprachverlust verbunden. Insbesondere die ausführliche Schilderung von Jeans Verwandlung im zweiten Bild des zweiten Aktes zeigt die sukzessive Annäherung an eine mit dem Gestaltwechsel verbundene tierische Ausdrucksform. Jeans Aussprache wird zunehmend undeutlicher, und seine Aussagen sind mit tierähnlichen Lauten durchsetzt („Je ne dis rien. Je fais brrr… ça m’amuse.“ RH, II/2, 73).116 Schließlich bleibt nur ein undifferenziertes Schnauben. Eine Verständigung zwischen Mensch und Nashorn ist ausgeschlossen.117 „Daisy: […] il faut taˆcher de s’entendre avec. Bérenger: Ils ne peuvent pas nous entendre. Daisy: Il le faut pourtant. Pas d’autre solution. Bérenger: Tu les comprends, toi? Daisy: Pas encore. Mais nous devrions essayer de comprendre leur psychologie, d’apprendre leur langage. Bérenger: Ils n’ont pas de langage! Écoute… tu appelles ça un langage?“ (RH, III, 111f.).

Bérengers trotzig-verzweifelte Verteidigung seines Menschseins gerät ohne menschliches Gegenüber zwangsläufig zu einem „Monologisieren im Leeren“118 . Wie aber Bérengers Vereinsamung inmitten der Nashörner seine bereits anfängliche Isolation nur sinnbildhaft veranschaulicht, sind auch Kommunikation und Verständigung von Beginn an problematisch und gefährdet. Geradezu stereotyp reagieren die Figuren auf das über den Marktplatz stürmende Nashorn mit dem gleichen Ausruf („Oh, un rhinoce´ros!“ RH, I, 14f. u. 31f. und „Ça alors!“ RH, I, 15f. u. 32). Auch die mehrfach wiederholte Frage „Qu’est-ce que vous en dites?“ (RH, I, 34) zielt nicht auf eine tatsächliche Antwort, da die Figuren zumeist nicht auf die Rede des anderen achten (vgl. RH, I, 16f.). Nicht zuletzt enthüllt die Dialogmontage, bei der die Unterhaltungen zwischen Bérenger und Jean sowie zwischen dem Logiker und dem Alten Herrn ineinander geschoben werden, ob der gleich lautenden Aussagen den phrasenhaften Charakter der Gespräche.

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Vgl. zu den tierähnlichen Lauten auch RH, II/2, 74 u. 76. Wie die Situation zwischen Mme. Boeuf und ihrem verwandelten Mann zeigt, vermag das Nashorn lediglich Lautstärke und Ausdruck seines Schnaubens zu modulieren. „Mme. Boeuf: Je le reconnais, je le reconnais (Le rhinoce´ros répond par un barrissement violent, mais tendre.)“ (RH, II/1, 58). Vgl. M. Kesting, Das epische Theater. Zur Struktur des modernen Dramas, 8. Aufl., Stuttgart/ Berlin/Köln 1989, S. 34. Vgl. zur Vereinzelung und Isolation sowie zum „Zerreißen der Dialoge in Monologe“ als typisches Motiv sowie merkmalhaftes formales Element des modernen Theaters auch P. Szondi, a.a.O., S. 80 u. 88.

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„Bérenger, à Jean: Comment se mettre à la page? Le Logicien, au Vieux Monsieur: J’enlève deux pattes à ces chats. Combien leur en restera-t-il à chacun? Le Vieux Monsieur: C’est compliqué. Bérenger, à Jean: C’est compliqué. Le Logicien, au Vieux Monsieur: C’est simple au contraire. Le Vieux Monsieur, au Logicien: C’est facile pour vous, peut-eˆtre, pas pour moi. Bérenger, à Jean: C’est facile pour vous, peut-eˆtre, pas pour moi. Le Logicien, au Vieux Monsieur: Faites un effort de pensée, voyons. Appliquezvous. Jean, à Bérenger: Faites un effort de volonté, voyons. Appliquez-vous. Le Vieux Monsieur, au Logicien: Je ne vois pas. Bérenger, à Jean: Je ne vois vraiment pas. Le Logicien, au Vieux Monsieur: On doit tout vous dire. 119 Jean, à Bérenger: On doit tout vous dire.“ (RH, I, 26f.).

Die inhaltsleere und floskelhafte Rede ist Ionesco wesentlicher Ausdruck eines klischeebeladenen Denkens. Ähnlich wie er über die Sprache der Figuren seines ersten Einakters La Cantatrice chauve bemerkt, verweisen auch in Rhinoce´ros die jederzeit einsetzbaren Redensarten und Formulierungen auf die Hohlheit und das Abgestumpftsein des austauschbaren Personals. Da sie nichts persönlich bewegt, vermögen sie nicht selbständig zu denken und haben somit letztlich auch nichts zu sagen. „Le texte de La Cantatrice chauve […] composé d’expressions toutes faites, des clichés les plus écule´s, me re´ve´lait, par cela meˆme, les automatismes du langage, d u comportement des gens, le ‚parler pour ne rien dire‘, le parler parce qu’il n’y a rien à dire de personnel, l’absence de vie intérieure, la me´canique du quotidien, l’homme baignant dans son milieu social, ne s’en distinguant plus. Les Smith, les Martin ne savent plus parler, parce qu’ils ne savent plus penser, ils ne savent plus penser parce qu’ils ne savent plus s’émouvoir, n’ont plus de passions, ils ne savent plus eˆtre, ils peuvent ‚devenir‘ n’importe qui, n’importe quoi car, n’étant pas, ils ne 120 sont que les autres, le monde de l’impersonnel, ils sont interchangeables…“

Während den Figuren in Rhinoce´ros der inhaltsleere und floskelhafte Austausch aber als ernsthaftes Gespräch gilt, wird Bérengers persönliches Bekenntnis seiner Ängste und Zweifel von Jean ebenso als widersprüchlich, langweilig und unlo119 120

Vgl. weiterführend RH, I, 27f. Die Dialogmontage findet sich auch in anderen Stücken Ionescos, so etwa in Les Chaises, Le nouveau locataire oder Tueur sans gages. E. Ionesco, Notes, a.a.O., S. 159f. Siehe auch ebd., S. 223: „Je n’aime pas le mot crise ou critique du langage […] C’est prendre les choses par leur mauvais coˆté, du dehors en quelque sorte. Il s’agit bien plutoˆt, par exemple, de la constatation d’une sorte de crise de la pensée, qui se manifeste bien suˆr par une crise du langage – les mots ne signifiant plus rien […] il est e´vident que nos personnages sont fous, malheureux, perdus, stupides, conventionnels, et que leur parler est absurde, que leur langage est désagrégé, comme leur pensée.“

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gisch abgewertet (vgl. RH, I, 20 u. 24), wie Dudard Bérenger des leeren Geredes bezichtigt und ihm vorwirft, er bringe alles durcheinander („Vous mélangez tout dans votre teˆte!“ RH, III, 94) und stelle unsinnige Fragen. „Dudard: Voyons, Bérenger, vous eˆtes ridicule, vous vous créez des problèmes, vous vous posez des questions saugrenues…“ (RH, III, 86).121 Tatsächlich enthüllt Bérengers gefühlsbestimmte Rede eine gewisse Sprachnot und wirkt stellenweise banal und hilflos. Diese wird aber im Gegensatz zu Jeans und Dudards abwertender Kritik aufgewertet. Mögen sich die beiden Figuren dem ängstlichen und zweifelnden Bérenger auch überlegen fühlen und ihr angepasstes Denken und ihre floskelhafte Rede als vernünftiges Argument und intellektuell diskursive Sprache verbrämen, gehen sie doch in der uniformen und dumpfen Nashornmasse auf und ihres menschlichen Sprach- und Bewusstseinsvermögens verlustig. Gleichzeitig scheint mit Bérengers Sprachnot aber auch die Thematik einer Spracherneuerung berührt. Ionesco forderte wiederholt eine von Klischees und Floskeln „entschlackte“ Sprache, die es ermögliche, Persönlich-Existentielles tatsächlich zu kommunizieren. „L’effort de tout créateur authentique consiste à se de´barrasser des scories, des cliche´s d’un langage e´puise´ pour retrouver un langage simplifie´, essentialisé, renaissant, pouvant exprimer des re´alite´s neuves et anciennes présentes et inactuelles, vi122 vantes et permanentes, particulie`res, et à la fois, universelles.“

Ähnlich plädierte auch Orwell für eine Erneuerung der Sprache, um insbesondere irrationale Gefühlslagen, die das Handeln des Menschen nachhaltig bestimmten, sowohl klarer erfassen als auch lebendiger ausdrücken zu können. „The disordered, un-verbal world belonging to dreams is never quite absent from our minds, and if any calculation were possible I dare say it would be found that quite half the volume of our waking thoughts were of this order. Certainly the dream-thoughts take a hand even when we are trying to think verbally, they influence the verbal thoughts, and it is largely they that make our inner life valuable. […] In a way this un-verbal part of your mind is even the most important part, for it is the source of nearly all motives. All likes and dislikes, all aesthetic feeling, all notions of right and wrong […] spring from feelings which are generally admitted to be subtler than words.

[…] What is wanted is to discover the now nameless feelings that men have in common. All the powerful motives which will not go into words and which are the cause of constant lying and misunderstanding, could be tracked down, given visible form, 123 agreed upon, and named.“

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Siehe auch Botards Aussage, Bérenger phantasiere („Il a tellement d’imagination!“) und fasle dummes Zeug („Vous bafouillez…“; beide Angaben RH, II/1, 51). E. Ionesco, Notes, a.a.O., S. 134. Vgl. zu einer Erneuerung der Sprache auch ebd., S. 85 u. 108 sowie H. Hanstein, a.a.O., S. 106ff. G. Orwell, New Words, in: Ders., CEJL, a.a.O., Bd. II, S. 4 u. 11. (Hervh. im Orig.).

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VII. 5. Bildung und kulturelles Leben In Bulgakovs Erzählung ist das kulturelle Leben vor allem von sensationsheischender Aktualität geprägt. Ähnlich wie die Tagespresse mit ihren reißerischen Aufmachern thematisieren Revuen, Theater und Literatur die grassierende Hühnerpest und den daraus resultierenden Eiermangel. Teils nur leicht verfremdet bezieht sich Bulgakov in seiner Schilderung auf tatsächliche Personen des kulturellen Lebens der 1920er Jahre. Ein Duo tritt etwa mit dem Couplet Ach, mama, cˇto ja budu delat’ bez jaic? („Ach, Mama, sag’, was mach ich bloß ohne Eier?“ RJ, VI, 337) auf. Die in Bulgakovs Erzählung genannten Verfasser des Liedes, Ardo und Arguev, lassen an die Satiriker, Couplet- und Operettendichter A. M. Argo und N. A. Aduev denken.124 „Unter donnerndem Applaus“ („pod grom aplodismentov“; RJ, VI, 337) spielt das Theater Aquarium die Revue Kuricyny deti („Die Kinder des Huhns“ oder auch „Satansbrut“) eines gewissen Lenivcev. Und das Mejerchol’d-Theater führt das Stück Kurij doch („Hühnertod“) des Schriftstellers E∆rendorg auf, dessen Name wohl auf den bereits oben erwähnten I. G. E∆renburg verweist. Tatsächlich waren der Theaterregisseur V. E∆. Mejerchol’d (1874-1940) und E∆renburg befreundet. Mejerchol’d brachte 1924 die politische Revue („polit-obozrenie“) D. E. (Daesˇ’ Evropu – Her mit Europa) nach Motiven von E∆renburgs Kapitalismussatire Trest D. E. Istorija gibeli Evropy (Trust D. E. Die Geschichte vom Untergang Europas; 1923) und B. Kellermanns Zukunftsroman Der Tunnel (1913) auf die Bühne.125 Bulgakov lässt Mejerchol’d in seiner Erzählung nun allerdings zu Tode kommen. Es wird berichtet, dass der Regisseur 1927 bei einer Inszenierung von Pusˇkins Boris Godunov tödlich verunglückte, als „Trapeze mit nackten Bojaren abstürzten“ („… obrusˇilis’ trapecii s golymi bojarami…“; RJ, VI, 337). Seine Eindrücke einer Mejerchol’d-Inszenierung, des Velikodusˇnyj rogonosec (Der großmütige Hahnrei; UA 1922), hatte Bulgakov bereits im sechsten „biomechanischen Kapitel“ („biomechanicˇeskaja glava“) seines längeren Feuilletons Stolica v bloknote (Die Hauptstadt im Notizbuch; 1922/23) geschildert.126 Mit der Kapitelüberschrift spielt er auf Mejerchol’ds neuartiges, ebenfalls an Taylors Bewegungsstudien orientiertes Reflex-, Muskel- und Bewegungstraining der Biomechanik an, das auch den Körper des Schauspielers als effiziente und ökonomisch funktionierende „Arbeitsmaschine“ nutzbar machen sollte und dessen Übungen nicht zuletzt eine Entsprechung in Gastevs „Katechismus der Arbeitsübungen“ (s. S. 73f.) finden. 124 125

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Vgl. L. Milne, a.a.O., 49 und H. B. Weber (Hg.), The Modern Encyclopedia of Russian and Soviet Literature, 10 Bde., Gulf Breeze 1977ff., Bd. I, S. 37f. u. 204. E∆renburg war allerdings mit der Bearbeitung seines Romans nicht einverstanden, und es kam zum Bruch mit Mejerchol’d. Eine Versöhnung erfolgte erst Jahre später. Vgl. I. G. E∆renburg, Ljudi, gody, zˇizn’, in: Ders., Sobranie socˇinenij, a.a.O., Bd. VIII, S. 336f. Der Originaltitel des Stücks, das von dem belgischen Dramatiker F. Crommelynck stammt, lautet Le cocu magnifique (1921).

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„Akteru nuΩno tak natrenirovat´ svoj material – telo, çtoby ono moglo mgnovenno ispolnät´ poluçennye izvne (ot aktera, reΩissera) zadaniä. […] Metod tejlorizacii svojstven rabote aktera toçno tak Ωe, kak i vsäkoj drugoj rabote, gde est´ stremlenie dostignut´ maksimal´noj produkcii. […] Psixologiä po celomu rädu voprosov ne moΩet prijti k opredelennomu re‚eniü. Stroit´ zdanie teatra na poloΩeniäx psixologii vse ravno, çto stroit´ dom na peske: on neizbeΩno ruxnet. Vsäkoe psixologiçeskoe sostoänie obuslovlivaetsä izvestnymi fiziologiçeskimi processa127 mi.“

Während nun in Bulgakovs Feuilleton ein Begleiter des Autors die Aufführung begeistert als Durchbruch von Mejerchol’ds biomechanischem Schauspielertraining feiert, zeigt sich Bulgakov das Stück als verwirrendes Spiel in uniforme Arbeitsanzüge gekleideter Akteure vor und auf einer konstruktivistischen Bühnenkonstruktion aus Käfigen, schiefen Ebenen, Knüppeln, Türen und Rädern („Kakie-to kletki, naklonnye ploskosti, palki, dverki i kolesa.“), das lediglich dazu angetan sei, beim Zuschauer eine Neurose („nevrastenija“) auszulösen. „Dejstvie: Ωenwina, podobrav sinüü übku, sßezΩaet s naklonnoj ploskosti […] ˇenwina muΩçine çistit zad platänoj wetkoj. ˇenwina na pleçax u muΩçin ezdit, prikryvaä stydlivo nogi prozodeΩdnoj übkoj. – Qto biomexanika, – poäsnil mne priätel´. Biomexanika!! Bezpomownost´ qtix sinix biomexanikov, v svoe vremä uçiv‚ixsä proiznosit´ sla128 wavye monologi, vne konkurencii.“

Meyerchol’d leitete ab 1921 die Unterabteilung „Teatralizacija fizkul’tura“ („Tefizkul’t“) der Theaterorganisation des Volkskommissariats für Bildungswesen, die gemeinsam mit Gastevs „Zentralinstitut für Arbeit“ sowie der Einrichtung für allgemeine militärische Ausbildung („Vseobsˇcˇee voennoe obucˇenie“ – „Vsevobucˇ“) ein Konzept zur Theatralisierung und Popularisierung einer neuen sowjetischen Körper- und Bewegungskultur erarbeiten sollte.129 So zeigte etwa Mejer-

