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German Pages 498 [500] Year 2013
Alexander Nebrig Disziplinäre Dichtung
Quellen und Forschungen zur Literatur- und Kulturgeschichte Begründet als
Quellen und Forschungen zur Sprach- und Kulturgeschichte der germanischen Völker von
Bernhard Ten Brink und Wilhelm Scherer
Herausgegeben von
Ernst Osterkamp und Werner Röcke
77 ( 311 )
De Gruyter
Disziplinäre Dichtung Philologische Bildung und deutsche Literatur in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts
von
Alexander Nebrig
De Gruyter
ISBN 978-3-11-031428-1 e-ISBN 978-3-11-031432-8 ISSN 0946-9419 Library of Congress Cataloging-in-Publication Data A CIP catalog record for this book has been applied for at the Library of Congress. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. 쑔 2013 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Druck: Hubert & Co. GmbH & Co. KG, Göttingen 앝 Gedruckt auf säurefreiem Papier 앪 Printed in Germany www.degruyter.com
Für Evi
Inhalt Einführung in ein verborgenes Verhältnis ............................................ 1 I.
Die Dichtung und ihre Disziplin .......................................................... 12
1. 1.1. 1.2. 1.3.
Moderne Literatur und philologische Bildung.................................... 14 Das Philologische als disziplinäres Moment ....................................... 16 Germanistik in produktionsästhetischer Hinsicht ............................. 31 Bildungsgeschichtliche Voraussetzungen ............................................ 38 EXKURS: Zur literarischen Kultur des Insel Verlags ......................... 47
2. 2.1. 2.2. 2.3.
2.5.
Ein Fachpublikum für Gegenwartsliteratur ........................................ 53 Entstehung eines Forschungsfelds ....................................................... 54 Berthold Litzmanns kulturpolitische Pflanzstätte in Bonn .............. 62 Oskar Walzels formanalytische Literaturwissenschaft in Dresden ................................................................................................ 68 Artur Kutschers Literaturkritik und Theaterwissenschaft in München .............................................................................................. 79 Julius Petersens Dichtervorlesungen in Berlin .................................. 90
II.
Praxis und Theorie am disziplinären Rand um 1920 ....................... 101
1. 1.1.
Expressionistische Gegenwartsphilologien ....................................... 102 Zum Verhältnis von Expressionismus und Geistesgeschichte in Kurt Pinthus’ Menschheitsdämmerung ................................................ 104 Methodenkritisch edieren: Rudolf Kaysers Verkündigung ............... 115 Kasimir Edschmids Selbstepochalisierung........................................ 121
2.4.
1.2. 1.3. 2. 2.1. 2.2. 2.3.
Dichtungstheorie in Relation zur Fachpoetik ................................... 131 Parodistischer, polemischer, imitatorischer Bezug und poetologische Geste ...................................................................... 135 Probleme der modernen Lyrik: Ich, Stil, Form, Rhythmus ............ 146 Das Ende der Kunstprosa und Carl Einsteins Romanpoetik ........ 161
VIII
Inhalt
III.
Kritik germanistischer Literarhistorie ................................................ 168
1. 1.1. 1.2. 1.3.
Arno Holz’ Dafnis im Bann der Blütezeiten ...................................... 170 Holz und die Literaturhistoriker seiner Zeit ..................................... 171 Der Neuerer ........................................................................................... 177 Der germanistische Horizont des Dafnis und der Leser Arno Holz ..................................................................... 183 Eine Blumenlese über die Blütezeit der Poesie ................................ 199
1.4. 2. 2.1. 2.2. 2.3. 2.4.
Thomas Manns Lotte in Weimar und der Dienst am Dichter .......... 211 Ironie der Philologie ............................................................................. 212 Thomas Manns Germanistentum ....................................................... 216 Goethe als Erzieher .............................................................................. 228 Das philologische Begehren in der Kritik (Lotte in Weimar, Kap. 3) ....................................................................... 236
IV.
Synthesen poetologischer Antagonismen.......................................... 247
1. 1.1. 1.2. 1.3. 1.4.
Ernst Stadlers Aufbruch und die Bindung der erlösten Form ......... 248 Stadlers zweimalige Erneuerung ......................................................... 250 Wissenschaftliche und dichterische Autorschaft.............................. 259 Innovative und konventionelle Autoren ........................................... 265 Der arme Heinrich und der Aufbruch der Form ................................. 273
2. 2.1. 2.2. 2.3. 2.4.
Hermann Brochs Tod des Vergil und die lyrische Prosa ................... 287 Dichtung als Komplement der Wissenschaften ............................... 288 Die Poesie/Prosa-Differenz im Kontext der Syntaxtheorie .......... 300 Lyrische Prosa und geschichtsphilosophische Erkenntnis ............. 310 Vergils Anagnorismos: II Feuer – Der Abstieg .................................... 318
V.
Konjekturen mittelalterlicher Überlieferung ..................................... 325
1. 1.1.
Albrecht Schaeffers Parzival und der deutsche Charakter .............. 326 Revision der nationalphilologischen Ethik im Zeichen der Schuld.......................................................................... 328 Diffusionen des Formbegriffs ............................................................. 337 Eine Vision im Lichte der Wolfram-Philologie ................................ 346 Parzivals Charakter................................................................................ 358
1.2. 1.3. 1.4.
Inhalt
IX
2. 2.1. 2.2. 2.3. 2.4.
Rudolf Borchardts Durant und die moderne Seelenform ............... 370 Borchardts Bildung und die literarische Nation ............................... 371 Die verhinderte Mittelalterliche Altertumswissenschaft ................. 383 Durants Welt des Mittelalters .............................................................. 396 Minne als Fragment .............................................................................. 412
VI.
Ausblick .................................................................................................. 423
VII. Anhang .................................................................................................... 428 1.
Abkürzungen und Siglen ...................................................................... 428
2.
Zitierte Literatur .................................................................................... 429
2.1. 2.2. 2.3.
Ungedruckte Quellen ............................................................................ 429 Gedruckte Quellen ................................................................................ 432 Forschungsliteratur .............................................................................. 450
3.
Personenregister .................................................................................... 481
Einführung in ein verborgenes Verhältnis Das Verhältnis sowohl der schönen als auch der nicht mehr schönen Literatur zu ihrem akademischen Fach blieb lange unbemerkt. Die vielfältigen poetischen Formen, die aus diesem Verhältnis seit der Entstehung der neuphilologischen Disziplinen an den Universitäten im neunzehnten Jahrhundert hervorgingen, verbargen oft ihre poeto-philologische Herkunft. Umso mehr ist deshalb neben der Systematisierung möglicher Kontaktformen die historische Erforschung der Poesie-Philologie-Konstellation innerhalb der nationalen Literaturgeschichten gefragt. Nach Anstößen von verschiedenen Seiten, insbesondere den von Peter Wruck initiierten Forschungen zur Literaturgeschichte der Berliner Universität und Christoph Königs Monographie zum poeta philologus Hugo von Hofmannsthal wurden für die Romantik, das neunzehnte Jahrhundert und die Anfänge des zwanzigsten Jahrhunderts jüngst Studien vorgelegt, die mit der hier unternommenen Konzentration auf die erste Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts das bis kürzlich brachliegende Forschungsfeld für die deutsche Literatur obgleich nicht erschlossen, aber doch umrissen haben.1 Auch wenn die Literatur der Moderne im Ruf einer gewissen Feindschaft gegenüber der germanistischen Fachwissenschaft steht, weil das Selbstverständnis des modernen Dichters kein gelehrtes mehr gewesen sei, verweist ihr bildungsgeschichtliches Fundament, das eng mit der Philologie verknüpft ist, auf eine größere Nähe zur Disziplin, als bislang gesehen. Der gemeinsame bildungsbiographische Bezugsrahmen der am Ende des neunzehnten Jahrhunderts sozialisierten Autoren, die prägend für die Mo_____________ 1
Vgl. die Ergebnisse des von Peter Wruck geleiteten Projekts Berliner Studenten und deutsche Literatur in: Wissenschaftliche Zeitschrift der Humboldt-Universität zu Berlin, Reihe Gesellschaftswissenschaften 38 (1989), H. 6, und 36 (1987), H. 7; Christoph König, Hofmannsthal. Ein moderner Dichter unter den Philologen, Göttingen 2001 (= Marbacher Wissenschaftsgeschichte, 2); Matthias Buschmeier, Poesie und Philologie in der GoetheZeit. Studien zum Verhältnis der Literatur mit ihrer Wissenschaft, Tübingen 2008 (= Studien zur deutschen Literatur, 185); Mark-Georg Dehrmann/Alexander Nebrig (Hg.), Poeta philologus. Eine Schwellenfigur im 19. Jahrhundert, Bern 2010 (= Publikationen zur Zeitschrift für Germanistik, 22); Mark-Georg Dehrmann, Studierte Dichter. Zum Spannungsverhältnis von Dichtung und philologisch-historischen Wissenschaften im 19. Jahrhundert, Habil. Hannover 2012; Jan Behrs, Literatur und Literaturwissenschaft – Rekonstruktion ihrer Beziehung am Beispiel des Realismus und des Expressionismus. Studien zum Zusammenhang von Wissenschafts- und Literaturgeschichte, Diss. HU Berlin 2012.
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derne und die Avantgarde wurden, ergibt sich aus der Verbindung von humanistischem Gymnasium und philologisch-literaturgeschichtlichem Seminar an der Universität. Doch nicht allein die biographische Berührung mit diesen Institutionen der literarischen Bildung wird entscheidend sein, sondern gleichfalls der Bezug eines literarischen Werkes zur Fachkommunikation. Über ihn kann die produktionsästhetische und damit literaturgeschichtliche Bedeutung philologischer Disziplinen, insbesondere der Germanistik und ihrer Methoden, nachgewiesen werden. Leitend ist die Hypothese, dass die Philologie die Poesie nicht allein zum Gegenstand hat, sondern gelegentlich mit ihr im Verbund an denselben Themen laboriert und sie bestenfalls sogar ermöglicht, sich aus ihrer sekundären Rolle befreit und primäre Vorarbeit leistet. Als die Summe ihrer disziplinären Praktiken beschreibbar, ist in solchen Fällen die germanistische Fachwissenschaft für die deutsche Literatur eine literarische Bildungskraft eigenen Rechts geworden. Für die Entstehung moderner Poesie wirkten philologische Disziplinen als Anreger; sie erlangten Bedeutung, sobald ihre Fragestellungen in literarischen Texten neu verhandelt wurden. Dichtungen können, zugespitzt gesagt, als disziplinäre Phänomene beschrieben werden, wobei es sicherlich zu einseitig wäre, von einem einfachen Kausalverhältnis auszugehen. Für jeden Autor und für jedes Werk ist die Frage, wie sie sich zur philologischen Praxis verhalten, verschieden zu beantworten. In den Teilen II–V soll mittels der disziplinären Perspektive das Verständnis solcher poetologischen und poetischen Texte erschlossen werden, die sowohl ihre Problemstellung als auch die sich daraus ergebende Form aus dem Bezug zur philologischen, vor allem germanistischen Disziplin gewinnen. Insgesamt werden drei Möglichkeiten vorgestellt, literarische Werke in ihrem Verhältnis zu der für sie zuständigen Disziplin zu beurteilen: 1. methodisch als Kritik germanistischer Literarhistorie (Teil III), 2. terminologisch als Synthese poetologischer Antagonismen (Teil IV), 3. textkritisch als Konjektur mittelalterlicher Überlieferung (Teil V). Unter den disziplinären Formationen entsprechen ihnen 1. die Literaturgeschichte, 2. die Allgemeine Literaturwissenschaft, 3. die Textphilologie, insbesondere die mediävistische. Jeweils zwei exemplarische Studien geben über die konkrete historische Bedeutung dieser Typen Auskunft, die als heuristische Mittel Tendenzen aufzeigen, jedoch nicht vergessen machen sollen, dass die von ihnen repräsentierten Bezüge in den anderen Texten ebenso möglich sein können: Arno Holz korrigiert im Dafnis die Teleologie der Literaturgeschichtsschreibung seiner Zeit; Thomas Mann in Lotte in Weimar die Goethe-Biographik. Ernst Stadler synthetisiert im Aufbruch gegenläufige Paradigmen der Produktionsästhetik; Hermann Broch im Tod des Vergil den Gegensatz von Poesie und Prosa. Albrecht Schaeffer konjiziert nicht
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etwa eine besondere Textstelle, sondern gleich den gesamten Parzival; Rudolf Borchardt geht noch einen Schritt weiter und ‚liest‘ in die mittelalterliche Überlieferung das Kreuzzugsepos Durant hinein. Die spezifische Auswahl der Autoren und ihrer Texte ergibt sich aus dem Bestreben, den disziplinären Bezug der Literatur möglichst an die historischen Unterdisziplinen der Germanistik zu binden. In der Moderne des zwanzigsten Jahrhunderts ist Dichtung, die sich auf ihre Disziplin und deren Formen der Wissensorganisation bezieht, vornehmlich literaturgeschichtlich, poetologisch oder textkritisch ausgerichtet. Um die historische Spezifik dieser Formation zu erkennen, genügt ein Verweis auf die blinden Flecken: So würde man zwar noch das sprachhistorische Paradigma in der Vorliebe für Etymologien und Wortgeschichte vorfinden, ebenfalls das sprachwissenschaftliche, nicht aber das vom Strukturalismus geprägte linguistische; auch fehlen soziologische Methoden, von der kritischen Theorie ganz zu schweigen – bzw. wird man eher bei analytisch-kritischen Autoren wie Walter Benjamin oder Robert Musil Versuche finden, die über das disziplinäre Paradigma hinausgehen und auf Problemkonstellationen nach 1945 weisen. Zwar ließe sich nicht jeder poetische Text der Moderne als disziplinaffin beschreiben, aber genausowenig ist diese Eigenschaft nur einem bestimmten literarischen Milieu oder einer bestimmten Gattung wie dem Epos zuzurechnen. Alle Dichter können am Fachdiskurs über Dichtung passiv, aber auch aktiv partizipieren, zudem gibt es Gegenstände des Wissens, die dem poetischen und disziplinären Diskurs gemeinsam sind. Wenngleich die jeweiligen Äußerungen mitunter parallel verlaufen, ohne sich zu berühren, können potentiell jeder Autor und jeder Text in philologisch-disziplinäres Wissen transformiert werden: Literatur ist nicht nur Diskurs, Form, Medium, Speicher oder Verhandlungsort des Wissens, sondern besitzt selbst epistemischen Objektstatus, ein Umstand, der Dichter und zünftige Philologen vor denselben Wissenshorizont rückt und sie den literaturgeschichtlichen Bildungsraum gemeinsam herstellen lässt. Teil I. Die Dichtung und ihre Disziplin. Mit der wissenschaftlichen Disziplin der Germanistik wird ein bisher kaum beachteter Faktor der Literaturgeschichte erschlossen. Allein ihr Vorhandensein, das eben gerade nicht losgelöst von ihrem Beobachtungsgegenstand ist, verändert diesen durch Beobachtung. Auch ist Wissenschaft nicht nur erkenntnisstiftend, sondern zu großen Teilen, in der Lehre vor allem, dogmatisch: anerkanntes Wissen wird nicht mehr hinterfragt, sobald es an neue Generationen vermittelt werden soll. Die Bewegung zwischen der Dichtung und ihrer Disziplin ist potentiell zirkulär: Moderne Literatur kann einerseits durch die philologische Disziplin, d. h. durch Aufnahme oder Kritik ihres Wissens und ihrer Lehrmeinungen gebildet werden (Kapitel I.1.); andererseits
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werden Korpus und Methodik der Disziplin durch die Erforschung der Gegenwartsliteratur unaufhörlich umgebildet (Kapitel I.2.). Die rezeptionsästhetische Pointe dabei ist, dass die Autoren den Erwartungshorizont der Fachwissenschaft mitdenken können, was in der Germanistik, von Ausnahmen abgesehen, ab 1910 eintrat. I.1. Moderne Literatur und philologische Bildung. Die Entwicklung der philologisch-poetischen Fragestellung geht von bildungstheoretischen Überlegungen aus. Auf einen klassischen Forschungsbericht wird verzichtet, da das Thema in der Untersuchung erst gewonnen wird. Das Eröffnungskapitel argumentiert, unter Einbeziehung der relevanten Forschungsliteratur an Ort und Stelle, historisch, genealogisch und systematisch. Die spezifische Situation des Verhältnisses von Poesie und Philologie in den ersten Jahrzehnten des zwanzigsten Jahrhunderts wird im Übergang vom Positivismus zur Geistesgeschichte historisch und aus der bildungspolitischen Situation des neunzehnten Jahrhunderts, die in der Romantik ihren Ausgang nahm, genealogisch erörtert. Die systematische Erörterung unterscheidet zunächst zwischen dem Philologischen als einer historisch indifferenten Einstellung auf Texte und der Philologie als einer historisch konkreten Disziplin. Zugleich gilt es, den philologischen Raum der deutschen Moderne als einen Wissensraum abzugrenzen, so dass die Konsequenzen für die Entstehung des Neuen innerhalb einer disziplinär codierten literarischen Tradition und die Wechselbeziehungen zwischen philologischer Institution und literarischer Produktion kenntlich werden. Für die nachfolgende Analyse der para-wissenschaftlichen editorischen, kritischen, historiographischen und hermeneutischen Tätigkeiten in Teil II, vor allem für die Werkinterpretation in den Teilen III–V wird so Rechenschaft über die methodologischen Rahmenbedingungen des hermeneutischen Zugangs gegeben. I.2. Ein Fachpublikum für Gegenwartsliteratur. Das Kapitel beleuchtet den Zusammenhang von Literatur und ihrem akademischen Fach von der anderen Seite. Nicht, wie der Werk- und Texthorizont von philologischliteraturwissenschaftlicher Pädagogik gebannt ist, sondern wie sich das Fach für Gegenwartsliteratur öffnet, interessiert hier. Vier Pioniere werden exemplarisch vorgestellt, die sich damit hervortaten, ihre historische Disziplin für die Gegenwartsliteratur umzubilden. Anhand der wissenschaftlichen Arbeiten und institutionellen sowie wissenschaftspolitischen Tätigkeiten von Berthold Litzmann, Oskar Walzel, Artur Kutscher und Julius Petersen werden nicht nur das Spektrum an Möglichkeiten aufgezeigt, sich mit Gegenwartsliteratur nach 1900 wissenschaftlich auseinanderzusetzen, sondern auch die Anfänge dieses germanistischen Forschungsparadigmas rekonstruiert.
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Teil II. Praxis und Theorie am disziplinären Rand um 1920. Wenn jenseits der akademisch-literaturwissenschaftlichen Kultur die von ihr monopolisierten philologischen Praktiken 2 der Edition, Kritik, Poetik, Hermeneutik und Historiographie gleichfalls ausgeübt werden, dann lässt diese Verdopplung nicht nur auf ein Konkurrenzverhältnis oder gar eine definitive Spaltung schließen. „Man könnte“, so Thomas Anz, „von zwei getrennten Kulturen sprechen, einer literarischen und einer akademischliteraturwissenschaftlichen, wenn es nicht doch immer wieder auch Berührungspunkte zwischen beiden gegeben hätte.“3 Der zweite Teil analysiert solche Berührungspunkte. In den Kapiteln II.1. und II.2. geht es um philologische Praktiken, 4 die disziplinär randständig sind und sich dennoch gegenüber der Fachwissenschaft behaupten – ja in historischer Perspektive von ihr wieder rehabilitiert werden können: Originalität und poetische Kraft werden, wenigstens was die poetologische Praxis und die Anthologisierung betrifft, eher den Randgängern als den zünftigen Germanisten zugesprochen. Auffällig ist, dass sich mit dem Expressionismus jene Bewegung besonders bei der philologisch-poetologischen Arbeit hervortat, die sich eine antiphilologische Haltung auf die Fahnen geschrieben hatte. Der Fall der Expressionisten verdeutlicht, dass Philologieschelte in Wirklichkeit selten sie selbst, sondern das disziplinäre Moment der Philologie treffen soll (vgl. Kapitel I.1.1.) und damit Machtkritik ist. Jenseits wie diesseits der Disziplin besitzt die philologische Praxis ihren gemeinsamen historischen Horizont. Es interessieren daher jene Autoren, die skeptisch, bisweilen feindlich gegenüber der Philologie als Disziplin auftreten und sich in ihren Fragen dennoch mit ihr berühren. II.1. Expressionistische Gegenwartsphilologien. Weil die Erforschung der Gegenwartsliteratur innerhalb der Germanistik selbst noch in den Anfängen steckte (vgl. Kapitel I.2.), war sie auf Beiträge von außen angewiesen: auf die feuilletonistische Literaturkritik, Publizistik, Essayistik oder von _____________ 2
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Zu den verschiedenen philologischen Grundoperationen – dem Sammeln von Fragmenten, dem Edieren von Texten, dem Schreiben von Kommentaren, dem Historisieren von Dingen, dem Lehren von Komplexität – s. Hans Ulrich Gumbrecht, Die Macht der Philologie. Über einen verborgenen Impuls im wissenschaftlichen Umgang mit Texten, Frankfurt a. M. 2003. Thomas Anz, Expressionismus, Sturm und Drang. Zur Affinität literarischer Jugendbewegungen, in: Helmut Koopmann/Manfred Misch (Hg.), Grenzgänge. Studien zur Literatur der Moderne. FS Hans-Jörg Knobloch, Paderborn 2002, S. 101–112, hier S. 106. Vorgestellt werden philologische Praktiken im eigentlichen Sinn. Unberücksichtigt bleiben sie als Teil fiktionaler Verfahren (z. B. die Herausgeberfiktion in der modernen Erzählung oder Pseudoeditionen wie Albrecht Schaeffers Michael Schwertlos oder die Übernahme der Kommentarfunktion, um Wirklichkeit zu registrieren, wie in Alfred Döblins Berlin Alexanderplatz), als parodistische Überformung solcher Praktiken (Franz Bleis Großes Bestiarium der Literatur, Friedrichs Gundolfs Literärgeschicht, reimweis kurz fasslich hergericht und Brechts Sonett Über Kleists Stück ‚Prinz von Homburg‘) sowie als dezidiert poetologische Dichtung.
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Verlagen initiierte Editionen. Das Kapitel II.1. widmet sich historiographischen und editionsphilologischen Praktiken zur Literatur der 1910er Jahre durch nicht berufsmäßige Philologen wie Kurt Pinthus. Untersucht wird, in welchem Maße die Selbstkonstituierung der literarischen Epoche des Expressionismus nach germanistischen Mustern ablief bzw. sich gezielt von ihnen abgrenzte. II.2. Dichtungstheorie in Relation zur Fachpoetik. Die Problemstellung der Poetik ist für die Moderne, die keine normative Poetik kennt, die Poetik durch die Ästhetik marginalisiert bzw. in Literaturwissenschaft und Philologie aufgehoben hat, eine völlig neue. Der Zusammenhang von Poetik und Poesie ist unter den Bedingungen der Nationalphilologie nicht mehr gegeben wie vormals für die literarischen Epochen des Humanismus, der Renaissance und des Barock, für die ein gewisser Konsens über die normative Kraft der Poetik für die Dichtkunst besteht. Idealtypisch waren Dichtung und das Denken über Dichtung in der klassisch-romantischen Epoche verbunden. Einer zwar subjektiven, aber mit objektivem Anspruch sich artikulierenden Dichtungstheorie stand bald eine für poetologische Fragen zuständige Literaturwissenschaft gegenüber. Die sich daraus ergebende Konkurrenz wird an kleineren Texten zur Gattungspoetik und zur Poetologie untersucht, die außerhalb des disziplinären Diskurses entstanden sind. Mit der Verwissenschaftlichung des Diskurses über Fragen der Dichtung, Poetik und Ästhetik bildete sich ein nichtwissenschaftlicher, von den Autoren geführter poetologischer Diskurs aus, der sich antiakademisch gab, aber nicht losgelöst war von den wissenschaftlichen Diskursen und den darin formulierten Erkenntniszielen. Die spezifische Darstellungsform von Dichterpoetiken markiert den Unterschied zur wissenschaftlichen Abhandlung: Sie ist essayistisch, bisweilen als Versuch formuliert, vermischt gezielt Meta- und Objektsprache, bedient sich metaphorischer Ausdrucksweise, vor allem aber ist sie fragmentarisch, ansatzhaft kurz und offen wie die Notiz. Neben inhaltlichen Überschneidungen, geordnet nach den Gattungen Lyrik und Epik (II.2.2./3.), widmet sich das Kapitel zunächst dem spezifischen Bezug dieser Texte zur Disziplin, der sich als parodistisch, polemisch und imitatorisch erweisen kann und die Funktion besitzt, eine poetologische Geste zu konturieren (II.2.1.). Teil III–V. Disziplinäre Dichtung. Standen im vorausgehenden Teil II kritische Praktiken und Diskurse im Vordergrund, die nur durch ihren kommunikativen Kontext von ihren disziplinären Pendants geschieden sind, aber über denselben Gegenstand – die Dichtung bzw. dichterische Textkorpora – handeln, ist in Teil III–V das Verhältnis poetischer Texte zu untersuchen, die mit der für sie zuständigen Fachwissenschaft, der Germanistik, kommunizieren. Die vorzustellenden sechs Formen disziplinärer Dichtung aus dem Zeitraum der Moderne sind von den Entwick-
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lungen der philologisch-literaturwissenschaftlichen Disziplinen, insbesondere der Germanistik, nicht unabhängig entstanden, und so bleibt in den exemplarischen Analysen jener Umbruch, der ab 1910 die Philologie kennzeichnen wird als ihre Kritik durch die Geistesgeschichte einerseits und als ihre Differenzierung in Sprach- und Literaturwissenschaft andererseits, zu berücksichtigen. Untersucht wird in jeweils vier Schritten ein größeres Werk eines Autors, wobei die eigentliche Textinterpretation stets am Schluss erfolgt. Im Vorfeld wird der poeto-philologische Interpretationsrahmen abgesteckt, indem bildungsbiographische sowie für die Kommunikation mit der Fachwelt und die Partizipation an ihrem Diskurs relevante Zeugnisse herangezogen werden. Deutlich werden sollen der fachwissenschaftliche Horizont des empirischen Autors und der disziplinäre Verweisungszusammenhang des jeweiligen Textes. Eine identische Abfolge der Argumentation in den vier Schritten war aufgrund der historischen Disparatheit der sechs Konstellationen unmöglich, aber stets wurde versucht, die Fragestellung des Autors, auf die sein Text antwortet, in Korrespondenz zum Fachdiskurs zu erhellen. Um die literaturgeschichtliche Breite des Phänomens zu zeigen, wurde möglichst auf eine Disparatheit der Autoren und ihrer Werke geachtet, die dem Naturalismus, dem Expressionismus, der Neoromantik und der Klassischen Moderne zugerechnet werden. Mit dem Epos, dem Roman und der Lyrik sind Gattungen ausgewählt worden, die sich für die poetologische Reflexion (Lyrik), die historische Narration (Roman) und die philologische Spekulation (Epos) besonders eignen. Unter den Dichterphilologen Rudolf Borchardt, Albrecht Schaeffer und Ernst Stadler tritt Letzterer aufgrund seiner berufspraktischen Anbindung an die Institution der Germanistik heraus. Borchardt und Schaeffer sind allein aufgrund ihrer Bildungsbiographie philologisch orientiert. Bei Hermann Broch, Arno Holz und Thomas Mann fällt das bildungsbiographische Kriterium weg. Entscheidend war letztlich, ob in den Texten Aspekte des philologisch-literaturwissenschaftlichen Diskurses zum Tragen kommen. Wenn aber nicht die Bildungsbiographie der Autoren, ein einzelner Diskurs wie der historischphilologische oder eine spezifische Gattung die Auswahl der Texte leiten, liegt der Vorwurf der Beliebigkeit nahe. Dem ist jedoch zu entgegnen, dass nicht ausschließlich eine inhaltliche Komponente ausschlaggebend war, sondern auch bzw. vor allem ein verfahrenstechnisches Problem in Frage stand: Wie lässt sich für die erste Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts das vielgestaltige Verhältnis von Poesie und Philologie charakterisieren? Worauf ist bei der Interpretation zu achten? Wie integriert man bildungsbiographische Fakten ohne kausale Kurzschlüsse? Wie lässt sich implizites Wissen sichtbar machen? Die genannte typologische Trias von Kritik, Begriffssynthese und Konjektur stellt ein erstes Hilfsmittel für die
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Interpretation dar. Im Ganzen der Arbeit soll zudem deutlich werden, dass sich jener nach 1910 in der Germanistik abzeichnende Übergang von der historisch-philologischen Praxis des Positivismus zur geistesgeschichtlichen Hermeneutik in der dichterischen Praxis widerspiegelt. Teil III. Kritik germanistischer Literarhistorie. Untersucht wird der poetische Umgang mit der Literaturgeschichte, verstanden als disziplinär gewonnene und historisch variable Wissensformation. Der Ausdruck Literarhistorie impliziert dieses Verständnis. In Frage stehen Dichter, die auf das Material und die Methodik der Literaturgeschichtsschreibung korrigierend einwirken. Das Material der Literaturgeschichte ist sichtbares Medium der Fiktion in Arno Holz’ Lieder auf einer alten Laute. Lyrisches Portrait aus dem 17. Jahrhundert (1903) und Thomas Manns Lotte in Weimar. Roman (1939). Den Autoren geht es in ihrer Kritik neben dichterischer Partizipation an der Literaturgeschichte auch um die parodierende Kritik der historiographischen und philologischen Methodik. III.1. Arno Holz’ Dafnis im Bann der Blütezeiten. Holz’ Kritik der Literaturgeschichtsschreibung betrifft die Vorstellung literarischer Blütezeiten, wie sie Wilhelm Scherers Geschichte der deutschen Literatur (1883) zugrunde liegt. Er korrigiert diese Vorstellung, indem er sich dem von der Germanistik um 1900 wenig geschätzten siebzehnten Jahrhundert mit poetischen Mitteln widmet. Die Inszenierung eines barocken Dichtersubjekts dient gleichfalls dazu, den eigenen Standpunkt in der Literaturgeschichte der Moderne zu festigen. III.2. Thomas Manns Lotte in Weimar und der Dienst am Dichter. Thomas Manns Eingriff in die Literaturgeschichte geht über Holz’ Versuch der Umwertung literaturgeschichtlicher Urteile im Medium der Poesie hinaus. Sein Nebengesang ist nicht nur ein bloßer Gegendiskurs, sondern begreift sich gegenüber der Goethe-Philologie als überlegen. Indem er die Begehrensstruktur der Autorenphilologie und damit die erotischen Triebkräfte des wissenschaftlichen Diskurses offenlegt, wirft sein Roman die Frage auf, ob denn die streng sachlich und an historischer Wahrheit orientierte Fachwissenschaft der eigentliche Ort für die hermeneutische Autorenphilologie ist und nicht vielmehr die Poesie. Diese muss ihre Triebkräfte nicht hinter einer Gelehrtenmaske verstecken. Teil IV. Synthesen poetologischer Antagonismen. Synthesen waren nach 1910 beliebt in Kunst und Wissenschaft. Der partialisierte Charakter des modernen Wissens lag offen zu Tage. Die geistesgeschichtliche Methode in den Philologien verstand sich nicht nur als Überwinderin des positiven Faktenwissens, sondern auch als dessen hermeneutische Zusammenführerin. Dennoch lebten gerade die Erzählungen und Dramaturgien der Geistesgeschichte von Antagonismen. Der vierte Teil widmet sich der Frage, wie poetologische Begriffsantagonismen, die auch aus literaturwissen-
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schaftlichen Diskursen bekannt sind, in der Dichtung thematisiert und aufgehoben werden können. Solche allgemeinen, kaum aussagekräftig anmutenden Begriffe, wie Form und Formlosigkeit oder Poesie und Prosa, zeigen in der historischen Rekonstruktion Anschlussmöglichkeiten für eine besondere Semantik. Ihre dichterischen und wissenschaftlichen Verwendungsweisen sind bisweilen deckungsgleich. Von der Fachwissenschaft werden Antagonismen aufgegriffen, um Texte, Verfahren, Stile und Epochen voneinander abzugrenzen; zugleich stabilisieren sie den literaturwissenschaftlichen Diskurs. Dichtung, die Begriffsantagonismen thematisch macht, kann einen synthetischen Zweck verfolgen. In ihr bestätigt sich das Poetische als eine Kraft, welche die Abgrenzungen aufhebt. Trotz des Gegensatzes von wissenschaftlicher Differenzierung und dichterischer Entdifferenzierung besitzt das in Frage stehende Begriffsspektrum einen gemeinsamen Ermöglichungshorizont. Die beiden behandelten Autoren stellen zwei Extreme dar: Ist Ernst Stadler zünftiger Philologe, so tangieren Hermann Brochs Werdegang und sein Interesse vielmehr Mathematik und Philosophie. Für die Frage nach dem Bezug zur germanistischen Disziplin werden die jeweiligen Standpunkte zu beachten sein. IV.1. Ernst Stadlers Aufbruch und die Bindung der erlösten Form. Ernst Stadler kommt innerhalb der Studie eine Sonderstellung zu, weil er der einzige Dichter ist, der die Philologie zum Beruf gewählt hat. Zudem lösen dichterische und philologische Autorschaft einander ab, um schließlich gleichzeitig zu bestehen. Der expressionistische Gedichtband Der Aufbruch (1914, recte 1913) erschien, als Stadler bereits Professor war. Für den Dichterphilologen ist zudem auffällig, dass er beide Autorschaften streng trennte. Das Konzept der Wissenschaftskunst ist ihm genauso fremd wie philologisierte Dichtung. Schaut man jedoch genauer hin, zeigen sich beide Diskurse, der poetisch-lyrische und der wissenschaftlichsachliche, immer wieder von derselben Frage nach der Möglichkeitsbedingung poetischer Innovation bewegt. IV.2. Hermann Brochs Tod des Vergil und die lyrische Prosa. Hermann Broch hätte sich wohl mehr als Dichterphilosoph verstanden. Aufgrund seines poetologischen Interesses jedoch besteht gleichwohl ein Bezug zur Literaturwissenschaft. Der für ihn zentrale Prosa-Begriff kann über den literaturwissenschaftlichen Kontext erschlossen werden. Gerade weil in der Fachdiskussion Poesie und Prosa als antagonistisch gedacht wurden, stellte es für Broch auch eine Herausforderung dar, ihren Antagonismus in der poetischen Sprache zu überwinden. In Auseinandersetzung mit sprachwissenschaftlichen Theoremen Karl Vosslers formiert Broch im Roman das epistemologisch aufgeladene Medium der lyrischen Prosa. Teil V. Konjekturen mittelalterlicher Überlieferung. Im abschließenden Teil der Untersuchung werden zwei Projekte vorgestellt, die sich als Verbesse-
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rung der textlichen Überlieferung verstehen, weniger auf materialer als auf idealer Ebene. Es handelt sich um Texte, die gezielt an die Überlieferung anschließen und diese dort, wo sie als fehlerhaft oder brüchig verstanden wird, in der poetischen Konjektur ergänzen. Die Konjektur als philologisches Verfahren schließt eine Lücke oder verbessert auf der Grundlage von Vermutungen. Da sich der Philologe für dieses Verfahren gerade nicht auf die Faktenlage verlassen kann, sondern mittels seiner Phantasie frei kombinieren muss, enthält die Konjektur bereits ein poetisches Moment. Wie der professionelle Philologe kann daher der Dichter ein Verständnis von der Literaturgeschichte gewinnen und sie neu formulieren, um zu restituieren, was vermeintlich verloren ging oder nie vollständig realisiert wurde – wie beispielsweise den deutschen ‚Sucherroman‘ durch Albrecht Schaeffer oder die mittelalterliche Minne durch Rudolf Borchardt. V.1. Albrecht Schaeffers Parzival und der deutsche Charakter. Albrecht Schaeffer greift in Parzival. Ein Versroman in drei Kreisen (1922) den Parzival Wolframs von Eschenbach auf. Dass es ihm weniger um buchstäbliche Probleme der Überlieferung ging, ersieht man daran, dass seine eigentliche Vorlage kein mittelhochdeutscher Text, sondern eine Übersetzung für das Lesepublikum des neunzehnten Jahrhunderts war. Die Sekundärquelle genügte Schaeffer, um behaupten zu können, dass sich die eigentliche Problematik im mittelhochdeutschen Versepos aufgrund von sozialen und kulturellen Bedingungen nicht entwickelt habe. Nur ansatzweise habe sich im Text das Wesen des ‚deutschen Charakters‘, auf den sich Schaeffer konzentriert, offenbart. Daher nimmt Schaeffer den Text erneut in Angriff und konjiziert eine dem Parzival gemäße Ausführung. V.2. Rudolf Borchardts Durant und die moderne Seelenform. Rudolf Borchardt geht in seiner Minne-Konjektur Der Durant. Ein Gedicht aus dem männlichen Zeitalter (1920) dem Anspruch nach über Schaeffers ParzivalKonjektur hinaus, indem er die Ordnung der gesamten Überlieferung, wie sie von der Nationalphilologie bis dahin geschaffen worden war, in Zweifel zieht. Denn die mittelhochdeutsche Dichtung hat es nach Borchardt nie in der nationalen Überlieferung gegeben, sondern diese sei in Wirklichkeit eine europäische gewesen, provenzalische, italienische und deutsche Elemente gemeinsam tradierend. Borchardt versucht erst gar nicht, die Idee, welche er poetisch gestalten will, in einem Text vorgeprägt zu finden wie Schaeffer. Anders als in der Übersetzung von Dantes Divina Commedia imaginiert er im Durant keine mögliche Sprachentwicklung, sondern er schreibt einen Text, der sich als modern und zugleich als Teil der Überlieferung versteht. Einziges Manko dieser Überlieferung ist, dass sie eigentlich nicht nachweisbar ist und auf einer Fiktion beruht. Diesen Zusammenhang allerdings als bloße Fiktion abzutun, würde Borchardts legi-
Einführung in ein verborgenes Verhältnis
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timatorische Absicht verkennen, die gleichbedeutend ist mit dem literaturgeschichtlichen Wahrheitsanspruch der Konjektur. Die leitende Überzeugung, dass die deutsche Literaturgeschichte des Untersuchungszeitraumes eng mit der Fachgeschichte der Germanistik verknüpft ist, mit anderen Worten: dass die Poesie Teil ihrer Disziplin ist, verdeutlichen Analysen zu einem möglichst breiten Spektrum von Autoren und Gattungen. Sie demonstrieren die These, dass moderne Literatur als disziplinäre Dichtung nicht nur vom literaturgeschichtlichen Material, sondern auch von Verfahrensweisen, Denkfiguren und Topoi, die sich in der Germanistik herausgebildet hatten, konditioniert sein konnte. Das Verhältnis zwischen der Literatur und ihrer Disziplin kann dabei – wie jedes Verhältnis – beschrieben werden als durchaus harmonischkritisch, bisweilen polemisch-gereizt, mehr oder weniger bewusst, implizit oder explizit, punktuell oder intensiv, konstruktiv oder destruktiv. Aus der literaturgeschichtlichen Perspektive wird es dort signifikant, wo es fruchtbar wurde für die Genese neuer Literatur. Die Fertigstellung dieser am 16. Mai 2012 von der Philosophischen Fakultät II der Humboldt-Universität zu Berlin als Habilitationsschrift angenommenen Studie wurde von vielen Seiten gefördert, denen ich zu Dank verpflichtet bin. Für die einzigartige institutionelle Unterstützung danke ich dem Institut für deutsche Literatur der Humboldt-Universität zu Berlin. Für den großzügig bemessenen Forschungsfreiraum danke ich Professor Dr. Ernst Osterkamp. Darüber hinaus erhielt ich von ihm sowie von Privatdozent Dr. Mark-Georg Dehrmann, Professor Dr. Dr. h.c. Heinrich Detering, Privatdozentin Dr. Julia Genz, Professor Dr. Christoph König, Dr. Robert Krause, Dr. Marcel Lepper, Professor Dr. Steffen Martus, Professor Dr. Dr. h.c. mult. Paul Raabe, Dr. Carlos Spoerhase, Katrin Wittler, MA, Juniorprofessorin Dr. Evi Zemanek sowie den Mitgliedern des Habilitationscolloquiums am Zentrum für Literaturforschung Berlin zahlreiche Anregungen und Kritik, für die ihnen allen gedankt sei. Dem Deutschen Literaturarchiv Marbach sei für ein Forschungsstipendium gedankt; Dr. Manuela Gerlof für die unkomplizierte Zusammenarbeit mit dem De Gruyter Verlag; den Herausgebern der Quellen und Forschungen zur Literatur- und Kulturgeschichte, vormals Quellen und Forschungen zur Sprachund Kulturgeschichte der germanischen Völker, für die freundliche Aufnahme in ihre Reihe.
I. Die Dichtung und ihre Disziplin Innerhalb der europäischen Literaturgeschichte sind Rhetorik und Poetik zu literarischen Bildungsmächten geworden. Dazu trug vor allem ihre Institutionalisierung in Bildungsstätten wie Schule und Universität bei. Die deutschsprachige Literatur, insofern sie auf diese Institutionen bezogen war, konnte ihre Autorität bestätigen, indem sie die rhetorischen Regeln und die Vorgaben der Poetik reproduzierte. In diesem affirmativen Sinn hat man sich angewöhnt, die gelehrte Poesie vom Humanismus bis zur Aufklärung zu analysieren. 1 Das ihr zugehörige Autorenideal war der poeta doctus; zugleich kann beobachtet werden, dass es gerade rhetorisch geschulte Autoren wie Johann Gottfried Herder waren, die diesen Zustand zu überwinden suchten.2 Die deutschsprachige Literatur erschloss gleichfalls aus der Auseinandersetzung mit der Philologie neue Wege und grenzte sich von überkommenen Vorstellungen ab. Klopstock oder Lessing hätten ohne den altsprachlichen Unterricht in Schulpforta bzw. Sankt Afra mitnichten die entscheidenden Debatten, die auf dem Gebiet der Lyrik und Dramenpoetik im achtzehnten Jahrhundert geführt wurden, angestoßen; Hölderlins Antikerezeption wäre ohne das Maulbronner Seminar wohl kaum zum literaturgeschichtlichen Ereignis geworden; und Friedrich Schlegels romantische Autorschaft ist unauflöslich mit der Reform der Philologie verbunden. Um die Spannung an Nietzsche zuzuspitzen: An die Aufnahme eines Studiums der Klassischen Philologie wäre in der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts nicht zu denken gewesen ohne gymnasiale Voraussetzungen, wie sie der junge Nietzsche von Schulpforta her mitbrachte. Sein polemischer Furor gegen die historisch-philologischen Wissenschaften im vierten Abschnitt der zweiten Unzeitgemässen Betrachtung unter dem Titel Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben (1874) bezog keine geringen Energien aus dem Zwiespalt zwischen dem Wunsch _____________ 1
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Vgl. Wilfried Barner, Barockrhetorik. Untersuchungen zu ihren geschichtlichen Grundlagen, Tübingen 1970, und Gunter E. Grimm, Literatur und Gelehrtentum in Deutschland. Untersuchungen zum Wandel ihres Verhältnisses vom Humanismus bis zur Frühaufklärung, Tübingen 1983 (= Studien zur deutschen Literatur, 75). Speziell zu Herder s. Gunter E. Grimm, Letternkultur. Wissenschaftskritik und antigelehrtes Dichten in Deutschland von der Renaissance bis zum Sturm und Drang, Tübingen 1998 (= Studien und Texte zur Sozialgeschichte der Literatur, 60), S. 307–337.
1. Moderne Literatur und philologische Bildung
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nach freier Autorschaft und den Gesetzen der Disziplin, denen er sich als Autor unterzuordnen hatte. Nietzsche unterscheidet sich von seinen genannten Vorgängern durch die Verortung in der modernen, nach Ausdifferenzierung und Spezialisierung strebenden Wissenschaft. 3 Sie unterliegt dem Prozess rasanter Disziplinbildung. 4 Bei dieser Entwicklung, die im neunzehnten Jahrhundert begann, kam es zu einer bis dahin literaturgeschichtlich unbekannten Situation, indem neben die Altphilologie die Neuphilologie trat. Im deutschen Raum stand jene Disziplin, die sich der Erschließung, Ordnung und Regelung nur der deutschsprachigen Literatur widmete, bald in Konkurrenz zur Klassischen Philologie. Zwar hatte man sich bereits in den Sprachgesellschaften des siebzehnten Jahrhunderts zunftmäßig mit deutscher Sprache und Literatur befasst,5 _____________ 3
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Vgl. Christian Benne, Nietzsche und die historisch-kritische Philologie, Berlin/New York 2005 (= Monographien und Texte zur Nietzsche-Forschung, 49); Alexander Nebrig, Nietzsches Dichterbild und die Wiederbelebung des Dithyrambus durch die Philologie, in: Dehrmann/Nebrig (Hg.), Poeta philologus, S. 219–242. Dem größeren Zusammenhang der Entstehung moderner Disziplinen widmen sich die Arbeiten von Rudolf Stichweh, Ausdifferenzierung der Wissenschaft – Eine Analyse am deutschen Beispiel, Bielefeld 1977; Ders., Zur Entstehung des modernen Systems wissenschaftlicher Disziplinen. Physik in Deutschland 1740–1890, Frankfurt a. M. 1984. – Aus germanistischer Sicht s. Lutz Danneberg/Wolfgang Höppner/Ralf Klausnitzer (Hg.), Stil, Schule, Disziplin. Analyse und Erprobung von Konzepten wissenschaftsgeschichtlicher Rekonstruktion (I), Frankfurt a. M. 2005 (= Berliner Beiträge zur Wissenschaftsgeschichte, 8), bes. Ralf Klausnitzer, Wissenschaftliche Schule. Systematische Überlegungen und historische Recherchen zu einem nicht unproblematischen Begriff, in: ebd., S. 31–64, und Wolfgang Höppner, Zum Selbstbild der deutschen Philologie in ihrer Frühphase im Kontext des Disziplin-Begriffs und seiner Beschreibung, in: ebd., S. 65–86. S. ferner die Arbeiten von Danneberg, Höppner und Klausnitzer in Thomas Anz (Hg.), Handbuch der Literaturwissenschaft, Bd. 3, Stuttgart 2007, S. 1–121. – Zur Fachgeschichte im neunzehnten Jahrhundert s. Klaus Weimar, Geschichte der deutschen Literaturwissenschaft bis zum Ende des 19. Jahrhunderts, München 1989; Jürgen Fohrmann, Das Projekt der deutschen Literaturgeschichte. Entstehung und Scheitern einer nationalen Poesiegeschichtsschreibung zwischen Humanismus und Deutschem Kaiserreich, Stuttgart [1989]; Ders./Wilhelm Voßkamp (Hg.), Wissenschaft und Nation. Zur Entstehungsgeschichte der deutschen Literaturwissenschaft, München 1991; Dies. (Hg.), Wissenschaftsgeschichte der Germanistik im 19. Jahrhundert, Stuttgart 1994; zu den Anfängen s. Uwe Meves, Zum Institutionalisierungsprozeß der Deutschen Philologie. Die Periode der Lehrstuhlerrichtung (von ca. 1810 bis zum Ende der 60er Jahre des 19. Jahrhunderts), in: ebd., S. 115–203; zur Geschichte des Fachs im Kaiserreich s. Holger Dainat, Von der Neueren deutschen Literaturgeschichte zur Literaturwissenschaft. Die Fachentwicklung von 1890 bis 1913/14, in: ebd., S. 494– 537; Jörg Schönert (Hg.), Literaturwissenschaft und Wissenschaftsforschung, Stuttgart 1998 (= Germanistische Symposien Berichtsbände, 21), bes. Teil II. Zur disziplinären Situation um 1900 s. Christoph König/Eberhard Lämmert (Hg.), Konkurrenten in der Fakultät. Kultur, Wissen und Universität um 1900, Frankfurt a. M. 1999. Wozu auch die Versuche, Universitätsvorlesungen auf Deutsch zu halten, gerechnet werden müssen, vgl. Richard Hodermann, Universitätsvorlesungen in deutscher Sprache um die Wende des 17. Jahrhunderts, Friedrichroda 1891.
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I. Die Dichtung und ihre Disziplin
und die Bemühungen Johann Christoph Gottscheds von Leipzig aus hatten schon im achtzehnten Jahrhundert eine unverkennbare Spannung zwischen akademisch institutionalisierter Poetik und literarischer Produktion so mancher Zeitgenossen erzeugt. Nun aber war das historisch-kritische Interesse an deutschsprachiger Poesie, befeuert von der romantischen Bewegung, in einem geschichtlich ungekannten Ausmaß nach dem Vorbild der Klassischen Philologie institutionalisiert und disziplinarisiert worden; 6 aus der gelehrten Gemeinschaft war eine disziplinäre geworden. 7 Im letzten Drittel des neunzehnten Jahrhunderts endlich kulminierten Reflexion und Erforschung deutscher Literatur in Form der germanistischen Disziplin. Die Festigung der Fachwissenschaft veränderte sowohl die Bedingungen der Produktion von deutschsprachiger Literatur (I.1.) als auch die ihrer Rezeption (I.2.).
1. Moderne Literatur und philologische Bildung Der Charakter der philologischen Bildung in der literarischen Kultur der Moderne erschließt sich über die philologischen Disziplinen. Sie stellen eine zentrale Bildungsinstanz dar, was sich zum einen in der Bildungsbiographie vieler Autoren, zum anderen in den Texten selbst niederschlagen kann. In diesem Eröffnungskapitel soll der Disziplinbegriff als Bildungsbegriff diskutiert werden, um die produktionsästhetische und geschichtliche Rolle philologischer und literaturwissenschaftlicher Disziplinen zu verdeutlichen. Eine solche Fragestellung erlaubt es, von anderen Aspekten der Wissenschaft, etwa den pragmatischen, abzusehen und einen spezifischen Fachdiskurs als inhaltliches Problem zu verstehen, weniger als soziales. Dies sei erwähnt, da mit Pierre Bourdieus Homo academicus (1984) spätestens Humboldts Idee der „reine[n] Wissenschaft“ 8 an Kredit verloren hat. Die sozialen Verhaltensweisen, die sie konditioniert und die wieder _____________ 6
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S. Karl Stackmann, Die Klassische Philologie und die Anfänge der Germanistik, in: Hellmut Flashar (Hg.), Philologie und Hermeneutik im 19. Jahrhundert I, Göttingen 1979, S. 240–259. Zuvor war die Klassische Philologie selbst einem Erneuerungsprozess im Zeichen moderner Disziplinbildung unterzogen worden, hierzu s. Glenn W. Most (Hg.), Disciplining Classics / Altertumswissenschaft als Beruf, Göttingen 2002. Vgl. den DVjs-Sonderband: Jürgen Fohrmann/Wilhelm Voßkamp (Hg.), Von der gelehrten zur disziplinären Gemeinschaft, Stuttgart 1987, bes. Holger Dainat/Rainer Kolk, „Geselliges Arbeiten“. Bedingungen und Strukturen der Kommunikation in den Anfängen der Deutschen Philologie, in: ebd., S. 7–41. Wilhelm von Humboldt, Unmassgebliche Gedanken über den Plan zur Einrichtung des Litthauischen Stadtschulwesens, in: Wilhelm von Humboldt, Werke, hg. v. Albert Leitzmann, Bd. 13, Berlin 1920, S. 276–283, hier S. 279.
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auf die wissenschaftliche Praxis zurückwirken, erhielten verstärkte Aufmerksamkeit; Wissenschaftskulturen und Regime von Disziplinen sind mittlerweile berechtigte Kategorien der Wissenschaftshistoriographie. 9 Die soziale Semantik des Wissenschaftsbegriffs, die Pragmatik von Texten, der Habitus 10 von Autoren und deren werkpolitische Maßnahmen 11 werden freilich zu beachten sein, wenn dadurch für die Literaturgeschichte eine disziplinäre Perspektive eröffnet werden kann. Mit Ludwik Fleck gesprochen, können auch Dichter Teil des wissenschaftlichen Denkkollektivs sein oder wenigstens an dessen Denkstilen partizipieren. 12 Wie die Wissenschaft ist auch die Disziplin ein soziales Problemfeld; bildungstheoretische Vorstellungen weckt sie nicht auf Anhieb. Zumindest außerhalb einer Verwendung zur Beschreibung moderner Fächer der Wissensgewinnung13 verbindet sich mit diesem Wort eine machtkritische Semantik. So definierte Max Weber die Disziplin als „die konsequent rationalisierte, d. h. planvoll eingeschulte, präzise, alle eigene Kritik bedingungslos zurückstellende, Ausführung des empfangenen Befehls, und die unablässige innere Eingestelltheit ausschließlich auf diesen Zweck.“ 14 Niemand wird ernsthaft diese militärisch konnotierte Definition auf den Freiraum der Wissenschaft übertragen wollen. 15 Auch ist mittlerweile das Verständnis der Neuzeit und der Moderne als großangelegte Sozial_____________ 9
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Vgl. Markus Arnold/Roland Fischer (Hg.), Disziplinierungen. Kulturen der Wissenschaft im Vergleich, Wien 2004 (= Reihe Kultur.Wissenschaften, 11); Johann Heilbron, Das Regime der Disziplinen. Zu einer historischen Soziologie disziplinärer Wissenschaft, in: Hans Joas/Hans G. Kippenberg (Hg.), Interdisziplinarität als Lernprozess. Erfahrungen mit einem handlungstheoretischen Forschungsprogramm, Göttingen 2005, S. 23–45, bes. S. 33f. S. Rainer Rosenberg, Die deutschen Germanisten. Ein Versuch über den Habitus, Bielefeld 2009. S. Steffen Martus, Werkpolitik. Zur Literaturgeschichte kritischer Kommunikation vom 17. bis ins 20. Jahrhundert. Mit Studien zu Klopstock, Tieck, Goethe und George, Berlin 2007 (= Historia Hermeneutica. Series Studia, 3). Vgl. Ludwik Fleck, Entstehung und Entwicklung einer wissenschaftlichen Tatsache. Einführung in die Lehre vom Denkstil und Denkkollektiv, hg. v. Lothar Schäfer/Thomas Schnelle, Frankfurt a. M. 1980 [zuerst 1935]. Vgl. Martin Guntau/Hubert Laitko (Hg.), Der Ursprung der modernen Wissenschaften. Studien zur Entstehung wissenschaftlicher Disziplinen, Berlin [DDR] 1987, darin bes. den Beitrag von den Herausgebern, Entstehung und Wesen wissenschaftlicher Disziplinen, in: ebd., S. 17–92; Roland Posner, What is an Academic Discipline?, in: Regina Claussen/Roland Daube-Schakat (Hg.), Gedankenzeichen, Tübingen 1988, S. 165–188; Hubert Laitko, Disziplingeschichte und Disziplinverständnis, in: Volker Peckhaus/Christian Thiel (Hg.), Disziplinen im Kontext. Perspektiven der Disziplingeschichtsschreibung, München 1999, S. 21–60; Jean Boutier (Hg.), Qu’est-ce qu’une discipline?, Paris 2006 (= Enquête, 5). Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriß der verstehenden Soziologie, besorgt von Johannes Winckelmann, Tübingen 51980 [1921], S. 681–687, hier S. 681. Zur militärischen Disziplin s. die von Foucault inspirierte Studie von Ulrich Bröckling, Disziplin. Soziologie und Geschichte militärischer Gehorsamsproduktion, München 1997.
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I. Die Dichtung und ihre Disziplin
disziplinierungsmaßnahmen einer Kritik unterzogen worden; 16 gleichwohl ließe sich die gymnasiale Bildungsgeschichte im neunzehnten Jahrhundert unter den Aspekten der Verhaltensnormierung und der Fundierung des preußischen Beamtenstaates verstehen. Für das Verständnis des Zusammenhangs von Politik und Pädagogik wäre es sicher spannend, die von der Disziplin gebildeten Dichter als altsprachlich geschulte Staatsbürger oder als Objekte der staatlich kontrollierten Wissenschaft in den Blick zu nehmen. Eine solche machtkritische Analyse fiele jedoch eher in den Bereich der Sozialgeschichte. Für die literaturgeschichtliche Arbeit ist eine deskriptive Analyse der bildungsgeschichtlichen Empirie ausreichend. Neben der bildungsgeschichtlichen Überblicksdarstellung (I.1.3.), der sich ein verlagsgeschichtlicher Exkurs anschließt, geht es um zwei systematische Fragen: Die erste widmet sich dem Zusammenhang von Philologie, Bildung und Disziplin (I.1.1.); die zweite untersucht, ob es berechtigt ist, aus der disziplinären Situation der Literatur ein innovatives Potential für die Germanistik abzuleiten (I.1.2.). 1.1. Das Philologische als disziplinäres Moment In welchem Maße Literatur mit ihrer Disziplin interagiert, 17 berührt als Frage den Forschungskomplex Literatur und Wissen. Die Untersuchung _____________ 16
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Kritisch diskutiert Stefan Breuer einen Gebrauch des Disziplinbegriffs, bei dem Disziplin zusammenfalle mit einer ‚formal-operativen Rationalität‘, vgl. Stefan Breuer, Sozialdisziplinierung. Probleme und Problemverlagerung eines Konzeptes bei Max Weber, Gerhard Oestreich und Michel Foucault, in: Christoph Sachße/Florian Tennstedt (Hg.), Soziale Sicherheit und soziale Disziplinierung, Frankfurt a. M. 1986, S. 45–69, und Breuers ‚postscriptum‘ in: Ders., Max Webers tragische Soziologie. Aspekte und Perspektiven, Tübingen 2006, S. 345–348, bes. S. 346: „Ein derart breites Verständnis verführt zu vorschnellen Verallgemeinerungen, die die moderne Gesellschaft dem Bild der Kaserne, der Fabrik oder des Gefängnisses assimilieren und Orwellsche Vorstellungen evozieren, die dem Gegenstand unangemessen sind.“ – Zum Begriff der Sozialdisziplinierung s. Gerhard Oestreich, Strukturprobleme des europäischen Absolutismus, in: Ders., Geist und Gestalt des frühmodernen Staates. Ausgewählte Aufsätze, Berlin 1969, S. 179–197; Winfried Schulze, Gerhard Oestreichs Begriff „Sozialdisziplinierung“ in der frühen Neuzeit, in: Zeitschrift für Historische Forschung 14 (1987), S. 265–302. Steffen Martus, Martin Kessel als Literaturwissenschaftler, in: Claudia Stockinger/Stefan Scherer (Hg.), Martin Kessel (1901–1990), Bielefeld 2004, S. 65–108, hier S. 66, hat zuerst das damit verbundene Forschungsdesiderat formuliert. Sein Beitrag versteht sich als Baustein zu einer noch „ungeschriebenen Literaturgeschichte der Literaturwissenschaft als Fachgeschichte, die Dichtung und Germanistik als wechselseitig relevante Umwelten des je anderen Systems versteht.“ (Ebd.) S. auch Ders., „In der Hölle soll sie braten“. Zur Literatur der Literaturwissenschaft mit einem Seitenblick auf Matthias Politickys „Weiberroman“ und die Computerphilologie, in: Zeitschrift für Germanistik. N. F. XVII [2007], H. 1, S. 8– 27, bes. S. 9. – Von Rückkopplungen spricht Friedrich Kittler, Verbeamtung der Germanisten – heute zu Ende, in: Anne Bentfeld/Walter Delabar (Hg.), Perspektiven der Germa-
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der Beziehung, die zwischen Literatur und Wissen besteht, hat eine Forschung etabliert, 18 die auf den disziplinären Charakter des modernen Wissens und auf die Funktion der Literatur als Wissensspeicher aufmerksam gemacht hat, zugleich aber ein großes Manko aufweist. Indem sie alles nur denkbare Wissen in der Literatur untersucht, bleibt sie für jenes, das sie selbst produziert hat, weitgehend blind: „Die Geistes- und Kulturwissenschaften übersehen ihre eigene Rolle bei der Analyse des Zusammenhangs von Wissen, Wissenschaft und Kunst.“ 19 Nicht bloß wird zu beachten sein, dass modernes Wissen disziplinär gewonnen ist; ebenso entscheidend ist, dass sich das Wissen der Literatur zu einem nicht geringen Teil aus jenen humanwissenschaftlichen Disziplinen speist, die für die Literatur zuständig sind. So besitzen die Fächer Germanistik, Philologie, Literaturgeschichte und Literaturwissenschaft 20 ermöglichende Kraft für die literarische Produktion der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts und darüber hinaus. Versteht man die philologischen Disziplinen als die neuen Bildungsmächte der Literatur, indem man die Foucault’sche Auffassung von Disziplin akzentuiert, die Macht als produktiv ansieht, wird die Verwandtschaft von Disziplin und literarischer Bildung signifikant. Auch ohne diese Zuspitzung bleibt die Disziplin ein Begriff aus dem Bereich der Bildung, der, wie der Bildungsbegriff auch, auf die humanistische Tradition verweist und zugleich Auskunft über die Eigentümlichkeit _____________
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nistik. Neueste Ansichten zu einem alten Problem, Opladen 1997, S. 47–58, hier S. 52: „Nur über die Rückkopplungsschleife selber, die Literatur und Literaturwissenschaft kurzschließt, gibt es keine Dissertationen. Einzig und allein Foucaults böses Diktum, dergleichen Tautologien wolle er nicht noch einmal kommentierend verdoppeln, hat der Lage Rechnung getragen.“ S. Karl Richter/Jörg Schönert/Michael Titzmann, Literatur – Wissen – Wissenschaft. Überlegungen zu einer komplexen Relation, in: Dies. (Hg.), Die Literatur und die Wissenschaften 1770–1930. FS Walter Müller-Seidel, Stuttgart 1997, S. 9–36; Joseph Vogl, Für eine Poetologie des Wissens, in: ebd., S. 107–127; Nicolas Pethes, Literatur- und Wissenschaftsgeschichte. Ein Forschungsbericht, in: Internationales Archiv für Sozialgeschichte der Deutschen Literatur 28 (2003), S. 181–231; Roland Borgards/Harald Neumeyer, Der Ort der Literatur in einer Geschichte des Wissens. Plädoyer für eine entgrenzte Philologie, in: Walter Erhart (Hg.), Grenzen der Germanistik. Rephilologisierung oder Erweiterung? DFG-Symposion 2003, Stuttgart/Weimar 2004, S. 210–222; Ralf Klausnitzer, Literatur und Wissen. Zugänge – Modelle – Analysen, Berlin/New York 2008; Roland Borgards/Harald Neumeyer/Nicolas Pethes/Yvonne Wübben (Hg.), Literatur und Wissen. Ein interdisziplinäres Handbuch, Stuttgart 2013. Martus, „In der Hölle soll sie braten“. Zur Literatur der Literaturwissenschaft, S. 9. – Exemplarisch für diesen Befund s. den Band von Christine Maillard/Michael Titzmann (Hg.), Literatur und Wissen(schaften) 1890–1935, Stuttgart 2002. Die Wissenschaftsgeschichte der Germanistik, die, zugespitzt gesagt, selbst wieder zu einer eigenen Disziplin geworden ist, hat hier ausgezeichnete Vorarbeit geleistet. Stellvertretend nenne ich die Marbacher Arbeitsstelle für die Erforschung der Geschichte der Germanistik und Christoph König (Hg.), Internationales Germanistenlexikon, 3 Bde., Berlin 2003.
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I. Die Dichtung und ihre Disziplin
der Geistes- als Humanwissenschaften gegenüber den Naturwissenschaften gibt.21 Einen etymologischen Ausgangspunkt stellt der Zusammenhang dar, der zwischen ars und disciplina im Bildungsprogramm der Freien Künste besteht.22 Disciplinae liberales ist ein ungebräuchlich gewordenes Synonym für die artes liberales und beleuchtet die Unterweisung (disciplina) in Techniken, die als frei von beruflichen und gesellschaftlichen Zwecken gelten und vorbereitenden Charakter für die eigentlichen Wissenschaften Theologie, Jurisprudenz und Medizin besitzen. In Antike und Mittelalter, mit internen Verschiebungen, zählte man sieben solcher Künste (artes, IJȑȤȞĮȚ): Grammatik, Rhetorik, Dialektik; Arithmetik, Geometrie, Musik, Astronomie. Das trivium umfasst die Sprache, d. h. alles was dem Logos zugehörig ist. Dabei blieb die Rhetorik als Lernfach am stärksten auf die literarische Kunst bezogen. Mit disciplina ist aber mehr als eine bloße Technik, Unterweisung oder gar Zucht gemeint; der lateinische Terminus aktualisierte daneben den griechischen Begriff der Bildung: ʌĮȚįİȓĮ. 23 In diesem umfassenden Sinn hat für die Zeit bis ins achtzehnte Jahrhundert die literarische Bildung vornehmlich im Rahmen der Fächer des Triviums stattgefunden, wobei die Unterweisung in die Verfahren der Rhetorik, IJȑȤȞȘࠍȘIJȠȡȚțȒ, im Zentrum stand. Diese wurden im neunzehnten Jahrhundert weiterhin an den Schulen unterrichtet und lösten sich allmählich in eine restringierte Rhetorik auf.24 Der antike Begriff der Disziplin ist für das moderne Verständnis der Disziplin noch insofern anschlussfähig, als er mit literarischer Bildung und Erziehung zusammenhängt 25 und keine nachträgliche Übertragung in den Bereich der Wissensgenese und Wissensvermittlung darstellt. Die Vereinseitigungen in den Semantiken von Zucht und Ordnung26 verdecken diesen Zusammenhang. Gegenüber dem griechischen Pendant der Paideia wird Disziplin dem modernen Bildungsverständnis gerechter, weil zum _____________ 21
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Vgl. Hans-Georg Gadamer, Wahrheit und Methode. Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik, Tübingen 61990 (= Gesammelte Werke, 1: Hermeneutik I), S. 23: „Was die Geisteswissenschaften zu Wissenschaften macht, läßt sich eher aus der Tradition des Bildungsbegriffes verstehen als aus der Methodenidee der modernen Wissenschaft. Es ist die humanistische Tradition, auf die wir zurückverwiesen werden.“ Vgl. Otto Mauch, Der lateinische Begriff DISCIPLINA. Eine Wortuntersuchung, Fribourg 1941, S. 22–41; G[abriel] Jüssen und G[angolf] Schrimpf, Disciplina, doctrina, in: HWPh 2, Sp. 256–261. – S. ferner für die griechische Kultur Bruno Snell, Die Ausdrücke für den Begriff des Wissens in der vorplatonischen Philosophie (ıȠijȓĮȖȞެȝȘıȪȞİıȚȢݨıIJȠȡȓĮȝȐșȘȝĮ ʌȚıIJȒȝȘ), Berlin 1924 (= Philologische Untersuchungen, 29). Mauch, Der lateinische Begriff DISCIPLINA, S. 4–14 und 14–22. Aus der Perspektive des Dritten Humanismus: Werner Jaeger, Paideia. Die Formung des griechischen Menschen, 3 Bde., Berlin 1934–1947. Vgl. Gérard Genette‚ La rhétorique restreinte, in: Communications 16 (1970), S. 158–171. S. Mauch, Der lateinische Begriff DISCIPLINA, S. 41–45. Zur Disziplin als römischer Wertbegriff s. ebd., S. 46–80.
1. Moderne Literatur und philologische Bildung
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Ausdruck kommt, dass die einheitliche Bildung – jener Kreis der Bildung (ȖțȪțȜȚȠȢʌĮȚįİȓĮ) – zerbrochen ist und nur noch als Ideal bildungspolitische Utopien hervorbringt: Es gibt viele Disziplinen, die trans- und interdisziplinär verbunden werden können, aber nicht mehr die eine Disziplin, die für alle Menschen verbindlich wäre. Wenn sich die Bildung disziplinär auffächert, ist es folgerichtig, dass die Literatur auf die disziplinäre Situation reagiert. Die deutschsprachige Literatur erhielt eine eigene Disziplin, d. h. ein ihr zugehöriges Bildungsprogramm, als zunehmend alternative Erkenntnisweisen tradiert 27 bzw. die Pluralisierung des Wissens auf diesem Gebiet verwaltet werden musste und zugleich die Hervorbringung neuen Wissens (ʌȚıIJȒȝȘ) im Konzept der Forschung zur Pflicht wurde. Dieser Prozess kann weit zurückverfolgt werden, begann aber eigentlich erst im neunzehnten Jahrhundert, wo sich das Wissen über Literatur explosionsartig vermehrte; die alternativen Wissensbestände, die die „permanente Selbstvermehrung“28 des Wissen hervorgebracht hatte, konnten kaum noch über die Tradition vermittelt werden. In der neuen Epoche der Wissenschaften wurde aus literarischer Tradition die literarische Disziplin. Die Disziplin der Germanistik unterscheidet sich von der antiken Disziplin der Rhetorik im modernen, nach Erkenntnis strebenden Disziplinbegriff, der nicht mehr nur von der Unterweisung (Lehre), sondern gleichfalls von der Forschung geprägt ist. Mit Rhetorik haben die Germanistik und ihre Verfahren der Wissensgewinnung und Vermittlung noch wenig gemein, weil das Ziel nicht mehr pragmatisch, sondern wirklich liberal geworden ist: Es geht wenigstens dem Anspruch nach um freie Erkenntnis. Tatsache ist, dass alles Wissen über Sprache, Produktion und Rezeption von Literatur seit dem neunzehnten Jahrhundert von einer wissenschaftlichen Disziplin diskursiv erfahrbar gemacht wurde und nicht mehr von rhetorischen oder grammatischen Disziplinen, die letztlich im Rechtssystem und in kirchlichen Institutionen als Teil der sozialen Praxis funktionalisiert waren. Das poeto-philologische Wissen bleibt seither auf die ihm zugehörige Disziplin bezogen – und dies, trotz einer Indienstnahme für die Lehrerausbildung, in einer durchaus noch autonomen epistemologischen Form, die es für das poetische Schaffen als Bildungsquelle attraktiv werden lässt. _____________ 27
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Eginhard Fabian, Kristallographie: Die Entstehung einer Wissenschaft im Spannungsfeld wissenschaftlicher Traditionen, in: Guntau/Laitko (Hg.), Der Ursprung der modernen Wissenschaften, S. 111–126, hier S. 126, der den Zusammenhang von Traditionsbildung und Disziplingenese untersucht hat, demonstriert an der ‚Kristallographie‘, dass die Genese einer Disziplin als „Disziplinierung wissenschaftlicher Tätigkeiten“ einsetzt, wenn alternative Erkenntnisweisen tradiert werden müssen. Peter-André Alt, Die Verheißungen der Philologie, Göttingen 2007, S. 15.
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I. Die Dichtung und ihre Disziplin
Neben der „Philologie als erzieherischer Methode“ 29, womit ein schuldidaktisches Problem gemeint ist, gibt es die Philologie als Methode der poetischen Bildung. Der Umstand, dass formale Ausbildung und kreative Bildung miteinander verwoben sind, ist für die philologische Kultur bezeichnend; im Unterschied zum philologischen Zeitalter ist der Begriff der philologischen Kultur besser an den der Bildung anschließbar. 30 Aus der neuartigen disziplinären Situation, in welche die Tradierung der deutschsprachigen Literatur Ende des neunzehnten Jahrhunderts geraten war, ergaben sich andere Voraussetzungen für die künftige Literatur. Die Germanistik – samt ihrer Gegenstände, Methoden, ihrer Debatten, aber auch ihrer Neuausrichtung in der Geistesgeschichte – übte in der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts eine institutionell abgesicherte Macht über Kritik und Produktion von Dichtung gleichermaßen aus. Die wissenschaftliche Ordnung, welche die literarische Tradition ersetzte, betraf nicht mehr nur die Literatur toter Sprachen, die mit Ausnahme des Lateins an Gymnasien und Universitäten selbst literarisch unproduktiv blieben, sondern die eigene Nationalliteratur. Die Spannung zwischen Poesie und Philologie war entstanden, als in der Romantik die Poesie reflexiver wurde und als poetologischer Beitrag gelesen werden wollte. Aus einer anfänglich wechselseitigen Beeinflussung entwickelte sich eine Konkurrenz, und zwar in dem Maße, in dem die sich disziplinarisierende Wissenschaft die Beantwortung poetologischer und philologischer Fragen für sich allein beanspruchte. Jenes reflexive Moment wurde von der Wissenschaft aktiviert, die als Nachfolgerin der romantischen Poetologie begriffen werden kann, um sich alsbald in philologischen Disziplinen aufzufächern. Angesprochen ist damit auch jener Übergang von kritischer zu philologischer Kommunikation. 31 Zuvor war bereits die poetische Praxis des achtzehnten Jahrhunderts von kritischer Beobachtung irritiert worden. Im Laufe des neunzehnten Jahrhunderts geriet der sich selbst und andere beobachtende Autor, sobald er etwa über seine Vorbilder reflektierte, in Konkurrenz zur akademischen, professionalisierten Disziplin, die Stan_____________ 29 30
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Abraham A. Moles, Soziodynamik der Kultur, Stuttgart 1976 (= Kunst und Gesellschaft, 8), S. 10. Vom ‚philologischen Zeitalter‘ spricht Heinz Schlaffer, Poesie und Wissen. Die Entstehung des ästhetischen Bewußtseins und der philologischen Erkenntnis, erweiterte Ausgabe, Frankfurt a. M. 2005 [zuerst 1990], S. 214. Es markiere sich durch den öffentlichen Anspruch der Philologie: „Seltsamerweise aber tauschen in der Neuzeit ‚Sänger‘ und Philologen ihre Plätze: Der Dichter arbeitet still an seinem Schreibtisch, der Philologe hält als öffentlicher Professor Vorlesungen. Daran zeigt sich, daß die Literatur ins philologische Zeitalter eingetreten und zu einer Privatangelegenheit geworden ist, während die Philologie als Institution staatliche Anerkennung gefunden hat.“ Vgl. Martus, Werkpolitik, S. 365–371.
1. Moderne Literatur und philologische Bildung
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dards setzte, wie über wen zu urteilen sei; bald zog er auch ihre Blicke auf sich. Solange die germanistische Wissenschaft noch nicht institutionalisiert war, konnte sich der Dichterphilologe (poeta philologus) behaupten, zwischen Wissenschaft und Poesie wechseln und beide Autorschaften zugleich ausüben.32 Mit zunehmender Ausdifferenzierung und Spezialisierung der wissenschaftlichen Disziplin wurden solche Grenzgänge schwerer, endgültig zu einem Problem aber, als der Germanist, staatlich besoldet, zu einer Berufsgruppe aufstieg. Wenngleich nirgends festgeschrieben, ist es Usus, mit der wissenschaftlichen Profession die dichterische Freiheit der Autorschaft abzugeben oder wenigstens einzuschränken. Der potentielle „Zusammenhang zwischen Dichten und Forschen“ 33 kann sich je nach Wissenschaftssituation auflösen oder besonders manifest werden wie in Russland bzw. der frühen Sowjetunion, wo eine Avantgardepoetik und eine analytisch-formale Literaturwissenschaft einander ergänzten. 34 Der deutsche Kontext tendierte zur Auflösung des Zusammenhangs. Die wachsende Beschäftigung der romantischen Generation mit neueren Literaturen hatte um 1800 beide Seiten zeitweilig in nicht unterscheidbare Nähe geführt. 35 Der Dichterphilologe war nur eine Folge, und die Frage, ob Friedrich Schlegel, Ludwig Tieck und noch Ludwig Uhland eher Dichter oder aber Philologen waren, muss für ihr Gesamtwerk notwendig offen bleiben. Im Fortgang der Verwissenschaftlichung des philologischen Diskurses, wie sie sich im neunzehnten Jahrhundert vollzogen hatte, drohte das Band zu zerreißen, da beide Bereiche voneinander wegstrebten. 36 Spezialisierte Wissenschaftler würden als Dichter ihre Glaubwürdigkeit gefährdet, Letztere wiederum vor der Fachwelt als Dilettanten gegolten haben, sobald sie sich auf das philologische Feld begeben hätten. Doch auch wenn _____________ 32 33 34
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Vgl. Mark-Georg Dehrmann/Alexander Nebrig, Einleitung, in: Dies. (Hg.), Poeta philologus, S. 7–19, respektive die Beiträge zur europäischen Literaturgeschichte des neunzehnten Jahrhunderts im selben Band. Wilhelm Scherer, [Besprechung von Gustav Freytags Die Ahnen], in: W. S., Kleinere Schriften zur neueren Litteratur, Kunst und Zeitgeschichte, hg. v. Erich Schmidt (= Wilhelm Scherer, Kleine Schriften, zweiter Band), Berlin 1893, S. 3. Vgl. Aage A. Hansen-Löve, Der russische Formalismus. Methodologische Rekonstruktion seiner Entwicklung aus dem Prinzip der Verfremdung (= Österreichische Akademie der Wissenschaften, Phil.-Hist. Klasse, Sitzungsberichte 336, Veröffentlichungen der Kommission für Literaturwissenschaft, Nr. 5), Wien 1978. – Zu den russischen Philologen-RomaQHQV2O·JD)/DGRFKLQD)LORORJLÿHVNLMURPDQIDQWRPLOLUHDO·QRVW·UXVVNRMOLWHUDWXU\;; veka?, Moskva 2010. Buschmeier, Poesie und Philologie in der Goethe-Zeit. Eine fruchtbare Wechselbeziehung zwischen (Klassischer) Philologie und Poesie war die von Goethe und Friedrich August Wolf, s. Johann Wolfgang Goethe, Briefe an Friedrich August Wolf, hg. v. Michael Bernays, Berlin 1868, und Manfred Riedel, Zwischen Dichtung und Philologie – Goethe und Friedrich August Wolf, in: DVjs 71 (1997), S. 92–109.
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I. Die Dichtung und ihre Disziplin
die ausschließliche Entscheidung zugunsten einer einzigen expliziten Autorschaft – der philologischen oder der poetischen – gefordert war, zeigen Briefwechsel zwischen Philologen, Literaturhistorikern auf der einen Seite und Dichtern, Schriftstellern auf der anderen,37 dass keine grundsätzliche Entfremdung eingetreten war: Man konnte sich über den gemeinsamen Gegenstand, die Dichtung, miteinander verständigen, zum Teil besaßen Dichter wie Paul Heyse oder Gustav Freytag im Studium gewonnene philologische Kenntnisse und beherrschten die wissenschaftliche Terminologie. Erich Schmidt, der Theodor Fontane einen Dr. h.c. verschaffte,38 konnte die dritte Auflage (1909) seines ersten Lessing-Bandes seinem ‚lieben Freunde‘, dem promovierten Romanisten Paul Heyse widmen. 39 Zugleich wurde Dichtern der wissenschaftliche Diskurs über Literatur zunehmend erschwert, weil die Beherrschung der Schreibregeln professionelles Wissen erforderte. Dass sich die Wissenschaft, indem sie sich ausdifferenzierte und spezialisierte, von der Dichtung entfremdete, wurde nicht bloß mit Indifferenz hingenommen. Schon Nietzsche hatte im Rückgriff auf Renaissance und Romantik 40 ein Problembewusstsein für die Zusammengehörigkeit beider Bereiche geweckt. Sein Name legitimierte nach 1900 die Zusammenführung von Kunst und Wissenschaft in der geistesgeschichtlichen Germanistik. Tatsächlich war diese eigentümliche Annäherung eine anachronistische Illusion und nur möglich, weil ihre maßgeblichen Repräsen_____________ 37
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Martus, „In der Hölle soll sie braten“. Zur Literatur der Literaturwissenschaft, S. 10, gewinnt ihren Wert aus der Frage: „In welcher Weise dringt die Literaturwissenschaft in die Literatur als antizipierter Rezeptionshorizont ein“? Ediert sind z. B.: Jürgen Jahn (Hg.), Der Briefwechsel zwischen Gottfried Keller und Hermann Hettner, Berlin/Weimar 1964; Ernst Bertram/Thomas Mann, Briefe aus den Jahren 1910–1955, hg. v. Inge Jens, Pfullingen 1960; Theodor Storm/Erich Schmidt, Briefwechsel. Kritische Ausgabe, hg. v. Karl Ernst Laage, Berlin 1972–1976; Walther Brecht/Hugo von Hofmannsthal, Briefwechsel, hg. v. Christoph König/David Oels, Göttingen 2005 (= Marbacher Wissenschaftsgeschichte, 6); Paul Celan/Peter Szondi, Briefwechsel, hg. v. Christoph König, Frankfurt a. M. 2005. – Zu Scherers Briefwechsel s. Wolfgang Höppner, Universitätsgermanistik und zeitgenössische Literatur. Wilhelm Scherers Berliner Jahre 1877–1886, in: Peter Wruck (Hg.), Literarisches Leben in Berlin, Bd. 1, Berlin [DDR] 1987, S. 157–203, bes. S. 191–202. Die Ehrenpromotion Fontanes (8.11.1894) war von Erich Schmidt initiiert, von Treitschke, Mommsen, Hermann Grimm u. a. befördert worden. In der Begründung wird Fontane als „einer der hervorragendsten Erzähler und Lyriker“ charakterisiert, „in dem Erbgüter der französischen Kolonie mit deutschen Gaben zu eigentümlicher Anmut verschmolzen sind“ (nach Julius Petersen, Brief an Heinrich Spiero [DLA A:Petersen 63.385/149]). Zu Heyse als poeta philologus s. Maximilian Gröne, Von der Philologie zur Fiktion. Paul Heyses Strategien der Literarisierung am Beispiel von Adam de la Halle und Raimon de Miraval, in: Dehrmann/Nebrig (Hg.), Poeta philologus, S. 177–194. Zum ‚Poet-Philolog‘ der Renaissance bei Nietzsche s. Giuliano Campioni, Die PoetenPhilologen und die neuen Lebensformen, in: Ders., Der französische Nietzsche, Berlin/New York 2009, S. 174–180.
1. Moderne Literatur und philologische Bildung
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tanten wie Friedrich Gundolf suggerierten, den längst institutionalisierten und disziplinären Charakter ihrer Autorschaft aufheben zu können. 41 Neben Gundolfs Poetisierung der Wissenschaft scheint in Rudolf Borchardts Philologisierung der Poesie eine andere Möglichkeit auf, das Band zwischen Dichtung und ihrer Wissenschaft enger zu knüpfen als bisher. Sie leugnet ebenfalls den realen Befund der Disziplin und hat, mit Schiller gesprochen, einen sentimentalischen Zug. In dieser Perspektive wäre die zwiespältige Autorschaft, die um die Grenzen beider Diskurse weiß, eine der modernen Gegenwart angemessene Möglichkeit der Verbindung. So verkannte der expressionistische Erneuerer und Philologe Ernst Stadler, der den Kollegen Gundolf und dessen Shakespeare-Buch schätzte, 42 die eigene disziplinäre Verankerung in der Philologie des neunzehnten Jahrhunderts nicht. Er schied den disziplinären Bereich vom poetischen, um aber in diesem bedeutend radikaler aufzutreten als der Dichter Gundolf, der sich als Wissenschaftler in zu seiner Disziplin alternativen Spielräumen bewegte. 43 Folglich unterscheidet sich die Personalunion des Dichters und des Philologen, wie sie Stadler verkörperte, von derjenigen seiner romantischen Vorläufer in einem wesentlichen Punkt: Um zu dichten, muss die Maske des Philologen sichtbar abgelegt sein, da beide Bereiche zwei gegensätzlichen diskursiven Genres angehören. Die Konsequenz jener von Stadler repräsentierten Form wäre der Bruch mit der Disziplin, wie ihn etwa Hugo von Hofmannsthal, Lion Feuchtwanger oder Kurt Pinthus vollzogen haben, wobei sie sich ihrer Techniken als Dichter, Kritiker oder Editoren weiterhin bedienten. Es versteht sich, dass die moderne poetische Autorschaft trotz eines alle poetologisch-philologischen Fragen aufsaugenden Fachdiskurses das Moment romantischer Reflexivität weiterhin hütete. Im Kompositum des _____________ 41
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Zur konkreten Institutionalisierung der Geistesgeschichte in der Germanistik s. Rainer Kolk, „Repräsentative Theorie“. Institutionengeschichtliche Beobachtungen zur Geistesgeschichte, in: Petra Boden/Holger Dainat (Hg.), Atta Troll tanzt noch. Selbstbesichtigungen der literaturwissenschaftlichen Germanistik im 20. Jahrhundert, Berlin 1997, S. 81–102. – S. auch Wilfried Barner, Zwischen Gravitation und Opposition. Philologie in der Epoche der Geistesgeschichte, in: König/Lämmert (Hg.), Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte, S. 201–213. Ernst Stadlers Rezension von Gundolfs Shakespeare und der deutsche Geist erschien in: Das Literarische Echo 14 (1911/1912), Sp. 88–90. Vgl. Ernst Osterkamp, Friedrich Gundolf zwischen Kunst und Wissenschaft. Zur Problematik eines Germanisten aus dem George-Kreis, in: Christoph König/Eberhard Lämmert (Hg.), Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte. 1910–1925, Frankfurt a. M. 1993, S. 177–198; Ders., Nachwort, in: Friedrich Gundolf, Die deutsche Literärgeschicht. Reimweis kurz fasslich hergericht, Heidelberg 2002, S. 87–105; Rainer Kolk, Spielräume für Alternativen. Zur Organisation von Wissenschaft – am Beispiel der Germanistik, in: Wilhelm Voßkamp (Hg.), Ideale Akademie. Vergangene Zukunft oder konkrete Utopie, Berlin 2002 (= Interdisziplinäre Arbeitsgruppen, 11), S. 81–94, hier S. 87f.
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I. Die Dichtung und ihre Disziplin
Dichterkritikers erfasste Giorgio Agamben wohl mit Blick auf Italien die „beispielhafte Bestimmung des modernen Künstlers“ 44. Wenn jedoch allein das romantische Prinzip der Negativität jene „philologischwissenschaftliche Haltung“ 45 bewirkt haben soll, die für die moderne Dichtung kennzeichnend ist, zeugt dies nicht nur von einem sprunghaften Entwicklungsdenken: von der Romantik direkt ins zwanzigste Jahrhundert in einem weiten Satz über das gelehrte neunzehnte Jahrhundert hinweg. Damit die philologisch-reflexive Haltung aus der romantischen Vereinzelung zu einem Gemeinplatz des modernen Poesieverständnisses werden konnte, bedurfte es breitenwirksamer und langfristiger bildungsgeschichtlicher Vorgänge. Nach ihrem Abschluss konnten sich kritisch und philologisch interessierte Autoren an den Rand einer sehr aktiven und expandierenden Disziplin versetzt fühlen. Dieser Positionsverlust schlug in der Avantgarde in Gereiztheit gegenüber den Philologen um: „Warum mussten sie [die Philologen, A.N.] eine Bezeichnung für sich wählen, die ausgerechnet auf ihre Antipoden passt? Auf die Freunde der Vernunft und auf die Enthusiasten des Wortes?“46 Genau genommen ist die Frage, wem die Philologie gehört, irreführend. Die Klage des ‚Logokraten‘ Kurt Hiller suggeriert die Vorstellung einer Usurpation der Philologie durch die Wissenschaftler, zugleich betont sie das philologische Potential der Poesie. Auch für Carlo Mierendorff ist die Dichtung von der Philologie nicht zu trennen und „[i]m Grunde ein philologischer Akt.“47 Das Selbstverständnis moderner Literatur ist nicht selten philologisch und kann dennoch in Spannung zur Philologie als Disziplin stehen. Kritisches und poetologisches Denken funktioniert innerhalb und außerhalb der Disziplin nach anderen Regeln, wobei für eine Philologie als Disziplin die intersubjektive Normierung der philologischen Kommunikation maßgeblich ist.48 Um diesen Vorgang besser zu verstehen, ist es sinnvoll, zwischen der Philologie als transkultureller und transhistorischer Konstante und der Philologie als konkret verortbarer Disziplin zu scheiden. Sobald die Philo_____________ 44
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48
Giorgio Agamben, Stanzen. Das Wort und das Phantasma in der abendländischen Kultur [1977]. Aus dem Italienischen von Eva Zwischenbrugger, Zürich 2005, S. 10. Agamben nimmt Bezug auf die Formel ʌȠȚȘIJޣȢ ݀ȝĮ țĮ ޥțȡȚIJȚțȩȢ, mit welcher der augusteische Geograph Strabon die Autorschaft des alexandrinischen Verfassers Philetas von Kos erfasste. Ebd. Kurt Hiller, Zur Auswahl, in: Der Sturm 2 (1911), Nr. 69, S. 551. Carlo Mierendorff, Wortkunst/Von der Novelle zum Roman [1920], in: Paul Pörtner (Hg.), Literatur-Revolution 1910–1925, Bd. 1: Zur Ästhetik und Poetik, Darmstadt 1960, S. 307–313, hier S. 308. – Zur Philologiekritik vgl. Marcel Lepper, Philologie zur Einführung, Hamburg 2012, S. 117–122. Genau genommen gibt es keine Disziplin der Philologie, sondern nur philologische Teildisziplinen wie Klassische Philologie, Germanistik, Romanistik usf., vgl. ebd. S. 41–44.
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logie ein zunftmäßig organisierter Beruf ist, dessen Handwerk in Bildungseinrichtungen gelehrt wird, im Moment ihrer Institutionalisierung also, ändert sich ihr Verhältnis zur Poesie. Sie gewinnt im Rahmen der Universität oder einer Akademie den Status einer Wissenschaft, die eigene Methoden, Publikationsformen und -medien, Techniken, Termini oder Qualifikationsstandards ausbildet und sozial kontrolliert wird: Sie wird schulbildend, d. h. disziplinär. Ein besonderer Fall tritt ein, wenn Gegenstand der Philologie und sprachliches Medium der Dichter in der eigenen, hier deutschen Literatursprache zusammenfallen. Dem Dichter erscheint die Disziplin als Autorität, die ihm Urteile zur Verfügung stellt, von ihm als Konkurrenz wahrgenommen wird oder ihm sogar Feind ist und die er durch eigene kritische und philologische Arbeiten untergraben kann. Gegenstände wie die Literaturgeschichte, die im Rahmen der disziplinären Philologie verhandelt und festgeschrieben werden, bleiben außerhalb dieses Rahmens von Interesse für den Dichter, sein eigenes philologisches Arbeiten und poetisches Schaffen auf sie bezogen, sich dadurch charakterisierend, gerade nicht den Ansprüchen der Disziplin genügen zu müssen. Sobald die Philologie sowohl Disziplin als auch Institution wird, entsteht eine Differenz. Der Vorgang ihrer Institutionalisierung wäre also der ihrer Verdopplung in eine anthropologisch universale Auffassung der Philologie bzw. des Philologischen und eine disziplinäre Philologie, was nicht metaphorisch gemeint ist. Der metaphorische Gebrauch von Philologie mag förderlich sein, um Gemeinsamkeiten beispielsweise mit einem investigativen Journalisten, Detektiv 49 oder induktiv verfahrenden Naturforscher zu erkennen. Alle drei Tätigkeiten beruhen auf dem Sammeln von Fragmenten zur Rekonstruktion von Zusammenhängen, und ebenso sind Gewissenhaftigkeit gegenüber den Quellen oder Dingen für sie kennzeichnend. Abgeleitetes, unkritisch übernommenes Wissen bildet für diese Berufsgruppen ein rotes Tuch. An einem entscheidenden Punkt, dem Gegenstand selbst, greift die Metapher jedoch nicht: Nur für den Philologen bildet die schriftliche Überlieferung den zentralen Gegenstand der Untersuchung, genauso wie sie das Material für den Poeten bereitstellt, d. h. für denjenigen, der aus Sprache etwas Neues macht. Man könnte sogar jeden Umgang mit Texten als philologisch bezeichnen wie der Bildungshistoriker Friedrich Paulsen, der in der Philologie „das eigentliche Organon aller Geisteswissenschaf_____________ 49
Über wissenschaftliche Spurensicherung s. den anregenden Text von Carlo Ginzburg, Der Jäger entziffert die Fährte, Sherlock Holmes nimmt die Lupe, Freud liest Morelli – die Wissenschaft auf der Suche nach sich selbst, in: Ders., Spurensicherung. Die Wissenschaft auf der Suche nach sich selbst, Berlin 1995, S. 7–44. – Vgl. auch Thomas Steinfeld, Der leidenschaftliche Buchhalter. Philologie als Lebensform, München 2004.
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I. Die Dichtung und ihre Disziplin
ten“ 50 sah und ihr damit eine transdisziplinäre Eigenschaft zuwies. In der Geschichte der Wissenschaften hat es sich jedoch gezeigt, dass neben der Philologie als Organon, verstanden als das Philologische, immer auch eine Philologie als Disziplin und Institution existierte. Die Differenz zwischen dem Philologischen und der Philologie verhält sich analog zu jener, die das Rhetorische von der Rhetorik trennt. Ähnlich wie das Rhetorische einer vollständigen Systematisierung in den einzelnen Rhetoriken widersteht und sich die Disziplin der Rhetorik historisch verschiedenen Handlungswelten anpasst,51 sind unabhängig vom Vorhandensein einer an Universitäten oder Akademien disziplinarisierten Philologie ihr verwandte Praktiken zu beobachten: Textkritik, Edition und literarische Hermeneutik treten notwendig dort auf, wo Menschen über die bloße Lektüre hinaus mit Texten Umgang haben. Philologie kann dann als das Philologische theoretisiert werden, 52 ohne dass es einer sie bindenden Disziplin bedürfte. Im Moment, wo das Philologische in eine Disziplin überführt wird, neigt es dazu, sich in weiteren Spezialdisziplinen zu vereinseitigen. Im neunzehnten Jahrhundert war eine disziplinäre Philologie entstanden, die stark historisch geprägt war. Das historisch-philologische Paradigma zeichnet sich durch eine historische Analysetätigkeit aus, die zur Auflösung des Werkganzen in der Biographie des Autors und seiner geschichtlichen Lebenswelt führt. In der Klassischen Philologie dominierte, bedingt durch die vielschichtige Überlieferungslage, zunächst die Textkritik, ebenso in der Germanistik, als diese vor allem Ältere deutsche Philologie war. Die textkritischen und literarhistorischen Vereinseitigungen entsprachen bald nicht mehr den Bedürfnissen der wissenschaftlichen Praxis. Zum einen ließ die starke Konzentration der Analysetätigkeit auf die Geschichte wenig Raum für die Analyse der ästhetischen Verfahrenstechnik von Werken, zumal derer der eigenen Gegenwart. Die unreflektierte Verwendung von Begriffen der antiken Rhetorik und Grammatik erbrachte zwar nützliche statistische Sammlungen über den Sprachgebrauch einzelner Autoren – aber keine hermeutische Leistung. Zum anderen blieb bis 1910 die hermeneutische Syntheseleistung des geschichtlich Analysierten angesichts einer überbordenden Faktizität schwach. Zu viele Fakten _____________ 50 51 52
Friedrich Paulsen, Die geisteswissenschaftliche Hochschulausbildung, in: Wilhelm Lexis (Hg.), Die allgemeinen Grundlagen der Kultur der Gegenwart, Berlin/Leipzig 1906, S. 284–311, hier S. 284. Zu dieser Unterscheidung s. Renate Lachmann, Die Zerstörung der schönen Rede. Rhetorische Tradition und Konzepte des Poetischen, München 1994, S. 1–20. Friedrich Schlegel hat in seinen Notizen zur Philologie den Facettenreichtum philologischer Praxis anregend erfasst. Zuerst veröffentlicht von Josef Körner, Friedrich Schlegels Philosophie der Philologie, in: Logos 17 (1928), H. 1, S. 1–72.