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V. E∆. Mejerchol’d, Akter budusˇcˇego i biomechanika, in: Ders., Stat’i, pis’ma, recˇi, besedy, 2 Bde., Moskau 1968, Bd. II, S. 488f. M. A. Bulgakov, Stolica v bloknote, in: Ders., Sobranie socˇinenij v desjati tomach, a.a.O., Bd. I, S. 219f. Wie Bulgakov bemerkt, hätten ihn sowohl die Lektüre von E∆renburgs konstruktivistischem Manifest A vse-taki ona vertitsja (Und sie dreht sich doch; 1922) als auch zwei nicht namentlich genannte Moskauer Futuristen, die ihn als kleinbürgerlichen Spießer („mesˇcˇanin“) bezeichneten, letztlich dazu bewogen, Mejerchol’ds Inszenierung zu besuchen. Vgl. ebd., S. 219. Der Vorsitzende des „Vsevobucˇ“, N. I. Podvojskij, sah in der Verbindung einer sowjetischen Körperkultur mit dem Theater der Massenhandlungen nicht zuletzt „die Faktoren zur Schaffung einer neuen kollektivistischen Menschheit“ („faktory sozdanija novogo kollektivisticˇes-

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chol’ds Inszenierung des Stücks D. E. Schauspieler, die als Symbol des gesunden sowjetischen Lebens Sport und Gymnastik auf der Bühne trieben, während dagegen erotische Tanz- und Variete´nummern auf die Dekadenz des kapitalistischen Westens verwiesen. Wie Ch. Mailand-Hansens Besprechung der Aufführung allerdings zu entnehmen ist, langweilte sich das Publikum bei der sowjetischen „fizkul’tura“, reagierte aber begeistert auf die Foxtrott- und Tangonummern sowie den ersten Auftritt einer Jazzband in der Sowjetunion.130 Deutlich wird die Verbindung zu Gastevs Konzept einer universalen „Kultur der Arbeit“ (s. S. 73f.), wenn sich das linke Theater als „technisches Laboratorium“, als „Fabrik eines qualifizierten Menschen und einer qualifizierten Lebensweise“ versteht, wobei dem Theaterregisseur die Rolle eines „Monteurs“ beziehungsweise „Ingenieurs des Alltags“ zufällt131 , oder als „Anführer einer Arbeitskultur“ gilt, die „Bewegungen und Fertigkeiten kultiviert, die der Mensch der Produktion braucht“.132 Auch Mejerchol’d, der vom Theater als „Aufmarschraum“ für die „Formung des neuen Menschen“ spricht, will, so die Statuten des Mejerchol’d-Theaters, Schritt halten mit den „Organisationsbestrebungen“ der neuen Epoche („idti noga v nogu s organizacionnymi ustremlenijami e˙pochi“) und mit seiner künstlerischen Arbeit den Produktionsaufgaben des Landes („ispol’zovat’ dejstvennye i zrelisˇcˇnye e˙lementy teatra primenitel’no k konkretnym proizvodstvennym zadacˇam SSSR“) gerecht werden.133 „My smotrim na uçastie massy v sozdanii spektaklej vovse ne s toj storony, çto vot, mol, na‚ego polku pribylo, vsä strana prevratilas´ v splo‚nuü armiü licedeev. Teatr stanovitsä placdarmom dlä formirovaniä novogo çeloveka, teatr pomogaet naladit´ novuü trenirovku lüdej. Dlä okonçatel´nogo zavoevaniä sil prirody çelovekom nuΩna ta gibkost´ novomu çeloveku, kotoraä legçe daetsä v trenaΩe na teatral´nom otdyxe, v klubax i ix laboratoriäx, v igrax na stadionax, v paradax na‚ix revolücionnyx torΩestv. Zdes´, v boäx na fronte kul´turnoj revolücii, 134 py‚no rascvetaet tvorçeskaä iniciativa mass.“

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kogo cˇelovecˇestva“). Vgl. A. Z. Jufit (Hg.), Russkij sovetskij teatr 1917-1921. Dokumenty i materialy, Leningrad 1968, S. 155. Vgl. Ch. Mailand-Hansen, Mejerchol’ds Theaterästhetik in den 1920er Jahren – ihr theaterpolitischer und kulturideologischer Kontext, Kopenhagen 1980, S. 112. Vgl. B. I. Arvatov, Von der Theaterregie zur Montage des Lebens, in: Ders., Kunst und Produktion, München 1972, S. 94. Bemerkt sei, dass Stalin 1934 den Schriftsteller mit den technischen Ingenieuren gleichsetzte und diesen als „Ingenieur der menschlichen Seele“ („inzˇ e ner cˇelovecˇeskoj dusˇi“) bezeichnete. Vgl. K. Hielscher, Was Mejerchol’d machte. Über Taylorismus, Kultur der Arbeit und Biomechanik in der Sowjetunion 1922, in: Theater heute 10, 6 (1977), S. 16. Vgl. A. Ja. Trabskij (Hg.), Russkij sovjetskij teatr 1921-1926. Dokumenty i materialy, Leningrad 1975, S. 204. V. E∆. Mejerchol’d, Rekonstrukcija teatra, in: Ders., Stat’i, pis’ma, recˇi, besedy, a.a.O., Bd. II, S. 206.

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So implizieren die von Bulgakov erwähnten uniformen Arbeitsanzüge der Mejerchol’d-Inszenierung des Velikodusˇnyj rogonosec eine grundsätzliche Übereinstimmung von Fabrik- und „Theaterarbeitern“. Mit der konstruktivistischen Bühnenarchitektur ohne illusionschaffende Dekoration und komplizierte Requisiten sieht Mejerchol’d zudem einen Übergang zwischen einem „von Spezialisten aufgeführten Schauspiel“ und dem „freien Spiel der Werktätigen während ihrer Freizeit“ geschaffen. „ … zaloΩit osnovanie dlä novogo vida teatral´nogo dejstviä, perexodäwego iz zreliwa, razygryvaemogo specialistami, v svobodnuü igru trudäwixsä vo vremä ix otdyxa.“135 Kultur wird analog zu Gastev vor allem als technische und soziale Geübtheit, als Organisationsfertigkeit im Hinblick auf die Industrialisierungsaufgaben des Landes verstanden und das Theater analog zum Bild des „Großlaboratoriums Sowjetunion“ als „Laboratorium für organisiertes, rationales, ökonomisches menschliches Handeln“ gesehen.136 Dass in Rokovye Jajca Mejerchol’d bereits 1927 durch die herabstürzenden Trapeze zu Tode gekommen ist, trifft sich schließlich in gewisser Weise mit Bulgakovs Resümee seines „biomechanischen Kapitels“. Sowohl ihm selbst als auch Mejerchol’d wäre letztlich geholfen, würde der Regisseur sterben und erst im 21. Jahrhundert wieder auferstehen. Während Mejerchol’d möglicherweise in der fernen Zukunft verstanden werde, wovon derzeit angesichts des rückständigen Publikums nicht auszugehen sei, würden ihm die nächtlichen alptraumhaften Visionen biomechanisch geschulter Schauspieler erspart bleiben. „A esli [iskusstvo; Anm. M. M.] buduwego, to puskaj, poΩalujsta, Mejerxol´d umret i voskresnet v XXI veke. Ot qtogo vyigraüt vse, i preΩde vsego on sam. Ego pojmut. Publika budet dovol´na ego kolesami, on sam poluçit udovletvorenie geniä, a ä budu v mogile, mne ne budut snit´sä derevännye vertu‚ki. 137 Voobwe k çertu qtu mexaniku. Ä ustal.“

Cµapek fokussiert in seinem Roman wesentlich auf die Opposition von Bildung und Ausbildung. Auf den bereits erwähnten Molchfarmen werden die Molche gezielt auf ihre spätere Tätigkeit vorbereitet sowie mit militärischem Drill zu Disziplin und Gehorsam erzogen. Neben dem Marschieren im Gleichschritt wird vor allem der Gebrauch verschiedener Werkzeuge und Waffen geübt. Der Sprachunterricht besteht im Erlernen eines fachspezifischen Wortschatzes, so dass insbesondere die Arbeit der Molche betreffende Wörter den Tieren veranschaulicht und verständlich gemacht werden.

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V. E∆. Mejerchol’d, Kak byl postavlen „Velikodusˇnyj rogonosec“ in: Ders., Stat’i, pis’ma, recˇi, besedy, a.a.O., Bd. II, S. 47. Vgl. K. Hielscher, a.a.O., S. 17. M. A. Bulgakov, Stolica v bloknote, a.a.O., S. 220.

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„Nejprve je hodina mluvení; ucˇitel prˇedrˇíka´va´ Mloku˚m slova, naprˇíklad „kopat“, a na´zorneˇ jim vysveˇtlí jejich smysl. Potom je serˇadí do cˇtyrˇstupu˚ a ucˇí je pochodovat; […] Po prˇesta´vce se vyucˇuje, jak zacha´zet s ru˚zny´mi na´stroji a zbraneˇmi, nacˇezˇ se asi po trˇi hodiny pod dozorem ucˇitelu˚ konají praktické pra´ce ve vodním stavitelství.“ (VSM, II, 2, 129).

Begrüßen die Menschen auch den wirtschaftlichen Erfolg des Molchhandels, wird doch gleichzeitig mit dem Aufstieg der leistungsfähigen, aber weitgehend ungebildeten Tierpopulation die Gefahr einer Barbarisierung der menschlichen Zivilisation antizipiert. So soll ein geregeltes Schulwesen mit einem breit gefächerten, humanistisch orientierten Bildungsangebot den Molchen die Errungenschaften der menschlichen Kultur nahe bringen und die Erziehung der Tiere zu moralisch höher stehenden Wesen gewährleisten. „Dejte Mloku˚m rˇa´dnou sˇkolní vy´ c hovu! Dlouho se setka´vala [Mme. Louise Zimmermann; Anm. M. M.] s nepochopením verˇejnosti, kdyzˇ neúnavneˇ upozornˇovala jednak na prˇirozenou ucˇelivost Mloku˚, jednak na nebezpecˇí, ktere´ b y mohlo lidské civilizaci vyru˚st, kdyby se Salamandru˚m nedostalo pecˇlive´ mravní i rozumové vy´chovy. ‚Jako rˇímska´ kultura zanikla vpa´dem barbaru˚, zanikla by i nasˇe vzdeˇlanost, kdyby byla ostrovem v morˇi tvoru˚ dusˇevneˇ ujarˇmeny´ch, jimzˇ je upíra´n podíl na nejvysˇsˇích idea´lech dnesˇního lidstva‘, tak volala prorocky […] ‚Ma´-li se kultura udrzˇet, musí by´t vzdeˇlaností vsˇech. Nemu˚zˇeme v klidu pozˇívat daru˚ nasˇí civilizace ani plodu˚ nasˇí kultury, dokud kolem na´s existují milio´ny a milio´ny nesˇtaˇ stny´ch a nízky´ch bytostí, umeˇle udrzˇovany´ch ve stavu anima´lním. […] Mme Louise Zimmermann […] zalozˇila v Beaulieu (u Nice) První lyceum pro Mloky, na ktere´m byl poteˇr Salamandru˚ pracujících v Marseille a Toulonu vyucˇ o va´ n v francouzske´ rˇecˇi a literaturˇe, re´torice, spolecˇenske´m chova´ní, matematice a kulturních deˇjina´ch.“ (VSM, II, 2, 142f.; Hervh. im Orig.).

Tatsächlich wird das Molchschulwesen aber zügig reformiert. Praktische sowie naturwissenschaftlich-technische Fächer werden zu Schwerpunkten des Lehrplans. Ebenso gilt die militärische Waffenübung als pädagogisch wertvolles Unterrichtsfach. Das umfängliche Bildungsprogramm wird auf eine berufs- und anwendungsorientierte Ausbildung reduziert, wobei diese schließlich auch der menschlichen Gesellschaft nachahmenswertes Vorbild ist. „… zˇe na vy´chovu mlocˇího dorostu se nehodí zastaralé humanistické sˇkolství pro mla´dezˇ lidskou; rozhodneˇ se zavrhovala vy´uka v literaturˇe a deˇjina´ch a doporucˇ o valo se, aby co nejvíce místa a cˇasu bylo veˇnova´no prakticky´m a moderním prˇedmeˇtu˚m, jako prˇírodním veˇda´m, pra´ci ve sˇkolních dílna´ch, technicke´mu vy´ c viku Mloku˚, teˇlovy´choveˇ a tak da´le. […] [A] protozˇe tyto mlocˇí sˇkoly nebyly zatízˇeny stary´mi klasicky´mi tradicemi sˇkol lidsky´ch a mohly tedy uzˇít vsˇech nejnoveˇjsˇích metod psychotechniky, technologicke´ vy´chovy, prˇedvojenske´ho vy´cviku a jiny´ch posledních vymozˇeností pedagogicky´ch, vyvinulo se z nich za´hy to nejmoderneˇjsˇí a veˇdecky nejpokrocˇilejsˇí sˇkolství na sveˇteˇ,….“ (VSM, II, 2, 145).

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Dass die Molche, vermeintlich bewundernswert humor- und phantasielose „Realisten des Lebens“ („zˇivotní realisté“), keine philosophischen und metaphysischen Fragestellungen kennen sowie ohne Kunst, Literatur oder Musik auskommen, feiern die Menschen als „kulturelle Revolution“. Unter diesen Vorzeichen muss die Förderung eines kritischen Bewusstseins und selbständigen Denkens zwangsläufig als nutzlose Energieverschwendung gelten. „Vidíme prˇece, zˇe nepotrˇebují [Mloci; Anm. M. M.] celkem nicˇeho z toho, v cˇem hleda´ u´levu i u´teˇchu metafyzicka´ hru˚za a zˇivotní tísenˇ cˇloveˇka; obejdou se bez filozofie, bez posmrtne´ho zˇivota i bez umeˇní; neznají, co je fantazie, humor, mystika, hra nebo sen…“ (VSM, III, 5, 203f.). „Mloci, tot’ kulturní revoluce. At’ nemají sve´ho umeˇní: asponˇ nejsou zatízˇeni idiotsky´mi idea´ly, zaschly´mi tradicemi a celou tou ztyrˇelou, nudnou, sˇkolometskou vetesˇí, ktere´ se rˇíkalo poezie, hudba, architektura, filozofie a vu˚bec kultura,…“ (VSM, III, 6, 206).

Die funktionale Formgebung sowie die geometrischer Uniformität und Monumentalität verpflichtete Bauweise des Tierkollektivs prägen das wesentlich naturfeindliche Schönheitsideal des Molchzeitalters. „Krom toho bylo objeveno regulacˇní dílo Mloku˚ jako novy´ zdroj kra´sy a monumentality. Uzˇ ma´me po krk prˇírody, volalo se; sem s hladky´mi betonovy´mi brˇ e hy místo stary´ch rozervany´ch u´tesu˚! Romantika je mrtva; budoucí pevniny budou obry´sova´ny cˇisty´mi prˇímkami a prˇedeˇla´ny na sfe´ricke´ troju´helníky a kosocˇtverce; 138 stary´ geologicky´ sveˇt musí by´t nahrazen geometricky´m.“ (VSM, III, 206).

Dieses Schönheitsideal scheint sich vor allem an der Funktionalität und Nützlichkeit von Maschinen und technischem Gerät zu orientieren. So entstehen einheitliche und übersichtliche Städte vom Reißbrett, die der Uniformität der Molchmasse sinnfällig Ausdruck verleihen und ob ihrer Monumentalität die Nichtigkeit des Einzelnen gegenüber der organisierten Masse deutlich werden lassen. Der Begeisterung der menschlichen Gesellschaft für die technisierte und effiziente, aber kulturlose Ordnung der Molchpopulation korrespondiert ein fragwürdiger Zivilisationsbegriff. Ähnlich wie Gastevs Konzept einer universalen „Arbeitskultur“ primär auf eine technische und soziale Geübtheit zielt, wird Zivilisation nun allein mit der Befähigung identifiziert, die zur Verfügung stehenden technischen Errungenschaften gewinnbringend nutzbar zu machen. „Nemají sice svy´ch vysoky´ch pecí a hutí, ale lide´ jim doda´vají kovy vy´meˇnou za jejich pra´ci. Nemají svy´ch trˇaskavin, ale ty jim prodají lidé. Jejich pohonnou la´tkou 138

Das Architekturideal der Molche scheint nicht zuletzt auf das Leben an öden Küstenstreifen mit kilometerlangen Zäunen, die mit Parolen und Losungen bemalt sind, zurückzuführen zu sein (vgl. VSM, II, 2, 153). Die Molchfarmen zeigen ein ähnliches Bild (vgl. VSM, II, 2, 129).

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je morˇe se svy´m prˇílivem a odlivem, se svy´mi spodními proudy a rozdíly teplot; turbíny jim sice dodali lidé, ale oni jich dovedou uzˇívat; cozˇ je civilizace neˇco jine´ho nezˇ schopnost pouzˇívat veˇcí, jezˇ vymyslel neˇkdo jiny´?“ (VSM, II, 2, 171).

Bereits Ortega y Gasset hatte in seinem Essay Der Aufstand der Massen den modernen Massenmenschen als Primitiven gekennzeichnet, der den Prinzipien der Kultur und Zivilisation gegenüber gleichgültig ist, sich deren Ergebnissen aber uneingeschränkt zu bemächtigen weiß. „Der Führung in der Gesellschaft hat sich ein Menschentypus bemächtigt, den die Prinzipien der Kultur kalt lassen. Nicht dieser oder jener Kultur, sondern – soweit man heute beurteilen kann – jeder Kultur überhaupt. Was ihm am Herzen liegt, sind offenbar Automobile, Anästhetika und ein paar andere Dinge. Aber das bestätigt seine vollständige Gleichgültigkeit gegen die Kultur. Denn diese sind nur Produkte der Kultur, und der Eifer, mit dem man sich ihnen widmet, läßt die Verständnislosigkeit für die Prinzipien, aus denen sie stammen, noch krasser hervortreten. […] Die Welt ist zivilisiert, aber ihre Bewohner sind es nicht; sie sehen nicht einmal die Zivilisation an ihr, sondern benutzen sie, als wäre sie Natur. Der neue Mensch will das Automobil und genießt es, aber er glaubt, es wächst von selbst an einem Paradiesbaum. Im Grunde seiner Seele weiß er nichts von dem künstlichen, fast unwahrscheinlichen Charakter der Zivilisation und wird niemals seine Begeisterung 139 für die Apparate auf die Theorien ausdehnen, die sie ermöglichen.“

Während in der von Effizienz und Nützlichkeit bestimmten Molchgesellschaft Literatur und Kunst keinen Platz mehr finden, ist das kulturelle Interesse von Ionescos Figuren gerade einer zweckbestimmten Notwendigkeit geschuldet. In seiner straff und vernünftig organisierten Freizeit hält sich Jean über aktuelle Tendenzen des kulturellen Lebens „auf dem Laufenden“, um als kluger und heller Kopf zu gelten. „Jean: […] Devenez un esprit vif et brilliant. Mettez-vous a` la page.“ (RH, I, 26). „Jean: […]"Il faut eˆtre dans le coup. Soyez au courant des événements littéraires et 140 culturels de notre époque.“; RH, I, 27).“

Ebenso wie sein elegantes und gepflegtes Äußeres sollen ihn die Ausstellungs- und Theaterbesuche sowie die Lektüre literarischer Zeitschriften als vermeintlich kultivierten und gebildeten Menschen ausweisen. Persönliches Erleben und individuelles Nachdenken sind allerdings nicht vorgesehen.

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J. Ortega y Gasset, a.a.O., S. 58f. Ortega y Gasset spricht in diesem Zusammenhang auch von einem „Vertikaleinfall der Barbarei“. Siehe hierzu auch Bérengers Aussage, Jean wolle immer mit seinem Wissen beeindrucken: „Il soutient toujours des énormités! Il veut toujours épater tout le monde par son savoir. Il n’admet jamais qu’il pourrait se tromper.“ (RH, I, 39).

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„Jean, à Bérenger: […] Et vous pouvez passer vos moments disponibles d’une façon intelligente. Bérenger, à Jean: C’est-à-dire?… Jean, à Bérenger: Visitez les musées, lisez des revues littéraires, allez entendre des conférences. Cela vous sortira de vos angoisses, cela vous formera l’esprit. En quatre semaines, vous eˆtes un homme cultivé.“ (RH, I, 28).

Jean entspricht Ionescos Beschreibung des modernen, gehetzten Menschen, der sich nicht mehr auf sich selbst zu besinnen vermag. Im Ergebnis ist dieser wie Cµapeks Menschen des Molchzeitalters ein Gefangener der Notwendigkeit, ein Roboter, der eine ebenso geist- und humorlose wie nützliche Welt bevölkert und ob seiner Unmenschlichkeit und seines Mangels an Persönlichkeit letztlich prädestiniert ist, jederzeit einem fieberhaften Fanatismus zu verfallen. „L’homme moderne, universel, c’est l’homme presse´, il n’a pas le temps, il est prisonnier de la ne´cessite´, il ne comprend pas qu’une chose puisse ne pas eˆtre utile; […] Si on ne comprend pas l’utilite´ de l’inutile, l’inutilité de l’utile, on ne comprend pas l’art; et un pays où on ne comprend pas l’art est un pays d’esclaves ou de robots, un pays de gens malheureux, de gens qui ne rient pas ni ne sourient, un pays sans esprit; où il n’y a pas l’humour, où il n’y a pas le rire il y a la colère et la haine. Car ces gens affaire´s, anxieux, courant vers un but qui n’est pas un but humain o u qui n’est qu’un mirage, peuvent tout d’un coup, aux sons de je ne sais quels clairons, à l’appel de n’importe quel fou ou de´mon se laisser gagner par un fanatisme délirant, une rage collective quelconque, une hysterie populaire. Les rhinocérites, à droite, à gauche, les plus diverses, constituent les menaces qui pèsent sur l’humanite´ 141 qui n’a pas le temps de re´fle´chir, de reprendre ses esprits ou son esprit,…“

Einerseits mag es einen komischen Effekt erzielen, wenn Jean Bérenger gegenüber das Avantgarde-Theater und Ionescos Stücke erwähnt. „Connaissez-vous le théaˆtre d’avantgarde, dont on parle tant? Avez-vous vu les pièces de Ionesco?“ (RH, I, 29). Andererseits lässt Jeans lediglich schlagwortartiger Gebrauch von Namen und Begriffen an Ionescos theatertheoretische Aufzeichnungen denken, in denen er bemängelt, dass die Bezeichnung „Avantgarde“ oft genug nicht mehr als eine inhaltsleere Etikettierung sei. Gerade Jeans Orientierung am aktuellen Zeitgeist und an „intellektuellen Moden“ („des modes intellectuelles“)142 steht Ionescos Avantgardeverständnis diametral entgegen. „… si on me considère comme auteur d’avant-garde, ce n’est pas ma faute. C’est la critique qui me conside`re ainsi. Cela n’a pas d’importance. Cette de´finition en vaut 143 une autre. Elle ne veut rien dire. C’est une étiquette.“

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E. Ionesco, Notes, a.a.O., S. 129. Siehe auch Jeans Aussage, er habe keine Zeit zu verlieren: „Moi, c’est pas pareil, je n’aime pas attendre, je n’ai pas de temps à perdre.“ (RH, I, 10). Vgl. E. Ionesco, Notes, a.a.O., S. 48. Ebd., S. 21.

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Analog zu Jeans lediglich äußerlicher Kultiviertheit ist auch die Bildung des Juristen Dudard ein bloßes Oberflächenphänomen. Das Studium garantiert dem Akademiker, der sich ebenfalls „auf dem Laufenden“ zu halten weiß (vgl. RH, III, 93), vor allem verbesserte Karrierechancen. Zur Ausbildung eines kritischen Bewusstseins hat dies aber nicht beigetragen. Dudards Positionslosigkeit und Unfähigkeit zur Differenzierung werden schließlich nur zu offensichtlich, wenn er die Nashornwerdung gegenüber Bérenger als möglicherweise gewinnbringende Erfahrung verteidigt. „Je me demande si ce n’est pas une expérience à tenter.“ (RH, III, 101).144 In Orwells Animal Farm sind es abermals machtpolitische Interessen, die Napoleon ein für alle Farmtiere zugängliches Bildungs- und Aufklärungsprogramm zurückweisen lassen. Wird den von Snowball initiierten Lese- und Schreibklassen auch ein gewisser Erfolg bescheinigt („By the autumn almost every animal on the farm was literate in some degree.“ AF, III, 20), so lehnt Napoleon die Schulung der erwachsenen Farmtiere ab und will sich vielmehr auf die Erziehung der Jugend konzentrieren (vgl. AF, III, 22). Napoleon intendiert hierbei aber weder ein egalitäres, für alle Jungtiere zugängliches noch breit gefächertes Bildungsangebot, sondern sein Interesse für die Jugend ist wesentlich der Sicherung seiner Alleinherrschaft geschuldet. Die Welpen richtet er zu einer ihm treu ergebenen Terroreinheit ab, während er die Jungschweine, von ihm als einzigem Eber der Farm gezeugt, zunächst in der Küche des Gutshauses unterrichtet. Mit dem Schulhaus lässt Napoleon schließlich für seinen Nachwuchs, der angehalten ist, sich von den übrigen Jungtieren fernzuhalten, eine elitäre „Kaderschmiede“ errichten (vgl. AF, IX, 75f.). Obwohl sich in Orwells Animal Farm der Führungsnachwuchs ausschließlich aus der bereits privilegierten Schweinepopulation rekrutiert, lassen sich im Hinblick auf die Entwicklung in der Sowjetunion doch Gemeinsamkeiten mit der Entstehung einer neuen sozialen Basis für Stalins Politik zu Beginn der 1930er Jahre feststellen. Zwar besteht diese, anders als in Orwells Erzählung, sowohl aus einer neuen technischen Intelligenz als auch aus sozialen Aufsteigern aus der Praxis, den sogenannten „vydvizˇency“. Es gilt aber zu bemerken, dass sich diese aus einer überaus jungen Sowjetgesellschaft rekrutierte, von der über die Hälfte weder an der Oktoberrevolution aktiv beteiligt gewesen war noch diese bewusst erlebt hatte. Die junge Bevölkerungsmehrheit, die in den 1930er Jahren zunehmend als Spezialisten und Kader in Führungspositionen einrückte, war somit bereits von der nachrevolutionären Periode geprägt, in der Revolutions- und Bürgerkriegsereignisse vor allem in stalinistischer Interpretation vorlagen.145 144 145

Vgl. ähnlich auch RH, III, 103. Vgl. R. Löhmann, a.a.O., S. 160ff. In einer Rezension hatte Orwell bemerkt, dass die Kommunistische Partei der Sowjetunion wohl in der Lage sein werde, ihren Führungsanspruch zu verteidigen, solange es ihr gelinge, ihre Mitglieder aus allen gesellschaftlichen Schichten zu kooptieren und diese in ihrem Sinne zu schulen. Vgl. G. Orwell, Review. Notes towards the Defintion of Culture by T. S. Eliot, in: Ders., CEJL, a.a.O., Bd. IV, S. 456.

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Die Kontrolle über die Erziehung des Führungsnachwuchses garantiert Napoleon auch für die Zukunft einen seine Herrschaft stützenden loyalen Verwaltungsapparat, der von den materiell und sozial privilegierten Mastschweinen gestellt wird. Diese tragen nun zur Abgrenzung von den übrigen Farmtieren grüne Bänder.146 Produziert werden täglich Unmengen von geheimen Akten, Dokumenten und Rapporten, die sofort wieder zu verbrennen sind. „There was, as Squealer was never tired of explaining, endless work in the supervision and organisation of the farm. Much of this work was of a kind that the other animals were too ignorant to understand. For example, Squealer told them that the pigs had to expend enormous labours every day upon mysterious things called ‚files‘, ‚reports‘, ‚minutes‘ and ‚memoranda‘. These were large sheets of paper which had to be closely covered with writing, and as soon as they were so covered they were burnt in the furnace. This was of the highest importance for the welfare 147 of the farm, Squealer said.“ (AF, X, 86f.).

Diese letztlich umfängliche Deformation der Prinzipien einer egalitären Tiergemeinschaft im Zuge der Ausbildung einer neuen herrschenden Schicht von privilegierten „Verwaltungsfunktionären“ erinnert zum einen vor allem an Trockijs Kritik an der Entwicklung in der Sowjetunion unter Stalin. Trockij hatte wiederholt von einer Entartung der Revolution durch eine „thermidorianische Bürokratie“ gesprochen. Er beschreibt diese als eine „Kaste von Bevorrechteten, die wie Diebe untereinander verschworen sind durch ihre gemeinsamen Interessen, durch den ständig zunehmenden Abstand zwischen ihnen und dem werktätigen Volk“, wobei er Stalin als deren mittelmäßigen Exponenten sieht.148 Zum anderen trifft sich die Darstellung der klugen und Napoleon ergebenen Mastschweine mit Orwells kritischer Einstellung gegenüber gebildeten und intellektuellen Kreisen. 146

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Hierzu sei bemerkt, dass kurz nach der Rebellion das eitle und Bänder geschmückte Pferd Mollie von den Schweinen noch ermahnt worden war, dass eben diese Bänder ein Abzeichen der Knechtschaft seien (vgl. AF, II, 10). Im Zusammenhang mit Orwells „Schweinebürokratie“ sei auch auf Mandel’sˇtam verwiesen, der Funktionäre und Verwaltungsangestellte als Kanzleivögelchen zeigt, die unausgesetzt Rapporte schreiben: „… kanceljarskie pticˇki/pisˇut i pisˇut svoi raportcˇiki.“ O. E∆. Mandel’sˇtam, Na policejskoj bumage, in: Ders., Mitternacht in Moskau, a.a.O., S. 42. Auch Majakovskijs Theaterstück Klop (Die Wanze; 1929) wendet sich satirisch gegen die stalinistische Parteibürokratie. Das karrierebewusste Parteimitglied Skripkin vermag in Symbiose mit einer Wanze tiefgefroren fünfzig Jahre zu überleben. Von der zukünftigen Sowjetgesellschaft des Jahres 1979 wird er schließlich im Zoo gemeinsam mit der Wanze als „Spießerius vulgaris“ ausgestellt. Vgl. L. D. Trotzky, Stalin. Eine Biographie, o. O. 1953, S. 491 u. 498f. sowie ders., Verratene Revolution, a.a.O., S. 87ff. Trockijs Begrifflichkeit parallelisiert Stalin und dessen Verwaltungsbürokratie mit den Thermidorianern der Französischen Revolution, die Robespierre und seine Anhänger am 9. Thermidor II (27. 7. 1794) hinrichten ließen und ebenso wie später Napoleon die Revolution für vollendet erklärten. Zum Prozess der Zurückdrängung revolutionären Gedankenguts und einer „Verspießerung“ der Sowjetgesellschaft in den 1930er Jahren vgl. auch O. Figes, a.a.O., S. 249ff.

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Wiederholt wirft er diesen eine Disposition zur Machtanbetung („power worship“) vor.149 So interpretiert er die Begeisterung vieler englischer Intellektueller für das stalinistische Regime dahingehend, dass sie dieses mit einem System identifizierten, das ihren Führungs- und Machtanspruch einlöse und ihnen, den Schweinen in Orwells Animal Farm vergleichbar, die Peitsche in die Hand gebe. „If one examines the people who, having some idea of what the Russian re´gime is like, are strongly russophile, one finds that, on the whole, they belong to the „managerial“ class of which Burnham writes. That is, they are not managers in the narrow sense, but scientists, technicians, teachers, journalists, broadcasters, bureaucrats, professional politicians: in general, middling people who feel themselves cramped by a system that is still partly aristocratic, and are hungry for more power and more prestige. These people look towards the USSR and see in it, or think they see, a system which eliminates the upper class, keeps the working class in its place, and hands unlimited power to people very similar to themselves. It was only after the Soviet re´gime became unmistakably totalitarian that English intellectuals, in large numbers, began to show interest in it. Burnham, although the English russophile intelligentsia would repudiate him, is really voicing their secret wish: the wish to destroy the old, equalitarian version of Socialism and usher in a hierarchical society where the intel150 lectual can at last get his hands on the whip.“

Zeichnen sich die Schweine ob ihrer Privilegien und ihres Führungsanspruchs auch vor den übrigen Farmtieren aus, sind sie doch vor allem als eine uniforme Masse von Claqueuren der Macht dargestellt. Allein Squealer und dem „Hofliteraten“ Minimus muss Napoleon aufgrund ihrer Propagandatätigkeit eine aus dem namenlosen Herrschaftskollektiv herausgehobene Position zugestehen. Minimus’ platte, ideologisch unterfütterte Herrscherpanegyrik gilt als höchster künstlerischer Ausdruck. Neben seinen Liedern und Gedichten, die den „großen Einzelnen“ Napoleon und seine quasi-göttliche Führerschaft preisen, lässt der Text der von Minimus neu komponierten Hymne deutlich werden, dass in Napoleons Sklavenstaat den Bedürfnissen der Farmtiere keinerlei Bedeutung mehr zukommt. Sprach das traditionsreiche Beasts of England die Farmtiere noch persönlich an und hatte allein deren Wohlergehen zum Thema, ist der Adressat der neuen Hymne der Farmbetrieb („Animal Farm, Animal Farm,/Never through me shalt thou come to harm!“ AF, VII, 60). Mit der einseitigen Verpflichtung der Farmtiere auf eine übergeordnete Bezugsgröße, einen abstrakten, über dem einzelnen Tier stehenden Verbund, wird das Wohlergehen der Tiere selbst zu einer zu vernachlässigenden Größe. 149 150

Vgl. etwa G. Orwell, CEJL, a.a.O., Bd. II, S. 59f. u. 74; Bd. III, 7f., 150 u. 222; Bd. IV, 173f. G. Orwell, James Burnham and the Managerial Revolution, a.a.O., S. 178f. (Hervh. im Orig.). Zu J. Burnham sei bemerkt, dass dieser den Siegeszug einer sogenannten „Managerelite“ von Wirtschaftsfachleuten, Technikern, Bürokraten und Militärs antizipiert, die sich zukünftig im Zuge von Aufstandsbewegungen und Revolten unzufriedener Massen als neue herrschende Schicht stark zentralistisch organisierter Gesellschaften zu etablieren weiß.