1. Moderne Literatur und philologische Bildung
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und zu wenig Synthese erregte Unmut, der innerhalb der Deutschen Philologie umschlug in ihre generelle Kritik. Folglich betonte nach 1910 die neue Literaturwissenschaft, zu der es erste Ansätze unter Grenzgängern wie Eugen Wolff und Ludwig Jacobowski schon im neunzehnten Jahrhundert gegeben hatte, das Fehlen von Analysen zur dichterischen Technik. Die Geistesgeschichte wiederum überakzentuierte die hermeneutische Synthese: Werke, Autoren und Epochen sollten wieder als Einheiten sichtbar gemacht werden. Strukturale Analyse und geistesgeschichtliche Hermeneutik richteten sich nicht gegen die Philologie an sich, sondern akzentuierten zwei zuvor unberücksichtigte Aspekte innerhalb der Möglichkeiten philologischer Praxis; sie standen mit dem Philologischen als epistemologischer Textumgangsform nicht in Widerspruch. Ob Philologie vorherrscht oder nicht, steht daher nicht in Frage, sondern wie die Disziplin das Philologische versteht, weshalb auch der antiphilologische Gestus nicht auf das Philologische als solches abzielt, sondern auf eine bestimmte methodische Formation der Disziplin. Man kann sich als Wissenschaftler und als Dichter gegen die Disziplin und ihre aktuellen Praktiken wenden und dennoch philologisch interessiert sein. Kafkas Ausruf – nachdem er in Prag bei August Sauer zur Literaturgeschichte gehört hatte –: „Germanistik, in der Hölle soll sie braten“ 53, hinderte den Dichter nicht daran, über Achim von Arnim Näheres von dem Prager Germanisten Josef Körner zu erfahren. 54 Philologiekritik, verstanden als die Artikulation eines Ungenügens an disziplinärer Praxis, impliziert, dass bestimmte Diskurse des Philologischen außerhalb der Disziplin geführt werden. Alles, was die germanistische Disziplin ausschloss, aber mit dem Dichterischen genuin zusammenhing, konnte in anderen und damit notwendig alternativen Räumen wie dem des Feuilletons erscheinen. Eine Alternative zur philologischen Disziplin ist die Zeitungskritik. Zeitschriften wie Der Sturm, Die Aktion oder der Münchener Phoebus stellten eine solche publizistische Ausweichmöglichkeit dar, desgleichen entstanden autorenspezifische Formen der Poetik oder von Nichtwissenschaftlern veranstaltete Editionen und Literaturgeschichten; auch für die wissenschaftliche, aber nicht akademische Kritik der jüngsten Poesie fanden sich Autoren. Selbstredend blieb auch die Germanistik nicht untätig. Oskar Walzel plante im Max Niemeyer Verlag mit Franz Saran kurz vor Ausbruch des _____________ 53 54
Franz Kafka an Oskar Pollak am 24.8.1902, in: Franz Kafka, Briefe 1902–1924, hg. v. Max Brod, Frankfurt a. M. 1975 [zuerst 1958], S. 11–14, hier S. 12. S. Heinz Härtl, Zu Kafkas Briefen an Josef Körner über Arnim. Mit Körners Artikel Achim v. Arnim und der Krieg als Anhang, in: Klaas-Hinrich Ehlers et al. (Hg.), Brücken nach Prag. Deutschsprachige Literatur im kulturellen Kontext der Donaumonarchie und der Tschechoslowakei, Frankfurt a. M. 22001, S. 321–346.
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I. Die Dichtung und ihre Disziplin
Ersten Weltkrieges eine Zeitschrift für deutsche Literaturgeschichte, die verhindern sollte, „dass eine ganze Reihe wertvoller und für die Literaturforschung wichtiger Arbeiten den Fachkreisen entgehe oder mindestens schwer zugänglich bleibe.“ 55 Man wolle „vor allem den gedanklichen Grundlagen und der künstlerischen Form der Dichtung vertiefte Beobachtung schenken“ bzw. „das Wesen der dichterischen Form ergründen“ 56. Mag dieses Beispiel folgenlos geblieben sein, so zeigt es doch die der Disziplin latente Reformbereitschaft. Aus dem Inneren der Disziplin selbst entwickelten sich rasch wirkmächtige Alternativen zum Paradigma der Deutschen Philologie, wie es aus der Nachahmung und Umgestaltung der Klassischen Philologie hervorgegangen war: Formale Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte waren ab 1910 die maßgeblichen Abspaltungen gewesen. 57 Wenngleich die Zeitgenossen den Umbruch als Überwindung der Philologie deuteten, richtete er sich nicht wirklich gegen sie, sondern fächerte das philologische Moment neu auf. Die veränderte Situation innerhalb der Disziplin war für die literarische Gegenwartsproduktion entscheidend, weil sie diese als wissenschaftlichen Gegenstand hervorbrachte. Die Philologie als historische Disziplin konkurrierte mit einer allgemeinen Literaturwissenschaft, welche literarische Formen in Geschichte und Gegenwart untersuchte. Zudem konkurrierte die induktive jetzt mit einer deduktiven Methode, die als Geistesgeschichte „in das Paradigma der Hermeneutik eingeschrieben“ 58 wurde und zur Aufstellung zahlreicher Typologien anregte. Die daraus hervorgehende Hermeneutik der Geistes- und Stilgeschichte, die ihren Ausgang in der Kunstwissenschaft genommen hatte, 59 stand selbst wiederum im Dienst der Gegenwartsdiagnose. _____________ 55 56
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Rundschreiben bezüglich der Zeitschrift für deutsche Literaturgeschichte [undatiert], in: DLA A:Walzel. Ebd. – Es erklären sich zur Mitarbeit bereit: Eduard Sievers (Leipzig), Gustav Ehrismann (Greifswald), Berthold Litzmann (Bonn), Ernst Elster (Marburg). Zum kriegsbedingten Scheitern des Projektes s. Oskar Walzel, Wachstum und Wandel. Lebenserinnerungen, aus dem Nachlaß hg. v. Carl Enders, Berlin 1956, S. 18 (noch am 27.7.1914 fragte Franz Saran Oskar Walzel [DLA A:Walzel] nach der buchhändlerischen Anzeige). Von ‚Revolution‘ war die Rede, vgl. Otto Koischwitz, Die Revolution in der deutschen Literaturwissenschaft, Berlin/New York 1926. Zur sachlichen Orientierung s. den Band: König/Lämmert (Hg.), Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte. – Rosenberg, Die deutschen Germanisten, S. 47–51, gibt eine Beschreibung der disziplinären Auffächerung innerhalb der Germanistik. Gumbrecht, Die Macht der Philologie, S. 20. Zur methodischen Vorbildrolle der Kunstwissenschaft s. Jost Hermand, Literaturwissenschaft und Kunstwissenschaft. Methodische Wechselbeziehungen seit 1900, 2., verbesserte Auflage, Stuttgart 1971.
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Zwei Fragen stellen sich: Spiegelt sich die Methodenvielfalt in der Literaturgeschichte? Besitzt der wissenschaftsgeschichtliche Umbruch Konsequenzen für die literarische Produktion? Gewöhnlich wird der poetischen Praxis eine Vorbildrolle für die Wissenschaft zugesprochen und nicht umgekehrt. Die Wissenschaft fasst begrifflich, was der Dichter vorbegrifflich erkannt hat, und entwickelt daran bestenfalls Gesetzmäßigkeiten. Ein solches reagierendes Modell von Wissenschaft, davon ausgehend, dass beide Sphären sauber getrennt nebeneinander existieren, vergisst die Produktivität machtgestützter und institutionell geschützter literarischer Bildung und Wissenschaft für die Entstehung neuer Literatur. Für Philosophie, Bildende Kunst und Musik wäre es ebenfalls aufschlussreich, die Bedeutung der jeweils mit ihnen verbundenen Disziplinen zu bestimmen. Das Komplement von Poesie und ihrer Wissenschaft unterscheidet sich von anderen komplementären Ausprägungen der Spannung von Praxis und Theorie in den Geistes- oder Naturwissenschaften in der Identität des Mediums der Schrift. Aufgrund dieser Identität entsteht für den Wissenschaftler eine Schwierigkeit, gegenüber der poetischen Sprache eine Metasprache zu konstruieren. In der Kunstwissenschaft z. B. ist jede Sprache der Beschreibung und der Kritik des Kunstwerks notwendig eine Metasprache; sowohl in der Literaturwissenschaft als auch in der nicht analytischen Philosophie muss diese erst in deutlicher Abgrenzung gegenüber der Sprache des poetischen Gegenstandes gewonnen werden. Umgekehrt werden termini technici, Narrative, Urteile, Semantiken aus der Disziplin in die dichterische Sprache entlehnt, und wenngleich die Autoren sie idiosynkratisch verwenden, enthalten solche Elemente, wie der Gebrauch von Dichternamen zeigt, disziplinäre Spuren.60 In ihrer Konstituierungsphase hatte die germanistische Disziplin die Gegenwartsdichtung in den Fachmedien und Qualifikationsschriften nicht beobachtet, sondern nur vergangene Literatur. Zu sehr hatte das Paradigma der historischen Nationalphilologie – von den romantischen Philologen über die Brüder Grimm und Karl Lachmann bis zu Wilhelm Scherer – _____________ 60
Rudolf Borchardt und Rilke meinen anderes, wenn sie den Namen Hölderlin verwenden. Hölderlin hatte seit der Studie von Norbert von Hellingrath, Pindarübertragungen von Hölderlin. Prolegomena zu einer Erstausgabe, Jena 1911, eine allgemeine poetologische Aufwertung als Dichter harter Fügung erfahren. Im Litzmann-Kreis wurde Rudolf Borchardt geschult; Rilke orientierte sich an dem von Muncker kommenden Norbert von Hellingrath. Zu Borchardts kritischer, durch Litzmann beeinflusster Rezeption Hölderlins s. Christian Wagenknecht, Rudolf Borchardt und Friedrich Hölderlin, in: Ernst Osterkamp (Hg.), Rudolf Borchardt und seine Zeitgenossen, Berlin/New York 1997 (= Quellen und Forschungen zur Literatur- und Kulturgeschichte, 10), S. 132–142; Hellingraths Arbeiten lehnte Borchardt ab, vgl. Klaus E. Bohnenkamp (Hg.), Rainer Maria Rilke. Norbert von Hellingrath. Briefe und Dokumente, Göttingen 2008 (= CASTRVM PEREGRINI. N. F., 1), S. 18f. – Über Munckers Kritik an Hellingrath informieren seine Briefe an diesen [Württembergische Landesbibliothek Cod. hist. 4° 626, V, 686–690].
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I. Die Dichtung und ihre Disziplin
verheißungsvolle Entdeckungen in der Vergangenheit versprochen; es hatte die politische Leere in der Gegenwart in geschichtlichen Räumen kompensiert, und ihr nationales Phantasma als treibende Kraft des wissenschaftlichen Forschens hatte bürgerliche Gelehrte über die fehlende politische Partizipation getröstet. 61 Nach 1871 half die Germanistik, staatlich legitimiert, die Idee der Nation im öffentlichen Bewusstsein festigen. Noch die erste Schülergeneration Scherers, obzwar von den Junggrammatikern durch eine disziplinäre Spaltung bedroht, konnte am Beginn ihres wissenschaftlichen Wirkens auf öffentliche Zustimmung rechnen, obgleich kritische Stimmen zu hören waren: so von naturalistischer Seite, bisweilen von reaktionären Kräften innerhalb des philologischen Paradigmas, 62 aber auch vom weltliterarischen Standpunkt aus. 63 Das Krisenbewusstsein in der Nationalphilologie 64 zeigte sich um 1910 auf dem Höhepunkt ihrer Geltung. Die Krise war schon deshalb eine andere als jene, in die Nietzsche die Klassische Philologie stürzen wollte, weil die Germanistik eine direkte Verbindung zur deutschen Gegenwartsliteratur herzustellen ermöglichte. Zugleich befand sich ihre Autorität um 1910 in der Defensive, und die Geltung ihrer historischkritischen Methode wurde von der neuen Generation der um 1880 Geborenen in und außerhalb des Faches relativiert; die Vertreter der Wissenschaftsavantgarde gehörten derselben Generation an wie die literarischen Autoren der Moderne, des Expressionismus und der Avantgarden. Umso dringlicher fragt sich, auf welche Weise die „Deutungsmuster und Kanonisierungsprozesse der Literaturwissenschaft […] seit ihrer Etablierung als Disziplin auf die Literatur“ 65 zurückgewirkt haben. _____________ 61 62 63
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Allgemein, das Verhältnis von Historisierung und Nationalisierung in einem europäischen Zusammenhang rückend, s. Gumbrecht, Die Macht der Philologie, S. 90–93; zur Kompensationsthese ebd., S. 88f. Besonders eklatant: Friedrich Braitmaier, Goethekult und Goethephilologie. Eine Streitschrift, Tübingen 1892. Die Nationalphilologie tendiere zur Abwertung fremdsprachiger Literatur, so der von dem disziplinkritischen Germanisten Jonas Fränkel unterstützte spätere Nobelpreisträger Carl Spitteler (Ders., Professor Glauberecht Goethefest Dünkel von Weisenstein über Weltliteratur [1901], in: Ders., Gesammelte Werke, hg. v. Gottfried Bohnenblust/Wilhelm Altwegg/Robert Faesi, Bd. 7: Ästhetische Schriften, hg. v. Werner Stauffacher, Zürich 1947, S. 683-703, bes. S. 686). Vgl. Holger Dainat, Ein Fach in der „Krise“. Die „Methodendiskussion“ in der Neueren deutschen Literaturwissenschaft, in: Otto Gerhard Oexle (Hg.), Krise des Historismus – Krise der Wirklichkeit, Göttingen 2007 (= Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte, 228), S. 247–272. Friedhelm Marx, „Lauter Professoren und Docenten“. Thomas Manns Verhältnis zur Literaturwissenschaft, in: Michael Ansel/Hans-Edwin Friedrich/Gerhard Lauer (Hg.), Die Erfindung des Schriftstellers Thomas Mann, Berlin/New York 2009, S. 85–96, hier S. 95.
1. Moderne Literatur und philologische Bildung
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1.2. Germanistik in produktionsästhetischer Hinsicht Das Philologische meint eine nach wissenschaftlicher Erkenntis strebende Textumgangsform. Als epistemologisches Interesse betrifft es sowohl die kritisch-rezeptive als auch die poetisch-produktive Praxis. Sobald ein solches Interesse in eine Disziplin überführt wird, konzentriert es sich hauptsächlich auf kritische Reflexion und Beobachtung; seine schöpferischen Implikationen werden durch den disziplinären Diskurs begrenzt, der wiederum mit den Methoden anderer Disziplinen korrespondiert. Um 1900 etwa war die philologische Disziplin empirisch und an naturwissenschaftlicher Methodik ausgerichtet. Die Rücksicht auf Wissenschaftskonventionen war ein Grund, weshalb sich die Philologie als Disziplin nicht als Institution poetischer Textproduktion verstand und noch versteht. Dass auch disziplinäre Überführungen des Philologischen möglich sind, die Kritik und Produktion gleichermaßen berücksichtigen, beweisen akademische Schreibwerkstätten. Im neunzehnten Jahrhundert manifestierte sich das Philologische in den Disziplinen der Alt- und Neuphilologie, die vornehmlich Textkritik und Sprachgeschichte betrieben. Als disziplinäres Moment kam es bald in weiteren wissenschaftlichen Praktiken zum Tragen, die bezüglich der deutschsprachigen Literatur in der Germanistik zusammengefasst wurden. Die germanistische Disziplin kann unter Umständen das philologische Interesse in der zeitgleich entstehenden Literatur der Moderne justieren; zu einseitig ist es sicherlich, wollte man jedes philologische Moment, das sich in Texten nachweisen ließe, auf eine disziplinäre Problemstellung zurückführen. Auch gibt es genügend Texte, die kein philologisches Erkenntnisinteresse aufweisen. Trotz dieser Einschränkungen darf seit der durch den Wissenschaftsbetrieb charakterisierten Moderne ein allgemeiner Zusammenhang zwischen der philologischen Disziplin und philologischen Aspekten in der Dichtung angenommen werden, der die poetische Innovation berührt, umso mehr, als sich der avantgardistische Teil der modernen Literatur als Innovationsbewegung versteht. Die philologische Disziplin bringt das literarisch Neue nicht notwendig hervor, aber sie charakterisiert dessen spezifische Eigenart, indem sie den Diskurshorizont umreißt, vor dem die Innovation lesbar wird. Demnach sind Zeiten, die ästhetische Erneuerung zum Prinzip erheben, auch Zeiten, die diesen Horizont sichtbar machen: 66 das grammatisch-philologi_____________ 66
Bereits im dritten vorchristlichen Jahrhundert hatte das Wissen um die Historizität jeglicher neuen poetischen Form die antike Literatur in eine radikale Erneuerungsbewegung versetzt. Vgl. Jürgen Paul Schwindt, Römische „Avantgarden“. Von den hellenischen Anfängen bis zum ‚archaistischen‘ Ausklang. – Eine Forschungsskizze –, in: Ders. (Hg.), Zwi-
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sche Moment in der analytisch-dekompositorischen Praxis des Dadaismus, das historisch-philologische im historischen Roman, das hermeneutisch-philologische im synthetischen Werkbegriff.67 Ab 1910 gewann die literarische Erneuerung programmatisches Ausmaß und ordnete sich in den allgemeinen Entwicklungsgang der europäischen Avantgarden ein, in dessen Fortgang die Kunst als Kunst einer Kritik unterzogen wurde. Im deutschsprachigen Raum waren die der Literatur entsprechenden Wissenschaften selbst in einem Erneuerungsprozess begriffen. 68 Sobald die dichterische Form eine potentiell philologisch konditionierte Form wird, kann der Balanceakt von Produktion und Reflexion als eine Entdeckung der ästhetischen Form verstanden werden. Mit dem komplexen Begriff der Form ist die Summe aller einen Text konstituierenden Merkmale gemeint. Damit aber widmen sich die Dichter einer wichtigen Aufgabe philologischer Kritik als induktiver und hermeneutischer Methode – der Erkenntnis der Form. Als Folge entstehen Texte, die ihre Gemachtheit thematisieren, wobei ein möglicher Weg in der gezielten Zerstörung konventioneller Techniken, Verfahren und Formen besteht. Wenn die Form zum Gegenstand der Kunst wird, dann setzt ein solcher tautologischer Vorgang eine Dynamik der Formerneuerung in Gang, die erst beendet ist, wenn alle Möglichkeiten erschöpft sind. Die These, dass sich das literarisch Neue vor dem disziplinären Horizont artikuliert, lässt sich am dichterischen Umgang mit der Tradition veranschaulichen, welche von der Disziplin verwaltet wird. Die seit der Antike geläufige Opposition von Tradition und Innovation 69 hat im Zuge der Verwissenschaftlichung der philologischen Praxis eine moderne Gestalt angenommen. Das Tradieren, das Autorität generiert, vollzog sich seit dem neunzehnten Jahrhundert im diskursiven Raum der Wissenschaft. Solange Dichter die Disziplin als Sachverwalterin sich pluralisierender literarischer Traditionen 70 und des poetologischen Denkens anerkennen, wird die literarische Erneuerung einen disziplinären Charakter besitzen. _____________ 67
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schen Tradition und Innovation. Poetische Verfahren im Spannungsfeld Klassischer und Neuerer Literatur und Literaturwissenschaft, Leipzig 2000, S. 25–42, hier S. 30. Erste Überlegungen, die analytische und synthetische Methodik in den Sprach- und Literaturwissenschaften mit der immanenten Poetik der Avantgarde zu verbinden bei: Aage A. Hansen-Löve, Zur Periodisierung der russischen Moderne. Die ‚Dritte Avantgarde‘, in: Wiener Slawistischer Almanach 32 (1993), S. 207–264. Vgl. Michael Titzmann, 1890–1930. Revolutionärer Wandel in Literatur und Wissenschaft, in: Richter, Schönert/Titzmann (Hg.), Die Literatur und die Wissenschaften, S. 297–322. Aus altphilologischer Perspektive s. Martin Hose, Der alte Streit zwischen Innovation und Tradition. Über das Problem der Originalität in der griechischen Literatur, in: Schwindt (Hg.), Zwischen Tradition und Innovation, S. 1–24. Den Zusammenhang von Disziplin und Tradition reflektiert in diesem Sinn systematisch Fabian, Kristallographie: Die Entstehung einer Wissenschaft im Spannungsfeld wissen-
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Der bei deutschen Philologen ausgebildete Amerikaner Ezra Pound (1885–1972) 71 veröffentlichte die Ripostes (London 1912, recte 1911), die, um ein Beispiel zu geben, eine Übersetzung der ersten 99 Verse des altenglischen Poems The Seafarer enthalten, für die er sich zuvor mit Eduard Sievers’ Theorie zum angelsächsischen Vers in dessen Altenglischer Grammatik (1882) vertraut gemacht hatte.72 Das Neue entsteht in konkreter Auseinandersetzung mit der Forschung. Moderne Dichtung aus einer Gegenläufigkeit von ‚objektivierender Wissenschaftssprache und poetisierender Sprache‘ 73 zu erklären, überzeugt für Pounds Beispiel gerade nicht, eher besteht eine konstruktive Kommunikation beider Bereiche. Um es nochmals zu betonen: Das Philologische ist nicht nur Teil der Disziplin, sondern als epistemologischer Trieb auf das Engste mit der Poesie verbunden; wenn daher das Philologische verwissenschaftlicht wird, lässt ein solcher Vorgang die Poesie nicht unberührt.74 Der frühe Rilke glaubte, im Deutschen Wörterbuch „alles was in die Sprache einmal eingetreten ist und da ist“ zu finden, ohne zu wissen, dass die nationalphilologische Disziplin, die das Wörterbuchprojekt initiiert hatte, den fremdsprachigen Charakter der deutschen Literatursprache vernachlässigte.75 _____________ 71
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schaftlicher Traditionen, in: Guntau/Laitko (Hg.), Der Ursprung der modernen Wissenschaften, S. 111–126, bes. S. 111f. und 125f. Pound, der an der University of Pennsylvania und am Hamilton College Comparative Literature und Romance Language studiert hatte, begab sich auf Rat seines Lehrers in Pennsylvania, Hugo Rennert (1858–1927), 1906 nach Freiburg zu Emil Levy (1855–1917). Die Begegnung wird in den Cantos gestaltet: Ezra Pound, The Cantos, New York 1996, Canto XX, S. 89. – Vgl. Neda M. Westlake/Francis James Dallett, Ezra Pound and William Carlos Williams Collections at the University of Pennsylvania, in: Daniel Hoffman (Hg.), Ezra Pound & William Carlos Williams. The University of Pennsylvania Conference Papers, Philadelphia 1983, S. 210–245; Charlotte Ward, Pounds Translation of Arnaut Daniel, New York 1990. Auf Englisch: An Old English Grammar, Boston 31903. Vgl. Christine Brooke-Rose, A ZBC of Ezra Pound, London 1971; Fred C. Robinson, ‚The Might of the North‘. Pound’s Anglo-Saxon Studies and ‘The Seafarer’, in: The Yale Review 71.2 (1982), S. 199–224. Hans Blumenberg, Sprachsituation und immanente Poetik, in: Hans Blumenberg, Ästhetische und metaphorologische Schriften. Auswahl und Nachwort von Anselm Haverkamp, Frankfurt a. M. [2001] (= stw, 1513), S. 120–135, hier S. 133. In Anlehnung an Gillian Beer, Plot and the Analogy with Science in Later Nineteenthcentury Novelists, in: Comparative Criticism. A Yearbook 2 (1980), S. 131–149, hier S. 131, 147, wo allgemeiner die Schuld der ‚fiction‘ gegenüber der ‚science‘ in Frage steht. Hinweis bei Julius Petersen, Die Wissenschaft von der Dichtung, Bd. 1, Berlin 1939, S. 216: Rainer Maria Rilke an Lou-Andrea Salomé am 12.5.1904, in: Briefe aus den Jahren 1902–1906, hg. v. Ruth Sieber-Rilke/Carl Sieber, Leipzig 1930, S. 157. Vgl. auch Briefe an seinen Verleger 1906–1926, hg. v. Ruth Sieber-Rilke/Carl Sieber, Leipzig 1934, S. 215f. (3.2.1914), S. 466. Systematisch geht der Frage der produktionsästhetischen Bedeutung des Deutschen Wörterbuches nach Harald Weinrich, Das Wörterbuch als Walfisch, in: Ders., Sprache, das heißt Sprachen. Mit einem vollständigen Schriftenverzeichnis des Autors 1956–2001, Tübingen 2004 (= Forum für Fachsprachen-Forschung, 50), S. 157–167, hier S. 165f. – Rilke nutzte in Paris das Wörterbuch in der Bibliothek des Freundes André Gide.
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Die Möglichkeit, dass die Verwissenschaftlichung des philologischen Interesses in Form der Germanistik in der literarischen Moderne Spuren hinterließ, wurde noch nicht genügend in Erwägung gezogen. Dass etwa ein Bewusstsein für formale Fragen, der damit verbundene Erneuerungsgedanke sowie das Negieren bestehender Traditionen für literarische Autoren und ihre Autorschaftsentwürfe wichtig werden konnten, ist auch auf eine vermehrte Diskussion formaler Fragen an den philologischen Seminaren, aber vor allem auf eine Problematisierung des Kunstwerks qua textkritischer Philologie zurückzuführen. Die Entdeckung, dass der wichtigste deutsche Roman, Wilhelm Meisters Lehrjahre, mit Wilhelm Meisters theatralische Sendung eine Vorstufe besitzt, deren Form mit der vertrauten klassischen im Widerspruch steht, stellt eine solche Irritation dar. Noch als Schüler war Johannes Urzidil, der in Prag ab 1914 Germanistik bei August Sauer studierte, mit dem erst 1911 publizierten ‚Urmeister‘ bekannt geworden. Das Wissen um die alternative Fassung bewegte den Dichter dazu, seine Formbegriffe zu „skrutinieren“ 76. Die historische Relativität der Formensprache war von der historischphilologischen Disziplin zu einem Gemeinplatz der literarischen Bildung geworden, an dem sich die moderne Literatur abarbeitete. Ob George, Hugo von Hofmannsthal, Thomas Mann, Rilke oder die jüngeren Autoren Bert Brecht, Klabund, Albrecht Schaeffer, Ernst Stadler – ihnen allen ist gemeinsam, eine genuin eigene Formensprache entwickeln oder wenigstens ihre eigenen Bedingungen klären zu wollen. Der Gedanke des Reformierens der Dichtersprache erstarkte nicht bloß aufgrund der Einsicht, dass die alten Formen nur für ihre Zeit Gültigkeit besessen hatten. Gleichzeitig meinte man, in der Entwicklung einer neuen Formensprache den Wirklichkeitsgehalt zu füllen bzw. die Dichter wieder an die Wirklichkeit und das Leben rückbinden zu können. Die Ausstellung des künstlerischen Verfahrens bildet ein wesentliches Merkmal innovativer Kunst, wobei die Mittel dazu vielfältig sind. Im Roman, als der Leitgattung der Klassischen Moderne, zeigt sich die Pendelbewegung zwischen Dekonstruktion und Konstruktion anders wirksam als in der Wortkunstlyrik des Sturm-Kreises oder im Verfremdungstheater Brechts. Weiterhin gibt es Werke, die stärker der Tradition des neunzehnten Jahrhunderts verpflichtet sind, indem sich die philologisch-kritische _____________
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– Vgl. zum Deutschen Wörterbuch Theodor Kochs, Nationale Idee und nationalistisches Denken im Grimmschen Wörterbuch, in: Benno von Wiese (Hg.), Nationalismus in Germanistik und Dichtung. Dokumentation des Germanistentages in München [1966], Berlin 1967, S. 273–284. Johannes Urzidil, Im Anlauf der Epoche, in: Josef Halperin (Hg.), Als das Jahrhundert jung war, Zürich/Stuttgart 1961, S. 144.
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Reflexion der poetischen Produktion unterordnet.77 Egal ob sich der Vorgang in einer Negation von Konventionen, als Problematisierung traditioneller Formen, diskursiv, poetologisch, experimentell, als Provokation oder in der Verbindung dieser Mittel artikuliert, charakteristisch dabei ist immer, dass poetologische Reflexion und literarische Produktion füreinander konstitutiv sind und in dieser Verbindung die Struktur des Werks bestimmen. Innovation lässt sich dann als Pendelbewegung zwischen einem dekonstruktiv-kritischen und einem konstruktiv-poetischen Bereich verstehen. Dabei orientiert sich die dekonstruktive Reflexion innerhalb der Poesie an den wissenschaftlichen Methoden, wie umgekehrt wissenschaftliche Verfahren auf die Imagination als ein genuin poetisches Vermögen zurückgreifen müssen. 78 Nach einem solchen Verständnis stehen Produktion und Kritik von Dichtung in dem Maße in einer kommunikativen Situation, in dem beide Seiten auf dasselbe Ziel hinarbeiten und vor einem gemeinsamen Hintergrund arbeitsteilig sprachliche Lösungen als Antworten auf ein Ausdrucksproblem entwickeln. Idealtypisch vereint die komplementären Praktiken die Figur des poeta philologus, dessen Reflexion auf das eigene Verfahren sich ebenso ins Gegenteil verkehren kann, indem er die Poetizität bewusst kaschiert. Sein Widerpart, der naive Dichter bzw. der poeta naturalis, 79 war seit der Antike eine Fiktion, die in der Moderne in Zweifel gezogen wurde. Für das neunzehnte Jahrhundert ist noch die Tendenz zu beobachten, die Gemachtheit der Dichtung zu kaschieren, mit dem zwanzigsten Jahrhundert, im Anschluss an die Romantik, kann die Poetizität programmatisch ausgestellt werden als Signatur von Modernität. Der Dichterphilologe stellt jedoch nur die sichtbarste Form der Pendelbewegung zwischen dem dekonstruktiv-kritischen und dem konstruktivpoetischen Bereich dar. Versteht man die Verbindung thematisch im Sinne eines gemeinsamen Hintergrundes, geraten weitere Formen in den _____________ 77
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Etwa im Roman, der altertumskundliches Wissen verarbeitet, vgl. z.B. Jan Cölln, Philologie und Roman. Zu Wielands erzählerischer Rekonstruktion griechischer Antike im „Aristipp“, Göttingen 1998; Martin Dönike, „Belehrende Unterhaltung“. Altertumskundliches Wissen im antiquarisch-philologischen Roman, in: Ernst Osterkamp (Hg.), Wissensästhetik. Wissen über die Antike in ästhetischer Vermittlung, Berlin/New York 2008 (= Transformationen der Antike, 6), S. 201–237. Besonders im Sammeln von Fragmenten wird nach Gumbrecht, Die Macht der Philologie (Kapitel 2), die Imagination notwendig; er versteht, ebd., S. 19, die meisten philologischen Tätigkeiten als Verlangen nach Präsenz mit der Begründung: „Denn als Vermögen unseres Geistes ist die Vorstellungskraft etwas vergleichsweise Archaisches – und das impliziert, daß sie in spezifischer Nähe zu vielfältigen Funktionen des menschlichen Körpers steht.“ Zur Opposition Dichterphilologe vs. naiver Dichter, angeregt von Jacob Burckhardts Cultur der Renaissance in Italien (1860), s. Hofmannsthal in der Einleitung seiner Dissertation Über den Sprachgebrauch bei den Dichtern der Plejade (Hugo von Hofmannsthal, Gesammelte Werke in zehn Einzelbänden, Bd. 8, Frankfurt a. M. 1979, S. 242–244, hier S. 242).
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I. Die Dichtung und ihre Disziplin
Blick, lassen sich die verschiedensten literarischen Werke analysieren, ohne dass diese explizit auf einen disziplinären Diskurs Bezug nähmen. Das philologische Moment der Poesie – z.B. als poetologische Implikation der dichterischen Sprechsituation, als literaturgeschichtliches Urteil oder Interpretation eines Textes – ist disziplinär überblendet und aus dem Bezug zur jeweiligen Diskussion in der Disziplin rekonstruierbar. Der Raum der institutionalisierten Philologie, wie er sich im neunzehnten Jahrhundert an den Universitäten als Wissensraum ausgebildet hatte, wurde im Laufe dieses Prozesses bald zu einer konkreten Macht, die sogar, worauf nur hingewiesen werden kann, für die literarische Gruppenbildung attraktiv war. Die Kreisbildung um Stefan George orientierte sich an Mustern, wie sie aus dem Wissenschaftsbetrieb bekannt gewesen waren, und seine Jünger waren als Wissenschaftler mit dem Prinzip der Schülerschaft vertraut, 80 weshalb sich das in diesem sozialen Zirkel entworfene, rein ästhetische Meister-Schüler-Verhältnis 81 parodistisch zum Wissenschaftsbetrieb verhielt. George, sich der politischen Dimension seiner künstlerischen Arbeit bewusst, 82 erkannte wiederum, „daß allein die Teilnahme am Wissenschaftsdiskurs die Etablierung seiner ästhetischen Überzeugungen sichern konnte.“83 Die gegenüber anderen Wissenschaften besondere Nähe der germanistischen Disziplin zu ihrem Gegenstand wird in der gemeinsamen Metasprache zur Beschreibung von sprachlichen Artefakten deutlich: Von Kunstwerken, Tragödien, Lyrik und Versen reden auch die Dichter. Bis in die Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts hob sich wissenschaftliche Metasprache nicht prinzipiell von der alltagssprachlichen Rede über Literatur ab. 84 Das antiszientistische Wissenschaftsverständnis der Germanistik ermöglichte, dass sich Nichtgermanisten wie Robert Musil von einem _____________ 80
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Bernhard Böschenstein et al. (Hg.), Wissenschaftler im George-Kreis. Die Welt des Dichters und der Beruf der Wissenschaft, Berlin 2005, bes. Bertram Schefold, Die Welt des Dichters und der Beruf der Wissenschaft, in: ebd., S. 1–34, und Richard Pohle, Max Weber und die Krise der Wissenschaft. Eine Debatte in Weimar, Göttingen 2009, S. 31–38. Vgl. hierzu die essayistische Betrachtung bei George Steiner, Der Meister und seine Schüler, aus dem Englischen v. Martin Pfeiffer, München 2004. Hierzu s. ausführlich Martus, Werkpolitik, S. 514–575. Carola Groppe, Die Macht der Bildung. Das deutsche Bürgertum und der George-Kreis 1890–1933, Köln 1997, S. 624. – Einschlägig: Rainer Kolk, George-Kreis und zeitgenössische Germanistik 1910–1930. Eine Skizze, in: George-Jahrbuch 1 (1996/1997), S. 107– 123; Ders., Literarische Gruppenbildung. Am Beispiel des George-Kreises 1890–1945, Tübingen 1998 (= Communicatio, 17). Es ließe sich einwenden, dass eben jene textkritischen Untersuchungen, aber auch die grammatisch-statistischen Studien des neunzehnten und frühen zwanzigsten Jahrhunderts nur dem Fachpublikum in Terminologie und Darstellungsweise verständlich waren. Dennoch: Gerade der Historiographie der Scherer-Schule war es ein zentrales Anliegen, der Allgemeinheit verständlich zu bleiben.
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Fachmann wie Konrad Burdach über den Minnesang aufklären lassen konnten. 85 Die disziplinäre Terminologie ging zurück auf Grammatik und Rhetorik, auf andere Künste, auf autorisierte Konzepte deutscher Dichter, z. B. Schillers Unterscheidung zwischen naiver und sentimentalischer Dichtung. Die Sprache der philologischen Wissenschaften grenzte sich von der üblichen Schriftform nicht prinzipiell ab, sondern stand zu ihr als deren Perfektionierung in einem graduellen Verhältnis. Zwar wurde die Wissenschaft von Dichtern topisch als Rationalisierung der Lebenswelt kritisiert, aber die Wissenschaftsprosa blieb ein latent ästhetisches Medium, was den Zeitgenossen nicht entging:86 Der blumige Stil der älteren Generation weist auf eine Sprache hin, die sich im künstlerischen Ausdruck steigern kann; 87 Scherer verstand die Literaturgeschichtsschreibung als Form der Kunst, wie auch schon Georg Gottfried Gervinus vom Geschichtskünstler gesprochen hatte.88 Dieses ästhetisch-wissenschaftliche Denken, das der Darstellung des Gegenstandes oberste Priorität beimaß, entsprach dem Wissenschaftsverständnis des neunzehnten Jahrhunderts.89 Neue Wissenschaftskünstler in der Nachfolge Nietzsches wie Gundolf oder Ernst Bertram führten keinen Bruch herbei, sondern erfüllten ein Ideal, das die deutsche Wissenschaftsprosa in sich trug. Weil die Literaturgeschichte „mit Schöpfertum und Schriftstellertum organisch verbunden war“, wurde ihr der „Charakter einer Wissenschaft gemäß der herrschenden Auffassung von Wissenschaft überhaupt oft bestritten“ 90. Dass Leo Spitzer in einem Aufsatz seine wissenschaftliche Autorschaft mit einem _____________ 85
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Musil exzerpierte ausführlich Burdachs Arbeiten Die Entdeckung des Minnesangs und Über den Ursprung des mittelalterlichen Minnesangs, abgedruckt in den Sitzungsberichten der Preußischen Akademie der Wissenschaften (1918/II), vgl. Robert Musil, Tagebücher, hg. v. Adolf Frisé, Bd. 1, Reinbek 1983, S. 507–515, s. auch den Kommentar in: ebd., Bd. 2, S. 327–340. Die Bedeutung für Musils Werk wäre zu analysieren; ein Fingerzeig bei Marie-Louise Roth, Robert Musil. Ethik und Ästhetik. Zum theoretischen Werk des Dichters, München 1972, S. 63. Vgl. Franz Schultz, Die Entwicklung der Literaturwissenschaft von Herder bis Scherer, in: Emil Ermatinger (Hg.), Philosophie der Literaturwissenschaft, Berlin 1930, S. 1–42, hier S. 8. So zeige die Literaturwissenschaft Reflexe jener dichterischen Tendenzen, die neben ihr herliefen. Dadurch gerät sie in die Nähe der Rhetorik, wie Carlos Spoerhase, „Der höhere Panegyrikus“: Erich Schmidts epideiktische Germanistik (1909/1910), in: Zeitschrift für Germanistik. N. F. XX (2010), H. 1, S. 156–168, gezeigt hat. Vgl. Georg Gottfried Gervinus, Geschichte der deutschen Literatur, Bd. 1, Leipzig 41853, S. 8. – Wilhelm Scherer an Ludwig Speidel am 1.4.1880 (Briefe von Wilhelm Scherer. Mitgetheilt von Ludwig Speidel, in: Neue Freie Presse, Nr. 8269, 4.9.1887, S. 1–4, hier S. 2). Für die Geschichtswissenschaften gezeigt hat das Daniel Fulda, Wissenschaft aus Kunst. Die Entstehung der modernen deutschen Geschichtsschreibung. 1760–1860, Berlin 1996 (= European cultures, 7). Schultz, Die Entwicklung der Literaturwissenschaft von Herder bis Scherer, S. 8.
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I. Die Dichtung und ihre Disziplin
lyrischen Ich 91 verglich, ist Ausdruck einer allgemeinen Tendenz, die wissenschaftliche Prosa zu poetisieren: „Der heisse Drang, Persönliches zum Ausdruck zu bringen, ergreift heute auch oft den Wissenschaftler und man hört das Schlagwort, die Wissenschaft, das Universitätskolleg, soll ‚erlebtes‘ geben.“ 92 Das Ideal des schönen Stils, das die wissenschaftliche Metasprache im neunzehnten und in der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts prägte, war den späteren Dichtern und Philologen bereits auf dem Gymnasium als einer vornehmlich literarischen Bildungsanstalt, das die Beherrschung der schriftlichen Rede als oberstes Bildungsziel setzte, vermittelt worden. 1.3. Bildungsgeschichtliche Voraussetzungen Einem Viertel der knapp zehntausend Autoren in Franz Brümmers Lexikon der deutschen Dichter und Prosaisten vom Beginn des 19. Jahrhunderts bis zur Gegenwart in der sechsten Auflage von 1913 kann eine akademische Bildung nachgewiesen werden. 93 Speziell die philologische Bildung wirkte sich auf viele Dichter, die am Ende des neunzehnten Jahrhunderts geboren worden waren, bereits in der Schule aus, konkret im neuhumanistischen Gymnasium, dessen altsprachliche Ausrichtung als verlängerter Arm der Klassischen Philologie in die Praktiken und Gegenstände der Philologie einübte und den Zugang zur Hochschule eröffnete. Ein Gymnasiast, der in der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts die Reifeprüfung ablegte, war für keine andere Disziplin besser vorgeschult worden als für die Philologie – und fast alle wichtigen Autoren des Untersuchungszeitraumes waren Gymnasiasten; wer die Matura nicht hatte, wie Paul Zech, fingierte sie sogar. Erst mit der Bildungsreform von 1900, als noch in Preußen achtzig Prozent aller Abiturienten von einem humanistischen Gymnasium abgingen, wurden andere Gymnasialtypen, die vorher auf Technische Hochschulen zugeschnitten waren, als hochschulzugangsberechtigend anerkannt. 94 Einem Kandidaten der Chemie konnte es 1895 in Göttingen durchaus passieren, dass ein Germanist ihn im Doktorexa_____________ 91 92 93 94
Leo Spitzer, Wortkunst und Sprachwissenschaft, in: Ders., Stilstudien, Bd. 2, München S. 498–536, hier S. 536. Vgl. Elise Richter, Impressionismus, Expressionismus und Grammatik, in: Zeitschrift für romanische Philologie 47 (1927), S. 349–371, hier S. 360f., Anm. 4. Ruth Ehrig, Akademische Bildung und literarische Tätigkeit im 19. Jahrhundert. Statistische Zusammenhänge, in: Wissenschaftliche Zeitschrift der Humboldt-Universität zu Berlin, Reihe Gesellschaftswissenschaften 38 (1989), H. 6, S. 700–705, hier S. 700. Vgl. Fritz Ringer, Die Zulassung zur Universität, in: Walter Rüegg (Hg.), Geschichte der Universität in Europa, Bd. 3, München 2004, S. 199–226, hier S. 204.
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men zwang, aus Cäsar zu übersetzen. 95 Heinrich Mann – Max Weber und Michel Foucault vorwegnehmend – charakterisierte das Gymnasium seiner Zeit als eine „den Menschen auf einmal ganz verschlingende Gewalt“ und einen „unerbittlichen, menschenverachtenden, maschinellen Organismus“ 96. Hasenclevers ‚Sohn‘ wurde durch den ‚Vater‘ mit „der Peitsche die griechische Grammatik gelehrt.“ 97 Die omnipräsente Bildungskritik 98 im Kaiserreich schmälert die bildungsgeschichtliche Bedeutung der gymnasialen Institution keineswegs; 99 sie hebt sie nur umso mehr hervor. Die Forschung hat sich jedoch bislang vor allem der Dichtung des frühen neunzehnten Jahrhunderts, zu selten der des späten gewidmet. 100 Die logozentrische Erziehung war für viele Autoren nolens volens prägend. Aufsatzthemen wie „Inwiefern war Lessing ein Befreier des deutschen Volkes auf dem Gebiete der Dichtkunst?“ können wie im Fall Georg Heyms für die Herausbildung der eigenen rebellischen Autorschaft von Bedeutung werden.101 Ludwig Renn, eigentlich Baron Arnold Vieth _____________ 95
Der Germanist Edward Schröder schreibt in einem Brief an den Kollegen Gustav Roethe (Februar 1895): „Jetzt begeb ich mich in ein 3 3/4stündiges Doctorexamen für 2 Chemiker und eröffne es als Decan, indem ich sie eine halbe Stunde Caesar übersetzen lasse“ (Dorothea Ruprecht/Karl Stackmann, Regesten zum Briefwechsel zwischen Gustav Roethe und Edward Schröder, Göttingen 2000, Nr. 1730 [= Abhandlungen der Akademie der Wissenschaften in Göttingen. Philologisch-Historische Klasse, Folge 3, 237]). 96 Heinrich Mann, Der Untertan. Roman, Leipzig 1918, S. 8f. 97 Walter Hasenclever, Der Sohn. Ein Drama, Leipzig 1917, S. 38. 98 S. York-Gothart Mix, Die Schulen der Nation. Bildungskritik in der Literatur der frühen Moderne, Stuttgart/Weimar 1995. 99 Vgl. Wolfgang Paulsen, Deutsche Literatur des Expressionismus, 2. überarbeitete Auflage, Berlin 1998 [1983] (= Germanistische Lehrbuchsammlung, 40), S. 31–33. 100 Vgl. Georg Jäger, Sozialgeschichte des deutschen Unterrichts an höheren Schulen von der Spätaufklärung bis zum Vormärz, Stuttgart 1981 (= Schule und literarische Kultur, 1); Ders., Der Deutschunterricht auf Gymnasien 1780 bis 1850, in: Josef Kopperschmidt (Hg.), Rhetorik. Wirkungsgeschichte der Rhetorik, Bd. 2, Darmstadt 1991, S. 221–241; Dieter Breuer, Schulrhetorik im 19. Jahrhundert, in: Helmut Schanze (Hg.), Rhetorik. Beiträge zu ihrer Geschichte und Wirkung in Deutschland vom 16. bis zum 20. Jahrhundert, Frankfurt a. M. 1974, S. 119–153, Hans-Henrik Krummacher, Der junge Mörike und die Tradition des Epicediums. Mit einem unbekannten Gedicht auf den Tod der württembergischen Königin Katharina, in: Gabriela Scherer/Beatrice Wehrli (Hg.), Wahrheit und Wort. FS Rolf Tarot, Bern 1996, S. 267–289; Gerhard Schaub, Georg Büchner und die Schulrhetorik. Untersuchungen und Quellen zu seinen Schülerarbeiten, Bern/Frankfurt a. M. 1975 (= Regensburger Beiträge zur deutschen Sprach- und Literaturwissenschaft, Reihe B, 3). – Für das späte neunzehnte Jahrhundert: Theodor Verweyen, Metonymie und Moderne. Ein schulrhetorischer Begriff im Hinblick auf die neuere deutsche Literatur (Benn, Brecht), in: Peter L. Oesterreich/Thomas O. Sloane (Hg.), „Rhetorica movet“. FS Heinrich F. Plett, Leiden 1999 (= Symbola et Emblemata, Bd. IX), S. 381–414. 101 Georg Heym, Dichtungen und Schriften. Dokumente zu seinem Leben und Werk, hg. v. Karl Ludwig Schneider, Bd. 6, Hamburg 1968, S. 380. Die Revolution als ästhetische Geste bei Heym untersucht Ingo Breuer, Die Sprachgebärde des expressionistischen Genies. Über Georg Heyms Inszenierung der „Revolution“, in: Isolde Schiffermüller (Hg.), Geste
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von Golßenau (1889–1979), verschmähte zwar als Arbeiterdichter im Rückblick das Latein: „Ein richtiger Haß hatte sich bei mir gegen die lateinische Sprache entwickelt.“ 102 Das Griechische blieb positive Bezugsgröße, da es die Russophilie motivierte, die nach seiner Offizierslaufbahn im Studium der russischen Philologie feste Formen annahm. 103 Trotz Bildungskritik festigte das Gymnasium den hohen Wert der Poesie, indem es die Schüler mit einer Phantasiewelt bekannt machte, über die sie ihre Gefühle codieren konnten. Als privilegierte Ausdrucksform der Welterfahrung besaß Dichtung einen ausgezeichneten Wert innerhalb der bildungsbürgerlichen Kultur 104 und ihres Erziehungsprogramms. Das schürte unter jungen Dichtern einen inneren Konflikt, weil andererseits eigene Dichtungen gegenüber dem schulisch vermittelten Maßstab defizitär blieben. Dem entsprach die Ausblendung von Gegenwartsdichtung im Schulunterricht, wobei deutsche Literatur an den altsprachlichen Gymnasien ohnehin eine geringere Rolle spielte. Die Diskussion auf dem Marburger Philologentag von 1913 markiert den Moment, an dem von pädagogischer Seite erste Bemühungen unternommen wurden, zeitgenössische Lyrik im Unterricht zu behandeln. 105 _____________
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und Gebärde. Beiträge zu Text und Kultur der klassischen Moderne, Innsbruck 2001, S. 66–88. – Zu Heyms obligatem gymnasialen und akademischen Bildungsweg s. Peter Gust, Georg Heym in der Zirkelbildung des Berliner Frühexpressionismus, in: Wruck (Hg.), Literarisches Leben in Berlin, Bd. 2, S. 7–44, hier S. 9. Ludwig Renn, Meine Kindheit und Jugend, Berlin/Weimar 1971, S. 135. „Nun kam das Griechische dazu. Sofort horchte ich auf. Die Schüler und Lehrer mit ihrem Sächsisch verhunzten die Sprache, sosehr sie konnten. Trotzdem blieb diese Sprache fürs Ohr [anders als das Latein, so Renn (A.N.)] wie geschaffen. Mit Begeisterung lernte ich Formen, ihr Klang entzückte mich. Doch mußte ich feststellen, daß meine Zensuren ebenso schlecht wurden wie im verhaßten Latein“ (ebd., S. 136). Zum Bildungsbürgertum s. Klaus Vondung (Hg.), Das wilhelminische Bildungsbürgertum. Zur Sozialgeschichte seiner Ideen, Göttingen 1976 (= Kleine Vandenhoeck-Reihe, 1420). Vgl. Verhandlungen der zweiundfünfzigsten Versammlung deutscher Philologen und Schulmänner in Marburg vom 29. September bis 3. Oktober 1913, hg. v. Rudolf Klee, Leipzig 1914, S. 87–91. – Der Vorschlag hat allerdings wenig gefruchtet, wie eine Polemik Rudolf Kaysers zeigt. Unter dem Titel Die neuen Dichter in die neue Schule propagierte der bekennende Expressionist und promovierte Germanist Kayser (analog zu den politischen Umwälzungen) 1919 eine ‚Revolution‘ des Deutschunterrichts. Statt ‚alter Bildung‘ sollte in den Schulen neuer Geist unterrichtet werden, statt toter lebendige Autoren, vgl. Rudolf Kayser, Die neuen Dichter in die neue Schule, in: Das Ziel. Jahrbücher für geistige Politik 3 (1919), S. 151–153. Die Forderung ist begründet im politischen Verständnis der Kunstproduktion. Dichtung sei „die Formulierung der Zeit, Darstellung ihres Willens und Menschentums. Irgendwie individualisiert sich im Dichter die Allgemeinheit, wird körperlich im Drama, Roman und Gedicht“. Daher genüge es keinesfalls, das „Werk nur als Abschluß eines seelischen Vorgangs anzusehen; es ist auch ein politischer Akt; denn es ist Beispiel öffentlichen Geistes und Spiegel eines seelischen Typus“ (Rudolf Kayser, Der Weg der neuen Dichtung, in: Das junge Deutschland. Monatsschrift für Theater und Literatur 2 [1919], H. 4/5, S. 109–114, hier S. 109).
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Nicht wenige Autoren unterzogen sich der literarischen Disziplin an den Universitäten des Kaiserreichs, entweder, weil sie tatsächlich den Beruf des Philologen erwählen wollten, 106 oder aber, weil sie große Hoffnungen daran setzten, das Handwerkliche der Schule in höherer Bildung zu überwinden und sich neue, eigene Wege zur Dichtung zu bahnen. Die Belege besuchter Seminare, Übungen und Kollegs geben darüber Auskunft. Nicht zu vergessen ist die didaktische Besonderheit, dass in den Philologien im Unterschied zum Gymnasium, aber auch im Unterschied zu den anderen Disziplinen das Dogmatische zurücktritt gegenüber der selbstständigen Erschließung des historischen Materials und bisweilen der künstlerischen Form in der Seminararbeit. 107 Bei der älteren Generation der Germanisten lernten sie das Handwerk der Text- und Quellenkritik, studierten historische Sprachzustände des Deutschen und hörten literaturgeschichtliche Vorlesungen. Auch wenn manche Zeugnisse den Eindruck erwecken, dass in den Seminaren 108 und Kollegs die Euphorie vieler junger Autoren durch die Pedanterie mancher Professoren schnell versiegte 109 und tatsächlich oftmals das Studium Episode blieb, steht die dichterische Autorschaft in Bezug zur Philologie – auch in anderen europäischen Kulturen, wobei von diesen der Weg oft an deutsche Universitäten führte: so gingen Pound von den USA nach Freiburg, Osip Mandel’štam von Russland nach Heidelberg, Geo Milev von Bulgarien nach Leipzig. 110 _____________ 106 Erhellend aus sozialgeschichtlicher Sicht Levin L. Schücking, Die Herkunft unserer Philologen, in: März 5 (1911), Bd. 4, S. 171–177. 107 Vgl. Paulsen, Die geisteswissenschaftliche Hochschulausbildung, in: Lexis (Hg.), Die allgemeinen Grundlagen der Kultur der Gegenwart, S. 295f. 108 Zu dieser Lehre und Forschung verbindenden Form s. Wilhelm Erben, Die Entstehung der Universitäts-Seminare, in: Internationale Monatsschrift für Wissenschaft, Kunst und Technik 7 (1913), Sp. 1247–1264, 1335–1348; William Clark, On the Dialectical Origins of the Research Seminar, in: History of Sciences 27 (1989), S. 111–154. 109 Vgl. Groppe, Die Macht der Bildung, S. 406–409, und Schlaffer, Poesie und Wissen, S. 222: „Mochte auch eine halbliterarische Neigung zur Literatur den Jüngling zum Studium der Literatur geführt haben, so mußte er bald lernen, sie zu unterdrücken, um seinen Platz im Imperium der Wissenschaft zugewiesen zu bekommen. So wurde aus seiner Vorliebe ein Spezialgebiet“. 110 2VLS (PLOLHYLÿ 0DQGHO·äWDP –1938) studierte zwei Semester bei Fritz Neumann (1854–1934) in Heidelberg ‚altfranzösische Sprache und Literatur‘ (vgl. Ralph Dutli, Ossip Mandelstam: „als riefe man mich bei meinem Namen“. Dialog mit Frankreich. Ein Essay über Dichtung und Kultur, Zürich 1985, S. 240; zu Neumann s. Frank-Rutger Hausmann, ‚Vom Strudel der Ereignisse verschlungen‘. Deutsche Romanistik im ‚Dritten Reich‘, Frankfurt a. M. 2000, S. 176f.), gleichzeitig verfasste er seine Schrift zu François Villon und begann 1911 ein Literaturstudium an der Universität von Sankt Petersburg; François Mauriac (1885–1970) beendete seine Studien in Bordeaux mit der ‚licence‘, ebenso Georges Bernanos (1888–1948) in Paris, Fernando Pessoa (1888–1935) studierte Literatur in Lissabon. Zu dem Bulgaren Geo Milev in Leipzig s. Katerina Kroucheva: ÄǐDzǻ ǙǵǸDzǯ ǵ ǘǭǶǼȃǵǰǾǷǭǿǭǰDzǽǹǭǺǵǾǿǵǷǭǛȆDzǴǭǘǭǶǼȃǵǰǵǮȇǸǰǭǽǵǿDz>*HR0LOHYXQGGLH/HLS]i-
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I. Die Dichtung und ihre Disziplin
Die philologische Bildung ermöglichte es Autoren, jenseits der Disziplin zwischen ihrer Dichtung, kritischer und editorischer Arbeit nahezu spielerisch zu wechseln. Ein Fall, an dem sich das eindringlich studieren lässt, ist Klabund, d. i. Alfred Henschke.111 Der Lyriker, der zugleich Anthologien eigener und fremder Dichtung herausgab, der populäre Literaturgeschichten zur National- und Weltliteratur verfasste und an der Berliner Lessing-Hochschule dozierte, 112 verkörperte wie kaum ein anderer dermaßen unbeschwert den modernen Typus des philologisch gebildeten Dichters. Der 1890 in Crossen geborene und schon 1928 gestorbene Henschke, ein primus omnium, ging nach dem Besuch des Friedrichsgymnasiums in Frankfurt an der Oder – ein älterer Mitschüler war Gottfried Benn – auf die Universität nach München. Zwei Semester, von Winter 1910 bis zum Sommer 1911, studierte er in Berlin, hörte u. a. bei Gustav Roethe die Geschichte der mittelhochdeutschen Literatur, bei Ludwig Geiger Italienische Kultur und Literatur der Renaissance, bei Max Dessoir Ästhetik und Psychologie, germanische Mythologie bei Richard M. Meyer, bei Wölfflin das Beschreiben von Bildwerken sowie diverse Veranstaltungen bei Georg Simmel, darunter im Sommer Kulturprobleme der Gegenwart. 113 In München, wo er zum engen Kreis um Artur Kutscher zählte und ab dem Sommer 1913 wegen seiner Lungenkrankheit beurlaubt wurde, studierte er ab Winter 1911, mit kurzer Unterbrechung in Lausanne im Sommer 1912. Seine wichtigsten Lehrer wurden neben Kutscher Franz Muncker, Hermann Paul und Fritz Strich. Bei Muncker hörte er im Winter 1911 die Geschichte der deutschen Literatur seit Goethes Tod, bei Paul die Geschichte der deutschen Literatur im Mittelalter, bei Strich besuchte er Übungen zu Schiller. 114 Klabund konzipierte seinen Kritikbegriff und _____________ 111 112
113 114
JHU *HUPDQLVWLN@¶ LQ ǞǯDzǿǸǭǺǭ ǕǯǭǺǻǯǭ HW DO +J ǕǾǿǻǽǵȌǿǭ ǵ ǷǺǵǰǵǿDz Ƿǭǿǻ ǼǽǵȌǿDzǸǾǿǯǻǞǮǻǽǺǵǷǯǼǭǹDzǿǺǭǙǵǿǷǻǘǭȄDzǯ6RILD6 618–630. Vgl. Frieder von Ammon, Deutsche Schriftsteller als Frühneuzeitgermanisten, in: Marcel Lepper/Dirk Werle (Hg.): Entdeckung der frühen Neuzeit. Konstruktionen einer Epoche der Literatur- und Sprachgeschichte seit 1750, Stuttgart 2011, S. 201–226, hier S. 222–224. Klabunds Deutsche Literaturgeschichte in einer Stunde (1920) und die kurz darauf erschienene Geschichte der Weltliteratur in einer Stunde (1922) reihen sich ein in die Serie allgemein verständlicher und kursorischer Darstellungen zu allen möglichen Wissensgebieten, die der Leipziger Verlag Dürr & Weber betreute (Klabund, Deutsche Literaturgeschichte in einer Stunde. Von den ältesten Zeiten bis zur Gegenwart, Leipzig 1920; Ders., Geschichte der Weltliteratur in einer Stunde, Leipzig 1922). Anfang 1922 griff Klabund auf Teile des Manuskripts seiner Weltliteratur zurück, die er benötigte, um an der Berliner Lessing-Hochschule als Dozent sechs ‚Vorlesungen über die östlichen, antiken, romanischen, germanischen und slawischen Literaturen‘ zu halten. Klabund, „Ich würde sterben, hätt ich nicht das Wort …“, hg. v. Martina Hanf/Helga Neumann, Berlin 2010 (= Archiv-Blätter, 21), S. 165. HU UA Abgangszeugnis Alfred Henschke vom 7.10.1911, Matrikel 692.101. LMU UA Belegbogen Stud. BB. 339 Winter 1911/12, Alfred Henschke.
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seine spätere asiatische Formen 115 integrierende Dramenpoetik während seines Studiums. Zahlreiche andere Autoren, die im letzten Drittel des neunzehnten Jahrhunderts geboren worden waren, beteiligten sich zumindest zeitweise, mehr oder weniger sichtbar, an dem Projekt, die Scheidung von disziplinärer philologischer Reflexion und idiosynkratischer dichterischer Produktion aufzuheben. Angeregt wurden sie nicht allein von den Reformern innerhalb der Disziplin. Zwar steht außer Zweifel, dass Wissenschaftskünstler wie Gundolf und jene Wissenschaftler, die sich für die Gegenwartsliteratur interessierten, angehende Dichter eher ansprachen. Aber gerade jene Professoren, die sich in den Grenzen ihrer historisch-philologischen Disziplin bewegten – wie August Sauer in Prag, Franz Muncker und Hermann Paul in München oder Erich Schmidt und Gustav Roethe in Berlin, Max Freiherr von Waldberg in Heidelberg oder Albert Köster in Leipzig –, haben deshalb nicht minder die deutsche Literaturgeschichte geprägt. Sie verkörperten die historisch-philologische Disziplin gleichsam als die alte Schule. Nicht nur haben sie wie Schmidt zahlreiche Lektoren und philologische Feuilletonisten 116 ausgebildet; sie vermittelten als akademische Autoritäten Techniken und Methoden, vor allem literaturgeschichtliche Deutungsmuster. Philologische und germanistische Studien sind von vielen deutschsprachigen Autoren bezeugt. 117 _____________ 115 Vgl. Ingrid Schuster, Klabund und die Sinologen, in: Dies., Faszination Ostasien. Zur kulturellen Interaktion Europa-Japan-China. Aufsätze aus drei Jahrzehnten, Frankfurt a. M. 2007 (= Kanadische Studien zur deutschen Sprache und Literatur, 51), S. 13-21. 116 Nach einem Wort von Hugo von Hofmannsthal, Der Schwierige. Lustspiel in drei Akten [1921], in: Ders., Gesammelte Werke in zehn Einzelbänden, Bd. 4: Dramen IV, Frankfurt a. M. 1979, S. 330–439, hier S. 383. 117 Wenn nicht anders in der Fußnote vermerkt, beruhen die Daten auf Walther Killys Literaturlexikon. Es wird nicht genau geschieden zwischen Literatur, Philologie, Germanistik, Literaturgeschichte usf.: Henry Benrath (1882–1949), d. i. Albert Heinrich Rausch, deutsche und romanische Philologie in Gießen, Berlin, Paris, Genf (vgl. Christian Hartmeier, Albert H. Rausch – Henry Benrath – ein vergessener Dichter?, Friedberg 2002, S. 12); Werner Bergengruen (1892–1964) Literaturgeschichte in Marburg, München, Berlin; Franz Blei (1871–1942) Literaturgeschichte in Zürich (vgl. Detlev Steffen, Franz Blei [1871–1942] als Literat und Kritiker der Zeit, Diss. Göttingen 1966, S. 4); Karl Theodor Bluth (1892–1964) Literaturgeschichte in Bonn, Berlin, Jena; Paul Boldt (1885–1921) Kunstgeschichte, Germanistik in München, Marburg, Berlin (vgl. Wolfgang Minaty, Paul Boldt und die „Jungen Pferde“ des Expressionismus: Erotik, Gesellschaftskritik und Offenbarungseid, Stuttgart 1976 [= Stuttgarter Arbeiten zur Germanistik, 230]), S. 6); Kasimir Edschmid Romanistik in München, Paris; Hans Ehrenbaum-Degele (1889–1915) Germanistik in Berlin, Heidelberg; Ludwig von Ficker (1880–1967) Germanistik, Kunstgeschichte in Innsbruck; Otto Flake (1880–1963) Philologie in Straßburg; Felix Grafe (1888–1942) Philologie in Wien, München; Viktor Hadwiger (1878–1911) Literaturgeschichte in Prag; Ferdinand Hardekopf (1876–1954) Philologie in Leipzig, Berlin; Hans Hennecke (1897–1977) Philologien in Heidelberg, Berlin, Göttingen; Franz Hessel (1880–1941) Literaturgeschichte in München; Hanns Johst (1890–1978) Literaturgeschichte in Leipzig München, Wien und Berlin; Her-
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I. Die Dichtung und ihre Disziplin
Nicht nur für Avantgardisten wie den Dadaisten Hugo Ball (1886– 1927), der nach dem Besuch des humanistischen Gymnasiums zwischen 1906 und 1910 in München und Heidelberg studierte, 118 oder den expressionistischen Theoretiker Ludwig Rubiner (1881–1920),119 scheute sich die bisherige Forschung, die Bedeutung der philologischen Bildung zu erörtern. Auch konservative Dichter wie Ernst Lissauer (1882–1937) 120 wurden auf ihre Bildungswege kaum befragt. Die philologische Bildung der Dichter wurde an den Universitäten zum Teil durch eigenständige wissenschaftliche Arbeit fortgesetzt,121 wo_____________
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mann Kesten (1900–1996) Germanistik, Geschichte in Frankfurt am Main; Hans Kyser (1882–1940) Germanistik in Berlin; Oskar Loerke (1884–1941) Philologie in Berlin; Friedrich Murnau (1888–1931) Philologie in Heidelberg, Berlin; Heinrich Nowak (1890–1955) Literaturgeschichte in Wien; Rudolf Pannwitz (1881–1969) Klassische Philologie, Sanskrit in Marburg; Erwin Piscator (1893–1966) Literaturgeschichte in München, Marburg; Joseph Roth (1894–1939) Germanistik in Lemberg, Wien; Thassilo von Scheffer (1873–1951) Philologie in Straßburg, Königsberg, Freiburg; René Schickele (1883–1940) Literaturgeschichte in Straßburg, München, Paris, Berlin; Johannes Schlaf (1862–1941) Germanistik in Halle, Berlin; Friedrich Alfred Schmid Noerr (1877–1969) Germanistik in Heidelberg, Freiburg, Straßburg, Berlin; Emil Strauß (1866–1960) Germanistik in Berlin, Freiburg, Lausanne; Arnold Ulitz (1888–1971) Germanistik in Breslau; Johannes Urzidil (1896–1970) Germanistik in Prag; Alfred Vagts (1892–1986) Philologie in München; Melchior Vischer (1895– 1975) Germanistik in Prag; Frank Wedekind (1864–1918) Literatur in Lausanne; Konrad Weiß (1880–1940) Germanistik in Freiburg, München. Ball hörte (Wi 1907/08, So 1908) u. a. bei Max von Waldberg (Goethes Italienische Reise, Deutsche Übungen, Geschichte und Technik des modernen Dramas), Robert Petsch (Allgemeine Geschichte des deutschen Dramas), vgl. Ernst Teubner, Hugo Ball (1886–1986). Leben und Werk, Berlin 1986, S. 59f. Vgl. HU UA Abgangszeugnis von Ludwig Rubiner vom 19.7.1915. Im Sommer 1903 besuchte Rubiner Meyers Methode und Aufgabe der vergleichenden Literaturgeschichte, des Weiteren Veranstaltungen bei Wölfflin, Dessoir und Simmel. – Zu Rubiner s. Klaus Petersen, Ludwig Rubiner. Eine Einführung mit Textauswahl und Bibliographie, Bonn 1980 (= Abhandlungen zur Kunst-, Musik- und Literaturwissenschaft, 261), S. 8. Im Sommer 1905 hörte Ernst Lissauer – teilweise zusammen mit Lion Feuchtwanger und Albrecht Schaeffer – Munckers Vorlesung zur ‚Geschichte der deutschen Literatur im Zeitalter Grillparzers, Platens‘ und besuchte bei selbigem Übungen zu Schillers Lyrik; bei Hermann Paul Übungen zu Wolframs Parzival (Lissauer schreibt ‚Parsifal‘). Er hörte bei Riehl über Kunstgeschichte (‚Von Dürer bis Rembrandt‘), bei Friedrich von der Leyen saß er im Mittelhochdeutschkurs für Anfänger (Belegblatt der besuchten Vorlesungen im Sommersemester 1905, Ernst Lissauer: UA München Stud. BB. 221). Vgl. auch UA Leipzig Ernst Lissauer, Sittenzeugnis 1902 (22.April); im Winter 1901/02: Gotische Grammatik (Sommer), Geschichte der deutschen Literatur des 19. Jahrhunderts (Köster), Einführung in das kulturgeschichtliche Verständnis des 19. Jahrhunderts (Lamprecht). Vgl. die Dissertationen von Paul Alverdes (1897–1979), Der mystische Eros in der geistlichen Lyrik des Pietismus (1921); Hanns Braun (1893–1966), Grillparzers Verhältnis zu Shakespeare; Carl Busse (1872–1918), Novalis’ Lyrik (1898); Bernhard Diebold (1886–1945), Das Rollenfach im deutschen Theaterbetrieb des 18. Jahrhunderts (1913); Cäsar Flaischlen (1864–1920), Otto Heinrich von Gemmingen (1890); Bruno Frank (1887–1945), Gustav Pfizers Dichtungen (1912); Friedrich Huch (1872–1913), Ueber das Drama The Valiant Scot By J.W. Gent, London 1637 (1901); Erich Kästner (1899–1974), Friedrich der Große und die deutsche Literatur (1925); Rudolf
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bei auch Fälle nicht fertiggestellter oder nicht angenommener Qualifikationsschriften zu berücksichtigen sind wie derjenige Walter Hasenclevers (1890–1940), der in Leipzig Germanistik studiert hatte und in der Geschichtswissenschaft eine medienhistorische Dissertation einreichte. 122 Hasenclevers Fall erinnert zudem daran, dass sich ein germanistisches Interesse mit anderen Disziplinen berühren kann. Ein prominentes Beispiel dafür stellt der Muncker-Schüler Lion Feuchtwanger dar, der zwar in der Germanistik über Heinrich Heines Fragment „Der Rabbi von Bacherach“. Eine kritische Studie (1907) promoviert worden war, aber sich auch als Historiker verstand.123 Der Zusammenhang zwischen Dissertationsthema und poetischer Praxis ist auf den ersten Blick nicht immer erkennbar. Feuchtwanger wurde als Romanautor bekannt, hatte aber als Dramatiker begonnen. Zu fragen wäre, welche Funktion die auch gattungstheoretische Probleme berührende Dissertation für diesen Wandel seiner Autorschaft besaß. Bei anderen Autoren liegen die Dinge deutlicher zu Tage. Der im Krieg gefallene Dramatiker Walter Flex (1887–1917) nutzte die bei Elias _____________ Kayser (1889–1964), Arnims und Brentanos Stellung zur Bühne (1914); Kurt Kersten (1891– 1962), Voltaires Henriade in der deutschen Kritik vor Lessing (1914); Martin Kessel (1901–1990), Studien zur Novellentechnik Thomas Manns (1925); Lili Körber (1890–1982), Die Lyrik Franz Werfels (1925); Adam Kuckhoff (1887–1943), Schillers Theorie des Tragischen bis zum Jahre 1784 (1912); Edwin Maria Landau (1904–2001), Karl Wolfskehl. Stilkritische Untersuchung seiner Lyrik (1928); Wilhelm Lehmann (1882–1968), Das Präfix uz- besonders im Altenglischen (1905); Rudolf Majut (1887–1981), Farbe und Licht im Kunstgefühl Georg Büchners (1912); Kurt Pinthus (1886–1975), Die Romane Levin Schückings. Ein Beitrag zur Geschichte und Technik des Romans (1910); Eugen Roth (1895–1976), Das Gemeinschaftserlebnis des Göttinger Dichterbundes (1922); Wilhelm von Scholz (1874–1969), Annette von Droste-Hülshoff als westfälische Dichterin (1897); Willy Seidel (1887–1934), Die Natur als Darstellungsmittel in den Erzählungen Theodor Storms (1911); Fritz Usinger (1895–1982), Die französischen Bezeichnungen des Modehelden im 18. und 19. Jahrhundert (1921); Karl Wolfskehl (1869–1948), Germanische Werbungssagen; Stefan Zweig (1881–1942), Die Philosophie des Hippolyte Taine; Otto Zur Linde (1873–1938), Heinrich Heine und die deutsche Romantik (1899). 122 Hasenclever reichte eine nicht angenommene Dissertation bei Karl Lamprecht ein, vgl. Christa Spreizer, Karl Lamprecht und Walter Hasenclever, in: Karl-Lamprecht-Rundbrief 1 (1997), S. 18–25, und Sabine Durchholz, Die Fundgeschichte von Walter Hasenclevers Dissertation „Die Entwickelung der Zeitschrift ‚Die Gesellschaft‘ in den 80er Jahren. Ein Beitrag zum physiologischen Impressionismus“, in: Jürgen Egyptien (Hg.), Literatur in der Moderne. Jahrbuch der Walter-Hasenclever-Gesellschaft 6 (2008/2009), S. 97–102. Die Dissertation ist abgedruckt in ebd., S. 103–194. 123 Historisch-philologisches Wissen war ihm Mittel der poetischen Praxis. Philologie diente ihm dabei als eine Art Präzisionswerkzeug. In seinen ‚Erlebnissen‘ Der Teufel in Frankreich nennt Feuchtwanger die Verbindung von Geschichte und Philologie als kennzeichnend für sein Schreiben, die beiden Disziplinen als „Arten geistiger Betätigung“ (Lion Feuchtwanger, Der Teufel in Frankreich. Erlebnisse. Mit einem Nachwort von Alfred Kantorowicz, Rudolstadt 1954, S. 172) verstehend, wobei die Geschichte als „Sinngebung des Sinnlosen“ (ebd.) die hermeneutisch-inhaltliche Seite betrifft, die Philologie die methodisch-formale. Sie sei das Medium eines Willens „zur Schärfe und Präzision des Ausdruckes“ (ebd., S. 173), der im Dienst der historischen Sinngebung stehe.
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I. Die Dichtung und ihre Disziplin
von Steinmeyer in Erlangen entstandene Arbeit Die Entwicklung des tragischen Problems in den deutschen Demetriusdramen von Schiller bis auf die Gegenwart (1912) zur Klärung dramentheoretischer Fragen. 124 Vom Kollegbesuch, ob nun bei Thomas Mann, 125 Rilke126 oder August Stramm 127, über den vorzeitigen Studienabbruch bei George, der von 1889 bis 1890 bei Adolf Tobler romanische Philologie 128 studiert hatte, bis zur zurückgezogenen Habilitation wie bei Hugo von Hofmannsthal 129 gab es die unterschiedlichsten philologisch-disziplinären Kontaktformen für die oft im humanistischen Gymnasium philologisch vorgebildeten Autoren. Die Auseinandersetzung mit divergenten Tradierungsweisen des literarischen Wissens war Teil dichterischer Bildung und konstitutiv für die poetische Autorschaft, wobei die Autoren, die sich in Kollegs und Seminaren, in Qualifikationsschriften mit Literatur befassten, ein relativ verbindliches literarhistorisches Wissens miteinander teilten. Im folgenden Exkurs soll zudem gezeigt werden, wie sich die philologische Formation über das Verlagswesen ihre Einflusssphäre in der breiteren literarischen Öffentlichkeit sicherte. _____________ 124 Zu von Steinmeyer s. Margot Thye, Elias von Steinmeyer (1848–1922). Germanist und Vorstand der Bibliothekskommission in Erlangen, Erlangen 1997 (= Schriften der Universitätsbibliothek Erlangen-Nürnberg, 32). Vgl. Walter Flex an Elias v. Steinmeyer [UB Erlangen Ms 2616] und Konrad Flex, Walter Flex. Ein Lebensbild, Stuttgart 1937. 125 Zu Thomas Manns Wintersemester an der Münchener Technischen Hochschule vgl. Ders., Collegheft 1894–1895, hg. v. Yvonne Schmidlin/Thomas Sprecher, Frankfurt a. M. 2001 (= Thomas-Mann-Studien, 24) sowie die Rezension von Heinrich Detering, Der Fürst im Hörsaal. Selbstporträt des Zauberers als Gaststudent: Thomas Manns „Collegheft 1894– 1895“, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, Nr. 258 vom 6.11.2001, S. L12. 126 Rilke hatte im Winter 1895/96 deutsche Literaturgeschichte bei dem befreundeten Sauer gehört, dessen Frau Hedda Dichterin und Generationsgenossin des Prager Dichters war. Sauer, dem der frühe Gedichtband Mir zur Feier (1899) zugeeignet ist, verhalf dem Dichter zu Stipendien, vgl. Ingeborg Schnack, Rainer Maria Rilke. Chronik seines Lebens und seines Werkes. 1875–1926, Frankfurt a. M. 2009, S. 347, 366. – Zu Rilkes und Sauers Auseinandersetzung zu Stifter s. Joseph Metz, „Eine eigentliche Durchdringung“. Literary and national identity, gender, and body in Rilke’s “Stifter Letter” to August Sauer, in: The German Quarterly 76 (2003), Nr. 3, S. 314–328. Zu Sauer s. Steffen Höhne (Hg.), August Sauer (1855–1926). Ein Intellektueller in Prag zwischen Kultur- und Wissenschaftspolitik, Köln/Weimar/Wien 2011. – Auch für das Verständnis Hölderlins suchte Rilke Kontakt zur Philologie, vgl. Bohnenkamp (Hg.), Rainer Maria Rilke. Norbert von Hellingrath. 127 Stramm beantragte einen Hospitantenschein für Meyers Kolleg Über Methode und Aufgabe der vergleichenden Literaturwissenschaft (So 1907), vgl. Stramms Brief an seine Frau (23.4.1907) in August Stramm. Fünfundzwanzig Briefe an seine Frau. Herausgegeben von Lothar Jordan, in: J[eremy] D. Adler/J. J. White (Hg.), August Stramm. Kritische Essays und unveröffentlichtes Quellenmaterial aus dem Nachlaß des Dichters, Berlin 1979 (= Publications of the Institute of Germanic Studies, University of London, 25), S. 128–152, S. 128f., hier S. 128. 128 Vgl. Lutz Kube, Stefan George und die Berliner Universität, in: Wissenschaftliche Zeitschrift der Humboldt-Universität zu Berlin, Reihe Gesellschaftswissenschaften 38 (1989), H. 6, S. 639–646. 129 S. König, Hofmannsthal. Ein moderner Dichter unter den Philologen, S. 49–55.
1. Moderne Literatur und philologische Bildung
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EXKURS: Zur literarischen Kultur des Insel Verlags Die philologische Grundierung der literarischen Kultur kennzeichnete nicht nur das Bildungswesen, sondern auch das Verlagswesen, wo die Philologie in den Dienst für Klassikereditionen genommen wurde. Das historisch-philologische Paradigma mit seiner Ausrichtung auf den einzelnen Autor prägte wie kaum einen anderen Verlag, der programmatisch der schönen Literatur verpflichtet war, den Leipziger Insel Verlag. Sein Leiter Anton Kippenberg begriff ihn als wesentliches Element der literarischen Kultur in der Moderne. Der Insel Verlag wurde 1901 gegründet und war hervorgegangen aus einem Zeitschriftenprojekt um den etablierten Schriftsteller Otto Julius Bierbaum, den Architekturstudenten und Dichter Rudolf Alexander Schröder sowie seinen Cousin, den wohlhabenden Alfred Walter Heymel. Er gewann seine eigentliche kulturelle Mission, 130 als Heymel die Verlagsleitung Anton Kippenberg übertrug. Von 1905 an, zunächst noch mit Carl Ernst Poeschel, ab 1906 im Alleingang und unterstützt durch seine Frau, führte Kippenberg den Verlag durch das Kaiserreich, die Weimarer Republik und den nationalsozialistischen Staat in die Bundesrepublik und indirekt die DDR. 131 Betrachtet man das Verlagsprogramm, das Anton Kippenberg betreut hat, können wenigstens vier Bereiche voneinander getrennt werden, auf welche sich die hauptsächlich schöne Literatur verteilt und die die spezifische Moderne des Insel Verlages konstituieren: erstens die kanonische Weltliteratur und die Weltliteratur der Gegenwart; zweitens die nationalliterarische Klassik, von deren Rändern während des Ersten Weltkrieges und im Nationalsozialismus besonders in der Insel-Bücherei eine nationale Sendung ausging; 132 drittens eine mit der Germanistik konforme oder gar von ihr sanktionierte Gegenwartsliteratur.133 Von politischen Schwankun_____________ 130 Vgl. Anton Kippenberg an Hugo von Hofmannsthal, 1.12.1906, in: Gerhard Schuster, Hugo von Hofmannsthal. Briefwechsel mit dem Insel-Verlag 1901–1929, in: Archiv für Geschichte des Buchwesens 25 (1984), Sp. 2–1090, hier Sp. 206f. Zum ‚Kulturbuch‘ als Massenbuch s. Marion Janzin/Joachim Güntner, Das Buch vom Buch. 5000 Jahre Buchgeschichte, Hannover 32007, S. 381–398. 131 S. Bernhard Zeller (Hg.), Die Insel. Eine Ausstellung zur Geschichte des Verlages unter Anton und Katharina Kippenberg, Marbach 1965; Heinz Sarkowski, Der Insel Verlag. Eine Bibliographie 1899–1969, Frankfurt a. M./Leipzig 1999; Ders., Der Insel Verlag. Eine Bibliographie, Frankfurt a. M./Leipzig 1999. 132 S. Heinz Sarkowski, Fünfzig Jahre Insel-Bücherei, s. l. s. a. [1962]. 133 Darunter Rilke mit siebzig Titeln, Albrecht Schaeffer mit sechsundzwanzig, Ricarda Huch mit zwanzig und Rudolf Alexander Schröder mit siebzehn Titeln, zahlreichen Nachworten, Übersetzungen und Herausgaben. – Oskar Walzel, Österreicher des Insel-Verlags, in: Katharina Kippenberg (Hg.), Navigare necesse est. FS Anton Kippenberg, Leipzig 1924, S. 69–88, hat zudem auf den hohen Anteil österreichischer Autoren hingewiesen.
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I. Die Dichtung und ihre Disziplin
gen und Marktbedürfnissen auszunehmen ist der letzte und vierte Bereich zu Goethe, der allein mit 74 Titeln im regulären Programm alles andere quantitativ und in textkritischer Hinsicht qualitativ überragt. Seit Lachmanns Übertragung textkritischer Verfahren der Klassischen Philologie auf Lessing, spätestens aber mit dem Plädoyer, auch Goethes Schriften und Drucke philologisch zu erschließen, 134 war mit der Germanistik eine Kulturmacht entstanden, die den Kanonisierungsprozess auch neuerer Autoren beeinflusste. Buchmarkt und Literaturkritik mussten ab der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts zunehmend die germanistische Disziplin als die maßgebliche Instanz anerkennen, die entschied, was kanonisch ist in der deutschen Literaturgeschichte. Wer zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts, als Ausgaben zu den seit 1867 gemeinfreien Klassikern boomten, 135 Goethes Werk verlegen wollte, konnte sich gegen die Konkurrenz behaupten, wenn er mit der Disziplin, die Goethes Nachlass seit 1885 von Weimar aus verwaltete, auf gutem Fuß stand. Erich Schmidts sechsbändige, von der Goethe-Gesellschaft subventionierte Volksausgabe, 136 die 1909 im Insel Verlag erschien, die Ausgabe von Goethes Briefen an Frau von Stein, vor allem die groß angelegte Goethe-Welt-Ausgabe, die Kippenberg mitherausgab, zeigen das stete Ineinander von Verlagsleitung und disziplinärer Germanistik. Dass Kippenberg einer der bedeutendsten Goethe-Sammler des zwanzigsten Jahrhunderts war, verleiht seinen verlegerischen Aktivitäten umso größere Kohärenz. Der Insel Verlag wurde zum Sprachrohr der Goethe-Philologie, wobei er ideell Cottas einstige Hoheit über die Werke Goethes beanspruchte. 137 Die von Kippenberg vertretene Form der Philologie kennzeichnet sich dadurch, dass sie sich in den Dienst des Autors stellt, um ihn nach seinem Tod vor der unsachgemäßen Verbreitung seines Werkes zu schützen und sein Fortleben in der Kultur zu sichern. Zwar förderte Insel auch zeitgenössische Autoren, wie es besonders Heymel gewollt hatte, aber Kippenbergs ‚Lotse‘ 138 blieb Goethe. Kippenberg, der seine wissenschaftliche Karriere mit der Präsidentschaft der Goethe-Gesellschaft krönte, richtete seinen Verlag eben nicht nur auf den Autor Goethe aus, sondern auf die Wissenschaft, die ihn hervorgebracht hatte. _____________ 134 Michael Bernays, Einleitung, in: Der junge Goethe. Seine Briefe und Dichtungen von 1764–1776. Mit einer Einleitung von Michael Bernays, Teil 1, Leipzig 1875, S. VI. 135 Vgl. Sarkowski, Der Insel Verlag 1899–1999, S. 80. 136 Vgl. ebd., S. 81f. 137 Eine solche These legt die Argumentation nahe von Georg Witkowski, Von Hempel bis Wilhelm Ernst, in: Navigare necesse est, S. 89–102. 138 Anton Kippenberg, Poeschel & Kippenberg, in: FS Carl Ernst Poeschel, Leipzig 1934, S. 72–79, hier S. 76.
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Was für Goethe sofort einleuchtet, die Zusammenarbeit des GoetheLiebhabers Kippenberg mit der für Goethe zuständigen Disziplin, lässt sich auch für die anderen 350 Titel139 aus der deutschen Literaturgeschichte von Walther von der Vogelweide bis Heinrich Heine ausmachen. Von den annähernd zweitausend literarischen Titeln weisen wenigstens 120 eine Beteiligung durch berufsmäßige Philologen auf wie Ernst Beutler (3), 140 Jonas Fränkel (5), Max Hecker (19), André Jolles (6) Albert Köster (13), Albert Leitzmann (14), Paul Merker (5), Julius Petersen (15),141 Erich Schmidt (6), Carl Schüddekopf (6), Franz Schultz (3), Hans Wahl (16), Oskar Walzel (9) und Georg Witkowski (8). Nimmt man die Lektoren, Kippenberg selbst und die Einzelbeiträger hinzu, die promoviert waren, kommt man mit Sicherheit auf weitere hundert, so dass ein Zehntel des Verlagsprogramms philologisch, d. h. hier germanistisch sanktioniert war. Kippenberg, der bei seinem lebenslangen Freund Köster in Leipzig mit einer Arbeit über Die Sage vom Herzog von Luxemburg, einem Gegenstück zur Faustsage, promoviert worden war, hatte diesen Akt disziplinärer Initiation ernst genommen. Das lässt sich an dem für einen Verleger um 1900 außergewöhnlichen Bildungsgang ersehen. Das Bremer Gymnasium hatte Kippenberg auf Wunsch des Vaters in der Untersekunda für eine Verlegerausbildung aufgegeben, womit ihm eigentlich der Hochschulzugang verwehrt war. In Leipzig fand sich eine, anscheinend auf Kippenberg eigens zugeschnittene Ausnahmeregelung. Zwei Ordinarien mussten für ihn bürgen, Kippenberg aber durfte sein Studium nur mit summa cum laude und den Bestnoten in den Prüfungen bestehen. Kippenberg, der neben dem Studium für den Wissenschaftsverlag Wilhelm Engelmann arbeitete, war ein Risiko eingegangen, das sich auszahlte. Er fand in der Germanistik, besonders der Leipziger, seine wichtigsten Verbündeten für die spätere Verlegertätigkeit, darunter den einflussreichsten Germanisten zwischen 1920 und 1940, Julius Petersen. Der Stolz, ein Schüler Kösters zu sein, wird im Rekurs auf die Methode, die von Köster vermittelt worden war, deutlich. So unklar dieser Begriff heute scheint, diskurspragmatisch war ‚Methode‘ gleichbedeutend mit strengster Wissenschaft: „Mit strengster Methode und größter Ehrfurcht vor dem Wort, die er seinen Schülern immer wieder einflößte“, so Kippenberg über Köster, _____________ 139 Die Zahl ist vorläufig und beruht auf einer Zählung nach dem Register in Sarkowski, Der Insel Verlag. Eine Bibliographie. 140 S. Susanne Buchinger, „Alles daran zu setzen, dass Goethes Werk zum Volke spricht“. Goethepflege im Spiegel des Briefwechsels zwischen Ernst Beutler und Anton Kippenberg, in: Jahrbuch des Freien Deutschen Hochstifts 2007, S. 305–370. 141 S. Anton Kippenberg, Der Briefwechsel mit Julius Petersen 1907–1941, hg. v. Thomas Neumann, Kropp 2000.
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„verband er das weiteste Wissen über sein Fachgebiet hinaus und die höchste Kunst des Vortrags und der Kolleggestaltung.“142 Es ist bemerkt worden, dass Kippenberg nach dem Studium „auch im Verlag als Philologe weiterwirkte“ 143: die drei Lektoren Reinhard Buchwald, Fritz Adolf Hünich und Fritz Bergemann waren entweder von Köster oder Schmidt promoviert worden. Ebenso wird es für die Zusammenarbeit Kippenbergs mit einzelnen Autoren nicht unerheblich gewesen sein, ob sie selbst germanistische Studien betrieben hatten. Der nach Goethe bedeutendste Hausautor, Rilke (70 Titel), war mit dem Prager Germanisten August Sauer gut bekannt; Albrecht Schaeffer (26) wiederum, der heute vergessen ist, aber neben Rilke zu einem der wichtigeren zeitgenössischen Verlagsautoren gehörte, hatte mehrere Jahre philologische Studien betrieben, um schließlich Dichter zu werden. Seine eigenen Kritischen Versuche (1923) präsentierte Schaeffer Kippenbergs Frau am 20. Februar 1922 als eine „geradezu philologische Arbeit, […], eine Fanfare vom deutschen Geist, von germanischer Art.“ 144 Selbst Johannes R. Becher (8) gedachte, bei Muncker in München zu promovieren, und Ricarda Huch (20), die promovierte Historikern, gehörte zu den Romantik-Experten ihrer Zeit. Dichterphilologen waren ebenso Hofmannsthal (19), Borchardt (3) und der von Jakob Minor promovierte Rudolf Kassner (18). Gemeinsam mit Ernst Bertram (17) schließlich, 1922 nach Köln berufen, kommen sie auf über einhundert Titel. Der Insel Verlag förderte zudem wie kein anderer Verlag seiner Größenordnung die Weltliteratur. Den 350 Titeln der deutschen Literaturgeschichte stehen 550 145 der Weltliteratur, und zwar der klassischen wie der gegenwärtigen, gegenüber, wobei auch hier die Zahlen für die InselBücherei ausgenommen sind. Stefan Zweig, der über Hippolyte Taine promoviert worden war, und Harry Graf Kessler, der sich als GoethePhilologe hervorgetan hatte, 146 betonten vor allem diese Weltläufigkeit, die sich auch darin zeigte, dass der Insel Verlag für seine Großherzog Wilhelm Ernst Ausgabe deutscher Klassiker auf die lateinische Type umstellte, was _____________ 142 Anton Kippenberg, Aus den Lehr- und Wanderjahren eines Verlegers, in: Ders., Reden und Schriften, Wiesbaden 1952, S. 7–34, hier S. 28f. 143 Friedrich Michael, Anton Kippenberg. Buchhändler – Philologe – Sammler [Vorwort], in: Anton Kippenberg, Die Sage vom Herzog von Luxemburg und die historische Persönlichkeit ihres Trägers, Niederwalluf bei Wiesbaden 1970 (= Reprint 1901), unpaginiert [S. 3]. 144 DLA A:Archiv Kippenberg 64.1461. 145 Die Zahl ist vorläufig und beruht auf einer Zählung nach dem Register in Sarkowski, Der Insel Verlag. Eine Bibliographie. 146 Neuerdings: Jörg Meier, Das moderne Buch. Harry Graf Kesslers Ästhetik der Lebenskunst im Spiegel der Großherzog Wilhelm Ernst Ausgabe deutscher Klassiker, Diss. Mainz 2008.
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als undeutsch gegolten habe. 147 Für Kessler wurde im „Wirken dieses großen deutschen Verlegers das zum ersten Male in vollendeter Form greifbar, was Herder und Goethe im Auge hatten, als sie den Begriff ‚Weltliteratur‘ prägten.“148 Allein hieraus leitet denn auch Kessler die Konzentration auf das Werk Goethes ab.149 Dass der Insel Verlag mit der „europäischen Kultur“150 verbunden sei, diese Hoffnung äußert auch Stefan Zweig, der in derselben Festschrift vom ‚Willen zur Universalität‘ spricht 151 und an der Konzeption der berühmten Insel-Bücherei beteiligt gewesen war. 152 Gegenüber Hofmannsthal hatte Kippenberg 1906 selbst bekannt, der „Weltliteratur im Goethischen Sinne“ 153 dienen zu wollen. In der Tat waren bereits bei seinem Antritt zahlreiche Ausländer in der Insel verlegt worden: Altitalienische Novellen, Titel von Oscar Wilde, %DO]DF $OIUHG GH 0XVVHW þHFKRY $UHWLQR %URZQLQJ )ODXEHUW *LGH Diderot. Später vereinten Shakespeare, Balzac, Tolstoj und Dostoevskij die meisten Titel auf sich. Es ist sicher richtig, dass die Klassiker der Weltliteratur kontinuierlich verlegt wurden. Aber Weltliteratur war dabei als Gegensatz zur Nationalliteratur gedacht; das Projekt der modernen Kultur stabilisierte sich in dieser binären Struktur. An ein integratives Konzept von Weltliteratur, in der sich die Nationalliteratur aufzuheben habe, war nicht zu denken. Die deutsche Literatur des achtzehnten und neunzehnten Jahrhunderts blieb ein notwendiges Gegengewicht, und die Germanisten, allen voran Julius Petersen, standen Kippenberg tatkräftig zur Seite, um die deutsche klassische Literatur zu verbreiten. Sachbücher findet man dagegen kaum, abgesehen von literaturgeschichtlichen Darstellungen von Walzel, Köster oder Petersen. Kippenbergs verlegerische Bemühungen um die deutsche Literatur mit ihrem geistigen Zentrum Goethe gehorchten einem höheren, philologisch-germanistischen Konzept, dessen kulturgeschichtliche Tragweite sich von der Reformation bis zur Moderne spannt und in dem der Verleger eine zentrale Rolle spielt. Er gebe dem Volk wieder, was er von ihm _____________ 147 Harry Graf Kessler, Reminiszenz, in: Navigare necesse est, S. 33–35, hier S. 34. Zur Geschichte des Konflikts s. Christina Killius, Die Antiqua Fraktur-Debatte um 1800 und ihre historische Herleitung, Wiesbaden 1999 (= Mainzer Studien zur Buchwissenschaft, 7). 148 Kessler, Reminiszenz, S. 34. 149 Ebd., S. 34f. 150 Ebd., S. 35. 151 Stefan Zweig, Wille zur Universalität, in: Navigare necesse est, S. 154–161. 152 Zweig monierte, dass die Liste der ersten zwanzig Autoren der Insel-Bücherei Goethelastig sei. Vgl. Stefan Zweig an Anton Kippenberg am 8.1.1912, in: Oliver Matuschek, „Diese Serie an der ich doch meinen Anteil habe“, in: Insel-Bücherei. Mitteilungen für Freunde (2010), H. 29, S. 7–30, hier S. 22–24, Hinweis S. 22. 153 Anton Kippenberg an Hugo von Hofmannsthal, 1.12.1906, in: Schuster, Hugo von Hofmannsthal, Sp. 206f.