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In Mitterers Theaterstück ist schließlich der Staatspräsident Hubertus selbst der größte Dichter seines Landes, dessen Gedichtbände Millionenauflagen erreichen (vgl. FK, 191f.). Für seine propagandistischen Agitationstexte, die vornehmlich auf die Verherrlichung und Rechtfertigung des Krieges zielen sowie die Größe und schicksalhafte Berufung von Volk und Führer preisen, wurde ihm der „Große Staatspreis der Vereinigten Edlen Völker“ (FK, 187) verliehen.151 Verbunden mit der ideologisch motivierten Indienstnahme der Literatur soll eine Gedichtrezitation des Staatspräsidenten auch Stephans Kampfmoral wieder „aufrüsten“. „Hubertus: […] Ich muß den da [Stephan; Anm. M. M.] auf Vordermann bringen. Der ist unsere letzte Chance. […] Hubertus hilft Stephan hoch, legt ihn in den Liegestuhl; holt ein dünnes Lyrikbändchen hervor, stellt sich vor Stephan, schlägt das Buch auf. 152 Hubertus: (liest) Oh, Vaterland!“ (FK, 186).

Bis auf Tini zeigen sich die Figuren von Hubertus’ platter Kriegslyrik tief beeindruckt. Stephan bestätigt die „kräftigende“ Wirkung des Vortrags (vgl. FK, 188). Andreas, der von großer Dichtung spricht und um ein signiertes Exemplar bittet (vgl. FK, 187 u. 191), akklamiert Hubertus’ Überzeugung, seiner Zeit weit voraus zu sein. „Hubertus: Erst die Nachwelt kann den wahren Wert erkennen. Andreas: Der Dichter wie immer seiner Zeit voraus. Hubertus: Sie verstehen was von Literatur, Herr Andreas, das freut mich.“ (FK, 192).

Die größenwahnsinnige Selbststilisierung zum „herausragenden Einzelnen“ und vermeintlichen „Avantgardekünstler“ geht einher mit der Abwertung des Volkes zur ungebildeten Masse, das, wie etwa die primitive Eva, die kulturlose Tini (vgl. FK, 183 u. 188) oder auch der Abschaum der Soldaten, seine Bedeutung nicht zu erkennen vermag. Geradezu monströs mutete es an, wenn Hubertus das Sterben der Menschen gleichgültig zur Kenntnis nimmt, ihn die Vernichtung seiner Gedichtbände im Zuge einer Bombardierung aber schockiert und seine Manuskripte nachfolgend mit kriegswichtigen Jagdfliegern in einem sicheren Bunker einlagern lässt.

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Dies mag u. a. an den sowjetischen Generalsekretär L. I. Brezˇnev erinnern, der 1979 mit dem Leninpreis für Literatur ausgezeichnet wurde und dessen autobiographische Texte Malaja zemlja (Das kleine Land), Vozrozˇdenie (Wiedergeburt) und Celina (Neuland; alle 1978) in Millionenauflagen publiziert wurden. Wenig später spricht Hubertus im Zusammenhang mit dieser Gedichtrezitation von einer „moralischen Aufrüstung“ (vgl. FK, 194).

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„Hubertus: Na, jetzt übertreiben Sie einmal nicht, Herr Andreas. Im Grunde ist der zweite Band – ‚Die Vorväter klagen an – Vaterland, erwache!‘ – ausgereifter. Wurde leider bombardiert. Eine Million Stück in Rauch und Flammen. Andreas: Der Feind schreckt vor nichts zurück, was? Hubertus: Vor nichts! Das war ein gezielter Angriff, das sage ich Ihnen! Die wissen schon, wo mein wunder Punkt ist. Aber mich kriegen die nicht unter! Die Manuskripte für den dritten und vierten Band habe ich eingebunkert. Zehn Stock unter der Erde. Wo unsere Jagdflieger geparkt sind.“ (FK, 192).

Evas Begeisterung für Hubertus’ propagandistische Kriegslyrik weitet sich schließlich ins Abnorme. Zunächst bewirken die Gedichtrezitationen des Staatspräsidenten auch bei ihr eine gleichsam „moralische Aufrüstung“, so dass sie die Soldaten der gegnerischen Kriegspartei, die sie zuvor noch ob der schönen Augen durchaus als Tanzpartner schätzte, nun ebenfalls als kleinwüchsige Bastarde bezeichnet (vgl. FK, 188). Hatte Hubertus selbst seine Lyrik als „geistigen Reiseproviant“ (FK, 191) deklariert, so beginnt die zu Tränen gerührte Eva, einen Gedichtband tatsächlich zu essen (vgl. FK, 191). Einem inneren Drang gehorchend, strebe sie nach einer vollständigen „Verinnerlichung“ beziehungsweise „Einverleibung“ von Hubertus’ außergewöhnlicher Dichtung. „Eva: (dreht sich auf den Knien nach Hubertus um; mit tränenerstickter Stimme) Ich kann mich nur entschuldigen, Herr Hubertus. Es war ein innerer Drang, unausweichlich. Hubertus: (steht auf) Sagen Sie gefälligst Präsident zu mir, Fräulein Eva! Mein Inkognito ist bekanntlich gelüftet. Eva: Herr Präsident, Eure Exzellenz, Sie mißverstehen diesen Vorgang. Nicht zur Vernichtung Ihrer Literatur trat ich an, sondern zu deren Einverleibung. Hubertus: Na, hören Sie einmal, Fräulein Eva, das ist ja wohl dasselbe! Eva: Keineswegs, Herr Präsident, Eure Exzellenz. Erklären Sie sich das bitte folgendermaßen: Nicht nur mein Geist verlangte nach Ihrer außerordentlichen Literatur, sondern auch mein Leib. Ich wollte ihre Dichtkunst intus haben, Herr Präsident, vollkommen und in jeder Weise intus.“ (FK, 192).

Evas geradezu zwanghaft-hysterischer Begeisterungszustand mag hierbei exemplarisch auf das Verhalten einer Volksmenge verweisen, die, von einem demagogischen Führer massenwirksam agitiert, einer kollektiven Raserei anheim fällt. Hubertus’ Reaktion auf die „Bücher verschlingende“ Eva macht zudem abermals deutlich, dass der hysterische Begeisterungssturm der Massen auch den vermeintlich herausgehobenen Einzelnen auf der Rednertribüne miteinschließt, so dass der massenpsychotische Zustand auf beiden Seiten festzustellen ist. Hubertus berauscht sich an Evas abnorm-hysterischer Bewunderung und der damit verbundenen Bestätigung seiner größenwahnsinnigen Selbststilisierung. Dem nun ebenfalls zu Tränen gerührten Staatspräsidenten wird die vormals primitive Eva zur Seelenverwandten, der er bereitwillig weitere Exemplare zum Verzehr zur Verfügung stellt.

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Individuum und Gesellschaft

„Hubertus starrt sie an, Tränen treten ihm in die Augen, er geht beiseite, versucht seine Rührung zu verbergen, wischt sich über die Augen, geht zu Eva, die angstvoll vor ihm zurückweicht, legt ihr die Hand auf die Schulter. Hubertus: Danke, Fräulein Eva, ich danke Ihnen! Also wirklich, so ein schönes, würdiges Kompliment habe ich überhaupt noch nie erhalten in meinem literarischen Leben. Danke, Fräulein Eva, ich bin wirklich bewegt. Eva: Darf mein Blümchen weiterleben? Hubertus: Aber natürlich, Fräulein Eva. Ich habe das wirklich mißverstanden, verzeihen Sie. (Er hilft ihr vom Boden hoch.) Ich habe die Tiefe Ihrer Seele unterschätzt, ein eklatantes Fehlurteil. (Hubertus küßt ihre Hand, Eva lächelt glücklich, Hubertus holt das Buch, das sie fallen ließ, überreicht es ihr.) Hubertus: Bitte verfügen Sie darüber. Mein Wort vom geistigen Reiseproviant ist in Ihnen Fleisch geworden, Fräulein Eva. Es steht Ihnen jederzeit ein neues Exemplar zur Verfügung, falls Ihr Verlangen noch nicht gestillt sein sollte.“ (FK, 192f.).

VIII. Schluss Die Thematisierung des Massenhaften in den Vergleichstexten spiegelt vor allem die Weltkriegs- und Totalitarismuserfahrungen des 20. Jahrhunderts wider. So zeigen sich die politisch einflussreichen Kollektivismen Kommunismus und Faschismus beziehungsweise Nationalsozialismus mit ihren Visionen von „neuen Menschen“ sowie ihrem totalitären Zugriff und ihrer disziplinierenden Kontrolle als unheilvolle Zwillinge. Die Menschenzüchtungsprogramme der „großen Gärtner“ stufen den Einzelnen nicht nur auf die Stufe des Tierischen, sondern gar auf die des bloß Pflanzlich-Vegetativen herab. Der Leser des 21. Jahrhunderts wird aber auch Parallelen zu seiner Lebenswelt erkennen. So etwa in Cµapeks Thematisierung der Differenz von Bildung und Ausbildung oder seiner Beschreibung der allein an Gewinnmaximierung und Effizienzsteigerung orientierten Leistungsgesellschaft der Molche, „bewundernswerte Realisten des Lebens“, die Literatur, Kunst und Musik als Ballast einer überkommenen Bildungstradition verstehen. Und ähnlich wie die Fragmentarisierung und Widersprüchlichkeit der rapide modernisierten Gesellschaften zu Beginn des 20. Jahrhunderts erlaubt die heutige globalisierte Welt keine zuverlässige Orientierung und befördert auf Seiten des Einzelnen das Gefühl der Ohnmacht, scheint er doch nicht mehr als ein austauschbares Rädchen in einem weltweit vernetzten Wirtschafts- und Gesellschaftssystem zu sein. Nicht nur traditionelle Bindungen an Familie, Nachbarschaften oder auch geographische Herkunft werden ob des erneuten Modernisierungsschubs nachhaltig ausgehöhlt. Problematisch geworden sind in einer globalisierten, von vielfältigen, teils undurchsichtigen Abhängigkeiten bestimmten Welt neben persönlichen zwischenmenschlichen Kontakten auch persönliche Verantwortlichkeiten. Wesentlich geschichts- und bindungslos, gelten diese vereinzelten Vielen als ebenso unzuverlässig wie vormals die Massen und werden – genannt seien Desinteresse an Werten und Normen sowie überpersönlichen Verpflichtungen, Egoismus, Anspruchsdenken und grenzenlose Subjektivität – mit analogen Eigenschaftszuschreibungen belegt.1 Genrell ließ die verknüpfende Fragestellung der Vergleichsstudie die zwei sich mit dem Massenbegriff verbindenden Diskurslinien deutlich werden. Anschaulich gibt die Beschreibung des Massenhaften im Bild und Motiv des Tierischen der Vorstellung von einer verwildernden Vertierung und einem Rückschritt des Menschen auf der evolutionären Leiter Ausdruck. Die Triebnatur des Menschen, der in der Masse als unberechenbar, leidenschaftlich und verführbar gilt, triumphiert über die Errungenschaften der Zivilisierung. Bulgakovs rasender Mob und affenbeiniger Mörder sowie Mitterers krokodilhafte Menschen sind ebenso in diesem Kontext zu sehen wie Cµapeks und Ionescos weder sprach- noch bewusstseinsfähige Molch- beziehungsweise Nashornmasse oder Orwells Farmtiere, die 1

Vgl. hierzu auch H. König, a.a.O., S. 260f.

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Schluss

ob ihres fehlenden Erinnerungsvermögens nur einer immer währenden Gegenwart verhaftet bleiben. Jüngst zeigte B. Srbljanovic´ in ihrem Theaterstück Skakavci (Heuschrecken; UA 2005)2 eine deformierte und gleichsam „vertierte“ serbische Nach-Bürgerkriegsgesellschaft, die vor allem von Gier und dem Kampf zwischen den Generationen um Einfluss, Macht, Jobs und Wohnungen sowie einem „totalen Gedächtnisverlust“3 hinsichtlich der Kriegsereignisse beherrscht wird. Den im Zusammenhang mit Bulgakovs mutierten Tierpopulationen und Mitterers Krokodilen aufgezeigten Plagencharakter spricht auch Srbljanovic´ für das von ihr gewählte Bild der Heuschrecken an, wenn sie auf das Angst machende, da zerstörerische Moment im Verhalten der Vielen verweist: „Heuschrecken sind wirklich entzückende Insekten, friedlich – aber manchmal, so aus keinem erkennbaren Grund, entscheiden sie sich, eine Gruppe zu bilden, richten enorme Schäden an. In einer halben Stunde können sie ein riesiges Feld zerstören. Das war für mich die Metapher für Menschen, die ich in dem Stück behandle. Als Einzelpersonen sind sie liebenswert, aber wehe sie treten in einer 4 Gruppe auf.“

Für die zweite, sich mit dem Massenbegriff verbindende Diskurslinie ist die Vorstellung von einer vereinheitlichenden Vermittelmäßigung und herdenhaften Organisation der Viel zu Vielen maßgeblich. Während sich Cµapeks undifferenzierte Molchmasse als ebenso eindrückliches Beispiel anführen lässt wie Orwells „gramophon minds“ der willig akklamierenden und leicht zu indoktrinierenden Schafherde, gehen in Ionescos Motiv der uniformen Nashornarmee die Aspekte der verwildernden Vertierung und entpersönlichenden Vermittelmäßigung eine unheilvolle Verbindung ein. Die Vertierung des der zivilisierenden Wirkung von Moral und Humanität enthobenen neuen (Nashorn-)Menschen wird nicht als Gefahr oder Regression, sondern als Befreiung von lähmenden und einengenden Zwängen verstanden. Ihre Entsprechung findet diese „Rebarbarisierung“ in einer umfänglichen Entpersönlichung und Bereitschaft zur Unterwerfung, so dass die raubtierhafte Grausamkeit und Aggressivität der „neuen Menschen“ ganz im Sinne eines totalitären Zugriffs beherrschbar bleiben. In dem Roman Hösöm Tere (Meines Helden Platz; 2000) des Ungarn L. Parti Nagy sind es die sogenannten „Krallenkreuzler“, eine aggressiv-rassistische, „lebenspalomistische Bewegung“, die zum Ende des 20. Jahrhunderts die Errichtung einer „Welttaubenschaft“ anstrebt. Einerseits verängstigt, andererseits aber zunehmend begeistert von den Prinzipien und der Disziplin der extremistischen Taubenpopulation, vollzieht die menschliche Gesellschaft ähnlich der „Vermolchung“ und „Vernashornung“ bei 2 3

4

Vgl. B. Srbljanovic´, Heuschrecken, in: Theater heute 47, 6 (2006), S. 46-64. B. Srbljanovic´, Niemand will wissen, wo Süden ist, in: Theater heute 47, 6 (2006), S. 44. Dagegen zeigt M. Stavaricˇ in seinem Roman Terminifera (2007) die titelgebenden Wanderheuschrecken neuerlich als Gründer einer unterirdischen tierischen Parallelgesellschaft. U. May, Der ganz normale Wahnsinn. Biljana Srbljanovic´ in Wiesbaden, auf: www.hronline.de vom 10. Februar 2008.

Schluss

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Cµapek und Ionesco eine „Vertaubung“. Begleitet wird diese zunächst vor allem psychologisch wirksame Vertierung von der operativen Schöpfung menschlichtierischer Taubenmenschen5 , wobei sich auch diese auf die extremistisch-animalischen Parolen abgerichteten Zwitterwesen der menschlichen Spezies überlegen fühlen. „Vor dem Mikrophon des anderen Reporters erklärte gerade ein bebrillter, frisch am Schnabel operierter junger Mann befangen, daß das Kollern, das Buliken sowie die Lautgruppe, die mit tutturu und rukuku-kuku zu umschreiben wäre, der menschlichen Kehle überhaupt nicht fremd sei, und er bemühte sich, das auch durch Beispiele zu belegen. Im Knopfloch trug er ein leuchtendes Krallenkreuzabzeichen. Ab und an wurde der speichelnde Phonologe von einer eine Tellermütze tragenden Felstaube verbessert, die dicht neben ihm stand. Sag’s noch einmal, Brüderchen, murmelte er lächelnd, mit stechendem Blick, sag’s noch mal brav von vorne: 6 ‚Wir waren, sind, werden hier: die raumgreifende Kraft!‘“

Von gleichsam menschlich-tierischen Zwitterwesen wird die Welt auch in V. O. Pelevins Svjasˇcˇennaja kniga oborotnja (Das heilige Buch der Werwölfe; 2004) und V. G. Sorokins Den’ Opricˇnika (Der Tag des Opritschniks; 2006) bevölkert. Ein wahres neuzeitliches Bestiarium zeigt der Bericht der Werfüchsin A Huli des Pelevinschen Romans über ihr Leben in der postsowjetischen Wirklichkeit und ihre Bekanntschaft mit dem Werwolf und Geheimdienst-Mann Aleksandr, der mit seiner Abteilung die Ölquellen Sibiriens anheult, um den Fluss des „schwarzen Goldes“ sicherzustellen. Die Grenzen zwischen Mensch, Wolf und Werwolf beziehungsweise Werfuchs sind fließend, und Hobbes Vorstellung vom Menschen als des Menschen Wolf erweist sich neuerlich als überaus aktuell.7 Sorokin schildert in seiner Anti-Utopie ein orthodoxes Russland des Jahres 2027, regiert von einem als gottgleicher Übervater verehrten Alleinherrscher, der das „heilige Vaterland“ weitgehend von Oppositionellen und westlichen Einflüssen „gesäubert“ hat. Seine unumschränkte Macht weiß er mit Hilfe der ihm treu ergebenen, erbarmungslos brandschatzenden und mordenden Garde der „Opricˇnina“ zu sichern. Dieser finstere Orden von Priestern der Macht, die sich kollektiv auch als

5 6 7

Vgl. L. Parti Nagy, Meines Helden Platz, München 2007, S. 236. Ebd., S. 293f. Wie K. Holm bemerkt, werden in der russischen Umgangssprache korrupte Geheimdienstler und Polizisten auch als „Werwölfe“ bezeichnet. Vgl. K. Holm, Ein Werwolf ist immer im Dienst. Viktor Pelewins Splatter-Parabel auf das heutige Rußland, in: FAZ vom 8. Dezember 2006, S. 35. In Pelevins Roman Zµizn’ nasekomych (Das Leben der Insekten; 1999), der ebenfalls ein satirisches Bild der postsowjetischen Wirklichkeit zeichnet, agieren Insekten wie Blut saugende Mücken, die mit einer amerikanischen Anopheles ein Joint-Venture gründen wollen, oder philosophisch interessierte Nachtfalter, die den Sinn des Lebens suchen, sowie eine den autoritären Militärstaat „Madagan“ regierende Ameisenkönigin als handelnde Figuren.

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Schluss

rächenden vielköpfigen Feuerdrachen imaginieren8 , diente bereits Ivan dem Schrecklichen im 16. Jahrhundert als Leibgarde. Und ebenso wie diese führen die bestialischen „Kettenhunde“ des 21. Jahrhunderts als Insignien Hundekopf und Besen.9 Erweist sich das Tierische zur Beschreibung menschlicher Existenz- und Bewusstseinslagen sowie sozialer, politischer und gesellschaftlicher Verhältnisse als konstante Größe, seien für eine anhaltende Beschäftigung, Diskussion und literarische Verarbeitung der Massenthematik beispielhaft E. Jelineks Ein Sportstück (1998) und P. Sloterdijks Essay Die Verachtung der Massen (2000) angeführt. Jelinek will Massenphänomene bloßlegen, indem sie auf sportliche Großveranstaltungen mit ihren begeistert-hysterischen Stadionmassen und gewaltbereiten Hooligans fokussiert. Analog zu ihrer These vom Sport als Kriegsersatz gilt der Sportdress als Uniform und der Sportler wird zum Soldaten, der entmündigt und ohne Persönlichkeit nur ein austauschbares Maschinenteil im Räderwerk des Sport- beziehungsweise Kriegsbetriebs vorstellt.10 Jelinek, die ihre Figuren die einschlägigen Thesen von der Leichtgläubigkeit und Beeinflussbarkeit der Massen sowie der Massenbildung durch die Prozesse der Ansteckung und Suggestion referieren lässt11 , wiederholt vor allem die kulturpessimistischen Beurteilungen vermeintlich niveauloser Freizeitvergnügen für die Masse des gemeinen Volkes zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Auch Sloterdijk bleibt konservativen Topoi der Massenverachtung und einer Elite-Sehnsucht verhaftet, wenn er die Nivellierung und Vermittelmäßigung der Gesellschaft im medialen Zeitalter anprangert und zu Anerkennung und Bewunderung von Talent und Ausnahmebegabungen aufruft.12 „Ich sehe in all dem Spuren eines immer selbstsicherer werdenden Hasses gegen die Ausnahme, die noch eine Ausnahme im älteren Sinn darstellt, Spuren eines Grolls gegen das, was in seiner Art nie zu ersetzen sein wird und was man eben darum erst recht so rasch und würdelos wie möglich ersetzen will – weil nur das Austauschbare die Norm der Indifferenz erfüllt; […] Vielleicht sollte man es, so wenig opportun es sein mag, noch einmal sagen: In der Welt nach der Gnade war die Kunst das Asyl der übriggebliebenen Ausnahmen. Sie war ein Feld im abendlichen Himmel, in dem von Zeit zu Zeit ein tanzender Stern aufging. Wen wundert es nach der vorgetragenen Analyse, wenn die entschlossen vorrückende Einheitskultur, die nur noch beliebige Differenzen vor dem Hintergrund von Ununterschiedenheit gelten lassen kann, jetzt Anstalten trifft für ihre nächsten Schläge in dem unbefristeten finalen Feldzug gegen das Außerordentliche? […] 8 9 10 11

12

Vgl. V. G. Sorokin, Den’ Opricˇnika, Moskau 2006, S. 91ff. Vgl. ebd., S. 13. Vgl. E. Jelinek, Ein Sportstück, Reinbek b. Hamburg 1998, S. 9 u. 42. Zum Sport als Kriegsersatz vgl. auch ebd., S. 21, 22, 25, 26, 85 u. ö. Vgl. ebd., S. 52 u. 138. Daneben lässt sie ihre Figuren die Vielen und ihr Verhalten nicht zuletzt wiederholt anhand des bekannten naturmetaphorischen Bildes des Flusses beschreiben. Vgl. ebd., S. 8f., 50 u. 61. Vgl. zur „Beharrlichkeit des Projizierten“ und weiteren Beispielen eines neokulturkritischen Massendiskurses auch die Beispiele bei T. Genett, a.a.O., S. 224ff.

Schluss

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Bewunderungsübungen – tatsächlich geht es bei allem, was die Kultur, wie ich sie hier verstehe, ausmacht, um eine Anstrengung, durch Maßnehmen am Bewundernswerten nicht ganz die Höhe zu verlieren. Objektbezogene Bewunderung gewährt auch dem Talent, dem wir nicht gleichen, Asyl. […] Mit alledem ist sie das Gegenteil jener Kritik, die sich in der totalitären Mitte sammelt und nur lobt, was wie 13 diese ist.“

Obige Paraphrase geläufiger Positionen und Stereotype übersieht letztlich die Aktualität des Massendiskurses zum Ende des 20. Jahrhunderts sowohl hinsichtlich des Phänomens entwurzelter oder gefolgschaftswilliger Massen als auch der Masse als politisch agierenden Subjekts. Zu denken ist zum einen an die verarmten und – wie Genett bemerkt – an die pauperisierten Landflüchtlinge der industriellen Revolution des 19. Jahrhunderts erinnernden, entwurzelten Migranten, die in Mittel- und Westeuropa ob einer verbreiteten Ghetto-Bildung nicht individuell, sondern vor allem „massenhaft“ wahrgenommen werden.14 Ebenso kann die Formierung gefolgschaftswilliger oder geführter Massen weder in Hinsicht auf nationalistische Bewegungen in Europa noch etwa auf die arabische Welt als obsolet gewordenes Phänomen gelten.15 Zum anderen gilt es, das Phänomen des Massenhaft-Kollektiven nicht nur in einer negativen Perspektivierung wahrzunehmen. Entgegen der Skepsis der Autoren der vorliegenden Vergleichsstudie gegenüber der Befähigung des Menschen zu einer gesellschaftsverändernden Bewusstseinsbildung – erinnert sei an Orwells Beschreibung der Masse der Proles in Nineteen Eighty-Four als dumpfer Viehherde – waren es die Demonstrationen und Aktionen breiter Bevölkerungsmassen, die zum Umbruch in den ehemals kommunistischen Ländern Ost- und Mitteleuropas führten. In diesem Zusammenhang ist insbesondere auf M. Hardts und A. Negris in ihrem Werk mit dem Titel Multitude (2004) dargelegte gesellschaftsverändernd-demokratisierende Konzeption der Menge zu verweisen.16 Befördert die Globalisierung nicht zuletzt die Vorstellung von einer sukzessiven, alle regionalen, kulturellen und sozialen Besonderheiten einebnenden Angleichung der Lebenswelten, so fragt das Modell der „Multitude“ nach Möglichkeiten zur Wahrung von Singularität und Differenz, ein Modell, das im Gegensatz zur farblos-grauen, alle Unterschiede tilgenden Uniformierung des Massenhaften („all the colors of the population fade to gray“/„an indistinct, 13

14 15 16

P. Sloterdijk, Die Verachtung der Massen. Versuch über Kulturkämpfe in der modernen Gesellschaft, Frankfurt/M. 2000, S. 94f. Sloterdijk referiert zudem die seit Riesman und Anders geläufige Unterscheidung von der versammelten und der zerstreuten Masse oder beschreibt die Masse – wie bereits im 19. Jahrhundert – als gasförmiges Aggregat, ohne allerdings auf die Diskurstradition hinzuweisen. Vgl. ebd., S. 16ff. Vgl. T. Genett, a.a.O., S. 227 sowie ähnlich H. König, a.a.O., S. 266. Vgl. auch ebd., S. 266. Hardt/Negri berufen sich hierbei insbesondere auf B. de Spinoza. Vgl. M. Hardt/A. Negri, Multitude. War and Democracy in the Age of Empire, New York/London 2004, S. 190, 194, 221 u. ö. sowie weiterführend M. Saar, Politik der Multitude. Zeitgenössische politisch-philosophische Anschlüsse an Spinoza, in: G. Hindrichs (Hg.), Die Macht der Menge. Über die Aktualität einer Denkfigur Spinozas, Heidelberg 2006, S. 181-202.

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uniform conglomerate“) gerade nicht auf eine einförmige und vereinheitlichende Ununterscheidbarkeit ihrer Mitglieder fokussiert.17 „The multitude is composed of innumerable internal differences that can never be reduced to a unity or a single identity – different cultures, races, ethnicities, genders, and sexual orientations; different forms of labor; different ways of living; different views of the world; and different desires. The multitude is a multiplicity of all 18 these singular differences.“

Um Wesen und Besonderheit einer netzwerkförmigen politischen Organisation wie die der „Multitude“ zu veranschaulichen, bedienen sich auch Hardt/Negri mit dem biologischen Paradigma des Schwarms eines Tiervergleichs. „When a distributed network attacks, it swarms its enemy: innumerable independent forces seem to strike from all directions at a particular point and then disappear back into the environment. From an external perspective, the network attack is described as a swarm because it appears formless. Since the network has no center that dictates order, those who can only think in terms of traditional models may assume it has no organization whatsoever – they see mere spontaneity and anarchy. The network attack appears as something like a swarm of birds or insects in a horror film, a multitude of mindless assailants, unknown, uncertain, unseen, and unexpected. If one looks inside a network, however, one can see that it is indeed organized, 19 rational, and creative. It has swarm intelligence.“

Über Jahrhunderte galten Bienen- oder Vogelschwärme als von einer Königin beziehungsweise einem Leitvogel gelenkte Kollektive.20 Zwar wird im Vergleich hierzu schon früh die Führungslosigkeit der Ameisen konstatiert, die herrschaftsfreie Ameisengesellschaft ist dementsprechend vor allem Sinnbild einer demokratisch-republikanischen Staatsform, das Funktionieren des gesellschaftlichen Ameisenganzen mit seinen hochkomplexen sozialen Strukturen wird aber als Folge eines eingeborenen, alle Ameisen in gleicher Weise regierenden Kollektivinstinkts erklärt.21 Erst die Myrmekologie des 20. Jahrhunderts etabliert eine veränderte Sichtweise auf die Organisation sozialer Insekten. W. M. Wheeler beschreibt Ameisenvölker als „Superorganismen“, als eine Einheit, die aus einer Vielheit koordiniert zusammenhandelnder, aber eben nicht zentral gelenkter Ein-

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20 21

Vgl. M. Hardt/A. Negri, a.a.O., S. XIV. Ebd. Ebd., S. 91. Hardt/Negri erwähnen im Anschluss A. Rimbaud und seine Gedichte auf die Pariser Commune von 1871, in denen er die Kommunarden als Insekten, nicht zuletzt als Ameisen imaginiert. Vgl. ebd., S. 92f. Vgl. D. Peil, a.a.O., S. 222 u. 235ff. Vgl. hierzu noch M. Maeterlinck, Das Leben der Termiten. Das Leben der Ameisen, Zürich 1969, S. 254 sowie D. Peil, a.a.O., S. 226ff.

Schluss

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zelwesen besteht.22 Forschungen zur Schwarmintelligenz, die ihren ersten Höhepunkt in den späten 1990er Jahren finden und nicht zuletzt von der Beobachtung sozialer Tierkollektive ausgehen23 , beschäftigen sich mit der Fragestellung, die bereits Wheeler interessierte: Wie gelingt es, dass relativ „dumme“ Einzeltiere in einem Schwarm komplizierte und „intelligente“ soziale Strukturen wie Arbeitsteilung und koordinierte Aufgabenerfüllung ohne zentrale Kontrolle selbst organisieren? Vor allem sind es die unmittelbar benachbarten Tiere, die sich aneinander orientieren und „lokal“ miteinander agieren. So achten in Vogelschwärmen sowohl bei der Aggregation als auch bei der Steuerung, um Kollisionen mit anderen Vögeln zu vermeiden, sowie der Regulierung des Flugtempos die Tiere auf ihre Nachbarn und stimmen ihr Verhalten mit diesen ab.24 Als nicht-hierarchische Gemeinschaft, die sich über das Zusammenhandeln von gleichwertigen Individuen selbst steuert, gilt der Schwarm als Vergemeinschaftungsmodell mit größeren Freiheiten für den Einzelnen und – wie etwa bei Hardt/Negri – schließlich sogar als Muster für eine bessere Gesellschaft.25 Wird das biologische Paradigma des Schwarms nicht nur im sozialen und politischen, sondern auch im technisch-digitalen oder militärischen Bereich zum beachteten Strukturmodell, können Ambivalenz und Problematik von Schwarmsystemen nicht übersehen werden.26 Der Computerwissenschaftler J. Lanier wehrt sich gerade gegen die Vorstellung, mit der Befragung eines Kollektivs ließen sich nicht nur durchschnittliche Zahlenwerte ermitteln, sondern diesem seien auch ei22

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Erstmals zu Wheelers Vorstellung der Ameisenkolonie als „Organismus“ siehe den Essay The Ant Colony as an Organism (1911) sowie W. M. Wheeler, The Social Insects. Their Origins and Evolution, London/New York 1928, S. 22ff. Die Begrifflichkeit „Superorganismus“ wurde jüngst von B. Hölldobler und E. O. Wilson, die 1991 für ihr Standardwerk Ants (Ameisen; 1990) den Pulitzer-Preis erhielten und die Schwarmforschung entscheidend beeinflussten, für ihre neueste Publikation wieder aufgenommen. Vgl. B. Hölldobler/E. O. Wilson, Superorganismus, Berlin/Heidelberg 2010. Vgl. etwa E. Bonabeau/M. Dorigo/G. Theraulaz, Swarm Intelligence: From Natural to Artificial Systems, New York/Oxford 1999, S. 1-23 und J. Kennedy/R. C. Eberhardt, Swarm Intelligence, San Francisco 2001, S. 94-115. Vgl. E. Thacker, Netzwerke – Schwärme – Multitudes, in: E. Horn/L. M. Gisi (Hgg.), a.a.O., S. 50. Als Beispiel für die dezentrale Organisation der Schwarmkollektive wird auch immer wieder auf die Futtersuche der Ameisen verwiesen. Zunächst zerstreuen sich die Ameisen planlos in alle Richtungen, wobei sie allerdings fortwährend eine Pheromonspur legen. Haben einige Tiere eine Futterquelle gefunden, kommen sie auf demselben Weg zurück und verstärken, ebenso wie mit dem neuerlichen Aufsuchen der Quelle, die Spur und weisen so den anderen Ameisen den Weg. Vgl. hierzu auch die Gegenüberstellung von Schwarmsystemen und technischen Maschinenlösungen von E. Horn, Einleitung, in: E. Horn/L. M. Gisi (Hgg.), a.a.O., S. 10ff. N. Werber spricht in Bezug auf Hardt/Negri von der Ameise als „Wappentier der Multitude“. Vgl. N. Werber, Schwärme, soziale Insekten, Selbstbeschreibung der Gesellschaft. Eine Ameisenfabel, in: E. Horn/L. M. Gisi (Hgg.), a.a.O., S. 201f. Vgl. zu den unterschiedlichen Schwarmphänomenen, den Chancen und Gefahren auch K. Kelly, Das Ende der Kontrolle. Die biologische Wende in Wirtschaft, Technik und Gesellschaft, Berlin 1997, Kap. II: „Schwarmdenken“.