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im Laufe der Jahrhunderte, über Dichter und später Philologen, erhalten habe: In seiner Dissertation behauptet Kippenberg einen Zusammenhang von Buchdruckerkunst und Volksphantasie, welche Mythen und Sagen hervorbringe. Je weiter sich der Buchdruck ausbreite, desto geringer werde die Lust am Fabulieren, weil das geschriebene Wort eine solch große Autorität besitze, dass man eher ihm als der mündlichen Überlieferung zu glauben beginne. Auf der anderen Seite habe die Buchdruckerkunst im Verein mit der Philologie einzelnen Sagen zu großer Verbreitung verholfen, sie kodifiziert und zu einem allgemein verbindlichen Traditionsgut werden lassen: „Ließ nun aber die Buchdruckerkunst die Phantasie verkümmern, so trug sie andererseits dazu bei, den noch vorhandenen Sagenbesitz und den Aberglauben des Volkes lebendig zu erhalten und zu verbreiten.“154 Kippenberg entwirft die moderne Kultur als eine literarische, die auf Schriftgläubigkeit basiert und aus dem Zusammenwirken von Buchdruck, Verlagswesen und Philologie entstanden ist. Die Zusammenarbeit mit Fachvertretern für die breitenwirksame Ausgabe klassischer Autoren impliziert die Übertragung editionsphilologischer Kriterien sowie literaturhistorischer Urteile und Wertungen auf die Praxis des Buchmarktes. Die mit philologischem Sachverstand erstellte Edition, die für antike Autoren unvermeidlich ist, war für deutschsprachige Autoren zu einer Art Gütesiegel geworden. Zwar verband sich mit der disziplinären Fundierung der Editionen eine kulturpädagogische Dimension, wie sie auch andere Verlage dieser Zeit kennzeichnet, etwa den Diederichs-Verlag, der mit Germanisten wie Friedrich von der Leyen zusammenwirkte. Aber im Unterschied zu anderen Verlagen konzentrierte sich der Insel Verlag fast ausschließlich auf die schöne Literatur, deren Titel mit Ausnahme der weltliterarischen dem Aufgabenbereich der Germanistik zugeordnet werden können.
_____________ 154 Kippenberg, Die Sage vom Herzog von Luxemburg, S. 3.
2. Ein Fachpublikum für Gegenwartsliteratur Das Vorhandensein einer philologischen Disziplin, die sich der Erforschung der deutschen Literatur widmet, berührt neben den Bedingungen der Produktion (I.1.) auch die der Rezeption von Literatur (I.2.). Die neuen Autoren der philologisch-literarischen Kultur können also in doppelter Berührung mit der Disziplin stehen: durch ihre von der Disziplin in Schule und Universität vermittelte literarische Bildung und durch den Umgang der germanistischen Disziplin mit ihnen. Im ersten Fall wird eine produktionsästhetische, im zweiten Fall eine rezeptionsästhetische Betrachtungsweise eröffnet; auch eine Verschränkung beider ist denkbar. So tritt in der Moderne der Fall ein, dass ein Gegenwartsautor als empirische Person Objekt der philologischen Ausbildung (bes. Kapitel I.1.3.) sowie als Autorname Objekt der Wissenschaft ist (Kapitel I.2.). Fast hat es den Anschein, als werde er von der Disziplin ausgebildet, um sie umzubilden. Noch im neunzehnten Jahrhundert war eine solche Zirkulation strukturell nicht vorgesehen. Dichtung wird seit dem zwanzigsten Jahrhundert nicht nur von philologisch gebildeten Autoren geschaffen, sondern diese Autoren standen potentiell unter wissenschaftlicher Beobachtung, was dazu führen konnte, die fachwissenschaftliche Anerkennung zu suchen oder gar ästhetische Formen zu entwerfen, die den Vorlieben und Interessen der Fachöffentlichkeit entsprachen. Hatten wissenschaftliche Disziplinbildung und die Festigung in staatlichen Institutionen für die Reflexion von Literatur im neunzehnten Jahrhundert einen großen Geltungsgewinn bedeutet, so wirkte er sich nicht auf die Gegenwartsliteratur aus, weil der Gegenstandsbereich der Reflexion in die Geschichte gelegt war. Sein Tod legitimierte einen Autor als historischen Gegenstand, wobei bereits Wilhelm Scherer und Erich Schmidt sich bemühten, die zeitgenössische Produktion im Medium des Kollegs, der Literaturkritik und in Nachrufen zu erfassen. 1 Das Beispiel verdeutlicht, dass es keine grundsätzliche Abneigung gegen das Neue gab, aber die Logik der Disziplin erschwerte es, darüber wissenschaftlich zu schreiben. Für die Gewinnung literarischen Wissens erwies sich eine Auffassung vom Autor als zwingend, die ihn von seinem Tod her begriff. Die Kritik eines Werkes setzte den Tod des Autors voraus, weil sonst das zugrunde liegende hermeneutische Modell, das mit der Einheit der psy_____________ 1
Z. B. Scherers Nachruf Emanuel Geibel (1884). Vgl. Höppner, Universitätsgermanistik und zeitgenössische Literatur, in: Wruck (Hg.), Literarisches Leben in Berlin, Bd. 1, S. 157–203, zur Literaturkritik ebd., S. 169–175, zu Schmidt ebd., S. 187f.
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chologischen Intention operierte, suspendiert worden wäre. Neues hingegen war aus dieser Perspektive wissenschaftlich nicht beurteilbar, wodurch die Feuilletonkritik an Bedeutung gewann. Harry Maync, der 1912 Angriffe der Dichter, vor allem Carl Spittelers, auf die Disziplin abgewehrt hatte, 2 schob noch 1926 die Gegenwartsliteratur der Presse zu, sie vom disziplinären Diskurs fernhaltend. „Als historische Disziplin“, so der Berner Professor, habe es die Literaturwissenschaft „grundsätzlich überhaupt nicht mit lebenden Dichtern zu tun, sondern nur mit solchen, welche die Schwelle der Geschichte bereits überschritten haben.“3 Persönliche Vorlieben für bestimmte Gegenwartsautoren waren deshalb nicht ausgeschlossen; die topische Schelte gegen Germanisten, die die Gegenwart versäumten, trifft die Sache daher nicht ganz. Arthur Luther aus Heidelberg kennt kaum einen Literaturprofessor, „der nicht redlich bemüht wäre, auch den Neuesten und Jüngsten gerecht zu werden und Fühlung mit ihnen zu gewinnen.“ 4 Maync, Walzels Nachfolger in Bern, weist in diesem Zusammenhang auf die Lehre hin: Man schlage doch nur die Vorlesungsverzeichnisse unserer Hochschulen auf. Es gibt keines, das nicht auch der Gegenwart Rechnung trüge. […] Lebende Dichter dritten bis fünften Ranges werden heut schon vielfach mit einer Ausführlichkeit behandelt, von der sich einst Goethe und Schiller nichts träumen ließen. 5
2.1. Entstehung eines Forschungsfelds Neue Dichter wurden in der Germanistik zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts vornehmlich dann geschätzt, wenn ihre Werke weiterhin an die klassizistische Tradition gebunden blieben und inhaltlich sowie formal mit den Kriterien korrespondierten, die von der Disziplin anhand der Literaturgeschichte aufgestellt worden waren. Bedenkt man, dass Germanisten bis weit in die zweite Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts eher dem konservativen, nationalliberalen Lager zuzurechnen sind, lässt sich diese ästhetische Korrespondenz als eine politische verstehen. 6 Der Hin_____________ 2 3 4 5 6
Harry Maync, Dichtung und Kritik. Eine Rechtfertigung der Literaturwissenschaft, München 1912. Harry Maync, Die Entwicklung der deutschen Literaturwissenschaft. Rektoratsrede (13.11.1926), Bern 1927, S. 8. Arthur Luther, Literaturgeschichte und moderne Dichtung, in: Das literarische Echo 14 (15.10.1911), H. 2, Sp. 77–80, hier Sp. 79. Maync, Dichtung und Kritik, S. 17f. Vgl. Ernst Osterkamp, Formale, inhaltliche und politische Akzeptanz von Gegenwartsliteratur. Zum Beitrag von Christoph König, in: König/Lämmert (Hg.), Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte, S. 172–176, hier S. 175f. – Ein Beispiel: Der Schweizer Literaturhistoriker Robert Faesi (1883–1972) konnte sich 1912 mit einer Arbeit über den Gegenwarts-
2. Ein Fachpublikum für Gegenwartsliteratur
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weis auf die politische Koinzidenz zwischen Disziplin und immanenter Poetik zeigt, in welchem Maße die Betrachtung der Gegenwart genauso interessegeleitet erfolgt wie die der Vergangenheit. Noch in Zeiten, wo Gegenwartsliteratur als Forschungsgegenstand akzeptierter sein wird als zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts, werden nicht automatisch alle Erscheinungen mit gleicher Aufmerksamkeit notiert, sondern meist Autoren behandelt, die in politischer, ästhetischer oder ethischer Hinsicht der eigenen Weltsicht entsprechen. Wissenschaftliche Reife, die Eugen Wolff einst ins Spiel brachte, 7 um Gegenwartsliteratur als epistemisches Objekt8 zu erfassen, kann angenommen werden, sobald die Disziplin tatsächlich einen Rezeptionsrahmen geschaffen hat, der die wissenschaftliche Rezeption zwingend macht. Rolf Dieter Brinkmanns (1940–1975) Popularität erfolgte post mortem, als Popliteratur und die Medienfrage wissenschaftlich relevante Themen wurden; der promovierte Germanist Hans Magnus Enzensberger wird seit den 1970er Jahren in den Schulbüchern registriert; 9 zuvor hatte sich das Fach für ideologiekritische Fragestellungen geöffnet. Es war der historische Charakter ihrer Disziplin, der die meisten Philologen zu einem indifferenten Umgang mit der Gegenwartsdichtung veranlasste und zugleich deren Ausgrenzung umso spürbarer werden ließ. Das Neue war ein für die Disziplin nicht erfassbares Wissen, und solange keine Versuche stattfanden, dem Versäumnis abzuhelfen, trat nicht der Fall ein, dass verschiedene Auffassungen um denselben Wissensgegenstand – das epistemische Objekt Gegenwartsliteratur – konkurrierten und von der disziplinären Praxis geregelt werden mussten. Die Pluralisierung der Diskurse mit dem Versuch ihrer vollständigen kritischen Erfassung ist aber, wie oben gezeigt (I.1.), Voraussetzung für das Entstehen eines disziplinären Redezusammenhangs. _____________ 7 8
9
autor Paul Ernst auch deshalb habilitieren, weil dieser als Traditionalist mit Sinn für äußere Formen galt. Eugen Wolff, Inwieweit ist die Litteratur des 19. Jahrhunderts für wissenschaftliche Betrachtung reif?, in: Ders., Zwölf Jahre im litterarischen Kampf. Studien und Kritiken zur Literatur der Gegenwart, Oldenburg/Leipzig 1901, S. 65–77. Zur Übertragung dieses Begriffs auf die Gegenwartsliteratur s. Steffen Martus, Die Geistesgeschichte der Gegenwartsliteratur. Wissenschaftliche Aufmerksamkeit für Thomas Mann zwischen 1900 und 1933, in: Ansel/Friedrich/Lauer (Hg.), Die Erfindung des Schriftstellers Thomas Mann, S. 47–84, hier S. 48. – Marcus Gärtner, Kontinuität und Wandel in der neueren deutschen Literaturwissenschaft nach 1945, Bielefeld 1997, S. 64– 81, gibt einen Überblick über Bemühungen der Germanistik vor 1933 zur Integration ihrer Gegenwartsliteratur. Michael Kämper-van den Boogaart, Schulische Kanonizität als symbolisches Kapital. Anmerkungen zum Spannungsverhältnis zwischen literarischem und pädagogischem Feld, in: Markus Joch/Norbert Christian Wolf (Hg.), Text und Feld. Bourdieu in der literaturwissenschaftlichen Praxis, Tübingen 2005, S. 323–333, hier S. 325.
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Das streng historische Selbstverständnis der Disziplin manifestierte sich in der Konzeption ihrer Publikationsorgane, so dass Arbeiten zur zeitgenössischen Dichtung an anderen Orten erschienen. Frank Wedekind, dessen Stücke gelegentlich von der polizeilichen Zensurbehörde Universitätsgermanisten zur Begutachtung übergeben wurden, beklagte sich 1911 öffentlich über die Unwissenheit der Fachleute. Obgleich sich die beiden Münchener Gutachter Franz Muncker und Emil Sulger-Gebing für eine Aufführung von Wedekinds Totentanz aussprachen, fehle ihnen, so Wedekind, die Fähigkeit, den Einakter zu lesen; sie seien für seine ‚künstlerischen Qualitäten stockblind‘, ja sie stünden wie ein Kind, „das nie einen Vers gehört hat, vor einem gedruckten Gedicht.“ 10 Sein Fazit ist vernichtend: „Beide Herren beweisen durch ihr abgegebenes Urteil, dass sie auf dem Gebiet, für dessen Pflege sie vom Staate besoldet werden, ganz einfach nicht Bescheid wissen.“11 Aber aus eben jenem Unverständnis heraus, das genau genommen auf ein Fehlen disziplinärer Beschreibungen und Urteile hinweist, mehren sich innerhalb der Disziplin die Versuche, die Dichtung der Gegenwart zu erschließen. Gern wurde die Frage, wer die Kluft „zwischen Literaturwissenschaft und neuer Dichtung“12 überwindet – zünftige Germanisten oder nicht institutionell gebundene Laien –, zugunsten Letzterer beantwortet.13 Allerdings berücksichtigt ein solches Urteil nicht, dass die Position jener Laien aus der Vormacht der Zünftler erst entsteht; ohnehin ist eine Trennung beider Sphären unmöglich. Munckers Schüler Artur Kutscher gab nicht nur die Nachlassbände von Wedekinds Gesammelten Werken (1912– 1921) heraus und verfasste eine Biographie des Dichters, sondern er behandelte in seinen Münchener Seminaren, die auch Brecht besucht hat, Texte angehender Dramatiker. 14 Die Integration der Gegenwartsdichtung in den wissenschaftlichen Erkenntnisprozess des Literarischen und der damit verbundene Ausweis _____________ 10 11 12 13 14
Frank Wedekind, Aus dem Münchner Zensurbeirat [mit einem öffentlichen Brief an den Herausgeber des Kain, Erich Mühsam], in: Kain. Zeitschrift für Menschlichkeit 1 (1911), Nr. 6, S. 90–95, hier S. 92. Ebd. Hanns Martin Elster, Zur Literaturwissenschaft, in: Die Flöte. Monatsschrift für neue Dichtung. Zeitschrift des Künstlerdanks 3 (1920), H. 3, S. 69–71, hier S. 69. Vgl. ebd.: „[H]ier und da steht freilich bereits eine Kraft auf, die bezwingend hinführt zum reinen Sinn der Disziplin. Nicht so sehr unter den Zünftlern selbst, als unter den freien Schriftstellern, unter der Jugend, unter den Dichtern, unter den Menschen.“ Erwähnt sei auch (worauf Kutscher in einem biographischen Abriss der Avantgardezeitschrift Phoebus hinweist), dass Wedekind mit Henrik Ibsen durch den Literaturhistoriker Heinrich Welti bekannt gemacht worden war, vgl. Artur Kutscher, Frank Wedekinds Leben, in: Phoebus. Monatsschrift für Ästhetik und Kritik des Theaters 1 (1914), H. 3, S. 109–116, hier S. 110.
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ihrer ‚Wissenschaftsfähigkeit‘ 15 lassen sich ab 1910 zunehmend beobachten. Die Zeitgenossen deckten dabei umgehend die Widersprüche auf: Widerstrebend, mit angeblich überlegener Einsicht […], hat die Literaturwissenschaft das Heraufkommen des Expressionismus, der jungen Dichtung beobachtet. Sie hat nirgends, wie es ihre Pflicht gewesen wäre, Bahn gebrochen, sondern folgt jetzt zögernd, nachdem die neue Kunst sich aus eigenem durchgesetzt. 16
Hanns Martin Elster spielt auf die historischen Würdigungen zur Gegenwartsliteratur an, die um 1920 vermehrt entstanden oder neu aufgelegt wurden. Neben Oskar Walzels Die deutsche Dichtung seit Goethes Tod (Berlin 1919) und Albert Soergels Dichtung und Dichter der Zeit (Leipzig 1911, 201928) sind Eugen Wolffs Geschichte der deutschen Literatur der Gegenwart (Leipzig 1896), Richard M. Meyers Die deutsche Literatur des 19. Jahrhunderts und des 20. Jahrhunderts (Berlin 1900, 71923), 17 Hans Naumanns Die deutsche Dichtung der Gegenwart 1885–1923 (Stuttgart 1923), Friedrich von der Leyens Deutsche Dichtung in neuer Zeit (Jena 1922), Wolfgang Stammlers Deutsche Literatur vom Naturalismus bis zur Gegenwart (Breslau 1924) wichtige, teilweise erfolgreiche Beiträge von Alt- und Neugermanisten zur Historisierung der Gegenwartsliteratur, die den dichtenden Zeitgenossen literaturhistorische Aufmerksamkeit versprechen. 18 Die „Verwissenschaftlichung der Gegenwartsliteratur“19 bedeutet gleichfalls ihre Einbindung in den literaturgeschichtlichen Zusammenhang. An disziplinäre Diskurse zur Gegenwartsliteratur konnten die frühen historischen Darstellungen nicht anschließen, woraus sich die unbeholfene Rede über das Neue erklärt. Die Jahresberichte für neuere deutsche Literaturgeschichte, die sich vom Feld der Germanischen Philologie, wo die Sprachgeschichte noch großen Stellenwert besaß, abhoben, verzeichnen zwar ein _____________ 15 16 17
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Osterkamp, Formale, inhaltliche und politische Akzeptanz von Gegenwartsliteratur, in: König/Lämmert (Hg.), Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte, S. 175. Elster, Zur Literaturwissenschaft, S. 71. Zu Meyer s. Hans-Harald Müller, „Ich habe nie etwas anderes sein wollen als ein deutscher Philolog aus Scherers Schule“. Hinweise auf Richard Moritz Meyer, in: Wilfried Barner/Christoph König (Hg.), Jüdische Intellektuelle und die Philologien in Deutschland. 1871–1933, [Göttingen 2001] (= Marbacher Wissenschaftsgeschichte, 3), S. 93–109. Zu Meyer ausführlich s. Roland Berbig, „Poesieprofessor“ und „literarischer Ehrabschneider“. Der Berliner Literaturhistoriker Richard M. Meyer. Mit Dokumenten, in: Berliner Hefte 1 (1996), S. 37–99. Dieses Versprechen kann in den Darstellungen nur bedingt eingelöst werden. Robert Riemann erinnert jene ‚dichtenden Zeitgenossen‘ im Vorwort zur dritten Auflage seines Buches Von Goethe zum Expressionismus. Dichtung und Geistesleben Deutschlands seit 1800 (Leipzig 31922, unpaginiert) daran, „daß die Zusendung ihrer Werke nicht, wie manche zu glauben scheinen, einen Anspruch auf Erwähnung oder gar ausführliche Behandlung in meinem Buche begründet.“ Martus, Martin Kessel als Literaturwissenschaftler, in: Stockinger/Scherer (Hg.), Martin Kessel, S. 85.
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gewisses Spektrum an kritischer Literatur aus Wissenschaft und Publizistik über neueste deutsche Lyrik, Dramatik und Epik, doch stammten diese Texte meist aus der Feder von Nichtwissenschaftlern. 20 Gerade die Berichte für die Jahre 1910 bis 1915, als sich ein neues, revolutionäres Bewusstsein in der Poesie kundtat, mögen hier interessieren. Die aufgeführten Autoren sind teilweise selbst Dichter. Für das Jahr 1913 findet sich über Ernst Blaß ein Beitrag von Ludwig Rubiner (Bd. 24, 1915, Nr. 3311), Georg Heym taucht auf (Nr. 3331); mit Abstand werden Detlev von Liliencron (Nr. 3334–3348), Stefan George (Nr. 3326–3330) 21 und Rainer Maria Rilke (Nr. 3362–3366) am meisten behandelt werden. Von Albert Ehrenstein ist die Studie zu Döblin unter dem Titel Analytische Dichter der Dämmerung (Nr. 3297) verzeichnet; Döblin wiederum ist als kritischer Autor angeführt mit dem Sturm-Beitrag An Romanautoren und ihre Kritiker (Nr. 3662). Im Berichtteil wird aber auch der Affekt der Disziplin gegen bestimmte Autoren wie Blaß oder Franz Werfel hörbar, wogegen der politisch kompatible Ernst Lissauer als Dichter gelobt wird.22 Unter der Rubrik ‚Ästhetik und Poetik‘, über die Richard Müller-Freienfels berichtet, finden für 1911/12 bereits der Futurismus (Nr. 2431–2433) und Vasilij V. Kandinskijs Schrift Über das Geistige in der Kunst (Nr. 2192) Erwähnung. In den 1920er Jahren häuften sich die Studien zur Gegenwartsliteratur, ihrer Ästhetik und Poetik, und die holprigen Versuche wurden durch Sprechweisen ergänzt, die begrifflich für den Umgang mit der Gegenwart besser ausgerüstet waren. Die Affinität zwischen Geistesgeschichte und Gegenwartskultur war dieser Tendenz förderlich; sie prägt drei Aspekte: 23 Die bereits erwähnte Nähe von Germanisten und Künstlern im GeorgeKreis und die daraus folgenden diskursiven Grenzverwischungen; zweitens ein Literaturbegriff, der den Gehalt untersucht und so der philoso_____________ 20
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Ab 1921 werden sie fortgesetzt vom Jahresbericht über die wissenschaftlichen Erscheinungen auf dem Gebiete der neueren deutschen Literatur, für den Zeitraum zwischen 1916 und 1920 muss die neugermanistische Literatur mittels anderer Organe bibliographisch erschlossen werden. Wenig brauchbar sind Alfred Rosenbaum, Bibliographie der in den Jahren 1914 bis 1918 erschienenen Zeitschriftenaufsätze und Bücher zur deutschen Literaturgeschichte, Leipzig/Wien 1922 (= Euphorion. Ergänzungshefte, 12), S. 525–529, und Register; Paul Merker, Neuere deutsche Literaturgeschichte, Stuttgart 1922. Vgl. vor allem die Arbeit zu George von F. Kuntze: Die innere Form in d. Lyrik St. Georges (Nr. 3329). Vgl. Friedrich Hirth, in: Jahresberichte für neuere deutsche Literaturgeschichte 24 (1913), Berlin 1915, S. 607. Martus, Martin Kessel als Literaturwissenschaftler, in: Stockinger/Scherer (Hg.), Martin Kessel, S. 79–92, hat diesen Zusammenhang materialreich belegt, zu den drei Aspekten ebd., S. 80f. S. auch Ders., Die Geistesgeschichte der Gegenwartsliteratur, in: Ansel/Friedrich/Lauer (Hg.), Die Erfindung des Schriftstellers Thomas Mann, S. 47–84.
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phisch-hermeneutischen Spekulation Tür und Tor öffnete, 24 und drittens – und das war wohl entscheidend – der Umstand, dass Literatur nicht bloß als Teil, sondern als idealer Ausdruck der geistesgeschichtlichen Entwicklung galt, die bis in die Gegenwart reichte. Geistesgeschichte war das Konzept, über welches die Gegenwart historisiert wurde, über welches man in wissenschaftlichen Abstand zu ihr trat und sie zugleich in einen ‚geweihten, begehrten und auratisierten Gegenstand‘ verwandelte. 25 Welche Bedeutung das literarisch Neue als Forschungsgebiet der Germanistik bereits um 1930 erlangt hatte, zeigt ein längerer Forschungsbericht von Herbert Cysarz, der sich auf der Grundlage einer breiten Literatur eingehend mit der wissenschaftlichen Auseinandersetzung zur Gegenwartsliteratur befassen kann. Zwar fehlt teilweise der nüchterne Blick des Wissenschaftlers, 26 doch ist der Forschungsbericht als disziplinäres Medium erstes Indiz dafür, dass die Gegenwartsliteratur in der Disziplin angekommen war. Von ihrer mangelnden Anerkennung kann nach 1920 keine Rede mehr sein. Das Ausbleiben der wissenschaftlichen Beobachtung kennzeichnet dagegen noch die avantgardistische Literatur der 1910er Jahre, die eine spannungsreiche Dialektik von Institution und Produktion der Literatur beherrschte und die u. a. das defensive Bestreben hervorbrachte, das Neue ständig verteidigen zu müssen, es in institutionelle Formen überführen zu wollen. Insofern die Vergangenheit in der historischen Rekonstruktion entsteht, hatte die historisch ausgerichtete Germanistik keiner Rechtfertigung als dieser bedurft, das Verlorene zu vergegenwärtigen. Eine stiltypologische, epochengeschichtliche oder gar geistesgeschichtliche Durchdringung des Materials war nicht Ziel der wissenschaftlichen Praxis gewesen. Erst die Kritik am Historismus, 27 der Signatur des neunzehnten Jahrhunderts, machte die allein rekonstruktive philologische Praxis fragwürdig – ohne _____________ 24
25 26
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Paul Merker, Neue Aufgaben der deutschen Literaturgeschichte, Leipzig 1921 (= Zeitschrift für Deutschkunde. Ergänzungsheft, 16), S. 6–8, diagnostiziert einen daraus entstehenden Niveauverlust. Weitere Belege gegen formalästhetische, geistesgeschichtliche und wissenschaftskünstlerische Doktorarbeiten bei Martus, Martin Kessel als Literaturwissenschaftler, in: Stockinger/Scherer (Hg.), Martin Kessel, S. 89f. Vgl. Gumbrecht, Die Macht der Philologie, S. 102, zur Phänomenologie des Historisierens ebd., S. 97–101. Herbert Cysarz, Jahrhundertwende und Jahrhundertwehen. Zur Erforschung der Literatur seit dem Naturalismus. Eine Kritiken-Auswahl, in: DVjs 7 (1929), S. 745–796, bes. ab S. 766. Wenn für Cysarz „lauteres Betrachtertum schwerer als unlauteres Dichtertum“ (ebd., S. 746) wiegt, denkt er beide Modi, den der wissenschaftlich historischen Kritik und den der poetisch schöpferischen Arbeit vom selben Ziel aus: Beiden, Poesie wie Wissenschaft, gehe es um die Idee des Vollkommenen, die schließlich ein Wilhelm Dilthey besser als ein Richard Dehmel getroffen habe (ebd.). Zur damit verbundenen Krise der Disziplin s. Dainat, Ein Fach in der „Krise“, in: Oexle (Hg.), Krise des Historismus, S. 247–272.
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sie endgültig abzuschaffen – und den Weg frei zu Entitäten, die sich hinter der textlichen und historischen Überlieferung bis dahin verborgen gehalten hatten: Epoche, Stil und Geist.28 Die Gegenwartsliteratur wurde nicht im Zeichen der historischphilologischen Rekonstruktion entdeckt, sondern von der Hermeneutik. Die Folge war, dass sie, als Ausdruck der Geistesgeschichte, doppelt funktionalisiert wurde. 29 Wenn davon auszugehen ist, dass sie den Geist der Gegenwart erfahrbar machen könne, dann enthält sie ebenso die Möglichkeit, ihn zu verändern. Durch die spezifische Öffnung der Disziplin für die Gegenwart war potentiell bereits die noch nicht geschriebene, zukünftige Literatur wissenschaftlich erschließbar geworden und nicht mehr, wie zuvor, nur jene, die dem momentanen historischen Erkenntnisinteresse entsprach. Der wissenschaftliche Expansionsprozess in den Bereich der Gegenwartsliteratur demonstriert, dass das Konzept disziplinärer Dichtung je nach Perspektive zwei Untersuchungsbereiche konstituiert. Da zum einen moderne Dichtung disziplinär verhandelbar und bereits im Entstehungsprozess auf ihre Disziplin bezogen ist, gehören dem ersten alle dezidiert poetischen Texte an, die sich teilweise oder ganz als Antworten auf disziplinäre Fragestellungen zu erkennen geben oder in irgendeiner Form disziplinär markiert sind. Zum anderen wird aus rezeptionsgeschichtlicher Perspektive jede Literatur, einmal im Rahmen ihrer wissenschaftlichen Disziplin diskutiert, zu einem disziplinären Gegenstand. Diskurspraktiken haben sich über Kafka andere als über Goethe etabliert; die erstmalige Beschreibung eines Autors bzw. seine Besetzung mit disziplinären Redeweisen können ereignishaft werden. Dieses zweite Verständnis disziplinärer Dichtung gehört in den Bereich der Wissenschaftsgeschichte, wobei die Literaturgeschichte sich zu ihr sekundär verhält. Dieses Kapitel analysiert den von diesem wissenschaftsgeschichtlichen Interesse konstituierten Gegenstand aus einem historisch besonderen Grund: Zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts wurde erstmals Gegenwartsliteratur lebender Autoren disziplinär beobachtet, weshalb weniger der konkrete Fall erstmaliger disziplinärer Erfassung von Bedeutung ist, _____________ 28 29
Zur Geistes- als Stilgeschichte s. Rainer Rosenberg, Literaturwissenschaft als Geistesgeschichte. Die Weiterungen für den Stilbegriff, in: Frank Fürbeth (Hg.), Zur Geschichte und Problematik der Nationalphilologien in Europa, Tübingen 1995, S. 501–509. Eine historisch vorgängige Ausprägung des Verhältnisses von Hermeneutik und Gegenwartspoesie bzw. immanenter Poetik nimmt in den Blick Andrea Polaschegg, Unwesentliche Formen? Die Ghasel-Dichtungen August von Platens und Friedrich Rückerts: Orientalisierende Lyrik und hermeneutische Poetik, in: Steffen Martus/Stefan Scherer/Claudia Stockinger (Hg.), Lyrik im 19. Jahrhundert. Gattungspoetik als Reflexionsmedium der Kultur, Bern 2005 (= Publikationen zur Zeitschrift für Germanistik, 11), S. 271–294.
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ob nun bei George oder Gor’kij, sondern die disziplinäre Beschreibung und Bewertung von Gegenwartsliteratur als solcher. Aufgrund dieses neuen Vorgangs war ein durchweg veränderter Möglichkeitsraum von Dichtung entstanden. Die alte, auf die Disziplin bezogene Dichtung, wie sie das neunzehnte Jahrhundert hervorgebracht hatte, von Uhland, Freytag oder Nietzsche, genoss die Sicherheit, wissenschaftlich nicht bzw. erst post mortem erfasst zu werden; die neue nicht mehr. Sie war der Gefahr ausgesetzt, in vivo von der Disziplin seziert zu werden. Mit Blick auf die engen Beziehungen, die sich aus der bildungsgeschichtlichen Situation um 1900 ergeben, trieb diese Gefahr die neue Dichtung in permanente Interaktion mit der Disziplin und formte die spezifische Verfassung moderner Literatur. Wissenschaftsgeschichtlich ist es aufschlussreich, Dichtung im Moment ihrer erstmaligen Überführung in die Disziplin zu beobachten. Man sollte weniger die Art und Weise verwerfen, in der über jüngste Dichtung gesprochen wurde, weil für diese schlichtweg keine disziplinäre Konvention bestand, als vielmehr die große wissenschaftsgeschichtliche Leistung würdigen, die mit dieser Öffnung verbunden war. Vier Fallbeispiele mögen sie illustrieren. Berthold Litzmann in Bonn, Oskar Walzel in Dresden, Artur Kutscher in München und Julius Petersen in Berlin förderten im Seminarbetrieb, mit Publikationen oder durch die Veranstaltung von Dichtervorträgen das wissenschaftliche Interesse an einer Gegenwartsliteratur, die – historischer Präliminarien nicht bedürfend – direkt unter dem Gesichtspunkt ihrer künstlerischen Technik, d. h. ihrer Form beurteilt wurde. Das künstlerische Moment (Litzmann), die künstlerische Form (Walzel), die Stilisierung (Kutscher) sind weniger als formanalytische Konzepte aufschlussreich; die Akzentuierung der tpchnē, die noch die von Petersen veranstalteten Berliner Dichtervorträge kennzeichnete, hatte eine andere Funktion. Auf den formästhetischen Mainstream setzend, rechtfertigte sie die neue wissenschaftliche Auseinandersetzung mit der Gegenwartsliteratur gegenüber der historisch ausgerichteten Mutterdisziplin. Das Neue wurde über den Formdiskurs, aber auch über das geistesgeschichtliche Paradigma, wissenschaftlich verfügbar gemacht und in den disziplinären Zusammenhang integriert. Die vier vorgestellten Fälle beleuchten zudem vier verschiedene Dimensionen des wissenschaftlichen Umgangs mit Gegenwartsliteratur. Sie werden hier idealtypisch an einem Wissenschaftler erörtert; im Verlauf werden sich auch Überschneidungen ergeben. Für Litzmann besitzt die Erforschung der Gegenwartsliteratur sowohl kultur- als auch wissenschaftspolitische Bedeutung; er will tatsächlich auf die Kultur der Gegenwart Einfluss nehmen und aus der Beobachterposition heraustreten. Walzel hingegen koppelt Gegenwartsliteratur an neue
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Methoden wie die Geistesgeschichte oder die formalanalytische Literaturwissenschaft. Kutscher versucht mit Gegenwartsliteratur zwei neue wissenschaftliche Teildisziplinen der Germanistik zu erschließen: die Literaturkritik und die Theaterwissenschaft. Petersens Bemühungen betreffen sogar den institutionellen Rahmen, indem sie dem Autor eine Möglichkeit verschaffen, mit der Wissenschaft in Dialog zu treten. Das Forschungsparadigma Gegenwartsliteratur trug dazu bei, die bislang historisch-philologisch ausgerichtete Germanistik zu reformieren. Es soll deutlich werden, dass nicht nur die Disziplin die Dichtung veränderte, sondern auch umgekehrt ein Umbildungsprozess einsetzte, der wissenschaftspolitische, methodologische, disziplinorganisatorische und institutionelle Folgen hatte. 2.2. Berthold Litzmanns kulturpolitische Pflanzstätte in Bonn Eine „bahnbrechende“ 30 Pionierarbeit in der akademischen Erforschung der Gegenwartsliteratur leistete Berthold Litzmann (1857–1926), 31 der bei Scherer promoviert hatte, bald aber mit dessen Schülern in Konflikt geriet. Schon in Berlin, wo er neben anderen Autoren dem Dramatiker Ernst von Wildenbruch begegnet war, leitete er 1878 den Akademisch-Literarischen Verein. Nach Bonn wurde Litzmann 1892 berufen (Ordinariat 1897), und er legte später Wert darauf, dass für ihn der erste Lehrstuhl für Neuere deutsche Literaturgeschichte eingerichtet worden sei: „es war überhaupt auf deutschen Universitäten etwas Neues, Unerhörtes, daß ein Professor zu Gegenwartsproblemen der Literatur vom Katheder das Wort ergriff.“ 32 Als einzigartig galten Litzmanns Bonner Vorlesungen zum Deutschen Drama in den literarischen Bewegungen der Gegenwart (Leipzig 1894). Die Gründung der Literarhistorischen Gesellschaft (1905) stand im Zusammenhang mit Litzmanns eigenwilliger Seminarform. Es handelte sich dabei um eine Art Oberseminar, in dem vorwiegend Themen zur neuesten deutschen Literatur behandelt wurden. Der Gründung unmittelbar vorausgegangen war eine Kontroverse mit dem Berliner Kollegen Erich Schmidt, der _____________ 30 31
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Paul Egon Hübinger, Thomas Mann, die Universität Bonn und die Zeitgeschichte. Drei Kapitel deutscher Vergangenheit aus dem Leben des Dichters 1905–1955, München/Wien 1974, S. 25. Zu Litzmann s. IGL 2, S. 1101–1103, und die Literatur bei Hübinger, Thomas Mann, die Universität Bonn, S. 24, Anm. 3. – Zu Litzmanns Wissenschaftsbegriff auch Martus, Die Geistesgeschichte der Gegenwartsliteratur, in: Ansel/Friedrich/Lauer (Hg.), Die Erfindung des Schriftstellers Thomas Mann, S. 64f. Berthold Litzmann, Im alten Deutschland. Erinnerungen eines Sechzigjährigen, Berlin 1923, S. 335.
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Litzmanns Faust-Buch scharf kritisiert hatte. Dieser antwortete mit einer programmatischen Schrift, die sich unter dem Titel Meine Ziele im akademischen Lehramt (1905) als ein Plädoyer für die Beschäftigung mit Gegenwartsliteratur verstand.33 Das politisch motivierte Interesse des Nationalliberalen an der Literatur der Gegenwart 34 war ein Versuch, den weiteren Verlauf der deutschen Kulturgeschichte zu steuern. Sie bildet den Maßstab des Urteils und erklärt die paradoxe Akzentuierung des Literarhistorischen in einem der Gegenwartsliteratur gewidmeten Zirkel. Seine außerordentlichen Mitglieder bildeten einen „überraschend bunten Kranz“ 35: neben seiner Kaiserlichen Majestät zum Beispiel Peter Altenberg, Adolf Bartels, Otto Julius Bierbaum, Hugo von Hofmannsthal, Jakob Wassermann, Felix Dahn, Hermann Hesse und Ricarda Huch. Im Eröffnungsheft der Mitteilungen der Literarhistorischen Gesellschaft (MLG) von 1906 rechtfertigt Litzmann, dass seine Beschäftigung mit der Gegenwartsliteratur von „Amtswegen“36 erfolgt sei. Weniger sein eigenes Urteil als die Tatsache, den ersten Schritt getan zu haben, hebt er hervor. Dieser Vorgang sei angesichts der Vorurteile gegenüber Gegenwartsliteratur außergewöhnlich gewesen: Denn an der Beschäftigung mit der modernen Literatur haftete das Odium der Spielerei, des leeren schöngeistigen Wesens, der Unwissenschaftlichkeit; Vorurteile, die die jungen Leute zum Teil schon aus der Schule mitbrachten, und die zur Folge hatten, dass die einen, und das waren oft grade die Tüchtigsten, diese angeblich nicht in den wissenschaftlichen Betrieb ihres Faches hineingehörigen Dinge glaubten hochmütig ablehnen zu dürfen, und dass die Andern sie als eine Vergnügung müssiger Stunden so nebenher mitzunehmen und oberflächlich spielerisch zu betreiben für grade eben gut genug hielten. 37
Eine Möglichkeit, Gegenwartsliteratur wissenschaftlich zu diskutieren, sah Litzmann in der Gattungspoetik: „Diese Schulung suche ich zu erreichen, vor allem durch die planmässige Beschäftigung mit den Problemen der Technik der einzelnen Dichtungsarten.“38 Litzmann fordert eine literaturgeschichtliche Grundlagenausbildung, um das Neue überhaupt beurteilen zu können, wofür er das Format der Vorlesung konzipiert: _____________ 33 34 35 36 37 38
Christina Horstmann, Die Literarhistorische Gesellschaft Bonn im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts. Dargestellt am Briefnachlaß von Carl Enders, Bonn 1987 (= Abhandlungen zur Kunst-, Musik- und Literaturwissenschaft, 370), S. 12. Litzmann, Im alten Deutschland, S. 341f. – Litzmanns nationalliberale, demokratiefeindliche Einstellung referiert nach dessen Autobiographie Hübinger, Thomas Mann, die Universität Bonn, S. 41–46. Ebd., S. 25. Berthold Litzmann, Zur Einführung, in: Mitteilungen der Literarhistorischen Gesellschaft 1 (1906), H. 1 und 2, S. 3–26, hier S. 6. Ebd., S. 7. Ebd.
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Die eigentliche A r b e i t aber besteht darin, auf dieser Grundlage das aus der Eigentümlichkeit der Gattung, der Eigentümlichkeit des Urhebers und seiner Bildungsvoraussetzungen sich ergebende innere Gesetz der zu analysierenden Dichtung in seiner Anwendung im Kunstwerk wie einen psychologischen Prozess zu verfolgen. 39
Litzmanns wissenschaftspädagogische Ziele sind getragen von einem enzyklischen Bildungsgedanken, der auf Konzepte Eduard Sprangers und Werner Jaegers vorausdeutet. Die angestrebte Form der germanistischen Disziplin führe zu wirklicher „Bildung, d. h. der Verwertung des theoretischen Wissens für positive praktische Kulturarbeit.“ 40 Litzmanns Verständnis der philologisch-germanistischen Fachwissenschaft als ganzheitliche, auf das Leben bezogene Bildung steht im bewussten Gegensatz zum Disziplinbegriff seiner Kollegen. Niemand unter ihnen wäre wohl auf die Idee gekommen, „zwischen uns und den schöpferischen Arbeiten der Vergangenheit und Gegenwart mit allen uns zu Gebote stehenden Mitteln ein Verhältnis herzustellen, wie von Mensch zu Mensch.“41 Konkret bedeutet dies, die mit besonderen Autoren der literarischen Tradition verbundenen Ideen als ‚Lebenswerte in die Kultur der Gegenwart zu überführen‘, 42 wobei Goethe an erster Stelle genannt ist, den Litzmann im Leben seiner Kultur noch vermisst. Wie der Fortgang der Argumentation zeigt, besitzt dieses literarische Bildungsprogramm eine ausgesprochen nationale Stoßrichtung. Eine der Hauptfragen, welche Litzmann mit seinen Studenten erörterte, ist die nach dem Mittel, eine Kultur von allgemeiner Bedeutung, d. h. einen „Stil“, zu schaffen. 43 Die Presse komme nicht in Frage, auch nicht die traditionellen Bildungsstätten Schule und Hochschule, die „als Berufsbildungsanstalten mit gebundener Marschroute marschieren“ 44, und die Kunsterziehungstage könnten bloße Anregungen geben; Literarische Gesellschaften, die nur den Kunstgenuss zelebrierten, schieden ebenso aus wie solche, die nur popularisierten, denn sie fabrizierten Ästheten oder ein ‚geistiges Proletariat‘. 45 In dem reformierten Seminar sah Litzmann die Antwort auf die Frage nach der Einheit der Kultur. Im Dienst der Nation, die bei Litzmann gleichbedeutend ist mit Kultur, Bildung und Stil, müsse eine „geistige Wehrpflicht“ eingeführt werden. Da das neue Disziplinverständnis milita_____________ 39 40 41 42 43 44 45
Ebd., S. 7f. Ebd., S. 9. Ebd. Ebd., S. 10f. Ebd., S. 11. Ebd., S. 12. Ebd., S. 13.
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risiert wird, kann der Germanist das Kritikvermögen zur Waffe erheben; die Beherrschung der Kritik erfordere „jahrelange[] und planmässige[] Schulung“. Die alte Disziplin vergleicht Litzmann mit einer „Masse eines durch ‚Anregungen‘ begeisterten Milizheeres“, das praktisch handlungsunfähig sei. „Auch hier kommt es auf eine wohldisziplinierte Armee kriegstüchtiger Feldsoldaten an, d. h. auf ganze Menschen“. 46 Litzmanns Vorstellung einer ‚wohldisziplinierten Armee kriegstüchtiger Feldsoldaten‘ bezieht sich auf das Feld der literarischen Wertung, die fähig sein solle, Literatur aus der Tradition wieder in den allgemeinen Zusammenhang der Gegenwart zu überführen, d. h. ins Leben zurückzuholen. Hierin liegt der Zweck seines eigenwilligen Seminars, das Schüler wie den Wissenschaftskünstler Ernst Bertram und den selbsternannten Kulturerneuerer Rudolf Borchardt hervorbrachte. Damit die Kunstwerke „als Lebenswerte in die Daseinsbedingungen jedes Einzelnen“ 47 sich einfügen, bedürfe es Lehrer der Jugend wie Litzmann. In gemeinsamer Arbeit unterrichte er die Schüler in der Kunst des ästhetischen Genusses, um schließlich eine „geistige Armee“ 48 zu schaffen. Er interpretiert das Seminar bzw. die monatlichen Arbeitsabende im Sinne seiner organischen Metaphorik als Pflanz- und Pflegestätte deutscher Kultur im Bestreben, dass seine „Arbeit Früchte tragen“49 soll. Die Pflanzstätten werden an institutionelle Formen der deutschen Geschichte, wie die Deutschen Gesellschaften des siebzehnten Jahrhunderts, zurückgebunden. Es sei deshalb nicht das erste Mal, „dass von den Hochschulen aus die in das Berufsleben eintretende Jugend unter der Führung ihrer Lehrer sich zusammenschlösse zu der Lösung bestimmter Kulturaufgaben in gemeinsamer Arbeit.“50 Das Programm der kulturellen „Erneuerung“ 51 und der Einbindung der Literatur ins Leben ist dezidiert kulturkonservativ, indem es sich als bewusste Steuerungsmaßnahme der Gegenwartsliteratur vor dem Hintergrund literaturgeschichtlich gewonnener Werte begreift. Nur auf diese Weise erklärt sich, dass Litzmann sogar den Kaiser, d. h. die Politik, für sein Wissenschaftsunternehmen gewinnen konnte. Als Kernstück der Gesellschaft widmete sich das monatliche Seminar Autoren der jüngsten Vergangenheit und der Gegenwart. 52 Vortragsreihen _____________ 46 47 48 49 50 51 52
Ebd., S. 13f. Ebd., S. 14. Ebd. Ebd., S. 15. Ebd., S. 16. Ebd. Als 1917 Hanns Johsts Drama Der Einsame erschien, bat Litzmann den Autor um ein Exemplar: „Er [Litzmann] liest ihn auch mit verteilten Rollen in seinem Seminar und spricht über mich. Er bat mich, ihm mein Leben für diese Zwecke zu skizzieren.“ Vgl. den Brief von Hanns Johst an Artur Kutscher von 1917 (undatiert) [DLA A:Kutscher
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und Rezitationen zeitgenössischer Dichter fanden ebenso statt. Die Mitteilungen druckten die Referate der Schüler samt Diskussion. Nicht nur der engste Schülerkreis um Litzmann, sondern auch Außenstehende wie der Leipziger Verleger des Expressionismus Kurt Wolff kamen zu Wort. Wolff, über den Dramatiker Herbert Eulenberg (1876–1949) referierend,53 hebt das formale Interesse des Litzmann-Kreises hervor: „Ich habe eine Norm nicht gefunden, vielmehr ersehen können, daß über alle Fragen individuellster Form bei Ihnen gesprochen und geschrieben wird.“ 54 Allen Arbeiten sei gemeinsam „das Bestreben, Kunstwerke und Persönlichkeiten dem Erlebnis näher zu bringen durch liebevolles Versenken in Wesen, Gesetze und Absichten ihres Schaffens.“55 Wolff nimmt keck die literarhistorische Ausrichtung der Gesellschaft zum Anlass, das Neue gerade aus dem Kampf gegen das Literarhistorische zu erweisen: Ich will versuchen zu zeigen, wie unsere Gegenwart und die vorhergehende Generation in der Vergangenheit wurzeln, wie diese eiserne Kette sich atemberaubend und würgend um den Hals derer legt, die frei atmen wollen, wie diese Tradition, die in der Masse Echo fand, lärmend jeden übertönt, der eigene Töne suchte und fand. 56
Der Vorsitzende, Litzmann, obgleich angetan von Wolffs Vortrag, ist mit „den historischen Wertungen des Referenten nicht einverstanden“ und argumentiert, dass gerade der antihistorische Gestus für den Historiker aufschlussreich sei.57 Im Laufe der Diskussion wendet sich Wolff gegen die klassische Tradition des Dramas, die das Komische vom Tragischen trenne. Er wundert sich, dass man ihm zwar wegen seiner Auffassung über den Stellenwert der Literaturgeschichte widersprochen habe, nicht aber wegen der gattungstheoretischen Thesen. 58 Neben deutschsprachigen Autoren wie Ricarda Huch, Thomas Mann, Hofmannsthal, Gerhart Hauptmann (MLG 1906–1908), Rainer Maria Rilke (MLG 1907, 1911), Stefan George (MLG 1908), Hermann Hesse, Eduard von Keyserling (MLG 1910), Wilhelm Schäfer (MLG 1914) wer_____________ 53 54 55 56 57 58
5.4761/58], auch bei Rolf Düsterberg, „Der Barde der SS“. Hanns Johst. Karrieren eines deutschen Dichters, Paderborn 2004, S. 54. Kurt Wolff, Der Dramatiker Herbert Eulenberg, in: Mitteilungen der literarhistorischen Gesellschaft Bonn 7 (1912), S. 3–51. Ebd., S. 3. Ebd. Ebd., S. 4. Diskussion, in: ebd., S. 52. Ebd., S. 57: „Der einzigen sehr subjektiven Wertung des Referates hat zu meiner Freude Herr Dr. Ohmann nicht widersprochen; der Äußerung nämlich, daß die klassische und nachklassische Zeit für unser Drama bei allen Bereicherungen eine wesentliche Verarmung herbeiführte durch die scharfe Trennung der bei Shakespeare und Molière unlöslich gebundenen tragischen und komischen Elemente.“
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den ebenfalls Autoren nicht deutschsprachiger Literaturen vorgestellt: Maurice Maeterlinck (MLG 1906), Jens Peter Jacobsen (MLG 1907) oder Maksim Gor’kij. Sascha Simchowitz’ (1864–1930) Gor’kij-Referat zählt zu den außergewöhnlicheren Begegnungen Litzmanns mit der Gegenwartsliteratur, wobei er das Nachtasyl ausschließlich vom Gesichtspunkt der künstlerischen Technik begreifen will: Wenn ich die Gruppierung der Persönlichkeiten im Nachtasyl um den Luka ansehe, so habe ich unbedingt den Eindruck einer bewußten Arbeit zu einem bewußten künstlerischen Zweck, den Eindruck wie von einem biologischen Problem aus dem Pflanzenreich. 59
Dramatische Charaktere werden mit Pflanzen verglichen, die ohne Sonne aufwachsen und plötzlich dem Sonnenlicht ausgesetzt seien. Aus dieser dramatischen Idee habe Gor’kij das Nachtasyl (ǚǭ DZǺDz) entwickelt. Im Unterschied zum Referenten und anderen Diskutanten plädiert Litzmann für ein symbolisches Verständnis, wonach die reale Situation der russischen Gegenwart lediglich als Stoff der Dichtung gebraucht sei. Simchowitz hält die Aktualität des Stoffes für wesentlich: den Untergrund der Gesellschaft zu zeigen, worauf schon der russische Originaltitel hinweist, der wörtlich übersetzt lautet: Am Boden. Litzmann hält dagegen: Es ist ja das Resultat, zu dem wir neulich kamen, als wir uns bei Jakobsen sagten, wenn wir einen Ausländer behandeln, müssen wir ihn von seinem Milieu aus betrachten. Es ist mir überaus interessant gewesen, Gorki in dieser Beleuchtung zu sehen, aber ich halte meine Anschauung trotzdem aufrecht und frage, sollten die Leute, die die Verhältnisse kennen, vielleicht dem Stoffe gegenüber nicht die Distanz gewinnen können, um das rein künstlerische Moment zu erkennen. 60
An Litzmanns Analyse des Nachtasyls zeigt sich, dass neben dem Geschichtlichen auch strukturhermeneutische Paradigmen wie das künstlerische Moment dazu dienen, Gegenwartsliteratur zu diskutieren. Sozialgeschichtliche Erklärungen waren für Litzmann dagegen unangemessen. Die Diskussion der Gegenwartsliteratur führte nicht nur die Texte, sondern zwangsläufig ihre Urheber in das Blickfeld der fachwissenschaftlichen Aufmerksamkeit. Viel Energie verwendete der Litzmann-Kreis darauf, Dichter zu autopoetologischen Aussagen zu bewegen. Litzmanns brieflicher Nachlass spiegelt daher eine breite Kommunikation mit den verschiedensten Gegenwartsautoren der Jahrhundertwende wider. Zur Mitarbeit an den Sondernummern der Mitteilungen der Literarhistorischen Gesellschaft von 1907 und 1908 (jeweils Nr. 7, Ziele und Wege deutscher Dichtung nach Äußerungen ihrer Schöpfer), die sich dem Schreibprozess der Dichter widmen, wurden angefragt Johannes Schlaf, der sich gern bereit erklärte; _____________ 59 60
Diskussion, in: Mitteilungen der literarhistorischen Gesellschaft Bonn 2 (1907), S. 184. Ebd., S. 185.
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Wilhelm Schmidtbonn, der ein „Selbstbekenntnis“ zu senden versprach; Jakob Wassermann, der ebenfalls der Aufforderung nachkommen wollte, später aber aus Zeitgründen absagte; desgleichen Hermann Bahr, Hugo Salus, Max Halbe, Otto Julius Bierbaum, Richard von Schaukal, Peter Altenberg, der über sein Buch Märchen des Lebens schreiben wollte. Richard Dehmel schob vor, nicht alt genug zu sein, 61 Hermann Hesse hielt „ein solches Sichaussprechen nicht nur für wertlos, sondern auch für unschön“. 62 Hugo von Hofmannsthal und Otto Ernst entschuldigten sich mit Arbeit;63 Thomas Mann, der sich später mit dem Litzmann-Schüler Ernst Bertram befreundete, nachdem dieser ihm seine in der Literarhistorischen Gesellschaft entstandene Arbeit über Königliche Hoheit geschickt hatte, kam der Bitte nach. 64 Der Versuch, die Autoren in die disziplinäre Diskussion zu integrieren, war nicht allein von der Hoffnung getragen, Aufschluss über den Produktionsprozess zu gewinnen, sondern sollte letztlich den Autoren selbst wieder zu Gute kommen. Die Erneuerung der Kultur sollte nicht nur von geschulten Kritikern ausgehen, sondern idealerweise auch von Autoren, die mit dieser Kritik in Dialog standen. Litzmann verkannte damit eines der zentralen Merkmale moderner Literatur; seine Allmachtsphantasie, die literarische Kultur beherrschen zu können, machte ihn blind für deren Eigenschaft, Normen permanent zu unterminieren. Gleichwohl bleibt dieser Versuch erörterungswürdig, da er das Auseinanderdriften von Fachwissenschaft und Dichtung erstmals als Problem formulierte. 2.3. Oskar Walzels formanalytische Literaturwissenschaft in Dresden Oskar Walzel (1864–1944),65 der bei traditionellen Philologen wie Richard Heinzel, Erich Schmidt und Jakob Minor 66 in die Schule gegangen war, _____________ 61 62
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Vgl. Horstmann, Die Literarhistorische Gesellschaft Bonn, S. 70–78, Nr. 2, 3, 4 und 11, 5, 6, 7, 8, 19, 14. Hermann Hesse an Carl Enders, 27.6.1907, in: ebd., S. 75, Nr. 15. Hesse begründet: „Die technische Analyse eines Werkes muß der Kritik ohne Beihilfe des Dichters möglich sein, u. über das dahinter liegende Persönliche öffentlich mich auszusprechen wäre mir unmöglich. Auch glaube ich, daß jedem Dichter, der nicht bloß Routinier ist, der eigentliche Anfang, die eigentliche Entstehungsursache seiner Werke ebenso unklar ist wie meiner Frau die Ursache des Kindergebärens.“ Ebd., S. 80, Nr. 24, 25. Ebd., S. 79, Nr. 21. – Schon Saladin Schmitt hatte sich im Juli/August 1905 Thomas Manns Drama Fiorenza gewidmet (Der Wille zum Leben als Form im neuen Drama). Einführend vgl. Carl Enders, Oskar Walzels Persönlichkeit und Werk, in: Zeitschrift für deutsche Philologie 75 (1956), S. 186–199; Walter Schmitz, Oskar Walzel (1864–1944), in: Christoph König/Hans-Harald Müller/Werner Röcke (Hg.), Wissenschaftsgeschichte der Germanistik in Porträts, Berlin/New York 2000, S. 115–127; Klaus Weimar, Oskar
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repräsentiert drei Neuerungen der Disziplin: Er verband eine formästhetische Literaturwissenschaft (1) mit Geistesgeschichte (2) zur Erschließung der Gegenwartsliteratur (3). Walzels Dresdner Jahre (1907–1921) waren insofern ein Glücksfall für den deutschen Expressionismus, als hier „institutionalisierte[] Literaturwissenschaft und expressionistische[] Bewegung“ durch sein Engagement als „Mitarbeiter der kulturwissenschaftlichen Abteilung an der Kgl. Technischen Hochschule“ 67 eine dynamische Verknüpfung eingingen. Unter seinen Kollegen galt Walzel deshalb als schillernde Figur. Victor Klemperer, der an der TH Dresden französische Literatur unterrichtete, nannte ihn den ersten „Maître de plaisir du genre supérieur en esthétique“68. Vom Standpunkt der Kgl. Technischen Hochschule in Dresden aus gewinnen Walzels Bemühungen um die dichterische Technik eine biographische Pointe.69 Lehrten seine Dresdner Kollegen die Technik einer lebensweltlichen Praxis, so kam es ihm zu, die Technik der literarischen Kunst zu vermitteln. In der Potenzierung – die tpchnē der tpchnē, die ars der ars, die Kunst der Kunst – erscheint sie plötzlich als neues Problem, wird ihr Zweck fragwürdig. Ihr Verfahren selbst rückt ins Zentrum der Aufmerksamkeit. Walzel nennt es Form. Im Unterschied zu Viktor B. Šklovskij, der zeitgleich das Verfahren (Ǽǽǵȍǹ) im Kontext seiner Verfremdungs- und Entautomatisierungstheorie mit der Kunst identifizierte, blieb für Walzel die Form an ihre Idee gekoppelt. Dieser tautologisch anmuten_____________
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Walzels Selbstmißverständnisse, in: Mitteilungen des Deutschen Germanistenverbandes 53 (2006), S. 40–58; Peter Salm, Drei Richtungen der Literaturwissenschaft. Scherer, Walzel, Staiger, Tübingen 1970. Von Heinzel sind nur 2 Karten an Walzel überliefert, dafür eine Mappe mit Briefen von Ada Heinzel an Oskar Walzel [DLA A:Walzel], auch Minors Briefe sind erhalten sowie überhaupt zahlreiche Korrespondenzen von Kollegen (Julius Petersen, Robert Petsch, Hermann Pongs, Eduard Sievers, Fritz Strich, Rudolf Unger, Karl Vossler oder Benno von Wiese) mit Walzel unbearbeitet in dessen Nachlass liegen. Frank Almai, Expressionismus in Dresden. Zentrenbildung der literarischen Avantgarde zu Beginn des 20. Jahrhunderts in Deutschland, Dresden 2005 (= Arbeiten zur neueren deutschen Literatur, 18), S. 191. – Almais vorbildliche Studie über den sozial- und institutionengeschichtlichen Kontext des Dresdner Expressionismus ist eine quellengeschichtliche Fundgrube, zu Walzel s. ebd., S. 191–199 und 286–293. Zwischen 1911 und 1921 hat Walzel kontinuierlich Vorlesungen zur Gegenwartsdichtung gehalten, ebd., S. 194. Viktor Klemperer, Leben sammeln, nicht fragen wozu und warum. Tagebücher 1918– 1924, hg. v. Walter Nowojski, Berlin 1996, S. 441 (Eintrag vom 6.2.1921). – Klemperers Briefe von 1919–1939 an Walzel in [DLA A:Walzel]. Die Bedeutung der Technischen Hochschule für die germanistische Erschließung der Gegenwartsliteratur wird ebenso an Albert Soergel (Chemnitz ab 1911) oder Hermann Pongs (Stuttgart ab 1929) erkennbar. Pongs Arbeit zum Funkmedium Das Hörspiel (1930) behandelt neben Walter Erich Schäfer und Bert Brecht den politisch wie literarisch tätigen Arzt Friedrich Wolf, der in Stuttgart praktizierte.
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de Zusammenhang wurde von ihm mit ‚innerer Form‘ bezeichnet. 70 Wie bei Litzmann, der noch ein symbolisches Verständnis der Kunst als Form hatte, eröffnete die Formkategorie der Gegenwartsliteratur den Zugang zur Disziplin. Bisweilen überblendete Walzel die innerdisziplinäre Reformabsicht mit dem Interesse an der Gegenwartskunst, so dass diese als Argument für jene erscheint und nicht immer klar ist, ob neue Wissenschaft oder neue Dichtung in Frage steht. Walzel hatte bereits 1913 einen Widerstand gegen die wissenschaftliche Praxis, über Lebenswelten statt über literarische Formen zu diskutieren, diagnostiziert. Feinfühlige Männer seien am Werk, „den Begriff der künstlerischen Form neu zu ergründen, ihn auf solche Weise für unsere Zeit zu retten, ihn zu neuem Leben für die Zukunft zu erwecken.“ 71 Daraus leitet er für die Gegenwart ab: „Wir treten in ein Zeitalter ästhetischer Selbstbesinnung.“72 Beiläufig ordnet er die jüngere deutsche Dichtung der skizzierten wissenschaftlichen Entwicklung unter, die von Herders historischer Denkweise, alle Formen in ihr Recht zu setzen, abgekommen sei. Der Naturalismus sei ein „Symptom des geschwächten Formbewußtseins“73, er zeige eben genau jene Konzentration auf das Lebensweltliche wie die bisherige literaturgeschichtliche Kritik auch. Schließlich fragt Walzel, ob nicht der Expressionismus ein Symptom für jene ästhetische, in Kunst- und Literaturwissenschaft zu beobachtende Selbstbesinnung sei. Dem Expressionismus wird gerade nicht ein negatives Verhältnis zur Form attestiert: „Müde der Naturnachahmung spürt der [expressionistische, A.N.] Künstler nach dem Wesen des Formbegriffs, der dem neunzehnten Jahrhundert fast fremd geworden war.“74 _____________ 70
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Walzels russische Rezeption erfolgte weniger in der formalanalytischen, materialästhetischen Schule der sogenannten Formalisten, sondern in der formalphilosophischen Schule der Moskauer Staatlichen Akademie für Kunstwissenschaften, die eben diesen Formbegriff ausarbeitete, vgl. Alexander Nebrig, ‚Künstlerische Form‘. Oskar Walzel und die Staatliche Akademie für Kunstwissenschaften in Moskau, in: Aage A. Hansen-Löve/Brigitte Obermayr/Georg Witte (Hg.), Form und Wirkung: Phänomenologische und empirische Kunstwissenschaft in der Sowjetunion der 1920er Jahre, Paderborn 2013, S. 93–110. Oskar Walzel, Wilhelm von Humboldt über Wert und Wesen der künstlerischen Form [1913], in: Ders., Das Wortkunstwerk. Mittel seiner Erforschung, Leipzig 1926, S. 65–76, hier S. 66. Ebd., S. 65. Ebd., S. 66. Ebd., S. 73. – Gegen dieses Verständnis steht eine Äußerung Gustav Roethes. Im Zuge der Verhandlungen um die Nachfolge Erich Schmidts schrieb er seinem Kollegen Schröder über Walzel 1913: „Allmählich tritt ja auch das Formale wissenschaftlich bei ihm im[m]er mehr zurück, trotz der ästhet.[ischen] Grundstimmung.“ Gustav Roethe an Edward Schröder am 31.07. oder 1.8.1913 (Ruprecht/Stackmann, Regesten zum Briefwechsel zwischen Gustav Roethe und Edward Schröder, Nr. 4392).
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Der sichtbarste Ertrag seiner Fühlung mit der jüngsten Dichtung war Die deutsche Dichtung seit Goethes Tod (1919), die in zahlreichen Auflagen erschien. 75 Walzel erfasste die aktuellsten Tendenzen der literarischen Produktion in ihrer Gesamtheit und war um historische Einordnung bemüht. Er stellte den Expressionismus nicht als Traditionsbruch dar, sondern als ein bewusstes „Anknüpfen an vielfältige, inhaltlich wie formal benennbare Elemente des literaturgeschichtlichen Prozesses.“ 76 Wenn er Dichter wie Kasimir Edschmid, Georg Trakl oder Georg Heym in die Nähe des Barock rückte, konnte er in der Barockstadt Dresden mit öffentlicher Resonanz rechnen.77 Die Expressionisten selbst waren an den Urteilen seiner Geschichte der Gegenwartsliteratur interessiert. Kurt Pinthus, der in Leipzig bei Köster promoviert worden war, bat Walzel umgehend nach Erscheinen seiner Menschheitsdämmerung (1919) um kritische Äußerung. Er habe mit „grösster Freude“ alles aus Walzels Feder über jüngste Dichtung gelesen und erlaube sich, ihm „meine neue Arbeit ‚Menschheitsdämmerung. Symphonie jüngster Dichtung‘, die eine Art abschliessendes Dokument sein soll, zu übersenden.“ 78 Wenn Johannes R. Becher über Walzels Literaturgeschichte lästerte, dann ist der Gerechtigkeit halber zu erwähnen, dass er im selben Atemzug die Menschheitsdämmerung für unnütz erklärte. 79 Der mit Walzel befreundete Albert Ehrenstein stieß sich dagegen an mancher literaturgeschichtlichen Rückbindung: „Was mich anlangt, so glaube ich bei mir an keinen Einfluss Hölderlins, den Sie dort anmahnen, es handelt sich da meiner Ansicht nach, direkt um Homer.“ 80 Neben Ehrenstein war _____________ 75 76 77 78 79
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Askanischer Verlag an Oskar Walzel vom 13.4.1917 [DLA A:Walzel]. Erste Auflage: 8000 Exemplare. Almai, Expressionismus in Dresden, S. 288. Ebd., S. 289. Kurt Pinthus an Oskar Walzel am 18.12.1919 [DLA A:Walzel]. Der Brief Bechers vom 26.7.1921 an den Dresdner Verlag, der ihn aufgefordert hatte, an einer Literaturgeschichte mitzuarbeiten, wird gern als Beleg dafür zitiert, dass die Expressionisten nichts von Walzel hielten. Johannes R. Becher, Briefwechsel, Bd. 1: Briefe von Becher. 1909–1958, hg. v. Rolf Harder et al., Berlin 1993, S. 102f. [unvollständig abgedruckt]. Becher zeigt darin seine grundsätzliche Abneigung gegen literaturgeschichtliche Formen im ‚Kochbuchformat‘. – S. zu diesem Dokument Walter Schmitz, Legitimierungsstrategien der Germanistik und Öffentlichkeit. Das Beispiel „Kriegsgermanistik“. Zum Beitrag von Frank Trommler, in: König/Lämmert (Hg.), Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte, S. 331– 339, hier S. 331. Albert Ehrenstein an Oskar Walzel am 20.3.1918 [DLA A:Walzel]. Im selben Brief bat ihn Ehrenstein, den Psychologen Alfred Adler nach Dresden einzuladen (Der nervöse Charakter). Im Marbacher Nachlass von Walzel liegen Briefe Ehrensteins an Walzel aus den Jahren 1916 bis 1933. – Albert Ehrenstein (1886–1950) schloss sein Geschichtsstudium, begleitet von Philologiestudien, 1910 mit einer Arbeit zur ungarischen Geschichte ab. Er wurde von Karl Kraus gefördert, war Autor der Aktion, vgl. Jörg Drews, Die Lyrik Albert Ehrensteins, München 1969.
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Walzel befreundet mit Jacob Hegner, Fritz von Unruh, Walter Hasenclever 81 und Oskar Kokoschka, für dessen Berufung an die TH Dresden er sich stark machte. Der Lyriker Alfred Günther widmete Walzel die Gedichtsammlung Reinigung. Dichter wie Johannes R. Becher, Julius Maria Becker oder Friedrich Wolf schickten ihm ihre Arbeiten für eine Kritik in der Tagespresse, um diese anschließend mit dem Professor zu diskutieren. 82 Arthur Schnitzler bedankte sich für eine Kritik seines Werkes, ebenso Stefan Zweig, gestehend, dass er mit Ausnahme Gundolfs niemanden in der deutschen Literaturwissenschaft kenne, „der in so künstlerischer Form ähnlich bedeutend-kritisches über ein Buch zu sagen“ wisse wie Walzel. 83 Als Germanist in Dresden galt er nicht nur Döblin als „Helfer und Pionier für die Kunst“84, sondern war für Hanns Johst auch ein engagierter „Mentor der Jugend“ 85 und lebenden Künstler. Er vermittelte u. a. Theodor Däubler eine Pension, setzte sich bei der Tiedgestiftung und der Deutschen Schil_____________ 81
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Vgl. dessen Geburtstagsgedicht Meinem Freunde Oskar Walzel (1924), in: Rheinisches Athenaeum 1948, S. 22f. Vgl. zu Walzel und von Unruh Christoph König, Blättern statt Entscheiden. Von der Fremdheit zwischen Geistesgeschichte und Gegenwartsliteratur im Zeitraum 1910– LQ (LMLUŇ ,ZDVDNL +J %HJHJQXQJ PLW GHP Ä)UHPGHQ¶ *UHQ]HQ Traditionen, Vergleiche. Akten des VIII. Internationalen Germanisten-Kongresses, Tokyo 1990, Bd. 6, Sektion 10: Die Fremdheit der Literatur, München 1991, S. 27–35. – In Marbach liegt eine Mappe mit Briefen von Unruh [DLA A:Walzel]. – Über seine neuesten Projekte informierte Walter Hasenclever Oskar Walzel am 29.12.1920, 7.10.1921, 26.10.1921 [DLA A:Walzel]. – Der Dramatiker und Dramaturg Günther Weisenborn (1902–1969) wurde bei Walzel (1926) promoviert (Das Zwei-Helden-Drama als Strukturtyp in der deutschen Dramatik). In brieflichem Austausch stand Walzel ebenso mit dem promovierten Schriftsteller Hermann Kesser, s. 1 Mappe Briefe von Hermann Kesser an Oskar Walzel [DLA A:Walzel]. Johannes R. Becher an Oskar Walzel am 8.7.1916 [DLA A:Walzel]; Julius Maria Becker an Oskar Walzel am 28.6.1918 [DLA A:Walzel]; Friedrich Wolf an Oskar Walzel am 3.1.1920, worin sich eine (sehr offene) Selbstinterpretation der Bühnenfassung des Nachspiels von Das bist Du findet, und Friedrich Wolf an Oskar Walzel am 1.3.1920 [DLA A:Walzel]. – Walzel hatte an der Aufführung von Wolfs Spiel in einem Vorspiel und fünf Verwandlungen (9.10.1919) gelobt, dass in ihr Dichtung, bildende Kunst und Bühnenkunst zusammengeführt würden, dazu s. Almai, Expressionismus in Dresden, S. 181 und 198, Anm. 439. Arthur Schnitzler an Oskar Walzel am 19.6.1918 [DLA A:Walzel] bzw. Stefan Zweig an Oskar Walzel am 17.9.1920 [DLA A:Walzel]. Alfred Döblin an Oskar Walzel am 12.1.1932 [DLA A:Walzel], unpubliziert. Vgl. auch Alfred Döblin an Oskar Walzel am 1.6.1931 über eine Studie („die erste wirklich richtige“), die ein gewisser Pirkhofer über ihn verfasst hatte [DLA A:Walzel, 91.137.3]. Abgedruckt in Alfred Döblin, Briefe, hg. v. Heinz Graber/Walter Muschg, Olten/Freiburg i. Br. 1970, S. 67. Vgl. Hanns Johst an Oskar Walzel am 20.5.1916 [DLA A:Walzel]. – S. auch Johst an Artur Kutscher über Der Einsame: „Daß Walzel in Dresden mich liest erzählte ich Dir bereits? Jetzt scheibt er auch in der Neuen Rundschau über mich. Es freut mich mächtig daß es sich aller Orten zu regen beginnt. Am meisten aber doch, daß Du als Erster mal die Nase hattest!“ (Vgl. den Brief von Hanns Johst an Artur Kutscher 1917 [undatiert] [DLA A:Kutscher 5.4761/58], auch bei Düsterberg, „Der Barde der SS“, S. 54.)
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lerstiftung für Paul Adler und für Rainer Maria Rilke ein, bei der DäublerStiftung für Ida Bienert, half Max Herrmann-Neiße und Armin Theophil Wegner in Zensurprozessen und unterstützte sie bei einer Freistellung vom Kriegsdienst. 86 Schon vor Erscheinen seiner Literaturgeschichte hatte sich Walzel programmatisch zur Gegenwartsliteratur geäußert. Im Jahr 1917 lud Leopold Freiherr von Andrian-Werburg (1875–1951), dessen Hauslehrer Walzel von 1888–1892 in Wien gewesen war,87 als Delegierter des k.-undk.-Ministeriums des Äußeren den Dresdner Professor nach Warschau zu einem Vortrag über Goethe und die Kunst der Gegenwart ein. Der Text ist aufschlussreich für das zeitgenössische Verständnis des Expressionismus als Ganzheitsästhetik und neuen geistesgeschichtlichen Stils. 88 Erschienen im Jahrbuch der Goethe-Gesellschaft (1917), stellt der Warschauer Vortrag ein literaturgeschichtliches Pendant zu Hermann Bahrs kunstgeschichtlicher Würdigung des Expressionismus von 1916 dar. Bahrs ExpressionismusBuch, das sich auf die Bildende Kunst beschränkt, wird im Sinne von Walzels Primat von der wechselseitigen Erhellung der Künste auf die Dichtung übertragen. 89 _____________ 86
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Zu Däubler s. Theodor Däubler an Oskar Walzel am 31.12.1919 [DLA A:Walzel]. Für Däubler wird sich Walzel mehrfach einsetzen, vgl. Alfred Günther an Oskar Walzel vom 17.6.1926 [DLA A:Walzel] und im Zuge von Däublers Kandidatur für den Literaturnobelpreis, vgl. Carl Schmitt an Oskar Walzel am 23.12.1927 [DLA A:Walzel]. – Zu Adler s. zwei undatierte Briefe von Paul Adler an Oskar Walzel [DLA A:Walzel]. Vgl. auch Jakob Hegner an Oskar Walzel am 6.7.1920 [DLA A:Walzel]: „Adler ist mitten in einem Roman, arbeitet so gut wie nie bisher und wird immer wieder herausgezogen durch die brutalste niedrigste Not.“ Vgl. auch Almai, Expressionismus in Dresden, S. 145, bes. Anm. 151. – Zu Rilke s. Schnack, Rainer Maria Rilke. Chronik seines Lebens und seines Werkes, S. 497. – Zu Bienert s. Ida Bienert an Oskar Walzel am 30.9.1926 [DLA A:Walzel]. – Das betreffende Gedicht Herrmann-Neißes Notturno, das Walzel begutachten sollte, war allerdings schon 1912 im Pan erschienen. Vgl. Max Herrmann-Neiße an Oskar Walzel am 3.9.1921 [DLA A:Walzel]. Zu Wegners Antlitz der Städte s. Ders. an Oskar Walzel am 4.10.1918 [DLA A:Walzel]. – Zu den Freistellungen vom Kriegsdienst s. Almai, Expressionismus in Dresden, S. 194. Die Briefe zwischen Andrian und Walzel aus den neunziger Jahren betreffen private, organisatorische und finanzielle Angelegenheiten [DLA A:Andrian]. In diese Zeit fällt bereits die Bekanntschaft Walzels mit Hofmannsthal [DLA A:Andrian, Nr. 1038]. – Nach seinem Generalkonsulat in Warschau wurde Andrian mit Beginn des Krieges Referent für polnische Angelegenheiten; in dieser Funktion begegnete er Walzel bei seinem Warschauer Vortrag, vgl. Leopold von Andrians Briefe in der Funktion des Delegierten des k. und k. Ministerium des Äußeren an Walzel vom 11.7., 15.8. und 16.9.1916 [DLA A:Walzel]. Dazu Almai, Expressionismus in Dresden, S. 286 und 291f., der den antimaterialistischen Grundzug von Walzels Deutung auf bildungsbürgerliche Bedürfnisse zurückführt, um sie von den eigentlichen Absichten der Expressionisten trennen zu können. Warum die Expressionisten selbst frei gewesen sein sollten von der ‚bildungsbürgerlichen‘ Ganzheitsideologie will mir nicht einleuchten – sind sie doch Teil der bildungsbürgerlichen Kultur. Um zu zeigen, dass er sich schon längst mit Bahrs Gegenstand auseinandergesetzt hatte, gibt Walzel eigene Vorstudien an, darunter seine Einleitung zu Band 36 der Jubiläums-
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Da Walzel nicht an der Front kämpfe, widme er sich der Zeitdiagnose. Die Zukunft werde Untersuchungen wie seiner bedürfen, „sie werden ihr als Zeugnisse dienen, nach denen sie ihr Urteil über die Geschehnisse unserer Tage fällen wird.“ 90 Zur Kriegspropaganda taugt Walzels wissenschaftlich-aufklärerische Rede kaum. 91 Eher fallen skeptische Worte: „Ist Kriegführen wirklich leichter, ist es nicht vielmehr wesentlich schwerer geworden durch die technischen Erfindungen der Gegenwart?“ 92 Die weitere Argumentation gelangt über den Begriff der Kriegstechnik zur Poesie. Walzel sieht die neueste Poesie und den Krieg aus einer gemeinsamen emotionalen Disposition entspringen.93 Die Vorwegnahme des Befundes, dass die neueste deutsche Poesie am Krieg leide, gehorcht der deduktiven geistesgeschichtlichen Methode. Vermeintlichen Kritikern seiner Gegenwartsdiagnose hält Walzel vor, den zeitdiagnostischen Wert der Kunst zu verkennen: „Wer die künstlerische Spiegelung der Zeit schilt, der schilt die Zeit selbst.“ 94 Im Vortrag Goethe und die Kunst der Gegenwart vertritt Walzel die These, „daß in der jüngsten Dichtung ganz ungoethisch ein Bangen vor der Natur, vor der Welt überhaupt waltet.“ 95 Die Weltangst, die eigentlich eine Angst vor der Technik sei, schaffe sich künstlerisch Ausdruck im Verzicht auf Naturnähe, im Fehlen harmonischer Kunstgebilde, durch eine Bewegtheit in der Dichtung und „ein Verlangen nach höchsten Anspannungen des Gefühls“96; vor allem aber als Aussprache von ‚Augenblicken höchsten Entsetzens‘, die mit einer rückhaltlosen Schau und mitleidsvoller Liebe mit den Opfern verbunden werden. Goethe hätte dies als patholo_____________
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Ausgabe von Goethes sämtlichen Werken, hg. v. Eduard v. der Hellen, Stuttgart 1906, S. XXIIIff.; Die Wirklichkeitsfreude der neueren Schweizer Dichtung, Stuttgart/Berlin 1908; Deutsche Vorkriegsdichtung, in: Zeitschrift für den deutschen Unterricht 29, S. 449ff.; Jugendösterreichische Dichtung, in: Internationale Monatsschrift 10, Sp. 1093ff. Zu den Ausführungen zum Barock nach Wölfflin verweist er auf seine zu diesem Zeitpunkt noch nicht erschienene Arbeit Wechselseitige Erhellung der Künste. Anselm Ruests referierte Interpretation zu Heym steht im Literarischen Echo 17, Sp. 393f.; Werfels Brief an Kurt Hiller, in: Neue Rundschau, Januar 1917, S. 92f.; Walzel nennt weiter Max Picard, Das Ende des Impressionismus, München 1916, und Ludwig Rubiner, Das himmlische Licht, in: Der jüngste Tag 33, Leipzig 1917, zur Bestärkung der eigenen These. Oskar Walzel, Goethe und die Kunst der Gegenwart, in: Jahrbuch der Goethe-Gesellschaft 4 (1917), S. 85–129, hier S. 87. Vgl. hierzu auch Almai, Expressionismus in Dresden, S. 193f. Walzel, Goethe und die Kunst der Gegenwart, S. 106. Vgl. ebd.: „das Unerwartete und Befremdende der neuen Kunst des Expressionismus entstammt den gleichen Gefühlen, die heute im Krieg einen guten Teil der Menschheit beherrschen.“ Ebd. Ebd., S. 101. Ebd., S. 126.
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gisch bezeichnet, 97 aber Goethe habe, so Walzel, auch auf dem Boden eines idealistischen Weltbildes gestanden. Als Koordinaten zur Bestimmung des neuen idealistischen Strebens in der Kunst der Gegenwart sind neben Goethes Naturverständnis zu nennen Hermann Bahrs Expressionismus-Begriff von 1916, Worringers Begriffsopposition von Einfühlung und Abstraktion, 98 die von Walzel selbst in ihren Anfängen beförderte geistesgeschichtliche Betrachtung sowie der typologische Epochenstil des Barock nach Wölfflin, 99 den die Werke der zeitgenössischen Dichter Leo Sternberg, Kasimir Edschmid, Georg Heym, Albert Ehrenstein und Franz Werfel verkündeten. Walzel geht es weniger um die historische Richtigkeit von Worringers Begriffsspekulation; er schätzt ihren aufschließenden Wert für die Gegenwart: Urzeit und Orient seien ideale Projektionsflächen für das Unbehagen an der Gegenwart, die Antike, die viel zu stark besetzt sei, zähle weniger dazu. Walzel argumentiert mit Goethe, um mit der Metonymie des Autornamens zu zeigen, was dem Expressionismus abgehe. In keiner Weise will Walzel den ‚Abfall von Goethe‘ kulturkritisch als den Verlust eines Bildungsparadigmas beklagen. ‚Goethe-Pfaffentum‘ und die „ständige Klage, daß die Zeit sich von Goethe entferne“, lägen ihm fern. 100 Was die Gegenwart von Goethe unterscheide, sei der Materialismus, den Walzel in der Macht der Technik walten sieht. Die Gegenwart wird als Fixierung auf das Stoffliche und dessen technische Beherrschbarkeit charakterisiert; der Krieg bilde nur den Höhepunkt dieser Entwicklung. Nun erst gewinne die „Angst vor der Welt“101 ihren eigentlichen Sinn, da sie die „idealistische Weltbetrachtung“102 legitimiere, nach der die neuen Dichter strebten. Die Gegenwartsliteratur des Expressionismus postuliere eine Abkehr vom Prinzip der Materie und von der Lehre ihrer kunstgemäßen Beherrschung als der Technik. So bleibt Walzels Formbegriff idealistisch rückgebunden und lässt sich nicht, wie bei Šklovskij, auf eine reine Verfahrenstechnik im Umgang mit dem sprachlichen Material reduzieren. Die bloß technische, zweckgebundene Verarbeitung des Stoffes in der Gegenwart bezeugt für Walzel das Fehlen eines höheren Prinzips, als welches die Idee verstanden wird. Die Kunst der Gegenwart lehne diesen technizistischen Umgang mit dem Material ab und strebe nach der Idee. Wie die Kunst selbst werde auf der anderen Seite die künftige wissenschaftliche Formbe_____________ 97 98 99
Vgl. ebd., S. 124f. Worringer war in Bern Walzels Student gewesen. Zu Bahr s. ebd., S. 88f., 93f. – Zu Worringer s. ebd., S. 94f. – Zum Barock s. ebd., S. 120– 125. 100 Ebd., S. 85f. 101 Ebd., S. 101. 102 Ebd., S. 127.
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trachtung vom Auffinden des Idealen geprägt sein. Für diesen Befund spricht Walzels Definition der Form, die er schon 1910 in Analytische und synthetische Literaturforschung formuliert hatte. Form umspanne das Spektrum „vom äußerlichen Technischen bis zu dem geheimnisvollen Punkte, an dem die künstlerische Idee in eine ihr notwendige Gestalt übergeht.“103 Um nicht den Eindruck zu erwecken, Walzel kehre zur idealistischen Ästhetik, die er bekämpfte, zurück, sei eine weitere Differenzierung des Formbegriffs erwähnt, die dem Warschauer Vortrag unmittelbar vorausgegangen war und die literaturgeschichtlich von Bedeutung ist, weil sie bei Alfred Döblin wiederkehrt. 104 In dem Vortrag Die künstlerische Form des Dichtwerks (1916) ergänzt Walzel den Materialbegriff der Dichtung um die geistige Dimension. Stofflich, und damit formbar, im Sinne der anderen Künste seien eben nicht nur die direkt wahrnehmbaren Laute und Grapheme oder der Rhythmus, stofflich seien gleichfalls indirekte, über innere Bilder vermittelte Wahrnehmungen: „Die Worte, das eigentliche Werkzeug der Dichtung, rufen in uns Vorstellungen wach. Und so erwecken sie auch Vorstellungen, die auf früheren Sinneseindrücken beruhen.“ 105 Solche Sinneseindrücke zweiter Ordnung erzeugten erst die poetische Welt: „Wir glauben dann etwas zu hören und zu sehen“, so Walzel, „das weit hinausgeht über die Grenzen der unmittelbaren Sinneseindrücke der Wortkunst.“106 Der Zweck der Formung sei keinesfalls äußerlich, z. B. ethisch, sondern liege in sich selbst. Walzel vertritt einen wirkungsästhetischen Ansatz, der, im Sinne Kants, Kunst als Schönheit begreift, die erfreut. Das Schöne aber ist die Form bzw. die Gestalt. Die künstlerische Form habe besondere „Wirkungen auf das Gefühl“107, bereits externe Formen wie die Versmelodie rührten „auf diesem Wege Gefühle wach“ 108. Walzel kennt sogar „ein rein _____________ 103 Oskar Walzel, Analytische und synthetische Literaturforschung [1910], in: Ders., Das Wortkunstwerk, S. 3–35, hier S. 20f. – Zitiert auch bei Martus, Martin Kessel als Literaturwissenschaftler, in: Stockinger/Scherer (Hg.), Martin Kessel, S. 77, im Zuge der historischen Analyse des literaturwissenschaftlichen Technikbegriffs (vgl. ebd., S. 71–79). 104 Vgl. Alfred Döblin, Schriftstellerei und Dichtung, in: Jahrbuch der Sektion für Dichtkunst (1929), S. 70–81, hier S. 73f.: „Das Wort hat nun zwei Elemente, ein tönendes und ein geistiges. Das Wortmaterial – worunter ich nicht das einzelne Wort, sondern die in Worte und Sätze gefaßten Gedanken, Vorstellungen verstehen will, die Wortabbildungen der Wirklichkeit –, dieses Tagesmaterial unterliegt auf dem Wege zum Kunstwerk bestimmten sprachlichen und geistigen Prozeduren.“ 105 Oskar Walzel, Die künstlerische Form des Dichtwerks [1916], in: Horst Enders (Hg.), Die Werkinterpretation, Darmstadt 1967 (= Wege der Forschung, XXXVI), S. 1–33, hier S. 5. 106 Ebd. 107 Ebd., S. 6 und 7. 108 Ebd., S. 5.
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formales künstlerisches Bedürfnis“109, das befriedigt werden wolle. 110 Zentral wird für ihn der Begriff der Ganzheit, über den die zeitliche Abfolge der Wörter in eine räumliche Ordnung überführt wird. Die „eine und dieselbe Formgesetzlichkeit“ 111, die „das Ganze eines dichterischen Kunstwerks“112 betreffe, herrsche in allen Künsten, weshalb sich die Poesie auch mit den Mitteln der Musik – man denke an Leitmotiv – oder der Malerei verstehen lasse. Gleichzeitig konstatiert Walzel das Fehlen einer genuin für die Poesie entwickelten Metasprache und empfiehlt die Sprache der antiken Rhetorik, Grammatik, Stilistik oder die allgemeine Sprache. 113 Letzteres und der Verzicht, eine eigene Terminologie zu entwickeln, ist sicherlich auch verantwortlich dafür, dass Walzels Ausführungen nicht mehr heutigen wissenschaftlichen Anforderungen genügen. 114 Es fällt zudem auf, dass die Linguistik als terminologische Möglichkeit von ihm nicht in Erwägung gezogen wird. Trotz dieses terminologischen Defizits versteht sich Walzel als Reformator seiner Disziplin, deren Kritik, wie weiter oben erwähnt, mit der Gegenwartsdiagnose zusammengeführt ist. Walzel erkannte in der neuesten Dichtung genau jene Wendung, die er in der literaturwissenschaftlichen Kritik selbst herbeiführen wollte, seine eigene Leistung für die Literaturwissenschaft darin sehend, das jeweilige Kunstwerk wieder als ein Ganzes erkannt zu haben. Friedrich Schlegels Formbegriff und die „weltanschaulichen Voraussetzungen des Impressionismus“ 115 – vermittelt über Dilthey respektive über Hermann Bahr –, aber vor allem die eigenen Romantikforschungen waren ihm dabei eine wichtige Stütze. Weniger den Positivismus habe es gegolten zu überwinden, sondern die Form der impressionistischen Kritik, die die deutsche Literaturwissenschaft der Jahrhundertwende prägte als Fixierung auf die Materie: „[S]ie wirkte, als wolle sie alles, auch das Wollen eines Dichters, eines Künstlers überhaupt sinnlos erscheinen lassen.“ 116 Der Positivismus war demnach nur ihre Methode gewesen. „Gewiß,“ räumt Walzel ein, „brachte impres_____________ 109 Ebd., S. 7. 110 Es sei dabei ‚gleichgültig für die höchsten Aufgaben der Formbestimmung‘, ob die ‚Kunstübung‘ (das Verfahren) bewusst oder unbewusst angewendet wurde. Vgl. ebd., S. 10f. 111 Ebd., S. 11. 112 Ebd., S. 6. 113 Vgl. ebd., S. 12. 114 Salm, Drei Richtungen der Literaturwissenschaft, S. 61, sieht bei Walzel einen Mangel an Begriffen, „um die strukturellen Elemente in der Literatur zu bezeichnen“. 115 Walzel, Wachstum und Wandel, S. 283. 116 Ebd., S. 284.
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sionistische Kritik manchen wertvollen Gewinn.“ 117 Er nennt seinen Berliner Lehrer Erich Schmidt einen Impressionisten, weil für ihn die „üblichen Ausdrücke der Ästhetik untauglich [waren], das Besondere und Eigentliche einer Kunsterscheinung auszusprechen.“118 Schmidt habe indessen eine „ungemeine Fähigkeit“ besessen, „kennzeichnende Worte für die Eindrücke zu gewinnen, die ihm Menschen und Kunstwerke schenkten“119. Wie es dem impressionistischen Maler darum gehe, für seine Sinneseindrücke einen Ausdruck jenseits der Begriffe zu finden, so habe Schmidt versucht, das Besondere einer Dichtung in die Sprache der Philologie, als einer immanent stofflichen Wissenschaft, zu übertragen. Auf diesem Weg habe sich Schmidt von den Darstellungsprinzipien philologischer Disziplin entfernt, die darin bestünden, vom Begriff ausgehend, diesen in der Analyse der Kunst aufzulösen und das Einmalige so darzustellen. 120 Impressionismus und Expressionismus sind also nicht allein ästhetische, sondern auch Kategorien der wissenschaftlichen Methodik. Den Expressionismus versteht Walzel „als das Ende materialistischer Entwertung der Geisteskraft des Menschen“ 121, seine Absicht herausstellend, „im Gegensatz zu allen Abschattungen des Materialismus dem Geist sein Recht zurückzugeben und den Menschen nicht länger wie ein kraft- und willenloses Werkzeug naturhafter Bedingungen anzusehen.“122 Walzel sah in der neuen Dichtung ein Moment wirken, das für seine eigene formästhetische Praxis kennzeichnend war. Anders gesagt, legitimierte er den eigenen Formbegriff über die Gegenwartsliteratur. Mit Lothar Schreyer, der Walzel nach dessen Warschauer Vortrag im Oktober 1917 zu einem Sturm-Abend eingeladen hatte, 123 kam es wegen dieser Deutung denn auch zu Meinungsverschiedenheiten. So verkenne Walzel das Machtbewusstsein der Expressionisten, wenn er sie als weltabgewandt darstellte.124 Was Schreyer selbst nicht so formulierte, wohl aber gespürt _____________ 117 Ebd. – Zu Walzels Kritik der ‚impressionistischen Kritik‘ schon Martus, Martin Kessel als Literaturwissenschaftler, in: Stockinger/Scherer (Hg.), Martin Kessel, S. 99f. 118 Walzel, Wachstum und Wandel, S. 20. 119 Ebd. 120 „Begriffe durch Mittel der Kunst zu erfassen, bleibe dem Künstler vorbehalten“ (ebd., S. 21), fordert Walzel gegen Schmidt: „War das Wissenschaft oder Kunst?“ (Ebd.) 121 Ebd., S. 286. 122 Ebd., S. 285. Zum ‚Impressionismus‘ als weiterer Form des Naturalismus s. auch Kurt Breysig, Eindruckskunst und Ausdruckskunst. Ein Blick auf die Entwicklung des zeitgenössischen Kunstgeistes von Millet bis zu Marc, Berlin 1927. 123 Lothar Schreyer an Oskar Walzel am 3.10.1917 und am 8.10.1917 [DLA A:Walzel]. 124 Auch habe er sich zu sehr mit den Übergangserscheinungen zwischen Impressionismus und Expressionismus wie Oskar Kokoschka befasst. Schreyer war es auch, der Walzel eine Beurteilung des Dichters Hermann Essig schickte, in der er ihn von dem neuen, ‚rhythmi-
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haben muss, war sein Walzel entgegengesetztes Formverständnis. Die Materialästhetik des Sturm-Kreises entsprach genau jener Stoff-TechnikRelation, deren Kritik Walzel im Expressionismus formuliert sah. Denkt man jedoch an die messianischen Entwürfe, die neben der Materialästhetik kursierten, oder an die Emphase des Geistigen in der Kunst seit Kandinskij, hatte Walzel nicht ganz Unrecht mit seiner Analyse, die bemüht war, die Gegenwartsliteratur nicht nur mit der Disziplin kompatibel zu machen, sondern sie gleich an die geistesgeschichtlich reformierte Disziplin zu binden und dem Zugriff der alten historisch-philologischen Disziplin zu entziehen. Ihre Zeit kam in den fünfziger Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts, als der nun längst historisch gewordene Expressionismus zum zweiten Mal, nun aber mit den Mitteln der historischphilologischen Arbeit neu entdeckt wurde bzw. der neuen Gegenwart wieder angeeignet werden musste. 125 2.4. Artur Kutschers Literaturkritik und Theaterwissenschaft in München Artur Kutschers Versuch, die germanistische Disziplin der Gegenwartsliteratur zu öffnen, brachte ihn wie kaum einen anderen Germanisten seiner Zeit in Kontakt mit zeitgenössischen Autoren und ihrer literarischen Produktion. Die seinerzeit maßgebliche Kunststadt München 126 kam seinen akademischen Bestrebungen entgegen. Überwindung der historischphilologischen Kritik und wissenschaftliche Erschließung der Gegenwartsliteratur, insbesondere der dramatischen, gingen in Kutschers Arbeit ineinander über. Im Unterschied zu anderen Münchener Privatdozenten, die wie Friedrich von der Leyen, Fritz Strich oder Julius Petersen ebenfalls in Kontakt mit der zeitgenössischen literarischen Produktion standen, erreichte Kutscher aber niemals ein Ordinariat, sondern blieb außerordentlicher Professor, ein Titel, der an ihm jenseits des Universitätsbetriebes haften blieb. 127 Kutschers Karriere geriet ins Stocken, weil er zu viel Energie darauf verwandte, eine Theaterwissenschaft als neue Disziplin _____________ schen‘, Expressionismus des Sturm abgrenzt. Lothar Schreyer an Oskar Walzel am 23.10.1917 [DLA A:Walzel]. 125 S. dazu die Beiträge in: Mitteilungen des Deutschen Germanistenverbandes 58 (2011), H. 2, S. 115–193. 126 Münchens kulturgeschichtliche Bedeutung veranschaulicht Michael Dirrigl, Residenz der Musen. München, Magnet für Musiker, Dichter und Denker. Studien zur Kultur- und Geistesgeschichte Münchens, München 1968. 127 Vgl. Hugo Hartung, Der „Außerordentliche“. Zu seinem 70. Geburtstag, in: Deutsche Rundschau 71 (1948) H. 1, S. 124–130.
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gegenüber der traditionellen Germanistik zu etablieren, 128 sich hierbei aber so weit entfernte, dass sein Platz innerhalb der alten Disziplin prekär wurde. Das berufliche Risiko hatte er von Anfang an gesucht. Am 30. Juli 1906, kurz nachdem Kutscher mit einer Arbeit über Friedrich Hebbel als Kritiker des Dramas (1907) die Lehrbefugnis verliehen worden war, schrieb er über diesen bedeutenden Einschnitt einen programmatischen Brief an den befreundeten naturalistischen Dichter, Kritiker und Herausgeber Michael Georg Conrad (1846–1927). 129 Seine beigelegte Dissertation zu Goethes Lyrik (Leipzig 1906) stehe für eine Literaturwissenschaft im neuen Sinne ein: „Der dumpfen Philologie und Historia“ glaubt er, ein Gebiet aus den Klauen gerissen zu haben und dadurch zugleich für das Natürliche namentlich Schöne* (*Künstlerische) gerettet zu haben. Ich möchte als Dozent in dem Sinne weiter wirken und die Literatur nicht als etwas rubrikartig gegliedertes, historisch Eingeteiltes, sondern arg Lebendiges darstellen. 130
Kutscher bittet Conrad um eine Besprechung der Qualifikationsschrift, sucht gerade nicht einen Fachautor, sondern einen Dichter als Kritiker des Wissenschaftlers, da es sich da um etwas Neues, Lebenswertes, dem Künstlerischen Verwandtes, um etwas, wodurch nicht nur nicht Goethe und der Vergangenheit genützt wird, sondern dem Lebendigen, dem Verständnis für die Kunst positiv durch Anwendung edlerer Gesichtspunkte und tieferes Nachfühlen, negativ durch Bekämpfung der alten Schul-Philologie. 131
Er schätze das Wort eines schaffenden Künstlers mehr, begründet er seine Bitte weiter, als „100 Rezensionen in gelehrten Zeitschriften.“ 132 Das gegenüber Conrad formulierte Anliegen, die Kritik von der Literaturgeschichte zu lösen, um sie fester im lebendigen Prozess der literarischen Produktion zu verankern, setzte Kutscher tatsächlich um und gewann dadurch das Interesse der jüngsten Dichtergeneration. Mit ihr bekämpfte er die alte Philologie von „innen heraus“, wie sein Schüler Klabund ironisch bemerkte.133 Kutschers Seminare, die Erich Mühsam als _____________ 128 Der Jahresbericht über die wissenschaftlichen Erscheinungen auf dem Gebiete der Literaturgeschichte. N. F. 1 (1921), verzeichnet bereits wissenschaftliches Schrifttum zur ‚Theaterwissenschaft‘ (Nr. 14). 129 Conrad war mit einer pädagogischen Arbeit 1868 an der Universität Neapel promoviert worden und wirkte zunächst als Volksschullehrer in Bayern, vgl. Gerhard Stumpf, Michael Georg Conrad. Ideenwelt, Kunstprogrammatik, literarisches Werk, Frankfurt a. M. 1986 (= Europäische Hochschulschriften. Reihe 1, Deutsche Sprache und Literatur, 914), S. 30. 130 Artur Kutscher an Michael Georg Conrad am 30.7.1906 [Monacensia MGC B 558]. – Hervorhebung von Kutscher. 131 Ebd. – Hervorhebung von Kutscher. 132 Ebd. – Hervorhebung von Kutscher. 133 Klabund, Brigitte. Ein modernes Mysterium, in: Ders., Kunterbuntergang des Abendlandes, München 1922, S. 94-109, hier S. 102. Kutscher wird als Parasit Dr. Armin Bodenlos vorgestellt. Auch Lion Feuchtwanger, Thomas Wendt. Ein dramatischer Roman, München 1920, S. 42f., karikiert den mit Kutscher gemeinten Typus des Germanisten.
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„Brutstätte Schwabinger Geistes“134 bezeichnet hat, vereinigten die unterschiedlichsten Akteure des literarischen Lebens. Seminare zur Kritik veranstaltete Kutscher jedes Semester. Sie erfreuten sich großer Beliebtheit, bereits im Winter 1909/10 zählte er in seinen Veranstaltungen insgesamt 280 Hörer. 135 Eng mit der Kritik verband er die Stilästhetik. Er schloss zugleich an die alte rhetorische Praxis des Stylisticum an, die noch Ludwig Uhland vertreten hatte, und diskutierte im Seminar poetische Arbeiten der Studenten.136 Forciert durch Fritz Strich, der seit 1913 in München Seminare zu Form- und Stilfragen anbot, widmete sich Kutscher zunehmend Stilproblemen, die auch von künstlerischer Seite gelöst werden sollten. Wenn Johannes R. Becher – der sogar bei Muncker promovieren wollte – über die eigene „Stil-Entwicklung“137 nachdachte, so stellt dies einen Reflex auf die Aktivitäten Kutschers und Strichs dar. Im Sommer 1919 bot Kutscher erstmals ein Seminar zum Expressionismus an (Die deutsche Literatur der letzten 40 Jahre, Impressionismus und Expressionismus), wobei die Bildung des Epochenbegriffes zeitgleich mit stilgeschichtlicher Reflexion erfolgte. Neben der Kritik waren weitere Themen, die Kutscher wiederholt anbot, Gegenwartsliteratur, besonders Lyrik, Vortragskunst sowie das Theater in Geschichte und Gegenwart. 138 _____________ 134 Erich Mühsam, Unpolitische Erinnerungen, in: Ders., Ausgewählte Werke, Bd. 2, hg. v. Christlieb Hirte, Berlin 1978, S. 611–615, hier S. 613. 135 Artur Kutscher an Korfiz Holm am 23.12.1909 [Monacensia AI/12]. – Dass die Übungen zur Theaterkritik im Auditorium Maximum „unter größter Beteiligung“ stattfanden, erwähnt Wilhelm Reinking, Spiel und Form. Werkstattbericht eines Bühnenbildners zum Gestaltwandel der Szene in den Zwanziger und Dreißiger Jahren, Hamburg 1978, S. 41. 136 Uhlands ‚Stylisticum‘ ist dokumentiert in: Wilhelm Ludwig Holland, Zu Uhlands Gedächtnis. Mittheilungen aus seiner akademischen Lehrtätigkeit, Leipzig 1886. 137 Johannes R. Becher an Artur Kutscher am 19.4.1917 aus Berlin Wilmersdorf [DLA A: Kutscher 57.4262], abgedruckt in: Paul Raabe, Expressionismus. Literatur und Kunst. 1910–1923, München 1960, S. 207. – Zu Bechers Promotion: Johannes R. Becher an Heinrich F. S. Bachmair am 19.4.1914: „Muncker hat meinen Vorschlag, den ich ihm als Doktorarbeit machte, angenommen. Ich bin schon eifrig dahinter“ (Johannes R. Becher und Heinrich F. S. Bachmair, Briefwechsel 1914–1920. Briefe und Dokumente zur Verlagsgeschichte des Expressionismus, hg. v. Maria Kühn-Ludewig, Frankfurt a. M. 1987 [= Regensburger Beiträge zur Germanistik, 3]). – Vgl. in diesem Zusammenhang den Brief Bechers an Walter Sencke am 17.6.1955, in dem er bekennt, er habe „seinerzeit“ die Metriken von Franz Saran und Jakob Minor studiert. – S. ferner Bechers Brief an Artur Kutscher vom 21.9.1912 [DLA A:Kutscher, 57.4261] und Johannes R. Becher, Briefwechsel, Bd. 1: Briefe von Becher. 1909–1958, hg. v. Rolf Harder et al., Berlin 1993, S. 16. 138 Die Auswahl bis 1920 folgt den Vorlesungsverzeichnissen der Ludwig-MaximiliansUniversität München. Die Kriegssemester, in denen Kutscher beim Heere war, sind nicht berücksichtig: Die Grundzüge der literarischen Kritik. Eine Untersuchung in Streifzügen durch die neuere Literatur (So 08, Wi 10/11); Praktische Übungen in literarischer Kritik über Gattungen und Stile unserer neueren Dichtung (So 19); Der deutsche Dichtstil (So 15, So 17); Übungen in literaturhistorischer Stilvergleichung (So 17); Übungen zum Problem der Form in der deutschen Dichtung (Wi 17/18, So 18, Wi 18/19, So 19); Grundsätze lite-
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Kutschers wissenschaftsgeschichtliche Bedeutung als Pionier der Theaterwissenschaften ist zuerst von ihm selbst in seiner Autobiographie Der Theaterprofessor gewürdigt worden. Tatsächlich waren seine Theaterarbeiten originelle Bemühungen.139 Er half nicht bloß, eine Disziplin zu begründen, sondern erschloss in der Theatergeschichte nicht literarisierte Formen des Theaters – Naturtheater, Passionsspiele, das japanische Theater 140 – für die Theateravantgarde. 141 Damit verschob er den Akzent vom philologisch erschließbaren Drama der schriftlichen Hochsprache auf primitive Formen. Eine zentrale Differenz in Kutschers germanistischer Praxis ist daher diejenige von Theater und Literatur, die zwischen der Bühnenkunst und dem literarischen Text unterscheidet. In der Zeitschrift Phöbus, wo Hugo Ball oder Alfred Vagts 142 veröffentlichten, heißt es programmatisch in Kutschers Eröffnungsartikel: „Das künstlerische Ausdrucksmittel der Literatur ist das Wort, die Sprache; und was nicht mit der Sprache ausgedrückt, angedeutet, bewegt werden kann und in ihr völlig Form findet, das ist nicht Literatur.“143 Aufgrund dieser Abgrenzung kann er für die Bühnenkunst eine eigenständige, nicht philologische Wissenschaft einfordern, in der der Körper als Medium der Ausdruckskunst im Zentrum steht.144 Kutscher orientierte sich an Hugo Dingers Buch Dramaturgie als Wissenschaft (1904), das großen Wert auf den Unterschied zwischen Text und Performanz legt, mit der Folge, dass er das Illusionstheater angriff und eine „Episierung des Theaters“ 145 förderte. _____________
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rarischer Kritik und deutsche Stilkunde (Wi 19/20); Sprechtechnik mit Übungen in Rede und Vortragsstil (So 10, Wi 10/11, So 11, Wi 11/12, So 12, Wi 12/13, So 13, Wi 13/14, So 14); Geschichte der Bühne, des Theaters und der Schauspielkunst von den ältesten Zeiten bis zu den Problemen des Künstlertheaters (So 10, Wi 10/11, Wi 11/12, So 13); Übungen zur Dramaturgie und Regie an Hand des Spielplans unserer Bühnen (Wi 10/11, So 11, So 12, Wi 12/13, Wi 13/14, Wi 17/18, Wi 18/19). Hierzu Andreas Englhart, „Keine eindeutige Persönlichkeit“ – Der „Theaterprofessor“ Artur Kutscher und die Theaterwissenschaft an der Universität München, in: Elisabeth Kraus (Hg.), Die Universität München im Dritten Reich. Aufsätze. Teil II, München 2008 (= Beiträge zur Geschichte der Ludwig-Maximilians-Universität, 4), S. 49–62. Zu Letzterem vgl. Artur Kutscher an Magda Janssen am 16.1.1917 [Monacensia AI/Konv]. Vgl. Andrea Bartl, Auf der Suche nach der „neuen Bühne“. Thomas Mann, Artur Kutscher und die Münchner Theateravantgarde, in: Thomas-Mann-Jahrbuch 21 (2008), S. 71–100, bes. S. 85. Vagts lernte im Kutscher-Seminar Klabund und Eugenie Bausch kennen; zu seinen Erinnerungen im Hamburger Institut für Sozialforschung s. Petra Jenny Vock, „Kritikwürdige Lyrik aus dem Kriege, dokumentarisch vielleicht wichtig.“ Die Gedichte des „Aktions“Lyrikers Alfred Vagts aus dem Ersten Weltkrieg, in: JbDS XLIII (2004), S. 231–266. Artur Kutscher, Theater und Literatur, in: Phöbus. Monatsschrift für Ästhetik und Kritik des Theaters, München 1914, H. 1, S. 1–5, hier S. 1. Vgl. Bartl, Auf der Suche nach der „neuen Bühne“, S. 88, vgl. auch S. 84f. Ebd.
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Gleichwohl blieb Kutscher, der in seiner Jugend selbst Dramen verfasst hatte,146 dem literarisierten, textbasierten Theater verpflichtet. Er gab die Werke Frank Wedekinds heraus und inszenierte für den Neuen Verein Lenz’ Soldaten (14.6.1911). 147 Seine Bedeutung für Thomas Mann, z. B. für dessen Hebbel-Bild, für Hanns Johsts Grabbe-Drama Der Einsame oder Bert Brecht ist noch zu klären. 148 Worum es Kutscher in der Hauptsache ging, war die Abschaffung des Illusionstheaters, auf dem er das Theater als Dichtung entstellt sah. Die Ausdruckskunst der Bühne besaß dabei den Rang einer Programmschrift. Kutscher setzte gegen die Illusionsästhetik eine Ausdrucksästhetik, die er mit dem Begriff der Stilisierung umriss und deren Vorläufer er im Künstlertheater sah: „Man könnte die Bühne des Künstlertheaters dieser ihrer Absicht wegen Stilbühne nennen“ 149, wobei der Begriff Phantasiebühne noch angemessener erscheine. Die Vermeidung einer Bühnenillusion, so Kutscher, erlaube es erst, das ganze Potential des Dramentextes zu nutzen. Die Verfechter der Illusionsbühne sahen das genau anders herum, indem sie argumentierten, je weniger man auf die Rahmenbedingungen der Bühne achte, je mehr man sie als konventionelle Begleiterscheinungen ansehe, desto intensiver könne man sich auf die dramaturgische Anlage des Stückes konzentrieren. Jede Änderung der Bühnenkonventionen führe zur Irritation und lenke vom Text ab. Kutscher entgegnet, eine solche Auffassung habe „kein Verständnis für das, was Stilisierung im Sinne der Ausdruckskunst der Bühne heißt.“ 150 Stilisierung wolle den Text interpretieren, akzentuieren, an ihm ein besonderes Merkmal hervorkehren. Damit aber befreit Kutscher die Bühne aus ihrer Kulissenhaftigkeit und weist _____________ 146 In einem Brief vom 11.11.1899 bat Kutscher den damaligen Kritiker Edgar Steiger um die Begutachtung der Dramenskizze Arbeit. Ein Stück Leben in einem Aufzuge [Monacensia Nachlass Edgar Steiger ES M 192]. Dass Kutscher noch 1901 an einem Dreiakter schrieb, geht aus einem Brief seines Freundes Witkop hervor [DLA A:Kutscher 57.5506/2]. 147 Artur Kutscher an Magda Janssen, Karte vom 13.3.1911 [Monacensia AI/Konv] und Ders. am 14.6.1911 an den Neuen Verein [Monacensia NV B 79]. Der Neue Verein war hervorgegangen aus dem Akademisch-dramatischen Verein und führte auch von der Zensur verbotene Stücke auf. Ein weiterer Literaturhistoriker neben Kutscher war der HauptmannSpezialist Dr. Emil Sulger-Gebing. 148 Bartl, Auf der Suche nach der „neuen Bühne“, S. 82, vermutet: „Manns Hebbel-Bild könnte daher in Bezug auf das Theater auch von Kutschers Hebbelschriften gefärbt sein.“ – Kutscher bot im Sommer 1911 und 1912 folgende Seminare an: Kleist-Grabbe-HebbelWedekind und Lenz-Grabbe-Wedekind. – Gerd Witzke, Das epische Theater Wedekinds und Brechts. Ein Vergleich des frühen dramatischen Schaffens Brechts mit dem dramatischen Werk Wedekinds, Tübingen 1972, hat den Zusammenhang Brechts mit Wedekind erörtert, zu Kutscher s. ebd., S. 33 und öfters. 149 Artur Kutscher, Die Ausdruckskunst der Bühne. Grundriß und Bausteine zum neuen Theater, Leipzig 1910, S. 78. 150 Ebd., S. 81.
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Regie und Dramaturgie eine neue Aufgabe zu. München wird als Bühnenort dieser ästhetischen Erneuerung reklamiert. 151 Neben der Theaterwissenschaft sah Kutscher, wie eingangs schon angesprochen, eine weitere Aufgabe darin, kritisches, selbstständiges Urteilsvermögen zu lehren; in diesem pädagogischen Anspruch war er Litzmann ähnlich. Mit seinem Schüler Hans Brandenburg diskutierte Kutscher Fragen einer Kritik jenseits der historisch-philologischen Methode des neunzehnten Jahrhunderts, deren Objektivitätsideal sich an den Naturwissenschaften orientierte. „Was werden Sie“, fragt er, „zu meinen Grundsätzen der literarischen Kritik sagen, die eine Reform des ganzen ‚naturwissenschaftlichen objektiven Betriebes‘ zu Gunsten des ‚persönlichen Wertens‘ der Arbeit ‚individueller Begabung‘ anstreben?“152 Gegenüber seiner Mitarbeiterin der ersten Münchener Jahre, Magdalena Janssen (1874–1926),153 gesteht er, sich von der Literaturgeschichte lösen zu wollen, da er sie als Ballast empfindet: So muß ich mich durch alles hindurch wühlen, und leider haften meinen Ausführungen auch so viel Schlacke der Gewohnheit und literarische Überlieferung an, von der Sie so fern sind. Glauben Sie, ich strampele das noch alles von mir. 154
Kutschers zwiespältige Haltung zur Literaturgeschichte drückt sich in der Kritik der neuesten Produktionen aus. Er bedarf jener als Referenz, um das Neue einzuordnen. Als zwei Jahre später Janssen ihr Drama Päpstin Johanna zur Begutachtung schickte, war er voll des Lobes. Publikation und Aufführung empfehlend, verglich er Janssen mit Achim von Arnim. 155 Janssen, das ‚tüchtigste Mitglied‘ von Kutschers Seminar, arbeitete zum Gegenwartsautor Karl Henckell. Ihre Studie sollte den Grundstock einer kritischen Übung zu neuester Dichtung bilden.156 Die gemeinsame Neubearbeitung von Georg Scherers Anthologie zur Gegenwartsdichtung _____________ 151 Ebd., S. 221. 152 Artur Kutscher an Hans Brandenburg am 24.12.1909 [Monacensia AI/9]. In dem Dichter Hans Brandenburg, der bei Kutscher zu Schillers Briefen arbeitete, auf das Doktorexamen aber verzichtete, glaubte Kutscher nicht nur einen Philologen, sondern auch einen Wissenschaftler des neuen Typs verloren zu haben (ebd.). 153 Von ihr liegen in der Monacensia und in Marbach umfangreiche Briefwechsel mit Michael Georg Conrad, Karl Henckell, Georg Witkowski, Paul Ernst und Wilhelm von Scholz. – In einem Brief an die vier Jahre ältere Studentin Janssen gibt Kutscher Auskunft über den Seminaralltag (Artur Kutscher an Magda Janssen am 29.5.1909 [Monacensia AI/Konv]). 154 Ebd. 155 Artur Kutscher an Magda Janssen am 6.4.1911 [Monacensia AI/Konv]. 156 Gegenüber Korfiz Holm heißt es, diese Arbeit charakterisiere Henckell „in seiner Entwicklung als den einzigen sozialen Dichter seiner Periode, der sich später rein als Künstler entfaltete.“ (Artur Kutscher an Korfiz Holm am 23.12.1909 [Monacensia AI/12].) – Vgl. in diesem Zusammenhang auch Kutschers Anfrage an Janssen vom 22.10.1911, ob sie nicht über Wilhelm von Scholz arbeiten wolle [Monacensia AI/Konv].
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weckte unter den Dichtern Begehrlichkeiten, da Kutscher gezwungen war, Altes auszusondern und Neues hinzuzufügen.157 Der neue, nicht mehr historisch-philologische Kritikbegriff, mit dem die Gegenwartsliteratur beurteilt werden sollte, wurde von Kutscher in der Schrift Die Ausdruckskunst der Bühne umrissen. Der Dramatiker Friedrich Hebbel, über dessen Begriff der Kritik sich Kutscher habilitiert hatte, bildete dabei eine wichtige Bezugsfigur. Hebbel habe, als Hegel von ästhetischer und Gervinus von literarhistorischer Seite das Ende der Kunst verkündeten, das genaue Gegenteil bewiesen. 158 Wenn nach Kutschers Darstellung Hebbel besser als der Ästhetiker und der Literaturhistoriker wisse, was Dichtung sei, dann ist eine solche seitens der Fachwissenschaft ausgestellte Bescheidenheit für junge Dichter schmeichelhaft, da implizit ihre eigene poetologische Stimme eine Aufwertung erfährt. Hebbel erkannte, so Kutscher, die Kunst „als Lebensnotwendigkeit, und diese wirkte sich aus im Dichter für die Welt, weil eben in ihm die bewegenden Kräfte der Kultur seiner Zeit arbeiteten.“ 159 Kutscher war fest davon überzeugt, dass Kunst und Kultur „stilltreibend von innen aus wüchsen“ und sich nicht kümmerten, „ob man sie erkennt und würdigt.“ 160 Indem er als akademischer Lehrer paradoxerweise genau das Gegenteil tat, verabschiedete er das gewöhnliche literaturhistorische Muster, nach welchem das Neue am Alten zu messen ist: „Das wahre Gesicht unserer Kultur sieht nicht aus wie das der Schwestern Antike und Renaissance“ 161. Die Bewertung der Dichtung sei nur aus sich selbst möglich, _____________ 157 Vgl. Postkarte Artur Kutscher an Magda Janssen vom 12.2.1910 [Monacensia AI/Konv]. – Julius Petersen hatte Kutscher den Auftrag vermittelt, Georg Scherers Deutschen Dichterwald für die Deutsche Verlagsanstalt Stuttgart zu überarbeiten: „Es handelt sich im wesentlichen“, so Petersen, „um Ausscheidung gemachter älterer Stücke, die Scherer z. T. um persönl. Rücksichten aufnahm, und um eine Ergänzung bis auf die neueste Zeit. Beides würde Ihnen wohl wenig Mühe machen während ich nicht so darin stehe“ (Julius Petersen an Artur Kutscher am 19.7.1909 [DLA A:Kutscher 57.5070/2]). Das Honorar betrage 500 Mark und 90 Groschen für jedes verkaufte Exemplar. – Nicht alle dichtenden Zeitgenossen waren mit Kutschers Praxis einverstanden: Da Kutscher, so Ernst Lissauer, über ihn geschrieben und ihn im Kolleg besprochen habe, fragte er nun ‚enttäuscht‘, „warum Sie mich in Ihrer Anthologie übergehen“ (Ernst Lissauer an Artur Kutscher Ende 1911 oder Anfang 1912 [DLA A:Kutscher 57.4872]). Vgl. auch die Briefe Ernst Lissauers an Kutscher vom 13.3., 11.4. und 24.6.1908 [DLA A:Kutscher 57. 4872]. Ähnlich reagierte Carl Busse, als er feststellte, Kutscher wolle die Anzahl seiner Gedichte von 7 auf 3–4 reduzieren (Carl Busse an Artur Kutscher am 7.2.1910 [DLA A:Kutscher 57.4354]). 158 Gervinus stand für das Ende der Literaturgeschichte. S. die Dissertation von Max Rychner, Georg Gottfried Gervinus. Ein Kapitel über Literaturgeschichte, Berlin 1922, und Ernst Robert Curtius’ Brief an Rychner vom 1.3.1924 in: Marbacher Magazin 41 (1987), S. 7f. 159 Kutscher, Die Ausdruckskunst der Bühne, S. 216. 160 Ebd., S. 216. 161 Ebd.
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„aus dem unmittelbaren Zusammenhang alles Lebendigen“ 162. Kutschers Versprechen an die Gegenwartsautoren, die in seine Seminare strömten, war verheißungsvoll. Schon 1910 konnte er verkünden: „Der Sturz des alten, der Bau des neuen Theaters bereitet sich vor.“ 163 Von zentraler Bedeutung als Vermittlungsort neuester Poesie sowie als Generator der reformierten wissenschaftlichen Öffentlichkeit war Kutschers Seminar, mit dem beinahe jeder Autor, der sich in den 1910er Jahren in München aufhielt, in Berührung kam. Bei Kutscher studierten viele dramatisch interessierte Autoren wie Hugo Ball, 164 Marieluise Fleißer (1901–1974),165 Hanns Johst und Bert Brecht. 166 Es sind jedoch nicht bloß Dramatiker, sondern Dichter aller Gattungen, mit denen Kutscher
_____________ 162 Ebd. 163 Ebd., S. 217. 164 Ball studierte von 1906–1910 in München und Heidelberg Germanistik und Philosophie, ohne die Dissertation über Nietzsche abzuschließen. Befreundet war er in München mit den Studierenden Kutschers Hans Leybold (1892–1914) und Käthe Brodnitz (s. Richard Sheppard, Hugo Ball an Käthe Brodnitz. Bisher unveröffentlichte Briefe und Kurzmitteilungen aus den „Dada Jahren“, in: JdSG 16 [1972], S. 37–70) und Carl Schmitt (s. Bernd Wacker [Hg.], Dionysius DADA Areopagita. Hugo Ball und die Kritik der Moderne, Paderborn 1996, S. 207–239). Mit Kutscher blieb er als Dramaturg der Münchener Kammerspiele (1912–1914) in Kontakt, vgl. Hugo Ball an Artur Kutscher am 26.9.1913 aus München [DLA A:Kutscher 57.4252] und Hugo Ball, Briefe 1904–1927, Bd. 1: 1904–1923, hg. v. Gerhard Schaub, Göttingen 2003 (= Hugo Ball, Sämtliche Werke und Briefe, 10), S. 28. Kutscher publizierte mit Ball gemeinsam in der avantgardesken Theaterzeitschrift Phöbus. – Zu Ball s. Gerd Stein, Die Inflation der Sprache. Die dadaistische Rebellion und mystische Versenkung bei Hugo Ball, Frankfurt a. M. 1975. 165 Vgl. Hiltrud Häntzschel, Marieluise Fleißer. Eine Biographie, Frankfurt a. M. 2007, S. 31– 34. Auf der Immatrikulationskarte präzisierte Fleißer als Studienrichtung „Dramat.“, was es genau genommen damals nicht gab, ebd., S. 31. 166 Bertolt Brechts Referat von Hanns Johsts Roman Der Anfang in Kutschers Seminar, das er zusammen mit Hedda Kuhn (eigentlich Medizin) und Caspar Neher besuchte, führte zum zeitweiligen Rauswurf Brechts. Seine Seminarbesuche lagen zwischen 1917–1919. Die Episode ist erforscht: Dieter Schmidt, Die Fehde gegen Hanns Johst im Seminar Kutschers, in: Ders., Baal und der junge Brecht. Eine textkritische Untersuchung zur Entwicklung des Frühwerks, Stuttgart 1966 (= Germanistische Abhandlungen, 12), S. 27–29; Ulrich Weisstein, The lonely ‘Baal’. Brecht’s first play as a parody of Hanns Johst’s ‚Der Einsame‘ (1970), in: Ders., Links und links gesellt sich nicht. Gesammelte Aufsätze zum Werk Heinrich Manns und Bertolt Brechts, New York 1986 (= Germanic studies in America, 52), S. 303–325; Kirsten Boie-Grotz, Das Kutscher-Seminar, in: Dies., Brecht, der unbekannte Erzähler. Die Prosa 1913–1934, Stuttgart 1978, S. 28–30; Florian Vaßen, Die ‚Verwerter‘ und ihr ‚Material‘. Brecht und Baal. Bertolt Brechts ‚Baal‘, ein Gegenentwurf zu Hanns Johsts ‚Der Einsame‘, in: Grabbe-Jahrbuch 8 (1989), S. 7–43; Werner Hecht, Brecht Chronik. 1898–1956, Frankfurt a. M. 1997; Jürgen Hillesheim, Augsburger Brecht-Lexikon. Personen, Institutionen, Schauplätze, Würzburg 2000, S. 110f.; Ders., Bert Brecht fand zu sich selbst. Der Tod der Mutter und der Auftritt des Münchener ‚Theaterprofessors‘ Artur Kutscher, in: Literatur in Bayern 23 (2008), H. 91, S. 9–14.
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brieflich korrespondierte, 167 um sie für einen Seminarbesuch oder eine Lesung zu gewinnen. Einer seiner Lieblingsschüler schien Alfred Henschke, alias Klabund, gewesen zu sein,168 den er im Winter 1911/12 in seinen Übungen in literarischer Kritik zu Gast hatte. Trotz Vorlieben ging Kutscher bei den Einladungen mit erstaunlicher Indifferenz vor. Jeden Gegenwartsautor hieß er willkommen. Mit Thomas Mann, der mehrmals kam, war Kutscher über den Neuen Verein bekannt. Auch Heinrich Mann kam Kutschers Aufforderung, im Hotel Union zu lesen, nach. 169 Über die Vermittlung Stefan Zweigs gelang es, den belgischen Dichter Émile Verhaeren am 13. März 1912 für eine Lesung in München zu gewinnen.170 Literaturgeschichtlich informativer sind die wenigen Absagen. Hugo von Hofmannsthal nutzte in einem Brief vom 1. Februar 1908 die Gelegenheit, die Aufgabe der wissenschaftlichen Literaturkritik zu bestimmen. Hofmannsthal, Kutschers Arbeit würdigend, empfinde das über _____________ 167 Die Briefe an Kutscher sind eine bislang kaum genutzte Quelle. Bisher liegen nur EinzelYHU|IIHQWOLFKXQJHQ YRU 0LUD èRUéHYLý 5RGD 5RGDV %ULHIH DQ $UWKXU .XWVFKHU – 1939), in: Vlado Obad (Hg.), Roda Roda, Zagreb 1996 (= Zagreber germanistische Beiträge. Beiheft, 4), S. 67–75. – Erste Vorarbeiten zur Briefedition von Petra Herrmann, Schriftverkehr geKUTSCHERt. Briefedition am Beispiel der Briefe von und an Artur Kutscher, Diplomarbeit Bamberg 2009 [DLA LL:Quart (Kutscher,Art.)]. 168 Kutscher beabsichtigte, Henschkes Gedichtband Morgenrot! Klabund! Die Tage dämmern! zu besprechen (Alfred Henschke an Artur Kutscher am 28.9.1913 [DLA A: Kutscher 57.4262/2]). Henschke, der sich als Dichter unter der an Rimbaud und Villon geformten Maske des Vaganten Klabund gerade einen Namen zu machen begann, unterrichtete Kutscher ebenso von dem gegen ihn als Autor geführten ‚Sittlichkeitsprozess‘ (ebd.), der, wie er einen Monat später schrieb, keine Farce sei und auf „Denunziation“ des Reichsboten beruhe (Alfred Henschke an Artur Kutscher am 30.10.1913 [DLA A: Kutscher 57.4262/3]), aber den Erfolg des Autors vergrößerte: „Klabund ist durch den Prozeß und auch sonst sehr populär geworden“ (Klabund an Artur Kutscher am 21.1.1914 [DLA A: Kutscher 57.4693/1]). Kutscher bat den jungen Dichter um neue Texte für einen Klabund-Abend, vgl. Klabund an Artur Kutscher am 21.1.1914 [DLA A: Kutscher 57.4693/1]. Als Kutscher Klabunds Werke mit denen anderer Autoren vorstellen wollte, protestierte der Dichter gegen die klassifizierende Kritik des Wissenschaftlers: „ich möchte nicht gern ‚klassifiziert‘ werden mit Leuten, die ich nicht kenne. Dazu fühle ich mich zu sehr als Klasse ‚für sich‘“ (Klabund an Artur Kutscher am 30.1.1914 [DLA A: Kutscher 57.4693/2]). 169 Vgl. Heinrich Mann an Artur Kutscher am 21.5.1912 und 23.11.1916 [DLA A:Kutscher 57.4903, 57.4904]. – Darüber hinaus vermittelte Kutscher an Mann anlässlich der Aufführung von Madame Legros in den Kammerspielen männliche Komparsen. 170 Stefan Zweig an Artur Kutscher am 21.11.1911 [DLA A:Kutscher 57.5533]. Vgl. auch Stefan Zweig an Artur Kutscher am 4.1.1912 [DLA A:Kutscher 57.5535]. – Zu den Vorbereitungen vgl. die weiteren Briefe [DLA A:Kutscher 57.5539, 57.5540]. – Für den eigenen Besuch im Winter 1912 bei Kutscher bat er um eine Übersetzung von Walt Whitmans Gedichten, das Gedichtbuch Held Namenlos von Paquet und den Strom von Lissauer. Zweig glaubte, an Beispielen zu „vielen anschaulichen Resultaten“ (Stefan Zweig an Artur Kutscher am 31.10.1912 [DLA A:Kutscher 57.5542]) zu kommen. Zweig wolle zudem im Neuen Verein lesen, aus Prinzip ohne Honorar (Stefan Zweig an Artur Kutscher am 4.11.1912 [DLA A:Kutscher 57.5543]).
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ihn „Publizierte als ganz grenzenlos unzulänglich.“ Es störe ihn die „Manier, ohne wirkliche Vertiefung in die Arbeiten des Betreffenden halbkennerisch mit aufgeschnappten meist falschen Informationen eine Art Bild des Poeten geben zu wollen“, empfehlend: Die Wahrheit über einen Lebenden sagt man glaub ich (und wohl auch über einen Toten) wenn man sich ganz an das Producierte hält. Dies unendlich dichte Gewebe geistiger Relationen (immer dichter je mehr man sich darein vertieft) wird einem allmählich zur Hieroglyphe, zum Gesicht. Dies Gesicht des Dichters darf man abmalen – alles andere ist erbärmliche Carricatur. 171
Rainer Maria Rilke nutzte die Anfrage Kutschers, ein Unbehagen an der Kritik des eigenen Werkes zu äußern: Von allen Möglichkeiten des Verlages (ich habe die letzten Jahre jede abgelehnt), wäre mir diese als die ernsthafteste, am ehesten greifbar, wenngleich andrerseits der Umstand, an einem kritischen Experiment mitzuwirken, mich vielleicht lähmen könnte. Sie wissen nicht, wie sehr es meiner Natur entspricht, daß das künstlerisch gebildete Ding, dem bloßen, dem unendlichen Hinnehmen überlassen sei – keiner Einstellung sonst. Wie ich selbst, als Lesender und Empfangender jedesmal nichts als offen und arglos bin. 172
Kasimir Edschmid dagegen äußerte sich zu der Bitte einer Selbstinterpretation weniger empfänglich: 1. weil meine seitherige Produktion mir in keiner Weise das gibt, was ich will und seit vier Jahren bearbeite, was mein in Kürze kommender grosser Roman zeigen wird. Zweitens, weil mich der Gedanke, man analysiere, zerfetze mich froissiert. 173
Aber Edschmid blieb die Ausnahme, in der Regel kamen sie, wenn sie nicht ohnehin bei Kutscher studierten wie einst auch Edschmid. Kutschers einziges Auswahlkriterium für eine disziplinäre Integration schien das Bekenntnis zum Dichtertum zu sein. Inwiefern Kutschers Lesungen und Seminargespräche überhaupt noch als Teil der Disziplin gelten konnten, ist fraglich, da sie den disziplinären Rahmen als Bühne nutzten, ohne ihn zu bestätigen, sondern ihn bisweilen sogar angriffen. Die ästhetische und politische Pluralität, die Kutschers Seminar versammelte, macht eine Bestimmung seines eigenen Standpunktes nahezu _____________ 171 Hugo von Hofmannsthal an Artur Kutscher am 1.2.1908 [DLA A:Kutscher 57.4720] bzw. Hugo von Hofmannsthal, Brief-Chronik. Regest-Ausgabe, Bd. 1: 1874–1911, hg. v. Martin E. Schmid, Heidelberg 2003, Sp. 1110. 172 Rainer Maria Rilke an Artur Kutscher am 2.1.1917 [DLA A:Kutscher 57.5552] und am 18.3.1917, wo er absagt: „so muß ich leider auf die Ehre, im Kreise Ihres Seminars zu Worte zu kommen, weiterhin verzichten.“ [DLA A:Kutscher 57.5126]. – Obgleich Rilke nicht absagte, konnte Kutscher den Zögernden weder 1912 noch 1917 gewinnen. 173 Kasimir Edschmid an Artur Kutscher am 21.6.1919 [DLA A:Kutscher 57.4440]. Ein Jahr später, im Mai 1920, bat er Kutscher, eines seiner Werke zu rezensieren (Kasimir Edschmid an Artur Kutscher am 23.5.1920 [DLA A:Kutscher 57.4441]).
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unmöglich. Er sah sich, zumindest bis zum Ende des Kaiserreiches eher als Medium, durch das die Gegenwartsautoren im akademischen Diskurs wahrgenommen werden konnten. Genauso wie zu dem nationalistisch eingestellten Hanns Johst, dem späteren Präsidenten der Reichsschrifttumskammer, 174 suchte er die Nähe zu jenen Expressionisten, die man der politischen Linken zurechnet. Thomas Manns Urteil über Kutscher nach 1945 bezeugt eine liberale Tendenz. 175 Ästhetisch begrüßte Kutscher nicht alle Neuerungen, bisweilen konnte er scharf verurteilen. 176 Max Halbe, zu dem er mit den Studierenden vor dem Krieg eine Werkausgabe geplant hatte, 177 gestand er aus dem Felde am 14. Oktober 1915, daß ich Ihre Kunst für bodenständig und echt halte und wohl weiß, was sie Ihrer Ehrlichkeit und Kraft verdankt. Möchten das nur die Jungen und Jüngsten nur wissen, die sich auf ihren verschnörkelten Formalismus soviel zu Gute tun, auch ohne daß sie die schöpferische Notwendigkeit der Geburt eines selbständigen Stückes Leben verspüren. 178
Erich Mühsam urteilt in den Unpolitischen Erinnerungen (1931), Kutscher habe „über Wedekinds und Unruhs Dramatik hinaus“ wenig Neues anerkannt; er „war gewiß kein übertrieben revolutionärer Mann. Aber er wagte ein Unternehmen, das ihn in den Augen der zünftigen Literarhistoriker dazu machte.“ 179 Kutschers Doktorvater Franz Muncker, ein zünftiger Literarhistoriker, hatte ganz andere Bedenken. Muncker, der Kutschers Arbeiten zur neuen Literatur verfolgte und schätzte, war besorgt um den weiteren akademischen Werdegang seines ehemaligen Schützlings, der sich von den diszip_____________ 174 Der Einbruch des Politischen in Johsts Briefen an Kutscher erfolgte, als das Kaiserreich zusammenbrach. Vgl. besonders das antisemitische Bekenntnis von Hanns Johst an Artur Kutscher am 2.8.1918 [DLA A:Kutscher 5.4761/8]. Zitiert bei Helmut F. Pfanner, Hanns Johst. Der Weg eines expressionistischen Dramatikers zum Nationalsozialismus, The Hague/Paris 1970, S. 128, und bei Düsterberg, „Der Barde der SS“, S. 64. 175 Vgl. Thomas Mann an Artur Kutscher am 24.1.1947 [DLA A:Kutscher 57.4927]: „Wie ich Sie und Ihre Bestrebungen und Aeusserungen kenne, ist es mir schwer vorstellbar, dass Ihr Verhalten zum Nationalsozialismus, wenigstens innerlich, jemals anders als fremd und ablehnend gewesen sein kann, und es ist mir unbedingt glaubhaft, dass Sie den Anschluss an die Partei nur vollzogen haben, um nicht Ihrer Lehrtätigkeit verlustig zu gehen, auch, dass Sie trotz dieses Schrittes persona in grata geblieben sind. […] Sollte ich durch diese Zeilen zu einer erneuten Prüfung Ihrer Tätigkeit während der Hitlerzeit durch die alliierten Behörden beitragen können so würde mich das aufrichtig freuen.“ 176 Abweisend zeigte sich Kutscher gegenüber der Dichtung eines Herrn Schmids: „Dichtung vermag ihren Mitteln selbständiges Leben ins Wort zu schaffen. Das ist bei Ihnen nicht der Fall. Sie halten Ihre schöne Begeisterung für Kunst; das ist ein Irrtum.“ Der Brief liegt wohl irrtümlich im Nachlass von Michael Georg Conrad [Monacensia MGC B 558]. 177 Vgl. Artur Kutscher an Korfiz Holm am 23.12.1909 [Monacensia AI/12]. 178 Artur Kutscher an Max Halbe am 14.10.1915 [Monacensia MH B 148]. 179 Mühsam, Unpolitische Erinnerungen, S. 613.
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linär vorgesehenen Wegen entfernte. Am 8. Oktober 1910 mahnte er den jungen Kollegen: Was Sie seit Ihrer Habilitation geschrieben haben, waren populäre oder mehr ästhetische Aufsätze und Abhandlungen, die ich persönlich schätze, von denen ich weiß, daß eine Summe ehrlicher Arbeit darin steckt, daß sie einträglicher sind und deshalb ihre volle Berechtigung haben; aber ich fürchte, daß Sie mit allen derartigen Arbeiten stets Privatdozent bleiben werden. 180
Für eine ordentliche Professur – die Kutscher nie erhielt – aber müsse er „streng Wissenschaftliches verfassen“ 181, in der Art seiner Hebbelforschung. Er solle sich ein Beispiel nehmen an „Petersen, Borinski, jetzt auch Unger, u. wie sie alle heißen“. 182 Muncker betont – in warmen Worten, jeden Verdacht aus dem Weg räumend, Kutscher zu entmutigen –, er teile ihm nur mit, was alle denken: „die andern älteren und jüngeren Kollegen hegen dieselbe Ansicht, und noch entschiedener: aber keiner sagt es Ihnen unumwunden ins Gesicht.“ 183 Eines wird klar: Die Gegenwartsliteratur, Kutschers ästhetische, unhistorisch verfahrende Kritik, seine Erforschung nicht literarisierter Bühnenformen, stießen nicht unbedingt auf Abneigung unter den Kollegen, aber sie liefen an den zeitüblichen Qualifikationskriterien der germanistischen Zunft vorbei und stellten den Privatdozenten unter Verdacht, die strenge Wissenschaft verlassen zu wollen. Tatsächlich wandelte er sein Seminar, von dem noch Peter Hacks profitierte, um in eine Bühne für die Gegenwartsliteratur und vermittelte jungen Dichtern eine Vorstellung davon, wie man wissenschaftlich über sie kommunizieren könnte. 2.5. Julius Petersens Dichtervorlesungen in Berlin Im Unterschied zu Artur Kutscher befolgte Julius Petersen (1878–1941) den Rat des gemeinsamen Lehrers Franz Muncker 184 und vermied, trotz eigener poetischer Produktionen, 185 eine übermäßige wissenschaftliche Beschäftigung mit der Gegenwartsdichtung. Ein Aufsatz zu Fritz von _____________ 180 181 182 183 184 185
Franz Muncker an Artur Kutscher am 8.10.1910 [DLA A: Kutscher 57.5032]. Ebd. Ebd. Ebd. Franz Muncker an Artur Kutscher am 8.10.1910 [DLA A: Kutscher 57.5032]. Zum Dichter Petersen s. Alexander Nebrig, Der Dichter Julius Petersen und die poetische Reflexion germanistischer Autorschaft. Mit einem Anhang: „Das schwere Geschütz“ (1902) und „Schauspieler! Novelle“ (1895), in: Brigitte Peters/Erhard Schütz (Hg.), 200 Jahre Berliner Universität. 200 Jahre Berliner Germanistik. 1810–2010 (TeiI III), Bern 2011, S. 121–156.
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Unruh im Literarischen Echo bildete eher die Ausnahme. 186 Petersens Karriere war diese Grenzziehung förderlich: Er wurde der einflussreichste Vertreter seiner Disziplin. Noch in seiner Poetik, der Wissenschaft von der Dichtung, kommt der Zweifel zum Ausdruck, dass die Gegenwartsdichtung wissenschaftlich behandelt werden könne. 187 Genauso wenig wie seine unmittelbaren Vorgänger Scherer und Schmidt hinderte dieser Zweifel ihn, sich für die Gegenwartsliteratur zu interessieren. Wie Kutscher war auch Petersen mit zahlreichen Dichtern befreundet, wobei seine Autorität als führender Vertreter der Disziplin anziehend war und weniger die offenkundige Liberalität gegenüber der Gegenwartsdichtung. 188 Die institutionelle Macht, die Petersen seit dem Antritt der Berliner Professur inne hatte, dokumentieren Briefe von Arno Holz, in denen er den Ordinarius zu bewegen suchte, sich auf ihn als Kandidaten für den Literaturnobelpreis festzulegen. 189 Der Dichterjurist Richard von Schaukal _____________ 186 Julius Petersen, Fritz von Unruh, in: Literarisches Echo 20 (1917/1918), Sp. 501–507. Vgl. Fritz von Unruh an Julius Petersen am 27.1.1918 [DLA D:Petersen 62.499/4], der Petersens Kritik zum Anlass einer dramentheoretischen Erörterung nahm, vgl. den Brief vom 11.2.1917 [DLA D:Petersen 62.499/1]: „Sie glauben garnicht, wie froh es mich macht, zu fühlen, dass Sie mein Schaffen verstehen und anerkennen.“ Noch am 5.8.1920 [DLA D:Petersen 62.499/6] schrieb er: „Bleiben Sie bei mir […] Ich brauche Sie. Es sind nicht viele, die mein Wollen verstehen, die fühlen, dass mein Weg, der sich aus jahrhundertalter Tradition […] löste, im Gesetz eines Ethos verankert ist, das nicht der Gewalt, dem Ruhm, dem Krieg dient, sondern der Vernunft.“ 187 Vgl. Petersen, Die Wissenschaft von der Dichtung, Bd. 1, S. 49. Hierzu auch Ernst Osterkamp, „Nicht zu aktualisieren“. Eine Miszelle zu Julius Petersens George-Deutung, in: Sabine Doering/Waltraud Maierhofer/Peter Philipp Riedl (Hg.), Resonanzen. FS Hans Joachim Kreutzer, Würzburg 2000, S. 429–438, hier S. 432. 188 Man sandte Petersen z. B. eigene Werke, so Walter v. Molo die Arbeit über Fontanes Altersroman. Petersen bedankte sich am 12.9.1940 bei Rudolf Alexander Schröder für die Übersendung seiner Aufsätze und Reden. Julius Petersen an Walter von Molo am 23.6.1928 [DLA A:Petersen 66.1063]; Julius Petersen an Rudolf Alexander Schröder am 12.9.1940 [DLA A:Schröder]. – Ausführlich informiert über die Dichterbeziehungen ihres Mannes Ella Petersen, Reiche Lebensjahre an der Seite eines Goetheforschers, Ebersberg s. a. 189 Vgl. Arno Holz an Julius Petersen 1921–1922 [DLA Marbach A: Petersen D 62. 235/1– 10]. Eugen Wolff in Kiel habe gesagt: „Will Herr Professor Petersen wieder mittun, ist alles gut“ (Arno Holz an Julius Petersen am 30.11.1922 [DLA D: Petersen 62.235/6]). – Nach langem Hin und Her stimmte Petersen zu, allerdings erhielt kein deutscher Kandidat die Auszeichnung 1922. Erst 1929 stand Holz vor dem Ziel, doch er starb während des Verfahrens. Die Vergabe des Nobelpreises in den 1920er Jahren war eng an die Germanistik geknüpft, nicht nur Arno Holz, auch Ricarda Huch und viele andere Autoren konnten immer wieder Mehrheiten unter den Professoren für sich gewinnen. – Aufschlussreich ist Paul Ernsts Brief an Julius Petersen, besonders vom 16.12.1923 [DLA D:Petersen 62.158/1], der das Verfahren ausführlich und detailreich beschreibt: „Usuell ist nun, dass nicht gleich auf den ersten Antrag Verleihungen folgen, sondern dass der Antrag 2–3 Jahre nacheinander wiederholt wird“.
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schreibt Petersen, dieser sei „einer der wenigen Geister, die literaturhistorische Sacharbeit zu würdigen“ 190 wüssten, und wünscht sich, die Literaturhistoriker würden es ihm einmal vergelten. Neben dieser indirekten Bedeutung der Germanistik für literarische Kanonisierungsprozesse lassen sich an Petersen direkte Formen disziplinärer Dialogbereitschaft zeigen. Schon in München hatte ein Schwerpunkt in der Lehre auf dem Gebiet des modernen Dramas gelegen. 191 Im Winter 1927 las Petersen in Berlin Die deutsche Dichtung der Gegenwart. 192 Diese Vorlesung stand in direktem Zusammenhang mit den Dichterlesungen, die das Berliner Seminar gemeinsam mit der Sektion für Dichtkunst der Preußischen Akademie der Künste, vertreten durch Alfred Döblin, veranstaltete. 193 Dichtervorlesungen im akademischen Rahmen waren kurze Zeit vor Petersens und Döblins Bemühungen üblich geworden; besonders Thomas Mann oder die Philologen Hugo von Hofmannsthal und Rudolf Borchardt suchten die Lehrkanzel gern auf. Unter den Lesungen auch zu poetologischen, literatur- und kulturgeschichtlichen, formanalytischen oder übersetzungstheoretischen Fragen fällt zeitlich vor die Berliner Reihe der Marburger Zyklus, den Hermann Pongs (1889–1979) für die Literarische Gesellschaft vor Ort organisierte. Pongs, dessen Name sich heute mit jenem zahlreiche Gegenwartsautoren integrierenden „Wälzer“ 194 Das Bild in der Dichtung _____________ 190 Richard von Schaukal an Julius Petersen am 15.6.1925 [DLA D:Petersen 62429/2]. Vgl. auch Schaukals Briefe an Georg Minde Pouet [DLA A:Minde-Pouet 71.1168]. 191 Geschichte des deutschen Dramas von den Anfängen bis zur Gegenwart (Wi 1909), Theorie und Technik des modernen Dramas (Wi 1910), Drama von Kleist bis zur Gegenwart (Wi 1912). Ein früher Münchener Student Petersens war der Autor Willy Seidel. Die Briefe [DLA D:Petersen 62.462/1–3] dokumentieren die Entstehung von Seidels Qualifikationsarbeit Die Natur als Darstellungsmittel in den Erzählungen Theodor Storms (1911). 192 Im Sommer 1931 besuchten das zusammen mit dem Assistenten Richard Alewyn veranstaltete Seminar zu Hofmannsthals Dramen 145 Teilnehmer. Im Winter 1931 und Sommer 1932 widmete sich Petersen ausführlich dem Gegenwartsroman – woran Döblin Interesse zeigte (Alfred Döblin an Oskar Walzel am 1.6.1931 [DLA A:Walzel, 91.137.3], vgl. die Vorlesungsmitschrift [DLA A: Petersen 87.16.66/3]) – und dem Gegenwartsdrama. 193 Zur Sektion für Dichtkunst s. Inge Jens, Dichter zwischen rechts und links. Die Geschichte der Sektion für Dichtkunst an der Preußischen Akademie der Künste, Leipzig 21994; vor allem aber die Arbeiten von Werner Herden, Kontroversen zum Literaturbegriff. Zu den Richtungskämpfen in der Sektion für Dichtkunst der Preußischen Akademie der Künste, in: Weimarer Beiträge 30 (1984), H. 12, S. 1941–1957; Ders., Die „preußische Dichterakademie“ 1926–1933, in: Wruck (Hg.), Literarisches Leben in Berlin, Bd. 2, S. 151–193, zu den Vorträgen an der Universität ebd., S. 166–169; neuerdings: Liselotte Grevel, Provokation und Institution. Alfred Döblin und die Preußische Akademie der Künste, in: Yvonne Wolf (Hg.), Internationales Alfred-Döblin-Kolloquium Mainz 2005. Alfred Döblin zwischen Institution und Provokation, Bern 2007 (= Jahrbuch für Internationale Germanistik, Reihe A, Kongressberichte, 90), S. 35–64, hier S. 47–52. 194 Nachdem Pongs’ erster Band von Das Bild in der Dichtung („ein riesiger Wälzer“, vgl. Leo 6SLW]HUDQ9LNWRU0åLUPXQVNLMDP[Archiv der Russischen Akademie der Wissenschaften, Filiale Sankt-Petersburg, 1001.3.939]) erschienen war, schrieb schon Spitzer
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(1927ff.) verbindet, steht wissenschaftsgeschichtlich zugleich für die jüngere Generation rechtskonservativer Germanisten ein, die im Nationalsozialismus Karriere machten. 195 Die Literarische Gesellschaft Marburg lud in den 1920er Jahren mehrfach Gegenwartsautoren ein;196 im Winter 1924 lasen Josef Ponten, Rudolf Georg Binding, Albrecht Schaeffer, Ina Seidel, Alfons Paquet und Hanns Johst; im Winter 1927 Wilhelm Schäfer, Hermann Kesser, Frank Thiess, Emil Lucka und Wilhelm von Scholz. Pongs organisierte die Lesungen, woraus ein Briefwechsel mit Dichtern hervorging, aus dem kurz zitiert sei. 197 Der Dramatiker Georg Kaiser sagte lakonisch ab, da er grundsätzlich nicht öffentlich lese; 198 in Bindings konstruktiver Zusage, „im Kreis der Marburger Literarischen Gesellschaft im Winter zu sprechen“, wird der _____________
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darüber an den russischen Freund: „Viel schöne Beobachtungen, aber leider auch viel philosophisches Beiwerk, das die Probleme nicht klarer macht. Jedenfalls die Frucht redlicher und gründlicher Bemühung“ (ebd.). – Zur Gegenwartsliteratur s. Hermann Pongs, Rilkes Selbstverwirklichung, in: Euphorion 32 (1931), S. 35–74; Vom Naturalismus zur neuen Sachlichkeit, in: Hermann August Korff/Walther Linden (Hg.), Aufriß der deutschen Literaturgeschichte, Leipzig 1930, S. 192–217. S. Hartmut Gaul-Ferenschild, National-völkisch-konservative Germanistik. Kritische Wissenschaftsgeschichte in personengeschichtlicher Darstellung, Bonn 1993 (= Literatur und Wirklichkeit, 27). – Nicht ins Bild passt Pongs Versuch, in den linksexpressionistischen und pazifistischen Weißen Blättern Gedichte zu veröffentlichen. Vgl. den Brief von Anna Schickele an Pongs nach Mönchengladbach am 5.11.1920 [DLA A: Pongs 74.207]. Noch die Beschäftigung mit ‚linken‘ Autoren in seiner Hörspiel-Schrift (1930) ist außergewöhnlich. In diesem Zusammenhang verweise ich auf den Brief, den der ein Jahr ältere Friedrich Wolf (1888–1953) an Pongs am 25.3.1930 [DLA A:Pongs 71.664] schrieb, Bezug nehmend auf Pongs’ Diskussion von Wolfs Hörspiel S.0.S. Rao-Rao-Foyn. Krassin rettet Italia (Hermann Pongs, Das Hörspiel, Stuttgart 1930 [= Zeichen der Zeit, 1], S. 25.) Pongs hat in Das Bild in der Dichtung, wenngleich in einer existentiell-ontologischen Wissenschaftssprache, die ganze Breite seiner Gegenwartsliteratur wahrgenommen. Maßgeblich an ihr beteiligt war auch der Neugermanist Ernst Elster, Vertreter der neuen Literaturwissenschaft. Vgl. Kai Köhler, Das literaturwissenschaftliche Ordinariat bis 1939, in: Kai Köhler/Burghard Dedner/Waltraud Strickhausen (Hg.), Germanistik und Kunstwissenschaften im „dritten Reich“. Marburger Entwicklungen, 1920–1950, München 2005 (= Academia Marburgensis, 10), S. 251–278, bes. S. 260. – Vorbereitend bot Pongs im Sommer 1923 Interpretation moderner Lyrik (Philipps-Universität Marburg, Verzeichnis der Vorlesungen, Sommersemester 1923, S. 24); im Winter 1924/25 Übungen über R. M. Rilke an (Philipps-Universität Marburg, Verzeichnis der Vorlesungen, Wintersemester 1924/25, S. 14). Mit Rilke war Pongs eigens deswegen in Briefkontakt getreten. Vgl. die beiden längeren Antwortschreiben Rilkes vom 17.8.1924 (Rainer Maria Rilke, Briefe in zwei Bänden, hg. v. Horst Nalewski, Bd. 2, Frankfurt a. M. 1991, S. 337–344) und vom 21.10.1924 (ebd., S. 352–362). Gaul-Ferenschild, National-völkisch-konservative Germanistik, S. 108, Anm. 44: „Die Briefe sind für die literaturwissenschaftliche Forschung ohne besonderen Belang; es geht überwiegend um die Organisation der Lesungen.“ Georg Kaiser an Hermann Pongs, undatiert (1924) [DLA A:Pongs 71.636]. Allein Petersen in Berlin wird ihn dazu bewegen.
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konzeptionelle Spielraum der Veranstaltung sichtbar,199 aber auch eine gewisse Skepsis. Die Literaturhistoriker nennt er wunderliche Käuze, sie fänden „so erstaunliche Dinge heraus daß der Poët nicht weiß wie ihm geschieht.“ 200 In Pongs, so drei Jahre später, habe er seinerzeit die Freude gehabt, einem „jungen Geist in einer alten Disziplin zu begegnen, mit der wir Poeten nie recht Fühlung zu gewinnen vermocht hatten.“ 201 Hugo von Hofmannsthal bewegte die Anfrage zur allgemeinen Erörterung des Unternehmens. Die Schwierigkeit liege darin, dass mir das Vorlesen eigener Arbeiten eine wenig erwünschte Sache ist. | Für den Epiker ist diese Form sich einem Publicum darzubieten gemäss. Was aber soll ich eigentlich vorlesen? Zu einer Versammlung zu sprechen ist aber wieder nur auf eigenem Boden wenn ein besonderes Thema sich darbietet, am Platze. Wie aber soll man ein solches finden, das durch ein gemeinsames Interesse mich und Ihre Marburger verknüpft? 202
Am 30. Juni 1926 willigte Borchardt ein, der bereits zugesagt hatte, „vor den Zürcher Studenten in der dortigen Universität“203 über Arnaut Daniel und Giovanni Pisano als Schöpfer der modernen Seelenform Europas zu sprechen, nach Marburg zu kommen, um am 6. Februar 1927 über die geistesgeschichtliche Bedeutung des neunzehnten Jahrhunderts vorzutragen. 204 Gegenüber Liebhaberveranstaltungen wie der in Marburg hatte die Berliner Ringvorlesung jedoch aufgrund ihrer außergewöhnlichen institutionellen Rahmung größere Signalwirkung. Döblin hatte sich zu dieser im Frühjahr desselben Jahres geäußert. In der Akademiesitzung vom 15.3. 1928 leitete er seine Ausführungen über Schriftstellerei und Dichtung am Beispiel der Epik ein mit einer Kritik an der Sprachlosigkeit des Dichters angesichts anderer öffentlicher Instanzen, die berufsmäßig über Literatur _____________ 199 „Aus Ihren Zeilen geht nicht genau hervor, ob es sich um einen Vortrag, oder eine Vorlesung aus eigenen Werken handelt. Im allgemeinen wird das letztere gewünscht. Man könnte aber auch, wenn es eine besondere Gelegenheit oder eine Feier beträfe, an eine besonders für Studenten gedachte Ansprache und danach an eine Vorlesung aus Eigenem denken. Jedenfalls würde ich das erste wie das andere und dritte übernehmen, glaube ich doch das [!] eine Darbietung aus eigenen (auch ungedruckten Werken) am Ende das Vernünftigste und vielleicht erwünschteste für die Gesellschaft wäre“ (Rudolf Georg Binding an Hermann Pongs am 23.6.1924 [DLA A:Pongs 71.620/1]). 200 Rudolf Georg Binding an Hermann Pongs am 3.7.1924 [DLA A:Pongs 71.620/2]. Vortragen würde er gern Ein Kind (Erlebnis). Gedichte – Der Wingult (Novelle). 201 Rudolf Georg Binding am 13.11.1927 an Pongs [DLA A:Pongs 71.620/4]. 202 Hugo von Hofmannsthal an Hermann Pongs am 16.6.1926 [DLA A:Hofmannsthal 71.634]. 203 Rudolf Borchardt an Hermann Pongs am 30.6.1926 [DLA A:Pongs 72.622/1]. – Vgl. auch Borchardts Vortrag vom 5.3.1925 in Zürich „Dichten und Forschen“. 204 Borchardt nutzte diese Fahrt nach Deutschland für mehrere Vorträge. Nach Zürich folgte am 1.2.1927 die Basler Rede zum ‚deutschen Dante‘ vor der Studentenschaft, die Akademisch-literarische Gesellschaft in Freiburg engagierte ihn am 4.2.1927 für „Der Dichter und die Geschichte“.
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sprechen. Es sei bisher „nur üblich gewesen und nur möglich gewesen, daß an öffentlicher Stelle über Kunst Gelehrte und Zwischenhändler, Kritiker, und was mit ihnen zusammenhängt, sprachen.“ 205 Mit öffentlich meint Döblin nicht bloß „Lehrpulte und Vortragssäle, sondern auch die Zeitungen und Zeitschriften.“206 Kämen die Leser und Hörer kaum zur Sprache, so erst recht nicht die „Produzenten“ 207, d. h. die Dichter, denn wir bilden Besprechungsobjekte für dritte und haben strammzustehen und uns nicht zu rühren und entgegenzunehmen, was die hohe Obrigkeit, die p. p. Kritik, über uns verfügt. Es gibt da nicht Rede und Gegenrede, sondern nur Rede. Wir haben zu schweigen. 208
Döblin ist der festen Überzeugung, dass der „Produzent, also der Autor im Literarischen“ nicht gedankenlos sich zu seinem Werk verhalte: „Der Autor ist durchaus nicht hundert Prozent Idiot in bezug auf sein Werk.“ 209 Dass nicht jeder so dachte wie Döblin, zeigt der Rückblick auf die vorausgegangenen Bemühungen Litzmanns und Kutschers. Rilke hatte sein Verständnis als Dichter dahingehend beschrieben, „daß das künstlerisch gebildete Ding, dem bloßen, dem unendlichen Hinnehmen überlassen sei – keiner Einstellung sonst.“ 210 Hermann Hesse hatte „ein solches Sichaussprechen nicht nur für wertlos, sondern auch für unschön“ gehalten und gemeint, die „technische Analyse eines Werkes muß der Kritik ohne Beihilfe des Dichters möglich sein“ 211. Gegenüber Walzel wird Döblin wenige Jahre später selbst sogar gestehen, nachdem er eine Seminararbeit über Berlin Alexanderplatz gelesen hatte, dass ich eine Scheu, beinah eine Angst und Pein habe, meine Dinge so dicht und so mit Wissen und Bewußtsein anzusehen. Ich entsetze mich geradezu, wie logisch und konsequent und überblickbar da stilistische, formale und inhaltliche Zusammenhänge sind 212.
Wie dem auch sei, 1928 strebte Döblin die Etablierung einer „Kritik der Produzenten“ 213 an, die sich nicht nur zu den akademischen und publizis_____________ 205 206 207 208 209 210 211
Döblin, Schriftstellerei und Dichtung, S. 70. Ebd. Ebd. Ebd., S. 70f. Ebd., S. 71. Rainer Maria Rilke an Artur Kutscher am 2.1.1917 [DLA A:Kutscher 57.5552]. Hermann Hesse an Carl Enders, 27.6.1907, im Rahmen einer Umfrage von Litzmanns Bonner Literarhistorischer Gesellschaft, zitiert nach Horstmann, Die Literarhistorische Gesellschaft Bonn, S. 75, Nr. 15. 212 Alfred Döblin an Oskar Walzel am 1.6.1931, zitiert nach Alfred Döblin, Briefe II, hg. v. Helmut F. Pfanner, Düsseldorf/Zürich 2001, S. 67. S. ferner Alfred Döblin an Julius Petersen am 18.9.1931, in: Döblin, Briefe I, S. 165. 213 Döblin, Schriftstellerei und Dichtung, S. 71.
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I. Die Dichtung und ihre Disziplin
tischen Kritikformen gesellen solle, sondern ihnen höher gestellt sei. Er halte „die normierende und voraus wissende Kritik des Autors für höher, wichtiger und fruchtbarer als die der bloßen Zuschauer und Beschreiber und geistreichen Vergleicher.“ 214 Damit macht er Front gegen eine unproduktive Kritik als Selbstzweck, die sich sogar als Kunstform begreife und das Kunstwerk zum Material reduziere und aus der Feder „unbefriedigter Halbnaturen“ 215 stamme. Die germanistische Kritik sieht Döblin als das Gegenstück zu seiner Kritik an, die nun ebenfalls in institutionalisierter Form stattfinde. Die Akademie sei „eine behördlich anerkannte Einrichtung, sie ist vom Kultusministerium geschaffen, und hier hat ein Kreis literarischer Produzenten seinen Ort.“ 216 Bislang jedoch bestehe eine Fremdheit zwischen den lebenden Autoren und der Universität, weshalb Döblin die einmalige Chance sehe, diesen Missstand zu beheben: „Ich halte es nicht für ausgeschlossen, daß die Universität von uns in vieler Hinsicht Anregung, Material erhalten kann, vielleicht sogar zu neuen Fragestellungen kommt.“ 217 Die Akademie der Künste, insbesondere die Sektion für Dichtkunst, definiert Döblin als „das gegebene Instrument zur Überbrückung des leeren Raums zwischen lebender Produktion und Universität.“ 218 Ende April wandte sich Döblin brieflich an Petersen, seinen Wunsch zum Ausdruck bringend, „mit der Universität in Berührung zu treten“219, um die später ins literarische Leben eintretenden Lehrer und Kritiker vertraut zu machen mit dem, „was uns formal und geistig bewegt.“ 220 Dahinter steckt ebenfalls ein Erziehungsprogramm, denn es gehe um „Berührung mit dieser Jugend überhaupt und Eindringen in ihre Mentalität.“ 221 Das Interesse der Universität erkennt Döblin darin, dass die Zunft durch die Kenntnis „wirklicher Produzenten“, ihrer Arbeitsmethoden und ihrer Psychologie, besser bekannt werde mit den älteren Autoren, die er als den eigentlichen Gegenstand der Disziplin weiterhin ansieht. Döblin denkt dabei an einen Vortrag – sein eigener wird der berühmt gewordene Aufsatz Der Bau des epischen Werks – mit anschließender Diskussion. Petersen solle die Studenten dazu auswählen. Auf methodische Fragen, die sein Vorhaben stellt, geht er ein. Immerhin seien die Gegenstände der Dichter _____________ 214 215 216 217 218 219
Ebd. Ebd. Ebd., S. 71f. Ebd., S. 72. Ebd. Alfred Döblin an Julius Petersen am 18.4.1928, zitiert nach Döblin, Briefe I, S. 141–143, hier S. 142. 220 Ebd. 221 Ebd.
2. Ein Fachpublikum für Gegenwartsliteratur
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„nicht streng philologischer Natur, sondern ästhetisch auch, dazu zeitkritisch, – es kämen also vielleicht noch Interessenten der Ästhetik in Frage, aber das nebenbei.“222 Petersen sagte zu. Am 6. Mai 1928, im zweiten Jahr nach ihrer Gründung, beschloss die Sektion für Dichtkunst der Preußischen Akademie der Künste, vertreten durch Alfred Döblin und dem germanistisch bewanderten Oskar Loerke, bei Petersen im Germanischen Seminar eine Vorlesungsreihe gemeinsam zu veranstalten.223 Petersen und Döblin waren zwar nicht Begründer eines Dialoges zwischen Wissenschaft und Dichtung, aber die von Petersen geleitete Veranstaltung ist in der Frühphase solcher Bemühungen die prominenteste gewesen. Die Referenten sollten im Auditorium Maximum vornehmlich zu „Fragen poetischer Form und Technik“ 224 bei einem Honorar von zunächst 1000, später 400 Reichsmark sprechen. Die Beiträge der ersten Reihe wurden im Jahrbuch der Sektion für Dichtkunst (1929) publiziert. Im Wintersemester 1928/29, das die „besonderen technischen Probleme jeder Gattung aus der dichterischen Praxis“ 225 fokussierte, sprachen Walter von Molo über ‚Dichterische Konzeption‘, Oskar Loerke über ‚Formprobleme der Lyrik‘, Döblin über ‚Epische Formprobleme (= Bau des epischen Werkes), Ludwig Fulda über die ‚Kunst des Übersetzers‘, Däubler ‚über die Möglichkeit einer deutschen Dante-Übersetzung‘. Im zweiten Wintersemester, das mehr eine „kulturproblematische Themenstellung“ 226 hatte, sprachen Wilhelm Schäfer über den ‚Dichter und seine Zeit‘, Wilhelm Scholz über ‚Lebenswurzeln des Dramas‘227 und Franz Werfel über die ‚Rettung der Dichtkunst‘. Paul Ernst war zur dritten Reihe im Winter 1930 eingeladen; neben ihm sollten Borchardt über das ‚Geheimnis der Poesie‘ und Schickele über ‚Die Sprache an der Grenze‘ sprechen. Letzterer gibt Anlass, die politische Seite der Gegenwartsliteratur zu diskutieren. Petersen schlug Schickele wegen seines brisanten Titels vor, sich im Sinne der Reihe auf Formales zu beschränken: Was das Thema betrifft, so haben Sie ja jedenfalls über Formprobleme viel zu sagen. Ueber Novelle und Märchen ist noch nicht gesprochen worden. Aber ich
_____________ 222 Ebd. 223 Vgl. Oskar Loerkes Tagebucheintrag, abgedruckt in Döblin, Briefe I, S. 546. 224 Zitat aus dem Standardbrief an Paul Ernst am 12.11.1930 [DLA A:Petersen 61.2083/1]. 225 Julius Petersen an Wilhelm Schaefer am 25.9.1929 [DLA A:Petersen 66.919]. 226 Ebd. 227 Walter von Molo an Julius Petersen am 19.6.1928 [DLA D:Petersen 62639/4] begrüßt das Unternehmen: „Diese Verbindung der Dichter mit der geistigen Jugend kann so schöne Früchte bringen wie in mancher vorbildlichen früheren Epoche. Dabei darf ich Ihnen, verehrter Herr Professor, die Hand drücken, daß Sie so helfend und mitwirkend zur Sektion halten, aus deren Mitte so undankbare Worte gegen die Wissenschaft laut geworden sind.“
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I. Die Dichtung und ihre Disziplin
überlasse den Vorschlag ganz Ihrem gegenwärtigen Interesse. Nur etwas Politisches darf es nicht sein. 228
Petersen – wie Schickele aus dem Elsass stammend 229 – bat den Autor aus politischer Rücksichtnahme, seinen Titel in das ‚Erlebnis der Grenze‘ zu ändern. 230 Man könne eventuell den Vortrag auf den Kreis des Seminars beschränken. Petersen will zudem wissen, ob Schickele Literaturbetrachtung vorhabe oder aber kulturpolitische Ansichten vorzutragen beabsichtige. 231 Im Vorfeld hatte er gegenüber Petersen erläutert, „über die Verteidigung der Sprache an der gefährdetsten Stelle sprechen“ 232 zu wollen. Schickele hatte selbst auf die Gefahr hingewiesen, dass sein Vortrag, zu rasch ausgearbeitet, ganz von selbst einen polemischen Zug bekommen könnte, der ihm an der Universität nicht gemäß sei. Er halte es für wichtig, „die tausendjährige Zähigkeit einer Volkssprache zu zeigen,“ wolle es aber „ohne die geringste Anwandlung eines polemischen Fiebers tun“233. Hermann Bahrs für den 11. November 1929 anvisierter Vortrag ‚Erlebnis und Dichtung‘ musste aus gesundheitlichen Gründen ausfallen. 234 _____________ 228 Julius Petersen an Paul Ernst am 22. 11. 1930 [DLA A:Petersen 61.2083]. 229 Petersen verfolgt daher auch aus biographischem Interesse den Autor. Zu Beginn des Briefes vom 2.1.1932 diskutiert Petersen den soeben erschienenen Roman Der Wolf in der Hürde, der den dritten Teil der Trilogie Das Erbe am Rhein darstellt. Petersen teilt nicht die Sicht Schickeles, indem er die „Hinrichtung des Silvio Wolf zugleich als ein Urteil über die ganze Heimatbewegung empfinden muß“ [DLA A:Petersen 62.38/1]. – Schickele entgegnete: „Es hat mich sehr erstaunt, dass Sie die Hinrichtung Silvio Wolfs als ein Urteil über die ganze Heimatbewegung empfinden, da ich ihn doch von allem Anfang an als ‚Falschsager‘ und Verräter hingestellt habe. Ist es nicht deutlich genug, dass er die Bewegung nur benutzt, um ein Abgeordnetenmandat zu erlangen. Dass er, kaum gewählt, offen Verrat begeht, während die aufrechten Führer vom Schwurgericht zu schweren Strafen verurteilt werden“ (René Schickele an Julius Petersen am 18.1.1932 [DLA D:Petersen 62.638/8]). 230 Der Rektor habe „infolge von studentischen Unruhen im Anfang dieses Jahres ein Verbot aller politischen Veranstaltungen“ verfügt und habe nun wegen des Titels Bedenken: „Es sind Fragen, über die man zwar vor einem halben Jahr noch in aller Ruhe hätte sprechen können, die aber jetzt, bei der neuen Spannung zwischen Deutschland und Frankreich heikel und peinlich werden könnten“ (Julius Petersen an René Schickele am 25.10.1929 [DLA D:Petersen 62.638/1]). 231 Das einfachste wäre, so Petersen, Schickele lasse das Wort Grenze weg. Schickele wird den Titel in ‚Das Erlebnis der Landschaft‘ ändern, vgl. René Schickele an Julius Petersen am 18.1.1932 [DLA D:Petersen 62.638/8]. Schickele hatte bereits im Winter 1929 sprechen sollen, musste aber wegen Niederschrift des letzten Teils seiner Romantrilogie Das Erbe am Rhein und anderer Gründe sein Kommen mehrmals verschieben, vgl. René Schickele an Julius Petersen am 11.1.1930 [DLA D:Petersen 62.638/2]. 232 René Schickele an Julius Petersen am 25.10.1929 [DLA D:Petersen 62.638/1]. 233 René Schickele an Petersen am 18.12.1930 [DLA D:Petersen 62.638/5]. Der Brief beginnt mit den Worten: „ich komme von ‚drüben‘, aus meiner geplagten Heimat“. 234 Hermann Bahr an Julius Petersen am 30.7. und 21.9.1929 [DLA D:Petersen 62.45/1–2]. Im Juli hatte er es noch für möglich gehalten, in Begleitung von Heinrich Mann aus München nach Berlin zu fahren.
2. Ein Fachpublikum für Gegenwartsliteratur
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Theodor Däubler kam nach Berlin, um zum Nordlicht zu sprechen. 235 Georg Kaiser, der einige Jahre vorher Hermann Pongs aus prinzipiellen Gründen abgesagt hatte, in Marburg zu lesen, erklärte sich in Berlin bereit, am 25. Februar 1930 zur ‚Schule des Dramas‘ zu sprechen. 236 Borchardt, der am 7. Dezember 1930 eine Vergil-Rede in Kiel halten musste, erklärte im Vorfeld des Berliner Vortrags über das Geheimnis der Poesie: Vom Wesen poetischer Form haben mir zwar Praxis und Theorie gewisse Vorstellungen vermittelt, dagegen stehe ich den Schulbegriffen poetischer Technik darum zweifelnd gegenüber, weil ich an eine ars poetica nicht glauben kann. Wie sich ein dichterisches Werk organisiert, lässt sich so wenig begreiflich machen, wie ein [!] Traum wirklich erzählen, – wenigstens vom Träumer selbst. 237
Er werde keine Selbstanalyse geben, sondern auf „die eigentliche Transcendenz der dichterischen Reaktion gegen das Leben“ 238 zielen. Am 22. Dezember 1928 kritisierte Loerke, der im Rückblick die ersten beiden Vorlesungswinter gutheißen wird, 239 den Ablauf zu seiner eigenen Vorlesung: Ich bezog alles auf die Praxis, während sich immer eine Neigung zu theoretischer Deduktion um mich her zeigte. – Mit den Herren Professoren müssten, meine ich, einige diskutierende Hauptfragen vereinbart sein, damit nicht zu viel psychologisch Schweifendes in die Debatte kommt. […] Leider beteiligte sich Prof. Dessoir nicht, Prof. Herrmann nahm mir allzu viel als erledigt an, was praktisch jeden Tag von neuem fragwürdig wird. 240
Das Germanische Seminar reagierte empfindlich, sobald sich Dichter zu Gegenständen äußerten, die eindeutig in den Bereich ihrer Disziplin gehörten. Eduard Stuckens Versuch, über ein sprachwissenschaftliches Thema zu sprechen, wurde mit dem Hinweis auf das Fehlen der venia legendi abgelehnt. 241 Ab 1932 übernahm die Akademie in Eigenregie die Organisation der Vorträge; Thomas Manns Vortrag Goethe als Repräsentant des bürgerlichen Zeitalters wurde im März 1932 in der Akademie gehalten. Darauf wurden die Dichtervorlesungen eingestellt. Am Rande sei bemerkt, dass Döblin die Bemühungen 242 nach dem Krieg als Vizepräsident (1949– _____________ 235 Theodor Däubler an Julius Petersen, am 5.1.1932 [DLA D:Petersen 62.122/2] = Petersens Einladung datiert vom 10.6.1931 [DLA D:Petersen 62.620]). 236 Georg Kaiser an Julius Petersen, undatiert [DLA D:Petersen 62.247]. 237 Rudolf Borchardt an Julius Petersen am 15.11.1930 [DLA D:Petersen 62.87]. 238 Ebd. 239 Vgl. Oskar Loerke an Julius Petersen am 8.10.1931 [DLA D:Petersen 62635/10]. 240 Oskar Loerke an Julius Petersen am 22.12.1928 [DLA D:Petersen 62.635/6]. 241 Herden, Die „preußische Akademie“ 1926–1933, in: Wruck (Hg.), Literarisches Leben in Berlin, S. 169. 242 S. zu deren Scheitern Grevel, Provokation und Institution, in: Wolf (Hg.), Internationales Alfred-Döblin-Kolloquium, S. 49f.
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1953) der Klasse für Literatur an der Mainzer Akademie der Wissenschaften und Literatur wieder aufnahm.243 Wie gering allerdings das Interesse seitens des Seminars an Gegenwartsliteratur auch nach den Dichterlesungen blieb, zeigt ein studentischer Bettelbrief von 1930 an Alfred Döblin, Romane zu spenden, um dem Mangel der Bibliothek an Gegenwartsautoren abzuhelfen: Das liegt daran, dass die bisherigen Leiter der Bibliothek, wohl mehr durch die Interessen der älteren Abteilung des Seminars geleitet, mit vielem Geld Werke anschafften, die unter den Entleihern kaum Leser finden. Infolge dieses Zustandes stehen mir zur Neuanschaffung nur einige Mark aus den bisherigen Beiträgen zur Verfügung, die es mir nicht ermöglichen, auch nur einen Roman von Ihnen anzuschaffen. 244
Döblin leitete den Brief an Petersen mit dem Hinweis weiter, dass auch er für die Bücher bezahlen müsse und daher nicht weiterhelfen könne. Die Zusammenarbeit von Döblin und Petersen reagierte zum einen auf ein Bedürfnis seitens der germanistischen Disziplin, zeitgenössische Autoren einzuladen. Zum anderen fühlten sich auch die Dichter berufen, wie Döblins Programmschrift deutlich zeigt, über ihr Handwerk vor akademischem Publikum zu sprechen. Ein Grund dafür ist sicherlich in dem Umstand zu sehen, dass Döblin nicht nur als einzelner literarischer Autor sprach, sondern zugleich als Repräsentant einer Institution. Die Akademie der Künste verstand es als ihre kulturpolitische Aufgabe, Fachwissenschaft und Dichtertum zusammenzubringen. Sie setzte einen Prozess in Gang, der selbst wieder aus einer sozialen Praxis heraus erklärbar war. Auf der anderen Seite jedoch blieb das Problem ungelöst, dass sich die dichterische Autorschaft schon aus Gründen der Selbstbehauptung unmöglich einer disziplinären Redepraxis hätte anpassen können. Etwas kritischer betrachtet, war Döblins Vorhaben naiv und von Anfang an zum Scheitern verurteilt, weil der Dialog erst dann hätte entstehen können, wenn sich dichterische und fachwissenschaftliche Autorschaft auf Sprachregelungen hätten einigen können. Stattdessen blieben die Dichtervorlesungen idiosynkratische Beiträge, die in disziplinäre Redeweisen der Germanistik übersetzt werden mussten. Der latent antidisziplinäre Charakter der dichterischen Rede – bezogen auf das philologische Interesse, nicht auf das Faktum literarischer Gruppenbildung – schließt jedoch nicht aus, dass das Wissen der Germanistik die Äußerungen von Dichtern tangiert. Dieser Paradoxie widmet sich das folgende Kapitel.
_____________ 243 Vgl. ebd., S. 51. 244 Vgl. Kurt Willmczik an Alfred Döblin am 14.5.1930 [DLA D:Petersen 62. 140/2].
II. Praxis und Theorie am disziplinären Rand um 1920 Es wäre realitätsfremd, wollte man sowohl die zeitgenössische Erschließung der Gegenwartsliteratur als auch die Poetologie der Epoche allein in der Germanistik bzw. in anderen philologisch-literaturwissenschaftlichen Disziplinen dingfest machen. Die rezeptionsästhetischen- und geschichtlichen Bildungsräume der modernen Literatur sind keinesfalls nur im disziplinären Bereich verortbar. Neben dem Verlagswesen sind Publizistik, Literaturkritik und Essayistik in Zeitschriften oder Büchern, darunter von prominenten Autoren wie Walter Benjamin, Artur Moeller van den Bruck, Alfred Kerr oder Karl Kraus, maßgebliche Medien, in denen die Gegenwartsliteratur diskutiert und dadurch als solche auch formiert wurde. Die zudem erst spät einsetzende Arbeit der für die deutsche Literatur zuständigen germanistischen Fachwissenschaft wurde in der literarischen Öffentlichkeit kaum bemerkt. Keineswegs ist deshalb das rezeptionsästhetische Argument, Gegenwartsliteratur werde mit Blick auf eine germanistische Öffentlichkeit und ihre Kriterien geschrieben, entkräftet. Um ein solches Argument zu entwickeln, war es notwendig, im zweiten Kapitel des vorausgehenden Teils zu zeigen (vgl. I.2.), wie sich ab 1910 eine fachwissenschaftliche Öffentlichkeit für Gegenwartsliteratur herausgebildet hat. Der zweite Teil geht der Frage nach, auf welche Weise sich die nichtwissenschaftliche philologische Praxis und poetologische Theoriebildung mit der Disziplin berührten. Ihre Erörterung geht davon aus, dass Praxis und Theorie außerhalb der Disziplin zugleich mit ihren Formationen Deutsche Philologie, Literaturgeschichte, Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte in Relation stehen konnten. Betrachtet seien Beiträge, die außerhalb der Fachwissenschaft an der Formation des modernen Literaturbegriffs und an der Edition, Historiographie und Kritik vor allem der expressionistischen Literatur mitwirkten. Ziel ist dabei kein positivistischer Nachweis, dass dieser Diskurs von der germanistischen Disziplin determiniert gewesen sei, sondern die Offenlegung von Schnittstellen, die sich aus einer disziplinären Randlage ergeben. Auch dort, wo man es nicht erwarten würde, in der expressionistischen Kritik, die fast schon programmatisch gegen die Philologie als Zunft gerichtet war, wird der gemeinsame historische Horizont erkennbar, vor dem sich die kritisch-philologische Praxis abspielte. Sowohl die edito-
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rischen und historiographischen Praktiken als auch die Poetologie gewannen ihre Geltung nicht selten aus der Opposition zur Disziplin, indem sie auf deren formale und inhaltliche Muster zurückgriffen. Theoretischer Diskurs und philologische Praxis erhielten auf diese Weise einen paradisziplinären Status, 1 genauso wie umgekehrt auch die Disziplin immer wieder auf dezidiert nicht-wissenschaftliche Formen, beispielhaft bei Friedrich Gundolf, setzte, um sich einem außerfachlichen Publikum zu öffnen.
1. Expressionistische Gegenwartsphilologien Die Kritik der Philologie kann ihre Befreiung von einer sie usurpierenden wissenschaftlichen Praxis meinen. In diesem kritischen Verständnis von Philologie meint Gegenwartsphilologie die Bemühungen, die Literatur einer Gegenwart editorisch und mit den Mitteln der historischen Kritik zu erschließen, ohne auf den disziplinären Diskurs Rücksicht nehmen zu müssen. Durch philologisch vorgebildete Liebhaber, Publizisten, Lektoren und Dichter veranstaltete Ausgaben waren im Zeitalter nationalphilologischer Disziplinen weiterhin für den Prozess der Traditionsbildung und der Kanonisierung von Literatur maßgeblich. Die Motive unterschieden sich nicht prinzipiell von denen hinter den dezidiert wissenschaftlichen Editionsprojekten; Verlagsangebote, Desiderate, Konkurrenzprojekte, von der Geschichte überholte Ausgaben, qualitative Mängel regten die Arbeit an: Wenn Franz Bleis Edition der Werke von Jakob Michael Reinhold Lenz 2 zeigt, dass Lenz und der Sturm und Drang um 1910 neue Aufmerksamkeit erhielten, 3 so schlug sich dieser Umstand ebenso in der wissenschaftlichen Praxis nieder, weshalb es die tatsächliche Situation verkürzte, analysierte man literarische Rezeptionsprozesse nur jenseits des Wissenschaftsbetriebes. Bei historisch gewordenen Autoren und ihren Werken kann die Frage nach der Notwendigkeit von Edition und von Kritik leicht beantwortet werden: Es besteht das Bedürfnis nach dem alten Text in der Gegenwart _____________ 1 2 3
Zum Begriff para-germanistisch s. Ammon, Gelehrte und ihre Gesellen, S. 201–226, bes. S. 204–206. Vorgestellt werden Dichter bzw. Schriftsteller als Historiographen, Editoren, Interpreten und Anthologisten. Gesammelte Schriften (1909–1913). Vgl. Matthias Luserke, Franz Blei als Editor. Das Beispiel der Gesammelten Schriften von Jakob Michael Reinhold Lenz, in: Dietrich Harth (Hg.), Franz Blei. Mittler der Literaturen, Hamburg 1997, S. 205–212. Anz, Expressionismus, Sturm und Drang. Zur Affinität literarischer Jugendbewegungen, in: Koopmann/Misch (Hg.), Grenzgänge, S. 101–112.
1. Expressionistische Gegenwartsphilologien
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bzw. es wird ein Mangel daran gefunden, wie er bisher überliefert und bewertet vorliegt. Diese Antwort ließe sich auf den Fall der Gegenwartsliteratur zwischen 1910 und 1920 übertragen. Da zudem zeitgenössische Lyrik und Kurzprosa, die verstreut in Zeitschriften erschien und als Gesamtphänomen unsichtbar blieb, von zünftigen Germanisten bis 1920 – auch aus karrierestrategischen Gründen – weitgehend umgangen wurden, 4 war ein großes, von der disziplinären Praxis gänzlich unbeackertes Feld für die editorisch-kritische Betätigung frei geblieben. 5 Insoweit Edition und Textkritik zum Zweck haben, die Überlieferung zu rekonstruieren und zu bewerten, sind sie historisch-philologische Aufgaben. Überträgt man sie auf die Gegenwart, helfen sie, diese zu historisieren, also in Distanz zur Gegenwart zu treten und diese vergangen zu machen. Die um 1920 an den Rändern der Disziplin zu beobachtenden Praktiken, die Gegenwartsliteratur zu edieren, zeugen von dem Paradox, dass die Editoren und Kritiker einerseits ihren Gegenstand historisierten, zugleich diese Gegenwart als Gegenwart erfahren wollten. Fragwürdiger als bei Autoren, die sich der literarischen Tradition verpflichtet fühlten und Affinitäten zur Disziplin zeigten, wird an ausgesprochenen Kritikern und Reformatoren der ‚Letternkultur‘ (Herder) ihre Verhaftung im philologischen Denken. Dr. phil. Kurt Pinthus, Dr. phil. Rudolf Kayser, Max Krell und Kasimir Edschmid wurden an der Universität ausgebildet. Diese Nähe zur Institution ist weniger entscheidend für die disziplinäre Bedeutung ihrer Tätigkeit als der Umstand, dass ihre Arbeit für die Gegenstandsbildung der germanistischen Disziplin wichtig werden sollte, indem sie einen Anfang setzten. Vor allem die Editionen zur Gegenwartsliteratur und zu in der Literaturgeschichte vernachlässigten Dichtern – den Lücken im System also – wirkten auf die Disziplin zurück. Das Neue kam von den Rändern der Disziplin, beigesteuert von Autoren, die zwar von ihr unterrichtet worden waren, aber nicht mehr ihren Gesetzen und Diskurspraktiken unterlagen. Das damit verbundene Problem ist schnell benannt: Anachronismen, Willkür der Auswahl, fehlende Distanz zum Gegenstand und die emphatische Überbewertung mancher Autoren prägen das Erscheinungsbild dieser ‚wilden Editionen‘, die versuchen, die ihrem Gegenstand eingeschriebene Erneuerungsemphase unkritisch beizubehalten. _____________ 4
5
Die Auslandsgermanistik war diesbezüglich entspannter, wie die Anthologie des in Manchester, ab 1910 in London lehrenden und mit Else Lasker-Schüler korrespondierenden Jethro Bithell, Contemporary German Poetry (London 1909), zeigt, die parallel mit seiner Edition zu deutschen Minnesängern erschien (The Minnesingers). Zu den Herausgeberschaften vgl. Paul Raabe, Die Autoren und Bücher des literarischen Expressionismus. Ein bibliographisches Handbuch, Stuttgart 1985, S. 683–691.
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II. Praxis und Theorie am disziplinären Rand um 1920
Die spätere Ersetzung dieser Anthologien durch wissenschaftliche Editionen konnte ihre aus dem antidisziplinären Freiraum bezogene Suggestionskraft, wie im Fall der Menschheitsdämmerung (1919), nicht nivellieren. Bis heute stößt man auf das Urteil, der nicht-wissenschaftliche Kritiker der Gegenwartsliteratur, Kurt Pinthus, habe ihr Wesen ‚kongenial‘ erfasst. 6 Was die Editoren am Rande der Wissenschaft nicht ahnten, war ihre hohe Geltung für die Anfänge der wissenschaftlichen Beschäftigung mit ihrer Gegenwart. Die Hypothese lautet, dass die Selbstkonstitution der Epoche bereits nach den Mustern ablief, die die Germanistik entwickelt hatte. Bestärkt wird sie dadurch, dass prominente Akteure zumindest als Studierende mit der Disziplin in Berührung gekommen waren, dass aber auch der Erwartungshorizont für ein epochengeschichtliches Denken sensibilisiert war: Wer sich für Literatur interessierte, kannte die Literaturgeschichte und ihre Einteilungen. Schon die Idee, die jüngste Literatur als literaturgeschichtliches Ereignis innerhalb der deutschen Literaturgeschichte periodisieren zu wollen, ist germanistischen Ursprungs. Das Feld der Gegenwartsdichtung zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts war schlecht bestellt, die Disziplin hingegen, die Linien hätte ziehen können, denkbar stark. Die Spannung zwischen disziplinärer Potenz und Forschungsdesiderat ‚Gegenwart‘ begann sich in dem Moment zu lösen, als der Historismus in Kritik geriet. Mit dem politischen Bruch von 1918 entstand zudem der Eindruck auch einer literaturgeschichtlichen Zäsur, so dass die eigene Gegenwart plötzlich als abgeschlossen empfunden werden konnte. 1.1. Zum Verhältnis von Expressionismus und Geistesgeschichte in Kurt Pinthus’ Menschheitsdämmerung Die hermeneutische Durchdringung der Epochen im Dienste der Gegenwart bei Vernachlässigung des Faktischen war das zentrale Anliegen geistesgeschichtlich orientierter Germanisten nach 1910 geworden. Es fügt sich in diesen Zusammenhang, wenn Kurt Pinthus (1886–1975) diese Tendenz radikalisiert und die Gegenwart als expressionistische Epoche selbst zum Gegenstand der kritisch-künstlerischen Vision erhebt. Um das bislang kaum bemerkte „Bündnis von Geistesgeschichte und Expressionismus“ 7 zu erörtern, wird es nötig sein, Pinthus’ Zugehörigkeit zur ger_____________ 6 7
Klaus Schuhmann, Walter Hasenclever, Kurt Pinthus und Franz Werfel im Leipziger KurtWolff-Verlag (1913–1919), Leipzig 2000, S. 62. Martus, Martin Kessel als Literaturwissenschaftler, in: Stockinger/Scherer (Hg.), Martin Kessel, S. 103.