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gene Ideen, eine gleichsam potenzierte Intelligenz und überlegene Meinungen zuzuschreiben. „Aber derzeit wird die Vorstellung immer populärer, das Kollektiv könne nicht nur Zahlenwerte wie einen Marktpreis ermitteln, sondern verfüge als eine – gern Schwarmgeist genannte – höhere Intelligenz über eigene Ideen, ja sogar über eine überlegene Meinung. Eine solche Denkweise hat in der Geschichte schon mehrfach zu sozialen und politischen Verheerungen geführt. Mir bereitet die Vision Sorgen, nur das große Ganze, das Kollektiv sei real und wichtig – und nicht der 27 einzelne Mensch.“

Ambivalent ist auch die dezentrale und nicht-hierarchische Steuerung des Schwarms zu sehen, denn die vielfältigen Handlungen und komplexen Strukturen des sich selbst organisierenden Kollektivs sind letztlich weder kontrollier- noch kalkulierbar. Nicht verwunderlich ist in diesem Zusammenhang, dass Schwärme immer wieder ein Topos des modernen Horrors sind. In F. Schätzings Ökologiethriller Der Schwarm (2004) formieren sich in der Nordsee Millionen von Einzellern zu einem über Pheromone kommunizierenden, „intelligenten“ Schwarm, der in Form von Flutkatastrophen und Plagen mutierter Meerestierpopulationen das Festland mit Tod und Verwüstung überzieht.28 Ob Schätzings amorphe Masse von Einzellern, die Invasion von Monsterinsekten oder attackierende Vogelschwärme29 , im Bild der außer Kontrolle geratenen Schwärme scheint sich letztlich aufs Neue das Entsetzen und die Furcht vor den Vielen und den unkalkulierbaren Massenprozessen auszusprechen.

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„Eine grausame Welt“ – Spiegel-Gespräch mit J. Lanier, in: DER SPIEGEL, Nr. 46/13. 11. 2006, S. 182. Vgl. hierzu auch Laniers kritische Einschätzungen zu Konzepten einer Schwarmintelligenz in J. Lanier, Gadget. Warum die Zukunft uns noch braucht, Berlin 2010, S. 53f., 66ff., 70f., 90f. u. ö. In der Reformationszeit war der Schwarm u. a. als Bezeichnung für sektiererische Massenbewegungen gebräuchlich. Das Verbum „schwärmen“ erhält die übertragene Bedeutung von „wirklichkeitsfern denken“, „sich begeistern“. Vgl. beispielhaft den Eintrag bei J. Grimm/W. Grimm, Deutsches Wörterbuch, 32 Bde., Leipzig 1854ff., Bd. IX, Sp. 2283ff. Zu einer weiterführenden Besprechung von Schätzings Der Schwarm vgl. auch E. Horn (2008), a.a.O., S. 671-675 sowie dies., Der geheime Krieg. Verrat, Spionage und moderne Fiktion, Frankfurt/M. 2007, S. 491-498. Beispielhaft verwiesen sei hierbei auf A. Hitchcocks The Birds (Die Vögel; 1963) oder auf die durch Nukleartests manipulierten Riesenameisen in Them! (1954), auf die bedrohlichen afrikanischen Bienenpopulationen in The Swarm (1978) oder die ausschwärmenden Spinnen in Arachnophobia (1990). Vgl. zu einer eingehenderen Besprechung insbesondere E. Horn, Das Leben ein Schwarm. Emergenz und Evolution in moderner Science Fiction, in: E. Horn/L. M. Gisi (Hgg.), a.a.O., S. 101-124.

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X. Namensindex (Namen in Buchtiteln sind nicht aufgeführt)

Abastado, C. 209, 314 Adam, P. 146, 314 Adorno, Th. W. 269, 325 Aduev (eig. Gol’denberg), N. A. 291 Äsop 88 Aich, Th. 62, 314 Aksakov, K. S. 51, 52, 314 Aksenov, V. P. 206, 314 Albrecht, M. v. 86, 332 Allkemper, A. 27, 325, Alexander d. Große 132 Amphitrite (mytholog. Gestalt) 196 Anders, G. 1, 2, 309, 314 Andreev, L. N. 132, 314 Angarskij, N. S. 95, 97 Anger, H. 1, 314 Angus, I. 109 Anweiler, O. 70, 314 Aprikosov, A. I. 178 Arciero, A. 24, 314 Arendt, D. 16, 88, 314 Arendt, H. 62, 69, 314 Argo (eig. Rabinovicˇ), A. M. 291 Argos Panoptes (mytholog. Gestalt) 86 Aristophanes 4, 314 Aristoteles 38, 81f., 88, 174, 221, 261f., 314 Armstrong, W. G. 245 Arndt, I. 5, 314 Arndt, M. 254, 258, 314 Arvatov, B. I. 293, 314 Asˇukin, N. S. 88, 314 Asˇukina, M. G. 88, 314 Auffarth, Ch. 80, 325 Augustinus 34, 87, 206 Aust, H. 27, 123f., 128, 314 Auster, P. 235, 314 Averbach, L. L. 96

Baasner, R. 7, 10, 12, 314 Bach, J. S. 239f. Bachtin, M. 12 Bächtold-Stäubli, H. 85, 1 6 1 , 187f., 194, 199, 314 Bakunin, M. A. 68 Balke, F. 39, 315 Ball, D. 22, 315 Barany, Z. 57, 315 Baranzke, H. 82, 325 Barricelli, J.-P. 10, 318 Barth, R. 196, 219, 220, 221, 231, 315 Barthes, R. 12 Basˇuckij, A. P. 175 Bauer, B. 263, 315 Bauer, W. 199, 233, 341 Baumgartner, H. M. 119, 331 Bausinger, H. 154, 315 Baxa, K. 150 Beardsley, Ch.-M. 3, 315 Beauchamp, G. 23, 232, 315 Becher, J. R. 65, 66 Becker, C. 82, 328 Beckerath, E. v. 34, 333 Belinskij, V. G. 128, 315 Bellamy, E. 144, 152, 315 Beller, M. 8, 315 Belozerskaja-Bulgakova, L. 178 Belyj, A. (eig. B. N. Bugaev) 42, 93, 98, 315 Benmussa, S. 115, 315 Benn, G. 208, 315 Benz, E. 315 Berdjaev, N. A. 71, 315 Berghahn, K. L. 144, 336 Bernard, J. 80, 325 Bernauer, M. 14, 315 Betz, H. D. 234, 315 Bindscheller, M. 88, 315 Birkbeck, W. J. 50, 318 Blättler, S. 1, 315 Blankenburg, W. v. 233, 315

344 Bloch, E. 150, 316 Blüher, K. A. 26, 157, 319, 328, 330 Bödeker, H. E. 28, 316 Börnemeier, M. 26, 119f., 218, 316 Böttger, J. H. 61, 316 Bogdal, K.-M. 11, 329 Bogdanov (eig. Malinovskij), A. A. 72, 73, 316 Bokov, P. I. 258 Bonabeau, E. 311, 316 Bondy, tschechische Unternehmerfamilie 145 Bondy, F. 115, 250, 266, 316 Bonnefoy, C. 160, 163, 222, 316 Borchmeyer, D. 148, 158, 316 Borovy´, F. 101 Borowsky, K. 206, 332, 340 Bosch, H. 188 Boulle, P. 78, 316 Bourke, Th. E. 27, 316 Bracher, K. D. 63, 64, 316 Brantz, D. 17, 203, 316, 337 Branzˇovsky´, J. 21, 316 Braque, G. 149 Braun, F. X. 16, 316 Brecht, B. 5, 66, 316 Brednich, R. W. 80, 85, 202ff., 232ff., 334 Brehl, M. 61, 316 Brehm, A. 173 Brezˇnev, L. I. 302, 316 Brjusov, V. Ja. 58, 316 Broch, H. 62, 316 Brod, M. 326 Brodskij, N. L. 52, 314 Broich, U. 12f., 316 Brokgauz, F. A. 50, 52, 331, 337 Brokoph-Mauch, G. 27, 316 Browning, D. S. 234, 315 Brueghel, J. 188 Brunner, O. 35f., 48, 205, 318, 323, 325, 328 Brunner Ungricht, U. 17, 85ff., 317

Namensindex

Bryld, M. 259, 317 Bucharin, N. I. 70, 317 Büchner, G. 47, 219, 317 Büchner, L. 256, 317 Bühler, B. 255, 317 Bürger, P. 149, 317 Büttner, G. 24, 317 Bulgakov, M. A. 5, 15, 17-20, 26, 29, 80, 87, 92, 94-100, 1 0 1 , 102ff., 110, 128f., 131-135, 1 4 0 , 143, 150, 152, 161, 170f., 177, 180, 181, 183, 185, 186, 188, 189, 230, 234, 235-239, 241ff., 245, 255, 259, 262f., 291f., 294, 305f., 313, 323, 328 Bulgakova, N. A. 140, 185 Buriánek, F. 197, 317 Burke, E. 46, 317 Burnham, J. 301 Buß, E. 35, 334 Cµaadaev, P. Ja. 49, 317 Cµajanov, A. V. 25, 317 Cµajkovskij, P. I. 262 Calder, J. 22, 317 Callot, J. 3 Canetti, E. 14, 16, 35, 43, 85, 317 Canetti, V. 4, 317 Cape, J. 110f. Cµapek, J. 102, 103, 104, 105, 146 Cµapek, K. 5, 19-22, 26, 30, 81, 83, 101-108, 112, 141, 143f., 146, 148-151, 170, 189f., 197ff., 235238, 241, 244f., 263-266, 268, 269, 274, 286, 287, 288, 294, 298, 305ff., 313 Carey, J. 23, 24, 112, 317 Carlsson, A. 16, 317 Carlyle, Th. 45f., 317 Case, R. H. 11, 337 Cassirer, E. 82, 318 Cµechov, A. P. 92, 317 Ceretta, M. 24, 317

Namensindex

Cµernysˇevskij, N. G. 40, 57, 233, 256, 257f., 317 Cervantes Saavedra, M. de 92, 317 Chaplin, Ch. 5 Charms (eig. Juvacˇev), D. I. 161, 317 Cheauré, E. 273, 335 Chesterton, K. G. 25, 317 Chlebnikov, V. V. 4, 224, 317 Chomjakov, A. S. 50, 317f. Christoff, P. K. 50ff., 318 Chrusˇcˇev, N. S. 207f. Cicero, M. T. 44 Clark, K. 273, 318 Clark, P. B. P. 10, 318 Clark Fehn, A. 14, 66, 318 Collini, S. 23, 24, 112, 318 Collins, Ch. 181, 318 Conrad, J. 145 Conze, W. 35f., 38, 45, 48, 56, 205, 318, 323, 325, 328 Cooper, J. F. 175 Coopersmith, J. 239, 241, 318 Corbineau-Hoffmann, A. 8, 1 0 , 12f., 318 Cosentino, Ch. 16, 17, 63, 77, 318 Craig, W. J. 11, 337 Crick, B. 23, 109ff., 151, 318 Crommelynck, F. 291 Cµudakova, M. O. 18, 94-99, 178, 318 Cµukovskij, K. I. (eig. N. V. Kornejcˇukov) 207, 318 Curtiss, J. S. 242, 243, 318 Cuvier, G. Baron de 196 Dann, O. 44, 337 Darrieusecq, M. 208, 318 Darwin, Ch. 78, 267, 318 Dath, D. 78, 318 Daus, R. 24, 318 De Man, H. 63, 318 Demel, H. 122ff., 126f., 318 Demetz, P. 8, 329 Demosthenes 44

345 Deresˇ, L. 187, 318 Derrida, J. 12 Descartes, R. 82, 318 Dickens, Ch. 14 Dierauer, U. 80, 82, 86, 318f. Dierse, U. 46f., 254, 258, 314, 319 Dietrich, M. 217, 319 Dilthey, W. 7 Dithmar, R. 88, 319 Dittrich, L. 187, 202ff., 206, 233, 319 Dittrich, S. 187, 202ff., 206, 233, 319 Dobrez, L. A. 24, 319 Dollfuß, E. 125 Dorigo, M. 311, 316 Dostoevskij, F. M. 5, 15, 39f., 54, 59, 69, 71, 104, 106, 132, 173, 203, 233, 262, 319 Doubrovsky, J. S. 157, 319 Doyle, P. 18, 132, 178, 319 Drexler, H. 36, 334 Dürrenmatt, F. 164f., 319 Dµurisˇin, D. 8f., 319 Dutli, R. 40, 330 Duve, K. 319 Dux, G. 84, 334 Dvorˇa´k, J. 102, 320 Dzerzˇinskij, F. E∆. 19 Eberhardt, R. C. 311, 327 Ebner-Eschenbach, M. v. 77, 319 Ebnet, K.-H. 329 Eckart, W. U. 82, 319 Efron, I. A. 50, 52, 331, 337 Eichendorff, J. v. 187, 319 E∆jzensˇtejn, S. M. 43 Ekaterina II. (Ekaterina Alekseevna), die Große, russ. Zarin 92 Eke, O. 27, 325 Eliot, T. S. 111 Elistratov, V. S. 139, 319 Engels, F. 64, 319 Ennker, B. 271-275, 319f.