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manistischen Schule Scherers und seine gleichzeitige Abwendung von ihr plausibel zu machen. Erich Kästner, der in Leipzig mit einer Arbeit über Friedrich den Großen und die deutsche Literatur promoviert wurde, beschreibt in dem Zeitungsbeitrag Köster und Korff (1925) 8 den Methodenumbruch von Positivismus zu Geistesgeschichte charakterologisch am Beispiel zweier Germanisten. Die Disziplin habe zunächst Charaktere mit großem Gedächtnis bevorzugt, das die vielen Fakten in sich aufnehmen kann – Charaktere mit plastischer Schilderungsgabe zwar, aber mit einer strikten Abneigung gegen jede Art von hermeneutischer und philosophischer Spekulation. Dass seit 1910 zunehmend „das konstruktive, das interpretatorische Denken“ 9 favorisiert worden sei, zeige eine Talentverschiebung an: „Das Talent hatte nur seinen seelischen Standort gewechselt.“ 10 Die „methodische Umschaltung“ 11 werde am Wechsel von Albert Köster und Hermann August Korff auf dem Leipziger Lehrstuhl konkret. Korff, Jahrgang 1882, gehöre zu den „Germanisten der letzten Generation“, die „irgendeine Epoche des deutschen Geistes favorisieren und deren Grenzen nur verlassen, um jene den anliegenden Zeitgebieten sinnvoll einzufügen.“ 12 So hätten sich Cysarz das Barock, Unger den Sturm und Drang, Strich die „Romantik in ihrer Antithese zur Klassik“ 13 und Korff eben das Goethe-Zeitalter erwählt – und zwar weniger aus wissenschaftlichem Interesse als „aus geistiger und ästhetischer Wahlverwandtschaft“ 14. Dabei gehe es auch „um außergelehrte, um weltanschauliche Konfession.“ 15 Wie die Grenzen zwischen Wissenschaft und Kunst dabei fließend werden, demonstriert Kästner an Korffs Arbeiten. Dessen Habilitation zu Voltaire im literarischen Leben des 18. Jahrhunderts (1917) als Komplement zu Gundolfs Shakespeare und der deutsche Geist (1911) hinstellend, 16 widmet sich Kästner dem ersten Band der monumentalen Arbeit Der Geist der Goethezeit (1923), an der Korff sein restliches Leben schreiben sollte: „Und wie solche Gestaltung allein mit dem Rüstzeug der Wissenschaft nicht möglich wäre, so ist dieses Buch auch nicht nur für die Wissenschaft bestimmt.“ 17 Kästner rückt Korff zugleich _____________ 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17
Erich Kästner, Köster und Korff. Eine zeitgemässe Betrachtung zur historischen Methodik, in: E. K., Der Karneval des Kaufmanns. Gesammelte Texte aus der Leipziger Zeit 1923–1927, hg. v. Klaus Schuhmann, Leipzig 2004, S. 213–222. Ebd., S. 214. Ebd. Ebd., S. 213. Ebd., S. 218f. Ebd., S. 219. Ebd. Ebd. Ebd., S. 220. Beide Arbeiten hatte Max von Waldberg in Heidelberg begutachtet. Ebd., S. 221.
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in die Nähe des vitalistischen Expressionismus. 18 Der Geist der Goethezeit beschwöre die Epoche, „die den Begriff des Lebens inthronisiert; es ist ein Werk, das vom Leben her konzipiert wurde; und es ist ein Werk, das allen wahrhaftig Lebendigen gilt.“ 19 Geistesgeschichte werde geschrieben, um Gegenwart aufzuschließen, lautet Kästners Fazit.20 Korffs Epochensynthese war bereits bei Scherer angelegt gewesen. Zu Beginn des Krieges gegen Frankreich (1870) hatte er eine Schrift veröffentlicht, in die er die klassisch-romantische Epoche, die mit dem jungen Goethe und Herder einsetzte, erstmals als Ganzes zu fassen suchte. Er nannte seinen Text Die deutsche Litteraturrevolution in Anlehnung an ein Goethewort aus Dichtung und Wahrheit (III.11), das dort die Periode des Sturm und Drang bezeichnet. Zum einen geht es Scherer darum, wie man die deutsche Literatur seit 1770 von der allgemeinen europäischen Aufklärungsbewegung abgrenzen könne; in einem zweiten Schritt wird die Epoche als Einheit sichtbar, die auf geistiger Ebene eine Befreiung dargestellt habe. Man müsse „die ganze litterarische Bewegung von Lessing und Herder bis Jacob Grimm als ein Analogon der Revolution hinstellen, worin es zweierlei galt: Emancipation von fremden Mustern, Abwerfung der litterarischen Fremdherrschaft, und zweitens Emancipation von dem Geiste des achtzehnten Jahrhunderts.“ 21 Wenn Korff seinen ‚Geist der Goethezeit‘ entwirft, der die ‚Kunst als höchste Form des Lebens‘ deklariert habe, 22 konnte er sich dabei auch auf Scherers „Skizze“ 23 berufen. Das ‚Analogon der Revolution‘ wird mehrfach beansprucht (ohne in diesem ersten Band auf Scherer zu verweisen): „Die Goethezeit beginnt als eine literarische Revolution, d. h. mit einer Umwertung aller geltenden Kunstwerte und einer Veränderung der Auffassung vom Wesen der Kunst.“24 Angesichts der epochentypologischen Korrespondenz wäre es verkürzt, Scherers Schüler allein auf sogenannte ‚Positivisten‘ zu beschränken: Noch die Generation Korffs fand in ihm einen Anreger. _____________ 18 19 20 21 22 23 24
Vgl. Gunter Martens, Vitalismus und Expressionismus. Ein Beitrag zur Genese und Deutung expressionistischer Stilstrukturen und Motive, Stuttgart/Berlin/Köln/Mainz 1971 (= Studien zur Poetik und Geschichte der Literatur, 22). Kästner, Köster und Korff, in: Kästner, Der Karneval des Kaufmanns, S. 221f. „Und das heißt, all denen, die aus dem Labyrinth der bloßen Tatsachen hinausverlangen, um vom Berg der Deutung aus den Sinn der Vergangenheit zu begreifen, ohne den auch die Gegenwart ein tödliches Labyrinth bleiben muß“ (ebd., S. 222). Wilhelm Scherer, Die deutsche Litteraturrevolution, in: Manfred Wacker (Hg.), Sturm und Drang, Darmstadt 1985 (= Wege der Forschung, 559), S. 17–24, hier S. 20. Hermann August Korff, Geist der Goethezeit. Versuch einer ideellen Entwicklung der klassisch-romantischen Literaturgeschichte, Bd. 1, Leipzig 1923, S. 3. Scherer, Die deutsche Litteraturrevolution, in: Wacker (Hg.), Sturm und Drang, S. 22. Korff, Geist der Goethezeit, Bd. 1, S. 119, vgl. z. B. auch S. 70 und 132.
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Nicht nur von Scherer zu Korff (über Max von Waldberg) lässt sich eine disziplinär-genealogische Linie ziehen, sondern auch zu Kurt Pinthus, wie auch Pinthus im Sinne Kästners ein potentieller Vertreter der neuen Germanistengeneration gewesen wäre: Scherers Schüler war Erich Schmidt, bei dessen Schüler Albert Köster (1862–1924) Pinthus mit einer Arbeit über die Romane Levin Schückings 1911 promovierte. Zuvor hatte Pinthus – sein studentisches curriculum beweist es – ein vielseitiges literaturgeschichtliches Studium bei seinen Berliner und Leipziger Lehrern absolviert. 25 Neben Kurt Wolff und Walter Hasenclever gehörte Pinthus zu jenen Leipziger Studenten, die sich editorisch und verlegerisch um die Verbreitung des sogenannten Expressionismus bemühen sollten.26 Pinthus’ Editionsprojekte, wie etwa dasjenige zu Annette Droste-Hülshoff,27 sind „Reminiszenzen an den philologisch geschulten Literaturhistoriker“ 28. Als die berühmte Bibliothek Kösters nach dessen Freitod 1924 verkauft werden sollte, nahm Pinthus dies zum Anlass einer Charakteristik des Philologen, dessen Strenge betonend: „Er war ein strenger Lehrer und ein noch strengerer Prüfer; drei Jahre der kostbaren Jugend mußte man in seinen Seminaren sitzen und Steinchen auf Steinchen zur Doktorarbeit fügen.“ 29 Die Selbstbeschreibung, die besagt, dass er, Pinthus, durch eine strenge philologische Lehre gegangen sei, ist nicht ganz ohne Stolz verfasst. Pinthus überliefert die Worte seines Lehrers: „‚Doktor heißt ‚Gelehrter‘, und ich verlange, daß jeder von mir als Gelehrter entlassen wird.‘“ 30 Erst die Strenge seines Lehrers habe diesen zu einem wirklichen Lehrer gemacht, den Pinthus „verehrte, weil es bei ihm viel zu lernen gab.“ 31 Zu diesem Zeitpunkt war Pinthus nicht mehr Angehöriger seiner _____________ 25 26
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Vgl. Universitätsarchiv Leipzig, Sittenzeugnis Kurt Pinthus, 1912, und HU UA, Abgangszeugnis Kurt Pinthus am 13.3.1906. Zu Köster als Lehrer von Wolff, Pinthus und Hasenclever vgl. Schuhmann, Walter Hasenclever, Kurt Pinthus und Franz Werfel im Leipziger Kurt-Wolff-Verlag, S. 14–16. S. ferner zur Leipziger Germanistik Katrin Krüger, Die germanistische Literaturwissenschaft an der Leipziger Universität zwischen 1843 und 1924, Diss. Leipzig 1991. Sämtliche Werke, 4 Bde., gemeinsam mit Bertha Badt und Karl Schulte Kemminghausen (1925–1930). Hanne Knickmann, „Ich weiß nicht, bin ich zum Dichter, zum öffentlichen Kritiker, oder zum Wissenschaftler bestimmt?“ Der Literaturkritiker Kurt Pinthus (1886–1975), in: Barner/König (Hg.), Jüdische Intellektuelle und die Philologien in Deutschland, S. 53–64, hier S. 56. Kurt Pinthus, Eine Bibliothek weht in die Welt, in: Bernard Zeller (Hg.), Der Zeitgenosse. Literarische Portraits und Kritiken von K. P., Marbach 1971 (= Marbacher Schriften, 4), S. 53–56, hier S. 53. Ebd., S. 54. Ebd.
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Disziplin, der Germanistik der Leipziger Schule, und dennoch verstand er sich als Schüler (discipulus). Damit erinnert der expressionistische Programmatiker an ein Kriterium wissenschaftlichen Arbeitens, das nicht allgemeine Prinzipien betrifft wie das lógon didónai, die Trennung von Meta- und Objektsprache usw., sondern die persönliche Bindung: Disziplinär denken meint auch, sich weiterhin in einer Beziehung zu einer Lehrerschaft verstehen. Insofern ist Pinthus – ein am Rande der Schule sich bewegender – Schüler seines Lehrers Köster. Die Trauer um dessen Tod ist der Beweggrund seiner Erinnerung, aber im Vordergrund steht die Bibliothek Kösters, die nun verkauft und aufgelöst werden soll. Pinthus bringt in dem melancholisch gefärbten Text Eine Bibliothek weht um die Welt … (1925) eine Bewunderung für die Sammelleidenschaft seines Lehrers zum Ausdruck, die sich in der Bibliothek manifestiert. 32 Da Köster in dieser Bibliothek die Sprechstunden und Examina mit seinen Schülern abhielt, kann Pinthus von der Ehrfurcht sprechen, die er für die große Sammlung empfand, als welche die deutsche Literaturgeschichte, meist in kostbaren Erstausgaben, an diesem Ort sichtbar wurde. Köster aber war der Souverän, der über das Reich der deutschen Literaturgeschichte regierte. Pinthus berichtet, wie er kurzzeitig aus dem Kreis der Schüler ausgeschlossen wurde, weil er zwei seinem Lehrer unbekannte moderne Werke erwähnt hatte. Das Schülerverhältnis habe sich später, so Pinthus, „bei einer Flasche Rotspon“33 in Freundschaft gewandelt, dennoch blieb die Ehrfurcht vor der Literaturgeschichte als Ehrfurcht vor der Bibliothek und damit als Ehrfurcht vor dem Lehrer bestehen: „Immer aber schämte ich mich noch vor diesen Büchern, auch als ich selbst schon Bücher geschrieben hatte, weil sie mich in meinen schwächsten Stunden gesehen hatten.“ 34 Er beschreibt, wie liebevoll Köster, „der scheinbar kaltherzige Mann“, die mit „kleinen Dedikationen“ versehenen Abhandlungen „seines Schülers“ eingeordnet habe. 35 Pinthus nimmt die Versteigerung und die Auflösung der Bibliothek zum Anlass, sich mit Pathos zur deutschen Literaturgeschichte zu bekennen: „Liebt und ehrt diese Bücher, sie sind stolz und mächtig; sie gehörten großen Herren, die längst tot sind, sie waren vor euch auf der Welt und werden euch überdauern!“ 36 Das Bekenntnis zur deutschen Literaturge_____________ 32
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„In diesem kleineren Empfangs- und Arbeitszimmer standen die großen Nachschlagewerke und Zettelkästen. Nebenan aber war ein hellerer, weiterer Raum, der durch zwei Etagen ging. Dort war an den Wänden ringsum und oben auf einer Galerie die gesamte deutsche Literatur von ihren Anfängen an aufgestellt“ (ebd.). Ebd., S. 55 (Köster war Hamburger). Ebd. Ebd. Ebd., S. 56.
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schichte von einem wichtigen Förderer expressionistischer Gegenwartsliteratur, die ihr Selbstverständnis aus einer bewussten Abkehr von bestimmten Traditionen der Literaturgeschichte gewann, irritiert nur dann, wenn man Pinthus’ Arbeiten nicht als Fortsetzung der Idee der deutschen Literaturgeschichte begreift. Pinthus hat nach seinem Studium weiterhin als Literaturhistoriker gehandelt, nur mit dem Unterschied zu seinem Lehrer Köster, dass er die Gegenwart schon als ihren Teil verstand. Die disziplinäre Randposition erlaubte es Pinthus in Über Kritik (1917), einem Beitrag für die Aktion, einen Kritikbegriff zu entwickeln, der mit der aktuellen Kunstproduktion in Verbindung stehen sollte. Nicht deskriptiv, nicht analytisch nacherzählend, nicht hermetisch (‚verdunkelnd‘), nicht genetisch (wie von ‚historischen Einreihern und Abhängigkeitsschnüfflern‘) sei die Kritik. All diese Beispiele seien sekundäre, von Demut gegenüber dem Künstler zeugende ‚Kärrnerarbeit‘. 37 Die Abgrenzung ist implizit auch eine gegenüber der historisch-philologischen Kritik, 38 aber nicht, weil er sie für unnötig hält: „Es ist selbstverständliches Erfordernis, daß der Kritiker die Historie, die Tatsache beherrscht, – nicht um sie zu besitzen, sondern um sie verschwinden zu lassen.“ 39 Worum es Pinthus geht, ist die Überwindung der historischen Kausalität bei der Beurteilung der Werke im Dienste der die Realität erkennenden Idee. 40 Eine an Herder erinnernde Entzündungsmetaphorik erfasst den Kritikbegriff, wenn er gemahnt, Kritik sei weder Selbstzweck noch „Zensierung des Kunstwerks, sondern Entzündung, Schöpfung, Wirkung, entspringend aus dem geheimnisvollen Dreieck, dessen Seiten sich aus Künstler, Publikum und Kritiker bilden.“ 41 Interessanterweise wird der Kritikbegriff vom Geistbegriff flankiert.42 Ein solches Verständnis kann und soll sich nicht mit der wissenschaftlichen Kritik decken, die Pinthus nicht gänzlich verabschiedet, sondern nur in den Hintergrund drängt. Die Arbeit des Kritikers berge „nicht die konzentrierte Ruhe des Wissen_____________ 37 38
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Kurt Pinthus, Über Kritik, in: Zeller (Hg.), Der Zeitgenosse, S. 27–30, hier S. 27. Zur Kritik des wissenschaftlichen Kritikbegriffs am Rande der Wissenschaft s. auch Alfred Bach, Jugendgedichte Goethes. Ueber Ursprung und Mittel lyrischer Dichtung. (Ein Brief), in: Der Mensch 1 (1918), H. 4/5, S. 67–71. Bach hält der Goethe-Philologie vor, ihr gehe es um die Glorifizierung des bestehenden Urteils ‚Goethe‘, aber nicht um die Neugewinnung eines Urteils. Die ‚Kritik‘, ureigenste Aufgabe der Philologie, sei ihres Sinnes entledigt. Pinthus, Über Kritik, in: Zeller (Hg.), Der Zeitgenosse, S. 27. Ebd., S. 27f. Ebd. Vgl. ebd., S. 27: „Wenn ich Geist als Bewegung des Bewußtseins zum Zweck der Vervollkommnung bestimme, so ergibt sich, daß der Kritiker nicht nur Propagator des geistigen Werks (anderer), sondern vorausstürmender Gebärer, Aufpeitscher, Verkörperer des Geistes selbst zu sein hat.“
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schaftlers und die Sicherheit, welche die Beherrschung des Spezialgebiets gewährt.“ 43 Es gehe vielmehr um geistige Bewegung, die vom Kritiker verlange, den ruhigen wissenschaftlichen Standpunkt zu verlassen. Da es den Kritiker als ‚Aufpeitscher‘ nicht gebe, werde seine ‚Erscheinung‘ umso dringlicher.44 So kann Pinthus die eigene, am Rande der Wissenschaft stattfindende literaturkritische und editorische Tätigkeit legitimieren. Zum Gegenstand eines Kritikers, der in die ästhetische Entwicklung eingreift, müsse diese Entwicklung selbst werden, nicht ihre vereinzelten Werke, sondern ihre gesamte Erscheinung. Mit anderen Worten soll das Partikulare in der Epoche aufgehoben werden. Die Gegenwartsliteratur als Epoche zu umreißen, unternahm Pinthus in dem Beitrag Zur jüngsten Dichtung (1915), der in Die weißen Blätter erschien. Darin versteht er das Neue als eine ‚Wendung ins Geistige und Ethische‘ der Kunst sowie als Abkehr vom mimetischen Prinzip als „Abschilderung, Analyse und Erkenntnis der Wirklichkeit“45. An verschiedenen Autoren der europäischen Literatur zeigt Pinthus erste Ansätze der Wirklichkeitskritik (Gustave Flaubert, Heinrich Mann, Carl Sternheim, Frank Wedekind, Émile Zola), um dann zur jüngsten Generation, „nach 1900 sich entwickelnd“ 46, überzugehen, die zur Einsicht gelangt sei, dass „Wirklichkeit und Kunst“ sich nicht bedingten, sondern ausschlössen. 47 Wie eingangs gesehen, formuliert Pinthus im Stil Scherers wenige Prinzipien. Am „Kampf des geistigen Menschen in der Wirklichkeit“ 48 soll „das Gemeinsame, nicht das Trennende jüngster Dichtung“ 49 entwickelt werden. Die Abstraktion von der Vielschichtigkeit des literarischen Betriebes kann aber erst die Epoche begründen und führt aufgrund der Zuspitzung unweigerlich zur Vereinfachung. Die Bewegung ins Geistige ist zugleich eine Bewegung der Dichtung ins Politische, wobei Pinthus diesen Prozess schon einmal, und zwar in der ‚klassisch-romantischen‘ Epoche 50 der Literaturgeschichte beobachtet. Hier korreliert sein Denken – als Korffs und Gundolfs Generationsgenosse – wohl am deutlichsten mit demjenigen Scherers, der die ‚Literaturrevolution‘ als eine nationale Revolution begriff: Sie einte Deutschland, indem sie sich kulturell abgrenzte von Frankreich und literarisch der nationalen Vergangenheit zuwendete. _____________ 43 44 45 46 47 48 49 50
Ebd., S. 29. Ebd., S. 30. Kurt Pinthus, Zur jüngsten Dichtung, in: Zeller (Hg.), Der Zeitgenosse, S. 15–27, hier S. 15. Ebd., S. 16. Ebd., S. 17. Ebd., S. 22. Ebd., S. 15. Vgl. ebd., S. 27.
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Der Widerspruch zu Scherer besteht allerdings in der Deutung der Reichseinigung von 1871, die Scherer während der Abfassung seines Textes unmittelbar bevorgestanden und die er wie die meisten Germanisten erhofft hatte. Scherers Die deutsche Litteraturrevolution ist auch ein Lehrstück, wie die Politik für wissenschaftliche Fragen zu gewinnen ist, und damit von ökonomisch-pragmatischer Relevanz. Denn Scherers These läuft darauf hinaus, die Literaturgeschichte als Vorbereitung der konkreten politischen Einigung zu lesen. Als Kind der Einheit sah Pinthus das anders. Wenn die ‚jüngste Kunst‘ seiner Generation ins Politische weise und auf „jene geistige und ethische Einung der Deutschen“ wirke, so sei damit nur die von den Dichtern der klassisch-romantischen Epoche imaginierte Einheit gemeint, also etwas Abstraktes; nicht jedoch die reale seit 1871. Denn die von Dichtern imaginierte Einheit ging „nach der über Erwarten schnell geschehenen politischen Bindung Deutschlands wieder verloren“ 51. Genau gegen die von dieser Einheit des Jahres 1871 geschaffene Realität grenzt Pinthus sich ab. Es gehe um eine höhere Gemeinschaft, „die nicht nur die geistig-sittliche Einigung der Deutschen bedeutet, sondern – vielleicht – des erdbewohnenden Menschengeschlechts.“52 Das sind Töne, die der noch in der nationalen Perspektive von 1871 stehenden Germanistik fremd gewesen wären. Der kosmopolitische Ansatz des Epochenbegriffs markiert das Neue, am Rande der Disziplin Entstehende. Aber die Denkfiguren zur Konstituierung sind der Disziplin entlehnt. Das Gleiche gilt auch für das Verfahren der agonalen Darstellung literaturgeschichtlicher Entwicklungen. Vom Kampf der Prinzipien (Geist vs. Wirklichkeit), von ‚Überwindung‘ des mimetischen Anspruchs ist die Rede. 53 Die Kampfmetaphorik ist nicht unbedingt dem künstlerischen Publikationsort oder der Kriegssituation geschuldet, 54 sondern entspricht als dramatisierte Darstellung von Literaturgeschichte den Ansprüchen der Disziplin. Scherer hatte sogar das Dramatisieren empfohlen: Es wäre zu wünschen, daß man auch in der Litteraturgeschichte einmal aufhörte, immer ein lebendes Bild nach dem anderen vorzuführen, wie man ruhig einen Fluß hinabfährt und sich die wechselnde Scenerie der Ufer betrachtet. Vielmehr sollte man jene lebenden Bilder in bewegte Dramen umsetzen, man sollte die Parteien und ihre Stärke, ihre Action, das Auf- und Abwogen des Kampfes, Sieg und Niederlage erforschen und darstellen. 55
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Ebd. Ebd. Vgl. ebd., S. 25. Zu Beginn weist Pinthus darauf hin, dass seine Betrachtungen im Kriegsdienst entstanden sind: „in den kurzen Pausen militärischen Dienstes“ (ebd., S. 15). Scherer, Die deutsche Litteraturrevolution, in: Wacker (Hg.), Sturm und Drang, S. 23.
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Nach diesem Darstellungsmuster verfährt Pinthus, verfährt ein Großteil der die Epoche konstituierenden Selbstbeschreibungen, „Manifeste und Programme gegen die Zeit für die Zeit“ 56. Statt vom Kampf gegen das Prinzip der gelehrten Renaissance (Scherer) spricht Pinthus vom Kampf gegen die Wirklichkeit im Dienst einer neuen Wirklichkeit. Pinthus kann das Neue nur agonal entstehen sehen und leistet späteren Deutungen der Epoche als einer des ‚Kampfes‘ Vorschub.57 Schließlich korrespondiert Pinthus’ Neigung, Werk und Leben zu mischen, mit jener vom Biographismus vorbereiteten und von Diltheys Erlebnisästhetik theoretisch legitimierten literaturwissenschaftlichen Interpretationspraxis, wonach ein Gedicht nur beurteilt werden könne, wenn man das Gefühl, „welches den Dichter belebt hat“58, selbst hervorbringen könne. „An eigener Menschlichkeit durchlebte Max Brod in mannigfachen Kunstgebilden mannigfachen Wertes diesen Kampf, bis auch er, wie Jüngere, erkennt, daß das Problem des geistigen Menschen in der Welt nur durch ethischen Gewaltstreich zu lösen ist.“ 59 Solch gewaltsame Gesten haben die spätere Rezeption des Expressionismus insofern erschwert, als den Autoren ein kämpferisches Potential zuerkannt wurde, befeuert von dem politischen Aktivismus vieler Künstler. 60 Pinthus’ Aufriss der ‚Epoche‘ – veranschaulicht an mehreren Beispielen von Autoren, die jenes neue geistige und zugleich ethische Prinzip in ihrer Dichtung manifest werden lassen – konstituiert den Kanon von Autoren, der wenig später in Anthologien popularisiert werden wird. Von ‚Expressionismus‘ ist noch nicht die Rede zu diesem Zeitpunkt, auch die spätere Gattungsverengung, die in der Lyrikanthologie zum Ausdruck kommen wird, zeichnet sich noch nicht ab. Pinthus ergänzt den literaturhistorischen Beitrag nach dem Krieg durch seine berühmte Edition zeitgenössischer Lyrik unter dem Titel _____________ 56 57
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Pinthus, Zur jüngsten Dichtung, in: Zeller (Hg.), Der Zeitgenosse, S. 26. Vgl. Paul Raabe, Expressionismus. Der Kampf um eine literarische Bewegung, Zürich 1987. – Pinthus zufolge, manifestiere sich dieser Kampf besonders an Franz Werfel; er sei das „ethische Gewitter unserer Epoche“ (Pinthus, Zur jüngsten Dichtung, in: Zeller (Hg.), Der Zeitgenosse, S. 26). Wilhelm Dilthey, Die Einbildungskraft des Dichters. Bausteine für eine Poetik, in: Fr[iedrich Theodor] Fischer (Hg.), Philosophische Aufsätze. Eduard Zeller zu seinem fünfzigjährigen Doctor-Jubiläum gewidmet, Leipzig 1887, S. 304–482, hier S. 421. Ebd. heißt es: „Die Poesie entstand aus dem Drang, Erlebniss auszusprechen, nicht aus dem Bedürfniss, den poetischen Eindruck zu ermöglichen.“ Pinthus, Zur jüngsten Dichtung, in: Zeller (Hg.), Der Zeitgenosse, S. 23. Die schärfste Kritik dieses politischen Aktivismus bei Georg Lukács, „Größe und Verfall“ des Expressionismus [1934], in: Hans Gerd Rötzer (Hg.), Begriffsbestimmung des literarischen Expressionismus, Darmstadt 1976 (= Wege der Forschung, CCCLXXX), S. 19–66.
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Menschheitsdämmerung (1919), 61 die gleich zweimal ihre kanonisierende Wirkung entfalten durfte. Nach 1945 wurde Pinthus als wichtiger literarischer Zeitzeuge der Epoche für die jungen Literaturhistoriker des Expressionismus Paul Raabe, Paul Pörtner oder Richard Brinkmann von Bedeutung. Seine Anthologie publizierte er 1959 ein zweites Mal mit einer neuen Vorrede, was ganz der doppelten Konstituierungslogik des Expressionismus entspricht.62 Erst die Ausgabe von 1959 stellte die ‚Sammlung‘, die 1919 noch den Untertitel Symphonie jüngster Dichtung getragen hatte, als historisches ‚Dokument des Expressionismus‘ aus. In der Vorrede zur ersten Ausgabe war ‚expressionistisch‘ noch eine Fremdzuschreibung, keine Selbstbezeichnung: Man nenne diese Dichtung „die ‚jüngste‘ oder ‚expressionistische‘ […], weil sie ganz Eruption, Explosion, Intensität ist – sein muß, um jene feindliche Kruste zu sprengen.“ 63 Im Vordergrund stand, alle anderen Facetten in den Schatten stellend, die Idee des Neuen, die das Alte der literarischen und kulturellen Tradition verdrängen wollte. Dabei ist die politisch nervöse Sprechsituation kurz nach dem Ersten Weltkrieg kaum zu überschätzen für Pinthus’ programmatischen Anspruch einer Abkehr vom Ästhetizismus im Zeichen des Politischen, 64 wie er sie 1915 in seinem Essay Zur jüngsten Dichtung begründet hatte. Die Formulierung des neuen Anspruchs verläuft gleichfalls in literaturgeschichtlichen Bahnen. Das literaturgeschichtliche Paradigma zur Erklärung von literarischer Innovation bildete den gemeinsamen Verständnishorizont des Herausgebers Pinthus und seiner Leser. Es war nicht bloße Rhetorik, wenn Pinthus die These aufstellte, dass die Lyrik stets „das Barometer seelischer Zustände, der Bewegung und Bewegtheit der Menschheit“ 65 gewesen sei, um die Sammlung zu legitimieren. Lyrik war im neunzehnten Jahrhundert zu einem Leitmedium der Kultur aufgestiegen. 66 Die gattungstypologische Perspektive, so Pinthus, habe eine hermeneutische Relevanz für das Verständnis anderer Epochen; die Kultur ganzer Epochen habe man nach der Art ihrer Dichtung charakterisiert: _____________ 61
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Für die Erschließung des literarischen Expressionismus sind ferner bedeutsam Pinthus’ gemeinsam mit Erwin Loewenson besorgte Ausgabe der Dichtungen Georg Heyms, die 1922 im Verlag von Kurt Wolff erschien. Die Herausgeber bedienten sich Heyms Nachlasses, worüber einzig die kurze Nachbemerkung informiert. Vgl. Menschheitsdämmerung. Ein Dokument des Expressionismus. Mit Biographien und Bibliographien neu hg. v. Kurt Pinthus, Hamburg 1955 (= Rowohlts Klassiker der Literatur und Wissenschaft. Deutsche Literatur, 4). – Zur doppelten Konstituierungslogik des Expressionismus s. Marcel Lepper/Alexander Nebrig (Hg.), Expressionismus 1960 = Mitteilungen des Deutschen Germanistenverbandes 58 (2011), H. 2, S. 115–193. Ebd., S. 29. Ebd. Ebd., S. 22. Vgl. Martus/Scherer/Stockinger (Hg.), Lyrik im 19. Jahrhundert.
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„Empfindsamkeit, Sturm und Drang, Romantik, Junges Deutschland, Butzenscheibenpoesie.“67 Der epochengeschichtliche Kontext besaß bei der Leserschaft Verbindlichkeit und repräsentierte ihren maßgeblichen Deutungsrahmen zum Verständnis des Lyrischen. Dies impliziert, dass die Innovation erst vor dem Hintergrund einer wirkungsmächtigen nationalen literarischen Tradition geschehen konnte, wie sie im ersten Drittel des zwanzigsten Jahrhunderts – einmalig fest gefügt und breit akzeptiert – bestanden hatte. Die Last der Literaturgeschichte wurde auf den Schultern der Gegenwartsautoren zunehmend größer, und Pinthus’ Wendung weg vom kausal-genetischen Fokus auf die Vergangenheit hin zum synchronisch-reihenden auf die Gegenwart kam einem Befreiungsschlag gleich. An der ‚Symphonie‘ ist das Revolutionäre nicht nur die romantische Musikalisierung der Poesie, sondern ihre ‚Synchronie‘, die ihren Reiz aus dem Bruch mit einer übermächtigen Diachronie gewann. Wahrnehmung und Anerkennung von Dichtern der jüngsten Generation, die sich schwerlich einordnen ließen in den bisherigen Entwicklungsgang der deutschen Literaturgeschichte, eröffneten im anthologischen Medium die Möglichkeit ihrer wissenschaftlichen Kritik. Umgehend nahmen andere Autoren wie Heinrich Eduard Jacob (1889–1967) auf Pinthus’ Anthologie Bezug. 68 Jacob riss den Expressionismus in seiner Einleitung Zur Geschichte der deutschen Lyrik seit 1910 (Verse der Lebenden) von 1924 vollends aus dem Strom der Gegenwart heraus. Bei ihm zeigen sich Ansätze einer alternativen Disziplinbildung, indem er Pinthus’ Menschheitsdämmerung wissenschaftlich würdigt, zugleich aber eine Abgrenzung gegenüber seinem Vorgänger hinsichtlich der Gliederung jener zehn Jahre vornimmt, die ediert werden. Für Jacob ist eine Trennung verschiedener Perioden nicht möglich, vielmehr herrsche eine Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen, was in einem Zeitraum von zehn Jahren nicht erstaunlich ist. Jacob variiert Wilhelm Scherers Konzept der Wellentheorie – die von drei Höhepunkten, dem Epos um 600, der mittelalterlichen Poesie um 1200 und der Klassik um 1800 ausgeht –, indem er die Literaturgeschichte seit 1800 als ein wellenartiges Ablösen naturalistischer und klassizistischer Epochen versteht. Sein Epochenkonstrukt ist anders als dasjenige von Pinthus nicht thema-
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Pinthus, Menschheitsdämmerung, S. 22. Jacob, der das Askanische Gymnasium (1902–1909) besucht hatte, beendete sein Studium nicht mit der Promotion. Zu Jacob s. Isolde Mozer, Zur Poetologie bei Heinrich Eduard Jacob, Würzburg 2005 (= Epistemata. Reihe Literaturwissenschaft, 558), zum Bildungsweg S. 36f.
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tisch, sondern dynamisch.69 Obgleich er einen gewissen Vorbehalt gegen Epochen hege, könne er „mit annähernder Richtigkeit sagen: […] in der Geschichte der deutschen Lyrik lösen sich schon seit Jahrhunderten die klassizistischen und naturalistischen Perioden ab.“ 70 Sowohl Ästhetizismus als auch der dem Expressionismus vorausgehende Impressionismus begreift er nicht wie andere Autoren als neuromantische, sondern als klassizistische Epochen, wobei der Klassizismus ab 1910 durch eine naturalistische Welle verdrängt worden sei. 71 – Festzuhalten ist: Pinthus’ Editorik und Historiographik sowie die philologischen Bemühungen der an ihn anknüpfenden Autoren sind beispielhaft dafür,72 dass die Praxis jenseits der institutionalisierten Germanistik nicht ohne den Rückgriff auf Erklärungsmuster der germanistischen Literaturgeschichtsschreibung auskam und zugleich dazu tendierte, Mechanismen disziplinärer Wissensorganisation auszubilden. 1.2. Methodenkritisch edieren: Rudolf Kaysers Verkündigung Die editorische Erschließung der jüngsten Dichtung um 1920 erfolgte nicht nur implizit im Medium der Geistesgeschichte; wie der folgende Fall zeigt, bestand gleichfalls ein ausgeprägt methodenkritisches Bewusstsein, das explizit gemacht werden konnte. Rudolf Kayser, Dichter der Aktion, promovierter Germanist, 73 Gymnasiallehrer, Chefredakteur der Neuen Rundschau, Dozent an der Lessing_____________ 69 70 71 72
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Vgl. Heinrich Eduard Jacob, Zur Geschichte der deutschen Lyrik seit 1910, in: Ders. (Hg.), Verse der Lebenden. Die deutsche Lyrik seit 1910, Berlin 1924 (= Das kleine Propyläenbuch, 8), S. 5–29, hier S. 5. Ebd. S. 6. Vgl. ebd., S. 13. In diesem Kontext zu erwähnen ist auch Friedrich Markus Huebner. Der nach Studien in Straßburg an der Universität Heidelberg promovierte Huebner beteiligte sich an der epochenhistorischen Bestimmung der Gegenwartsliteratur in dem von ihm selbst herausgegebenen Band Europas neue Kunst und Dichtung (1920). Zur Straßburger Studienzeit s. Hubert Roland, Leben und Werk von Friedrich Markus Huebner (1886–1964). Vom Expressionismus zur Gleichschaltung, Münster 2009 (= Studien zur Geschichte und Kultur Nordwesteuropas, 19), S. 36–43 und S. 78–83 (zu: Friedrich Markus Huebner [Hg.], Europas neue Kunst und Dichtung, Berlin 1920). Anders als der Impressionismus sei nach Huebner der Expressionismus kein literarischer Stil, sondern eine „Norm des Erlebens, des Handelns“ (Friedrich Markus Huebner, Deutschland, in: Ders. [Hg.], Europas neue Kunst und Dichtung, Berlin 1920, S. 80). Rudolf Kayser, Arnims und Brentanos Stellung zur Bühne, Berlin 1914; studiert hatte Kayser vom Winter 1910 bis Sommer 1911 in Berlin vgl. HU UA Abgangszeugnis Rudolf Kayser 7.8.1911 bei Roethe, Schmidt, Wölfflin und Cassirer. In München studierte er, wie dem Nachwort seiner Dissertation zu entnehmen ist, bei Borinski, Unger, Strich, Paul, Muncker und Wölfflin.
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Hochschule in Berlin und später, im amerikanischen Exil, Literaturprofessor,74 wäre als zünftiger Germanist um 1920 sicherlich ein Vertreter der geistesgeschichtlichen Methode geworden. Kayser warf der Germanistik 1918 vor, die Werke der Kunst, die Ausdruck von geistiger Freiheit seien, materiell zu determinieren. Die Orientierung an der Naturwissenschaft habe zu einem Kausalitätsdenken geführt, das der echten Philologie und der Dichtung fremd sei: Die Praxis des Philologen „ist rohe Vergewaltigung des Geistes durch die Soldateska der siegreichen Naturwissenschaft.“75 Jenen ‚missratenen Philologen‘ stellt Kayser die ‚wahrhaften‘ gegenüber, die ‚Philologen-Poeten‘ wie Nietzsche, die den Geist bewahrten, indem sie strebten, ihn in den Werken zu erkennen. Dabei greift Kayser auf August Boeckhs Formel vom „Erkennen des (durch die Dichter) Erkannten“ 76 zurück. Seine Interpretation der Formel vollzieht sich in drei Stufen. Die erste besteht in der Erkenntnis der Materialität. Kayser spricht von den ‚Geheimnissen der Sprache‘, den „Erregungen der Grammatik, von Denk-Musik und Rhythmus, der Harmonie der Vokale.“ 77 Wenn die Sprache, „der Weltwunder größtes“, den Philologen als ihren Priester erkoren habe, so sei dessen zweite Aufgabe, die Genese des Werkes anhand seiner Fassungen erfahrbar zu machen. Der dritte und eigentliche Schritt sei der ‚geschichtliche‘. Der bisherige Literaturhistoriker (Hermann Hettner oder Jacob Burckhardt ausgenommen) habe vergessen, dass in den Werken „nicht nur die personale Angelegenheit der Dichter verhandelt wird, sondern auch die sachliche der Gegenwarten.“ 78 Von den überindividuellen Kräften wisse man als Literarhistoriker alter Schule nichts. Kaysers Rettungsversuch der ‚wahren Philologie‘ ist ein Plädoyer für die _____________ 74
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Brandeis University, Massachusetts. – Zu Kayser s. Thomas S. Hansen, Rudolf Kayser, in: John M. Spalek/Joseph Strelka (Hg.), Deutschsprachige Exilliteratur seit 1933, Bd. 2.1, Bern 2001, S. 421–432. – Unter dem Pseudonym Anton Reiser publizierte Kayser eine Biographie über seinen Schwiegervater: Albert Einstein. A biographical portrait, New York 1930. – Zur Neuen Rundschau s. Wolfgang Grothe, Die Neue Rundschau des Verlags S. Fischer. Ein Beitrag zur Publizistik und Literaturgeschichte der Jahre von 1890 bis 1925, Frankfurt a. M. 1961. Rudolf Kayser, Gedanken zu einer Literaturwissenschaft, in: Das Junge Deutschland. Monatsschrift für Theater und Literatur 1 (1918), H. 8/9, S. 266–269, hier S. 266. – Denkt man beispielsweise an Hubert Roettekens empirisch-statistische Erhebungen, die er unter Führung von Karl Marbe zur Erkenntnis von Goethes Prosarhythmus veranstaltete (vgl. Vgl. Karl Marbe, Über den Rhythmus der Prosa. Vortrag, gehalten auf dem 1. deutschen Kongress für experimentelle Psychologie zu Giessen, Giessen 1904), gewinnt die Bemerkung biographische Plausibilität – bei beiden hatte Kayser in Würzburg studiert. Kayser, Gedanken zu einer Literaturwissenschaft, in: Das Junge Deutschland 1 (1918), H. 8/9, S. 267. Ebd. Ebd., S. 269.
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geistesgeschichtliche Hermeneutik, ein Versuch, das Kunstwerk in seiner höheren Einheit zu verstehen. Damit gewinnt die Kunst der Gegenwart als das privilegierte Medium zur Erkenntnis der eigenen Zeit an Bedeutung. Geistesgeschichtliche Hermeneutik und expressionistische Gegenwartskunst finden in dem von Kayser entworfenen Typus des ‚PhilologenPoeten‘ ein gemeinsames Organ. 79 Nicht nur die historisch-philologische Methode steht auf dem Spiel. Kayser kritisiert in gleichem Maße die unhistorische Anwendung von Stilkategorien im Sinne Wölfflins, bei dem Kayser studiert hatte,80 sowie Oskar Walzels Projekt einer ‚wechselseitigen Erhellung der Künste‘. Die Kritik einer unhistorischen Stiltypologie, für die Walzel stehe, führte Kayser mit Ernst Robert Curtius zusammen, mit dem er über die Neue Rundschau bekannt war. Zwar teilt Curtius in einem Brief an Walzel vom 28. Dezember 1918 die Abweisung des „philologischen und biographischen Betriebes“ und hält „eine philosophische Phänomenologie oder Morphologie der Dichtung“ für ein Desiderat, aber er bevorzugt für die Dichtung einen geistesgeschichtlichen statt eines stiltypologischen Zugangs im Sinne Wölfflins. Curtius wendet sich im selben Brief gegen die autonome Entwicklung der literarischen Formensprache und bezweifelt, ob „die formale Betrachtungsweise der neueren Kunsthistorik die spezifische Aufgabe der Literaturgeschichte erfüllen kann“; die Kunst sei in einem anderen Sinne „Trägerin der geistigen Culturinhalte ihrer Zeit“ 81. _____________ 79
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Die analoge synthetische Ausrichtung von Expressionismus und geistesgeschichtlicher Stiltypologie findet sich häufig formuliert. Anders als in der Philologie, die das historisch Individuelle analysierte, sollte in Kunst und Wissenschaft, so etwa Rudolf Wolff, über das Individuelle hinaus zum allgemeinen Geist einer Epoche vorgedrungen werden. Vorbildlich seien die kunstwissenschaftliche Stilforschung und Gundolfs Goethe. Vgl. Rudolf Wolff, Die Wandlung in der Literaturwissenschaft, in: Die Flöte. Monatsschrift für neue Dichtung. Zeitschrift des Künstlerdanks 4 (1922), H. 11, S. 308–312, hier S. 309: „Die philosophisch-aesthetische Einstellung (Gundolf) entspricht als Ausdruck einer bestimmten Zeit dem Expressionismus. Sie entmaterialisiert, sie vergeistigt wie dieser, sie will das Wesentliche der Erscheinung begreifen und festhalten.“ Wolff, der 1922 über Das Ich in der Lyrik der Romantiker promovierte, war auch Verfasser von Die neue Lyrik. Eine Einführung in das Wesen jüngster Dichtung (Leipzig 1922). Vgl. HU UA Abgangszeugnis Rudolf Kayser 7.8.1911. Ernst Robert Curtius an Oskar Walzel am 28.12.1918 [DLA A:Walzel]. – Ähnlich denkt der Romanist Vossler. Zur Festschrift für Vossler (Idealistische Neuphilologie) trug Walzel den Aufsatz Wege der Wortkunst bei. Vossler bedankt sich: „Von der Stilistik des Wortes, die auch ich bei Gundolf bewundert habe, zu der des Satzgefüges u. der Perioden weiterdringend, kann man allerdings in die Nähe der Wölfflinschen Betrachtungsweise gelangen“ (Karl Vossler an Oskar Walzel am 6.9.1922 [DLA A:Walzel]). Strichs Buch, das Vossler gut gefallen habe, verdiene „eher den Namen Stilpsychologie als Kunstphilosophie“ (ebd.). – Fritz Strichs emphatische Rezeption Wölfflins widerspricht den Unterschieden, die zwischen beiden Autoren bestehen, vgl. Heinrich Dilly, Heinrich Wölfflin und Fritz Strich, in: König/Lämmert (Hg.), Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte, S. 265–285. – Als
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Kaysers Auseinandersetzung mit Walzel reicht weiter zurück. Bereits im August 1916 hatte er den unhistorischen Stilbegriff brieflich, von Germanist zu Germanist, gegenüber ‚dem Bundesgenossen‘ in Frage gestellt: „So fruchtbar die Wölfflinschen Kategorien (die er in seinen Kollegs seit altersher anwandte) auch dem Literarhistoriker erscheinen, so darf man sich auch nicht ihre Enge verhehlen, die es veranlasste, dass die meisten jüngeren Kunsthistoriker sie wieder aufgegeben haben.“ 82 Für Kaysers eigene Arbeiten sei hingegen Wölfflins Bestimmung des Stils als ‚Gestaltungsmodus‘ von Bedeutung. „Von hier aus will ich eine Grundlegung der Literaturwissenschaft versuchen, indem ich den ‚Stil‘ nicht allein als ästhetischen sondern auch als geschichtsphilosophischen Begriff formuliere.“83 Jedoch gesteht Kayser ein, selbst noch nicht zu wissen, wie seine historische Stilistik auszusehen habe. „Wie diese Bindung der ästhetischen Analyse an den historischen Zeit-Verlauf zu vollziehen ist: das möchte ich vorläufig noch mein Geheimnis sein lassen.“ 84 Von diesem Brief ausgehend, lässt sich Kaysers editorische Arbeit zur Gegenwartslyrik als ästhetisch-geschichtsphilosophische Wissenschaft verstehen. Diese Kombination ist seine „Antwort auf die alte Frage der Literaturgeschichte als Wissenschaft“ 85, da bei Nichtbeachtung der „zeitlichen Lokalisation“, wozu die Wölfflin’schen Kategorien verführten, jede Systematik der Literatur und jede Kunstphilosophie scheitern müssten. In der Praxis betrachtet Kayser aber nicht den literarischen Stil der Vergangenheit, sondern jenen der Gegenwart, wobei die Lyrik konzentrierter als andere Gattungen ihre eigene Zeit erfasse. Kaysers Verkündigung erschien 1921 mit dem Untertitel Anthologie jüngster Lyrik im Roland-Verlag von Dr. Albert Mundt in München, unterstützt wurde er von Dr. Martin Sommerfeld. ‚Jung‘ sei die Lyrik nicht wegen der Generationszugehörigkeit der Autoren, „sondern weil sie in unserer Gegenwart wurzele.“ 86 Auf 333 Seiten versammelt Kayser 45 Autoren, zu denen er jeweils eine knappe biobibliographische Anmerkung verfasst. _____________ 82 83 84 85 86
weiterer Beleg für das allgemeine Interesse an Wölfflins Kategorien vgl. den Brief von Charlotte Bühler an Oskar Walzel vom 27.4.1919 [DLA A:Walzel]. Rudolf Kayser an Oskar Walzel am 17.8.1916 [DLA A:Walzel]. Ebd. Ebd. Ebd. Rudolf Kayser, Prolog, in: R. K. (Hg.), Verkündigung. Anthologie jüngster Dichtung, München 1921, S. X. Aufgenommen wurden Gedichte der (alphabetisch geordneten Autoren) Paul Adler, Johannes R. Becher, Gottfried Benn, Ernst Blaß, Max Brod, Theodor Däubler, Albert Ehrenstein, Iwan Goll, Paris von Gütersloh, Martin Gumpert, Henriette Hardenberg, Walter Hasenclever, Adolf von Hatzfeld, Max Herrmann-Neiße, Georg Heym, Kurt Heynicke, Richard Hülsenbeck, Hanns Johst, Hermann Kasack, Gottfried Kölwel, Wilhelm Klemm, Georg Kulka, Else Lasker-Schüler, Rudolf Leonhard, Alfred Liechtenstein, Oskar Loerke, Ernst Wilhelm Lotz, Paul Mayer, Karl Otten, Max Pulver, E.
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Trotz des verheißenden Titels versteht Kayser die Sammlung weder als ein Programm noch als Manifest einer neuen ‚Glückseligkeit‘. Es gehe nicht mehr um ‚Aufbruch‘, zudem hatte er bereits 1920 in einem Beitrag für den Neuen Merkur das Ende des Expressionismus ob seiner Formlosigkeit und geistigen Orientierungslosigkeit verkündet.87 Kayser möchte mit der Lyrikanthologie „die Zeit in ihrem ernsthaften Sprecher“, d. h. dem Dichter, verkünden. Diese Zeit befinde sich im ‚Untergang‘: „Sie ist der Ausklang einer (sehr fruchtbaren und schöpferischen) Kultur, die mit der Renaissance begann.“ 88 Die Zeit, die ‚verkündigt‘ wird, sei eine am Ende stehende; ein Neuanfang sei nicht absehbar. Aus dieser apokalyptischen Perspektive erscheint die Gegenwart als tragisch. 89 Indem Kayser als Einheitspunkt aller abgedruckten Gedichte das Fehlen von ‚Optimismus‘ ausmacht, betont er das Pathetische der lyrischen Sprache besonders stark. Seine Stellung als Literaturhistoriker artikuliert sich darin, dass er über den geschichtlichen Rang der Gedichte urteilen kann. Diese seien genauso „problematisch und zerklüftet“90 wie die Zeit, die sie hervorgebracht hat. Auch gattungsästhetisch wird argumentiert: „Lyrik ist direkte Dichtung: ohne die psychologisch-zeitlichen Symbole des Romans, ohne die räumlichen des Dramas.“ 91 Für Kayser, und damit ist er auf der Höhe der Zeit, ist Lyrik authentischer Ausdruck des Selbst und zugleich von hoher Durchschlagskraft (‚Intensität‘). Sein emphatisches Verständnis stützt der Romantikexperte mit den Autoritäten Friedrich Schlegel und Novalis. 92 Die Lyrikanthologie rechtfertigt Kayser zudem mit der Zeitgemäßheit der Gattung, da Lyrik die Gattung seiner Epoche sei, nicht Epik, nicht Dramatik: „Es ist deshalb kein Zufall, daß dies Lyrik-Buch unsere Zeit zu repräsentieren wagt, da deren Gehalt ja wesentlich lyrisch ist.“93 Schließlich deutet Kayser die eingangs formulierte Ungewissheit, die sich aus der Endzeitstimmung ergibt, positiv als ‚Suche‘ und deckt an der Lyrik eine religiöse Dimension auf. Den Gedanken, dass die Dichtung den _____________
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A. Rheinhardt, Eugen Roth, René Schickele, Oskar Schürer, Ernst Stadler, Claire Studer, Ernst Toller, Georg Trakl, Johannes Urzidil, Alfred Vagts, Carl Maria Weber, Ernst Weiss, Franz Werfel, Alfred Wolfenstein, Paul Zech. Vgl. Rudolf Kayser, Das Ende des Expressionismus, in: Der Neue Merkur IV (1920), Nr. 4, S. 251–258. Kayser, Prolog, in Kayser (Hg.), Verkündigung, S. V. Ebd. Ebd., S. VI. Ebd. Kayser wurde nicht nur über Arnim und Brentano promoviert. Im Jahr 1918 gab er Arnims Novellen heraus, mit einem Nachwort versehen: Novellen, München 1918 (= Kleine Roland-Bücher, 9). Kayser, Prolog, in: Kayser (Hg.), Verkündigung, S. VII.
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fehlenden Mythos wiederherstelle, formuliert Kayser in seiner Schrift Die Zeit ohne Mythos, worin er romantische Ideen aufgreift. Darin wird die Entmythisierung der Gegenwart gerade damit erklärt, dass sie sich zu viel selbst beobachte und reflektiere: „Die Krisis begann in dem Augenblick, als wir uns beobachtend unserer Zeit gegenüber stellten, unser Wesen und seine Gefahren zu benennen anfingen, unser Schicksal, wie es sich täglich erfüllt hatte, zum Gegenstand der Analyse machten.“ 94 Da die Kritik der Gegenwartsdichtung ebenfalls eine reflexive Praxis darstellt, könnte man Kayser vorhalten, dass seine kritisch-editorische Arbeit die Krisis der Gegenwart herstelle, die er ‚verkündigt‘. Im zweiten Abschnitt des ‚Prologs‘ ordnet Kayser die jüngste Lyrik in die ‚deutsche Geistesgeschichte‘ ein und unterscheidet sie von der Vorgängerepoche, die mit den Namen Rilke, George und Hofmannsthal assoziiert wird: „Sie einigt das Erlebnis der Form, die restlose Sprachwerdung seelischen Gehalts.“95 Die ‚jüngste Lyrik‘ dagegen, getragen von ‚moralischem Pathos und visionärem Sturm‘, wolle heraus „aus den Zwängen der Form und der Materie“ 96 und zugleich gelte es (wie seit „Gottscheds Auftreten“), „alte Formvorstellungen zu zertrümmern: diesmal die der l’art pour l’art Epoche.“ 97 Um die Einzigartigkeit, von der Kaysers Anthologie ihre Faszinationskraft beziehen soll, zu gewährleisten, grenzt er die versammelten Autoren gleichfalls vom Expressionismus ab. Die Epochenbezeichnung sei ‚nichtsnutzig‘, weil sie eine Programmatik suggeriere, die es nicht gebe. Programm und Formidee werden zusammengedacht: „Im letzten Grunde gewannen wir ja keine neue Formidee, sondern im Zertrümmern der alten morsch gewordenen nur die menschlich-religiösen Voraussetzungen zurück, die das Zivilisations-Jahrhundert uns geraubt hatte.“ 98 Der dritte Abschnitt setzt die literaturgeschichtliche Einordnung fort. Indem die Epoche als bereits abgeschlossen gedacht wird, kann Kayser sie mit Vorgängerepochen analogisieren: „Vielleicht ist deshalb der Augenblick nicht fern, wo auch dies Buch als Dokument einer abgeschlossenen Epoche gelten kann, wo sein Sturm und Drang aufgegangen ist in einer neuen Klassik der Form und des Wissens.“ 99 _____________ 94 95 96 97 98 99
Rudolf Kayser, Die Zeit ohne Mythos, Berlin 1923, S. 19. – Dieses Zitat bereits 1921 in: Ders., Die Kultur in dieser Zeit, in: Die Neue Rundschau 32 (1921), S. 188–196, hier S. 193. Kayser, Prolog, in: Kayser (Hg.), Verkündigung, S. VII. Ebd., S. VIII. Ebd. Ebd., S. IX. Ebd., S. XI.
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Kayser, als ein in gleicher Weise wie Pinthus und Jacobs germanistisch vorgebildeter Herausgeber, richtet sich an ein germanistisch gebildetes Publikum. Als Romantik-Spezialist greift der Kritiker auf literaturgeschichtliche Ordnungskategorien zurück, um sein Editionsprojekt vor dem literarischen Bildungshorizont einer Zeit zu rechtfertigen, die von einem Krisenbewusstsein geprägt war. Dabei konnte Kayser, um Verständnis für die Gegenwartsepoche zu schaffen, auf das Paradigma der Geistesgeschichte setzen, das der disziplinäre Diskurs anbot. 1.3. Kasimir Edschmids Selbstepochalisierung Neben die Methodenentwicklung des Faches berücksichtigenden editorischen Unternehmungen wie derjenigen Kaysers gibt es auch eine dezidiert antidisziplinäre Praxis mit dem romantisch inspirierten Ziel, Wissenschaft, Kunst und Publizistik wieder zu vereinen, wofür im Untersuchungszeitraum insbesondere Kasimir Edschmid einstand. Als Herausgeber und Verfasser programmatischer Schriften entwarf Edschmid eine Konzeption von Gegenwartsliteratur, die sich einer Historisierung und begrifflichen Erfassung und damit der disziplinären Verortung entziehen sollte. Dieses Projekt wurde in der Reihe Tribüne und Kunst der Zeit umgesetzt. In die Werkpolitik, die seine eigene Prosa propagieren sollte, spannte er vor allem Max Krell (1887–1967) ein, dessen Tätigkeit hier exkursartig beschrieben wird und für Edschmids Wirken aufschlussreich ist. Krell hatte bei Viktor Michels in Jena Literaturgeschichte studiert100 und über Jean Paul und Georg Büchner publiziert. Mit der expressionistischen Gegenwartsprosa bot sich ihm ein Gegenstand, der nicht nur nicht von disziplinären Diskursregeln geordnet und von Deutungen wissenschaftlicher Autoritäten besetzt war, sondern der noch gar nicht existierte: ein ideales Betätigungsfeld also für einen literaturkritisch interessierten Autor. In Krells literarischer Produktion gehen Reflexion, Edition und Produktion Hand in Hand, keiner der Bereiche ist privilegiert. Im Jahre 1919 erschien in der von Kasimir Edschmid herausgegebenen Reihe Tribüne und Kunst der Zeit (Nr. 7) der Essay Über neue Prosa; die in der Entfaltung (1921) versammelten Texte sind teilweise aus dem Manuskript ediert, weshalb man von einer originellen philologischen Leistung sprechen kann; zwei Jahre später veröffentlichte Krell den Band kritischer Studien Das deutsche Drama der Gegenwart (1923), der Beiträge zur Bühnen- und Inszenierungspraxis, zur Theatertechnik und zum neueren Drama von den unterschied_____________ 100 Vgl. Max Krell, Das alles gab es einmal, Frankfurt a. M. 1961, S. 11.
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lichsten Autoren versammelt und für die Entstehung der sich gerade institutionalisierenden Theaterforschung von Wichtigkeit ist. Krell ist Verfasser eigener fiktionaler Prosa und arbeitete zugleich als Lektor im UllsteinVerlag, u. a. für Erich Maria Remarques Roman Im Westen nichts Neues. 101 Der kurz vor der Prosa-Sammlung Entfaltung veröffentlichte Essay Über neue Prosa steht im bewussten Widerspruch zur Praxis historischer Kritik. Krell begründet dies aus dem Gegenstand selbst, der aufgrund seiner metaphysischen Tendenz jenseits von Zeit und Raum stehe: Es kann andere kritische Einstellungen hierzu geben, die zu vernichtenden Resultaten kommen. Aber nur, wenn das Mitempfinden ausgeschaltet wird. Wenn der Kritiker sich auf einen Objektivismus zurückzieht, der gemäß den Gesetzen historischer Kritik richtet. 102
Die historisch-objektive Kritik helfe nicht weiter, weil der Gegenstand subjektivistisch-unhistorisch und zugleich von universaler Bedeutung sei. Expressionismus – verstanden nicht als ‚Programm‘, vielmehr nur als „sondernde Einstellung“ 103, als „Sammelwort eines Gefühls- und Anschauungskomplexes“104 – artikuliere sich in Situationen der Not: „Schon das Wort hat den Atem der Not.“105 In ‚Not‘ stehe die Kunst als Nachahmung der Wirklichkeit bzw. Gestaltung der eigenen Zeit (Mimesis), herbeigeführt durch soziale und ökonomische Veränderungen, die durch den Krieg beschleunigt wurden: „Wie aber die Zeit sich verwirrt und in krausen Netzen verfängt, so zertrümmert sie auch den stillen Spiegel der Künste.“106 Im Unterschied zu anderen ‚ästhetischen Nöten‘ sei sich die Erscheinung des Expressionismus ihrer selbst bewusst: „Ihre Zeit nur kam als eine, die sie voll erkannte.“ 107 Folge von Krells Verzicht, die Gegenwartsliteratur als historisches Phänomen zu erörtern, ist eine Sprache, die sich ihrem Gegenstand identifikatorisch anpasst. Das ‚expressive Moment‘ charakterisiert Krell im Bild: „Alles will aus der Seele steigen. Kein Ufer liegt zu hoch. Es gibt nirgends kleine Bedenken. Es gibt Ansturm, Aufsturm.“ 108 Das Ineinander von Zeitkrise und Kunstkrise (als mimetische Krise) mache aber den Weg frei für eine metaphysische Kunst: „Kunst_____________ 101 Vgl. Ute Schneider, Der unsichtbare Zweite. Die Berufsgeschichte des Lektors im literarischen Verlag, Göttingen 2005, S. 130f. – Krells Prosa-Dichtung Maringotte. Eine Erzählung erschien 1920. 102 Max Krell, Über neue Prosa, Berlin 1919 (= Tribüne und Kunst der Zeit, 7), S. 79. 103 Ebd., S. 7. 104 Ebd., S. 11. 105 Ebd., S. 8. 106 Ebd., S. 9. 107 Ebd., S. 10. 108 Ebd.
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werk ist sichtbarer Ausdruck der metaphysischen Gestalten“ 109. Die Prosa wird als ein Sammelbecken jener heterogenen Elemente aufgefasst, die aus der Zeitkrisis hervorgingen.110 Die einzelnen Autoren werden hinsichtlich syntaktischer Mittel wie Reihungsstil und der bildlichen Hyperbolik nachahmend angepriesen, Krells bildlich spielerische Ausdrucksweise wird vom außerdisziplinären Kontext befeuert. Was es bedeutet, wenn der Expressionismus nach einer Kritik verlangt, die sich mit dem Gegenstand formal identifiziert, anstatt sich von ihm zu distanzieren, demonstriert besonders eindrücklich der Abschnitt zu Edschmid, dem Herausgeber der Reihe Tribüne und Kunst der Zeit. Krell will nicht auf den Begriff bringen, was ohnehin nicht fixierbar sei. Seine Edschmid-Kritik diskursiviert stattdessen den programmatischen Anspruch, wird zum Sprachrohr von Edschmids angeblicher Intention, allen ‚Winden das Gesicht zuzukehren‘. Edschmids Prosa habe „am stärksten die Symptome dieser neuen Kunst gesammelt“ 111; Krell, in der Manier Herders im Journal meiner Reise im Jahr 1769, vergleicht sie mit der ‚Dämme zerbrechenden Gewalt quellender Ströme‘, die gleichfalls Symbol der Jugend sind; der ‚ungehemmte Eigenwille‘ wird gefeiert, die Synthese von ‚Gedanke, Bild, Gebärde und Ton‘ markiert und das antikonventionelle Moment betont. 112 Damit verbunden sei stilistisch die Herauslösung des Wortes, das eine neue Intensität erhalte und die neue Tendenz zu einer Konzentration auf das Wesentliche anzeige: „Vom überlieferten zärtlichen Gebäude der Sätze schmolz die Verzerrung ab. Stehen blieb die Mauer, leuchtend aus innerem Licht; der Charakter unzweideutig scharf geschnitten. […] Seele lag entblößt.“ 113 Die unwissenschaftliche, d. h. nicht auf Distanz zum Gegenstand gehende Kritik ist für Krell die einzig angemessene Form, um Edschmids Prosa zu erfassen. Damit ist sie eine Rede im epideiktischen Genus: Sie zeigt, um zu loben, auf das große Ereignis, das unmöglich in seiner Bedeutung bezweifelt werden könne und affirmiert es. Die ‚Unmittelbarkeit‘ dieser ‚Dichtung‘, d. h. die fehlende Notwendigkeit zur Vermittlung, wird unterstrichen, indem Krell den Leser direkt anspricht: „Du bist vor ein Massiv gestellt.“114 Schließlich nimmt der Hinweis auf das Moment der ‚Vision‘ den letzten Zweifel über Edschmids Inthronisation als poeta vates: „Die Vision – _____________ 109 110 111 112 113 114
Ebd., S. 16f. Ebd., S. 18. Ebd., S. 19. Vgl. ebd., S. 19–21. Ebd., S. 22. Ebd., S. 23.
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und nur die Vision.“ 115 Die Vision, welche eben die sichtbare Welt nicht mehr höher bewerte, ziele auf „Verkündigung“116, die jedoch an sich und nicht mehr auf ein konkretes Anliegen hin erfolge. Der Versuch, den Autor als den Vertreter des Expressionismus schlechthin zu kanonisieren, gelingt über den Rekurs auf Edschmids eigene programmatische Ausführungen, die 1919 in derselben Reihe Tribüne und Kunst der Zeit erschienen waren: „Edschmid ist verstrickt in die expressionistische Bewegung.“ 117 Auch die essayistische Vorstellung der anderen Autoren wie Döblin, Heinrich Mann, René Schickele oder Carl Sternheim kommt gänzlich ohne Belegstellen aus und wird getragen von der Emphase des Visionären, das der neuen Prosa innewohne. Krell betont, dass der Expressionismus keine gewöhnliche Epoche mehr sei, sondern „daß vielmehr ihre Existenz kometenhaft aus ferner Dunkelheit in großgeschwungener Ellipse unser Sehfeld erreicht, Spur und Eindruck hinterläßt, ehe sie aufgeht ins Allgemeine.“ 118 Der permanenten „Revolutionierung des Geistes“ 119 entspreche, besonders bei Schickele, das Streben nach den letzten Dingen, nach Totalität, es gehe darum, „die Mauern vor Gott einzureißen“ 120. Krells Kritik, die einen bestimmten literarästhetischen Anspruch illustrativ imaginiert, funktioniert, solange ein Publikum vorhanden ist, das des visionären Dichters bedarf bzw. unbedingt den ‚Kometen‘ beim Vorbeiziehen beobachten will. Auf beides spekuliert seine Sammlung unter dem Titel Entfaltung. Ausgangspunkt von Krells Erörterung der Gegenwartsprosa, die sich in den vergangenen fünf Jahren völlig gewandelt habe, ist ein germanistischer. Krell bedient sich als Einstieg einer beliebten Metapher des historisch-philologischen Diskurses: das zu beackernde Forschungsfeld. Er stellt für die Zeit nach dem Ersten Weltkrieg fest, „daß das weitere literarische Gelände ein so völlig umgeschütteltes, von tiefschürfenden Pflügen zergrabenes ist.“121 Krells Anthologie erschien fast drei Jahrzehnte nach Cäsar Flaischlens Anthologie Neuland. Ein Sammelbuch moderner Prosadichtung (1894), deren Programmatik ebenfalls von der Ackermetaphorik und von dem Gedankengut der entstehenden Heimatkunstbewegung beeinflusst _____________ 115 Ebd., S. 25. – Vgl. dagegen den Einspruch von Carlo Mierendorff, Wortkunst / Von der Novelle zum Roman [1920], in: Pörtner (Hg.), Literatur-Revolution, Bd. 1, S. 307–313, hier S. 308. 116 Krell, Über neue Prosa, S. 26. 117 Ebd., S. 24. 118 Ebd., S. 44. 119 Ebd., S. 64. 120 Ebd., S. 65. 121 Max Krell, Vorwort, in: Ders. (Hg.), Die Entfaltung. Novellen an die Zeit, Berlin 1921, S. V–XIII, hier S. V.
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ist. ‚Neuland‘ wurde definiert als aus „Umrodung von Wald-, Heide- oder Ackerboden gewonnenes Ackerland.“ 122 Krell akzentuiert anders als Flaischlen das Destruktive des Neuen, nicht mehr das Konstruktive: Was mit beliebter Systematisierung der Literaturhistoriker als Grundformen der Dichtung bezeichnet – diese gewisse Struktur des künstlerischen Ausdrucks, die Gesetzmäßigkeit dramatischen oder epischen Aufbaus, die paragraphierte Gebundenheit des Essays, schließlich die strenge Stilisierung des lyrischen Gedichts –: das ist zerbrochen. 123
Krell beobachtet für „den Bereich auch der wissenschaftlichen Darstellung“ 124 das Eindringen jener neuen Sprache, die „mit eigenwilliger Neuschöpfung die urbildhaften Standartbegriffe“ 125 zerfetzt habe. Ein sprachhistorischer Exkurs erklärt den sprachlichen Umbruch in Wissenschaft und Poesie aus der besonderen dynamischen Eigenart der deutschen Sprache, die anders als die französische Sprache nicht von ‚akademischer Fertigkeit‘ sei: „Sie lebt, vibriert stündlich, bildet täglich neue Formen, schleift sich ab, kristallisiert abermals andere Art.“ 126 Die ‚Wandlung‘ der poetischen Sprache gehe auf die „Wandlungsfähigkeit unseres Idioms“127 zurück. Luther, Goethe und Nietzsche fungieren als die topischen Spracherneuerer. An diese Traditionen knüpft implizit die versammelte Reihe von Autoren an, mit denen Krell teilweise in Korrespondenz getreten war. 128 Unter noch nicht edierten Texten versteht Krell auch solche, die schon in Zeitschriften erschienen waren.129 Im Anhang findet _____________ 122 Vgl. Cäsar Flaischlen, Neuland, in: Ders. (Hg.), Neuland. Ein Sammelbuch moderner Prosadichtung, Berlin 1894, S. VII–XI, hier S. VII. – Beide Beispiele stehen damit in einer auf Luther zurückreichenden Tradition vom ‚Feld der Sprache‘, die den antiken Vergleich von Ackerbau und Kulturation aufgreift. Im Sendbrief vom Dolmetschen (1530) hatte sich Luther gegen seine Kritiker damit verteidigt, dass er erst den deutschen Sprachacker urbar gemacht habe: „Es ist gut pflügen, wenn der Acker gereinigt ist. Aber den Wald und die Stubben ausroden und den Acker zurichten, da will niemand heran“ (Martin Luther, Sendbrief vom Dolmetschen, in: Hans Joachim Störig [Hg.], Das Problem des Übersetzens, Darmstadt 1963 [= Wege der Forschung, 8], S. 14–32, hier S. 20). 123 Krell, Vorwort, in: Krell (Hg.), Die Entfaltung, S. VI. 124 Ebd. 125 Ebd. 126 Ebd. 127 Ebd. 128 Ein Teil der Korrespondenz liegt im DLA Marbach. 129 Die Autoren und Texte: Paul Adler (Elohim), Gottfried Benn (Querschnitt [Manuskript]), Max Brod (Notwehr [Manuskript]), Martin Buber (Der Psalmensager), Theodor Däubler (Paris), Alfred Döblin (Der Kaplan), Kasimir Edschmid (Der Kaplan [Manuskript]), Albert Ehrenstein (Das Martyrium Homers), Leonhard Frank (Die Kriegswitwe), Franz Jung (Achab [Manuskript]), Franz Kafka (Der Brudermord), Annette Kolb (Briefe einer Deutsch-Französin, 4), Else Lasker-Schüler (Wenn mein Herz Gesund wäre), Wilhelm Lehmann (Urahne [Manuskript]), Heinrich Mann (Der Sohn), Ludwig Meidner (Winter Anno 17), Gustav Sack (Der Rubin), René Schickele (Das Hotel), Albert Steffen (Tod eines Politikers [Manuskript]), Carl
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sich zudem eine umfangreiche Bibliographie, die als erste Bestandsaufnahme der Gegenwartsliteratur um 1920 bedeutsam ist. Die in der Sammlung vereinigten Texte zeugen von der neuen Tendenz in der Prosa nach synthetischer, nicht mehr analytisch-zergliedernder Welterschließung „durch die verdichtenden Kräfte des Dichters.“ 130 Der neue Begriff der ‚Dichtung‘ suggeriert eine Analogie von ‚Dichte‘ und ‚Dichtung‘, und so schließt das Vorwort mit der Frage, welche Gattung für diese synthetisch-verdichtende Prosa ‚angemessen‘ sei. Es entspricht dem gesamten Ansatz des Vorworts, das wissenschaftliche Elemente und poetisch-bildliche Sprache zusammenführt, wenn Krell, der selbst Essayist war, den Essay als eine dem Neuen angemessene Prosaform vorschlägt.131 Krells Edition reflektiert die anthologische Konsequenz, dass die Gegenwartsdichtung in der kritisch-editorischen Distanz historisiert wird, und versucht diesen Widerspruch aufzulösen, indem der Gegenstand als terminologisch unfassbar ausgewiesen wird. Mittels der Fiktion einer Dichtung, die sich jeder wissenschaftlichen Kritik entzieht, gewinnen die versammelten ‚Novellen‘ innerhalb der wissenschaftlich-akademisch dominierten Literaturepoche an Widerständigkeit und damit, paradoxerweise, an literaturgeschichtlicher Geltung. Dasselbe Muster kehrt in Edschmids eigener Argumentation wieder. Der Sohn eines Gymnasialprofessors in Darmstadt, der bürgerlich Eduard Schmid hieß, hatte vorwiegend Romanistik in München, Genf, Gießen und an der Sorbonne bei Henri Lichtenberger studiert,132 sein Studium beendete er nicht mit der Promotion, sondern mit dem höheren Staatsexamen in Gießen im Jahre 1914. Neben Franz Jung zählt Edschmid zu den wichtigen Vertretern der sogenannten expressionistischen Prosa. Im Unterschied zu Jung hat Edschmid das Deutungsparadigma für seine eigene Prosa, ‚werkpolitisch‘ gedacht, gleich mitgeliefert. Für die Konstituierung des Expressionismus als literaturgeschichtliche Epoche bedeutsam ist seine Schrift Über den Expressionismus in der Literatur und die neue Dichtung, die die von ihm im Erich Reiß Verlag herausgegebene, bereits erwähnte Reihe Tribüne und Kunst der Zeit 1919 eröffnete. 133
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Sternheim (Vanderbilt), Ernst Weiss (Die Verdorrten [Manuskript]), Franz Werfel (Der Dschin [Manuskript]). Krell, Vorwort, in: Krell (Hg.), Die Entfaltung, S. XIII. Vgl. ebd. Vgl. Kasimir Edschmid, Paris, in: Halperin (Hg.), Als das Jahrhundert jung war, S. 29, und Ders., Lebendiger Expressionismus. Auseinandersetzungen, Gestalten, Erinnerungen. Mit 31 Dichterportraits von Künstlern der Zeit, Wien/München/Basel 1961, S. 78. Die 29 Bände liegen als Reprint vor (Nendeln 1973).
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Die ‚Schriftensammlung‘ verstand sich weder als programmatisch noch als historisch: „nicht rückwärts zu referieren“134 war das Ziel. Als Autoren kommen für Edschmid „Künstler mit ihrer Konfession, Gelehrte, die Sachliches dichterisch zu sagen wissen, Essayisten, die nicht spielerisch ‚zerfasern‘, sondern produktiv im eigentlichen Sinn der Kritik aufbauen“ 135, in Frage. Damit schafft er ein neues synthetisches Medium, das potentiell die gelehrte, die künstlerische und die publizistische Autorschaft miteinander vereint, was wiederum nur als Aufgabe formuliert werden konnte vor dem realen Hintergrund der Trennung in die Bereiche Kunst, wissenschaftliche Disziplin und Journalistik. Bis 1923 folgten in dieser Reihe 29 Hefte, u. a. Wilhelm Hausensteins Über den Expressionismus in der Malerei (Nr. 2), Theodor Däublers Im Kampf um die moderne Kunst (Nr. 3), Krells oben diskutierter Essay Über neue Prosa (Nr. 7), Gottfried Benns Essay Das moderne Ich (Nr. 12) oder Kurt Hillers Geist werde Herr (Nr. 16/17). Vorangestellt ist Edschmids ‚Darstellung‘ ein Motto Hölderlins, das eine Verwandtschaft der zu beschreibenden ästhetischen Gegenwartsrichtung mit derjenigen Hölderlins suggeriert. Edschmids eigener Reihenbeitrag versammelt die beiden auf Reden zurückgehenden ‚Versuche‘ Über die dichterische deutsche Jugend (S. 11–38) und Über den dichterischen Expressionismus (S. 39–78). Am Beginn der Darstellung über den Expressionismus bemüht sich Edschmid, den Widerspruch aufzulösen, als Teilhaber der Bewegung Distanz zu ihr einzunehmen. „Es muß der Mut da sein, größer als jener, der bejaht, sich selbst zu schänden, zu bluffen, geformtem Ding den Schädel einzuschlagen, voll der Neugier, ob Bleibendes sich weise. Nur Wille, sich selbst zu mißtrauen, macht die Sehnsucht frisch, das Positive rund.“ 136 Edschmid dramatisiert die Distanznahme zu seinem Gegenstand: „Nur so verschwindet das gorgonische Haupt der Bewegung, das die Zeit umspielt, und wir greifen ihr ins Herz. Mit einem einzigen Griff. Sein Ausschlag, seine Zuckung weist in Vergangenes, weist in das Kommende.“ 137 So poetisch und unbegrifflich hier vorgegangen wird – handelt es sich hierbei doch um eine topische methodologische Standortbestimmung, wie sie für wissenschaftliche Aufsätze nicht untypisch ist. Das von Edschmid geschaffene Medium ist zum einen Sprachrohr neuer ästhetischer Tendenzen, zugleich integriert es diese in die Literaturgeschichte („ins Vergangene“), indem die neue ästhetische Bewegung als Epoche, als Expressionismus eben, verstanden und so von anderen Epochen abgrenzbar _____________ 134 Kasimir Edschmid, Über den Expressionismus in der Literatur und die neue Dichtung, Berlin 41919, unpaginiert am Ende. 135 Ebd. 136 Ebd., S. 41. 137 Ebd.
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II. Praxis und Theorie am disziplinären Rand um 1920
wird. Zwar bedeute Historie „auch hier nur die äußere Leitung“ 138; um sein Anliegen verständlich zu machen, muss Edschmid aber mit der Romantik beginnen. Die Darstellung des epigonalen neunzehnten Jahrhunderts, des Naturalismus, des Ästhetizismus sowie des Impressionismus139 versammelt – in einer gesucht kämpferisch bildlichen Sprache – die üblichen Topoi, die seinerzeit in den Literaturgeschichten für die Zeit nach der Romantik kursierten. Dem Impressionismus, den kunstgeschichtlich Richard Hamann bereits 1907 als Epoche gedeutet hatte, 140 wird die Fähigkeit zur Totalitätserfahrung abgesprochen. 141 Der Naturalismus hingegen habe nur eine katalysatorische Funktion für das eigentlich Neue besessen: „Der Naturalismus war eine Schlacht, die wenig Sinn für sich hat, aber er gab Besinnung.“ 142 Besonders wichtig ist es für Edschmid, den Expressionismus als Negation des Impressionismus zu bewerten. 143 Wie der Literaturhistoriker auch – Edschmid mag noch so sehr darauf insistieren, dass die historische Einbindung nur ‚äußerlich‘ sei – bindet er seine Darstellung an den literaturgeschichtlichen Gang, wie er von der Literaturgeschichtsschreibung entworfen worden war. 144 Edschmid verkennt, dass der Expressionismus, einmal auf die Poesie übertragen, als Epochenkonstrukt per definitionem literaturgeschichtlich anschlussfähig ist. Wer ihn benutzt, redet unweigerlich von Literaturgeschichte. Edschmid sucht „das Neue und Unerhörte gegen die Epochen vorher.“ 145 Aber bevor er diese Epochen negiert, muss er sie als literaturgeschichtliche Kategorien, in denen auch die Germanistik denkt, bejahen. Für die Schaffung des neuen Weltbildes, dessen Exponent er selbst ist, werden die vorausgehenden Epochen als vorläufig deklariert. 146 Ganz gleich, ob nun der Expressionismus in seiner antimimetischen, ethischen und idealistischen Tendenz neu ist, allein die Reflexion der Neuheit ist Indiz für ein Epochenbewusstsein. Die historische Abgrenzung wird nötig, um das Neue überhaupt erst in seiner revolutionären Gewalt zu sehen. Der Satz, die Menschheit wisse noch nicht, „daß die _____________ 138 139 140 141 142 143 144
Ebd., S. 43. Ebd., S. 43–49. Richard Hamann, Der Impressionismus in Leben und Kunst, Köln 1907. Edschmid, Über den Expressionismus in der Literatur, S. 48. Ebd., S. 44. Ebd., S. 50. Dieses Paradox ist für andere Periodisierungsversuche durch dezidiert expressionistische Kritiker, wie z. B. Paul Hatvani im Versuch über den Expressionismus (1917), typisch, vgl. Haefs, „Der Expressionismus ist tot … Es lebe der Expressionismus“, in: Amman/Wallas (Hg.), Expressionismus in Österreich, S. 471. 145 Edschmid, Über den Expressionismus in der Literatur, S. 57. 146 Vgl. ebd., S. 53.
1. Expressionistische Gegenwartsphilologien
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Kunst nur eine Etappe ist zu Gott“147, bezeugt die Dramatik. Edschmid geht von der Blindheit der vorausgehenden Epochen hinsichtlich der kunstreligiösen Erkenntnis aus. Das Neue ist mit bisherigen mystischen Traditionsfäden nicht verknüpfbar: Nicht „bei Notker, bei Otto dem Dritten, nicht bei Eckehard, Chrestien von Troye oder den Zaubersprüchen“ 148 sei Verwandtschaft zu suchen. Der universale Anspruch der neuen ethisch-religiösen Kunstrichtung kennt gerade nicht die Grenzen der nationalen Literaturgeschichte und ihre Konstruktionen; und doch kann sich Edschmid nicht anders als über sie verständlich machen, um in einem nächsten Argumentationsschritt zu sagen, dass der Expressionismus in seiner Universalität unmöglich neu sein könne, 149 sondern schon immer anzutreffen gewesen sei. Der Anachronismus ist nur die Folge eines geschulten historischen Bewusstseins. Expressionismus sei „Stil der Gesamtheit: Assyrer, Perser, Griechen, die Gotik, Ägypter, die Primitiven, altdeutsche Maler hatten ihn.“ 150 Edschmid präzisiert: Am Anfang die Schöpfung, die großen Kreise der Mythen, die Sagen, die Edda. Bei Hamsun, bei Baalschem, bei Hölderlin, Novalis, Dante, bei den Utas, im Sanskrit, bei De Coster, bei Gogol, bei Flaubert, bei der Mystik des Mittelalters, in den Briefen van Goghs, in Achim von Arnim. Bei dem Flamen Demolder, bei Goethe, manchmal bei Heinse. Im serbischen Volkslied, bei Rabelais, bei Georg Büchner, bei Bocacce. 151
In Edschmids Ausführungen über den Expressionismus als Mode, die den Verlust von Authentizität meint, wird auch deutlich, wie stark sich diese Epoche gegen den Verdacht zu erwehren suchte, selbst nur eine Epoche zu sein, die literatur- und stilgeschichtlich beschreibbar ist. „Da die Bewegung durchgesetzt ist, beginnt ihre nachträgliche Theorie produktiv zu werden. Sie wird Schule, wird Akademie.“ 152 Nicht nur also, dass Edschmid die kritische Distanznahme zur Bewegung, deren Teil er selbst ist, mihilfe des literaturgeschichtlichen Paradigmas erklärt, sondern gleichfalls werden das Wesen dieser Epoche, ihre aterminologische Dynamik, ihre Verweigerung gegenüber Programmatik und Disziplin als Negation des Epochen- als Stilbegriffs deutlich. Dieser bildet die Negativfolie, auf der sich alle die Eigenschaften, die den Expressionismus nach Edschmid ausmachen, abzeichnen können. Denn der _____________ 147 148 149 150 151 152
Ebd., S. 67. Ebd., S. 69. Ebd., S. 70. Ebd., S. 71. Ebd., S. 74f. Ebd., S. 73.
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II. Praxis und Theorie am disziplinären Rand um 1920
Expressionismus ist keine Epoche und dennoch nur als solche beschreibbar, lautet das Paradox. Die Außergewöhnlichkeit von Edschmids kritischer Leistung zeigt sich darin, dass sie im Unterschied zu den Editionen und ihren Einführungen nicht aus dem Rückblick erfolgt. Das, was er beschreibt, wird tatsächlich noch als gegenwärtig wahrgenommen. Für die echt historische Einstellung der Kritik wäre das eine Unmöglichkeit. Denn der historisierende Blick beendet augenblicklich die Gegenwart, um sie, historisch gebrochen, wieder zu gewinnen. Edschmids rein präsentische Darstellung des Expressionismus hatte aber eine andere Funktion als die der Epochenhistorisierung. Er entwirft die sich jedem Fixierungsversuch entziehende Epoche, um seine eigene Prosa als epochales Ereignis entwerfen zu können. Die literaturkritische Geste der Selbstepochalisierung besitzt eine werkpolitische Spitze. 153
_____________ 153 Im Sinne von Martus, „In der Hölle soll sie braten“. Zur Literatur der Literaturwissenschaft, S. 10, der die Frage aufwirft, welche Formen von „(Selbst-)Epochalisierung und (Selbst-)Kanonisierung […] die Literatur der Literaturwissenschaft zur Verfügung“ stelle. – Der erste Germanist, der Edschmid bestätigte, war Oskar Walzel: In der zweiten Auflage seiner Geschichte der deutschen Dichtung seit Goethes Tod (1920, zuerst 1919) warf Walzel unter dem Titel Neue Erzählformen die Frage nach der Möglichkeit eines expressionistischen Romans mit dem Schluß auf, „daß der Roman zusammen mit der Eindruckskunst, der eine Dichtung in Romanform vor allem entsprach, zurücktreten und andern dichterischen Möglichkeiten Raum geben muß.“ (Oskar Walzel, Die deutsche Dichtung seit Goethes Tod, Berlin 21920, S. 408) Von der künftigen „Entwicklung der Form“ eines Kasimir Edschmid, den Walzel als den wichtigsten Vertreter der neuen Prosa nennt, werde es abhängen, „ob sich innerhalb des Expressionismus überhaupt ein Roman bilde, den der Formwille der Ausdruckskunst trägt.“ (Ebd.)
2. Dichtungstheorie in Relation zur Fachpoetik Wenn ein Zeitgenosse moniert, in Arno Holz’ Poetik Die Kunst. Ihr Wesen und ihre Gesetze (1891) sei der ‚wissenschaftliche Standpunkt‘ zweifelhaft und die ‚Methode‘ „von einer geradezu rührenden Kindlichkeit“ 1, dann lehnt er nicht bloß den Naturalismus, sondern dessen theoretischen Duktus ab: „eine ganz eigenartige Induktion“2. Schon die naturalistische Fragestellung erstaune ob ihrer Naivität: „[Jeder] Abc-schütze der Ästhetik weiß, daß die Natur ohne Hinzutun und Weglassen kopieren die bare Unmöglichkeit ist.“ 3 Der Germanist Gustav Roethe war in einem Brief vom 17. Januar 1891 an Edward Schröder noch drastischer im Urteil: „realistischer quatsch im stil der freien bühne. Das wäre ja ganz gut, wenn der mensch sich kurz faßte: aber das kann er ja nicht.“ 4 Die spätere Germanistik hingegen hat nicht nur Holz’ Schrift kanonisiert, indem sie sein ‚Kunstgesetz‘ in Lehrbuchwissen verwandelte, sondern über die Schwächen hinweggesehen, anstatt sie im Kontext der wissenschaftlichen Poetik zu untersuchen. 5 Nur wenige Jahre vor Erscheinen von Holz’ Poetik hatte der an germanistischen Fragen interessierte Philosoph Wilhelm Dilthey in Die Einbildungskraft des Dichters. Bausteine für eine Poetik (1887) die Bildung eines „neuen poetischen Zeitalters“6 angekündigt und geglaubt, man könne „das gesunde Verhältniss zwischen dem ästhetischen Denken und der Kunst“7 wiederherstellen. Dilthey berücksichtigte allerdings nicht die historische Besonderheit des Zustandes, in dem sich das literaturästhetische _____________ 1 2 3 4 5
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Karl Otto Erdmann, Alltägliches und Neues. Gesammelte Essays, Leipzig 21902, S. 265. Ebd. Theodor A. Meyer, Form und Formlosigkeit. Betrachtungen aus Anlaß von Fritz Strichs Buch Deutsche Klassik und Romantik, in: DVjs 3 (1925), S. 231–272, hier S. 243. Ruprecht/Stackmann, Regesten zum Briefwechsel zwischen Gustav Roethe und Edward Schröder, Nr. 755. Obgleich längst eine wissenschaftsgeschichtliche Kontextualisierung erfolgt ist: Hanno Möbius, Der Positivismus in der Literatur des Naturalismus. Wissenschaft, Kunst und soziale Frage bei Arno Holz, München 1980. Möbius wundert sich denn auch (ebd., S. 14) darüber, dass die Germanistik eine Schrift kanonisiert hat, die von den zeitgenössischen Mitstreitern abgelehnt oder ignoriert worden war. Dilthey, Die Einbildungskraft des Dichters, in: Fischer (Hg.), Philosophische Aufsätze, S. 306. Ebd., S. 307. Vgl. auch ebd., S. 308: „Sollen die mächtigen Triebe nicht verkümmern, welche Wahrhaftigkeit, Erfassung von Kraft hinter aller Form und daraus stammender Energie der Wirkung in unsrer Kunst hindrängen, dann muss das natürliche Verhältniss zwischen der Kunst, dem ästhetischen Raisonnement und einem debattirenden Publicum wieder hergestellt werden.“
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II. Praxis und Theorie am disziplinären Rand um 1920
Denken seiner Zeit befand: Jenes gesunde Verhältnis, das ein neues poetisches Zeitalter einleiten sollte und das noch von der klassischromantischen Epoche her bekannt war, hätte unmöglich restauriert werden können, weil das ästhetische Denken längst verwissenschaftlicht worden war und in einem Spannungsverhältnis, jedoch nicht mehr in einer „lebendigen Beziehung zur Kunstübung“8 stand. Die „Ausbildung eines festen Styls“ 9, wie er Dilthey vorschwebte, wurde in der Folgezeit denn auch nicht mehr möglich; das Gegenteil trat ein – die Vervielfältigung der Stile. 10 Statt eines ‚gesunden Verhältnisses‘ entwickelte sich eine bewusste gegenseitige Ausblendung: Dichter wie Arno Holz verhöhnten Literaturwissenschaftler, diese wiederum ignorierten jene als Dichtungstheoretiker. Mit der Trennung des poetologischen Diskurses in einen professionell wissenschaftlichen und einen dichterischen einher ging ebenfalls eine erkenntnistheoretische Aufwertung des Dichters. Das führte zu einer rhetorisch paradoxen Situation: Dem Dichter, vom wissenschaftlichen Diskurs in poeticis ausgeschlossen, wurde die Gabe zuerkannt, originäre Erkenntnis auszudrücken. Dilthey kann hier einmal mehr als Zeuge angeführt werden. Er rechtfertigte die Dichter von philosophischer Seite, indem er von einem poetischen Vermögen sprach: „So wurde der Poesie ein selbständiges Vermögen, Leben und Welt zu schauen, zuerkannt; sie wurde zu einem Organ des Weltverständnisses erhoben und trat neben Wissenschaft und Religion.“ 11 Sein Freund Scherer sah das ähnlich: „Ferner stammt die Poesie aus denselben Wurzeln wie die Wissenschaft, und deshalb muß sie natürlich wahr sein.“ 12 Das kommende Sendungsbewusstsein mancher Autoren wird diese am Ende des neunzehnten Jahrhunderts formulierte Auffassung bestätigen: „Die Kunstwerke haben es“, so Alfred Döblin, „mit der Wahrheit zu tun.“ 13 Franz Werfel verteidigt seine Notiz zu einer Poetik (1917), nachdem sie Georg Davidsohn (1872–1942) als Autosadismus _____________ 8 9 10 11
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Ebd., S. 310. Ebd., S. 309. Vgl. Rainer Rosenberg, Paradigmen des literarischen Stils, in: Ders., Verhandlungen des Literaturbegriffs. Studien zur Geschichte und Theorie der Literaturwissenschaft, Berlin 2003, S. 42–84, hier S. 55. Dilthey, Die Einbildungskraft des Dichters, in: Fischer (Hg.), Philosophische Aufsätze, S. 322. – Vgl. auch diese Passage (ebd., S. 477): „Da die Religion den Halt metaphysischer Schlüsse auf das Dasein Gottes und der Seele verloren hat, ist für eine grosse Anzahl gegenwärtiger Menschen nur noch in der Kunst und der Dichtung eine ideale Auffassung von der Bedeutung des Lebens vorhanden.“ Wilhelm Scherer, Poetik. Mit einer Einleitung und Materialien zur Rezeptionsanalyse, hg. v. Gunter Reiss, Tübingen 1977 (= Deutsche Texte, 44), S. 132, vgl. auch ebd., S. 139. Alfred Döblin, Der Bau des epischen Werks, in: Jahrbuch der Sektion für Dichtkunst (1929), S. 228–262, hier S. 234.
2. Dichtungstheorie in Relation zur Fachpoetik
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bezeichnet hatte, 14 der das poetische Tun in der Selbstreflexion vernichte, als „Erkenntnis“15 in Symbolen und Gleichnissen. Die prinzipielle Gleichrangigkeit zwischen wissenschaftlichem und poetischem Erkenntnisanspruch ließ zwei Diskursgemeinschaften entstehen, wobei sowohl die wissenschaftliche als auch die nicht-wissenschaftliche Seite überzeugt waren, besser über die Literatur und poetologische Fragen Bescheid zu wissen. Nicht selten negierten Nichtwissenschaftlicher alles Disziplinäre im Zeichen einer anderen, höheren, eben dichterischen Erkenntnis.16 Teilweise bewegte sich die nicht in disziplinären Bahnen laufende Rede freier, in vielen Fällen aber blieb sie, ob nun als Notiz oder größere poetologische Abhandlung, bezogen auf disziplinäre Zusammenhänge, die Ausgangs- oder Zielpunkt der poetologischen Rede werden konnten. Die Unmöglichkeit, eine universale und allgemein verbindliche Poetik zu entwerfen, hatte in Aufklärung und Romantik einen Freiraum poetologischer Reflexion eröffnet, der mit der Durchsetzung des modernen Wissenschaftsprinzips stark eingeengt wurde. Trotz Demokratisierung der poetologischen Reflexion besaßen in der Moderne wissenschaftlichdisziplinäre Beiträge zur Poetik und Poetologie keine geringe diskursive Geltungsmacht. Das um 1900 erreichte wissenschaftliche Niveau des poetologischen Denkens in den Disziplinen der Ästhetik, Kunstwissenschaft, Philosophie und Literaturwissenschaft 17 erschwerte es zudem Laien, eine theoretische Sprache zu entwickeln, die sich im disziplinären Diskurs hätte behaupten können. Nicht so sehr, ob die Wissenschaft der Dichtung diene oder umgekehrt, ist die entscheidende Frage, sondern inwiefern eine geschlossene ästhetische und poetologische Reflexion angesichts disziplinärer Konkurrenz überhaupt noch möglich ist.18 _____________ 14
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Georg Davidsohn, Brief an Franz Werfel, in: Die Aktion 7 (20.1.1917), Nr. 3/4, Sp. 37–41, hier 37f. Zuvor hieß es (Sp. 37): „So etwas erträgt man nur, wenn es vom UniversitätsKatheder aus dem Philologen-Katheder träufelt. Was Kuno Fischern, Erich Schmidten, Meyern mit den vielen Vornamen, Karl Werdern, Max (Dessoir oder Hermann) und Moritz (Hartmann) recht ist, das ist Franz Werfeln unbillig.“– Werfels Notiz war in der Nr. 1/2 erschienen. Franz Werfel, Brief an Georg Davidsohn, in: Die Aktion 7 (17.3.1917), Nr. 11/12, Sp. 152–154, hier Sp. 152. Vgl. z. B. Paul Hatvanis Überlegungen zur Spracherotik, die er 1912 im Sturm (Jg. 3, Nr. 136f.) veröffentlichte, vgl. Wilhelm Haefs, „Der Expressionismus ist tot … Es lebe der Expressionismus“. Paul Hatvani als Literaturkritiker und Literaturtheoretiker des Expressionismus, in: Klaus Amman/Armin A. Wallas (Hg.), Expressionismus in Österreich. Die Literatur und die Künste, Wien 1994 (= Literatur in der Geschichte. Geschichte in der Literatur, 30), S. 453–485, hier S. 462f. S. Rudolf Bosch, Die Problemstellung der Poetik. Eine historisch-kritische Untersuchung über die Methoden und Grenzen wissenschaftlicher Wertbestimmung, Berlin 1928. Burdorf, Poetik der Form, S. 299, sieht die Wissenschaft dagegen in einer dienenden Rolle.
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II. Praxis und Theorie am disziplinären Rand um 1920
Wenn Wilhelm Scherers Poetik mit der Dichtungstheorie des Naturalismus konvergiert, so zeigt dies zunächst nur, dass beide Bereiche zusammen gehören, weil sie auf dieselbe Fragestellung antworten, die von der materialistischen Naturwissenschaft aufgeworfen worden war. Bei aller Verwissenschaftlichung im Kontext der germanistischen Disziplin blieb auch die wissenschaftliche Poetik weiterhin auf die Poesie bezogen. Zwar erscheint dieser Umstand banal, aber die Verwissenschaftlichung der Poetik hat dazu geführt, sie als etwas Poesiefremdes anzusehen, das nur noch ein wissenschaftsgeschichtliches Interesse erregt. In der fünfbändigen Geschichte der deutschen Poetik (1937–1967), die als 13. Teil von Hermann Pauls Grundriß der germanischen Philologie erschien, sah sich Bruno Markwardt gezwungen, für die nachromantische Zeit in den Bänden vier und fünf ‚Exkurse zur fachwissenschaftlichen Poetik‘ einzuführen. Die Auslagerung der fachwissenschaftlichen Poetik in den Exkurs erklärt sich aus dem Gesamtkonzept der ‚Poetikgeschichte‘. Diese setzt sich zusammen aus einer Reihe großer Autoren, die meist auch Dichter waren. Idealtypisch gelingt dies für die Goethezeit. Bis zum neunzehnten Jahrhundert kann Markwardts Darstellung schlichtweg wegen des Fehlens einer germanistischen Disziplin auf die Fachwissenschaft verzichten. Ab dem neunzehnten Jahrhundert hatte sich neben die werkimmanente Poetik jene fachwissenschaftliche Poetik als Störfaktor gesellt: „Seit etwa der Mitte des 19. Jh.s. greifen künstlerische und wissenschaftliche Poetik in ständig verstärktem Grade ineinander über.“ 19 Anstatt aus dieser Beobachtung Folgen für die weitere historische Darstellung abzuleiten, wird die fachwissenschaftliche Poetik in den Exkurs verlegt. 20 Gleichwohl wissen jene ‚Exkurse‘ zur fachwissenschaftlichen Poetik zwischen 1850 und 1950 um deren Bezug zur Literaturgeschichte. Markwardt weist „auf Emil Utitz mit seiner Konzeption der ‚neuen Sachlichkeit‘“ 21 hin und kennt eine Reihe von Konstellationen: Wilhelm Scherer hat Schüler in Otto Brahm und Paul Schlenther, Erich Schmidt steht in auch kunsttheoretisch förderndem Briefwechsel mit Theodor Storm. W[ilhelm] Dilthey wirkt auf Fr[iedrich] Spielhagen, E[rnst] Elster auf G[ottfried]
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Bruno Markwardt, Geschichte der deutschen Poetik, Bd. 4, Berlin 1959 (= Grundriß der germanischen Philologie, 13.IV), S. 486. – Für eine zeitgemäße Darstellung der fachwissenschaftlichen Poetik s. Sandra Richter, A History of Poetics. German Scholary Aesthetics and Poetics in International Context, 1770–1960, Berlin/New York 2010. Als problematisch erweist sich dieses Vorgehen für die erste Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts, in der die ernst zu nehmenden Beiträge von Nichtwissenschaftlern seltener wurden. Man merkt es Markwardts Darstellung an, dass sie für die avantgardistische Moderne weniger auf theoretische Texte von Dichterkritikern zurückgreifen kann und sich dafür in allgemeine Formulierungen flüchtet, die für das Verständnis der poetischen und poetologischen Reflexion wenig brauchbar sind. Markwardt, Geschichte der deutschen Poetik, Bd. 4, S. 486.
2. Dichtungstheorie in Relation zur Fachpoetik
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Benn. […] Der Literaturhistoriker Friedrich Gundolf geht aus dem Kreis um Stefan George hervor. Conrad Wandreys Fontane-Deutung wird durchaus als künstlerische Dichtungsdeutung (selbst von Thomas Mann) empfunden. Thomas Mann bezieht sich auf den deutschen Romanisten Karl Vossler oder den französischen Germanisten Maurice Boucher. 22
Andere Konvergenzen ließen sich finden. So versteht sich nicht nur die Avantgardepoetik als Kritik der ästhetischen Kategorie der Anschaulichkeit, sondern auch Theodor A. Meyers Stilgesetz der Poesie (1901), wenngleich unter anderen Prämissen.23 Markwardt – selbst von der ‚Wortkunsttheorie‘ Arno Holz’ geprägt, die er auf die Barockpoetiken anwendet – sieht in Alois Riegls Konzept des ‚Kunstwollens‘ das verbindende Interesse zwischen Dichtern und fachwissenschaftlichen Kritikern. Er unterscheidet zwischen der Pose der Philologenschelte mancher Autoren24 – einer Pose, die man genauso gut als Indiz für die Intensität einer Beziehung nehmen kann – und dem ‚Respekt‘, den Dichter Germanisten zollten. Der Anlage der ‚Poetikgeschichte‘ geschuldet und weniger aus Platzgründen, verzichtet Markwardts Darstellung leider darauf, „die Wechselbeziehungen zwischen [fachwissenschaftlicher, A.N.] Poetik und Poesie“ 25 bzw. der nicht-wissenschaftlichen Reflexion zur Poetik und Poetologie, abzuhandeln. Die folgenden Unterkapitel verstehen sich als einen ersten Schritt in die von Markwardt gewiesene Richtung. 2.1. Parodistischer, polemischer, imitatorischer Bezug und poetologische Geste Die Bezugnahmen in den Poetiken von nicht-wissenschaftlichen Autoren in nicht-wissenschaftlichen Publikationsmedien auf die Fachpoetik betreffen neben den inhaltlichen Fragen auch den Standpunkt der jeweiligen Reflexion. Dieser Standpunkt ergibt sich aus einer fachwissenschaftlichen Relation, die parodistisch, polemisch oder imitatorisch aufgeladen sein kann. Der jeweilige Bezug besitzt den Charakter einer Geste, die es er_____________ 22 23
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Ebd. Zu diesem Komplex: Sandra Richter, Anschaulichkeit vs. Sprachlichkeit. ‚Ästhetische Paradigmen‘ um 1900, in: Oliver Huck/Sandra Richter/Christian Scholl (Hg.), Konzert und Konkurrenz. Die Künste und ihre Wissenschaften im 19. Jahrhundert, Göttingen 2010, S. 157–178, und Bernhard Klöckener, Theodor A. Meyers ‚Stilgesetz der Poesie’ und der ästhetische Diskurs der Jahrhundertwende, in: Poetica 29 (1997), H. 1–2, S. 270–305. Z. B. Otto Stoessl, Der Germanist, in: Die Fackel 10 (1908/09), Nr. 264/265, S. 33–37; Karl Kraus, Bevorstehende Razzia auf Professoren der Literaturgeschichte, in: Die Fackel 13 (1911/12), Nr. 321/322, S. 16–18. Markwardt, Geschichte der deutschen Poetik, Bd. 4, S. 487.
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II. Praxis und Theorie am disziplinären Rand um 1920
schwert, das inhaltliche Problem getrennt zu behandeln. In welchem Maße die Position des Dichters auf dem Gebiet der Poetik auf die Fachpoetik bezogen sein kann, zeigen die Parodie der wissenschaftlichen Sprechsituation durch Kurt Hiller (a), ihre polemische Kritik durch Paul Hatvani (b) und ihre pasticheartige Imitation durch Albrecht Schaeffer (c). a) Parodistisch. Gerade im Umfeld der expressionistischen Organe war mit einer akademisch geschulten und dem Vorlesungsbetrieb vertrauten Leserschaft zu rechnen; 26 die universitäre Alltagserfahrung wurde als literarischer Stoff gern verarbeitet. 27 Besonderes Interesse verdient ein Aktions-Beitrag des expressionistischen Dichtungsprogrammatikers Kurt Hiller (1885–1972).28 Dieser wechselt in einer imaginären Poetikvorlesung unter dem Titel Kolleg in Ophir 29 in die Rolle des Literaturprofessors ‚Lil Turkher‘ anagrammatisch. Die Lehrkanzel seines alter ego verlegt Hiller in das alttestamentliche Land Ophir. Die parodistische Verfremdung des Kollegs beansprucht dessen didaktische Autorität, um ästhetische und die Poetik betreffende Erkenntnisse vermitteln zu können. An der Hochschule für Vorgerückte, Ophir, hielt jüngst Lil Turkher, Professor der deutschen Literatur, folgende Vorlesung – die ich, in fast wörtlicher Überset-
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Unter den Aktions-Autoren, die zum Teil auch Mitglieder des von Kurt Hiller 1909 begründeten Neuen Club, einer frühexpressionistischen Gruppe männlicher Studenten an der Berliner Universität, waren, befanden sich Literatur- und Philologiestudenten wie zum Beispiel Heinrich Eduard Jacob oder Jakob van Hoddis (1887–1942). Das prominenteste Mitglied, der Jurastudent Georg Heym, schrieb ein Gedicht unter dem Titel Die Professoren. Die Verhandlung poetologischer Fragen im akademischen Rahmen bot sich offenkundig an (zum Neuen Club s. Richard Sheppard, Die Schriften des Neuen Clubs. 1908–1914, 2 Bde., Hildesheim 1980–1983). Ein weiteres Beispiel: Carl Einstein greift auf die Sprechsituation der Lehre zurück, um poetologische Anschauungen zu vermitteln. Der Titel Didaktisches (Die Aktion VII, 1917, Nr. 21/22) als auch der Einstieg arbeiten mit dieser Argumentationsstrategie. Darin legitimiert sich das Sprechen aus der Negation einer als allgemein bekannt hingestellten Lehrmeinung: „Man lehrt oft: der Roman, das Drama agiert oder etwas Ähnliches. Nein, das ist falsch. Der Unterschied begründet sich in der Sprache, die Sprache des Dramas muß Gesten erregen, die des Epos klingende Vorstellungen“ (Carl Einstein, Didaktisches, in: Pörtner (Hg.), Literatur-Revolution, Bd. 1, S. 281–283, hier S. 281). Hiller sprach als als erster Autor von einem literarischen Expressionismus, vgl. Ders., Die Jüngst-Berliner, in: Literatur und Wissenschaft. Monatliche Beilage der Heidelberger Zeitung, Nr. 7, 22. Juli 1911 (in: Thomas Anz/Michael Stark [Hg.], Expressionismus. Manifeste und Dokumente zur deutschen Literatur 1910–1920, mit Einleitungen und Kommentaren, Stuttgart 1982, S. 33–37, hier S. 33–37, hier S. 34: „Wir sind Expressionisten.“). Auch die Eröffnungsrede des mit Ernst Blaß begründeten Cabaret Gnu, die zuerst im Sturm (1910/11, Nr. 1) erschienen war, verstand Hiller im Wiederabdruck für den ersten Band von Die Weisheit der Langenweile (1913) als Beitrag zur Literaturgeschichte. Abgedruckt in: Kurt Hiller, Beitrag zur Literaturgeschichte, in: Pörtner (Hg.), Literatur-Revolution 1910– 1925, Bd. 1, S. 123–125. Die literaturgeschichtliche Linie, die Hiller nun konstruiert, verläuft vom jungen Goethe bis zu Nietzsche (ebd., S. 124f.).
2. Dichtungstheorie in Relation zur Fachpoetik
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zung (höchstens Turkhers manchmal zu heftige Konzentriertheit ein wenig mildernd), hier wiedergebe 30.
Insgesamt wird eine einstündige Sitzung wiedergegeben, die sich an männliche Studenten richtet („meine Herren“). 31 Die Sitzung enthält sechs Abschnitte, deren erster sich der philosophischen Kunst widmet: nicht im Sinne von Raffaels Schule von Athen, also thematisch, sondern dem Anspruch nach performativ, indem Fragen aufgeworfen werden, welche die Leserschaft zum Mitdenken anregen. In Berlin lehrten zu diesem Zeitpunkt vor allem Max Dessoir und Georg Simmel, die Kunst philosophisch betrachteten, und stellten damit junge Künstler vor die Frage, wie philosophisch eigentlich ihre eigene Arbeit sei. Kurt Hiller, hinter der Maske des Lil Turkher, empfiehlt in diesem Zusammenhang Carl Einstein, dessen Bebuquin 1912 erschienen war, Robert Musil und Heinrich Mann. Sie verträten eine neue philosophische Prosa, die sich von der konventionell gewordenen aufgrund ihrer Intellektualität scharf abgrenze und in der Erfahrung sowie im Erlebnis gründe. Es gehe um Fragen, „die es in sich haben, einmal leidenschaftlich erfaßt, die Atome einer Psyche für immer umzukonstellieren.“ 32 Die nichtphilosophische Prosa wird charakterisiert als eine, die sich die Darstellung des ‚Gefühls‘ zur Aufgabe machte. Dies sei eine Kategorie, die für Hiller alias Turkher nur als „bloße Modalität von Bewußtseinsabläufen“ 33 Geltung habe. Die psychologische Ästhetik seiner Zeit stand Pate für diese reizphysiologische, körperliche Bedeutung des Gefühls als „‚Betonung‘ (wie die Zunft sagt)“34. Hiller hält sie für unumgänglich, weil sonst die Philosophie „das Denken zu etwas Blutlosem, Lebensfernem, Mechanischem, zu … Wissenschaft“ 35 mache. Eine kleine Unterscheidung weist auf Hillers disziplinäre Konfliktsituation hin, in die seine Argumentation unweigerlich führt. Er übernimmt Prämissen der Philosophie nicht für ‚philosophische Köpfe‘. Stattdessen wird der „unfach-philosophische Kopf“36 hochgehalten, was daran erin_____________ 30 31 32 33 34
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Kurt Hiller, Kolleg in Ophir, in: Pörtner (Hg.), Literatur-Revolution, Bd. 1, S. 273–277, hier S. 273. Zuerst in Die Aktion 3 (1913), Sp. 371–376. Ebd., S. 277. Ebd., S. 273. Ebd., S. 276. Ebd. – Von Betonung unter ausführlicher Berücksichtigung des Gefühlsbegriffs spricht zum Beispiel der Biologe Gustav Wolff, Psychiatrie und Dichtkunst. Ein Vortrag, Wiesbaden 1903 (= Grenzfragen des Nerven- und Seelenlebens. Einzeldarstellungen für Gebildete aller Stände, 22), S. 16. Als potentielle Referenz kämen auch Johannes Volkelt, System der Ästhetik, Bd. 1, München 1905, und Wilhelm Wundt, Grundzüge der physiologischen Psychologie, Bd. 3, Leipzig 61911, in Frage. Hiller, Kolleg in Ophir, in: Pörtner (Hg.), Literatur-Revolution, Bd. 1, S. 276. Ebd.
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nern mag, dass Philosophie nicht an das Fach (die Disziplin) gebunden sein soll. Die zweite Bedeutung von Gefühl besagt „einen dumpferen VorZustand der Erkenntnis; jenes Verschwommensein und selige Nichtzuendegelangen, das den Bildungsphilister zu einem Typus macht“ 37. Gefühl in diesem Sinne lehnt Hiller entschieden ab: „‚Gefühl‘, in diesem zweiten Sinn, bedeutet ein anthropologisches Stadium, das relativ zum Geist das primitivere ist und welches der philosophische Kopf darum nicht gelten lassen kann.“38 Die von ihm als ‚Harmoniker‘ diskreditierten ‚Bildungsphilister‘ hätten ihr ästhetisches Verständnis auf der falschen Dichotomie von ‚Gefühl und Intellekt‘ aufgebaut und damit nur umso mehr den Unterschied zwischen Nicht-Philosophie und Philosophie als Disziplin bestärkt. Es ist bezeichnend, dass Hiller die Verhaftung im falschen Gefühlsbegriff nicht am Künstler, sondern auf der Ebene der Rezipienten, an den Bildungsphilistern, verdeutlicht. Denn sein eigentlicher Angriffspunkt stellt weniger die unphilosophische Kunst als ihre ‚gefühlsmäßige‘ Rezeption dar. Die gesamte Argumentation der Kolleg-Rede, deren vorgebliche Authentizität dadurch erhöht wird, dass sie sich als unvollständige bzw. gelegentlich von Auslassungszeichen (auch im Aktion-Druck) unterbrochene Kolleg-Mitschrift präsentiert, wird ermöglicht durch das Changieren zwischen disziplinaffinen und disziplinkritischen Elementen. Hiller, im disziplinären Gewand des Literaturprofessors, lehnt die disziplinäre Form der Philosophie ab, die die von ihm favorisierte sensual-intellektuale Form aus dem Denkprozess ausgrenze. Die echte, ‚unfachliche‘ Philosophie sei vom Leben affiziert (d. h. ‚leidenschaftlich‘) und den neuen Künstlern Carl Einstein, Heinrich Mann und Robert Musil vorbehalten. Auf diese drei Autoren kann er jedoch nicht eingehen, „da die Stunde um ist“39. Der eigentlichen literaturwissenschaftlichen Aufgabe wird der Professor nicht gerecht. Insofern stellt sich umso dringender die Frage nach der Funktion der Kolleg-Parodie. Wenn diese nicht inhaltlich-thematischer Art ist, es also erst am Ende um die Vermittlung des spezifisch literarischen Gegenstandes geht, gewinnt die Sprechsituation selbst größere Bedeutung. Als Philosoph oder Ästhetiker hätte Hiller nicht sprechen können, ohne seine fehlende Kenntnis der disziplinären Diskursregeln und damit seinen Dilettantismus zu offenbaren. Schwerlich hätte er einem philosophischen Publikum oder Kolleg die Notwendigkeit, Carl Einstein oder Heinrich Mann zu lesen, erklären können. Als Literaturwissen_____________ 37 38 39
Ebd., S. 276f. Ebd., S. 277. Ebd.
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schaftler jedoch lässt es sich leichter darüber reden, weil die angesprochenen Zuhörer und Kolleg-Schüler, die sich für Carl Einstein, Musil und Heinrich Mann interessieren sollen, mit Diskursregeln der philosophischpsychologischen Ästhetik selbst nicht so vertraut sind, um ihre richtige Befolgung beurteilen zu können. Zu diesem frühen Zeitpunkt musste der Ort des Kollegs in ein mythisches Land des Alten Testamentes, Ophir, verlegt werden, da die genannten drei Gegenwartsautoren in den wirklichen Kollegs noch nicht der Betrachtung für würdig befunden wurden. Hillers Text, die akademische Wirklichkeit ergänzend, bezog vor diesem Hintergrund poetologische Überzeugungskraft aus der Lücke im disziplinären System der Germanistik. b) Polemisch. Mit der Wahl des imaginären Ortes verband sich auch eine Abkehr von wissenschaftlicher Rationalität und der daraus sich ergebenden Sprachauffassung. Paul Hatvani hat das besonders drastisch reflektiert. Seine Absicht war es, den wissenschaftlichen Gedanken hinsichtlich seiner Erkenntnisleistung gegenüber der Poesie zu disqualifizieren. Die dabei zugrunde gelegte Auffassung der wissenschaftlichen Sprache lässt sich auf wissenschaftliche Konzepte zurückführen. Für Franz Saran etwa ist wissenschaftliche Rede diejenige, „die keine oder doch möglichst geringe Teilnahme des Sprechers an dem, was er sagt, verrät.“ 40 Rhetorisch gesprochen, bleibt das Ethos unmarkiert. Die Indifferenz der ‚Gemütslage‘ bilde dabei die Voraussetzung der wissenschaftlichen Arbeit. Für Saran ist dieser ‚Nullpunkt‘ der ‚Schallform‘ wichtig, weil sich von ihm aus das poetische Ethos als eine Abweichung erkennen lässt, zumal bei der Bestimmung des Prosarhythmus. Die ethische Indifferenz stehe im Dienst des ‚Gedankens‘, den die Wissenschaft – anders die Poesie – suche: Der Poesie kommt es nicht, wie etwa der Wissenschaft, lediglich auf Gedanken an. Sie löst deshalb Gedanken, wo sie deren mitteilt, nicht von der Persönlichkeit, die sie hervorbringt, ab, um sie in besondere, streng sachliche Zusammenhänge zu bringen, sondern stellt sie dar als Erlebnisse der bewegten Menschenseele und entlehnt ihre ‚Bedeutungsform‘ der Form des jeweiligen Erlebnisses selbst. 41
Paul Hatvanis Überlegungen zur Spracherotik, die er 1912 im Sturm veröffentlichte und in die Sammlung Salto mortale. Aphorismen, Essais, Skizzen (Heidelberg 1913) aufnahm, 42 schließen indirekt an Saran an. Auch wenn _____________ 40 41 42
Franz Saran, Deutsche Verslehre, München 1907, S. 120. Ebd. Zu Hatvani s. Haefs, „Der Expressionismus ist tot … Es lebe der Expressionismus“, in: Amman/Wallas (Hg.), Expressionismus in Österreich, S. 453–485. Zu Hatvani als Kritiker vgl. ebd., S. 461: „Dieser Kritikertypus verstand sich primär als literarische Vermittlungsinstanz, als werbendes Sprachrohr einer neuen Jugend, gerichtet gegen die konventionelle Form der ‚bürgerlichen‘, auf klassizistische ästhetische Normen eingeschworenen Literaturkritik.“
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hier nicht von einer gezielten Auseinandersetzung zu sprechen ist – Hatvani orientierte sich am Sprachdenken Karl Kraus’ und an Otto Weiningers misogyner Geschlechtsphilosophie 43 –, bietet sich eine Bezugnahme an, weil sie deutlich macht, dass nicht nur ähnliche ‚Gedanken‘ in Wissenschaft und poetischem Diskurs verhandelt wurden, sondern auch die dazu verwendete Sprache sich glich: Die Wissenschaft macht sich über Endlichkeit und Unendlichkeit schon deshalb keine Gedanken, weil sie behauptet, daß die Gedanken die Wissenschaft machen. Gedanken werden ‚ausgesprochen‘, – dabei kommt aber die Sprache zu kurz. 44
Hatvanis Reflexion über die poetische Sprache setzt sich mit sprachspielerischem Witz in einen gezielten Widerspruch zum Verständnis der sogenannten wissenschaftlichen Sprache, als deren Kritiker er mehrfach aufgetreten ist.45 Die Fachsprache basiere auf Grenzziehungen, deren Ausdruck wiederum wissenschaftliche Gedanken seien: Aber in der Gedankenlosigkeit der wissenschaftlich gebildeten Hirne ist kein Platz zum Spracherlebnis. Die Sprache ist eine Grenzenlosigkeit, die sich durch Gedanken – Gedanken sind ja bekanntlich zollfrei – nicht beschränken läßt. 46
Sarans und Hatvanis Aussagen unterscheiden sich lediglich darin, dass der eine sein Sprechen tatsächlich als wissenschaftliche Rede versteht, der andere hingegen bewusst einen anderen Redestandpunkt zu gewinnen versucht, der außerhalb der Disziplin angesiedelt ist. Beide aber gehen davon aus, dass die poetische Sprache aufgrund der ‚Erlebnisse der bewegten Menschenseele‘ (Saran) bzw. des ‚Spracherlebnisses‘ (Hatvani) im Gegensatz zur wissenschaftlichen, ethisch indifferenten Sprache persönlich markiert sei. Die erlebnisästhetische Differenz zwischen Wissenschaft und Poesie entwickelt Hatvani weiter im Konzept der ‚Spracherotik‘, wobei das Erlebnis zum Analogon des Erotischen, ja sogar des ‚Weiblichen‘ wird: „ein formloser Ausdruck einer Ausdruckslosigkeit“ 47. Das ‚Männliche‘ versteht Hatvani als ‚formende Kraft‘ des Erlebnisses. Den schaffenden Künstler binde „ein sexuelles Verhältnis zu seiner Materie und daher zur Welt überhaupt; denn die Materie seiner Kunst ist für ihn ein symbolisches Abbild der ganzen Welt.“ 48 Eine besondere Rolle gewinnt in dieser Vorstellung die ‚Sprache‘, die zur eigentlichen Materie wird: „Der Sprach_____________ 43 44 45 46 47 48
Vgl. ebd., S. 460, 464, 469. Paul Hatvani, Spracherotik, in: Pörtner (Hg.), Literatur-Revolution, Bd. 1, S. 175–177, hier S. 175. Haefs, „Der Expressionismus ist tot … Es lebe der Expressionismus“, in: Amman/Wallas (Hg.), Expressionismus in Österreich, S. 462f. Hatvani, Spracherotik, in: Pörtner (Hg.), Literatur-Revolution, Bd. 1, S. 175. Ebd. Ebd., S. 176.
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künstler muß die Sprache vorerst zertrümmern, den chaotischen Urzustand, eine absolute Homogenität der Materie herstellen, damit das Weib, das Formlose, daraus werde.“ 49 Anders gesagt, verhält sich jeder Dichter gegenüber der bestehenden Sprache nicht anders als zu bereits geformten Einheiten, die aufgrund ihrer festen Form für das Männliche stehen; jeder neue Sprachkünstler trete in einen Konflikt, der nur in der Zerstörung des Bestehenden gelöst werden könne, um die reine Materie als das ‚Weibliche‘ wiederzugewinnen, auf das er formend einwirke: „Die Gegensätze teilen sich, das Formlose bekommt Inhalt und das Inhaltlose Form, – und siehe, das Weib wird schwanger bei der Berührung des Mannes.“50 Der Vergleich zwischen Poesie und der vom Mann ausgehenden Vergewaltigung artikuliert sich als „herrischer Geschlechtsruf nach dem Besitz des Weibes.“ 51 Kunst aber sei „das erotische Verhältnis eines Mannes – oder des ‚Männlichen‘ – zu einer Materie, die die Eigenschaften des Weiblichen hat“52. Die metaphorisch drastischen Töne dürfen nicht die Konvergenzen mit materialästhetischen Ansichten verdunkeln, die von der Wissenschaft ausgingen. Franz Saran ist hier wieder ein wichtiger Stichwortgeber, weil er schon 1907 die ‚Sprache als Material‘ auffasst und damit der ‚Wortkunsttheorie des Sturm-Kreises‘53 und einer formalistischen Materialsästhetik das Wort redet: „Es gilt die Eigenschaften der Sprache zu ermitteln, die ja nun einmal der Stoff ist, in dem der Dichter arbeitet.“ 54 Wenn Hatvanis Spracherotik dafür plädiert, dass der Sprachkünstler in der Sprache die Materie entdecken müsse, verdeutlicht er dies im Analogon der Erotik, das nach 1910 gern aus der Latenz herausgeführt wird, wie auch Georg Kaisers Text Sinnlichkeit des Gedankens (1925) zeigt, 55 und das dem Konzept der Philologie innewohnt, sofern man diese als spracherotische Tätigkeit zur Schaffung von Präsenz begreift. 56 Hatvani nun verleiht durch das erotische Analogon dem zunächst nüchternen ‚Gedanken‘ als _____________ 49 50 51 52 53
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Ebd. Ebd. Ebd. Ebd., S. 177. Vgl. Haefs, „Der Expressionismus ist tot … Es lebe der Expressionismus“, in: Amman/Wallas (Hg.), Expressionismus in Österreich, S. 464, und allgemein Kurt Möser, Literatur und die „Große Abstraktion“. Kunsttheorie, Poetik und „abstrakte Dichtung“ im Sturm 1910 und 1930, Erlangen 1980 (= Erlanger Studien, 46), bes. S. 95–98. Saran, Deutsche Verslehre, S. 126, vgl. auch ebd., S. 131: „Es muß vielmehr das Bedürfnis gefühlt werden, den sinnlichen Stoff, dessen man sich zum Ausdruck bedient, samt seiner F o r m , in unserem Fall der Schallform der Sprache, wohlgefällig zu gestalten.“ Georg Kaiser, Die Sinnlichkeit des Gedankens, in: Pörtner (Hg.), Literatur-Revolution, Bd. 1, S. 161–163. Vgl. Gumbrecht, Die Macht der Philologie, S. 17.
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dem logischen Argument, Sprache sei ein Stoff, einen drastischen Ausdruck, der im wissenschaftlichen Diskurs wohl anstößig wäre. Die hyperbolisch-sexistische Drastik von Hatvanis Reflexionsweise, die heterogene „Positionen und Traditionsbezüge“ eklektisch verarbeitet, 57 vernebelt den Sachverhalt, dass sie der Sache nach, hinsichtlich der neuen Materialästhetik, die für den Sturm-Kreis bezeichnend wird, nichts gegenüber den Erkenntnissen voraus hat, die auf dem Gebiet der empirischen Wissenschaft in Abgrenzung gegenüber einer idealistischen Ästhetik gewonnen worden waren. Somit ist Hatvanis polemische Bezugnahme auf die Disziplin vor allem eine Geste, um das eigene poetologische Sprechen zu nobilitieren. Der Konflikt zwischen poetischer und wissenschaftlicher Sprache, der sich aus Hatvanis antidisziplinärer Einstellung ergibt, löst sich keinesfalls auf, sobald man darauf verzichtet, ihn polemisch auszutragen, oder ihn meidet, sondern entfaltet sich, wie das abschließende Beispiel zeigen wird, dann erst recht mit eindringlicher Performanz. c) Imitatorisch. Albrecht Schaeffers Bemühungen um eine poetologische Kritik täuschen die Partizipation an einem vorhandenen disziplinären Diskurs vor. Dass der nicht-disziplinäre, dichterische Sprechort wenig Anschlussmöglichkeiten bietet und in Aporien führt, wird bereits an Schaeffers Selbstverständnis als Theoretiker kenntlich: „Was ich kritisch über Dichtung zu sagen habe, habe ich in ‚Dichter und Dichtung‘ gesagt und damit für mich erledigt“ 58, schrieb der Dichter auf eine Anfrage des Germanisten Hermann Pongs’, in Marburg einen dichtungstheoretischen Vortrag zu halten. Folgt man Schaeffer, diente ihm die Beschäftigung mit dichtungstheoretischen Fragen dazu, Probleme zu diskursivieren, die bei der poetischen Arbeit entstanden waren. Nach der Drucklegung seines Parzival Ende 1921 äußerte er gegenüber dem Dichter und Literaturwissenschaftler Ludwig Strauß (1892–1953),59 es habe sich in dem Epos sein ganzes bisheriges Schaffen kondensiert, nur „reiner, sicherer, festlicher“ 60. Schaeffer beruft sich bei diesem Urteil auf Strauß selbst, der ihm gegenüber das Werk als eine Art „Abschluss“ bezeichnet habe. Er wolle nun wieder an_____________ 57 58 59
60
Haefs, „Der Expressionismus ist tot … Es lebe der Expressionismus“, in: Amman/Wallas (Hg.), Expressionismus in Österreich, S. 480. Albrecht Schaeffer an Hermann Pongs am 17.5.1924 [DLA Marbach A:Pongs 71.653/1]. Vgl. Dieter Breuer, Die Poesieauffassung von Ludwig Strauß, in: Hans Otto Horch (Hg.), Ludwig Strauß. 1892–1992. Beiträge zu seinem Leben und Werk. Mit einer Bibliographie, Tübingen 1995 (= Conditio judaica, 10), S. 77–87, und Bernd Witte, Ludwig Strauß als Germanist, in: ebd., S. 89–95, und Hans Otto Horch, Deutsche Literatur – jüdische Literatur – Weltliteratur. Ludwig Strauß als Literaturwissenschaftler, in: Barner/König (Hg.), Jüdische Intellektuelle und die Philologien in Deutschland, S. 285–308. Albrecht Schaeffer an Ludwig Strauß am 19.12.1921 [DLA A:Schaeffer 62.87/17].
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fangen, obwohl er wisse, alles gesagt zu haben: „Ich bin, wenn ich mich aufs genaueste frage, diese ganze Art Dichten müde; […]. Gäbe es eine andere Form!“ 61 Schaeffer schwebt eine Art „wie Kristall“ vor, „die völlig geistig wäre, in der nur Seele, Sinn, Schicksal, innerstes Innen vorgeführt würde in einer spärlichsten Besetzung mit bildhaftem Ausdruck, mit sinnlicher Gestalt.“62 Ergebnis war die prosopographisch-gattungsästhetische Essayssammlung Dichter und Dichtung (1923), mit der sich der Dichter und studierte Philologe63 einem Bereich zuwandte, für den auch die Literaturwissenschaft zuständig ist. Schaeffers Epos Parzival sowie Worringers Formprobleme der Gotik (1911) seien, so Schaeffer im selben Brief, zwei „literarische Erlebnisse“, die ausdrücklich zusammen gehörten. Sein typologisches Denken, an Fritz Strich und Heinrich Wölfflin geschult,64 bildet eine zentrale Voraussetzung für die Poetologie der Kritischen Versuche. Es ergehe ihm dabei wie einem, der, nachdem er lange auf eine rote Fläche gesehen habe, nun alles in Rot sehe. Konkret verstehe er die gesamte „abendländische Kunstbemühung“ unter dem „Zwillings-Stern gotisch-hellenisch“ 65. Schaeffers Sprache der Kritik verzichtet nahezu vollständig auf literaturwissenschaftliche Termini und erhebt Bilder und Vergleiche in den Bereich des Eigentlichen: Es reifte ja, unfaßlich, aber es reifte aus der dunklen Glut der Vernichtung ein ewiges Gold, das ungesucht hergefundene, mystische Glücksgebild; es reifte die himmlische Kristall-Frucht des Gedichts aus Stoffen der menschlichen Sprache, durchtränkt und beseelt von der göttlichen. 66
Auf den Gedanken, Schaeffer verstehe seine Kritik als eine philologische, würde man von selbst nicht kommen – und dennoch: Gegenüber Katharina Kippenberg stellte Schaeffer die Kritischen Versuche in einem Brief vom 20. Februar 1922 als eine ‚philologische Arbeit‘ vor: „Übrigens ist es in manchen Teilen, in der Auslegung von Gedichten, geradezu philologische Arbeit, und im Ganzen ist es, was Sie freuen wird, eine Fanfare vom deutschen Geist, von germanischer Art.“ 67 Die metho_____________ 61 62
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Ebd. Ebd. und weiter: „Aber doch müßte diese sein wie Kristall, doch müßte alles Geistige und Seelische eigentlichst nur bestehen in ihr; es müßte alles kristallisiert sein, höchstes Leben, äußerste Sparsamkeit, die letzte Notwendigkeit in jener süßesten Süße, die irgendwie das Wesen der Dichtung ist.“ Zu Schaeffers Philologiestudium s. das Kapitel V.1.1. Wilhelm Meridies, Schaeffers Buch über Dichter und Dichtung, in: Orplid (1924), H. 7/8, S. 65–68, hier S. 67f., hat darauf hingewiesen. Albrecht Schaeffer an Ludwig Strauß am 19.12.1921 [DLA A:Schaeffer 62.87/17]. Ebd. DLA A:Archiv Kippenberg 64.1461.
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dologisch-terminologische Schwierigkeit seiner ‚philologischen Arbeit‘ bleibt jedoch nicht gänzlich unreflektiert. Er müsse sich „mit den dürftigen paar Termini von Wesen, Form, Gestalt, Charakter, Streben, von germanisch, gotisch und apollinisch, Bewußtsein, Un- und Unterbewußtsein, […] ein Arsenal halten,“ 68 heißt es mitten in den Kritischen Versuchen. Das ‚Arsenal‘ – die militärische Bildlichkeit ausbauend – diene dazu, „eine Heerschar von Gedanken zu kleiden und zu waffnen“ 69. Das Ungenügen dieser wenigen Termini wird gleichfalls reflektiert: [I]ch wüßte nicht, wohin ich käme, stünden mir nicht die dichterischen Mittel der Bilder und Vergleiche zu Gebote; aber so muß ich eine unermeßliche Mühe darauf verwenden, nicht – klarzumachen, was ich meine, sondern erst das Gemeinte klar zu umreißen, so daß man, wenn ich Form sage, nicht an Formales denke – was Gestalt, Erscheinung, Figur heißen kann –, sondern an geformtes Leben nur. 70
Die bunte Palette para-wissenschaftlicher Formkategorien zur Erfassung von Dichtung wird vollständig sichtbar in Schaeffers Kritik von Ludwig Strauß’ Gedichten. Schaeffer sieht in Strauß „ein jüdisches und ein germanisch-gotisches, ein apollinisches und ein dionysisches, ein rheinisch deutsches und noch in höher gelegener Bewußtseins-Spaltung ein metaphysisch abstraktes und naturhaft empfindendes Element.“ 71 Im Grunde aber seien die Prinzipien seiner Dichtung unzählbar; und die eben gewonnenen Begriffsdifferenzierungen werden wieder zurückgenommen. Im Fortgang arbeitet Schaeffer das Wechselspiel dieser Elemente bei Strauß heraus. Für den eigenen Dichtungsbegriff von Interesse ist das Hölderlin’sche Element, das in einigen Gedichten von Strauß auf tiefenstruktureller Ebene wirke. Hölderlins Wesensart bestehe in der Richtung auf das ‚Wortlose‘ in Nachfolge Klopstocks bzw. in der Umkehr der traditionellen Auffassung, dass der Inhalt sich eine Form suche. Diese sei früher da, und ihr letztes Ziel der „Zustand der Sprachlosigkeit“ 72. Walzel, bemüht um literaturgeschichtliche Einordnung, hat deshalb Schaeffer mit Theodor Storm verglichen, der die ‚echte Lyrik‘ hinter den Worten vermu_____________ 68 69 70 71 72
Albrecht Schaeffer, Stefan George, in: Ders., Dichter und Dichtung, S. 297–501, hier S. 308. Ebd. Ebd. Albrecht Schaeffer, Ludwig Strauß, in: Ders., Dichter und Dichtung, S. 83–125, hier S. 83f. Ebd., S. 86. – Zum ‚Wortlosen‘ äußert sich Klopstock in Von der Darstellung: „Überhaupt wandelt das Wortlose in einem guten Gedicht umher, wie in Homers Schlachten die nur von wenigen gesehnen Götter“ (Friedrich Gottlieb Klopstock, Von der Darstellung [1779], in: Ders., Gedanken über die Natur der Poesie. Dichtungstheoretische Schriften, hg. v. Winfried Menninghaus, Frankfurt a. M. 1989 (= insel taschenbuch, 1038), S. 166–173, hier S. 172).
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tete. 73 Die Musikalisierung – „Gesang, Gesang, nur Gesang, aber niemals mehr reden!“ 74 – besitze frühromantische Vorläufer. 75 Negativ grenzt Schaeffer die Auffassung von ‚Dichtung als Gesang‘ von der ‚Dichtung als Kunst‘ ab. Die romanische Form des Sonetts, so Schaeffer im Beitrag Über das Sonett, sei für eine solche Auffassung bezeichnend, wobei diskursive und lyrische Elemente im Sprechgesang bzw. Rezitativ eine Einheit bildeten. 76 Das Sonett als ‚Zwittergeschöpf‘ 77 sei kein „Erschaffen und Bilden, sondern Nachziehn und Ausfüllen des Vorgeformten“78. Ein solches „äußeres Formgerüst“ biete dem in Leidenschaft entbrannten Dichter Halt, dem es nicht möglich sei, „eine gleichsam aus sich selber entstehende Form zu schaffen“79. Schaeffer geht mit Martin Buber darin überein, den Gesang als ‚Magie‘ aufzufassen,80 dessen Form sich nicht nach Verstandesgesetzen konstituiere. Im Aufsatz Über Lessing grenzt Schaeffer den bloßen Sammler vom Magier-Dichter ab: „Nicht zu sammeln aber, sondern niemals Besessenes zu verdichten, ist die Magie des Dichters.“ 81 Schaeffer war sicherlich kein Feind der Fachwissenschaft, die antiphilologische Gebärde war ihm fremd. Aber sein poetologisches Werk, genauso wie sein anthropologisch-philosophisches, ist beispielhaft für jenen para-wissenschaftlichen Diskurs seiner Generation, der von antidisziplinären Autoren wie dem Wissenschaftskünstler Gundolf innerhalb der Germanistik forciert wurde. Walter Benjamin, der selbst am Rande der Disziplin operierte, hat Schaeffers kritische Verfahrensweise anhand von dessen Nachdichtungen antiker Sagen abgelehnt und ein Ineinander von _____________ 73 74 75
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Oskar Walzel, Gehalt und Gestalt im Kunstwerk des Dichters, Berlin-Neubabelsberg 1923 (= Handbuch der Literaturwissenschaft, 1), S. 376f. Schaeffer, Ludwig Strauß, in: Ders., Dichter und Dichtung, S. 87. Walzel, Gehalt und Gestalt, S. 377. – Oskar Loerke kritisierte die traditionelle Literaturwissenschaft genau dafür – dass sie neuere Erscheinungen nur beurteilen könne am Maßstab der Literaturgeschichte. Die Rezension von 1924 des Berliner Börsen-Couriers ist abgedruckt in: Oskar Loerke, Der Bücherkarren. Besprechungen im Berliner Börsen-Courier 1920– 1928, hg. v. Hermann Kasack, Heidelberg 1965 (= Veröffentlichungen der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung, Darmstadt, 34), S. 215–217, hier S. 216. Albrecht Schaeffer, Über das Sonett, in: Ders., Dichter und Dichtung, S. 151–163, hier S. 151. Ebd., S. 152. Ebd., S. 154. Ebd., S. 155. Ebd., S. 155f. Albrecht Schaeffer, Über Lessing, in: Ders., Dichter und Dichtung, S. 19–47, hier S. 21. Dieser Hinweis ist insofern interessant, als er durch ihn auch den Unterschied zwischen dem Philologen und dem Dichter markiert bzw. aus dem Begriff des Philologen den Sammler ausscheidet. Im selben Aufsatz kommt es auch zu einer Auseinandersetzung mit dem ‚Liebhaber‘ (Winckelmann), vgl. ebd., S. 42–47.
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Impressionismus und Symbolismus festgestellt. Damit meinte er die eigentümlich emphatische Aufladung der Sprache, um objektive und allgemeine Gültigkeit zu errreichen, die tatsächlich aber extrem subjektive ‚Ansichten‘ repräsentiert.82 An Schaeffer werden negativ die idiosynkratischen Verirrungen deutlich, in die der theoretische Diskurs gerät, sobald er außerhalb eines disziplinären und institutionellen Rahmens stattfindet oder sich von diesem lösen will, wie es in der Wissenschaftskunst Friedrich Gundolfs oder Ernst Bertrams zu beobachten ist. Dem Dichter steht es frei, die Sprachregeln wissenschaftlicher Kommunikation zu übernehmen; er kann einzelne Begriffe herauslösen, sie anders als gemein üblich verwenden und von den konventionellen Sprechweisen abweichen, ohne darüber Rechenschaft ablegen zu müssen. Das lógon didónai, kennzeichnend für eine wissenschaftliche Diskurspraxis, zumal dann, wenn sie die referierende Ebene verlässt und sich der Erkenntnis stiftenden Thesenbildung zuwendet, ist hier außer Kraft gesetzt. Stattdessen funktioniert die dichterische Theoriebildung mit den Mitteln poetischer Kommunikation: Verfremdung, Metaphorisierung der Metasprache, Ambiguität und Spiel zwischen Objektund Metasprache. Ein wissenschaftlich korrektes Sprechen ist nicht intendiert. Nur die äußeren wissenschaftlichen Formen wie Begriffe und Argumente werden nachgeahmt, auch stilistische Merkmale wie ein apodiktischer Ton; aber die Nachahmung geht nicht so weit, auch die Pragmatik des wissenschaftlichen Sprechens zu übernehmen. Dies bedeutete, dass sich der Dichter mit dem disziplinären Diskurs auseinandersetzen müsste. Stattdessen verharrt seine Poetologie in der Geste, Erkenntnis zu stiften. 2.2. Probleme der modernen Lyrik: Ich, Stil, Form, Rhythmus Probleme der Lyrik lautet ein berühmter Vortrag Gottfried Benns über die Poetik der modernen Lyrik aus dem Jahre 1951 in Marburg, wo Benn vor seinem Medizinstudium, 1904, kurz Literatur studiert hatte. Benn versteht Poetik wörtlich als Gemachtheit und erkennt in ihr die Besonderheit des modernen Gedichts. Man hat bei allem Zusammenhang zur Artistik _____________ 82
Nachdem Siegfried Kracauer Martin Bubers Bibelübersetzung besprochen hatte, bat Buber Schaeffer um eine Replik. Diese gab Anlass für Walter Benjamins Rezension von Schaeffers Griechischen Helden-Sagen. Neu erzählt nach den alten Quellen in der Frankfurter Zeitung (Literaturblatt der Frankfurter Zeitung, Jg. 62, Nr. 35, 1. September 1929), die unter dem Titel Der arkadische Schmock erschien. Dieser entstehe, wenn die Antike-„Nachschöpfung“ in eine „Mischung von Impressionismus und Symbolismus“ führe. Zitiert nach Bernhard Zeller (Hg.), Albrecht Schaeffer. 1885–1950. Gedächtnisausstellung zum 75. Geburtstag des Dichters im Schiller-Nationalmuseum Marbach a. N. vom 6. Dezember 1960 bis 31. März 1961 (= Sonderausstellungen des Schiller-Nationalmuseums, 8), S. 25.
2. Dichtungstheorie in Relation zur Fachpoetik
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Nietzsches übersehen, dass das berühmte Diktum, ein Gedicht entstehe nicht, sondern werde gemacht, auch an die germanistische Hörerschaft gerichtet war, die zu oft die ‚Entstehungsbedingungen‘ von Gedichten, nicht aber ihre Gemachtheit erforscht habe. Bereits der Titel des Vortrags klingt wie ein, wenngleich allgemein formuliertes literaturwissenschaftliches Thema. Ausgehend von der doppelten Semantik soll er im Folgenden dazu dienen, vier Probleme der modernen Lyrik vorzustellen, für die sich sowohl die Fachpoetik als auch die Dichterpoetik interessierten: das lyrische Ich (a), den Stil (b), die Form (c) und den Rhythmus (d). Neben Gottfried Benn (a) werden die Ansichten so unterschiedlicher Autoren wie Ernst Blaß (b), der dem GeorgeKreis nahe stand, Oskar Loerke (c) und Herwarth Walden (d) vorgestellt. Sie alle verbindet wiederum ihre Anfänge im Expressionismus. a) Lyrisches Ich. Für die Poetik der modernen Lyrik wurde die Sonderung des Ich vom Autor zentral. Anteil an dieser Erkenntnisleistung hatten die Dichter nicht allein, sie standen im Verbund mit Schulmännern und Philologen. So hat beispielsweise Arthur Rimbaud den Satz, Je est un autre, in einem Brief vom 13.5.1871 an den Rhetoriklehrer Georges Izambard formuliert. Die Figur der ethopoiia – des sich in andere Charaktere hineinversetzenden Dichtens – wurde dem genialischen Dichter durch umfangreiche Übungen im Schulunterricht vermittelt. 83 Im deutschen Kontext betonte die Unterscheidung einer dichtenden Instanz von der realen Person ungefähr zeitgleich Nietzsche im fünften Kapitel der Geburt der Tragödie (1872). 84 In die Literaturwissenschaft führte 1910 die auch dichterisch tätige Margarte Susman zuerst den Begriff ein, 85 nachdem das Phänomen andernorts reflektiert worden war. 86 Breitenwir_____________ 83 84 85
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Vgl. Bernhard Teuber, Poeta doctus an philologus? Gelehrsamkeit, Philologie und Antiphilologie bei Arthur Rimbaud, in: Dehrmann/Nebrig (Hg.), Poeta philologus, S. 257–280. Vgl. Harald Haferland, Hohe Minne. Zur Beschreibung der Minnekanzone, Berlin 2000 (= Beihefte zur Zeitschrift für deutsche Philologie, 10), S. 17f. Vgl. Margarete Susman, Das Wesen der modernen deutschen Lyrik, Stuttgart 1910 (= Kunst und Kultur, 9), S. 15f. – Als Dichterin veröffentlichte Susman (1872–1966) z. B. 1907 den Titel Neue Gedichte und 1917 bei Kurt Wolff Die Liebenden. Drei dramatische Gedichte. – S. ferner Matías Martínez, Das lyrische Ich. Verteidigung eines umstrittenen Begriffs, in: Heinrich Detering (Hg.), Autorschaft. Positionen und Revisionen, Stuttgart/Weimar 2002, S. 376–389. Burdorf, Poetik der Form, S. 439, versteht das lyrische Ich Susmans als wissenschaftliche Konzeptualisierung einer immanenten Idee Georges. Philipp Witkop, der vor seiner germanistischen Karriere selbst gedichtet hatte, schreibt in seiner Dissertation (Das Wesen der Lyrik, Leipzig 1907, S. 14): „Sobald im Lyriker ein Gefühl oder ein inneres Erlebnis zur künstlerischen Gestaltung drängt, vollzieht sich die Entzweiung. Der Dichter tritt dem Menschen gegenüber. Der Lyriker ist zugleich Subjekt und Objekt.“ Diese ‚Zweiheit des modernen Dichters‘ (ebd.) führe schließlich dazu, dass sich das ursprünglich subjektive Gefühl vom fertigen lyrischen Ergebnis des Gedichts löst (ebd., S. 17).
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kung erlangte er mit Oskar Walzels an Susman anschließenden Überlegungen Schicksale des lyrischen Ich zu Gedichten Trakls und anderer zeitgenössischer Autoren (1916):87 Redet Trakl von sich selbst, so setzt er an die Stelle des Ich gern das Du. Er spricht sich so häufig an, daß es zu einem Kennzeichen seiner Lyrik wird, nicht etwa dialogisch das eigene Ich in ein anredendes Ich und ein angesprochenes Du zu scheiden, sondern schlechtweg das eigene Ich als ein Du zu setzen. 88
Die Eigendynamik der modernen Lyrik ist viel zu offensichtlich, um ernsthaft behaupten zu wollen, dass die Spaltung des Ich von seinem Autor eine literaturwissenschaftliche Entdeckung sei. Wenn jedoch der Begriff des lyrischen Ich in die dichterische Reflexion übernommen wird, partizipiert der Dichter am wissenschaftlichen Diskurs. Gottfried Benn hat 1922 vom lyrischen Ich im Nachwort der Ausgabe seiner Gesammelten Schriften gesprochen.89 Darin bezeichnet er diese als „[n]eue Arbeiten, neue Versuche des lyrischen Ich.“ 90 Mit der Literaturwissenschaft war Benn spätestens im Sommerhalbjahr 1904 in Berührung gekommen, als er bei Ernst Elster über Poetik und literaturwissenschaftliche Methodenlehre hörte. 91 Benns Vermutung, es sei ein „nach damaligen Maßstäben wohl auch modernes Kolleg“ 92 gewesen, ist richtig. Elster gehörte zu jenen Germanisten, die das Fach weg von der Philologie zu einer systematischen und methodisch reflektierten Literaturwissenschaft führen wollten, und zwar auf psychologischer Grundlage. Ausdruck dieser Bestrebungen sind insbesondere die Prinzipien der Literaturwissenschaft (1897/1911). Der 1911 erschienene zweite Band von Elsters Prinzipien unter dem Titel Stilistik widmet sich dem poetischen Stil aus wahrnehmungspsychologischer Sicht. Elster setzt darin ein geschlossenes Ich voraus, das sich die Welt über verschiedene ästhetische Apperzeptionsformen aneignet. Seine psychologische Poetik kann gleichsam als eine zeitgenössische Negativfolie für _____________ 87
88 89 90 91 92
Der zuerst im Literarischen Echo (Jg. 18, H. 10/11) publizierte Text erschien dann 1926 in: Walzel, Wortkunstwerk, S. 260–276. Zur methodologischen Kritik von Walzels Umgang mit der Lyrik s. König, Blättern statt Entscheiden, in: Iwasaki (Hg.), Begegnung mit dem ‚Fremden‘, S. 27–35. Dennoch sollte Walzels ursprünglicher Publikationsort, ein nichtwissenschaftliches Organ, nicht vergessen werden. Walzel, Schicksale des lyrischen Ich, in: Ders., Das Wortkunstwerk, S. 260. Gottfried Benn, Epilog und lyrisches Ich, in: Otto F. Best (Hg.), Theorie des Expressionismus, Stuttgart 1976 (= Reclam UB, 9817), S. 182–184. Ebd., S. 182. Überprüft hat diesen Hinweis aus Probleme der Lyrik Joachim Dyck, Gottfried Benn. Einführung in Leben und Werk, Berlin 2009, S. 18. Gottfried Benn, Probleme der Lyrik [1951], in: Ders., Gesammelte Werke in vier Bänden, Bd. 1: Essays. Reden. Vorträge, hg. v. Dieter Wellershoff, Wiesbaden 1959, S. 494–532, hier S. 531.
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Benns Poetik der „Zerlösung des Ich“93 gelesen werden. Sie bezieht ihre Energien aus dem Ressentiment gegen die fachwissenschaftliche Poetik, deren Begriffe sie ad absurdum führt. Elster untersuchte die „psychologische Entstehung“ 94 bestimmter Stilformen. Bei Benn heißt es, medizinische und poetologische Termini vermischend: „Digestive Prozesse, heuristische Kongestionen, transitorische monistische Hypertonien zur Entstehung des Gedichts.“ 95 Gott wird ein „ungünstiges Stilprinzip“ 96 genannt. Die Vermengung sprach- und literaturwissenschaftlicher Termini zur Beschreibung der eigenen Gedichtproduktion – Wort, Substantiv und Adjektiv, Gedicht, lyrisches Ich, Gebilde, Form – mit Wörtern, Konzepten und Begriffen, die dieser Disziplin nicht entstammen, ist Programm, so auch im Text Prosastil. 97 Die zeittypische Zusammenführung von Psychologie und Poetik, wie sie bei Dilthey und Wilhelm Wundt ihren Ausgang genommen hatte, schuf einen Möglichkeitsraum für Benns das Ich zersetzende Programmatik. Denn erst eine psychologische Poetik, die den Schaffensprozess und die Verarbeitung von Welt im Dichter reflektiert, verleiht dem Ich jene große Geltung, derer es bedarf, um das Denken der Ich-Dissoziation als poetologischen Diskurs wirkungsvoll in Szene setzen zu können. Aber Benns Ausführungen sind nicht nur als Irritationen und Negationen des disziplinären Diskurses lesbar. Die literaturwissenschaftliche Legitimierung lyrischer Formen der „Entpersönlichung“ 98, auf die ein Dichter 1922 setzen konnte, ebneten nicht nur der Lyrik Gottfried Benns den Weg für eine literaturwissenschaftliche Betrachtung, sondern der modernistischen Dichtung überhaupt. b) Stil. Besonders die Kategorie des Stils war nach 1900 regen Semantisierungsprozessen in Fachwissenschaft und Kunst ausgesetzt: sowohl allgemein als hermeneutische Kategorie als auch in der besonderen Bedeutung eines organisch-biologischen Werks. Der Dichterjurist Ernst Blaß, 99 der mit Kurt Hiller nach ihrem gemeinsamen Austritt aus dem Neuen Club 1911 das Cabaret Gnu gegrün_____________ 93 94 95 96 97 98 99
Ebd., S. 184. Ernst Elster, Prinzipien der Litteraturwissenschaft, Bd. 1, Halle a. d. S. 1897, S. 45. – Zu Elsters Poetik im Kontext s. Richter, A History of poetics, S. 177–181. Benn, Epilog und lyrisches Ich, in: Best (Hg.), Theorie des Expressionismus, S. 182. Ebd. Vgl. Gottfried Benn, Schöpferische Konfessionen, in: Tribüne der Kunst und Zeit 13 (1920), S. 49–51. Walzel, Schicksale des lyrischen Ich, in: Ders., Das Wortkunstwerk, S. 276. Angela Reinthal, „Wo Himmel und Kurfürstendamm sich berühren“. Studien und Quellen zu Ernst Blass (1890–1939). Mit einer umfangreichen Bibliographie der Primär- und Sekundärliteratur, Oldenburg 2000 (= Literatur- und Medienwissenschaft, 77), S. 129–142, bes. S. 137–140.
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det hatte und zu den Impulsgebern des literarischen Expressionismus gerechnet wird, orientierte sich seit der Übersiedlung 1913 nach Heidelberg zunehmend an der Lyrik Stefan Georges. In Dialogform veröffentlichte Blaß 1920 eine Schrift unter dem Titel Über den Stil Stefan Georges in der Reihe des Argonautenkreises, in der auch Walter Benjamins Aufgabe des Übersetzers erschien. Die Dialogform zur Verhandlung poetologischer Fragen knüpft an bekannte Texte von Friedrich Schlegel, Hugo von Hofmannsthal oder Rudolf Borchardt an und verweist zurück auf Platon, auch wegen ihrer idealistischen Prämissen.100 Der Stilbegriff im Titel verwirrt zunächst, da es im Text um den Stil nicht zu gehen scheint. Nur einmal wird er aufgerufen im Zusammenhang mit der ‚Ausdruckskunst‘, die man seinerzeit als Stilkunst bezeichnet habe. Es handelt sich um eine Stelle, an der Blaß versucht, George der literaturgeschichtlichen Dynamik, die aus Abgrenzungen besteht, zu entziehen: Man kann sich auf die Dauer nicht mit einer nur den Gegensatz hervorhebenden Beschreibung abspeisen lassen, die Georges Werk als Gegenströmung auf eine zeitlich kurz vorausgegangene Richtung des Naturalistischen oder Impressionistischen darstellt und als Heimkehr zum Stil, zur Ausdruckskunst schlechthin, zum Produktiven aus der Verirrung des Reproduktiven, zur Geburt aus dem nur Empfangenden auslegt. 101
Georges Dichtung gewinnt für Blaß ihre Spezifik über den Werkbegriff.102 Wie bei keinem anderen Dichter sei der „Werkgedanke […] das eigentlich theoretisch Leitende seines Schaffens“103. In der Sphäre des Künstlerischen sei das Werk die ‚Tat‘, die sich von der ‚Tat‘ der Handlungswelt unterscheide,104 insofern in der künstlerischen Sphäre die ‚Tat‘ als ‚Werk‘ (ergon) von äußerlichen Zwängen gereinigt sei. 105 Blaß bestimmt die Spezifik des ‚Werks‘ bei George in seiner Leibhaftigkeit. Gemeint ist damit, dass es sich um ein organisch, von seinem ‚Schöpfer‘ getrennt existierendes Wesen handelt: „Das Verhältnis des künstlerischen Schöpfers zu sei_____________ 100 Vgl. ebd., S. 138. 101 Ernst Blass, Über den Stil Stefan Georges [1920], in: Ders., Werkausgabe in drei Bänden, hg. v. Thomas B. Schuhmann, s. l. 2009, S. 42–53, hier S. 45f. 102 Zu Georges Werkbegriff s. das sechste Kapitel von Martus, Werkpolitik. 103 Blass, Über den Stil Stefan Georges [1920], in: Ders., Werkausgabe in drei Bänden, S. 46. 104 Von ‚geistiger Tat‘ spricht auch Friedrich Wolters im Vorwort zur Neuausgabe von Herrschaft und Dienst (1920), vgl. Martus, Werkpolitik, S. 667. 105 Vgl. Blass, Über den Stil Stefan Georges [1920], in: Ders., Werkausgabe in drei Bänden, S. 46: „[I]n der Tatsachenwelt dagegen stossen sich die Sachen, der Zusammenhang zwischen Glauben, Wollen, Sollen mit der wirklichen Tat, dem ‚Werk‘ dieser Sphäre, ist mannigfach unterbrochen und für das im Innern Bleiben des sittlichen oder gläubigen Seins sprechen oft gewichtige Gründe.“
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nem Werk ist ähnlich wie das des Weltschöpfers zu seinem Werk gesehen.“ 106 Mit dieser Auffassung partizipiert Ernst Blaß nicht nur an der von George selbst propagierten Werkästhetik, sondern zugleich am neuen Ergozentrismus geistesgeschichtlicher Provenienz. Beide Seiten, die wissenschaftlich-analytische und die der Programmatik des Dichters George, sind Ausdruck der zeitgenössischen Apotheose des Kunstwerks, die in der werkimmanenten Interpretation, 107 im von Broder Christiansens Philosophie der Kunst (1909) inspirierten Formalismus, später im amerikanischen New Criticism terminologisch ausdifferenziert werden sollte. Ein zeitgenössisches, spezifisch deutsches Paradigma, um die Werkästhetik zu plausibilisieren, war das des ‚Stils‘. 108 Die Stilkategorie besaß in kunstgeschichtlichen und philologischen Disziplinen alter und neuer Literaturen eine Schlüsselfunktion und konkurrierte dabei mit dem Technik- und Formbegriff. 109 Als Qualifikationsschriften waren um 1900 Stil- und Formstudien zahlreich. 110 Von Richard Heinzels Studie Über den Stil der altgermanischen Poesie (Straßburg 1875) bis zu Franz Dornseiffs Pindars Stil (Berlin 1921) spiegelt sich der Entwicklungsgang der philologischen Disziplinen. Seit den 1870er Jahren erschienen mit zunehmender Tendenz bis weit in die erste Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts jährlich mehrere Monographien und Aufsätze zum Stil eines Autors. Viele dieser form- und stilanalytischen Studien griffen auf das von der antiken Rhetorik und Grammatik ausgearbeitete Vokabular zurück, um sprachliche Zusammenhänge zu beschreiben, d. h. auf Begriffe, die an griechischer, lateinischer und byzantinischer Dichtung gewonnen worden waren; 111 sie sind in der Regel statistisch-summarisch, nur gelegentlich _____________
106 Ebd. 107 Zu ihrer Entstehungsgeschichte s. Hans-Harald Müller, Zur Genealogie der werkimmanenten Interpretation, in: Huck/Richter/Scholl (Hg.), Konzert und Konkurrenz, S. 269–282. 108 Einen Überblick bei Oskar Benda, Der gegenwärtige Stand der deutschen Literaturwissenschaft. Eine erste Einführung in ihre Problemlage, Wien/Leipzig 1928, S. 38–46, der ebd., S. 38, von einer ‚ergozentrischen Richtung‘ spricht. 109 Zur Geschichte der Stilforschung s. Herbert Seidler, Grundfragen einer Wissenschaft von der Sprachkunst, München 1978 (= Internationale Bibliothek für allgemeine Linguistik, 42), S. 14–24; Hans Ulrich Gumbrecht, Schwindende Stabilität der Wirklichkeit. Eine Geschichte des Stilbegriffs, in: Ders./K. Ludwig Pfeiffer, Stil. Geschichte und Funktionen eines kulturwissenschaftlichen Diskurselements, Frankfurt a. M. 1986, S. 726–788; Bernhard Sowinski, Stilistik. Stiltheorien und Stilanalysen, Stuttgart 1991, S. 17–31, und Rosenberg, Paradigmen des literarischen Stils, S. 42–84. 110 Vgl. die thematisch sortierte, bis 1991 reichende Bibliographie bei Sowinski, Stilistik, S. 182–237. 111 Mit der modernen Sprachwissenschaft und ihrem empirischen Zugang wurde ein als normativ verstandenes Regelwerk wie die Rhetorik obsolet. Vgl. Hans-Harald Müller, StilÜbungen. Wissenschaftshistorische Anmerkungen zu einem (vor-) wissenschaftlichen Problem, in: Ulrike Haß/Christoph König (Hg.), Literaturwissenschaft und Linguistik von
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gelingt den Autoren dieser knapp gehaltenen Arbeiten eine Syntheseleistung; ein eigenständiger Stilbegriff als Deutungsschablone liegt selten vor. Er entwickelte sich aus einer disziplininternen Kritik heraus und war Indiz eines methodologischen Problembewusstseins. Schon die Studien zu Lessings Stil in der Hamburgischen Dramaturgie (Berlin 1882) von Max Freiherr von Waldberg wurden durch Jakob Minor, der wie Scherer im Stil ästhetische Fragen behandelt sehen wollte,112 angegriffen: „die sucht zu rubricieren und zu titulieren beherrscht ihn [Waldberg, A.N.] durchaus und führt ihn über die besondere characteristische beobachtung hinaus jedesmal zur schablone.“ 113 Seit Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts, vornehmlich innerhalb der Romanistik, 114 erfolgte eine philosophisch-hermeneutische oder psychologische Neubewertung des bislang nur sprachlich-grammatischen Stilbegriffs, dessen berechtigte Aufgabe, anonyme Texte Autoren zuzuweisen, bald erschöpft war. Theodor A. Meyers Buch Das Stilgesetz der Poesie (1901) reflektiert nicht mehr die äußere sprachliche Ebene, sondern die vom Sprachmedium und -material bedingten Möglichkeitsbedingungen des poetischen Stils. Die Problematisierung des Stilbegriffes wird ebenfalls in der wortgeschichtlichen Untersuchung von Eduard Castle Zur Entwicklungsgeschichte des Wortbegriffes Stil deutlich. 115 Zu nennen unter den neuen, problemorientierten Arbeiten sind vor allen anderen Karl Vosslers Philosophische Grundlagen zum ‚süßen neuen Stil‘ (1904) sowie Leo Spitzers zweibändige Stilstudien (1928) und in der Germanistik Fritz Strichs Der lyrische Stil des 17. Jahrhunderts. 116 Goethes Stilbegriff als Identität von Inhalt und Form wurde von Georg Simmel in seinem Aufsatz Problem des Stiles (1908) auf das Allgemeine einer Epoche oder Person übertragen; gemeint ist der Typus, das Wesenhafte. Dass „Stile, Geistesströmungen, wenn auch in völliger Verwandlung wiederkehren“117, war die Überzeugung Strichs, des wichtigsten germanistischen Vertreters der geistesgeschichtlichen Stilforschung. Stil sei die Er_____________ 112 113 114
115 116 117
1960 bis heute, Göttingen 2003 (= Marbacher Wissenschaftsgeschichte, 4), S. 235–243, bes. S. 240. Vgl. Scherer, Poetik, S. 47. Zeitschrift für deutsches Altertum und deutsche Literatur 26 (1882), Supplement VIII, 4, S. 346–349, hier 347. Vgl. dazu Volker Kapp, Das Stil-Konzept in den Anfängen der romanistischen Stilforschung, in: Hans-Josef Niederehe/Harald Haarmann (Hg.), In memoriam Friedrich Diez. Akten des Kolloquiums zur Wissenschaftsgeschichte der Romanistik Trier, 2.–4. Oktober 1975, Amsterdam 1976, S. 381–402. In: Germanisch-Romanische Monatsschrift 6 (1914), S. 153–160. In: Abhandlungen zur deutschen Literaturgeschichte. FS Franz Muncker, München 1916, S. 21–53. Fritz Strich, Deutsche Klassik und Romantik, oder Vollendung und Unendlichkeit, 3. veränderte und wesentlich vermehrte Auflage, München 1928 [1922], S. 1.
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scheinungsform der „ewig menschlichen Substanz in Zeit und Raum. Die Geschichtswissenschaft also, welche den Gestaltenwechsel des Geistes darstellen möchte, ist Stilgeschichte“ 118. Ab den 1910er Jahren erschienen Studien zu Autoren der jüngsten Vergangenheit und Gegenwart. In den 1920er Jahren spätestens hat sich in den literaturwissenschaftlichen Qualifikationsschriften ein neuer philosophisch-hermeneutisch ausgerichteter Stilbegriff durchgesetzt, durch den das jeweilige Werk interpretierbar wurde.119 Blaß partizipierte an dieser methodologischen Aufwertung des Stilbegriffs in seiner Schrift Über den Stil Stefan Georges. Ebenso wie der Stilbegriff besitzt die biologische Semantik des Werkbegriffs disziplinäre Anschlusspunkte. Blaß’ dialogische Abhandlung zu Georges Stil affirmiert einerseits Ansichten, die George selbst seit 1907 vertrat, nach denen das Werk nicht mehr als ästhetizistisches Kunstwerk, sondern als wesenhafte, autonome Einheit, als biologischer Organismus, als eine ästhetische Leibhaftigkeit galt. Die fachwissenschaftliche Poetik kennt diesen Schritt hin zum Ergozentrismus gleichfalls. So schickte Rudolf Lehmann der Veröffentlichung seiner Deutschen Poetik (1908) einen programmatischen Aufsatz in Max Dessoirs Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft (1907) voraus, der in die Poetik übernommen wurde. Darin wendet er sich ab von einer intentionalistischen und psychologischen Poetik, weil sie heuristische Schwierigkeiten aufwerfe, die vom Literaturwissenschaftler unmöglich zu lösen seien. Das Werk wird als ‚zweckmäßiger Organismus‘ bestimmt, als eine ‚organische Einheit‘: Wie die Biologie in der Erklärung der Organismen und ihrer Funktionen sich im einzelnen des Zweckbegriffs bedienen muß, so wird auch die Poetik die Einheit des dichterischen Kunstwerks immer nur als eine gewollte und beabsichtigte begreifen können. 120
_____________ 118 Ebd., S. 3. 119 Die methodologische Reflexion des Stilbegriffs dokumentieren: Emil Ermatinger, Zeitstil und Persönlichkeitsstil. Grundlinien einer Stilgeschichte der neueren deutschen Dichtung (DVjs 46, 1926), Hermann Pongs, Zur Methode der Stilforschung (GermanischRomanische Monatsschrift 17, 1929), Josef Nadler, Das Problem der Stilgeschichte (in: Emil Ermatinger [Hg.], Philosophie der Literaturwissenschaft, Berlin 1930), Ulrich Leo, Historie und Stilmonographie. Grundsätzliches zur Stilforschung (DVjs 9, 1931), Hennig Brinkmann, Grundfragen der Stilgeschichte (Zeitschrift für Deutschkunde 46/47, 1932/33), Gustav Richter, Literaturwissenschaft und Stilanalyse. Eine grundsätzliche Betrachtung (DVjs 15, 1937), J[an] van Dam, Literaturgeschichte als Stilgeschichte (Neophilologus 23, 1938). 120 Rudolf Lehmann, Ziele und Schranken der modernen Poetik, in: Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft 2 (1907), S. 340–367, hier S. 366. Vgl. auch Ders., Deutsche Poetik, München 1908 (= Handbuch des deutschen Unterrichts an höheren Schulen, 3.2), S. 48. – Vgl. auch Richter, A History of Poetics, S. 210.
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Lehmanns Leistung besteht darin, die Psychologie wieder von der Poetik gelöst zu haben, der Vergleich mit der Biologie und dem Weltenschöpfer dient dabei als Anschauungsmittel: Allein die Poetik braucht für ihre Zwecke ebenso wenig danach zu fragen, wie die Biologie danach fragt, ob die Zweckmäßigkeit der Organismen, von der sie ausgeht, auf einer bewußten Zwecksetzung des Weltschöpfers beruht oder nicht. 121
Dieser Satz wird von Blaß nur leicht variiert, wenn er über George sagt: „Das Verhältnis des künstlerischen Schöpfers zu seinem Werk ist ähnlich wie das des Weltschöpfers zu seinem Werk gesehen.“ 122 Wenn Blaß den Stil als die organische Werkeinheit, d. h. den lebenden Sprachkörper, begreift, dann ist er nicht nur Sprachrohr Georges, sondern auch einer spezifisch deutschen Variante des europäischen Ergozentrismus in den Literaturwissenschaften der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts, die im größeren Zusammenhang einer Abkehr von der psychologischen Poetik, der positivistisch genetischen Methode und der induktiv-analytischen Stiluntersuchung steht. c) Form. Probleme der Lyrik, die in und außerhalb der Disziplin gleichermaßen verhandelt werden, betreffen neben der Sprecherinstanz des lyrischen Ich und dem Stil- auch den mit ihm semantisch verwandten Formbegriff, wobei tendenziell Stil eher für das Allgemeine, Form für das Besondere gewählt wird. In Formprobleme der Lyrik, einer Rede, die Oskar Loerke im Winter 1928 vor Berliner Studierenden hielt und die als Buch 1935 unter dem Titel Das alte Wagnis des Gedichtes erschien, ist Loerkes Ausgangspunkt der Primat der Form: „Es gibt in der Lyrik keine anderen Probleme als Probleme der Formen.“ 123 Loerke wiederholt mit Unterstützung der Zeichensetzung: „Aus den Inhalten wächst die Form, oder – es gilt auch so –: Die Form ist das einzige Organ, mit dem sich die Lyrik ihrer Inhalte bemächtigt.“ 124 Er hebt den Gedanken ebenfalls typographisch hervor: „Der Geist des Stoffes heißt Form.“ 125 Schließlich paraphrasiert er anschaulich: „Wohl kann das Papier, auf dem es steht, verbrennen, wie Stein zerbrechen und Erz schmelzen kann, aber die aus Wort, in Erz oder Stein gebildete Form ist nur handgreiflich als zerstörbar zu denken, nicht ideell.“ 126 Zur Ver_____________ 121 Lehmann, Ziele und Schranken der modernen Poetik, S. 347. 122 Blass, Über den Stil Stefan Georges, S. 46. 123 Oskar Loerke, Formprobleme der Lyrik, in: Jahrbuch der Sektion für Dichtkunst (1929), S. 206–227, hier S. 207. Zeitgleich erschienen in: Die neue Rundschau 40 (1929), Bd. l, S. 110–125. 124 Loerke, Formprobleme der Lyrik, S. 207. 125 Ebd., S. 211. 126 Ebd., S. 223.
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deutlichung wählt Loerke Ich saz ûf eime steine Walthers von der Vogelweide: Wir bemerken, daß der mittelhochdeutsche Text nur auf prosaischen Umwegen in die jetzt gültige Sprache überführt werden kann, daß alle Versübersetzungen ihm schweren Schaden antaten, daß aber die Urform jenseits der Worte dem Aufnehmenden dennoch den Geist erfüllt. Er hört sich gleichsam in modernen Worten aufgerufen und folgt ihnen, ohne daß er sie nachsprechen kann. 127
Die Kenntnis des Mittelhochdeutschen allein helfe hier nicht weiter, denn dieser reproduktive Zustand sei ein „künstlerischer Zustand […]. Die zeitlichen Wörter sind überzeitlich geworden in der Einheit ihres Gefüges.“ 128 Sowohl Formdenken als auch das literaturgeschichtliche Beispiel verweisen auf Themen der germanistischen Disziplin. Die formalästhetische Emphase, exemplifiziert an Walther, aktualisiert Ansichten des Berliner Germanisten Gustav Roethe. In seiner Rektoratsrede Wege der deutschen Philologie (1923) hält Roethe die philologisch fundierte Erforschung der neueren deutschen Literatur für eines ihrer größten Verdienste, wobei der philologische Rezeptionsprozess in seiner reproduktiven Eigenschaft selbst von künstlerischem Wert sei: Die Form steht für philologische Arbeit stets in erster Reihe. Die sprachliche Gestaltung eines Gedankens, einer Anschauung ist nicht weniger Form, als das künstlerische Schaffen formt; man hat einmal hübsch vom Philologen verlangt, er müsse zugleich Künstler und Philosoph, d. h. Forscher, sein. Es gehört zu den erfreulichsten Wandlungen unserer Wissenschaft, daß, Dank vor allem den genialen Anregungen Wilhelm Scherers, die Würdigung, das wissenschaftliche Nachschaffen der inneren Form so große Fortschritte gemacht hat 129.
Die Beziehung zwischen Loerke und Roethe besitzt bildungsbiographische Gründe: Im Sommer 1904 hatte Loerke Roethes Vorlesung zu _____________ 127 Ebd., S. 226. – Unmittelbar nach dem zwischen Loerke, Döblin und Julius Petersen gefassten Beschluss, Dichtervorträge an der Berliner Universität zu halten, schrieb Loerke an Letztgenannten wegen einer Publikation zu Walther von der Vogelweide: „Die Gestalt und das Werk Walthers müsste weiteren Kreisen der Gebildeten nahe gebracht werden, ohne dass man seine Gedichte durch Uebersetzungen ins Neuhochdeutsche, die ja völlig unmöglich sind, verballhornte. Der Zugang zu diesem grossen Dichter könnte vielleicht geöffnet werden, wenn ein essayistisch besonders begabter Gelehrter den Komplex der politischen Dichtung in eindringlicher Zusammenfassung darstellte, wenn ein Dichter, der freilich genügend sprachliche und historische Kenntnisse verfügen müsste, sich der übrigen Lyrik annähme, und wenn dem Ganzen ein nicht knappes Lebensbild nach dem gegenwärtigen Stand der Forschung voranstünde“ (Oskar Loerke an Julius Petersen am 30.6.1928 [DLA D:Petersen 62.635/3]). 128 Loerke, Formprobleme der Lyrik, S. 207. 129 Gustav Roethe, Wege der deutschen Philologie. Rede zum Antritt des Rektorats der Friedrich Wilhelms-Universität am 15. Oktober 1923, Berlin 1923, S. 12.
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Walther von der Vogelweide gehört.130 Auch später noch traf er hin und wieder mit dem einstigen Lehrer zusammen. Zu Hauptmanns sechzigstem Geburtstag etwa bezeichnete er ihn als ‚schrecklich‘.131 Roethe beeinflusste mit „Interpretationsansätzen zur Sangspruchdichtung und Strophenstruktur“ Loerkes Rezeption Walthers von der Vogelweide. 132 In den ‚Essays zu den Gedichten‘ 133 besitzt der mehrfache Rekurs auf Walther zudem „programmatische Funktion als Erläuterung des eigenen poetisch-poetologischen Programms“ 134. Walther von der Vogelweide wurde Loerke gleichfalls durch die Schriften Ludwig Uhlands vermittelt;135 für 1905 sind Notizen aus Uhlands Buch Walther von der Vogelweide. Ein altdeutscher Dichter (1822) bezeugt. 136 Bei Uhland schreiben die Dichter nicht, sondern werden als Sänger ‚geschildert‘. Verse werden eingeleitet mit der Floskel ‚Wenn Walther, _____________ 130 Im Sommer 1903 hörte Loerke bei Erich Schmidt zur Geschichte der deutschen Literatur und zum jungen Goethe, bei Geiger zu Goethes Lyrik, im folgenden Wintersemester bei Andreas Heusler zur deutschen Verskunst, bei Max Herrmann Mittelhochdeutsch und zur deutschen Literatur seit 1848; im Sommer 1904 erneut bei Schmidt (Geschichte der deutschen Romantik bis zu Heine, Das deutsche Volkslied). Im Winter 1904/05 hörte Loerke bei Wilamowitz über die Götter der Griechen, bei Schmidt Geschichte der deutschen Literatur, besuchte Roethes Germanisches Proseminar zu Frühneuhochdeutsch und Althochdeutsch, im Sommer 1905 hörte er bei Schmidt Poetik und wieder bei Roethe Mittelhochdeutsch und das Germanische Proseminar, ebenfalls literarhistorische Übungen bei Herrmann, im Winter 1906 wieder bei Roethe zur allgemeinen deutschen Literaturgeschichte (HU UA Abgangszeugnis von Oskar Loerke vom 8.3.1907). – Zu ergänzen ist der biographische Umstand, dass der Westpreuße Loerke in Roethes Heimatstadt Graudenz das Gymnasium absolviert hatte. 131 Vgl. „Mittwoch, 15. November 1922 Hauptmanns Geburtstag. In der Universität. Viele Reden. Professor Petersen, Dessoir, schrecklich Roethe“ (Oskar Loerke, Tagebücher 1903–1939, hg. v. Hermann Kasack, Darmstadt 1955 [= Veröffentlichungen der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung, Darmstadt, 5], S. 98). 132 Vgl. Johannes Spicker, „Aber Walther sehn wir nie“ – Überlegungen zur Rezeption Walthers von der Vogelweide bei Oskar Loerke, in: Reinhard Tgahrt (Hg.), Zeitgenosse vieler Zeiten, Mainz 1989 (= Die Mainzer Reihe, 66), S. 155–178, hier S. 162. – Roethe sei ein „leitestern der Sangspruchdichtung“, so noch Helmut Tervooren, Sangspruchdichtung, Stuttgart 2001 (= Sammlung Metzler, 293), S. 3. 133 Vgl. Oskar Loerke, Gedichte und Prosa, Bd. 1, hg. v. Peter Suhrkamp, Frankfurt a. M. 1958, S. 649–738. Zu nennen ist auch Oskar Loerke, Literarische Aufsätze aus der ‚Neuen Rundschau‘. 1909–1941, hg. v. Reinhard Tgahrt, Heidelberg 1967 (= Veröffentlichungen der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung, Darmstadt, 38). 134 Spicker, „Aber Walther sehn wir nie“, in: Tgahrt (Hg.), Zeitgenosse vieler Zeiten, S. 162. 135 Vgl. Hans-Dietrich Czaplinski, Das Bild Walthers von der Vogelweide in der deutschen Forschung von Ludwig Uhland bis zum Ende des Dritten Reiches. Untersuchungen zum Einfluß politischer Anschauungen auf die Literaturgeschichte, Diss. Gießen 1969, S. 4–17. 136 Vgl. Spicker, „Aber Walther sehn wir nie“, in: Tgahrt (Hg.), Zeitgenosse vieler Zeiten, S. 162, und der Kommentar von Tgahrt, in: Loerke, Literarische Aufsätze aus der ‚Neuen Rundschau‘, S. 452.
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Reinmar usf. singen‘. Loerke führt in dem Essay Vom Reimen genau mit dieser Wendung in Walthers Verse ein: „Wenn Walther von der Vogelweide singt“ 137. Obgleich sich Loerke, der auch Musikwissenschaft studiert hatte, gegen das Vergleichen der beiden Künste wendet, zählt er den Rhythmus zur Universalie der Lyrik: „Nicht verändert hat sich der Rhythmus. Im Gegenteil, er ist durch die technischen Errungenschaften und die Forschung der Gegenwart in seiner rücksichtslosen Großartigkeit überwältigend bestätigt worden.“ 138 Neben der Formkategorie übernehmen in poetologischen Texten Nichtwissenschaftler auch die des Rhythmus, um Einzigartigkeit und Unaussprechlichkeit des Dichterischen zu betonen. Die Emphase auf Form und Rhythmus steht für das Inkommensurable des Gedichts. Dass im Unterschied zu den Fachwissenschaftlern wissenschaftlich ambitionierte Dichter in eigener Sache sprechen, nie nur Beobachter, sondern immer schon Teilhaber des literarischen Diskurses sind, muss bei Darstellungen wie derjenigen Loerkes zur Form und zu Walther von der Vogelweide berücksichtigt werden. Wenn Autoren demnach über ihr eigenes Werk sprechen, sobald sie versuchen, allgemeine Grundsätze zu formulieren, dann ist Wather auch eine Maske Loerkes; Form, aber auch Rhythmus stehen in der emphatischen Verwendung für das eigene Dichten. d) Rhythmus. Dass Form und Rhythmus als Schlüsselbegriffe des Inkommensurablen identifiziert werden, zeigt sich im Denken Herwarth Waldens. Zugleich soll anhand der Rhythmus-Kategorie gezeigt werden, dass die Materialästhetik der Avantgarde eine Entsprechung in der experimentell-empirischen Sprachforschung besitzt, wie oben am Fall Hatvani bereits gesehen. Herwarth Waldens Kampf gegen das ‚Begriffliche in der Dichtung‘, so der Name der gleichlautenden Programmschrift von 1918, 139 lässt sich auch in wissenschaftlichen Kontexten der Zeit beobachten. Schon 1886 und erneut 1914 hatte sich der Germanist Konrad Burdach, über die ‚Hypertrophie des Intellekts‘ und die ‚Atrophie des Gemüts‘ seiner Mitbürger klagend, in einer Zeit erkannt, „die zu erstarren droh[]e in den Banden des begrifflichen Denkens“ 140. Waldens Auffassung, die „das Wissen um die _____________ 137 Oskar Loerke, Vom Reimen, in: Ders., Die Gedichte, Bd. 1, s. l. s. a. [Frankfurt a. M. 1958], S. 713–730, hier S. 729. 138 Loerke, Formprobleme der Lyrik, S. 216. Die anderen drei Universalien lauten ‚Natur‘, ‚Tempo der Welt‘ und romantische und realistische Lebensweise. 139 Herwarth Walden, Das Begriffliche in der Dichtung, in: Pörtner (Hg.), LiteraturRevolution, Bd. 1, S. 404–411. 140 Konrad Burdach, Über deutsche Erziehung, in: Zeitschrift für den deutschen Unterricht 28 (1914), S. 657–678, hier S. 671. Zuerst in: Anzeiger für deutsches Altertum und deutsche Literatur XII (1886), S. 156–163.
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Kunst“ als ein „Fühlen“141 versteht, hätten die meisten Literaturwissenschaftler sicherlich geteilt, zumal Poesie als das verstanden wurde, was sich der Begrifflichkeit entzieht. Walden jedoch behauptet, dass ein Großteil der traditionellen Poesie begrifflich sei und steht damit konträr zur allgemeinen Tendenz. Um die echte, nicht begriffliche Poesie, die er mit Rhythmus gleichsetzt, zu ermöglichen, will Walden sie aus den Zwängen der Syntax befreien. Die bekannte Gleichung lautet: „Das Material der Dichtung ist das Wort. Die Form der Dichtung ist der Rhythmus.“ 142 Waldens materiale Ästhetik des Rhythmus allerdings ähnelt dann doch wieder wissenschaftlichen Auffassungen. Seine Materialästhetik stellt er selbst in eine von Künstlern und Dichtern geprägte Traditionslinie: Arno Holz oder Vasilij V. Kandinskij werden als Bezugsgrößen für Das Begriffliche in der Dichtung angeführt, 143 ebenso Filippo Tommaso Marinetti. Solche Genealogien lenken davon ab, dass sich die Wortkunst des Sturm-Kreises in größere wissenschaftsgeschichtliche Zusammenhänge einordnet. Experimentell-empirische Untersuchungen zum Rhythmus verstanden die Sprache ganz eigentlich als lautliches Material, um das bislang von der idealistischen Betrachtungsweise übersehene Wesen der Poesie aufdecken zu können. Die physiognomische Idee, dass das Wortmaterial von einer inneren Disposition künde, wurde von den psychologisch ausgerichteten Vertretern der Disziplin wie Eduard Sievers geglaubt.144 Zwar interessiert Walden nicht die Psychologie, doch hält er ebenfalls fest, dass nur das Verhalten der Wörter zueinander, d. h. die Verteilung von Wortgrenzen, das Wesen der Poesie als den Rhythmus schaffe; Syntax, also Satzbau, sei immer schon ‚begrifflich‘ – so die These von Das Begriffliche in der Dichtung: „Kunst ist aber keine Grammatik. Und noch weniger ist Grammatik Kunst. Da doch der Satz erst das Begriffliche des Wortes ist. Nur die Wörter greifen den Satz zusammen.“ 145 Wo nur das Wort herrsche, werde der Satz zerrissen. 146 Ein Vergleich mit der experimentellen Rhythmusforschung zeigt, wie ähnlich sich hier wissenschaftliche und dezidiert nicht-wissenschaftliche _____________ 141 Walden, Das Begriffliche in der Dichtung, in: Pörtner (Hg.), Literatur-Revolution, Bd. 1, S. 405. 142 Ebd., S. 404. 143 Zum Beispiel bei Rita Bischof, Teleskopagen, wahlweise, Frankfurt a. M. 2001 (= Das Abendland, 29), S. 184f. 144 Vgl. Reinhart Meyer-Kalkus, Stimme und Sprechkünste im 20. Jahrhundert, Berlin 2001, S. 40–46. Bühler und Wittgenstein, ebd., S. 174–178, haben gegen die physiognomische Ausdruckspsychologie neue pragmatische Konzepte gesetzt. 145 Walden, Das Begriffliche in der Dichtung, in: Pörtner (Hg.), Literatur-Revolution, Bd. 1, S. 410. 146 Ebd., S. 411.
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Auffassungen sein können. Der experimentelle Psychologe Karl Marbe (1869–1953), der Sprachwissenschaften bei Hermann Paul studiert hatte, trat 1904 mit einer Arbeit hervor, die in der Fachwelt für Aufsehen sorgte. Anhand eines statistischen Verfahrens verglich Marbe die Anfänge von Goethes Sankt Rochusfest zu Bingen und Heines Harzreise, zu dem Ergebnis gelangend, dass die beiden Texte einen unterschiedlichen Prosarhythmus zu erkennen gäben. Hierzu skandierte Marbe tausende von Silben und markierte jeweils ihre Betonung bzw. Nichtbetonung.147 Anschließend prüfte er, „wieviele unbetonte Silben in diesem Texte durchschnittlich zwischen je zwei aufeinanderfolgenden betonten Silben stehen.“ 148 Um den Erweis, dass Goethes Rhythmus gleichförmiger sei als derjenige Heines, zu untermauern, untersuchte Marbe des Weiteren das Aufkommen bestimmter Intervallformen, wobei sich zeigte, dass Goethe seltener als Heine die Extreme sucht, also Zwischenräume von mehr als vier oder fünf Silben meidet. Marbe reflektiert die dialektalen und sprachästhetischen Unterschiede zwischen einzelnen Lesern, sieht aber grundsätzlich die Möglichkeit, objektive rhythmische Werte zu ermitteln, gegeben. 149 Für den psychologisierenden Materialästhetiker Marbe und für viele nach ihm wurde der reine Rhythmus zum neuen Gegenstand der Untersuchung: „Aus der Tatsache des verschiedenen Rhythmus der von uns geprüften Texte folgt andererseits, daß eine künftige ausführliche Behandlung des Prosastils eines Schriftstellers auch den Rhythmus dieses Stils gründlich untersuchen muß.“ 150 Für Marbe, der zur Rhythmusanalyse auf die Skansion betonter Silben zurückgreift, spielt wie für Walden – desgleichen für die futuristischen Kämpfer zur Befreiung des Wortes aus der Syntax – der Satz keine Rolle mehr. Rhythmus ergibt sich bei ihm aus einem Prinzip jenseits rational-logischer, d. h. syntaktischer Zusammenhänge. Walden verstand den Rhythmus gleichfalls als ein Prinzip, das nicht über syntaktische Strukturen erschließbar ist. Marbes Abstraktion von der _____________ 147 Marbe, Über den Rhythmus der Prosa, S. 4. Zu Roettekens Poetik (1902) s. Richter, A History of Poetics, S. 181–185. Auf Sonderfälle wie schwache Betonungen konnte das Verfahren keine Rücksicht nehmen, die Wortgrenzen wurden ebenfalls eingetragen (|). 148 Marbe, Über den Rhythmus der Prosa, S. 6. Dazu notierte er die Größe aller Intervalle, die den Zwischenraum unbetonter Silben bilden (x-x entspräche 1) und dividierte ihre Summe durch die Anzahl aller betonten Silben. Das arithmetische Mittel dieser Rechnung betrug z. B. für Goethe 2,34. In einem zweiten Schritt berechnete Marbe die Durchschnittsgröße der Intervalle, wobei er auf den Wert 1,1 kam; für Heine dagegen auf 1,32. 149 Dass vielleicht der erste Eindruck, d. h. die eigene Lesehaltung, die Marbe zu der Annahme zweier ‚Bewusstseinslagen‘ führte, vorgeprägt sein könnte, reflektiert er nicht. Ebenso wenig wird die Frage nach dem Zusammenhang von Rhythmus, Aussageabsicht und Darstellungsinhalt (in diesem Fall Reisebeschreibungen) aufgeworfen. 150 Ebd., S. 17.