346 E∆renburg, I. G. 265, 275, 276, 291, 292, 320 Erlich, V. 7, 320 Ertel, Ch. 62, 320 Eschenburg, Th. 2, 339 Espinas, A. 60, 320 Esslin, M. 24, 158, 320 Esterl, A. 154, 315 Europa (mytholog. Gestalt) 86 Evtusˇenko, E. A. 207, 320 Faßbinder, R. W. 124, 320 Féal, G. 24, 320 Fest, J. C. 264f., 267, 268, 320 Fetters, A. 102, 320 Fialkova, L. 98, 320 Fiddler, A. 27, 338 Figes, O. 72, 248, 276, 300, 320 Findeisen, H. 79f., 85, 320 Fingerhut, K.-H. 17, 77, 79, 88f., 320 Fink, G. 36, 325 Fischer-Lichte, E. 14, 326 Fjodorow, W. F. 242, 276, 326, 336 Fleißer, M.-L. 123 Fohrmann, J. 10, 329 Forster, E. M. 175f., 320 Forstner, D. 188, 320 Foucault, M. 10f. Fowler, R. 23, 152, 155, 281, 320 France, A. (eig. J. F. A. Thibault) 4, 102, 132, 320 Franz, N. 51, 320 Frenzel, E. 5-8, 320 Freud, S. 62, 320 Freyer, H. 69 Friedrich, P. 16, 321 Fritzi, G. 64, 337 Frois, E. 26, 209, 321 Fülöp-Miller, R. 258, 321 Fürnberg, L. 201 Fuhlbrügge, H. 17, 339 Gall, F. J. 174

Namensindex

Galvani, L. 255 Gamper, M. 2, 3, 14f., 35, 45-48, 66, 107, 139, 187, 222, 259, 321, 329, 340 Garsˇin, V. M. 104, 321 Garstka, Ch. 57, 273, 321 Gasparov, B. 257, 321 Gastev, A. K. 73f., 75, 244, 291-294, 296, 321 Genett, T. 14, 308, 309, 321 Gentile, G. 68 Gentz, F. 46, 317 Gerasimov, M. P. 72, 239, 240, 321 Gercen, A. I. 15, 52ff., 321 Gerhardt, Ch. 187, 321 Gerigk, H.-J. 16, 77f., 321 Gersˇenzon, M. 49, 317, 327 Geulen, Ch. 207, 340 Gibaldi, J. 10, 318 Giebel, M. 188, 321 Ginzburg, E. S. 275, 276, 321 Gisi, L. M. 15, 195, 311f., 321f., 325, 339, 340 Gladkov, F. V. 240, 277, 322 Glatzer Rosenthal, B. 55, 71, 322, 329 Goehrke, C. 241f., 248, 275, 277, 322 Goerdt, W. 50, 52, 70, 322 Görner, R. 24, 322 Goethe, J. W. v. 39, 47, 128, 261f., 264, 322 Gogol’, N. V. 3, 92f., 96, 150f., 203, 322 Gollancz, V. 110 Golombek, B. 150 Gomis, A. 23, 315 Gomperz, R. 125 Gorbacˇev, M. S. 25 Gor’kij, M. (eig. A. M. Pesˇkov) 54f., 58, 95, 259f., 261, 322 Gorzka, G. 72, 322 Govorkov, V. I. 273 Graczyk, A. 15, 35, 37, 45, 173f., 322, 331

Namensindex

Graevenitz, G. v. 65, 325, Gramlich-Weinbrenner, M. 24, 322 Grass, G. 197, 203, 322 Green, J. 234, 322 Greene, Th. 8, 329 Grimm, J. 312, 322 Grimm, R. 164, 322 Grimm, W. 312, 322 Grimminger, R. 65, 336 Grossman-Rosˇcˇin, I. 259, 322 Groys, B. 73, 322 Groznova, N. A. 18, 322 Gründer, K. 28 Grzimek, B. 173, 196, 322 Gschnitzer, F. 36, 323 Gudkova, V. V. 97, 186, 323 Günther, H. 17, 55, 58, 92f., 133, 134, 273, 277, 323 Günzel, S. 14, 323 Gura, A. V. 187, 323 Gusev, V. M. 273, 323 Gutkin, I. 19, 180, 255, 257, 323 Haber, E. C. 18, 19, 95, 99, 129, 132, 178, 180, 186f., 261, 323 Hackert, F. 335 Haeckel, E. 245 Hage, V. 149, 323 Hagemeister, M. 73, 322 Haida, P. 27, 123f., 314 Halbritter, R. 165, 167, 224, 323 Hamilton, A. 48 Hammond, J. R. 22, 323 Hanstein, H. 26, 115, 158, 217f., 290, 323 Hardt, M. 309ff., 323 Harkins, W. E. 102, 104, 143, 323 Harkort, F. 79, 323 Hass, H.-E. 4, 323 Hassel, U. 27, 316 Haumann, H. 239f., 323 Hauptmann, G. 4, 323 Hebekus, U. 3, 14, 16, 321, 329

347 Hecht, W. 5, 316 Hegel, G. W. F. 1, 56, 323 Heidegger, M. 120, 323 Heiden, A. v. d. 38f., 207, 314, 330, 340 Heidsieck, A. 24, 323 Hein, J. 27, 123f., 314, 335 Heine, H. 56, 324 Helberger, M. 77, 324 Heller, K. 23, 274f., 324f., 333 Hempel, W. 14, 324 Henry, M.-L. 79f., 324 Hera (mytholog. Gestalt) 86 Herder, J. G. 42, 47, 83, 89, 324 Hermand, J. 65, 265, 268, 324 Herrmann, G. 36, 325 Herzmann, H. 27, 125, 316, 324 Hesekiel (bibl. Gestalt) 207 Hesse, H. 207, 324 Heym, G. 66, 324 Hielscher, K. 293f., 324 Hildesheimer, W. 158f., 324 Hillermann, H. 245, 324 Hinck, W. 164f., 322 Hindrichs, G. 309, 335 Hiob (bibl. Gestalt) 188, 233f. Hirsch, R. 325 Hitchcock, A. 312 Hitler, A. 1, 125, 136, 142, 218, 263, 265, 267 Hobbes, Th. 78, 234, 307, 324 Hocke, G. R. 235, 324 Hölldobler, B. 311, 324 Höppner, R. 152, 324 Hoffmann, E. T. A. 3, 78, 92, 324 Hoffmeister, J. 1, 323 Hofmannsthal, H. v. 126, 325 Hofstätter, P. R. 1, 63, 325, 328 Holm, K. 307, 325 Holquist, M. 256, 325 Holthusen, J. 4, 16, 325 Holzapfel, K. 80, 325 Holzner, J. 27, 77, 124, 324f.

348 Homer 264 Horaz (Horatius Flaccus), Q. 36, 325 Horkheimer, M. 269, 325 Horn, E. 15, 65, 195, 278, 311f., 321f., 325, 339, 340 Horva´th, Ö. v. 27, 123, 325 Hubert, M.-C. 24, 325 Hübscher, A. 42, 336 Hügli, A. 245, 324 Hülbusch, N. 275, 325 Hugo, V. 43, 325 Humboldt, A. v. 264 Hussein, S. 229 Huxley, A. 146f., 325 Ingensiep, W. 82, 325 Io (mytholog. Gestalt) 86 Ionesco, E. 5, 17, 22, 24ff., 29, 32, 81, 87, 115-121, 157, 158, 159-163, 170, 172, 209, 212, 214f., 216f., 218-224, 230, 236ff., 249ff., 254, 2 5 5 , 266, 268f., 288ff., 297f., 305ff., 313 Ivan III. (Ivan Vasil’evicˇ), der Große, Großfürst v. Moskau 95 Ivan IV. (Ivan Vasil’evicˇ), der Schreckliche, russ. Zar 308 Jablokov, E∆. A. 18, 137, 188, 325 Jäger, H.-W. 48, 325 Jäger, W. 46, 67, 325 Jähnichen, M. 21, 325 Jakobson, R. 104 Jaspers, K. 67, 111, 325, 331 Jauch, U. P. 81, 326 Jaumann, H. 330 Jauß, H. R. 88f., 326 Jean-Blain, M. 24, 326 Jelinek, E. 308, 326 Jeremia (bibl. Gestalt) 245 Jesaja (bibl. Gestalt) 44 Judenicˇ, N. N. 100 Jünger, E. 277, 326

Namensindex

Jufit, A. Z. 293, 326 Jung, F. 15 Kästner, E. 229, 326 Kafitz, D. 14, 66, 326 Kafka, F. 17, 78, 86, 326 Kaiser, G. R. 8f., 326, 341 Kaiser, J. 158, 326 Kalinin, F. I. 72f., 326 Kalinin, M. I. 273, 326 Kamenev (eig. Rozenfel’d), L. B. 19 Kant, E. 89, 119, 248, 326 Karlinger, F. 79, 335 Kasack, W. 7, 128, 173, 177, 178, 326 Kaschewarow, A. N. 242, 326 Kayser, W. 7, 17, 90, 91, 326 Kellermann, B. 291, 326 Kelly, K. 311, 326 Kennedy, J. 311, 327 Kesting, M. 288, 327 Kharkhordin, O. 70f., 327 Kireevskij, I. V. 50f., 327 Kirillov, V. T. 72, 327 Kirschbaum, E. 187f., 202, 204, 327 Kirsˇon, V. M. 96 Kiselev, A. P. 180 Kiß, E. 265, 327 Kistjakovskij, B. A. 180 Kittel, G. 80, 327 Klawitter, U. 24, 327 Klemperer, V. 281, 327 Klíma, I. 21, 327 Klotz, V. 15, 43, 149, 327 Kluge, R.-D. 9, 327 Knopf, J. 5, 316 Koch, R. 222 Koch, Th. 173f., 176, 177, 327 Köfler, G. 125, 327 Koenen, G. 180, 254, 259, 265, 273, 277, 280, 327 König, H. 2, 3, 14f., 46, 56, 63f., 171, 269, 305, 309, 327 Koestler, A. 5, 69, 247, 327

Namensindex

Köttelwelsch, C. 325 Kohout, P. 101 Komuth, H. 24, 327 Konstantinovic´, Z. 7, 327 Kopelev, L. S. 274, 327 Kordon, K. 232, 327 Kosch, W. 187, 319 Kosellek, R. 35f., 48, 205, 318, 323, 325, 328 Koslowski, R. 242, 276, 326, 336 Kostomarov, N. I. 109, 328 Kracauer, S. 35, 65, 328 Kräutler, E. 126 Krapinger, G. 88, 314 Krenzlin, N. 14, 37, 328, 335 Krings, H. 119, 331 Kristeva, J. 12 Kritias 265 Kroetz, F. X. 27, 124, 328 Krupp, A. 245 Krzˇizˇanovskij, G. M. 240 Kubin, A. 235 Küenzlen, G. 254, 328 Kulavig, E. 259, 317 Kulesˇov, V. I. 175, 328, 340 Kuprin, A. I. 245, 328 Lämmert, E. 129, 328 Laksˇin, V. Ja. 18, 129, 328 La Mettrie, J. O. de 82, 328 Lamont, R. C. 26, 161, 328 Lamprecht, dt. Pfarrer 132 Landmann, M. 79f., 328 Lane, N. 26, 328 Lang, F. 35 Lange, P.-B. 152, 328 Langer, G. 150, 151, 328 Lanier, J. 311, 312, 319, 328 Lassahn, R. 46f., 319 Lauer, R. 9, 101, 328 Lavater, J. K. 174, 328 Lazari, A. de 51, 328 Lebedev-Kumacˇ, V. I. 265, 328

349 Lebesque, M. 160 Le Beau, C. 194f. Le Bon, G. 1, 59f., 61, 66, 98, 106, 117, 328 Le Fleming, S. 18, 328 Le´ger, F. 65 LeHir-Egle, M. 22, 329 Leiner, W. 26, 157, 159, 209, 211, 213, 329 Lenin (eig. Ul’janov), V. I. 9, 15, 19, 56f., 73, 94, 100, 178, 204f., 239, 247, 258-261, 271, 272, 273, 277, 283, 302, 329 Leonov, L. M. 240, 277, 329 Lepp, N. 263, 315 Lessing, G. E. 89, 329 Levin, H. 7, 8, 329 Levin, V. 17, 92, 329 Levsˇin, V. A. 95 Lewis, K. 72, 329 Lieber, H.-J. 47, 57, 68, 329 Liebsch, B. 207, 340 Link, J. 10ff., 222, 329 Linnemann, M. 82, 329 Lisickij, L. M. (Pseud. E∆l’ Lisickij) 239 Locke, J. 46, 171 Loe, M. L. 55, 329 Löhmann, R. 23, 239, 258, 272, 275, 299, 329 Löns, H. 77, 329 Lomonosov, M. V. 263 London, J. 145 Lorenz, R. 72, 240, 316, 321, 326 Lüdemann, S. 3, 14, 16, 321, 329 Lühe, A. v. d. 82, 319 Lüthi, M. 79, 153, 329 Lukas (bibl. Gestalt) 203 Lunc, L. N. 100, 329 Lurker, M. 161, 187f., 233, 329 Lykaon (mytholog. Gestalt) 86 Lysenko, T. D. 265

350 Macho, Th. 38, 330 Mac Orlan, P. 102, 330 Maeterlinck, M. 310, 330 Maia, R. C. 13, 14, 330 Mailand-Hansen, Ch. 293, 330 Majakovskij, V. V. 57, 70, 71, 72, 100, 240, 300, 317, 330 Makanin, V. S. 43, 44, 330 Makarenko, A. S. 70f., 330 Malevicˇ, O. M. 108, 330 Malone, D. H. 8, 330 Mandel’sˇtam, N. Ja. 139, 274, 330 Mandel’sˇtam, O. E∆. 40, 177, 206, 207, 223, 300, 330 Mandeville, B. de 41, 330 Mann, E. 108 Mann, H. 208, 330 Mann, Th. 65, 77, 330 Marie, J.-J. 205, 339 Markus (bibl. Gestalt) 203 Marsh, R. 23, 273, 330 Marx, K. 8f., 56, 57, 64, 70, 110, 180, 204, 211, 258, 261f., 283, 319 Matala de Mazza, E. 207, 340 Matt, P. v. 174, 330 Matthäus (bibl. Gestalt) 187 Matusˇka, A. 21, 330 Mauch, Ch. 17, 203, 316, 337 May, U. 306, 330 Mayer, H. 157, 330 McClelland, J. S. 13, 36, 330 McLaughlin, S. 18, 132, 330 Meier, H. 78, 335 Meissner, B. 70, 317 Mejerchol’d, V. E∆ 137, 291-294, 330 Menenius Agrippa 11 Mennemeier, N. 14, 158, 326 Mensching, G. 91, 330 Mercier, S. 144, 330 Merezˇkovskij, D. S. 55, 330 Meyerhofer, N. J. 27, 124, 331, 340 Meyer-Lübke, W. 90, 341 Meyers, J. 23, 331

Namensindex

Meyers, V. 22, 154, 205, 331 Meyrink, G. 99, 331 Michajlovskij, N. K. 58, 61, 331 Michels, R. 67 Migner, K. 176, 177, 331 Miljukov, P. N. 50, 331 Mill, J. St. 53f., 331 Millar, F. 13, 331 Milne, L. 18, 94, 99, 104, 189, 291, 331, 334 Milosz, Cz. 111, 154, 155, 331 Mirskij, B. S. 99 Mitterer, F. 5, 27f., 32, 79, 121-127, 164, 167, 168, 169, 172, 185, 224, 229, 231, 237f., 251, 253, 269, 285, 302, 305f., 313, 327 Mlsova´, N. 102, 320 Möbius, H. 35, 331 Mohr, H. 80, 325 Montesquieu, Ch. de. 46 Moritz, K. P. 47, 331 Morris, W. 152, 331 Morus, Th. 180, Mosca, G. 67 Moscovici, S. 1, 61, 331 Mose (bibl. Gestalt) 46, 80, 186, 230, 245 Mounier, E. 119f., 121, 331 Mozart, W. A. 239f. Mravcová, M. 145, 147f., 331 Mülder-Bach, I. 65, 328 Müller, D. 19, 53, 57, 59, 331 Müller, H. 10, 329 Müller, M. 119, 331 Müller, Th. 13, 331 Münch, P. 17, 80, 318, 331 Münchberg, C. 202f., 331 Münckler, H. 324 Mukarˇovsky´, J. 20, 142, 148, 331 Murasˇov, Ju. 65, 336 Murray, L. 5, 331 Musil, R. 42, 331 Mussolini, B. 1, 206

351

Namensindex

Nadezˇdin, N. I. 128 Napoleon Bonaparte (Napoleon I.), frz. Kaiser 186, 205, 300 Napp, A. 273, 335 Necˇaev, S. G. 58f. Negri, A. 309ff., 323 Nekrasov, N. A. 175 Nekrasov, V. P. 207, 208, 331 Nell, H. 77, 332 Neuhaus, V. 198, 332 Neumann, F. 234, 332 Neumann, G. 78, 332 Nicolin, F. 1, 323 Nietzsche, F. 5, 37ff., 55, 71, 78, 84, 120, 264, 332 Nikitina, E. F. 94 Nikol’skij, S. V. 19ff., 95, 103f., 131, 141, 142, 143, 145, 147, 189, 199, 332 Ninov, A. A. 18, 98, 320, 332 Nohejl, R. 273, 335 Nünning, A. 10, 13, 173, 332 Nusinov, I. M. 97, 332 Oakeshott, M. 78, 324 Obrucˇeva-Bokova, M. A. 258 Odoevskij, V. F. 194, 332 Ohme, A. 20ff., 101, 142, 143f., 146f., 149, 150, 190, 197, 332 Okudzˇava, B. Sµ. 206, 332 Onega, S. 23, 315 Ortega y Gasset, J. 1, 62, 63, 67, 106, 228, 297, 332 Orwell, G. (eig. E. A. Blair) 5, 17, 22-25, 31, 83, 102f., 108-114, 151-155, 158, 171, 198, 200-206, 208, 232, 236ff., 246, 2 4 7 , 248f., 259, 271ff., 275, 278f., 280, 281, 282, 284f., 290, 291, 299ff., 305f., 309, 313 Ostwald, M. 245 Ott, K. A. 89, 332 Ovidius Naso, P. 86, 332