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Syntax zwecks Analyse des Rhythmus findet eine Entsprechung bei Walden, wenn dieser für die Genese des Rhythmus fordert, dass von der Syntax zu abstrahieren sei. Sein Diktum: „Das Material der Dichtung ist das Wort. Die Form der Dichtung ist der Rhythmus“151, bezieht sich zwar auf die Lyrik, aber der Grundgedanke ist ähnlich: Die Wörter werden zum einzigen Material der Dichtung deklariert; einmal in dichterische Form gebracht, werden sie zu Rhythmus. Der Inhalt spielt dabei keine Rolle im Sinne eines begrifflich umreißbaren Gehalts. Walden lehnt die ‚begriffliche Dichtung‘ am Beispiel Goethes, Heines und Georges ab, von denen er verschiedene Strophen auswählt, um sie zu einem Gedicht zusammenzufügen. Sie sagen nämlich, so Walden, alle dasselbe, im selben Metrum. Demgegenüber wird das Volkslied, das weniger syntaktisch und begrifflich funktioniere, als authentischer Rhythmus ausgewiesen. Das dichterische Gefühl – Marbe spräche von der ‚Bewusstseinshaltung‘ – drückt sich für Walden im Rhythmus aus, und jedes „Kunstwerk fordert seinen Ausdruck.“152 Waldens Argumentationskette baut sich in parataktischen Sätzen auf, beginnend mit der These: „Die Sichtbarkeit jeder Kunst ist die Form.“153 Die Form wiederum sei „die äußere Gestaltung der Gesichte als Ausdruck ihres inneren Lebens.“154 Da jedes ‚Gesicht‘, d. h. Vision, eine eigene Form habe, so fordere jedes Gedicht seinen eigenen Ausdruck. Es geht Walden um die Individualität des Kunstwerks, die von der begrifflichen Kunst negiert werde. Echte Kunst dagegen begreife das „Unbegreifliche, nicht aber das Begriffliche.“155 Der Rhythmus wird in dieser Sichtweise identisch mit der Form: „Die Form der Dichtung ist der Rhythmus.“156 Marbe hat die Form der Dichtung als ihren Rhythmus analysiert, indem er Wörter zählte und die Verteilung ihrer Betonungen interpretierte, Satzstrukturen jedoch missachtete. Walden denkt ein solches Verfahren nur produktionsästhetisch zu Ende: Denn wenn das Wort den Rhythmus als die Form der Dichtung ausmache, die Syntax ihn aber zerstöre, dann muss man für die Genese von wahrer Dichtung folglich nicht mehr den Umweg über die Syntax gehen. Ein Dichter wenigstens, August Stramm, war von dieser Theorie überzeugt. 157 _____________ 151 Herwarth Walden, Das Begriffliche in der Dichtung, in: Pörtner (Hg.), LiteraturRevolution, Bd. 1, S. 404. 152 Ebd. 153 Ebd. 154 Ebd. 155 Ebd., S. 405. 156 Ebd., S. 404. 157 Vgl. im Kontext Petra Jenny Vock, „Der Sturm muss brausen in dieser toten Welt“. Herwarth Waldens „Sturm“ und die Lyriker des „Sturm“-Kreises in der Zeit des Ersten Welt-
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2.3. Das Ende der Kunstprosa und Carl Einsteins Romanpoetik Zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts erschienen mehrere Monographien zur Romantechnik von jungen Literaturwissenschaftlern als Qualifikationsschriften. In ihnen geht es um die tpchnē, die besondere Kunst der erzählerischen Illusionsbildung. Robert Riemann, Schüler Albert Kösters in Leipzig, veröffentlichte 1902 Goethes Romantechnik. Darin seziert er Goethes Romane nach allen Seiten hin und legt ihre Machart offen. Bei Max Freiherr von Waldberg entstand in Heidelberg Hermann August Korffs vergleichende Arbeit zur Technik des historischen Romans (1907). 158 Berühmt ist der Grazer Kreis um Bernhard Seuffert, zu dessen Schülern in der Kompositionsanalyse von Romanen und Novellen die russischen Formalisten zählen. 159 So hilfreich viele dieser Arbeiten dank ihrer analytischen Detailarbeit heute noch sind, 160 dem zeitgenössischen nichtwissenschaftlichen Leser mussten sie wie Desillusionierungen erscheinen. Seuffert selbst gestand ein: Von vornherein soll darauf vorbereitet werden, daß selbstverständlich jede Analyse den Organismus eines Kunstwerkes zerstört und daß die neue Synthese, da sie zu verstandesmäßigem, nicht zu künstlerischem Zwecke unternommen wird, ihn nicht wieder beleben kann. 161
Wenn die literaturwissenschaftliche Poetik in Studien zur Romantechnik und -komposition ein neues Formbewusstsein artikulierte, konnte dies bei Laien zur Diskreditierung der ganzen Gattung führen. Die Provokation, Goethes Romantechnik offenzulegen, ersieht man vor dem Hintergrund des organisch gestalthaften Bildes der Goethe’schen Romane. Dieses wurde von philologischer Seite aufgebrochen, als man Wilhelm Meisters theatralische Sendung 1910 entdeckte und zeigen konnte, dass die Gestalt der Lehrjahre einer intensiven Umarbeitung geschuldet ist. Die von Philologie und rhetorisch-analytischer Literaturwissenschaft ausgestellte Gemachtheit der Romangattung bestärkte den Verdacht, der _____________ 158 159 160
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kriegs. Kunstprogrammatik und Kriegslyrik einer expressionistischen Zeitschrift im Kontext, Trier 2006 (= Schriftenreihe Literaturwissenschaft, 73). Hermann August Korff, Scott und Alexis. Eine Studie zur Technik des historischen Romans, Diss. Heidelberg 1907. 6 /XERPtU 'ROHæHO *HVFKLFKWH GHU VWUXNWXUDOHQ 3RHWLN 9RQ $ULVWRWHOHV ELV ]XU 3UDJHU Schule, aus dem Englischen von Norbert Greiner, Dresden 1999, S. 143–152. Weiter genannt seien Carl August von Bloedau, Grimmelshausens Simplicissimus und seine Vorgänger. Beiträge zur Romantechnik des siebzehnten Jahrhunderts, Diss. Berlin 1906; Wilhelm Kaiser, Untersuchungen über Immermanns Romantechnik, Halle a. d. S. 1906. Bei Ernst Elster in Marburg entstand Paul Ulrich, Gustav Freytags Romantechnik, Marburg 1907; Rudolf Düber, Beiträge zu Henry Fieldings Romantechnik, Halle a. d. S. 1910; Edmund Riess, Wilhelm Heises Romantechnik, Weimar 1911. Bernhard Seuffert, Beobachtungen über dichterische Komposition. I. in: GermanischRomanische Monatsschrift 1 (1909), S. 599-617, hier S. 600.
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sich aus der Medienkonkurrenz zum Film ergeben hatte: Der traditionelle Roman sei nichts weiter als eine Illusionsmaschine. Bei Carl Einstein führte dies zur endgültigen Ablehnung einer als realistisch, psychologisch, illusionsbildend und im Kausalitätsprinzip begründeten Romangattung.162 Zu berücksichtigen ist dabei, dass sich die Autorität der ästhetischen Tradition unter den Angehörigen der jungen Dichtergeneration in der Krise befand, also nicht mehr automatisch bejaht, sondern hinterfragt wurde. Damit diese Krise in Ablehnung umschlagen konnte, bedurfte es Argumente, und Literaturwissenschaft und Philologie lieferten solche in der Kritik. Der Vorgang ist vergleichbar mit der Ablehnung der französisch-klassizistischen Tradition im achtzehnten Jahrhundert durch die Generation Lessings. Die literarische bzw. ästhetische Autorität, die traditionsbildend geworden war, verlor an Akzeptanz, so dass jedes analytisch gewonnene Argument, das die Gemachtheit der kanonischen Kunstwerke nachwies, recht war, um es gegen jene Autorität zu wenden. 163 Carl Einsteins Anmerkungen über den Roman, erschienen 1912 im zweiten Jahrgang der Aktion, setzen mit der Forderung ein, die Gattungsbezeichnung aufzugeben: „Ich schlage vor, bis auf weiteres die Bezeichnung Roman aufzugeben“164. Einstein bevorzugt das Wort Epos: „das Wort Epos genügt“165. Diese Gattung war um 1900 erst recht philologisch aufgeladen; gleichwohl hält sie Einstein trotz humanistischer Bildungsideologie und des „Idylliker[s] Vergil“ für weniger diskreditiert als den Roman. Dass er selbst mit dem Vergil-Urteil in der Tradition jener humanistischen Bildung steht, entgeht Einstein. Seit dem achtzehnten Jahrhundert hatte die Philologie daran gearbeitet, Vergils Autorität zu brechen und auf Homer zu übertragen mit der Begründung, Vergil sei Kunstdichter – Dichter durch tpchnē –, Homer dagegen spreche eine von humanistischer Bildung freie Sprache. Im deutschen Kulturraum funktionierte dieser translatorische Vorgang besser als in Frankreich, was keinesfalls heißt, Vergil habe in Deutschland keine Anhänger mehr besessen – ganz im Gegenteil haben akademische Lehrer _____________ 162 Matias Martínez-Seekamp, Ferien von der Kausalität? Zum Gegensatz von ‚Kausalität‘ und ‚Form‘ bei Carl Einstein, in: Text und Kritik 95 (1987), S. 13–22; der Aufsatz zeigt, wie Einsteins Aufgabe der Kausalität zwar eine Desintegration bedeutet, aber als Suche nach einer neuen Form unweigerlich neue integrative Elemente hervorbringt. 163 Zur Dialektik des Traditionsbruch s. Wilfried Barner, Über das Negieren von Tradition – Zur Typologie literaturprogrammatischer Epochenwenden in Deutschland, in: Reinhart Herzog/Reinhart Koselleck (Hg.), Epochenschwelle und Epochenbewußtsein, München 1987 (= Poetik und Hermeneutik, XII), S. 3–51. 164 Carl Einstein, Anmerkungen über den Roman, in: Best (Hg.), Theorie des Expressionismus, S. 185–188, hier S. 185. 165 Ebd.
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wie Eduard Norden (1868–1941) auf seine Vorbildlichkeit als Künstler hingewiesen. 166 Ohne die Disziplinierung der Autorschaft durch die humanistische Bildung auf dem Großherzoglichen Gymnasium in Karlsruhe 167 und während des Studiums der Klassischen Philologie hätte Carl Einstein jenes humanistische Bildungsprogramm, für das Vergil stand, unmöglich angreifen können und wollen. Vergil wird zum Schlüsselautor für das Verständnis des Romanhaften. Bevor er den Roman mit Vergil kurzschließt, wendet sich Einstein von jenen Momenten ab, die das bisherige Gattungsverständis auszeichneten, wie psychologische Motivierung, kausale Schlussweise und Induktion: „Der psychologische Roman beruht auf kausaler Schlußweise und gibt keine Form, da nicht abzusehen ist, wohin das Schließen zurückführt und wo es endigt. Dies ist zumeist an die Anekdote gebunden – also induktive Wissenschaft.“168 Weitere Elemente werden abgekanzelt, z. B. das Moralische, der Lyrismus, die Deskription, die Semantisierung von Realien wie im symbolischen Realismus und die Kohärenz durch ein das Ganze strukturierendes Motiv: „eine in die Länge gezogene Anekdote“ 169. _____________ 166 Eduard Norden, Die antike Kunstprosa. Vom VI. Jahrhundert vor Chr. bis in die Zeit der Renaissance, Bd. 1, Leipzig 1898, S. 235, 243, 254; zudem war Norden bekannt durch seinen Kommentar der Aeneis, Buch VI (1903). 167 Vgl. Sibylle Penkert, Carl Einstein. Beiträge zu einer Monographie, Göttingen 1969, S. 41. – Zufolge der Jahresberichte des Großherzoglichen Gymnasiums Karlsruhe zwischen 1899 und 1903 muss Einstein in der Ober-Tertia (B) in folgenden literarischen Gegenständen unterrichtet worden sein: In Latein (8 Stunden/Woche, ab der Unter-Prima 7) De bello Gallico I und VII, Ovids Metamorphosen (Auswahl), in Griechisch (6 Stunden/Woche) Xenophons Anabasis I und IV, Deutsch 2 Stunden (ohne nähere Angaben); in der UnterSekunda (B): in Latein Livius (XXI), Vergils Aeneis I und II, Ciceros De senectute, in Griechisch Xenophons Hellenika I, Homers Odyssee (erste Hälfte mit Auswahl), Herodot (I), in Deutsch Elemente der Stilistik und Poetik; in der Ober-Sekunda (B): in Latein Livius (XXI ganz, XXIII in Auswahl), Sallusts Catilina, Ciceros In Catilinam, Vergils Aeneis IV und VI, in Griechisch Homers Odyssee (zweite Hälfte), Herodot (V bis IX), in Deutsch Elemente der Stilistik und Poetik; in der Unter-Prima (B): in Latein Tacitus’ Annalen I und II (Einzelnes aus III und IV), Germania, Ciceros Pro Milone, In Catilinam I–IV, Horaz’ Oden I–II (Epoden und Satiren in Auswahl), in Griechisch Platos’ Apologie, Kriton, Phaidon (in Auswahl), Homers Ilias I–XII, Sophokles’ Aiax und Philoktet, in Französisch Racines Iphigénie, in Deutsch mittelhochdeutsche Grammatik; in der Ober-Prima (B): in Latein Auswahl aus Ciceros Briefen, Tacitus’ Annalen XI–XVI (in Auswahl), Horaz’ Oden III und IV, Episteln und Ars poetica, Lyriker nach Biese, in Griechisch Homers Ilias (2. Hälfte), Thukydides VI, VII, Sophokles’ Antigone und Oedipus auf Kolonnos, Platons Phaidon, in Deutsch Literaturgeschichte, in Philosophie Logik. Vgl. Jahresbericht für das Schuljahr 1898/99 (1899/00, 1900/01, 1901/02, 1902/03), Karlsruhe 1899, 1900, 1901, 1902, 1903, jeweils S. 9f. und 14f. (1903, auch S. 12). 168 Einstein, Anmerkungen über den Roman, in: Best (Hg.), Theorie des Expressionismus, S. 185. 169 Ebd., S. 186.
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Letzteres verdeutlicht Einstein nicht an Romanschriftstellern seiner Zeit, sondern an Homer und Vergil: „Der Knabe Vergil liefert hierfür eklatante Beispiele.“ 170 Sei die Ilias – ganz im Sinne der Lachmann’schen Liedtheorie – „eine Ansammlung von Geschichten um ein zentrales Schicksal“ 171, habe Vergil den Mythos verloren und als Techniker, „die Technik des Indielängeziehens beherrscht“172. Am Ende der Ausführungen über ein „Epos in Zukunft“173 wendet sich Einstein dem Stil dieses neuen Epos zu, der weder schön noch edel sein und ohne die Kategorie des Erhabenen auskommen soll. 174 Der Verabschiedung dieses Stilideals gilt Einsteins Aufmerksamkeit deshalb, weil er damit das mimetische Prinzip erledigen kann, das die Rede (Logos) nur verwendet, um Vorhandenes in der Wiedergabe zu bestätigen, nicht aber um Neues zu schaffen. Hierauf wird am Ende zurückzukommen sein. Einstein versteht Rede nicht mimetisch, sondern pragmatisch als Tat. Goethes Deutung des griechischen ‚Logos‘ als ‚Tat‘, wie er sie im Faust festhält (Vers 1237) und die seit Herder in der deutschen Literaturgeschichte den Konflikt zahlreicher gelehrter Autoren bezeichnet, wird seit 1910, nicht nur im Titel der expressionistischen Zeitschrift Die Aktion, programmatisch. 175 Carl Einsteins Anmerkungen enden ebenfalls in diesem Sinne, den Begriff der téchnē neu auslegend: „Das Absurde zur Tatsache machen! Kunst ist eine Technik, tatsächliche Bestände und Affekte zu erzeugen. [Hervorhebung von A.N.]“ 176 Die Romanpoetik der Tat findet ihre Exemplifizierung in dem im selben Jahr publizierten ‚Roman‘, wie es im Untertitel heißt, Bebuquin (1912). Auch dort wird die Tat gefordert und schroff der Logik entgegengestellt. Die Logik bilde nur bestehende Tatsachen ab, aber nicht das Moment, welches neue Tatsachen schafft – also die Tat: Sehen Sie, die Logik fixiert, soweit unsere Fähigkeiten auf sogenannte Tatsachen angewandt werden. Sie bedenkt nur unsere praktischen Bedürfnisse, richtet sich nach den Dingen und sucht diese in übereinstimmenden, sich wiederholenden Beziehungen zu erhalten. Aber in mir ist gerade so viel und gerade das Wertvollste, was über die Tatsache hinausgeht. Die materielle Welt und unsere Vorstellun-
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Ebd. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd., S. 187. Bei Georg Heym macht sich diese Tendenz ins Ethische in den Revolutionsdichtungen thematisch bemerkbar. Vgl. Breuer, Die Sprachgebärde des expressionistischen Genies, in: Schiffermüller (Hg.), Geste und Gebärde, S. 66–88. 176 Einstein, Anmerkungen über den Roman, in: Best (Hg.), Theorie des Expressionismus, S. 188.
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gen decken sich nie. Darum ist die Tat notwendig, dies Correktiv von Tatsachen und Dingen. 177
Einsteins Plädoyer für die Tat, in der Rede seines Protagonisten Bebuquin, ist als eine Absage an die ‚Logik‘ zugleich eine an den ‚Logos‘, der in Form der Rede kausale Strukturen generiert. Der Logos als Redefähigkeit bildete seit Platon das Zentrum des gebildeten Menschen, und das neuhumanistische Bildungsideal folgte der antiken Vorstellung. 178 Mit dem Platonismus, den Bebuquin kritisiert, ist nicht nur eine Ideenlehre evoziert, sondern ein Bildungsprogramm, das Carl Einstein aus der Schule vertraut gewesen war. Der intensiven Schullektüre Vergils und Homers gesellt sich noch diejenige Platons hinzu. Wenn Einstein seine weibliche Hauptfigur Euphemia nennt, dann sind mit der Figur einmal jene İީijȘȝȓĮ, jene ‚guten, heiligen Worte‘ gemeint. 179 Die Referenz auf das Sprachliche wird in dem Moment virulent, wo die Figur von der Zirkusdecke stürzt, um sich das Genick zu brechen: Man bemerkte Miss Euphemia erst, als sie an die Decke aufgezogen war; sie hielt sich mit den Zähnen in einen Strick verbissen. | Ließ sich loß, und ein Salto mortale war an der Decke geschlagen zum anderen Ende, wo sie mit den Zähnen ein Seil aufriß. | […] Miss Euphemia glitt beim dritten Male am Seil ab; sie beschloß aus formalen Gründen, sich das Genick zu brechen. 180
Das ästhetische Programm, die transzendentalen Kategorien der Wahrnehmung von Sprache, Raum und Subjekt zu zerstören bzw. ihnen ihre orientierende Funktion zu nehmen, um ein dahinter liegendes Eigentliches als ein ‚Wunder‘ zu erfahren – angekündigt im Nebentitel Die Dilettanten des Wunders – steht mit Euphemia selbst auf dem Spiel. In ihrem anvisierten Genickbruch findet Einstein ein Symbol für das sprachliche Risiko, das er sucht. Euphemia, wovon sich der Euphemismus ableitet, ist einmal das gute Wort, das im religiösen Kontext an Gott gerichtet ist, im Sinn von Gebet,181 aber auch im Phaidon (117e) jene ‚andächtige Stille‘, in der zu sterben Sokrates wünscht: ‚Ich habe gehört, dass man in Euphemia (in Stille) sterben solle‘ (țĮ ޥȖޟȡ ܻțȒțȠĮ ݼIJȚ Ȟ İރijȘȝȓߠ Ȥȡ ޣIJİȜİȣIJߢȞ). 182 Den Phaidon hatte der Schüler Einstein in Unter- und Ober-Prima durchge_____________ 177 Carl Einstein, Bebuquin, hg. v. Erich Kleinschmidt, Stuttgart 1995, S. 40. 178 Der Philosoph könne nur über den Logos zwischen Sterblichkeit und Unsterblichkeit vermitteln; Menschen hingegen, die ihr Vermögen nur auf die Ausbildung handwerklicher Fertigkeiten richten, so Platon, kommen zwar ohne Logos aus, werden aber dafür als ‚Banausen‘ abgewertet (Symp. 203a). 179 Ein griechisches Verb für ‚sagen‘ lautet im Präsens ijȘȝȓ. 180 Einstein, Bebuquin, S. 27. 181 1HXHUGLQJVV6XVDQQH*|GGH(XSKēPLD'LHJXWH5HGHLQ.XOWXQG/LWHUDWXUGHUJULHFKischen Antike, Heidelberg 2011 (= Bibliothek der klassischen Altertumswissenschaften. Neue Folge, 2. Reihe, 120). 182 Platonis Opera, hg. v. John Burnet, Oxford 1903.
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II. Praxis und Theorie am disziplinären Rand um 1920
nommen. In Letzterer erfolgte denn auch die Beschäftigung mit der Logik, was einmal mehr den hohen Stellenwert des gymnasialen Unterrichts für das Auffinden literarischer Motive demonstriert. Die Verzahnung von Gattungstheorie und dichterischer Praxis ist bei Einstein evident. Gesucht ist jeweils eine neue Romanprosa, wobei die ästhetische Denkbewegung Einsteins geschichtliche Vorbilder hat, die nicht überwertet werden sollen, aber deutlich machen, in welchen literaturgeschichtlichen Horizont sich der Avantgardist einschrieb. So demonstriert Eduard Norden, bei dem Einstein studiert hatte,183 die ‚Entartung der antiken Kunstprosa‘ 184 nach der klassischen Periode, die durch sachbezogen eingesetzte dekorative Elemente wie den Redefiguren, durch Eurhythmie und Harmonie gekennzeichnet sei, 185 an der „Willkür“ asianischer Autoren, die sich durch Nichtbeachtung von allgemeinen Gesetzen beim Verfassen schriftlicher Reden auszeichneten: Für ein paar Jahrhunderte beherrschten sie den Geschmack, was das entartete Griechenvolk brauchte. Und nicht bloss in stilistischer Hinsicht waren sie Vertreter der Degeneration. Sie haben die strengen Gesetze der rhetorischen ƴƝƷƭƧ vernachlässigt und an die Stelle der bisherigen Regelmäßigkeit regellose Willkür gesetzt 186.
Später konstatiert Norden bei Tacitus „ein ständiges Abnehmen des konzinnen Ausdrucks […], bis er schließlich in den Annalen zu seiner völligen Zerstörung gelangt, indem er die konventionelle Form der Darstellung mit einer subjektiven Willkür ohnegleichen vergewaltigt“ 187. Die „Vertreter des Unsinns“188 schrieben „bacchantische dithyrambenähnliche Prosa mit der Parole, dass das höchste Gesetz in der Willkür liege.“ 189 Als habe Norden zum Widerspruch angeregt, verlangt Einstein nach ‚Willkür‘; das Bacchantische liege ihm dagegen weniger: „Also das Kunstwerk ist Sache der Willkür respektive benommener Trunkenheit. Ich ziehe erstere vor, da sie imstande ist, Rücksicht und Takt zu üben.“ 190 Willkür definiert er als eine Sache „der Wahl, des Wartens“ 191 – auf keinen Fall _____________ 183 Vgl. Uwe Fleckner, Carl Einstein und sein Jahrhundert. Fragmente einer intellektuellen Biographie, Berlin 2006, S. 16 und 427f. Dies geht aus einem Brief Einsteins an Fritz Saxl hervor. Der Brief vom 7.2.1929 liegt in London (Warburg Institute), vgl. Conor Joyce, Carl Einstein in „Documents“ and His Collaboration With Georges Bataille, Philadelphia 2003, S. 233. 184 Norden, Die antike Kunstprosa, Bd. 1, S. 126. 185 Ebd., S. 50. 186 Ebd., S. 131. 187 Ebd., S. 333. 188 Ebd., S. 147. 189 Ebd. 190 Einstein, Anmerkungen zum Roman, in: Best (Hg.), Theorie des Expressionismus, S. 186. 191 Ebd.
2. Dichtungstheorie in Relation zur Fachpoetik
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solle gewählt werden, was schon „traitiert“ 192 ist, und dies kann eben nur das sein, was noch nicht, also zukünftig, ‚futuristisch‘ ist, wie am Ende betont wird: Kunst schaffe erst die Dinge und gleiche der Tat, weshalb die Gesetze der Kunstprosa ausgedient hätten.
_____________ 192 Ebd.
III. Kritik germanistischer Literarhistorie Die deutsche Literaturgeschichte wurde im neunzehnten Jahrhundert in bibliographischer Sammelarbeit und philologisch-historischen Studien konstituiert, mit Beginn der geistesgeschichtlich typologischen Methode (1910) in wesenhaften Einheiten synthetisiert. 1 Für den Dichter entstand mit der Literaturgeschichte ein verwertbares Material, das einen ähnlichen Stellenwert wie die mythologischen Soffe besitzen kann, insofern auch sie mit jeder Gestaltung verändert werden. Begreift man den poetischen Diskurs über Literaturgeschichte als eine zum wissenschaftlichen Diskurs formulierte Alternative, die den Anspruch besitzt, das zu sagen, was über die Literaturgeschichte wissenschaftlich nicht sagbar ist und dennoch naheliegt, kann das Verhältnis von literarischer Produktion zur Disziplin als parodistisch bezeichnet werden. Parodie meint dann nicht den Gegenbezug zur Literaturgeschichte, sondern einen kritischen, eigenes Recht beanspruchenden Nebengesang zu einer disziplinären Diskursformation, die sich der Literaturgeschichte widmet. 2 Im neunzehnten Jahrhundert war es mit der Romantik zu einer Akzeptanz der philologisch motivierten Vergegenwärtigung der Literaturgeschichte seitens der Dichter gekommen. In Übersetzungen, Nachdichtungen und Editionen älterer Literatur (Nibelungenlied), teils ironischen Imitationen von Volksliedern (Heine) und Affirmationen von Volksepen (Scheffel) sowie in der Gattung des Professorenromans (Freytag) wurde sichtbar, dass die Dichter an der Erschließung und Popularisierung der Literaturgeschichte mitwirkten, nicht selten gestützt auf die Erkenntnisse der Wissenschaft. Figuren wie Heinrich Hofmann von Fallersleben, Karl Goedeke oder Ludwig Uhland demonstrieren zudem, dass die Dichter, die Literaturgeschichte verarbeiteten, selbst Philologen sein konnten. Mit der literarischen Moderne, die zeitgleich mit der Institutionalisierung der Deutschen Philologie und der Einrichtung germanistischer Seminare an _____________ 1 2
Hierzu vgl. Peter Philipp Riedl, Epochenbilder – Künstlertypologien. Beiträge zu Traditionsentwürfen in Literatur und Wissenschaft 1860 bis 1930, Frankfurt a. M. 2005 (= Das Abendland, N.F. 33). Literatur als Gegenrede ihrer Disziplin ist präziser bestimmbar als Foucaults ‚contrediscours‘, bei dem es sich um eine literarische Rede (discours) handelt, die sich im neunzehnten Jahrhundert gegen eine ubiquitäre Diskursordnung wendet (vgl. Michel Foucault, Les mots et les choses. Une archéologie des sciences humaines, Paris 1966, S. 58f. und 313).
1. Arno Holz’ Dafnis im Bann der Blütezeiten
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den Reichsuniversitäten ab 1871 einsetzte, vor allem mit dem Erstarken der Neueren deutschen Literaturgeschichte gegenüber der Älteren3 kündigte die Fraktion der Poeten zunehmend die Partnerschaft auf, zeigte aber weiterhin an der Literaturgeschichte, zumal der deutschen, das Interesse, diese poetisch zu bewältigen: nun in Konfrontation mit der Disziplin bzw. in einer Form, die das disziplinäre Moment des literaturgeschichtlichen Wissens mitreflektierte. Nicht mehr allein die Literaturgeschichte als Gegenstand, sondern auch als Disziplin wurde mit dichterischen Mitteln gestaltet. Die motivisch-thematische Integration der Philologie wie noch in Freytags Verlorener Handschrift (1864) wurde ergänzt durch die gezielte Parodie. In beiden Varianten, ob nun pejorativ als Verspottung oder als neutraler Nebengesang war sie Ausdruck eines neuen Spannungsverhältnisses. Eine Ursache für den Geltungsverlust der Philologie als Disziplin unter den Dichtern ist in der allgemeinen Historismus-Kritik4 zu sehen, die den Dichtern eine problemorientierte Thematisierung der Wissenschaft vorführte. Erst im geistesgeschichtlich-typologischen Modell – selbst aus der Kritik des historisch-philologischen Modells hervorgegangen – fand ein affirmativer Bezug zur Disziplin, wie ihn das neunzehnte Jahrhundert gekannt hatte, wieder statt; und vielleicht ist das signifikanteste Beispiel für den Umbruch die Ersetzung des Professorenromans durch eine geistesgeschichtlich visionäre Annäherung an die Literaturgeschichte.5 Die Krise des historisch-philologischen Paradigmas und die zunehmende Geltung des geistesgeschichtlich stiltypologischen Modells zeitigten in der wissenschaftlichen und poetischen Praxis neue Formen. Aus dem Zusammenspiel beider Tendenzen erklärt sich die Emphase der typologischen Schau im Künstlergedicht (Benns Der junge Hebbel, 1913), Künstlerroman (Edschmids Lord Byron, 1929) und Künstlerdrama (Johsts Der Einsame, 1917). Einmal auf Distanz gegangen, konnte andererseits die historisch-philologische Methode an einem literaturgeschichtlichen Stoff poetisch behandelt und parodistisch ausgestellt werden. In Arno Holz’ Lieder auf einer alten Laute (1903), einer Anthologie des fiktiven Dichters Dafnis aus dem siebzehnten Jahrhundert, und in Thomas Manns GoetheRoman Lotte in Weimar (1939) wenigstens erweist sich die dichterische _____________ 3 4 5
Vgl. Dieter Burdorf, Dieter Burdorf, Poetik der Form. Eine Begriffs- und Problemgeschichte, Stuttgart/Weimar 2001, S. 269. Friedrich Jaeger/Jörn Rüsen, Geschichte des Historismus. Eine Einführung, München 1992, S. 141–160. Oskar Walzel, Die deutsche Dichtung seit Goethes Tod, Berlin 21920, S. 270, führt als Beispiel Walter von Molos Schillerroman (1912–1916, 4 Bde.) an, der schon die „wilde Genialität des Sturm und Drangs mit einer starken seelischen Spannung und einer schallkräftigen Wortgebung“ verbinde und frei von allem Musealen sei (ebd.).
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III. Kritik germanistischer Literarhistorie
Kritik des historisch-philologischen Modells als ein Formprinzip moderner Literatur. Wissenschaftliche Theoreme, Modelle oder Verfahren werden aufgegriffen, durchgespielt und ad absurdum geführt. Arno Holz reagiert auf das literaturgeschichtliche Modell der Blütezeit, wie es von der Scherer-Schule durchgesetzt worden war; Thomas Mann trägt dichterisch die Spannung aus, die auf der Ebene des biographischen Diskurses zwischen dem Vertreter der alten Schule, Albert Bielschowsky, und dem der neuen geistesgeschichtlichen Methode, Friedrich Gundolf, entstanden war. Er lässt Goethe durch das „überkommene Material erscheinen“ (Bielschowsky) und schafft zugleich die „ewige Idee Goethe“ (Gundolf). 6
1. Arno Holz’ Dafnis im Bann der Blütezeiten Wilhelm Scherers Geschichte der deutschen Literatur – zuerst 1883, 1922 in der fünfzehnten Auflage erschienen – liegt ein Modell zugrunde, das Literaturgeschichte als wellenförmigen Verlauf begreift, der alle sechshundert Jahre Epoche macht: „Der Gang unserer Literaturgeschichte läßt sich daher auf ein merkwürdig einfaches Schema bringen: drei große Wellen in Berg und Tal, in regelmäßiger Abfolge.“ 7 Das mündliche Heldenepos um 600, die mittelhochdeutsche Literatur um 1200 sowie die deutsche Klassik um 1800 bilden demnach die drei Höhepunkte der deutschen Literaturgeschichte. Die Moderne, folgt man dieser Dramaturgie, stand gerade am Beginn einer längeren Talfahrt. Scherer drückt die historiographische Idee vor allem in einer organisch-pflanzlichen Metaphorik aus und spricht von sogenannten Blütezeiten, 8 wobei es eigentlich nur zwei tatsächliche „Blütezeitenperioden“9 gegeben habe, die der mittelhochdeutschen und die der klassischen Literatur. Für die Zeit um 600 fehlten die Zeugnisse, was sie nicht unbedeutender mache, weil in ihr die germanische Mythologie ihren Urspung habe, die für die folgende deutsche Literatur befruchtend geworden sei. Die Wellen-Dramaturgie, eine anschauliche Metaphorik und ein sprachmächtiger Autor, der Allgemeines und Besonderes in seinen stilistisch glanzvollen Erzählungen verbindet, ganz dem erzählerischen Niveau des neunzehnten Jahrhunderts entspricht und es getrost mit anderen Wis_____________ 6 7 8 9
Koischwitz, Die Revolution in der deutschen Literaturwissenschaft, S. 15, der an beiden Biographien den Übergang von der philologisch-positivistischen zur geistesgeschichtlichtypologischen Methode veranschaulicht; ähnlich Kästner in vorliegender Arbeit S. 105f. Wilhelm Scherer, Geschichte der deutschen Literatur, Berlin 151922, S. 20. Ebd., S. 18, 22, 54, 79, 81, 99, 188, 239, 318, 719. Ebd., S. 18.
1. Arno Holz’ Dafnis im Bann der Blütezeiten
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senschaftsprosaisten wie Theodor Mommsen hätte aufnehmen können, trugen dazu bei, dass die Geschichte der deutschen Literatur zu einem „Hausbuch des gebildeten Bürgertums“10 wurde. So sehr man sich jedoch an der schönen alten Zeit erfreuen konnte, so sehr machte Scherer auch deutlich, dass sie zwar nicht endgültig vorbei sei, aber so schnell auch nicht wiederkomme. Wer nicht selbst Anspruch erhob, sich in die Literaturgeschichte einzuschreiben, nahm Scherers Erzählung samt ihrer Helden als dankbares Angebot an, um sich eine kulturelle Identität aus dem Geist der vergangenen Literatur zu schaffen. Scherer war sicherlich nicht der einzige Literaturhistoriker mit dieser Auffassung, jedoch verlieh er am wirksamsten der allgemeinen Tendenz Ausdruck. Dass die Tendenz, die deutsche Literatur seit Goethes Tod in einem Verfallsprozess zu sehen, auch von poetischen Autoren anerkannt wurde, wird am großen Thema der Epigonalität deutlich. Mit den Naturalisten traten Autoren auf den Plan, die ihre Verfallssituation umzudeuten suchten. Dass sie es überhaupt taten, zeigt ihre Befangenheit in den Deutungskategorien der Literaturgeschichtsschreibung. Um sich selbst zu legitimieren, erhoben sie auch die von Scherer im Verfall begriffenen Autoren der deutschen Literaturgeschichte, darunter besonders die Barockpoeten, zu neuer Größe. Arno Holz’ Dafnis ist daher beides zugleich: Korrektur des Urteils über die deutsche Literaturgeschichte des siebzehnten Jahrhunderts und Befreiung aus eigener epigonaler Situation um 1900. 1.1. Holz und die Literaturhistoriker seiner Zeit „Modern sei der Poet“11, lautet ein programmatischer Vers von Arno Holz aus dem Jahr 1884. Das Buch der Zeit von 1885 führt den Untertitel Lieder eines Modernen, und 1886 verkündete der spätere Kieler Germanistikprofessor Eugen Wolff – wie Holz 1863 geboren und 1929 gestorben – die literarische Moderne. 12 Vornehmlich für die naturalistischen Anfänge _____________ 10 11 12
Wie aus eigener Erfahrung weiß: Ernst Robert Curtius, Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter, Tübingen/Basel 111993, S. 507. Das Zitat stammt aus dem Gedicht Berliner Schnitzel, entstanden 1884, gedruckt zuerst in Wilhelm Arent (Hg.), Moderne Dichter-Charaktere, Berlin 1885, S. 148. Arno Holz’ andere Gedichte ebd., S. 136–162. Eugen Wolff, Die Moderne. Zur ‚Revolution‘ und ‚Reform‘ der Literatur, in: Deutsche academische Zeitschrift. Organ der ‚Deutschen academischen Vereinigung‘ 3, Nr. 33, Berlin, 26. September 1886, Erstes Beiblatt und Zweites Beiblatt, erneut: Ders., Die jüngste deutsche Litteraturströmung und das Princip der Moderne, Berlin 1888 (= Litterarische Volkshefte, Nr. 5). – Zu Wolffs Schrift, gehalten im Verein Durch!, s. Ariane Martin, Die kranke Jugend. J. M. R. Lenz und Goethes „Werther“ in der Rezeption des Sturm und
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III. Kritik germanistischer Literarhistorie
dieser weit ins zwanzigste Jahrhundert reichenden Moderne 13 waren die konfliktreichen Beziehungen prägend, die sich zwischen den Angehörigen der sich als Disziplin etablierenden Germanistik und Vertretern des literarischen Feldes abspielten, wobei meist Letztere, wie die Beispiele Eugen Wolff, Johannes Schlaf (1862–1941) oder Ludwig Jacobowski (1868– 1900) zeigen, selbst der Disziplin angehörten oder abtrünnig geworden waren. Der Streit Wolffs mit Konrad Burdach war nur der bekannteste. 14 Auch die Einspeisung von Pseudo-Editionen wie Wilhelm Arents Reinhold Lenz. Lyrisches aus dem Nachlaß. Aufgefunden von Karl Ludwig (1885) in den disziplinären Diskurs gehörte zu den vielen Auseinandersetzungen zwischen disziplinären und außerdisziplinären Literaturhistorikern.15 Holz selbst suchte den Konflikt mit der Zunft. Obwohl er in Wolffs Die jüngste deutsche Litteraturströmung und das Princip der Moderne als Moderner empfohlen worden war, 16 sah der Berliner Germanist Richard M. Meyer in Die deutsche Litteratur des neunzehnten Jahrhunderts (1900) bei Holz mehr Altes als Neues. Holz verfasste eine umfangreiche Streitschrift gegen den ‚Makulaturprofessor‘, 17 die zudem ein dichterisches Pendant kennt: „Dieser Knote und Banause! | Finden Sie nicht auch Herr Krause? | Sowas flext nun ‚Poesie‘ – | alles graue Theorie!“ 18 Dass Holz in Spannung zur Disziplin, insbesondere ihrer Berliner Fraktion von ‚Schmidt & Co‘ (Holz), stand, ist für das Verständnis seiner Autorschaft nicht unwesentlich: „Ich _____________
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Drang bis zum Naturalismus, Würzburg 2002, S. 317–320. – Zu Wolff s. Lothar Schneider, Eugen Wolffs Dilemma, in: Barner/König (Hg.), Jüdische Intellektuelle und die Philologien in Deutschland, S. 103–109 Zum Verhältnis von Naturalismus und Moderne s. Ingo Stöckmann, Der Wille zum Willen. Der Naturalismus und die Gründung der literarischen Moderne 1880–1900, Berlin/New York 2009 (= Quellen und Forschungen zur Literatur- und Kulturgeschichte, 52). Vgl. ausführlich Dorit Müller, „Lufthiebe streitbarer Privatdocenten“. Kontroversen um die theoretische Grundlegung der Literaturwissenschaft (1890–1910), in: Ralf Klausnitzer/Carlos Spoerhase (Hg.), Kontroversen in der Literaturtheorie/Literaturtheorie in der Kontroverse, Bern 2007 (= Publikationen zur Zeitschrift für Germanistik, 19), S. 149–169. Ariane Martin, Biographische Travestien. Formen künstlerischer Selbstinszenierung in der Moderne, in: Günter Helmes/Ariane Martin/Birgit Nübel (Hg.), Literatur und Leben. Anthropologische Aspekte in der Kultur der Moderne. FS Helmut Scheuer, Tübingen 2002, S. 117–129, hier S. 120–125. Erich Schmidt, der das Bändchen als „Machwerk“ (ebd., S. 121, zitiert aus: Beilage zur Allgemeinen Zeitung, 18.10.1884) identifizierte, war deshalb noch lange kein Feind der Naturalisten. – Zur Travestie um 1900 allgemein s. Peter Sprengel, Geschichte der deutschsprachigen Literatur, 1890–1918. Von der Jahrhundertwende bis zum Ende des Ersten Weltkriegs, München 2004, S. 591–596. Wolff, Die jüngste deutsche Litteraturströmung und das Princip der Moderne, S. 32, schreibt, Holz habe der „modernen Poesie ein donnerndes Wiegenlied gesungen“. Vgl. Arno Holz, Dr. Richard M. Meyer, Privatdozent an der Universität Berlin, ein litterarischer Ehrabschneider, Berlin 1900. Arno Holz, Die Blechschmiede, Dresden 1921, S. 31, und mit einer antisemitischen Spitze: „Doktor Richard Moses Meyer | spuck mir nicht in meine Leyer. | Was? Du spuckst? Bei meinem Gaul! | Ritschratsch rum und dir ins Maul!“ (Ebd. S. 31f.)
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gehe davon aus, dass seit Jahr und Tag ein ‚System‘ gegen mich existiert, und dass Herr Richard M. Meyer eine der Stützen dieses Systems ist.“19 Vor allem der Dramatiker Holz hing von zwei wichtigen Stützen dieses Systems ab: den von Erich Schmidt ausgebildeten Bühnendirektoren Otto Brahm (Berlin) und Paul Schlenther (Wien). Es wäre naiv, hieraus den Schluss zu ziehen, Holz habe ein grundsätzlich negatives Verhältnis zur Disziplin eingenommen. In Leipzig und später in Kiel fand er Unterstützer für seine Nobelpreiskandidatur. Bei der Deutschen Schillerstiftung setzten sich nicht nur weniger repräsentative Germanisten wie Otto Erich Lessing von der State University of Illinois, sondern auch Erich Schmidt für ihn ein.20 Holz’ Fall zeigt vielmehr die Bezogenheit eines Dichters auf die Germanistik als der Sachverwalterin der Literaturgeschichte, eines Dichters, der sein Selbstverständnis aus der Rolle bezog, die er in dieser Literaturgeschichte spielen wollte. Für seine Beziehung zur Fachwissenschaft ist es gleichgültig, dass Holz nachweislich keine akademische Bildung genossen hatte. Der große Neuerer, der er sein wollte, bedurfte der Literaturgeschichte als Folie seiner Poesie. Die Geste des Neuerers, Gesetzgebers und Entdeckers, welche Holz’ Beiträge zur Poetik kennzeichnet, begann die Fachwissenschaft erst Jahre nach Holz’ eigentlichem Wirken ernster zu nehmen. Kritisch könnte man zuspitzen, dass eine solche Geste, wie man sie auch von Nietzsche kennt, eigens für den retrospektiven Blick der kommenden Literarhistoriker und nicht für die Zeitgenossen bestimmt war. Holz profitierte von germanistischen Diskursen, von denen er erfuhr, welche theoretische Methode des dichterischen Weltverständnisses ange_____________ 19 20
Holz, Dr. Richard M. Meyer, S. 11. Alfred Klein, Die Akte Arno Holz, Berlin [1965] (= Aus dem Archiv der Deutschen Schillerstiftung, 8), S. 5. Holz hatte gewichtige Unterstützer in Albert Köster und Paul Schlenther. Doch Holz’ Selbstverständnis als ‚deutscher Dichter‘ war ihm nicht immer förderlich. So lehnte er eine Zuwendung von 750 Mark, die auf den Antrag seines Jüngers Robert Reß zurückging, „wegen der Kärglichkeit der Summe“ 1913 ab (ebd., S. 9, Zitat S. 12). Holz erreichte zunächst das genaue Gegenteil und erhielt die Summe als Pension über drei Jahre. Sein weiteres Verhalten bleibt allerdings schwer nachvollziehbar. Als die Pension 1916 verlängert wurde, lehnte er erneut ab, weil er „sonst ein System gutheißen würde, das ich, wie die bereits wiederholt Voraufgenannten auf das schärfste anklage und auf das denkbar allerentschiedenste bekämpfen muß“ (Arno Holz an die Deutsche Schillerstiftung am 15.11.1916, in: ebd., S. 20). Seine ablehnende Haltung erklärt sich zum Teil aus der für seine Begriffe zu geringen Summe, zum anderen aus dem Verdacht, man würde ihm nicht den nötigen Respekt zollen. Immerhin gehöre er ja nicht zu der ‚breiten Menge der Schwächlinge‘ (ebd., S. 19; Holz greift ein Zitat der Schillerstiftung auf). Nicht uninteressant ist der Versuch Friedrich Lienhards, zwischen Holz und der Schillerstiftung zu vermitteln, bei welcher Gelegenheit er auf 20000 weitere Schriftsteller in Deutschland verweist, die bedürftig seien (Friedrich Lienhard an Arno Holz am 5.1.1920, in: ebd., S. 28–30). Holz’ „Halsstarrigkeit“ führte letztlich dazu, dass er den ‚Kampf‘ gegen die Schillerstiftung verlor (Alfred Klein, in: ebd., S. 35).
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III. Kritik germanistischer Literarhistorie
sagt war. Seine Poetik Die Kunst, ihr Wesen und ihre Gesetze (1891) und die Prinzipiensemantik in Revolution der Lyrik (1899) 21 stehen im Kontext des Positivismus;22 der Versuch, allgemeine Kausalitätsgesetze für die historische Welt zu formulieren, ist bei prominenten Literaturwissenschaftlern anzutreffen, die ihn etwa im philosophischen Diskurs der Zeit legitimiert fanden. John Stuart Mill darf in diesem Kontext nicht unerwähnt bleiben. Der Einwand, Holz hätte sich auch direkt auf Mill oder die Franzosen beziehen können, übersieht, dass die Vorliebe für das Postulieren positivistischer Gesetze auf dem Gebiet der Literatur von einer positivistischen Germanistik gängig gemacht worden war. Auch wenn man nicht bereit ist, der Disziplin eine Vorgängigkeit zuzusprechen, wird man eingestehen, dass disziplinärer und außerdisziplinärer Diskurs über die Poetik auf derselben Grundlage stattfanden. Vor allem Wilhelm Scherer ist als „Vermittler positivistischer Theoreme“ 23 für die Naturalisten und für Holz im Besonderen von anerkannter Bedeutung, 24 auch wenn sich bei Holz keine spezifischen Übernahmen aus Scherers poetologischem Denken finden lassen. Diese könnte man aber andernorts finden: Nicht zufällig erinnert Holz’ Poetik Die Kunst, ihr Wesen und ihre Gesetze an Hermann Braungarts Handbuch der Poetik (1887).25 Die Idee, ein Kunstgesetz formulieren zu wollen, entspricht dem positivistischen Erkenntnisinteresse der Wissenschaft vor 1900 und findet sich bei Scherer genauso wieder wie bei dem Junggrammatiker Hermann Paul, dessen Prinzipien der Sprachgeschichte (1880), insbesondere die Ausführungen zur Satzperspektive im sechsten Kapitel, mit großer Sicherheit dazu beitrugen, dass Holz ein klares Bewußtsein entwickelt hat für einen gezielten Umgang mit dem eigentümlichen Potential der Sprache, Vorstellungen und deren gewünschten Ablauf schon auf der Satzebene beim Leser in einer gesteuerten Form mittels des präzisen Einsatzes syntaktischer Strukturen hervorzurufen. 26
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Z. B. Arno Holz, Revolution der Lyrik, Berlin 1899, S. 24. Zu Holz’ Kunstgesetz im Kontext des Positivismus s. Gunther Witting, Anmerkungen zu einem Kunstgesetz. Arno Holz und Wilhelm Worringer, in: Ernst Rohmer/Werner Wilhelm Schnabel/Gunther Witting (Hg.), Texte, Bilder, Kontexte. Interdisziplinäre Beiträge zu Literatur, Kunst und Ästhetik der Neuzeit, Heidelberg 2000 (= Beihefte zum Euphorion, 36), S. 43–61, bes. S. 43–52, und Hanno Möbius, Der Positivismus in der Literatur des Naturalismus. Wissenschaft, Kunst und soziale Frage bei Arno Holz, München 1980. Ebd., S. 13, s. ferner ebd., 26f. und 71. – Ausführlich s. Winthrop H. Root, Naturalism’s debt to Wilhelm Scherer, in: The Germanic Review 11 (1936), S. 20–29. Im Verein Durch! wurde er mit Scherers Theoremen bekannt, vgl. Helmut Scheuer, Arno Holz im literarischen Leben des ausgehenden 19. Jahrhunderts (1883–1896). Eine biographische Studie, München 1971, S. 85. Vgl. Markwardt, Geschichte der deutschen Poetik, Bd. 4, S. 501. Gesine Leonore Schiewer, Poetische Gestaltkonzepte und Automatentheorie. Arno Holz – Robert Musil – Oswald Wiener, Würzburg 2004, S. 171.
1. Arno Holz’ Dafnis im Bann der Blütezeiten
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In seiner Schrift Die befreite deutsche Wortkunst, mit der sich Arno Holz 1921 dem Germanisten Julius Petersen für den Literaturnobelpreis empfahl, 27 definiert er seine Leistung als eine ganz und gar literaturgeschichtliche: „Die deutsche Dichtung, so lehrt man in allen Schulen, hatte zwei Blütenalter: Minnesang und sogenannte Klassik!“ 28 Es handelt sich um die eingangs vorgestellte These Scherers, dem Vorvorgänger Petersens auf dem Berliner Lehrstuhl. Holz affirmiert diese These mit zwei Ansichten von Karl Goedeke (1814–1887) „– von unseren sämtlichen Literaturhistorikern der fraglos verläßlichste –“ 29 und dem Kieler Germanisten Friedrich Kauffmann. Folgt man Goedeke und Kauffmann, so habe bisher die gesamte Literaturgeschichte in der Abhängigkeit von fremden Mustern gestanden. Mit der für Holz typischen Schamlosigkeit, die eigene Bedeutung zu verkünden, heißt es in Die befreite deutsche Wortkunst, dass die eigentliche Emanzipation von den fremden Mustern erst durch ihn selbst, Holz, erfolgt sei – er habe die deutsche Literatur, d. h. die Wortkunst, von den Mustern, ‚Schablonen und Schemata‘ befreit, 30 die zwischen dem Dichter und seinem Ausdrucksbedürfnis gestanden hätten: Die deutsche Wortkunst wurde durch mein Ringen, dessen grundlegende Dokumente, praktisch wie theoretisch, schwarz auf weiß vorliegen, im entscheidenden Durchbruch, auf den es einzig und allein ankommt, befreit und wird nun […] die Weltliteratur endlich befruchten, nachdem sie bisher, formal, und damit natürlich nicht bloß formal, nur immer von ihr befruchtet wurde! 31
Entscheidend für die Beurteilung dieser Aussage ist nicht, ob sich Holz im Recht befand. Dass sein Selbstverständnis als Dichter derart stark von literaturgeschichtlichen Thesen der Germanistik determiniert war, stellt die paradoxe Besonderheit dieses sich revolutionär gebärdenden Autors dar; und wie in jeder Revolution ging es auch in dieser darum, sich aus _____________ 27
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Vgl. Arno Holz an Julius Petersen 1921–1922 [DLA Marbach A:Petersen D 62.235/1–10]. Zu diesem Briefwechsel bemerkt Petersen gegenüber seinem Freund Kippenberg: „Du fragst nach dem Nobelpreis. Darüber besitze ich einen äusserst interessanten Briefwechsel, dessen Veröffentlichung ich einem Literarhistoriker der Zukunft vorbehalte“ (Julius Petersen an Anton Kippenberg am 12.1.1923, in: Kippenberg, Der Briefwechsel mit Julius Petersen, S. 218f., hier S. 218). Arno Holz, Die befreite deutsche Wortkunst, Wien/Leipzig 1921, S. 9. – Zur Blütezeitentheorie mit Blick auf Scherer s. Wolfgang Pfaffenberger, Blütezeiten und nationale Literaturgeschichtsschreibung. Eine wissenschaftsgeschichtliche Betrachtung, Frankfurt a. M. 1981 (= Europäische Hochschulschriften. Reihe 1, Deutsche Sprache und Literatur, 353), S. 256–272. – Scherer hat das Konzept übernommen von Gervinus, Geschichte der deutschen Literatur, Bd. 1, S. 15. Holz, Die befreite deutsche Wortkunst, S. 9. Vgl. Holz, Die befreite deutsche Wortkunst, S. 15. Ebd., S. 13. – Zu Holz’ Formkonzept s. einführend Burdorf, Poetik der Form, S. 369–404.
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III. Kritik germanistischer Literarhistorie
einer unmündigen Situation, sobald erkannt, zu befreien. Die Blütezeitentheorie, die heute eher metaphorologisch und wissenschaftsgeschichtlich von Bedeutung ist, besaß für Holz die Gültigkeit einer wissenschaftlichen Erkenntnis und war nicht willkürliche germanistische Setzung. Um sich von diesem Alb zu befreien, diskreditierte Holz die Blütezeiten der deutschen Literatur als fremdbestimmt. Doch selbst die These einer Heteronomie der deutschen Dichtung war um 1900 topisch und als Argument legitim. Scherer hat zwar das Wirken Herders und der Romantik als emanzipatorisch gewürdigt, musste aber für die Klassik weiterhin heteronome Formgebungen anerkennen.32 Holz argumentiert also mit und gegen Scherer zugleich für die Durchsetzung seiner ästhetischen Politik. Petersen, der in seiner Jugend von Holz’ Buch der Zeit (1886) noch angetan gewesen war, ließ sich, wie erwähnt, im Gegensatz zu seinen Kollegen Köster (Leipzig) und Wolff (Kiel) kaum von Holz’ literaturgeschichtlicher Rolle beeindrucken – vielleicht, weil er sich nicht mehr seiner Generation zugehörig fühlte.33 Keinesfalls hat Holz, der in permanenter Geldnot war, seine Bedeutung erst 1921 derart offensiv vorgetragen. Der Gestus des literaturgeschichtlichen Revolutionärs war stets das Charakteristikum seiner Autorschaft. Ein Gedicht, das 1928 in der Königsberger Hartungschen Zeitung (Nr. 235) Holz als ‚geistigen Umstürzler‘ in die Tradition Gottscheds, Kants, E.T.A. Hoffmanns, Herders und Hamanns stellte – wobei Ausgangspunkt der Reihe wohl die gemeinsame ostpreußische Herkunft der Genannten ist –, lag ganz in Holz’ Sinne. 34 Die Stelle aus dem ‚Goedeke‘, in der die „Abhängigkeit der deutschen Dichtung, die bis auf die Gegenwart fortdauert“ 35, betont wird, hatte er bereits in der Vorrede zum Ignorabimus (1913), einer Auseinandersetzung mit Emil du Bois Reymonds Wissenschaftskonzept,36 diskutiert, und es wird sich zeigen, dass von dem Buch der Zeit an Holz in Spannung zur Literaturgeschichte gestanden hatte und aus ihr sein Selbstverständnis bezog. _____________ 32 33 34 35
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Scherer, Die deutsche Litteraturrevolution, in: Wacker (Hg.), Sturm und Drang, S. 17–24. Diesem Gedanken entspricht Petersens historiographisches Konzept der literarischen Generation, vgl. Ders., Die literarischen Generationen, Berlin 1930. Verfasser ist Ludwig Goldstein. Abgedruckt in: Bruno Sauer (Hg.), Arno Holz. Ausstellung zum 100. Geburtstage des Dichters, Berlin 1963, unpaginiert. Holz, Die befreite deutsche Wortkunst, S. 9, und Karl Goedeke, Grundrisz zur Geschichte der deutschen Dichtung aus den Quellen, Bd. 2: Vom dreiszigjährigen Kriege bis zum Weltkriege, Dresden 1862, S. 443, und Ders., Grundrisz zur Geschichte der deutschen Dichtung aus den Quellen, Bd. 3: Vom Dreiszigjährigen bis zum Siebenjährigen Kriege, 2., ganz neu bearbeitete Auflage, Dresden 1887, S. 39. Arno Holz, Vorwort, in: Ders., Berlin. Die Wende einer Zeit in Dramen. Ignorabimus. Tragödie, Dresden 1913, S. III–XIV, hier S. XII. Das Exemplar der Berliner Staatsbibliothek [Ys 41353] ist das Widmungsexemplar für Herwarth Walden.
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Holz übersah in seiner Kritik der Muster und Schemata, ‚der Notwendigkeit gewordenen Willkür‘ 37, dass die Disziplin, auf die er sich berief, jene literaturgeschichtliche Entwicklungslogik, aus der es sich zu befreien galt, konstruiert hatte. Damit ging er methodisch mit der literarhistorischen Abteilung des Faches konform. Seine Kritik der disziplinären Philologie betraf mehr Äußerlichkeiten wie sinnlose Kärrnerarbeiten. Das Gedicht Unser Wortschatz greift die von philologischer Seite hergestellte Faktizität auf: „Die Philologen, die sich stritten, | Rechneten Wort für Wort zurück | Und sahn: der Schatz des grossen Britten, | Umfasste fünfzehntausend Stück!“ 38 Die Tradition und ihre zur Konvention gewordenen Ausdrucksformen schwebten nicht im luftleeren Raum, sondern waren zu konkreten Gegenständen der disziplinären Germanistik geworden. Die Macht der Tradition überschnitt sich mit der Macht der Literaturgeschichtsschreibung. Implizit lässt sich diese Überschneidung an den Werken analysieren, die mit Fragen der literarischen Tradition zu tun haben. Explizit hat Holz das epistemologische Problem nicht zur Sprache gebracht. Seine Beziehung zur Disziplin war ohnehin eher affektiv, einer Hassliebe nicht unähnlich. Holz, der zwar hin und wieder heftig gegen die Disziplin polemisierte, hielt an ihr fest, solange sie seinem Ruf als Dichter nicht schadete. Zu seinem sechzigsten Geburtstag spätestens, als ihm die Universität Königsberg die Ehrendoktorwürde verlieh, schien Holz mit der Literaturwissenschaft seinen Frieden gemacht zu haben. Zu den Bewunderern gehörten nicht nur der Freund aus Jugendtagen, Eugen Wolff,39 sondern auch national eingestellte Germanisten der nächsten Generation wie Friedrich von der Leyen. 40 Diese Spannung von Affirmation und Kritik bleibt zu berücksichtigen. 1.2. Der Neuerer Der revolutionäre Anspruch von Arno Holz kündet von zwei Motivationen: nicht epigonal zu sein und keinesfalls den Eindruck erwecken zu _____________ 37 38 39 40
Holz, Die befreite deutsche Wortkunst, S. 16. Arno Holz, Unser Wortschatz, in: Ders., Buch der Zeit, S. 403. Ferdinand Avenarius/Max Liebermann/Max von Schillings (Hg.), Arno Holz und sein Werk. Deutsche Stimmen zu seinem 60. Geburtstage, Berlin 1923, S. 8. Vgl. Friedrich von der Leyen in: ebd., S. 48: „Wenn Deutsch sein heißt, mit der Hingabe seines ganzen Selbst leidenschaftlich nach der Erkenntnis suchen, und unbeirrbar durch keine Mißerfolge gebeugt, unter Beiseitesetzung des äußeren Ruhmes und Ansehens, nur der Sache dienen – ohne je auf den Dank derer zu rechnen, denen man die Wege ins neue Land wies, arm, einsam und frei, dann ist Arno Holz einer der ersten Deutschen.“
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III. Kritik germanistischer Literarhistorie
wollen, man ignoriere die Tradition. Das zeigt sich im Werk selbst und in der Theorie. Arno Holz war sich seiner epigonalen Situation wie kaum ein anderer bewusst und Scherers Konzeption der Blütezeit einer Literatur war ihm das rote Tuch geworden, gegen das er ankämpfte. Das Buch der Zeit bekennt leitmotivisch, am Ende der Entwicklung zu stehen. In Zum Eingang, entstanden 1884, heißt es: „Dass unter allen Epigonen | just ich der allerletzte bin!“ 41 Neben dem Gedicht Frühling stehen Verse aus Ewald von Kleists Der Frühling (zuerst 1749), die die erdrückende Sprechsituation simulieren, aus der sich im Fortgang das lyrische Ich befreit, um Originalität und Neuartigkeit zu finden: 42 Wohl haben sie dich alle schon besungen Und singen dich noch immer an, o Lenz, Doch da dein Zauber nun auch mich bezwungen, Meld ich mich auch zur grossen Concurrenz. Doch fürcht ich fast, ich bin dir zu prosaisch, Aus meinen Versen sprüht kein Fünkchen Geist; Und denk ich gar an deinen Dichter Kleist, Klingt meine Sprache mir fast wie Havaïsch.
Eine andere Form der Auseinandersetzung ist die Parodie bekannter Gedichte und Stile, etwa wenn Holz im Gedicht Eichendorff die rhythmischmetrische Tonlage des Romantikers imitiert. 43 Durchgehend wird man den Eindruck nicht los, besonders in Präludium, Holz wolle zeigen, dass er sich in der Literaturgeschichte auskennt, wobei seine Anspielungen ironisch gebrochen sind. 44 Die Blechschmiede war für Holz schließlich das poetische Medium, die Literaturgeschichte parodistisch zu ‚verwursten‘. 45 Die Literaturgeschichte ist darin die Macht, an der sich der Sprecher abarbeitet, von der er nicht loskommt. Das gibt auch die Schrift Revolution der Lyrik zu erkennen, die das Alte in seiner jeweiligen Zeit gelten lässt. Die „Gewaltigen der Geschichte“ 46 hätten Großes geleistet: _____________ 41 42 43 44 45
46
Arno Holz, Buch der Zeit. Lieder eines Modernen, Berlin 21892 [zuerst 1886], S. 5. Ebd., S. 25f., hier die erste Strophe S. 25. Ebd., S. 151–155. Ebd., S. 292–315. Vgl. Klaus Conermann, „Dafnis“. ‚Lyrisches Portrait aus dem 17. Jahrhundert‘. Die Barockrezeption von Arno Holz in ihren literarischen und geistigen Zusammenhängen, Bonn 1969, S. 51; Arno Holz, Werke, Bd. VII: Die Blechschmiede II, hg. v. Wilhelm Emrich, Neuwied a. Rh. 1964, S. 385f.: „aus der ganzen verstockten, aus der ganzen | schon vor anno Opitz | verbockten, | aus der ganzen | verdammten, verschlammten | angestammten | sogenannten Deutschen Literatur | wird | Wurscht gemacht!“ – Vgl. zu dieser Literatursatire romantischer Provenienz Erwin Rotermund, Die Parodie in der modernen deutschen Lyrik, München 1963, S. 87–99. Holz, Revolution der Lyrik, S. 25.
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Kein Ruhm der alten Zeit wird dadurch, daß ich heute auch in der Lyrik ihre alten Formen für altes Eisen deklariere, angetastet. Auch ich […] weiß ein goethesches Lied über einen Schmarren von Ludolf Waldmann zu stellen und in meinem Schädel befindet sich ein Archiv, mit lyrischen Wunderwerken gewesener Generationen so vollgepfropft, daß ich wirklich davon überzeugt bin, es wird in ihrer Art Köstlicheres nie geschaffen werden. 47
In einem Brief an Richard von Schaukal erläuterte Holz diese Ansicht erneut: „Die Form Otfrieds, wie jede Form, hatte eine bestimmte Größe. Die Form, die ich heute will, wie jede Form, hat ebenfalls wieder eine bestimmte Größe.“ 48 Holz übersieht auch hier, dass seine eigene dichterische Form aus der historisch-philologischen Perspektive überhaupt erst möglich geworden war. Denn nur diese Perspektive reflektiert die Historizität aller Formen. Den Neuerungsbewegungen der Moderne gemeinsam war die literaturgeschichtliche Rückbindung einzelner ihrer Dichtungen an weniger beachtete Epochen, also alle anderen als die beiden Blütezeiten der höfischen Dichtung des Mittelalters und der Weimarer Klassik. Die Idee einer literarischen Revolution war seit Goethes Urteil in Dichtung und Wahrheit (Buch 11) mit dem Sturm und Drang verbunden. Der Vergleich der deutschen Naturalisten mit Dichtern der 1770er Jahre 49 motivierte nicht wenig das bis zu Holz tönende Revolutionspathos, das die Befreiung von der bisherigen Formensprache begleitete. 50 Auch die anderen Epochen wurden in den Dienst genommen. Holz’ Titel Phantasus (1899) verweist auf Ludwig Tiecks gleichnamige Sammlung und damit auf die Epoche der Romantik, die, obzwar von der Blütezeit der Klassik nicht immer abgrenzbar, als Strömung keinen guten Ruf genoß und erst mit dem germanistischen Methodenumbruch von 1910 rehabilitiert wurde. 51 Vor allem aber Barock und Rokoko, also jene Epochen vor der Weimarer Klassik, waren es schließlich, für die sich Holz interessierte.52 _____________ 47 48 49 50
51 52
Ebd., S. 26. Arno Holz an Richard Schaukal am 21.5.1900, in: Arno Holz, Briefe. Eine Auswahl, hg. v. Anita Holz/Max Wagner. Mit einer Einführung von Hans Heinrich Borcherdt, München 1948, Nr. 79, S. 126. S. Martin, Die kranke Jugend. Dazu im Kontext Klaus Scherpe, Der Fall Arno Holz. Zur sozialen und ideologischen Motivation der naturalistischen Literaturrevolution, in: Gert Mattenklott/Klaus Scherpe (Hg.), Positionen der literarischen Intelligenz zwischen bürgerlicher Reaktion und Imperialismus, Kronberg 1973, S. 121–178. So waren beispielsweise Rudolf Unger und Oskar Walzel Romantikspezialisten. Zur Barockrezeption in Kunst und Wissenschaft s. Gisela Luther (Hg.), Barocker Expressionismus? Zur Problematik der Beziehung zwischen der Bildlichkeit expressionistischer und barocker Lyrik, The Hague 1969 (= Stanford studies in Germanics and Slavics, 6); Knut Kiesant, Die Wiederentdeckung der Barockliteratur. Leistungen und Grenzen der Barockbegeisterung der zwanziger Jahre, in: König/Lämmert (Hg.), Literaturwissenschaft und
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III. Kritik germanistischer Literarhistorie
Der Rekurs auf das siebzehnte Jahrhundert bzw. den Barock kann ein kulturhistorisch-bibliophiles Interesse, Klassikfeindlichkeit oder den Wunsch nach einer alternativen Tradition anzeigen. 53 Zu beachten sein wird, dass sich Autoren über eine solche Bezugnahme in Konkurrenz zu einer germanistischen Disziplin begaben, deren Autoren ebenfalls für sich beanspruchten, das Feld der deutschen Literaturgeschichte zu bewirtschaften. Die naturalistischen Dichter, als sie das Feld der barocken Literatur entdeckten, fanden es allerdings von den Kollegen der wissenschaftlichen Zunft vernachlässigt vor. Aber nicht allein die verhältnismäßig große Missachtung durch die Disziplin machte das siebzehnte Jahrhundert reizvoll. Holz hatte sich als Dichter mit seiner revolutionären Programmatik zudem in eine Sackgasse manövriert. Die Programmschrift Revolution der Lyrik (1899), die die eingespielten lyrischen Konventionen wie Reim und Metrum, denen er im Buch der Zeit selbst noch gefolgt war, im Zeichen des Rhythmus aufbrechen sollte, 54 verschloss dem Autor jede Möglichkeit – wollte er weiterhin als Theoretiker ernst genommen werden –, Verse nach traditionellen Mustern zu bauen, wie sie seit dem siebzehnten Jahrhundert im Deutschen üblich gewesen waren. Um nicht mit sich selbst in Widerspruch zu geraten und als vormodern zu gelten, aber auch um die revolutionäre Formgebung des Phantasus nicht als Episode erscheinen zu lassen, sondern als endgültige Umwälzung zu erweisen, verließ Holz die eigene Zeit und kehrte dorthin zurück, wo metrisch geregelte Verse im Deutschen ihren Anfang genomen hatten: ins siebzehnte Jahrhundert zu Martin Opitz. Mit der „ReimFestivität“55 des Dafnis befolgte Holz literaturgeschichtlich konsequent die von ihm aufgestellte literaturgeschichtliche Entwicklungslogik. Damit kam er seinem formalen Talent entgegen, „das sicher zu den größten der Epo_____________
53
54 55
Geistesgeschichte, S. 77–91. – Zum Rokoko s. Martin Schönemann, Rokoko um 1900. Beispiele von Historisierung in Literatur, Musiktheater und Buchkunst, Bremen 2004, und Conermann, „Dafnis“, S. 177–179. Der Vorliebe für das Rokoko um 1900 ist geschuldet, dass die im Dafnis dargestellte Bukolik anakreontisch interpretiert wird (Sprengel, Geschichte der deutschen Literatur, S. 592). Überhaupt ist das Durcheinander der Zeiten eine „Quelle der Komik bei Holz“ (Gerhard Schulz, Arno Holz. Dilemma eines bürgerlichen Dichterlebens, München 1974, S. 135). Herbert Jaumann, Der Barockbegriff in der nichtwissenschaftlichen Literatur- und Kunstpublizistik um 1900, in: Klaus Garber (Hg.), Europäische Barockrezeption, Teil 1, Wiesbaden 1991, S. 619–633, hier S. 628. – Zur literarischen Rezeption der Literatur des siebzehnten Jahrhunderts s. Eberhard Mannack, Barock in der Moderne. Deutsche Schriftsteller des 20. Jahrhunderts als Rezipienten deutscher Barockliteratur, Frankfurt a. M. 1991. Ausführlich zu Holz’ Rhythmus-Begriff, auch mit Blick auf die bisherige Diskussion, s. Schiewer, Poetische Gestaltkonzepte und Automatentheorie, S. 181–250. Vgl. Conrad Wiedemann, Schwierigkeiten mit „Dafnis“. Gedanken zu den Barocknachdichtungen von Arno Holz, in: Text und Kritik 121 (1994), S. 84–95, hier S. 92.
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che gehörte“ 56. An Holz’ Changieren zwischen revolutionärer und konventioneller Versdichtung ließe sich sehr gut die poetische Funktion Roman Jakobsons veranschaulichen. Sobald Holz im Phantasus oder in Die Blechschmiede auf die konventionellen Bindungsverfahren Reim und Metrum verzichtet, regiert das Wiederholungsprinzip verstärkt die syntaktische und die lautliche Ebene. Die Wiederholung von Einheiten, die in einer bestimmten Hinsicht äquivalent sind, deutet auf Holz’ sprachspielerische Neigung. Holz’ eigene Argumentation, wie sie hier rekonstruiert wurde, lautet natürlich anders: Wer in der Moderne wie im siebzehnten Jahrhundert dichte, habe die Zeichen der Zeit verpasst und sei anachronistisch, es sei denn, er übernehme nicht nur Metrum und Reim, sondern das gesamte Bildprogramm, Wortschatz, Syntax und Sprache dieser Zeit. Tatsächlich schuf sich Holz Genres, in denen er tun konnte, was er programmatisch ablehnte. In seiner Sammlung Aus Urgroßmutters Garten. Ein Frühlingsstrauß aus dem Rokoko (1903) präsentierte Holz unkritisch und distanzlos jene Frühlingsgedichte, von denen sich das Buch der Zeit notwendig abgegrenzt hatte.57 Es blieb nicht allein bei der Anthologie, die das Ergebnis einer philologischen Praxis ist. Mit Dafnis, dem lyrischen Portrait eines Dichters, wie er im siebzehnten Jahrhundert existiert haben könnte, versucht Holz zeitgleich mit der Rokokosammlung nicht allein eine eigenständige philologische Rekonstruktion, sondern geht insofern über das siebzehnte Jahrhundert hinaus, als er die psychologische Disposition dieses Dichter-Subjekts aufdeckt, die in der literaturgeschichtlichen Empirie nicht nachweisbar ist, da die subjektive Gefühlswelt nicht Thema barocker Poesie war. Die literaturgeschichtliche Wirklichkeit ist stärker in die eigene Gegenwart einbezogen, als es zunächst scheint. Aus der Idee des Rollenspiels als lebensfroher Schäfer wird eine vitalistische Grunddisposition, die Authentizität einfordert, „aus der Wiederholungstendenz der Rolle die Obsession der Triebnatur“ 58. Impressionistische Stilmomente fließen ein, aber auch die Rokoko-Manier 59 der Jahrhundertwende prägt das Portrait, Anleihen werden bei „Wedekind, Wilhelm Busch oder dem Berliner Volksmund“ 60 gemacht. Besteht formal gesehen zu Holz’ Position in Revolution der Lyrik ein Widerspruch, der für ihn nur über die Verlagerung des Gegenstandes in die Geschichte aufhebbar ist, weil nur in ihr Reim und Metrum ihren legi_____________ 56 57 58 59 60
Wiedemann, Schwierigkeiten mit „Dafnis“, S. 88. Vgl. Arno Holz, Aus Urgroßmutters Garten, Dresden 1903, S. 9–12. Vgl. Wiedemann, Schwierigkeiten mit „Dafnis“, S. 90. Vgl. ebd., S. 85. – Ausführlich zur Integration von zeittypischen Tendenzen s. Conermann, „Dafnis“, S. 164–223. Vgl. Wiedemann, Schwierigkeiten mit „Dafnis“, S. 92.
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III. Kritik germanistischer Literarhistorie
timen Platz besäßen, kann andererseits festgestellt werden, dass sich Holz seiner naturalistisch-poetischen Aufgabe, Zeitbilder zu geben, widmete. Die „Porträtierung eines barocken Menschen“61 im Zeitbild knüpfte an Prinzipien des „naturalistischen Schreibens“ 62 an. Dafnis, aber ebenso der Phantasus sind laut Zymner „Versuche einer Weiterentwicklung eines strukturellen Naturalismus in der Endphase oder im Ausklang der eigentlich naturalistischen Bewegung“ 63, wo eine ‚historisierende Wende‘ zu konstatieren sei bei gleichzeitiger Aufwertung der lyrischen Gattung.64 Schon Conermann hatte auf die Nähe zum ‚historischen Naturalismus‘ aufmerksam gemacht. 65 Es gehe Holz darum, eine besondere Phase in der phylogenetischen Entwicklung des Menschen festzuhalten und dabei „den Ansprüchen positivistischer Exaktheit, wie sie dem alten Naturalismus entstammen, als auch den neuen erkenntnistheoretischen Auffassungen“66 wie derjenigen Ernst Machs gerecht zu werden. Dass Holz mit dem Fachpublikum rechnete, wenn er sich literaturgeschichtlich äußerte, zeigt die Widmung der Blechschmiede von 1920. An ihr ist aber nicht nur bedeutsam, dass sich das Werk an ‚Ausleger‘, ‚Ausdeuter‘, ‚Exegeten‘, ‚Interpreten‘, ‚Katecheten, ‚Experten‘, ‚Glossisten‘, ‚Marginalisten‘ und ‚Kommentatoren‘ richtet, sondern auch dass all die mit diesen Berufen angesprochenen hermeneutischen Praktiken disziplinär rückgebunden sind. Die Interpreten seien nicht nur ‚vernünftig‘, sondern auch ‚zünftig‘. 67 Wenn Holz das Feld der Literaturgeschichte betrat, dann musste er sich zur Disziplin verhalten, welche sich auf diesem eingerichtet hatte. Er redete also zu ihr; nicht nur über sie. So besitzen Die Lieder auf einer alten Laute, bekannt unter dem späteren Titel Dafnis, im Œuvre von Holz eine _____________ 61
62
63 64 65 66 67
Rüdiger Zymner, „Da ich weder ein gebohrner Schlesier / noch auß Meissen bün“. Die Lieder des ‚Schäfers Dafnis‘ (von Arno Holz), in: Jens Stüben (Hg.), Ostpreußen, Westpreußen, Danzig. Eine historische Literaturlandschaft, München 2007, S. 409–423, hier S. 418. Ebd., S. 419. – Wiedemann, Schwierigkeiten mit „Dafnis“, S. 87f., zeichnet den Zusammenhang von naturalistischer Programmatik und Dafnis mit einer gewissen Skepsis nach: „Nach der nicht allzu komplizierten Logik […] wäre demnach der ‚Phantasus‘ die pathetisch-positive Manifestation des Neuen, die ‚Blechschmiede‘ die parodistische Erledigung des Epigonalen als des falsch verstandenen Alten und der ‚Dafnis‘ die positive Vergegenwärtigung eines authentisch Gewesenen, wie es als Erinnerung in uns aufbewahrt ist. So jedenfalls könnte man es sich zusammenreimen“ (ebd., S. 87). Zymner, „Da ich weder ein gebohrner Schlesier / noch auß Meissen bün“, in: Stüben (Hg.), Ostpreußen, Westpreußen, Danzig, S. 419. Ebd. Conermann, „Dafnis“, S. 139–145. Zymner, „Da ich weder ein gebohrner Schlesier / noch auß Meissen bün“, in: Stüben (Hg.), Ostpreußen, Westpreußen, Danzig, S. 421. Holz, Die Blechschmiede, unpaginiert.
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quasidisziplinäre Funktion: Die Sammlung soll der Zunft beweisen, dass der Neuerer historisch reflektiert vorgeht und dass er wie in der Blechschmiede einen Wissensnachweis liefert, der den Dichter als Literaturhistoriker qualifiziert. Die Blechschmiede parodiert sowohl die Literaturgeschichte als auch die ihr Feld beackernde Disziplin. Diese wird nicht direkt, sondern indirekt mittels der von ihr kontrollierten historischen Sprachformen verspottet. Das Parodistische des Dafnis hingegen besitzt die Funktion eines Korrektivs. Korregiert werden soll mit poetischen Mitteln das Urteil, welches die Disziplin über das siebzehnte Jahrhundert gefällt hatte. Aufgrund der anachronistischen Überlagerung von Barock und naturalistischer Gegenwart wird zugleich das Urteil über die moderne Literatur korrigiert, d.h. verbessert. 1.3. Der germanistische Horizont des Dafnis und der Leser Arno Holz Es sind nicht bloß „die Selbsttäuschungen des einfühlenden Historismus“68, die Holz’ lyrisches Portrait mitreflektiert, sondern genauer die Selbsttäuschungen seiner philologisch-germanistischen Spielart. Nicht also die Epoche, sondern die für sie zuständige Disziplin wird ästhetisch mitausgestellt. Der Status von Holz’ Dafnis als Parodie barocker Gedichte ist ohnehin umstritten. 69 Sinnvoller wäre es von einer Schnittmenge von Möglichkeiten als von einer „Unter- oder Übererfüllung“ 70 der stilistischen Norm zu sprechen. Der ernsthafte Anspruch, epistemologisch Wahres über die Dichtung des siebzehnten Jahrhunderts auszusprechen, kennzeichnet Dafnis als Pastiche und nicht als Verspottung des barocken
_____________ 68
69 70
Wiedemann, Schwierigkeiten mit „Dafnis“, S. 94. Vgl. auch ebd.: „Es ist eine Parodie, die den zeitgenössischen Historismus und mit ihm den Autor selbst trifft.“ Dieser These schließt sich an Sabine Wagner, Letzte Ausfahrt Arkadien. Arno Holz’ Dafnis und die Reanimation der barocken Bukolik, in: Carola Hilmes/Dietrich Mathy (Hg.), Protomoderne. Künstlerische Formen überlieferter Gegenwart, Bielefeld 1996, S. 113–126, hier S. 123: „Der parodistische Effekt, den Holz gegenüber dem Authentizitätsanspruch des Historismus erzielt, entsteht nicht zuletzt aus dem Kunstgriff, anstelle der reinen Nachahmung einer mythologisierenden Literaturgattung ein fiktives Individuum seine eigene Zeit und Existenz als quasi-mythologische gestalten zu lassen.“ Vgl. Rotermund, Die Parodie in der modernen deutschen Lyrik, S. 76–87. Dagegen hält Schulz, Arno Holz, S. 129–142, hier S. 137f. Zymner, „Da ich weder ein gebohrner Schlesier / noch auß Meissen bün“, in: Stüben (Hg.), Ostpreußen, Westpreußen, Danzig, S. 415, vgl. ebd. S., 417: „Man kann also auch hier nicht von einer Parodie barocken Stils sprechen, sondern allenfalls von einer Instrumentalisierung einer Auffassung von barockem Stil zu besonderen Zwecken.“
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III. Kritik germanistischer Literarhistorie
Stils. 71 Ein parodistisches Verhältnis allerdings entsteht zwangsläufig zur anthologisch-disziplinären Sprechhaltung aus der inhärenten Struktur der diskursiven Formation um 1900. Anthologien, zu Deutsch Blumenlesen, waren zu diesem Zeitpunkt längst von der Germanistik als historistischer Wissenschaft vereinnahmt worden, sei es in der völligen Neuordnung oder in der Neuedition bestehender Anthologien. Das spezifisch germanistisch-philologische Moment der Lust, sich in eine andere Zeit hineinzuversetzen, ist die Begrenzung dieser Zeit auf ihre schöne Literatur. Die Geschichte als Blütenlese bildet den Konvergenzpunkt zwischen Wissenschaft und Poesie. Aus dem Rückblick der Befreiten deutschen Wortkunst sagt Holz über den konkreten Produktionsprozess aus, er habe sein Werk ‚ediert‘, 72 und gebraucht damit eine eindeutig philologisch besetzte Terminologie. Auch die Rezeption des Dafnis durch die frühen Anhänger von Holz positioniert das Werk im philologisch-disziplinären Kontext. Es gewinnt seine Würde durch den Zuspruch philologischer Eigenschaften. Kolportiert wurde, dass Holz auf dem Weg nach Bozen in einem Münchener Antiquariat einen von Franz Naager illustrierten Glückskalender entdeckt habe, den er mit eigens auf die Bilder verfassten Gedichten ergänzen wollte. 73 Aus diesem Plan soll sich der ganze Band in einer Entstehungszeit von drei Jahren entwickelt haben. Zur Legende gehört, dass sich bisher kein anderer Dichter „eifriger in Bibliotheken vergraben“ 74 habe als Holz für den Dafnis: „Berlin, Dresden, München, Göttingen, Straßburg, Breslau, Wolfenbüttel, Donaueschingen, Hamburg, Frankfurt am Main, Leipzig: aus allen vier Weltecken belud er seinen Schreibtisch mit alten Schweinslederscharteken.“75 Die Inszenierung nach Robert Reß kennt man auch von Philologen: „Es war ihm ergangen, wie jenem alten Mönchen der Legende! Der Gesang der lieblich Tirilierenden hatte ihn verlockt und Zeit und Weile hatten dann aufgehört um ihn zu ‚sein‘.“ 76 Holz’ Selbstanzeige spricht gar von der „Methode, ein Stück Leben künstlerisch so treu wie nur irgend möglich zu geben“ 77. _____________ 71 72 73 74 75 76 77
Vgl. ebd., S. 418. – Allgemein zur Parodie s. Theodor Verweyen/Gunther Witting, Die Parodie in der neueren deutschen Literatur. Eine systematische Einführung, Darmstadt 1979. Arno Holz, Die neue Form und ihre bisherige Entwicklung, in: Ders., Werke, Bd. 5, hg. v. Wilhelm Emrich, Neuwied a. Rh. 1962, S. 110–137, hier S. 134. Die Anekdote zur Entstehung des Dafnis berichtet Robert Reß, Arno Holz und seine künstlerische, weltkulturelle Bedeutung. Ein Mahn- und Weckruf an das deutsche Volk, Dresden 1913, S. 109–111. Ebd., S. 111. Ebd. Ebd. Zitiert nach ebd.
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Just in diesem Sinne hatte auch Albert Köster seine Studie zur Geharnschten Venus motiviert: Und den wahren Charakter einer Zeit, ihr Streben, ihre Sehnsucht, ihre Bedürfnisse, ihr tägliches Treiben, ihre Kunst, all ihre Vorzüge und Fehler lernt man doch erst dann recht kennen, wenn es gelungen ist, in das Seelenleben vieler Einzelmenschen wie in den Busen eines Freundes tief hineinzuschauen. 78
Holz’ hyperbolischer Grundton kehrt im Dafnis-Unterfangen wieder. Vom „Studium der grade verrufensten Zeit unsrer Lyrik“ 79 ist die Rede. Wohl kein Germanist jedoch, der sich vor Holz dem siebzehnten Jahrhundert zugewendet hatte, würde es als verrufen bezeichnet haben. Holz’ Selbstanzeige bezieht aus der Spannung zwischen philologischer Wissenschaft und Poesie die Semantik für seine eigene Unternehmung: Obgleich sie keine „gelehrte Ausgrabung in Form einer Anthologie“ 80 sei und obgleich Holz hier nicht wie sonst als ‚grauer Theoretiker‘ spreche, sei die Phantasieleistung seines „Charakter-, Kultur- und Sprachbild[es]“81 durch ‚Studium und Methode‘ dennoch legitimiert, also keine ungezügelte Erfindung. Die Selbstanzeige ist insofern wichtig, als sie das Werk gerade nicht als Parodie der Lyrik des siebzehnten Jahrhunderts, sondern als ernst zu nehmende Leistung ausweist. Gegenüber einer echten Anthologie, die aus der rein philologischen Sammeltätigkeit hervorgeht, habe der Dafnis, den man als eine fiktive Anthologie bezeichnen könne, die Lebendigkeit seines Wortes voraus. Bei ihm bestehe nicht die Gefahr, dass noch bei bester Auswahl die „Hälfte Staub“ 82 geblieben sei. Hans W. Fischer, der mit einer philologischen Arbeit zur Oneirokritik (Traumdeutung) in Jena promoviert worden war,83 sah sich in Dafnis „eine altmodische, wohlfundierte Gelehrsamkeit“ verbinden mit einer „abnorm entwickelte[n], nämlich Holzens Auffassungsgabe für das Sinnenfällige der Erscheinung und die Wirksamkeit des Ausdrucks.“84 Er bestimmte die „künstlerische Faktur des Buches“ als eine philologische, insofern die ‚bedachtsam gewählte‘ Orthographie und Interpunktion und die „pein_____________ 78 79 80 81 82 83
84
Albert Köster, Der Dichter der Geharnschten Venus. Eine litterarhistorische Untersuchung, Marburg 1897, S. 4. Zitiert nach Reß, Arno Holz und seine künstlerische, weltkulturelle Bedeutung, S. 111. Ebd. Ebd. Ebd. Hans Fischer, Ad artis veterum onirocriticae historiam symbola, Diss. Iena 1899. Fischer nahm die Studie über den Dafnis auf in die Einführung, die er im Kontext der Monumentalausgabe der Werke Holz’ von 1924–1926 schrieb, vgl. Hans W. Fischer, Arno Holz. Eine Einführung in sein Werk, Berlin 1924, S. 57–70. Zuerst erschienen in: Rheinisch-Westfälische Zeitung, 1.5.1904. Zitiert nach Reß, Arno Holz und seine künstlerische, weltkulturelle Bedeutung, S. 113–121, hier S. 116.
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III. Kritik germanistischer Literarhistorie
lichste Exaktheit“ in der Verwendung der sprachlichen Mittel zu einer verzögerten Lektüre führten.85 Das Auge werde veranlasst, die kurzen Sätze sinngemäß zusammenzufassen, es bleibt auf den veränderten Wortbildern haften; aus dem stummen Siegel für den Begriff wird ein lebender Lautkörper, dem abstrakten, aufs bloße Begreifen gehenden Verstande arbeitet das Gehör. 86
Fischers Analyse markiert zudem den Unterschied zwischen Holz und der gegenwärtigen historischen Wissenschaft: „Während die abstrahierende Methode unsrer Zeit das Wesen des Altertums klärt, es aber gleichzeitig und eben darum immer mehr aus uns hinausstellt, von uns entfernt“ 87, gelinge es Holz wie schon den Gelehrten des siebzehnten Jahrhunderts, die Antike im gelehrten Geist des siebzehnten Jahrhunderts wiederzubeleben. Der Philologe Fischer, der seine Dissertation noch auf Latein verfasst hatte, bescheinigt Holz indirekt die Kenntnis der antiken Literatur und der Literatur des siebzehnten Jahrhunderts: „Die Belesenheit des Dafnis in der alten Literatur ist groß.“88 Die zweite Selbstanzeige von 1904 differenziert die Intention von Holz weiter. Hier wird das lyrische Portrait nicht mehr wie in der ersten Selbstanzeige als alleiniger Ausdruck eines historisch möglichen Charakters verstanden, sondern als Travestie, die letzten Endes eine indirekte „Selbstdarstellung“ meint.89 Dafnis wird zum carpe-diem-Typus, der zu verschiedenen Zeiten in der Literaturgeschichte produktiv geworden sei. Holz erklärt das Motiv zum Gegenstand der Poesie und berührt damit das disziplinäre Feld der vergleichenden Motivgeschichte, die er nun mit poetischen Mitteln durchführt. Wie zur wissenschaftlich-diskursiven gehört für Holz’ poetisch-lyrische Motivforschung die „Erwerbung dieser Sprache und, nachdem ich sie mir erworben, ihre Subjektivierung“ 90 – alles in allem eine ‚mühevolle‘ Arbeit. Eine Reaktion seitens der Disziplin war von Holz beabsichtigt. Das ‚lyrische Portrait aus dem siebzehnten Jahrhundert‘ war zuerst im Insel Verlag unter dem Titel Lieder auf einer alten Laute erschienen. Georg Witkowski, der Leipziger Germanist,91 reagierte umgehend. Der Schüler von Michael Bernays war über Diederich von dem Werder (1584–1657), den _____________ 85 86 87 88 89 90 91
Beide Zitate ebd., S. 115. Ebd. Ebd., S. 117. Ebd., S. 118. Zitiert nach ebd., S. 122. Ebd. Zu Witkowski s. Walter Dietze, Georg Witkowski (1863–1939), Leipzig 1973; Georg Witkowski, Von Menschen und Büchern. Erinnerungen 1863–1933, Leipzig 2003.
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ersten Übersetzer der Epen Tassos und Ariosts, promoviert worden, 92 hatte anschließend eine mustergültige Ausgabe von Martin Opitz’ Buch von der deutschen Poeterey vorgelegt 93 und sich über die Anakreontik habilitiert. Aber er war 1903 nicht nur ein Spezialist für die Literatur des siebzehnten Jahrhunderts, sondern auch ein anerkannter Goethe-Philologe. Witkowski tat sich zudem als Förderer der neuen Literatur hervor, und nach seiner Kontroverse mit Holz, das sei erwähnt, wird er sich mit diesem versöhnen: 94 Es waren neben Eugen Wolff in Kiel die Leipziger Germanisten, die den Nobelpreiskandidaten Holz ins Rennen schickten. Bezeichnend ist, dass Witkowski die Lieder auf einer alten Laute als einen Beitrag zur Deutschen Philologie betrachtet,95 nicht allein wegen des Gegenstandes, sondern auch weil es zum Usus junger Germanisten gehöre, ihre eigene Literatur zu parodieren: In den Bierzeitungen unserer Germanistenkneipen erscheinen häufig als besonders beliebte Scherze Nachbildungen alter Poesie. Beowulf oder Hildebrandslied, Walther von der Vogelweide oder Hans Sachs leihen den Jüngern der Wissenschaft zu übermütigen Spässen Sprache und Ton […]. 96
Grundlage ihrer „virtuosenhaften Sicherheit der Form“ seien die „nötigen sprachlichen und metrischen Kenntnisse.“97 Holz habe also nicht allein mit der Literaturgeschichte einen germanistischen Gegenstand berührt, sondern bereits ihre Parodie sei Usus unter Germanisten in ihrer Freizeit. Würde es Holz dabei belassen haben, hätte sich Witkowski wahrscheinlich nicht zu Wort gemeldet, aber der ernste, epistemologische und eben nicht parodistische Anspruch von Holz’ Beitrag rief unweigerlich den eigentlichen Spezialisten der Literatur des siebzehnten Jahrhunderts auf den Plan. Denn für ihn sind die Lieder auf einer alten Laute ein konkurrierender Versuch, ein ‚Charakter-, Kultur- und Sprachbild‘ zu erzeugen; anders als Holz selbst, dem es, wie er in der Replik sagen wird, auf die Psyche eines besonderen Individuums angekommen sei. Da es auch in literaturgeschichtlichen Darstellungen üblich war, die Zeit zu portraitieren, ein Bild von ihr zu entwerfen, konkurrierten zwei _____________ 92 93 94 95 96 97
Georg Witkowski, Diederich von dem Werder. Ein Beitrag zur deutschen Litteraturgeschichte des siebzehnten Jahrhunderts, Leipzig 1887. Martin Opitzens Aristarchus sive de contemptu linguae Teutonicae und Buch von der Deutschen Poeterey, hg. v. Georg Witkowski, Leipzig 1888. Auf den Brief von Arno Holz an Georg Witkowski vom 20.2.1917, der sich als Fotokopie im Arno Holz Archiv der Zentral- und Landesbibliothek Berlin befindet, weist hin Conermann, „Dafnis“, S. 260. Georg Witkowski, [Referat zu Arno Holz, Lieder auf einer alten Laute], in: Deutsche Literaturzeitung für Kritik der internationalen Wissenschaft XXIV (1903), Nr. 18, Sp. 1098–110. Ebd., Sp. 1098f. Ebd., Sp. 1099.
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III. Kritik germanistischer Literarhistorie
unterschiedliche Verständnisse des lyrischen Portraits. Der Terminus war zentral für die Erschließung literaturgeschichtlicher Einheiten, zumal sich der Epochenbegriff als heuristische Größe noch nicht durchgesetzt hatte. Holz hatte mit seiner Übertragung des Zeitbildes von der Geschichte auf die Psyche für Verwirrung gesorgt. Gänzlich ablehnend tritt nun Witkowski Holz’ Portrait gegenüber, weil er die Einseitigkeit in der Fixierung aufs Erotische, die sich in der Anthologie zeige, für „verzerrt“98 hält. Zwar habe Holz einige Züge der Zeit richtig erkannt, doch sei „die Zahl dieser von ihm nur zu oft wiederholten Motive im Verhältnis zu dem inneren Reichtum dieser Lyrik, die in der Tat ihren schlimmen Ruf nicht verdient“ 99, dürftig. Wenn Holz tatsächlich, wie er im Verzeichnis der von ihm studierten Werke angibt, unzählige Titel, wenn nicht gar die ganze lyrische Produktion des siebzehnten Jahrhunderts gelesen hat, dann ist jene von Witkowski monierte Einseitigkeit als Ergebnis erstaunlich. Über die sprachliche Form urteilt Witkowski, dass es sie nie gegeben habe, denn sie sei ein „monströses Gemisch niederdeutscher, hochdeutscher und nirgends existierender Wortbildungen, durch die das Lesen seiner [Holz’, A.N.] Verse zur wahrhaften Qual wird“ 100. Gerechtfertigt ist diese Kritik allein von einem germanistischen Standpunkt aus, denn der philologisch geschulte Kenner der Literatur des siebzehnten Jahrhunderts, ihrer historischen Wortformen, Metaphern und ihrer Syntagmatik kann allein Freude an der Parodie empfinden, wenn sie sich noch als eine direkte Ableitung versteht. Holz hingegen simuliert eine Form, für die Witkowski die Belege und Bezüge fehlen. Denn gegenüber der naturalistischen Auffassung von Holz, die sprachgeschichtliche Realität nachgeahmt zu haben, sieht Witkowski die Gegenwart mit Versatzstücken der Vergangenheit travestiert. In seiner Entgegnung versuchte Arno Holz denn auch, mit philologischem Eifer den Nachweis zu führen, dass er die angeblich nicht belegten Wortformen namhaft machen könne. 101 Holz hatte den Germanisten aufgefordert, ihm brieflich die ‚nirgends existierenden Wortformen‘ zu übermitteln. Die sich entwickelnde Kontroverse zeigt Holz’ Angst, als Scharlatan dazustehen. Die haarspalterische Diskussion mit Witkowski verrät, wie gern Holz von philologischer Seite sanktioniert worden wäre. Indirekt hatte Witkowski Holz von den „wissenschaftlich denkenden Menschen“102 ausgeschlossen, weil Holz den Hinweis ‚nirgends existie_____________ 98 99 100 101
Ebd. Ebd. Ebd., Sp. 1100. Arno Holz, Entgegnung, in: Deutsche Literaturzeitung für Kritik der internationalen Wissenschaft XXIV (1903), Nr. 29, Sp. 1777f. 102 Ebd., Sp. 1777.