Ozˇegov, S. I. 34, 36, 332 Pacthod-Ronte, G. 26, 115, 160, 163, 332 Palm, K. 123, 332 Pankoke, E. 34, 45f., 56, 63, 333 Papalekas, J. Ch. 34f., 333 Paperno, I. 257, 274, 276, 333 Paquet, A. 180 Pa´ral, V. 101f., 333 Pareto, V. 67 Parr, R. 11, 329 Parsˇin, L. K. 185, 333 Parti Nagy, L. 306, 307, 333 Partridge, H. H. 18, 96, 132, 333 Pascal, B. 81 Pasteur, L. 222 Paul, H. 38, 333 Paulus (bibl. Gestalt) 253 Pauly, A. 194, 231, 333 Pavlenko, P. A. 265, 333 Pavlov, I. P. 178, 259 Pavlovskij, A. I. 18, 322 Pazarkaya, Y. 166, 168, 224, 333 Peil, D. 11, 16, 38, 40ff., 44, 310, 333 Pelevin, V. O. 307, 333 Pera, M. 255, 333 Perler, D. 82, 333 Peters, J.-U. 131f., 135, 333 Petersen, J. 47, 336 Petljura, S. V. 100 Petr I. (Petr Alekseevicˇ), der Große, russ. Zar 49 Pfister, M. 12f., 176, 316, 333 Picasso, P. 149 Pil’njak, B. A. 180, 207, 333 Pinkernell, G. 116, 333 Pink Floyd, brit. Rockgruppe 204 Piroschkow, V. 53, 333 Pisarev, D. I. 41, 257, 333 Plaggenborg, S. 74, 2 4 2 , 2 4 8 , 274, 319, 333 Plamper, J. 23, 274f., 324, 325, 333

352 Platon 36, 38, 80f., 86, 203, 207, 265, 333 Platonov, A. (eig. A. P. Klimentov) 20, 143, 334 Platt, K. 61, 316 Plenge, J. 65, 334 Plessner, H. 84, 334 Pocci, F. 231, 232, 334 Podvojskij, N. I. 292 Poe, E. A. 174, 334 Pöggeler, O. 1, 323 Pöppinghege, R. 17, 334 Polonskaja, E. G. 265 Polybios 36, 334 Poseidon (mytholog. Gestalt) 196 Powell, P. W. 189, 334 Preobrazˇenskij, E. A. 70, 317 Proffer, E. C. 18, 87, 136, 180, 263, 334 Profitlich, U. 164, 225, 334 Prometheus (mytholog. Gestalt) 80, 240 Pross, H. 35, 334 Protagoras 80 Pusˇkin, A. S. 37, 48, 128, 256, 262, 291, 334 Quint-Wegemund, U. 25, 115, 157, 334 Rabelais, F. 221, 334 Radisˇceˇ v, A. N. 92, 334 Rammstedt, O. 64, 337 Ranke, K. 80, 85, 202ff., 232ff., 334 Rauch, G. v. 94, 205, 334 Rauscher, A. 68, 334 Redko, K. 239 Reich, W. 62, 334 Reiche, R. 62, 320 Reinke, M. 115, 334 Reiwald, P. 60, 62, 334 Rejzek, J. 34, 334 Remak, H. H. H. 8f., 334 Reschke, R. 37, 335 Reschke, Th. 138

Namensindex

Reynié, D. 338 Rieger, S. 255, 317, Riesman, D. 65, 309, 335 Rilke, R. M. 17 Rimbaud, A. 310 Ritter, J. 1, 28, 34, 46, 68, 70, 82, 245, 254, 314, 319, 322, 324, 333f. Robbe-Grillet, A. 176, 177, 335 Robertson, R. 27, 316 Robespierre, M. de 300 Röhrich, L. 79, 85, 335 Römhild, D. 198, 332 Rosenberg, W. G. 262, 339 Roth, J. 235, 335 Roth, M. 263, 315 Rothbauer, A. M. 317 Rougement, D. de 117, 218 Rousseau, J.-J. 46, 77, 78, 335 Rowland, B. 233, 335 Rudé, G. 13, 335 Rüdiger, H. 6ff., 334f., 340 Rüting, T. 19, 255f., 259, 335 Rydel, Ch. 87, 98, 335 Saar, M. 309, 335 Sälzle, K. 79f., 335 Saltykov-Sµcˇedrin (eig. Saltykov), M. E. 88 Salvatore, G. 274, 335 Samarin, Ju. F. 50, 317 Sax, B. 203, 335 Schaarschmidt, P. 27, 123, 335 Schätzing, F. 312, 335 Schamschula, W. 190, 335 Schelsky, H. 65, 335 Schenda, R. 202, 220, 231, 233, 335 Schenk, F. B. 273, 335 Scheuchzer, J. J. 196, 197, 198, 264 Schiller, F. 42, 47, 336 Schkarowskij, M. W. 276, 336 Schlaffer, H. 14, 336 Schlechta, K. 7, 332 Schlösser, A. 338

Namensindex

Schmeling, M. 8, 336 Schmidt, A. 234, 235, 336 Schneider, F. 65f., 336 Schneidewin, M. 174, 314 Schnetz, D. 164, 165, 166, 167, 168, 169, 172, 224, 229, 336 Schnyder, A. 88, 315 Schnyder, P. 3, 14, 46, 222, 315, 321, 329, 340 Scholtz, G. 28, 336 Scholz, F. 100, 329 Schopenhauer, A. 41, 42, 78, 79, 84, 88, 336 Schrieck, W. 100, 329 Schröder, H.-Ch. 23, 111ff., 152, 154, 201, 204, 205, 208, 272, 336 Schröder, R. 96 Schubert, F. 239f. Schubert, R. 160, 336 Schulte-Herbrüggen, H. 131, 146, 336 Schultze, B. 128, 164, 166, 168, 336 Schuster, I. 16, 336 Schwan, A. 47 Schwarz, F. F. 82, 314 Schweikle, G. 175, 336 Schweikle, I. 175, 336 Scott, W. 175 Secˇenov, I. M. 255, 256, 257, 336 See, K. v. 65, 336 Seeber, H. U. 144, 152, 336 Seehase, I. 190, 337 Segebrecht, W. 3, 325 Seipel, H. 157ff., 337 Self, W. 78, 337 Semprún, J. 59, 276, 280, 337 Serafimovicˇ (eig. Popov), A. S. 42, 43, 337 Severcov, A. N. 178 Shakespeare, W. 11, 262, 264, 337 Shaw, G. B. 150 Shelden, M. 23, 337 Siegrist, Ch. 328 Sieyes, J. E. 44, 337

353 Sighele, S. 60, 61, 106, 337 Silone, I. (eig. S. Tranquilli) 206, 337 Simmel, G. 64, 337 Simonov, K. M. 206, 337 Sinjavskij, A. D. 71, 337 Skabelund, A. 203, 337 Sµklovskij, V. B. 99, 337 Skrjabin, A. N. 239f. Skrˇecˇek, R. 101 Sloterdijk, P. 308, 309, 337 Smyer, R. I. 152, 337 Sokolov, B. V. 99, 178, 337 Solms, W. 154, 315 Solov’ev, V. S. 52, 337 Solzˇenicyn, A. I. 281, 337 Sombart, W. 64, 65, 337 Sontheimer, K. 67ff., 268, 337 Sorokin, V. G. 307, 308, 337 Spann, O. 67 Spengler, O. 147, 337 Spengler, S. 26, 27, 159, 163, 209, 337 Sperr, M. 124, 337 Spieker, M. 68, 70, 338 Spinoza, B. de 263, 309 Specht, R. 82, 318 Srbljanovic´, B. 306, 338 Stachanov, A. G. 283 Stackelberg, J. v. 26, 329 Städtke, K. 128, 338 Stalin (eig. Dzˇugasˇvili), I. V. 19, 23, 72, 94, 100, 111, 154, 205f., 223, 229, 242, 247, 248, 259, 265, 271, 272276, 277, 283, 293, 299, 300, 338 Stanzel, F. K. 132, 338 Stavaricˇ, M. 306, 338 Steinecke, H. 3, 325 Steiner, G. 82, 338 Steinhoff, W. 23, 110, 204, 271, 338 Stepun, F. 53, 333 Sternheim, C. 15 Stites, R. 73, 259, 338 Stollberg-Rilinger, B. 42, 338 Strugackij, A. N. 5, 338

354 Strugackij, B. N. 5, 338 Struve, G. 110, 338 Stückrath, J. 65, 336 Sue, E. 174f., 338 Suphan, B. 83, 324 Sµvedov, Ja. Z. 273 Sµvedova, N. Ju. 34, 36, 186, 332, 338 Swift, J. 4, 78, 155, 338 Szewczuk, M. 206 Szondi, P. 168, 172, 288, 338 Tager, E. B. 95, 341 Taine, H. 45, 338 Tanzer, U. 27, 127, 338 Tarde, G. 60f., 106f., 338 Tarnovskij, E. N. 178 Tatur, M. 73f., 339 Taylor, D. J. 23, 339 Taylor, F. W. 73f., 244, 258f., 291f. Thacker, E. 311, 339 The Doors, amerik. Rockgruppe 187 Theraulaz, G. 311, 316 Thiele, E. 143, 339 Thiergen, P. 5, 83, 256, 281, 339 Tichon, Patriarch v. Russland 243 Timaios 265 Timms, E. 27, 316 Tkacˇev, P. I. 58 Tocqueville, A. de 2, 47, 48, 339 Tönnies, F. 52, 339 Toller, E. 66, 339 Tolstoj, A. N. 103f. Tolstoj, L. N. 92, 339 Tova´rek, F. 190, 339 Trabskij, A. Ja. 293, 339 Triton (mytholog. Gestalt) 196 Trockij (eig. Bronsˇtejn), L. D. 19, 71, 1 1 1 , 1 1 3 , 1 8 0 , 205, 2 4 7 , 261f., 277, 278, 290, 339 Trommler, F. 65, 324 Trousson, R. 7, 9, 339 Trubeckoj, E. N. 243 Tucker, R. C. 23, 259, 274, 277, 339

Namensindex

Turgenev, I. S. 77, 256, 339 Turner, W. J. 103 Turrini, P. 124, 339 Umanskij, D. 97 Ullrich, J. 17, 339 Uspenskij, V. 101 Valenta, E. 150 Vasmer, M. 34, 339 Vernois, P. 211, 339 Vesper, W. 39, 322 Vetter, M. 254, 272, 277, 319, 323, 327 Vischer, R. 91, 340 Vischer, Th. F. v. 91, 340 Vistengof, P. F. 175, 340 Vitruvius Pollio, M. 90 Vladimov (eig. Volosevicˇ), G. N. 92, 340 Vlasˇín, Sµ. 21, 340 Völker, Th. 319 Vogel, Ch. 78, 318 Vogel, J. 38f., 46, 61, 207, 314, 330, 340 Vogel, K. 263, 315 Vojnovicˇ, V. N. 136, 273f., 340 Volosˇin (eig. Kirienko-Volosˇin), M. A. 99 Volta, A. 255 Vossenkuhl, W. 119, 331 Vysockij, V. S. 207, 340 Wagner, G. 160, 336 Waldheim, K. 125 Walicki, A. 52, 58, 340 Warren, A. 176, 340 Warren, J. 27, 338 Wartburg, W. v. 220, 340 Webb, B. 204 Webb, K. E. 27, 124, 331, 340 Weber, H. 72, 329 Weber, H. B. 291, 340 Weidlé, W. 176, 340

355

Namensindex

Weinert, E. 273 Weismuller, J. 150 Wellek, R. 7, 176, 320, 340 Wellershoff, D. 208, 315 Wells, H. G. 87, 98, 102, 145, 146, 271, 340 Weltzien, F. 17, 339 Welzl, J. 150, 190 Werber, N. 311, 340 Werner, K. F. 36, 323 Wessel, H. 115 West, M. 150 West, W. J. 206, 340 Wett, B. 54, 340 Wheeler, W. M. 310f., 340 Wiese, B. v. 47, 336 Wild, Ch. 119, 331 Wild, M. 82, 333 Wilpert, G. v. 79, 143, 153f., 340 Wilson, E. O. 311, 324 Windfuhr, M. 56, 324 Winkler, E. 90, 341 Wirth, H. 265, 341 Wissowa, G. 194, 231, 333 Wolf, J.-C. 82, 341 Wolf, U. 36, 333 Woodcock, G. 155, 341 Wright, A. C. 95, 341 Wundt, W. 79 Yates, W. E. 27, 338 Young, J. W. 24, 284, 341 Zajcev, P. N. 94 Zamjatin, E. I. 75, 92, 97, 110, 240, 258, 259, 341 Zbinden, H. 2, 339 Zelter, C. F. 39 Zeman, M. 145, 331 Zens, M. 7, 10, 12, 314 Zerling, C. 199, 233, 341 Zeuch, J. 77, 341 Zeus (mytholog. Gestalt) 86

Zhou, J. 16, 341 Ziegésar, M. v. 22, 341 Zil’bersˇtejn, I. S. 95, 341 Ziller, J. 328 Zima, P. 6f., 341 Zµirmunskij, V. M. 8, 341 Zµmegacˇ, V. 148f., 158, 316 Zola, É. 3, 4, 341

Gesine KrüGer / Aline steinbrecher (hG.)

tierische (Ge)Fährten (historische AnthropoloGie. Kultur – GesellschAFt – AlltAG, bAnd 19,2 (2011))

Die Abgrenzung zum Tier stellt ein essentielles Moment menschlicher Selbstdefinition dar. Tiere sind Teil der Natur, haben aber die menschliche Gesellschaft maßgeblich mitgeprägt. Die Autor/innen dieses Heftes untersuchen in Fallstudien von der Frühen Neuzeit bis zur Gegenwart die historisch-spezifischen Grenzziehungen und Entgrenzungen zwischen Mensch und Tier, zwischen Natur und Kultur sowie zwischen Subjekten und Objekten. Die Beiträge zu Affen, Hunden, Katzen und Pferden zeigen, dass diese nah mit den Menschen lebenden Tiere weder der Kategorie Natur noch der Kategorie Kultur eindeutig zuzuordnen sind. Vielmehr existieren sie in einem Zwischenbereich, den es zu analysieren gilt. Damit geraten auch Grenz(ziehung)en der Geschichtswissenschaft selbst in den Blick. 2011. Ca. 160 S. Br. 170 x 240 mm. ISBN 978-3-412-20797-7

böhlau verlag, ursulaplatz 1, 50668 köln. t : + 49(0)221 913 90-0 [email protected], www.boehlau-verlag.com | wien köln weimar

Bausteine zur slavischen Philologie und Kulturgeschichte neue Folge

Band 69:

Herausgegeben von Karl gutscHmidt, roland marti, Peter tHiergen, ludger udolPH und bodo ZelinsKy

Band 70:

reiHe a: slavistiscHe ForscHungen

Eine Auswahl.

Band 65:

Walter Koschmal

der dicHternomade JiŘí mordecHai langer – ein tscHecHiscH-JüdiscHer autor

2010. X, 441 S. Gb. ISBN 978-3-412-20393-1

Band 66: Steffen Höhne, Ludger Udolph (Hg.) deutscHe – tscHecHen – böHmen Kulturelle integration und desintegration im 20. JaHrHundert

2010. 379 S. Gb. ISBN 978-3-412-20493-8

Band 67: Ines Koeltzsch, Michaela Kuklová, Michael Wögenbauer (Hg.) übersetZer ZwiscHen den Kulturen der Prager PubliZist Paul/Pavel eisner

2011. 316 S. Gb. ISBN 978-3-412-20550-8

Band 68:

Anne Hultsch

ein russe in der tscHecHoslowaKei

Rolf-Dietrich Keil

PuŠKin- und gogol-studien 2011. 429 S. Gb. ISBN 978-3-412-20565-2

Ingrid Stöhr

ZweisPracHigKeit in böHmen deutscHe volKsscHulen und gymnasien im Prag der KaFKa-Zeit

2010. 497 S. Gb. ISBN 978-3-412-20566-9

Band 71: Christine Fischer, Ulrich Steltner PolniscHe dramen in deutscHland übersetZungen und auFFüHrungen als deutscHdeutscHe reZePtionsgescHicHte 1945–1995

2011. 297 S. Gb. ISBN 978-3-412-20669-7

Band 72: Rodmonga K. Potapova, Vsevolod V. Potapov KommuniKative sPrecHtätigKeit russland und deutscHland im vergleicH

2011. VIII, 312 S. Gb. ISBN 978-3-412-20688-8

Band 73:

Martina Munk

ungeHeuerlicHe massen tierbilder Für das PHänomen des massenHaFten in der literatur des 20. JaHrHunderts

2011. X, 355 S. Gb. ISBN 978-3-412-20696-3

leben und werK des PubliZisten valeriJ s. vilinsKiJ (1901–1955)

SG053

2011. 432 S. Mit 6 s/w-Abb. Gb. ISBN 978-3-412-20552-2

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