1. Arno Holz’ Dafnis im Bann der Blütezeiten
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rend‘ missverstanden habe. Gemeint ist damit nur, dass die Formen ‚nicht belegt‘ sind. Holz geht hierauf ausführlich ein und unterstellt Witkowski, ihm sei es nicht darum gegangen, Holz’ „Leistung öffentlich in Frage zu stellen, was allenfalls noch Ihr Recht gewesen wäre, sondern als ‚Fachmann‘ zu ‚referieren‘, ich hätte ‚verfälscht‘.“103 Witkowski reagierte in derselben Ausgabe mit einer knappen Antwort, worin er auch Holz’ Hinweis, ein Portrait eines Individuums und nicht eines Zeitalters gezeichnet zu haben, für gleichgültig erachtet, daran festhaltend, dass ihm das Buch „missraten“104 scheine. Weder sei Holz auf seine Kritik wirklich eingegangen, noch kenne das siebzehnte Jahrhundert „die das Buch beherrschende widerwärtige Lüsternheit, die mit der frohen Verherrlichung freien, künstlerisch verklärten Sinnengenusses nichts gemein hat.“ 105 So sei denn auch das Werk keine Fälschung, sondern eine „ganz bedeutungslose Ungenauigkeit“ 106. In dieser Kontroverse konkurrieren zwei Diskurshoheiten um das Bild der Literaturgeschichte: die philologisch-historische und die dichterischpräsentische. So sehr man die Angelegenheit als nichtig einzustufen geneigt ist, zeigt sie gleichwohl das Dilemma eines Dichters, der sich mit einem Erkenntnisanspruch zur Literaturgeschichte äußern will. Solange sein Werk als Fiktion ausgewiesen ist, fühlt sich die Disziplin nicht zuständig, im Moment aber, wo es historische Wahrheit beansprucht, wird sie mit allen Mitteln versuchen, den Verfasser als einen Scharlatan zu enttarnen. An Holz’ Reaktionen auf Witkowski wird die Ambivalenz seines Verhältnisses zur Disziplin besonders deutlich. Witkowski, den Holz einmal als einen wadenbeißenden Hund bezeichnet hatte, 107 war es auf der anderen Seite einige Jahre später aber auch, der Holz auffordern sollte, seine Poetik erneut zu formulieren. Ergebnis war die Schrift Die befreite deutsche Wortkunst. 108 _____________ 103 Ebd., Sp. 1778. 104 Georg Witkowski, Antwort, in: Deutsche Literaturzeitung für Kritik der internationalen Wissenschaft XXIV (1903), Nr. 29, Sp. 1779. 105 Ebd. 106 Ebd. 107 Arno Holz an Wolfgang Schumann, 21.3.1912, in: Holz, Briefe, Nr. 151, S. 196f., hier S. 197. 108 Vgl. Arno Holz’ Vorbemerkung in: Arno Holz, Das Werk, Bd. 10: Die neue Wortkunst. Eine Zusammenfassung ihrer ersten grundlegenden Dokumente, Berlin 1925, S. 633f.: „Durch die Freundlichkeit des Herausgebers der ‚Zeitschrift für Bücherfreunde‘, Herrn Professor Dr. Georg Witkowski, Leipzig, im Sommer 1918 aufgefordert, mich zu meiner eigenen Entwicklung selbst zu stellen und so mit meiner zusammenfassenden Darlegung zugleich ‚gewissermaßen eine Poetik in nuce‘ zu geben, entsprach ich dieser liebenswürdigen Einladung“.
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III. Kritik germanistischer Literarhistorie
Die Kontroverse mit Witkowski ist insofern bedeutsam, als sie die Frage nach dem Leser Holz aufwirft. Wenn Holz im Rückblick von sich selbst sagen wird, das Werk ediert zu haben, meint er damit, dass es philologischen Ansprüchen genüge und kein Phantasieprodukt sei, sondern die Möglichkeiten des poetischen Sprachgebrauchs auslote. Witkowskis philologischer Einspruch gegen die Dafnis-Dichtung wurde sogar von fachlicher Seite entkräftet. Schon 1932 erschien die Dissertation von Fritz Kuster, die, sämtliche von Holz vorgestellten Formen in der Literaturgeschichte nachweisend, den Unterschied zur Wissenschaft als den zwischen wissenschaftlicher und künstlerischer Erkenntnis versteht: „Die sprachlichen Stoffmassen des 17. Jahrhunderts bieten sich dem Dichter in reicher Grösse und Fülle dar; ihre Verwertung ist eine Frage künstlerischer Prinzipien.“ 109 Kusters Dissertation, die bestrebt ist, den Echtheitsnachweis zu erbringen, 110 weist nach, dass Holz mit der Orthographie, der Wortbildung und dem Wortmaterial des siebzehnten Jahrhunderts vertraut war. Er kannte mit Blick auf die Wortbildung den stilistischen Unterschied zwischen poetischer und gelehrt-prosaischer Sprache, z. B. kommen nur in dieser Gattung Wörter mit den Suffixen -ung oder -ierer vor.111 Nimmt man eine „Mechanisierung des Sprachvermögens“112 an, dann hätte Holz „mit Lexikon, Grammatik und Poetik ein Buch nach bestimmten Formelvorschriften geschrieben, wie der Textkritiker alte Lesarten wieder herstellt.“113 Man muss nicht Kusters Dissertation gelesen haben, um zu sehen, dass sich Holz in der poetischen Sprache des siebzehnten Jahrhunderts auskannte. Die Frage, woher er sein Wissen bezog, lässt sich angesichts der dürftigen Quellenlage und der zweifelhaften Selbstdeutungen des Dichters nicht mit aller Genauigkeit beantworten. _____________ 109 Vgl. Fritz Kuster, Die Sprache im Dafnis (Orthographie, Wortbildung und Wortschatz), Diss. Wien 1932, S. 132. Die Dissertation entstand bei Josef Nadler. 110 Vgl. z. B. ebd., S. 145: „Die Klangwörter im Dafnis sind danach historisch als echt anzusehen.“ Die Zusammenfassung lautet: „Von gleichem Stoff wie in der Literatur des 17. Jahrhunderts ist das Sprachgewand des ‚Dafnis‘. Holz hat das äussere Material unverfälscht übernommen. Ein wesentlicher Fehlgriff oder eine absichtliche Entstellung, Parodie, liegt in der äusseren Form des ‚Dafnis‘ nicht vor.“ Kuster geht sogar auf unechte Formen (ebd., S. 147–149) kurz ein mit dem verteidigenden Hinweis: „Es würde gegen den Dichter sprechen, gegen seine künstlerische Selbständigkeit und Freiheit, wenn der Philolog in der sprachlichen Rekonstruktion nichts entdecken sollte, was zum Wortschatz des 17. Jahrhunderts in Widerstreit steht“ (ebd., S. 146f.). 111 Vgl. ebd., S. 112. 112 Ebd. 113 Ebd., S. 113. Die ‚Bußtränen‘-Nachschrift der Dafnis-Ausgabe steigert die Archaik sogar gegenüber den ‚Freudenliedern‘ (die Lieder auf einer alten Laute waren ohne ‚Bußtränen‘ erschienen). Holz gab Acht, nicht zu viel veraltetes Wortmaterial zu benutzen, um den Text für ein modernes Publikum lesbar zu halten (vgl. ebd., S. 123).
1. Arno Holz’ Dafnis im Bann der Blütezeiten
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Zwar hatte Holz bei Erscheinen des Dafnis bereits mit seinem einstigen Weggefährten Johannes Schlaf gebrochen, doch der Kontakt mit dem germanistisch geschulten Autor dürfte nicht ganz unwesentlich für Holz’ Zugang zur Literaturgeschichte und ihren disziplinären Praktiken gewesen sein. Der Germanist Schlaf 114 formulierte schon 1892 – obwohl er sich als großer Freund der modernen ausländischen Literatur zu diesem Zeitpunkt schon hervorgetan hatte – den Gedanken der geistigen Erneuerung aus der deutschen, volkstümlichen Tradition des siebzehnten Jahrhunderts.115 Zu Beginn der Schrift Revolution der Lyrik zitiert Holz ein Gedicht Schlafs aus dem Jahr 1893, das unter dem Titel Papa Opitz die Manier des siebzehnten Jahrhunderts imitiert. Schlaf, vorgebildet auf dem Magdeburger Domgymnasium (1875–1884), studierte zunächst in Halle Philologie bei Konrad Burdach und Rudolf Haym. 116 In Berlin erfolgte der Abbruch des Studiums, da er im Sommer 1887 erkannte, wie es im Rückblick heißt, dass das ‚philologische Examen‘ für ihn zur ‚Unmöglichkeit‘ geworden sei. 117 Er hatte „Braun[e]’s gotische Grammatik durchgeochst, den Tacitus und Thucydides gelesen, ungerechnet der Lectüre der mittelhochdeutschen Klassiker“118 – und trotzdem sei er nicht zum Philologen begabt gewesen: „Es war mir unmöglich gewesen, auch nur eine Stelle meines Tacitus als Philologe, als Wortfreund, zu lesen.“119 Gleichwohl war er durch das Studium dem „Autodidakten Holz in der theoretischen Schulung“120 überlegen, weshalb das Klischee vom „scharfsinnigen Analytiker Holz und der intuitiven Dichternatur Schlafs zu überdenken“ 121 wäre, auch vor dem Hintergrund, dass Holz ein schlechter Schüler war. Sein Lehrer in der Untersekunda, nach welcher Holz das Königstädtische Gymnasium in Berlin abbrechen musste, war der zu diesem Zeitpunkt noch im Schuldienst tätige Altphilologe Hermann Diels. Dessen Urteil wurde für Holz’ weiteren Bildungsweg entscheidend, denn es verschloss dem jungen Dichter den Zugang zur Hochschule: „Deutsch befriedigend, Latein nicht ganz ausreichend, Griechisch ungenügend. Französisch ganz ungenügend, Geographie und Geschichte wenig befrie_____________ 114 Zu Schlaf s. Ingolf Schnittka, Der Nachlaß Johannes Schlafs. Biographie, Bibliographie und Kommentar, 2 Bde., Diss. Halle a. d. S. 1989. 115 Vgl. Conermann, „Dafnis“, S. 178f. 116 Vgl. Dieter Kafitz, Johannes Schlaf – Weltanschauliche Totalität und Wirklichkeitsblindheit. Ein Beitrag zur Neubestimmung des Naturalismus-Begriffs und zur Herleitung totalitärer Denkformen, Tübingen 1992 (= Studien zur deutschen Literatur, 120), S. 8–10. 117 Johannes Schlaf, Noch einmal „Arno Holz und ich“; Berlin 1902, S. 5. 118 Ebd. 119 Ebd. 120 Kafitz, Johannes Schlaf, S. 45. 121 Ebd.
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III. Kritik germanistischer Literarhistorie
digend, Rechnen und Mathematik ungenügend.“ 122 Anders als der einstige Weggefährte und Koautor Johannes Schlaf hätte Holz also gar nicht studieren können, hätte aber wahrscheinlich, würde er sein Abitur geschafft haben, ein Hochschulstudium aufgenommen. 123 Wenn im Grunde, wie Holz mit Blick auf Dafnis sagt, Dichtung „Selbstdarstellung“124 sei, so wird Dafnis lesbar als Darstellung eines Selbst zu einem wichtigen Zeitpunkt der literaturgeschichtlichen Entwicklung. Welche medialen Formen die Möglichkeiten des Selbst-Ausdrucks im siebzehnten Jahrhundert determinierten, analysiert der Dafnis mit den Mitteln des Dichters, aber unter Rückgriff auf das literaturgeschichtliche Quellenmaterial. Die Arbeit ist damit per se poeto-philologisch. Weil Holz das literaturgeschichtliche Paradigma anerkennt, kann er es dichterisch bewältigen. Parodistisch, nicht im Sinne einer Abwertung, sondern als Nebengesang, steht sein Werk zu den philologisch-disziplinären Arbeiten zur Lyrik des siebzehnten Jahrhunderts, derer bis 1903 viele erschienen waren und die kurz in Erinnerung zu rufen sind. In Darstellungen zur Geschichte des Barockbegriffs stößt man nicht selten auf die Annahme, der wissenschaftlichen Epochenbildung des Barock sei die dichterische Beschäftigung mit dieser literaturgeschichtlichen Periode vorausgegangen. Insofern der ‚Barock‘ – trotz früherer Zeugnisse eines Epochenbewusstseins125 – eine Erfindung der Geistesgeschichte ist, 126 kann dem sicherlich zugestimmt werden. Vor 1910 findet man nur selten eine epochentypologische Betrachtung der Literatur des siebzehnten Jahrhunderts. Die Dramaturgie, die dabei das Verhältnis von Wissenschaft und Poesie charakterisiert, erweist sich jedoch bei genauerer Betrachtung als unstimmig: Habe doch demnach die Germanistik die deutsche Literatur zwischen Scherers Blüteepochen Mittelalter und Klassik vernachlässigt und sei erst wieder durch unvoreingenommene Dichter _____________ 122 In: Sauer (Hg.), Arno Holz, S. 12. 123 In Offener Brief umreißt Holz seinen autodidaktischen Bildungsweg, beginnend mit einer Absage an die Philologen, die ihn in der Schule aufgaben: „Lasst euch begraben, ihr Philologen […] | Er capirte die deutsche Poesie | Auch ohne die griechischen Verba auf mi!“ (Arno Holz, Offener Brief, in: Ders., Buch der Zeit, S. 379.) 124 Ebd., S. 17. 125 Rainer Rosenberg, Über den Erfolg des Barockbegriffs in der Literaturgeschichte. Oskar Walzel und Fritz Strich, in: Garber (Hg.), Europäische Barockrezeption, Teil 1, S. 113. 126 S. die Arbeiten von Hans-Harald Müller, Barockforschung. Ideologie und Methode. Ein Kapitel deutscher Wissenschaftsgeschichte 1870–1930, Darmstadt 1973, und Marcel Lepper, Typologie, Stilpsychologie, Kunstwollen. Zur Erfindung des ‚Barock‘ (1900–1933), in: Arcadia 41 (2006), S. 14–28; Die typologische Falle. Zur Grimmelshausen-Forschung 1900–1933, in: Text und Kritik (2008), S. 254–262; Die ‚Entdeckung‘ des ‚deutschen Barock‘. Zur Geschichte der Frühneuzeitgermanistik 1888–1915, in: Zeitschrift für Germanistik 17 (2007), H. 2, S. 300–320.
1. Arno Holz’ Dafnis im Bann der Blütezeiten
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auf sie hingewiesen worden. 127 Adolf Bartels’ Tragödie Johann Christian Günther (1889), Otto Julius Bierbaums Drama Stella und Antonie (1902) und Arno Holz’ lyrisches Portrait Dafnis gehören in dieser Perspektive mit von promovierten Dichtern wie Wilhelm von Scholz 128 veranstalteten Editionen zu den Impulsgebern wissenschaftlicher Arbeit. Vergessen wird dabei, dass es – vor Holz’ Dafnis und der zeitgleich erschienenen Dissertation von Victor Manheimer Die Lyrik des Andreas Gryphius 129 und bevor die Generation von Fritz Strich und Walter Benjamin den Barockbegriff methodisch der Literaturwissenschaft dienstbar machte – längst von der liberalen Literaturhistorie130 und von akademisch-philologischer Seite Editionen und Monographien zur Literatur des siebzehnten Jahrhunderts und des frühen achtzehnten Jahrhunderts gegeben hatte. In den Arbeiten von Georg Ellinger (Lyriker des sechzehnten Jahrhunderts), Josef Ettlinger (Hofmannswaldau),131 Albert Köster (Kaspar Stieler), Berthold Litzmann (Günther),132 Max von Waldberg (Renaissance-Lyrik und galante Lyrik), Georg Witkowski (Diederich von dem Werder) oder Friedrich Zarncke (zu Reuter, dem Verfasser des von Holz geliebten Schelmuffsky) 133 war die Literatur des siebzehnten und frühen achtzehnten Jahrhunderts ohne den Versuch allzu starker epochengeschichtlicher Synthesen erschlossen und wieder lesbar gemacht worden. Karl Goedekes Reihen Deutsche Dichter des siebzehnten Jahrhunderts und Elf Bücher deutscher Dichtung mit einer biobibliographischen Notiz zu jedem Autor sowie die Neudrucke deutscher Litteraturwerke des XVI. und XVII. Jahrhunderts hatten den an lyrischen Dichtungen des siebzehnten Jahrhunderts Interessierten eine breite Textbasis verschafft. 134 _____________ 127 Vgl. Paul Raabe, Expressionismus und Barock, in: Garber (Hg.), Europäische Barockrezeption, Teil 1, S. 675–682, hier S. 678; Wiedemann, Schwierigkeiten mit „Dafnis“, S. 84, und Zymner, „Da ich weder ein gebohrner Schlesier / noch auß Meissen bün“, in: Stüben (Hg.), Ostpreußen, Westpreußen, Danzig, S. 422f. – Einzig Wagner, Letzte Ausfahrt Arkadien, in: Hilmes/Mathy (Hg.), Protomoderne, S. 113–126, differenziert in diesem Zusammenhang, hier S. 114, hält aber letztlich an der These von einer „Neuorientierung der Barockauffassung“ durch Impulse außerhalb der akademischen Forschung fest. 128 Vgl. Wilhelm von Scholz (Hg.), Strophen Christian Günther’s, Leipzig 1902. Enthält einen Widmungsbrief an Otto Julius Bierbaum zu Günther. 129 Hier schon der Anachronismus zwischen Gegenwart und dem siebzehnten Jahrhundert, vgl. Victor Manheimer, Die Lyrik des Andreas Gryphius, Berlin 1904, S. XIII. 130 Vgl. Wagner, Letzte Ausfahrt Arkadien, in: Hilmes/Mathy (Hg.), Protomoderne, S. 114. 131 Späterer Herausgeber des Litterarischen Echos und Schüler Waldbergs. 132 Litzmanns Ausgabe der Gedichte (1879) Günthers für den Reclam-Verlag hat die Bekanntheit des jung verstorbenen Dichters vergrößert. 133 Vgl. Arno Holz an Oskar Jerschke am 18.3.1905, in: Holz, Briefe, Nr. 112, hier S. 160. 134 Wenn Raehse 1888 in seiner Edition von Pseudo-Schwieger schreibt, er habe „schon sehr jung den Pegasus bestiegen“ (Jacob Schwieger, Geharnschte Venus. 1660, hg. v. Theobald Raehse, Halle a. d. S. 1888 [= Neudrucke deutscher Litteraturwerke des XVI. und XVII. Jahrhunderts, 74/75], S. IV), ähnelt dies dem ersten Satz der Vorrede des Dafnis: „Wer in
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III. Kritik germanistischer Literarhistorie
Umso merkwürdiger ist es, dass Holz auf diese Grundlage kaum zurückgriff, sondern nur die historischen Drucke konsultiert zu haben behauptet. Das gern erwähnte Materialverzeichnis mit den 218 Kurztiteln erweckt den Eindruck, Holz habe die dort aufgelisteten Quellen akribisch studiert. 135 Ob sie ihm tatsächlich vorlagen oder ob er sie nicht bibliographischen Arbeiten wie derjenigen Goedekes, Literaturgeschichten wie Gräßes Handbuch der allgemeinen Literaturgeschichte und Lemckes Geschichte der deutschen Dichtung neuerer Zeit (1871) oder aber dem systematischen Realkatalog der Königlichen Bibliothek in Berlin entnommen hat, geht daraus nicht hervor. Letzteres wäre nicht unwahrscheinlich. Holz, der sich schon 1891 als „Stammgast der Königlichen Bibliothek“ 136 bezeichnete, wird auch auf die Dienste des Abteilungsdirektors in der Königlichen Bibliothek, Dr. jur. Hans Paalzow (1862–1944), zurückgegriffen und nicht nur selbst vor Ort gelesen haben. 137 Conermann, der das Verzeichnis ausgewertet hat, bemerkt, dass die Vielfalt der Formen, Motive und Themen sich keineswegs im Dafnis wiederfindet. Aus der Tatsache, dass das Materialverzeichnis nur originale Titel enthält – genauer Kurztitel, wie man sie auch in Literaturgeschichten von Gervinus, Gräße oder Ludwig Walcher findet –, schließt er vorschnell, Holz habe „überhaupt keine modernen Auswahlausgaben und die greifbaren Neuausgaben einzelner Werke nur zum Teil“ 138 benutzt. Gerade bei Titeln aus dem siebzehnten Jahrhundert ist ihre Länge auffällig, wie auch Holz’ eigentlicher Dafnis-Titel anschaulich demonstriert, der voll relativer Einschübe und Detailangaben ist.139 _____________ 135
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seiner grünen Jugend hat wohl nie den Pegasum geritten?“ (Arno Holz, Dafnis. Lyrisches Portrait aus dem 17. Jahrhundert, München 1904, S. VII). Materialverzeichnis zum Dafnis, 10 Bl., Arno Holz Archiv der Landesbibliothek Berlin, Nr. 6885. Vgl. Conermann, „Dafnis“, S. 20–24, 233–237, Wiedemann, Schwierigkeiten mit „Dafnis“, S. 89, und Wagner, Letzte Ausfahrt Arkadien, in: Hilmes/Mathy (Hg.), Protomoderne, S. 113. Arno Holz, Die Kunst, ihr Wesen und ihre Gesetze, Berlin 1891, S. 61. Vgl. Schiewer, Poetische Gestaltkonzepte und Automatentheorie, S. 126, Anm. 27. Conermann, „Dafnis“, S. 23. Aus dem Titel der Insel-Ausgabe Lieder auf einer alten Laute. Lyrisches Portrait aus dem 17. Jahrhundert von 1903 wurde ab den Auflagen von 1904 bei Piper: „Des berühmbten Schäffers | Dafnis | sälbst verfärtigte / unter dem Titul | OMNIA MEA | fürmahls ans Licht gestellte | und von ihme mit einem lästerlichen | Nothwendigen Vorbericht | an den guht=hertzigen Leser | lihderlich verunzihrte / höchst sündhaffte | Sämbtliche | Freß= Sauff= und | Venus=Lieder / | vermehrt und verbässert | durch viehle biß anhero noch gäntzlich ohngetrukkt | gewesene / benebst angehänckten | Auffrichtigen und Reue müthigen | Buß=Thränen / vergossen durch den sälben Auctorem / | nachdäme dihser | mit herein gebrochenem Alters Gebrest | auß einem Saulo zu einem Paulo geworden / | gesammblet / colligiret / | sowie mit einem nüzzlichen Fürvermärck versorgt | über die besondre Lebensumbstände | des selig Verblichnen / | allen Christlichen Gemühtern | zu
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Holz aber hat die allesamt in Katalogen, Verzeichnissen und Bibliographien üblichen Kurztitel in sein Materialverzeichnis übertragen. Dass darin auch Ausgaben auftauchen, die nicht im Goedeke verzeichnet sind, dass Holz sich nicht die Mühe machte, die seinerzeit bekannten Pseudonyme aufzuschlüsseln, dass er den für ihn so wichtigen Band der Geharnschten Venus noch als das Werk Jacob Schwiegers verbuchte, obwohl Köster 1897 Kaspar Stieler als Verfasser identifiziert hatte, dass er zudem die Neuausgabe von 1888 nicht kannte und nicht einmal wusste, wann die Geharnschte Venus erschienen ist – ‚16**‘ –, deutet darauf hin, dass Holz Bibliothekskataloge als Grundlage benutzt hat, und zwar nicht selbstständig, sondern durch die Vermittlung von Bibliothekaren. Die Kurzlisten könnten ebenso das Ergebnis solcher Übermittlungen sein. Im Fall der Königlichen Bibliothek musste der jeweilige Mitarbeiter nur auf den Sachkatalog zurückgreifen, der die Lyrik des siebzehnten Jahrhunderts als eigenständige Gruppe verzeichnet. Selbst wenn Holz dennoch all die Titel in der Berliner Bibliothek eingesehen und sich aus anderen Bibliotheken Exemplare bestellt hat, besteht kein zwingender Zusammenhang zwischen bibliographischer und poetischer Arbeit. Ohne Zweifel war Holz mit der Literatur des siebzehnten Jahrhunderts vertraut, aber welche Bücher er tatsächlich gelesen hat, geht aus dem bibliographischen Materialverzeichnis nicht hervor. Es hat vielmehr die Funktion einer Selbstrechtfertigung, und werkpolitisch für den Archivar seiner selbst, der Arno Holz war, 140 diente diese Liste dem Ausweis philologischer Redlichkeit, desgleichen Übertreibungen gegenüber dem Verleger Piper in einem Brief vom 23. April 1904, er arbeite mit „10000 Notizen“ 141, um zu versichern, „keinen Schund“142 zu liefern. Das, was er mache, habe Hand und Fuß. Am 5.4.1904 betont er wieder: „Es kommt hier ausschließlich auf die Qualität an und für diese – ich wiederhole Ihnen dies nochmal – stehe ich ein!!“ 143. Die bemerkte stilistische Einseitigkeit des Holz’schen Dafnis, die im Gegensatz zur Vielfalt seines Materialverzeichnisses steht, weist auf ein besonderes thematisches Interesse des Autors hin, und zwar das an erotischer Literatur im weitesten Sinne. Damit könnte für Holz ein möglicher Einstieg in die Recherche Hugo Hayns Bibliotheca Germanorum erotica gewesen sein. In der Auflage von 1885 sind die Berliner Bestände verzeich_____________ 140 141 142 143
diehnlicher Abschrekkung bekant gegeben / | insbesondere der schwanckenden Jugend / | durch Selamintem. | Konstantinopul & Leipzig / getrukkt in dihsem Jahr“. Mit Max Wagner (1879–1949) schuf sich Holz sein eigenes, nun in Berlin von der Zentralund Landesbibliothek verwaltetes Archiv. Arno Holz an Reinhard Piper am 23.3.1904, in: Holz, Briefe, Nr. 103, S. 151. Ebd. Arno Holz an Reinhard Piper am 5.4.1904, in: Holz, Briefe, Nr. 104, S. 152.
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net. 144 Hugo Hayn hatte 1890 zudem die Bibliographie Bibliotheca Germanorum nuptialis veröffentlicht, auf die mit Sicherheit der Holz-Spezialist Hans W. Fischer für seine Sammlung Deutsche Hochzeitsgedichte (1907) zurückgriff. In spätere Auflagen der Bibliotheca Germanorum erotica wurde Holz’ Dafnis dann selbst aufgenommen.145 Aber auch die Literaturgeschichte hätte sich auf das erotische Interesse leicht filtern lassen. Schwiegers ‚erotische und zügellose Muse‘ war Lehrbuchwissen, wie aus Gräßes Handbuch der allgemeinen Literaturgeschichte ersichtlich wird. Gräße urteilt über die Geharnschte Venus, sie sei, originell, „abgesehen von den schlüpfrigen Stellen“, und sie habe „manches von der Günther’schen Laune.“ 146 Die gründliche Analyse der Orthographie im Dafnis hat ergeben, dass sich Holz auffällig an Zesens eigentümlichen Vorgaben orientiert, 147 deren Probe in Die adriatische Rosemund gemacht wird; besonders auffällig ist das Dehnungszeichen ‚h‘ für heutiges ‚e‘: lihben statt lieben. Jellineks Neudruck dieses Bandes (1899), aber noch mehr seine einleitenden Bemerkungen zur Orthographie148 erwecken den Eindruck, Holz habe hierüber einen wesentlichen Zugang zur Schreibweise des siebzehnten Jahrhunderts gefunden. Auch dass Holz Georg Greflingers Lieder in der Sammlung Venus-Gärtlein (1890, zuerst 1656), welche Max von Waldberg herausgegeben hatte, „ausgeschlachtet hat“149, ist bekannt. Die kritische Befragung von Holz’ Arbeitsweise darf nicht zu dem Schluss verleiten, Holz habe all die von ihm verzeichneten Bücher nicht gelesen. An Dr. Franz Servaes ging am 28.11.1903 nach Wien die Bitte, ihm von dort aus Bücher zu schicken: Ich habe schon Verbindungen angeknüpft nach München, Straßburg, Hamburg und Marburg. Würden Sie mir die große Liebe tun und sehn, ob sie mir nach die-
_____________ 144 Hugo Hayn, Bibliotheca germanorum erotica. Verzeichniss der gesammten deutschen erotischen Literatur mit Einschluss der Uebersetzungen, nebst Angabe der fremden Originale, zweite durchaus umgearbeitete, sehr stark vermehrte, durch Beifügung der Berliner und Münchener deutschen erotischen Bücherschätze bereicherte und mit Antiquar-Preisen versehene Auflage, Leipzig 1885. 145 Hugo Hayn/Alfred N. Gotendorf (Hg.), Bibliotheca Germanorum Erotica et Curiosa. Verzeichnis der gesamten deutschen erotischen Literatur mit Einschluß der Übersetzungen, nebst Beifügung der Originale, Bd. 9, München 31929, S. 288. 146 Johann Theodor Georg Gräße, Handbuch der allgemeinen Literaturgeschichte aller bekannten Völker der Welt, von der ältesten bis auf die neueste Zeit, zum Selbststudium und für Vorlesungen, Bd. 3, Abt. 1, Dresden, Leipzig 1848, S. 570. – Es handelt sich dabei um einen Auszug aus Gräßes wissenshistorisch wegen seiner scheinbaren Vollständigkeit erstaunlichem Lehrbuch einer allgemeinen Litterärgeschichte (hier Bd. 3.2, Dresden 1853). 147 Vgl. Küster, Die Sprache im Dafnis, S. 66. 148 Max Hermann Jellinek, Einleitung, in: Philipp von Zesen, Adriatische Rosemund. 1645, hg. v. M. H. J., Halle a. d. S. 1899 (= Neudrucke deutscher Literaturwerke des XVI. und XVII. Jahrhunderts, 160–163), S. III–L, hier S. XII–XXXV. 149 Clemens Heselhaus, Deutsche Lyrik der Moderne von Nietzsche bis Yvan Goll. Die Rückkehr zur Bildlichkeit der Sprache, Düsseldorf 1961, S. 295.
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ser Richtung nicht auch aus Wien was verschaffen könnten? Sie wissen, wie sorgsam ich damit umgehn würde und daß Alles pünktlichst zurückkäme. 150
Die alphabetische Liste mit den Titeln, die Holz schon „intus“ 151 habe, würde er im Falle einer Zusage nachreichen – d. h. Holz hatte die Liste noch gar nicht geschickt und es ist nicht bekannt, ob es zu einer Übereinkunft wegen der Bücher überhaupt kam. Servaes, der in Straßburg mit der Arbeit Die Poetik Gottscheds und der Schweizer (1887) promoviert worden war, tat sich als Verfasser biographischer Portraits hervor, 152 was vielleicht nicht ganz unbedeutend gewesen sein mag für die Konzeption des lyrischen Portraits. Die Idee, ein historisches Dichtersubjekt zu gestalten, war nicht neu. Historische Lebens- und Zeitbilder, in die sich das ‚fiktive Portrait‘ einordnet, boomten im letzten Drittel des neunzehnten Jahrhunderts.153 Für Johann Christian Günther – obzwar kein Barockautor mehr, aber dennoch bedeutsam für Holz’ Dafnis-Konzeption – bat Holz am 23. Oktober 1902 den Bibliothekar Paalzow um eine Liste mit ‚Güntherianis‘. 154 Da Holz nur an biographische Arbeiten und Fiktionalisierungen dachte, nicht an Ausgaben und Würdigungen, kann auf ein konzeptionelles Interesse an dem Autor geschlossen werden. Günther war, wie erwähnt, bis dahin von Adolf Bartels in einem Trauerspiel fiktionalisiert worden (1889), auch könnte Holz mit Litzmanns Studie Zur Textkritik und Biographie Johann Christian Günther’s (1880) Bekanntschaft geschlossen haben, wahrscheinlicher noch ist die Kenntnis der von Litzmann für Reclam besorgten Ausgabe der Gedichte Günthers, die einen wichtigen Beitrag zur Biographie des Dichters enthält. Darin konstatiert Litzmann zwei für die Dafnis-Figur wichtige Eigenschaften: Trunksucht und Wollust. So sei „das alte leidenschaftliche, maßlose Begehren nach allem, was ihm schön und begehrenswerth schien, gleichviel ob Schranken der Convenienz oder Sitte der Erreichung seines Ziels im Wege standen, […] erst in ihm mit seinem Leben“155 erloschen. _____________ 150 151 152 153
Arno Holz an Franz Servaes am 28.11.1903, in: Holz, Briefe, Nr. 100, S. 148. Ebd. Vgl. Theodor Fontane. Ein litterarisches Porträt (1900). Ein von Ernst Gehmlich verfasster Titel zu dem von Holz geschätzten Schelmuffsky lautet Christian Reuter, der Dichter des Schelmuffsky. Ein Lebensbild aus dem 17. Jahrhundert (1891). Von einem Viktor Schliebitz war Johann Christian Günther. 1695. 1895. Ein Lebensbild zur 200sten Wiederkehr von Günthers Geburtstage (Striegau 1895) erschienen. 154 Vgl. Conermann, „Dafnis“, S. 130, S. 286, Anm. 226, zur Günther-Rezeption, ebd., S. 206– 211. 155 Berthold Litzmann, Einleitung, in: Johann Christian Günther, Gedichte, hg. v. B. L, Leipzig [1879], S. 5–26, hier S. 23. – Einspruch gegen Litzmanns Urteile hat erhoben der Landsmann Günthers Gregor Konstantin Wittig, Neue Entdeckungen zur Biographie des Dichters Johann Christian Günther, Striegau 1881, S. 274–290.
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III. Kritik germanistischer Literarhistorie
Litzmann, ausgehend von Goethes Darstellung in Dichtung und Wahrheit über Günther, ist in seiner biographischen Einleitung auf der Suche nach der ‚Individualität‘ und ‚Persönlichkeit‘156 des Dichters, die er in seinen Gedichten abzulesen meint.157 Dass in der literaturgeschichtlich motivierten Ethopoiia 158 Wissenschaft und Poesie konvergieren, zeigt auch die programmatische Ähnlichkeit zwischen dem Dichter Holz und Albert Kösters philologischer Studie zur Verfasserschaft der Geharnschten Venus. Die „im 19. Jahrhundert jener alten Poesie oft zum Vorwurf gemachte Trennung von Kunst und Leben“ 159, die Holz auf Textebene beachtet, indem er sein frühneuzeitliches alter ego auftreten lässt, hebt er im Psychogramm wieder auf. Seine Dafnis-Figur beansprucht, ein authentischer Charakter zu sein, und das lyrische Portrait soll Auskunft über die psychologische Disposition eines Menschen aus dem siebzehnten Jahrhundert geben. Genau in diesem Sinn hatte sich Köster in der Vorrede zur Geharnschten Venus geäußert. Der Kollege Max von Waldberg, den Köster nennt, habe gemeint, Diltheys gerade erst aufgeworfene Frage nach der Psychologie des Dichters 160 sei für die Lyrik des siebzehnten Jahrhunderts deshalb leicht zu beantworten, weil wir über sie nichts erführen. Köster versucht gegen diese Ansicht, den Menschen wieder lebendig zu machen, der hinter der Dichtung steht: Hinter jeder Sammlung von lyrischen Gedichten, sie mag noch so dürftig sein, steht ja ein Mensch von Fleisch und Blut, mit eignen Schicksalen, Freuden und Leiden. Und den wahren Charakter einer Zeit, ihr Streben, ihre Sehnsucht, ihre Bedürfnisse, ihr tägliches Treiben, ihre Kunst, all ihre Vorzüge und Fehler lernt man doch erst dann recht kennen, wenn es gelungen ist, in das Seelenleben vieler Einzelmenschen wie in den Busen eines Freundes tief hineinzuschauen. 161
Kösters Erkenntnisinteresse von 1897 ist mit Holz’ poetischer Absicht identisch: „Das Erkennen einer neuen Individualität aber, aus nahen oder fernen Tagen, zumal aus Zeiten, die arm an Individualitäten waren, dünkt mich stets ein Gewinn.“ 162 _____________ 156 Litzmann, Einleitung, in: Günther, Gedichte, S. 8, 10, 11. 157 Die Praxis der biographischen Lektüre von Günthers Gedichten reicht weit ins zwanzigste Jahrhundert, vgl. kritisch Ernst Osterkamp, Das Kreuz des Poeten. Zur Leidensmetaphorik bei Johann Christian Günther, in: DVjs 55 (1981), S. 278–292, hier S. 278f. 158 S. Hans-Martin Hagen, Ethopoiia. Zur Geschichte eines rhetorischen Begriffs, Diss. Erlangen 1966; Eugenio Amato/Jacques Schamp (Hg.), Ethopoiia. La représentation de caractères entre fiction scolaire et réalité vivante à l’époque impériale et tardive, Salerno 2005. 159 Conermann, „Dafnis“, S. 48. 160 Max von Waldberg, Die deutsche Renaissance-Lyrik, Berlin 1888, S. 4, setzt sich bereits zu diesem frühen Zeitpunkt mit Diltheys Thesen zur Einbildungskraft des Dichters auseinander. 161 Köster, Der Dichter der Geharnschten Venus, S. 4. 162 Ebd.
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Neben der psychologischen Absicht beobachtet man in Fachdiskursen die florale Metaphorik: in Litzmanns Günther-Charakteristik etwa als Teil der biographischen Hermeneutik. Was Günther und andere frühverstorbene Dichter zu Lieblingen des Volkes gemacht habe, sei nicht allein das Mitleid über ihren frühen Tod, führt Litzmann aus, sondern der ewige Frühling, der in ihrer Poesie herrscht, der uns stets von neuem entzückt; freilich fehlt ihnen die Zeit der Blüte, und die Zeit der gereiften Früchte, aber dafür sind sie auch verschont von dem Fluch des Absterbens, Verwelkens […]. 163
Ganz ähnlich formuliert Max von Waldberg, wenn er über die von ihm 1890 neu herausgegebenen Volkslieder des Venus-Gärtleins mit dem Vorurteil aufräumen will, Opitzens Kunstdichtung habe für diese keinen Platz mehr gelassen: „und die zart duftenden Blümchen des Volksgesanges sollen von den künstlich gezogenen Blüten der Kunstdichtung überwuchert worden sein.“ 164 Die Metaphorik der Blütezeit, obzwar vielseitig konnotiert, war für die historiographische Methodik und die charakterologische Hermeneutik maßgeblich geworden. Aufgrund ihrer wissenschaftlichen Autorität fungierte sie als eigentliche Ausgangssemantik für den Übertragungsprozess in die Poesie. Der topische Vergleich der Poesie mit Blumen war um 1900 noch nicht aus der wissenschaftlich-disziplinären Semantik ausgeschieden, konnte also sowohl dichterische als auch fachliche Sprechweisen gestalten. Dafnis reflektiert diese diskursive Ambivalenz. 1.4. Eine Blumenlese über die Blütezeit der Poesie Arno Holz hat sich wie seine disziplinären Zeitgenossen als Sammler von Blumen hervorgetan, versteht man Anthologie bzw. das Pendant Florilegium buchstäblich. 165 Zeitgleich mit der 1903 bei Insel erschienenen fingierten, d. h. poetischen Blumenlese Lieder auf einer alten Laute (ab 1904 unter dem Titel Dafnis) 166 veröffentlichte er die Anthologie Aus Urgroßmut_____________ 163 Litzmann, Einleitung, in: Günther, Gedichte, S. 8. 164 Max von Waldberg, [Einleitung], in: Venus-Gärtlein. Ein Liederbuch des XVII. Jahrhunderts. Nach dem Drucke von 1656, hg. v. M. v. W, Halle a. d. S. 1890, S. III–XLVI, hier S. III. 165 Für Gedichtsammlungen verwendet man heutzutage das Wort Anthologie; Florilegium meint eher Sammlungen von Zitaten verschiedener Textsorten und Sprüchen, meist in der Manuskriptkultur und in der Buchkultur der Frühen Neuzeit. Zum Anthologiebegriff s. Dietger Pforte, Die deutschsprachige Anthologie. Ein Beitrag zu ihrer Theorie, in: Joachim Bark/Dietger Pforte (Hg.), Die deutschsprachige Anthologie, Bd. 1, Frankfurt a. M. 1970, S. XIII–CXXIV. 166 Zitiert wird im Folgenden nach den Ausgaben Lieder auf einer alten Laute (1903) bzw. Dafnis (1904) unter Angabe der Siglen L bzw. D mit der Seitenzahl in Klammern direkt hinter
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III. Kritik germanistischer Literarhistorie
ters Garten. Ein Frühlingsstrauß aus dem Rokoko, ab 1926 unter dem Titel Von Günther bis Goethe. 167 Die Rokoko-Anthologie und die fiktive Anthologie von Lyrik des siebzehnten Jahrhunderts wenden sich einer Literatur zu, die 1903 zwischen den beiden Blütezeiten der deutschen Literaturgeschichte – Mittelalter und Weimarer Klassik – verortet und damit als Erscheinung des Niedergangs gewertet wurde. Die Lieder auf einer alten Laute für den Insel Verlag enthalten fünfzig Gedichte, die schon Mitte August 1902 fertiggestellt worden sein müssen. 168 Die Überarbeitung zum Dafnis für den Verleger Reinhard Piper, die bald darauf erfolgte, ist in der Korrespondenz mit dem neuen Verleger ablesbar: Das Kulturhistorische stärker betont, das Psychologische vertieft, außer der weltlichen auch die damals geistliche Lyrik gespiegelt, nicht bloß den jugendlichen, sondern auch den altgewordenen Dafnis gegeben, aus einer Spezialität ein […] ‚all‘umfassendes Werk ‚ersten Ranges‘ gemacht. Einen Typus festgelegt, der in der Realität immer wieder aufgetaucht ist […] und von der Kunst bisher noch nirgends festgehalten wurde. 169
Für die organisch-pflanzliche Metaphorik und das damit verbundene wissenschaftliche Paradigma kennzeichnend ist der Hinweis: „In jene Zeit nicht bloß ‚künstlich‘ verlegt, sondern historisch unmittelbar aus ihr herausgewachsen.“ 170 Dafnis erschien 1904 mit 64 Gedichten und zehn weiteren ‚Bußtränen‘, welche in späteren Ausgaben auf dreizehn anstiegen. Mit der Ergänzung um die Bußtränen-Gedichte verbunden ist eine anachronistische Aufhebung des Gegensatzes von carpe diem und memento mori als den beiden zeittypischen, aber unvereinbaren Lebensmaximen des siebzehnten Jahrhunderts. 171 Das Motto des Horaz Carmina non prius audita […] canto (carm. 3.1), welches der Dafnis-Ausgabe von 1904 vorsteht, gewinnt tatsächlich einen neuen Sinn. Zwar sind die Lieder, die Holz ab 1904 publizierte, aus dem siebzehnten Jahrhundert und für ihn damit veraltet, aber genau genommen waren sie ‚nie zuvor gehört‘ worden. Erst das historistische Quellenbewusstsein ermöglichte eine solche Quellenfiktion. Das Erschließen des _____________
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dem Zitat (Arno Holz, Lieder auf einer alten Laute. Lyrisches Portrait aus dem 17. Jahrhundert, Leipzig 1903 bzw. Arno Holz, Dafnis. Lyrisches Portrait aus dem 17. Jahrhundert, München 1904). Holz plante zudem eine Ausgabe zu Simon Dach, vgl. Arno Holz an Reinhard Piper am 23.8.1903, in: Holz, Briefe, Nr. 96, S. 144. Das geht hervor aus einem Schreiben von Arno Holz an Richard Schaukal am 14.11.1902, worin Holz klagt, dass der Insel Verlag schon seit drei Monaten das Manuskript bei sich liegen habe (Holz, Briefe, Nr. 85, S. 131). Arno Holz an Reinhard Piper am 9.6.1903, in: Holz, Briefe, Nr. 94, S. 142. Ebd. S. Schulz, Arno Holz, S. 133f.
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siebzehnten Jahrhunderts als Quelle der Poesie eröffnete dieser selbst wieder neue Spielräume. Die Erstausgabe, die im Folgenden diskutiert wird, hatte das Motto noch nicht gedruckt. Nicht nur formal im eingeschränkten Gebrauch bestimmter für das siebzehnte Jahrhundert typischer, vor allem aber einfacher Liedformen wie Ode 172 und Quodlibet 173 und ihrer metrischen Füllung, sondern auch motivisch hinsichtlich ihrer Erotik erinnert die Anthologie, wie gesehen, an die Geharnschte Venus, 174 jedoch mit einem wesentlichen Unterschied: Von triebhafter Erotik, die eine körperliche Erfüllung kennt, war Stieler frei, und Holz’ Dafnis macht weniger Anleihen bei der platonisch pastoralen Schäferdichtung als bei der galanten Dichtung im Gefolge von Christian Hoffmann von Hoffmannswaldau. 175 In der Erstausgabe von 1903 ist der zyklische Charakter, der das Ganze im Lauf der Jahreszeiten fasst, noch besser zu sehen, was im Vergleich mit dem für die Ausgabe bei Piper von 1904 veränderten Anfang deutlich wird. Die ersten beiden Gedichte besitzen in der Ausgabe von 1904 eine expositorische Funktion, gehören eigentlich nicht zum Kreis der Jahreszeitengedichte. Die zeitliche Sprechsituation unmittelbar nach dem Dreißigjährigen Krieg wird bestimmt in Er brohbt erst sein Säyten-Spihl; im anschließenden Gedicht Er lobt sich sein Purschen-Leben stellt sich der Sprecher als Typus des carpe diem vor. Mit dem dritten Gedicht, einer Ode JamboDactylica beginnt unter dem Titel Er freut sich/ daß es Winter ist der Jahreszeitenzyklus. In der Insel-Erstausgabe von 1903 steht diese Ode am Anfang unter dem einfachen Titel Er brohbt erst sein Säyten-Spiel und die zweite Ode Trochaica trug den Titel Er freut sich/ daß es Winter ist. Die Leichtigkeit, mit welcher Holz die Titel vertauscht und die Disposition ändert, darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Erstausgabe in sich streng geschlossen ist. Wenn Holz die Struktur für Piper änderte, dann versuchte er dem jungen Verleger entgegenzukommen, dessen Verdienst es war, dass Holz’ fiktive Anthologie zu einem Publikumserfolg wurde – ganz im Gegenteil zur Insel-Ausgabe von 1903, die sich nicht verkaufte. Für Holz war es nicht ungewöhnlich, seine Werke nach ihrem Erscheinen immer wieder umzuarbeiten. Die entscheidende Veränderung für die Neuausgabe bei Piper war die erwähnte ethische Zweiteilung, welche durch die ‚Bußtränen‘ entstand. Damit war der Dafnis barocke Lebenslust und Vergänglich_____________ 172 Ode heißt bei Holz einfach nur Lied, wie es noch im siebzehnten Jahrhundert gebräuchlich war (Karl Viëtor, Geschichte der deutschen Ode, München 1923, S. 64). 173 Zu den von Holz vornehmlich verwendeten lyrischen Formen ‚Ode‘ und ‚Quodlibet‘ s. Conermann, „Dafnis“, S. 61–65, 81–87. 174 Vgl. ebd., S. 62–64. Zum Dafnis als erotischer Dichtung ebd., S. 91–103. 175 Vgl. Rotermund, Die Parodie in der modernen deutschen Lyrik, S. 86f.
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keitsreflexion in einem geworden. Für die Analyse der Blumenmetaphorik wird der Rückgriff auf die Ausgabe von 1904 bei Gelegenheit von Interesse sein; im Zentrum der folgenden Ausführungen stehen jedoch Die Lieder auf einer alten Laute von 1903. Bereits in den Wintergedichten (L 1–15), die vornehmlich das Essen zum Gegenstand haben, kündigen sich die Blumen als Eisblumen an: „in den krauß befrohrnen Scheiben | siht man kleine Blühmckens kleiben“ (L 11). Die ersten Anzeichen des Frühlings werden besungen in der Ode Jambica Daß es bald Oculi ist/ drukkt ihme nicht das Hertz ab (L 16f.). Holz strukturiert den Frühlingsbeginn über die Abfolge der Fastensonntage. Dass mit dem Frühling die Fastenzeit beginnt, erklärt, weshalb in den Wintergedichten dermaßen viel gegessen worden ist. Das lyrische Ich markiert seinen neuen Zustand ab Oculi, dem dritten Fastensonntag, dieser erst bietet ihm eine neue Perspektive der Wahrnehmung, die bis dahin ganz auf das Essen fixiert war. Dafnis kommt hier zu seiner Bestimmung, Schäfer-Dichter zu sein und darüber zu singen. Daher stört sich das lyrische Ich trotz seiner Völlerei keinesfalls daran, dass die Fastenzeit begonnen hat. ‚Daß es bald Oculi ist, drückt ihm nicht das Hertz ab‘, sondern öffnet dieses vielmehr für die Poesie: „Schon rasen ümb die Erde | Herrn Febi Feuer-Pferde/“ (L 16, V. 1). Die Pferde Apolls, des Musengottes, der auch als Frühling allegorisiert wird, künden metonymisch von seiner Wiederkehr. Das Sprießen der Pflanzenwelt ist das erste Bild, welches sich anschließt: „schon bohrt sich durch den dikken Schnee | der angenehme Mertzen-Klee. || Darzwischen/ spizz und munter/ | steht gölber Crocus drunter/“ (L 16, V. 3–6). Andere Frühlingsanzeichen ergänzen das Bild. Das darauf folgende Gedicht greift den folgenden Fastensonntag auf: Es macht ihn durchauß vergnügt/ daß es schon Lätare ist steht ebenfalls in Form einer Ode Jambica. Die erste Strophe ähnelt der ersten Strophe des OculiGedichts: „Das Eyß hat auß gekracht/ | Printz Febus wihder lacht. | Der Tau-besprüzzte Anger | geht wihder Blühmcken-schwanger“ (L 18, V. 1– 4). In der dritten und letzten Strophe wird der Schreibprozess mit dem Sprießen der Blumen analogisiert: „In Nichts wie Sonnenschein | tünck ich die Fehder ein. | Itzt noch ein kleines Weilgen/ | und alles steht voll Veilgen!“ (L 18, V. 9–12). Die Blume als symbolischer Ausdruck für das Begehren nach der weiblichen Schönheit kommt in der folgenden Ode Jambica zum Tragen. Die Verse: „die Welt von Tag zu Tag | wird durchauß Bluhmen-völler“ (L 19, V. 15f.) in Er passirt an ihrer Thür vorbey gewinnen im Verlauf des Gedichts diese Bedeutung. Zunächst ist von den „Marmol-Ballen“ und dem „Mihder“ (L 20, V. 25f.) die Rede, das sich als ein „duppel KußAltar“ (L 20, V. 33) erweist, „auß dem sich Rohsen krüllen/“ (L 20, V. 34). Die Verbindung von Blume und Weiblichkeit wird in der folgen-
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den Ode Trochaica (Er will mit ihr spazziren gehn) weiter differenziert: „Florens jeder eintzge Schritt | itzt auff nichts alß Sterne dritt.“ (L 21, V. 3f.). Selbst Pallas Athene, die weibliche Allegorie für Weisheit, wirft ihre „Bücher hin/ | sazzt sich in das dikke Grün/ | wo die Zokker-Rösgens blühn.“ (L 21, V. 6–8). Die „Heidel-Püschgens“ (L 22, V. 18) – wie an späterer Stelle das „Rohsen-Läubgen“ (L 49, V. 29) oder der „BluhmenPusch“ (L 89, V. 102) – werden zum Ort sexueller Erfüllung mit der angesprochenen Dorinde – einer Figur, die auch Kaspar Stieler, bzw. für Holz Jacob Schwieger, in der Geharnschten Venus in diesem Zusammenhang auftreten lässt. Die sexuelle Drastik, die der Poesie des siebzehnten Jahrhunderts fremd war, wird gesteigert in der folgenden Ode Jambica Es gaudirt ihn/ daß die Mädergens schon das Graß zertrükken. Die erste Strophe verbleibt dazu im floralen Bereich, bevor sie in der zweiten Strophe in den Bereich der Fauna wechseln wird: „Die Veilgens schlagen auß. | Sie sind schon halb herauß! | Durch ihre heitre Bläue | dreibt Arcas seine Säue.“ (L 23, V. 1– 4). In der Ode Jambica Er lihgt mit ihr im Grünen wird der Bogen wieder zur Poesie geschlagen. Jeweils die ersten und die letzten vier Verse der acht Oktette bilden einen Rahmen aus Blumen: „Der vohr bereiffte Wald | steht wihder wohl gestalt/ | der gantze grüne Grund | lacht wihder Bluhmen-bundt.“ (L 25, V. 1–4). Die letzte Strophe holt mit Catull, Tibull und Properz zunächst die lateinische Tradition erotisch-scherzhafter und mit Ovid, Horaz und Vergil die Tradition klassisch-bukolischer Dichtung in den Text. Damit ist die literaturgeschichtliche Selbstreflexion im Medium floraler Metaphorik vorbereitet. Das zitierte Exordium des Gedichts aufgreifend, lautet der Abschluss: „Drümb lehrt auch dich mein Flöhten | empfindlich itzt erröthen; | der Saffran-gelbe Löwen-Zahn | beschehmbt offt sälbst den Dulipan!“ (L 27, V. 61–64). Zu erwähnen ist der anfängliche Hinweis des Ich, es spiele „auff der Teutschen Opitz-Flöte“ (L 10, V. 58), um zu vergegenwärtigen, welcher Eingriff in die Literaturgeschichte vorgenommen wird: Holz als Opitz redivivus bringt die Poesie zum Blühen, die literaturgeschichtlich den Zeitgenossen nicht als Blütezeit gegolten hat. Die Blumen verlieren am Ende der erotischen Reihe ihre weibliche Konnotation und werden wieder zu Symbolen der Poesie. Die Ode Jambica Er spazzirt durch den Morgen (L 28f.) transformiert das Ich in einen Orpheus, dem Flora und Fauna zuhören. Der Gesang steht wieder im Zentrum: „kunt man ein Singen hören | die gantze lihbe Nacht“ (L 28, V. 5f.). Neben den Tieren sind es die Blumen, die den metaphorischen Grund des Gedichts ausmachen, was quantitativ in acht von 24 Versen zum Ausdruck gebracht wird:
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drümb Blöhmckens/ klein wie Sterne/ nicht ohne Anmuth stehn. Durch Tulpen und Melissen/ durch lauter Lust-Narzissen stapft Star […]. Itzt geht mit seinen Muhmen Apoll/ auß Bisem-Bluhmen bey also schöner Zeit sich Pindus-Kräntzgens binden/“ (L 28f., V. 11–15 und 19–22).
Nach diesem poetologischen Gedicht wird wieder ein erotischer Ton in Er wartet auff sie in einem Lust-Wäldgen angeschlagen. Bezeichnend ist, dass er „am bundten Bluhmen-Blazz“ seinen „Schazz“ (L 30, V. 7f.) erwartet. Hier ist der Blumenort kein Ort erotischer Erfüllung mehr, sondern Ort des bloßen Begehrens. Beim Warten am „Bluhmen-Blazz“ imaginiert das Ich ein abwesendes Du. Damit ist ein wichtiges Strukturmerkmal für die poetologische Ebene gewonnen: Blumen sind sowohl Orte poetischer Erfüllung als auch des Sehnens. Die erotische Sehnsucht am „Bluhmen-Blazz“ eröffnet die Ode Trochaica Es verdreußt ihm!, die vier vierhebige Quartette umfasst, von denen das erste den Blumen in textmetaphorischer Einbindung 176 gewidmet ist, indem Mutter Erde als Stickerin und damit als Dichterin vorgestellt wird: „Tulpen blühen und Narzissen/ | Tellus stikkt ihr Hochzeits-Kissen. | Kleine blaue Veilgens drin | machen/ daß ich frölig bin“ (L 33, V. 1–4). Nach dieser Zusammenführung kann im nächsten Gedicht Cato als der Feind der Blumen, der Liebe und der Poesie zugleich angesehen werden. Die ersten drei der sechs Strophen von Er zörnt dem Cato beschreiben die Blumenzeit als „die schönste Zeit“ (L 34, V. 1), die vierte fasst zusammen: „Frau Flora singt und geigt. | Der saure Cato schweigt“ (L 34, V. 13f.). Das Desinteresse des Cato erhebt in rhetorischer Hinsicht das sich anschließende Quodlibet Er hält darfor/ daß der Frühling so recht die Zeit zum Lihben ist – mit fast vierhundert Versen zugleich das längste Gedicht der Lieder auf einer alten Laute (L 36–47, V. 1–396) 177 – zum Gegenargument. Dieses besteht in der Hauptsache aus dem Anführen der verschiedensten Frauentypen, nur der Beginn (L 36f., V. 1–24) und das Ende _____________ 176 Zur Textmetaphorik grundlegend: Erika Greber, Textile Texte. Poetologische Metaphorik und Literaturtheorie. Studien zur Tradition des Wortflechtens und der Kombinatorik, Köln 2002 (= pictura & poesis, 9). 177 In Dafnis. Lyrisches Portrait aus dem 17. Jahrhundert (1904) hat Holz das Dialoggedicht Er singt ihnen/ während deme sie drincken/ in die Laute/ wordrauff sie ihme ümmer/ zum Clavicembalo/ vergnügt antworten aufgenommen, das 355 Verse umfasst.
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heben sich davon ab. Den Anfang bildet eine enumeratio verschiedenster Blumen: „Nelcken/ Scharlach/ Amaranth | und waß sonst noch wird benannt/ | Fenchel/ Lauch und Mensedorn/ Hertzgespan und Rittersporn/ | Kellerhaltz und Koriander/ alles blüht itzt durcheinander. | Tausendschön und Ackeley/ Augentrost ist auch darbey“ (L 36f., V. 7– 14). Die beiden Gottheiten Mars und Pan sind ganz den Blumen zugewendet: Jener „pflükkt sich seinen blancken Hut | voll Engelsüß und Wohlgemuht/“ (L 37, V. 19f.), dieser „bläst auff seinem Zihgen-Rohr | den Veilgens vor“ (L 37, V. 21f.). 178 Nachdem Dafnis die verschiedenen Frauentypen von Florindgen bis Doris (L 37–45) abgehandelt hat, erfolgt die poetologische und literaturgeschichtliche Rückbindung des Gesagten in einer allgemeinen Überleitung, die wiederum mittels der Blumenmetaphorik eingeführt wird: „Itzt so ist die schönste Zeit/ | kükk/ wies auff uns Blühten schneyt! | Sie leuchten durch das Graß | so zahrt/ so Silber-blaß“ (L 45, V. 335–338). Das Blumen-, Frühlings- und Frauengedicht – strophisch abgehoben (L 46f., V. 361–396) – gipfelt im Selbstlob der Dafnis-Figur: „Weiser bün ich alß Aesop | […] herrlicher alß Democrit/ | göldner saß auf seinem Thron | kaum der König Salomon!“ (L 46f., V. 367–372). Das Argument von Dafnis, der sich als „andrer Febus“ (L 47, V. 382) anredet, ist, dass die Evidenz des Blühens jede Kritik verblassen lassen muss, die in Zoilus personifiziert wird: „Blüht es/ ist das kleinste Gras | klüger als Pythagoras!“ (L 47, V. 373f.). Als Motivation für sein Singen macht Dafnis im letzten Vers die Liebe verantwortlich, personifiziert in Cupido. Der Liebesgott habe ihn zu dem wichtigsten Dichter seiner Zeit werden lassen und diese, also das siebzehnte Jahrhundert, zu einer Blütezeit der Poesie, lautet die implizite Aussage. Dass die Zeit für Blumenverse „vorbei sei“179, wird gemäß der Jahreszeitenabfolge zunehmend zum Gegenstand der poetischen Aussage. Holz muss mit der Anordnung seiner Gedichte erkannt haben, dass er einen vorläufigen Höhepunkt innerhalb der Dramaturgie der Blumenlese erreicht hat. Schon die übernächste Ode Trochaica trägt den Titel Er klagt/ daß der Frühling so kortz blüht. Die ersten beiden der drei Strophen widmen sich nochmals der Blumenevokation (L 50). Es entspricht nicht dem Charakter des Dafnis zu klagen, und so wird die Klage gleich wieder zurückgenommen in der Ode Jambica Er läßt nie sein Maul hängen (L 51f.). Zwar feiert er den Frühling darauf erneut, doch allein als kulinarisches Ereignis, das die verschiedensten Gemüsearten im Monat Mai hervorbringt (Er freut sich/ daß es Frühling ist [L 53f.]); in diesem Sinne sind die _____________
178 Dieses Motiv auch im folgenden Gedicht Er hört mit ihr den Gukguk schreyn: „Venus und ihr kleines Söhngen | pflükken sich da Tausendschöngen.“ (L 48, V. 5f.) 179 Vgl. Conermann, „Dafnis“, S. 108.
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Gedichte Er freut sich/ daß es Winter ist (L 5f.), Er freut sich/ daß es Sommer ist (L 82–84) und Er freut sich/ daß es Herbst ist (L 119–121) zu verstehen.180 Es folgen zwei weitere thematisch verwandte Gedichte: Freß- und Sauflieder, wie Holz sie ab der Ausgabe für Piper 1904 nennen wird (L 55–59). Zunächst scheint es, Holz entziehe seiner Figur wieder die Lust nach körperlichen Genüssen: „Andre mögen Bachum ehren | und ihr Göldt in Wein verkehren/ | itzt bün ich ein andrer Mann“ (L 60, V. 1–3). Mit der Ode Trochaica Er klebt so ämsig über seinen Büchern/ daß ihm der Schweiß vom Bukkel dropfft inszeniert Holz sein alter ego Dafnis aber nur scheinbar als kontemplativen poeta doctus, da er ihn gleich wieder dem körperlichen Genuss in sogenannten Venus-Liedern zuwendet (L 63–71 und 77–81). Die Serie wird durch zwei poetologische Selbstlob-Gedichte unterbrochen, die das bereits eingeführte Thema (L 46f.) ausbauen: Er hält sich for mehr alß die übrigen und Er fühlt sich fast den Sternen nah (L 72–80) und überleiten zu sexuellem Selbstlob: Er blustert sich auff/ alß ob er der Daridatumdarides wäre (L 77–79). Erst mit dem Quodlibet Der Hunds-Stern verbrännt ihn fast kehrt Holz zurück zu seinem ersten großen Thema der Anthologie, dem Blühen der Poesie; aber da nun der Redezeitpunkt mitten im Sommer liegt, hat sich auch dieses Blühen gewandelt. Das Gedicht weist im Titel zugleich auf das Ende der Blütezeit hin. Gemeinsam mit den ihm folgenden trochäischen Liedern (L 85–96) wird ein letztes Mal das Land zum Blühen gebracht: „Itzt ist die gantze Welt | ein bundtes Rohsen-Feld/ | itzt ist es schön“ (L 85, V. 5–7). Die Vergänglichkeit des Blühens wird reflektiert in Er lauscht einem Vögelgin, dessen Refrain einen Klagegesang anstimmt: „Schluchtzt ihr Flöhten/ klagt ihr Geigen/ | blüht mein Hertz auch roht wie Mohn/ | zum Cocythus muß ich steigen/“ (L 90, V. 9–11). Auch im Text wird die Vergänglichkeit des Blühens besungen: „Rohsen/ Tulpen und Cypressen/ | alles blüht und wird vergessen/ | alles muß nach kurtzer Zeit | in die tunckle Ewigkeit!“ (L 91, V. 31–34). Die Blumen haben nur noch untergeordneten und illustrativen Charakter in dieser Dreiergruppe: „Er sitzt in lautter Rohsen | und singt und lacht“ (L 89, V. 103f.) bzw.: „Mit Frau Florens bundter Waare | kräntzt er ihr die göldnen Hahre/ | […] Auß verguldeten Narzissen/ | gantz auf Ueppigkeit beflissen/“ (L 94f., V. 25f., 43f.). Dass die Blumen nicht nur der Illustration der Jahreszeiten dienen und zum topischen Inventar der Poesie des siebzehnten Jahrhunderts gehören, sondern auch eine für das poetologische Programm der Antho_____________ 180 Zu derartigen Verknüpfungen s. ebd., S. 46.
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logie strukturbildende Funktion besitzen, wird in ihrer Verbindung mit dem Musenquell deutlich. Neben der Hippokrene gilt die Aganippe als Quelle der Poesie. Holz lässt um sie herum Blumen wachsen: „Wo/ von Blumen bundt umblinckt/ | Aganippens Silber springt | zwischen Rohsen-Sträuchen/ | sträkke ich mich froh und frey/“ (L 105, V. 17–20). 181 Diese Stelle steht in einer Reihe von Venus-Liedern (L 97–118), die mit dem Herbstbeginn endet, wobei das Ich zwischen einer Serie von Freßund Saufliedern (L 119–121 und 126–134) die Jahreszeit zum Anlass nimmt, in dem Quodlibet Er schüttelt sein Hertz auß (L 122–125) über die Vergänglichkeit des Lebens – zum Teil symbolisiert durch die verblühte Flora – zu klagen: „Das Feld steht Kräutter-leer/ | Frau Flora lacht nicht mehr/ […] Alles blüht und muß vergehn/“ (L 122, V. 1f. und 33).182 Wenn das vorletzte Gedicht – eine Ode Trochaica Er denckt an die hochfliegenten Adler ädler Teutscher Boesie/ so schon vor ihme gesungen (L 135f.) – die literaturgeschichtliche Frage wiedergewinnt, von der die Analyse von Holz’ Anthologie ausging, dann beschwört Holz ein letztes Mal die Poesie als das Leben in der Sprache der Blumen: „singt euch/ springt euch auß der Noht/ | schlagt den Dodt mit Rohsen dodt!“ (L 136, V. 23f.). Auch die Bußtränen-Gedichte, welche den zweiten Teil des Dafnis von 1904 bilden, bleiben auf die florale Metaphorik und den von ihr getragenen Gedankengehalt bezogen, wenngleich im sentimentalischen Rückblick. In der Ausgabe von 1904 sind es die letzten vier Gedichte der zehn und später auf dreizehn erweiterten Bußtränen, die sich dem Frühlingsmotiv wieder zuwenden. Mit Er bereut nichts; er wünscht nur/ daß ihn noch Ein-mahl der Frühling freut wird die sentimentalische Perspektive eingeleitet: „Noch Ein-mahl möcht ich sehn | die Kindgens Kräntze drehn!“ (D 258, V. 3f.). In der Ode Jambo-Trochaica Er siht nach hartem Winter von seiner lezzten Streu auß der Kammer und der Ode Jambo-Dactylica Er spührt ihn kommen ist der lyrische Sprecher in den Stand des Beobachters versetzt und auf Distanz zum Frühling, welcher das Leben und die Poesie symbolisiert. Der Distanz zum Frühling – „Nur ich bün nicht darbey!“ (D 261, V. 16) – auf der anthologischen Ordnungsebene entspricht die Distanz des Autors Arno Holz zu den Frühlings- und Blütezeiten der deutschen _____________ 181 Vgl. auch das Bußtränen-Gedicht Er stellt sich den letzzten Gerichts- und Doten-Tag für aus Dafnis (1904), wo es über Flora heißt: „Kaum ümbflohrt von zahrten Bändern/ | siht man sie am Bach-Rand schländern/ | wo sie sich des offtern bükkt | und Vergißmeinnichtgens pflükkt.“ (D 247, V. 13–16). 182 In dem memento mori, das für die Ausgabe bei Piper von 1904 um die ‚Bußtränen‘ als dem zweiten Teil der Anthologie erweitert wird, hat allerdings die Blumenmetaphorik keine erkennbar poetologische Funktion, sondern veranschaulicht allein den Verfallsprozess: „Dein Mund so süß benelckt | klafft jämmerlich verwelckt/ | von Rohsen nicht die Spur/ | zwo trukkne Schruntzeln nur/“ (L 124, V. 43–46).
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III. Kritik germanistischer Literarhistorie
Poesie, wobei der Witz darin besteht, dass er mit seiner erfundenen Blumenlese zum siebzehnten Jahrhundert performativ dieses um 1900 wieder erblühen und zu einer dritten Blütezeit neben dem Mittelalter und der Weimarer Klassik werden lässt. Gleichzeitig aber befreit er sich von der Vorstellung, dass diese Blütezeit in der Gegenwart noch ein Recht beanspruchen könnte, denn diese „Welt in floribus“ (D 264, V. 16) ist „hin“ wie alles mit ihr. Die letzte Bußträne Er spricht noch auß dem Grabe lässt keinen Zweifel daran, dass die Zeit des Dafnis vorbei ist. Holz bringt mit Dafnis eine bestimmte historische Formation zum Erblühen und begräbt sie im selben Atemzug, was gänzlich seiner innovatorischen und letztlich historischrelativistischen Programmatik entspricht: „Ich war ein Mäntsch wie du/ | itzt däkkt der Sand mich zu. | Keine Blühmckens blau und blaß | blühn mir mehr ümb den Parnass/“ (D 264, V. 3f.). Die Bußtränen des Dafnis von 1904 explizieren die Struktur, die schon in den Liedern auf einer alten Laute von 1903 angelegt ist. Es wäre zu einfach, hier nur eine motivische Wiederaufnahme des barocken memento mori und seine unkonventionelle Kombination mit dem carpe diem zu sehen. Dafnis ist ebenso wenig nur ein historisches Psychogramm, wie Holz es ausgelegt hat; dazu ist die literaturgeschichtlich-poetologische Ebene viel zu gut ausgebaut. Holz geht es immer auch um die Möglichkeiten des dichterischen Sprechens, und diese sind für ihn von der Literaturgeschichte vorgegeben. Die germanistische Disziplin, die die literaturgeschichtlichen Wissensbestände archiviert, ediert, ordnet, bibliographiert, hatte den jeweiligen historischen Ort, den ein Autor einnimmt, um 1900 innerhalb einer teleologischen Entwicklungslogik organisiert und dadurch jedem Dichter die Möglichkeit entzogen, in literaturgeschichtlicher Hinsicht einen naiven Standpunkt einzunehmen. Die „Subjektivierung der barocken Form“ 183 im Dafnis bildet sicherlich das Anstößige für jeden literaturgeschichtlich einigermaßen mit dem siebzehnten Jahrhundert vertrauten Leser. Dieser Anachronismus führt zur Überwindung der „historisierenden Nachahmung barocker Dichtung“ 184. Nach Conermann schafft Holz mit den sprachlichen Mitteln des siebzehnten Jahrhunderts idyllische Naturräume, in denen sich die „Sehnsucht nach einem organisch-glückhaften Zustand – anders als in dem ‚Phantasus‘-Gedicht – in die Gegenwart des Idylls“ rettet. „Da sie aber nicht mehr mit modernen Mitteln zu gestalten war, mußte Holz sich der Sprache und Denkweise einer vergangenen Zeit angleichen.“ 185 _____________ 183 Conermann, „Dafnis“, S. 127. 184 Ebd., S. 45. 185 Vgl. ebd., S. 115, zur Naturdarstellung und zur floralen Metaphorik ebd., S. 106–115.
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Conermann hat auf dieser Grundlage eine These zur nicht-satirischen Komik des Dafnis entwickelt, ausgehend von einem Brief an Piper, in dem Holz die eigene Schreibweise im Sinne Schillers als naiv versteht und das Satirische abweist.186 Schiller war in Über naive und sentimentalische Dichtung davon ausgegangen, dass die naive Natur nicht mehr verspottet, sondern bewundert wird, sobald die damit verbundene Kunstverachtung als Einfalt, nicht aber als Unvermögen erkennbar ist. Künstlich sei die barocke Dichtungssprache, da sie für die Natur als Subjektivität keinen Raum lasse: „Die naive Natur“, so Conermann, „siegt vor allem dadurch über die ‚Kunst‘, daß sie […] den barocken Literaturstil subjektiviert“ 187. Holz beansprucht – so ist zu ergänzen – gleichfalls Naivität gegenüber jener Kunst, welche die Kunstsprache der barocken Poesie wissenschaftlich erforscht: Die Rede ist von der Kunst literarhistorischer Kritik, die bis zur geistesgeschichtlichen Reform die Germanistik bestimmte. Holz’ Anachronismus markiert die Distanz zur Disziplin; durch ihn verweigert sich der Autor dem epistemologischen Anspruch der literarhistorischen Forschung, auf die historische Besonderheit der Form zu pochen. Dabei ist gleichgültig, ob Einfalt oder Unvermögen am Werk sind. Wichtiger ist, dass Holz erst mit dem Anachronismus deutlich machen kann, dass eine exakte historisierende Nachahmung das poetische Pendant zur historischen Philologie wäre. So befreit der Anachronismus die Poesie aus den Zwängen einer historisch-philologischen Kunst. Um den Anachronismus des subjektiven Charakters zu gestalten, beachtet Holz dem Anspruch nach die äußere Form der Sprache genau. Sie bildet sozusagen eine Kontrastfolie. Wenn Holz eine natürliche Sprechsituation im Dafnis herstellt und hinter den historiographischen Prozess zurückgeht, der die deutsche Literaturgeschichte als Gegenstand erschlossen und den Anachronismus als methodologischen Defekt geschaffen hatte, dann wird dieser Vorgang durch die Wahl der Blumenmetaphorik unterstrichen. Der topische Vergleich der Poesie mit Blumen hatte mit der Romantik eine semantische Verschiebung erfahren. Die Metapher des Blumenlesens wurde in die wissenschaftliche Metasprache der historisch ausgerichteten Philologie überführt und differenzierte ein umfangreiches Begriffsvokabular aus dem Garten der Poesie aus: Man sprach von Vorgängen in der Zeit, vom Verwelken, von der Blütezeit, vom Nährboden und von Einflüssen statt von statischen Einheiten wie Blumen, Sträußen, Kränzen, Bändern. Wenn Blumen geschichtlich dynamisiert werden, dann ist die Rede von Blütezeiten folgerichtig. Der Anthologie-Gedanke meinte im _____________ 186 Arno Holz an Reinhard Piper am 22.4.1904, in: Holz, Briefe, Nr. 105, S. 155. 187 Conermann, „Dafnis“, S. 124.
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III. Kritik germanistischer Literarhistorie
neunzehnten Jahrhundert keine statische Blumenlese mehr. Er implizierte das historische Gewachsensein dieser Blumen und folgte dem historischphilologischen Wissenschaftsverständnis: Lachmanns und Haupts Minnesangs Frühling (1857) denkt den Boden mit, auf dem die Poesie blüht. Die Dafnis-Figur ist nicht nur wegen ihrer vitalistischen und antibürgerlichen Wünsche ein alter ego des Dichters Arno Holz; sie verkörpert ebenso die Sehnsucht nach der naiven, d. h. hier einer Dichtsituation vor der literaturgeschichtlich-disziplinär reflektierten. 188 Dieser Zug kommt ebenso in dem Titel von Holz’ zeitgleich entstehender RokokoAnthologie zum Ausdruck, die im Untertitel als ‚Frühlingsstrauß‘ bezeichnet ist. Der Anthologist Holz geht hinter die historisch ausgerichtete Philologie seiner Zeitgenossen zurück und wählt einen Titel, wie er im Rokoko üblich gewesen wäre. Die Frage, auf welche Weise die Blumenmetaphorik im Dafnis funktionalisiert und als Nebengesang zur fachwissenschaftlich konstruierten Literaturgeschichte gelesen werden darf, ist daher ambivalent zu beantworten. Holz will sich der literarhistorischen Formation der Disziplin entziehen, zugleich will er an ihr partizipieren, indem er ihre Urteile korrigiert. Wenn die Zeit des Minnesangs die erste nachweisbare Blütezeit der deutschen Literatur, die Zeit um 1800 ihre zweite gewesen sein soll, dann stehen Abschnitte der Literaturgeschichte wie das siebzehnte Jahrhundert folglich im Hintergrund der Aufmerksamkeit. Holz greift die florale Metaphorik auf und erhebt das siebzehnte Jahrhundert zu einer Blütezeit der Poesie. Sein lyrisches alter ego in dem Quodlibet Er drillert ihr ein Qwodlibet bläst „auff der Teutschen Opitz-Flöte/ | biß kein Baum mehr über blihben/ | der nicht gäntzlich vollgeschrihben.“ (L 10, V. 58–60). Es ist eben nicht irgendeine Flöte, mit der er seine Liebste erröten macht, 189 sondern die Opitz-Flöte, wobei der Reim auf den Träger der literaturgeschichtlichen Blütezeit um 1800 in der Konzeption Scherers wie ein Echo nachhallt.
_____________ 188 Zur Naivität des Dafnis s. Schulz, Arno Holz, S. 140. 189 Es ist bezeichnend, dass in der letzten Stanze des acht Strophen umfassenden Gedichts eine literaturgeschichtliche Reflexion folgt. Sie weist voraus auf die letzte Strophe des acht Strophen mit jeweils acht Versen (Stanze) umfassenden Gedichts Er lihgt mit ihr im Grünen, wo es in einem Vergleich mit der lateinischen erotisch-scherzhaften Dichtung heißt: „Drümb lehrt auch dich mein Flöhten | empfindlich itzt erröthen;“ (L 27, V. 61f.) Holz verwendet damit die Stanzen als einen poetologischen Reflexionsraum.
2. Thomas Manns Lotte in Weimar und der Dienst am Dichter Die Beziehung zwischen Dichtung und Philologie, d. h. im folgenden Fall zwischen Autorschaft einerseits und ihrer Vermittlung, Tradierung und Kanonisierung, ja bisweilen sogar Vollendung durch die kritische Edition andererseits, wird anschaulich dort, wo sie nicht in der diachronen Einseitigkeit gegenüber einem verstorbenen Autor besteht, sondern in einer Gleichzeitigkeit. Goethes Beziehung zu Eckermann offenbart das Abhängigkeitsverhältnis, als welches sich eine solche persönliche Beziehung charakterisieren kann. Die ästhetische Souveränität basiert auf einem Staat von Dienern und Untergebenen, der im Laufe der literaturgeschichtlichen Entwicklung größer und mächtiger werden kann. Die Keimzelle der Goethe-Philologie stellt das persönliche Verhältnis Goethes zu all jenen dar, die als Schreiber, Editoren, Kompilatoren und Werkverweser die Autorität ihres Meisters für die Zukunft sicherten.1 Goethe „schuf sich“ 2, wie Nietzsche meinte; jedoch nicht allein. Dichter mit einem philologischen Bildungshintergrund wie Arnold Zweig (Der Gehilfe, 1916) oder Martin Walser (In Goethes Hand, 1982) haben versucht, besonders die Beziehung Goethes zu Eckermann zu gestalten, in der sie erkennen konnten, was ihnen selbst im Unterschied zu Goethe abging: Menschen, die sich aus freien Stücken und unter Aufopferung ihrer persönlichen ästhetischen Interessen in den Dienst des Werkes eines anderen stellten. Weniger prominent als die zu Eckermann, aber nicht weniger folgenreich war Goethes Beziehung zum Philologen Dr. Friedrich Wilhelm Riemer. Ihre Fiktionalisierung durch Thomas Mann in seinem Roman Lotte in Weimar (1939) analysiert zum einen die Abhängigkeit des autorzentrierten Philologen von seinem Dichter, zum anderen nimmt es die Absurditäten der biographistischen Goethe-Philologie, die die Generation von Thomas Mann prägte, aufs Korn.
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Zu Goethe im Kontext philologischer Praxis um 1800 s. Buschmeier, Poesie und Philologie in der Goethe-Zeit, S. 203–221, Martus, Werkpolitik, S. 444–513, bes. S. 440–460. Martus hat Goethe als ‚Virtuosen des Gesamtwerks‘ analysiert (ebd., S. 461–513). – Zu philologischen Strategien im Werk Goethes s. Buschmeier, Poesie und Philologie in der GoetheZeit, S. 224–283, S. 292–444. Friedrich Nietzsche, Götzen-Dämmerung, in: Ders., Kritische Studienausgabe, hg. v. Giorgio Colli/Mazzino Montinari, Berlin/New York 21988, S. 55–162, hier S. 151.
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III. Kritik germanistischer Literarhistorie
2.1. Ironie der Philologie 3 Thomas Mann hat dem Philologen nicht nur in Lotte in Weimar eine Stimme gegeben. Im Doktor Faustus ist der Erzähler ein Philologe; d. h. die repräsentative Stimme, die versucht, die deutsche Geschichte zwischen 1884 und 1945 in ihrer kulturellen Bedeutung zu erfassen, ist die eines promovierten Altphilologen im Schuldienst, der zugleich als Träger der humanistischen Bildung auftritt. Seine Funktion ist doppelter Natur: Er dient einerseits dem Künstler Adrian Leverkühn als Sprachrohr für dessen ästhetische Ansichten und Werke; andererseits verdeutlicht seine dienende Rolle, dass die ästhetischen Konstellationen der Moderne in ihrer Komplexität von einem Philologen sachlicher bezeugt werden können als von einem wissenschaftlich ungeschulten Liebhaber der Kunst. In Lotte in Weimar ist die Philologie dagegen nicht Mittel der Darstellung, sondern ihr Zweck, indem sie die Möglichkeitsbedingungen der Figur Goethe offen legt, mit der sich Thomas Mann bis dahin vornehmlich imitatorisch und interpretatorisch beschäftigt hatte. Abgesehen von den umfangreichen essayistischen, rednerischen und kritischen Beiträgen über den Weimarer Klassiker erweist sich Thomas Manns erzählerisches Werk als eine produktive Bezugnahme, die zwischen Mimikry und Parodie schwankt. Der Tod in Venedig war ursprünglich als Goethe-Novelle mit dem Titel Goethe in Marienbad konzipiert. Obwohl er das Vorhaben einer Goethe-Novelle aufgegeben hatte, las Thomas Mann während der Niederschrift von Der Tod in Venedig fünfmal die Wahlverwandtschaften. 4 Vom Zauberberg über den Joseph-Roman bis zum Doktor Faustus blieb Goethe als Orientierungsgröße bestehen. 5 Dichtung und Wahrheit wurde ‚Substrat‘ der Bekenntnisse des Hochstaplers Felix Krull und parodistisch „bis in den Wortschatz und Tonfall hinein nachgeahmt.“ 6 Die Frage, was Thomas Mann ohne Goethe gewesen wäre, lässt sich rezeptionsästhetisch umkehren: Was wäre Thomas Mann ohne sein an Goethe geschultes Publikum geworden? Das Wissensparadigma ‚Goethe‘ bildet einen Erwartungshorizont, auf den das Schreiben Thomas Manns gerichtet ist. Der Roman Lotte in Weimar expliziert diesen Bezug nicht nur, _____________ 3
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Hier im genitivus obiectivus gebraucht: Die Philologie ist ironischer Gegenstand der Poesie. Vgl. dagegen die Darstellung bei Martus, Werkpolitik, S. 432–444, wo es um die Ironie der Philologie geht, welche die philologische Praxis der Romantik selbst erzeugt, also um einen genitivus subiectivus. Vgl. Hans Wysling, Thomas Manns Goethe-Nachfolge, in: Ders., Ausgewählte Aufsätze. 1963–1995, Frankfurt a. M. 1996 (= Thomas-Mann-Studien, 13), S. 18–64, hier S. 30 (zuerst in: Jahrbuch des Freien Deutschen Hochstifts 1978, S. 498–551). Ebd., S. 41–44. Ebd., S. 29. – Vgl. auch Thomas Sprecher, Felix Krull und Goethe. Thomas Manns „Bekenntnisse“ als Parodie auf „Dichtung und Wahrheit“, Bern 1985.
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sondern rückt verfahrenstechnisch zugleich die Vermittlungsinstanz ins Zentrum der Aufmerksamkeit, die dafür verantwortlich zeichnet, dass Goethe in der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts ein maßgeblicher Bezugspunkt der dichterischen Produktion werden konnte: die Goethe-Philologie. Je mehr ein Leser mit Goethe und den Instanzen seiner Vermittlung bekannt ist, desto eher wird er den Roman als philologische Leistung würdigen. Lotte in Weimar veranlasste daher Ernst Cassirer zu der Frage: „Ist dies alles noch Dichtung – oder ist es nicht vielleicht eine freilich höchst subtile und künstlerisch-sublimierte Goethe-Philologie?“ 7 Cassirer denkt beide Möglichkeiten zusammen: In der Dichtung leiste Thomas Mann einen Beitrag zur Goethe-Philologie, insofern es ihm gelinge, Goethes ‚Geist‘ mittels des Verfahrens der ‚wiederholten Spiegelung‘ (Goethe) kaleidoskopartig zur Darstellung zu bringen. Der Roman erfülle nicht nur methodisch jenes Wissenschaftsideal, nach welchem ‚analytische und synthetische‘ Operationen zusammenwirken sollen; zugleich manifestiere er eine historische Wahrheit und sei schließlich wie sein wissenschaftliches Komplement, die Philologie, „Goethe-Erkenntnis“ 8. Diese epistemologische Absicht allerdings wird in Lotte in Weimar mittels der Ironie durchkreuzt, indem sich das Medium der Erkenntnis, die philologisch-biographische Einstellung des erkennenden Subjekts (Thomas Mann) gegenüber seinem Gegenstand (Goethe), regelrecht selbst vorführt und als eine Begehrensform in eroticis entlarvt. Damit wird der Roman zumindest teilweise zur Charakteristik des Philologen und des Philologischen; jene metonymische Darstellung Goethes bis zum Kapitel 7 dient alsdann der Analyse des autorzentrierten Literaturverständnisses und seiner Funktionsweise als derjenigen von ‚Goethes Wesen‘. Für Cassirer, dessen eigenes Denken lebenslang im Bann von Goethes Geist stand und der wie nur Wenige den Dichter und den Naturforscher Goethe zu synthetisieren vermochte,9 war es nichts Ungewöhnliches, dass sich auch Thomas Mann mit einem Goethe-Bild in die Reihe anderer solcher geistesgeschichtlichen Bildner gesellen wollte. _____________ 7
8 9
Ernst Cassirer, Thomas Manns Goethe-Bild. Eine Studie über Lotte in Weimar, in: Germanic Review 20 (1945), H. 3, S. 166–194, hier S. 181. – Bereits Alfred Kerr hatte (Der Tag, 5.1.1913) Thomas Manns Drama Fiorenza als ‚Philologenarbeit‘ bezeichnet, vgl. Klaus Schröter (Hg.), Thomas Mann im Urteil seiner Zeit. Dokumente 1899–1955, Hamburg 1969 (= Thomas-Mann-Studien, 22), S. 61. Cassirer, Thomas Manns Goethe-Bild, S. 184. Zu Cassirers Goethe-Rezeption s. die Beiträge in Barbara Naumann/Birgit Recki (Hg.), Cassirer und Goethe, Berlin 2002. – Die Goethe-Rezeptionen von Geisteswissenschaftlern und Dichtern ähneln sich in der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts, speziell zu Thomas Mann und Heinrich Wölfflin s. Andreas Ay, Nachts Goethe gelesen – Heinrich Wölfflin und seine Goethe-Rezeption, Göttingen 2010, S. 323–329.
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III. Kritik germanistischer Literarhistorie
Tatsächlich war Thomas Mann vor dem Erscheinen von Lotte in Weimar mit eigenen, ernst gemeinten Goethe-Bildern hervorgetreten, und zum Goethe-Jubiläum von 1932 hatte er sogar beabsichtigt, eine Biographie vorzulegen. 10 Die frühe Schiller-Erzählung Schwere Stunde (1905) ist eine Vergegenwärtigung des künstlerischen Bewusstseins mit den Gestaltungsmitteln des Dichters. In den 1930er Jahren verschob sich allmählich das Interesse mit der Folge, dass Lotte in Weimar stärker die Konstruktion des Bildes und nicht mehr allein dieses selbst fokussierte. Cassirer hat insofern nicht völlig die Konstellation verkannt, als für Thomas Mann der geistästhetische Horizont, in dem sich die Philologie bewegte, den Möglichkeitsraum ihrer Kritik abgab. Alles andere als eine ironische oder parodistische Einstellung würde denn zu diesem späten Zeitpunkt epigonal gewirkt haben oder wie ein Versuch, im Roman die positivistischen und geistesgeschichtlichen Goethe-Studien jener Epoche hinsichtlich des Wahrheitsanspruches und der Erkenntnisleistung zu überbieten. Auf eine ‚künstlerisch-sublimierte Goethe-Philologie‘ (Cassirer) stößt man eher in Friedrich Gundolfs Goethe (1916) oder – wenn man bereit ist, das Künstlerische im sprachlichen Ausdruck und in der dramatischen Erzählweise zu sehen – in Albert Bielschowskys und Philipp Witkops GoetheBiographien, an denen sich Thomas Mann orientierte. 11 Eine ‚künstlerisch-sublimierte Goethe-Philologie‘ wäre Lotte in Weimar nur dann, wenn man den Akzent von Goethe auf die Philologie verschöbe. Der Roman, von einem Standpunkt außerhalb der philologischen Wissenschaft geschrieben, handelt von der psychologischen Triebkraft dieser Wissenschaft in einer Form, die im diskursiven Freiraum der Literatur, weniger in den Zwängen des disziplinären Diskurses ausgebildet werden kann. Cassirers Anspruch, Thomas Manns Buch ganzheitlich zu deuten, gilt mittlerweile als uneinlösbar. Entweder werden Einzelaspekte beleuchtet oder aber es wird der pointillistische Blick eingenommen, 12 den Cassirer vermeiden wollte und der im verdienstvollen Kommentar der Großen
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Über sein Engagement zum Goethe-Jahr 1932 informiert Thomas Neumann, …fast ein Frühstück bei Goethe. Thomas Mann und die Goethe-Woche in Weimar, in: ThomasMann-Jahrbuch 10 (1998), S. 237–247. Zur Goethe-Biographik s. Hans-Martin Kruckis, „Ein potenziertes Abbild der Menschheit“. Biographischer Diskurs und Etablierung der Neugermanistik in der GoetheBiographik bis Gundolf, Heidelberg 1995 (= Probleme der Dichtung, 24). Von zeitgenössischer Seite schon Harry Maync, Geschichte der deutschen Goethe-Biographie. Ein kritischer Abriß, Leipzig 21914; Rudolf Unger, Wandlungen des literarischen Goethebildes seit hundert Jahren, in: Ders., Aufsätze zur Literatur und Geistesgeschichte, Bd. 2, Berlin 1929, S. 220–232. Cassirer, Thomas Manns Goethe-Bild, S. 181f.
2. Thomas Manns Lotte in Weimar und der Dienst am Dichter
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Frankfurter Ausgabe die höchste denkbare Auflösung erreichte. 13 Tatsächliche und auch mögliche Bezüge zur Goethe-Philologie sind offengelegt –, jedoch, wie zu zeigen sein wird, bei Weitem nicht alle. Aufgrund der exzessiven Auseinandersetzung Thomas Manns mit dem philologischbiographischen, philologisch-hermeneutischen und psychologischen Goethe-Schrifttum seiner Zeit wäre es unangemessen, davon auszugehen, der Dichter habe verschiedene Quellen in ein ‚Ganzes‘ integriert, das sämtliche Quellen unsichtbar vereine. Thomas Mann selbst dachte sogar an einen Kommentar, keinesfalls wollte er kaschieren.14 Es gibt einen anderen Weg als jenen zu Cassirer führenden, der Dichtung und Philologie im Roman wieder zusammenbringt. Thomas Mann legt im Roman die Fährte. Seine Dichtung ist tatsächlich eine Auseinandersetzung mit der Philologie, von dieser her erst begreifbar; nur will er nicht ihre Probleme ‚künstlerisch-subtiler‘ lösen, als es die Philologen und Psychologen vermögen, sondern ihren Diskurs und ihre Praxis ad absurdum führen. Thomas Mann würde sagen: ironisieren. Nicht dass er den Versuchungen der Philologie widerstanden hätte. Bis an sein Lebensende lieferte er kritische Essays zu Fragen der Dichtung, des künstlerischen Schaffens, zu einzelnen Autoren, zumal zu Goethe, die Aspekte aufgreifen, die der germanistische Diskurs anbot. Aber in diesem Exilroman nahm er sich die Freiheit heraus, den wissenschaftlichen Diskurs über Goethe als ästhetisches Spiel in Szene zu setzen. Thomas Mann ging dabei ironisch vor. 15 Ironie kennzeichnet auch seinen Protagonisten. An einer entscheidenden Stelle, als der ‚Vorbote‘ von Goethes Geist, der Philologe Riemer, seinen ‚Herrn‘ charakterisiert, ist vom ‚elbischen Geist Goethes‘ die Rede. Ein Geist, der in sich Liebe und Indifferenz vereint, das Gute wie das Böse, das Göttlich-Teuflische, ein Geist von umfassender „Ironie“ (LW 92). Ironie sei alles, worauf es ankommt. Riemer gibt vor, Goethe zu zitieren: „‚Ironie‘, sagte er [Goethe], ‚ist das Körnchen Salz, durch welches das Aufgetischte überhaupt _____________ 13
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Thomas Manns Werke, sofern nicht anders angegeben, werden unter der Sigle GKFA zitiert nach der Ausgabe: Thomas Mann, Große kommentierte Frankfurter Ausgabe. Werke – Briefe – Tagebücher, hg. v. Heinrich Detering/Eckhard Heftrich/Hermann Kurzke/Terence J. Reed/Thomas Sprecher/Hans R. Vaget/Ruprecht Wimmer, Frankfurt a. M. 2001ff. Zitate aus Lotte in Weimar (GKFA 9/1, hg. v. Werner Frizen) im Haupttext werden unter der Angabe der Sigle LW und der Seitenzahl in Klammern nachgewiesen: „Mager, ein gebildeter Mann“ (LW 11). – Zusätzlich zum Kommentar s. auch Gerhard Lange, Struktur- und Quellenuntersuchungen zur „Lotte in Weimar“, Bayreuth 1970. Zum Zitatcharakter s. Irmela von der Lühe, Lotte in Weimar – Thomas Manns Goethe zwischen Dichtung und Wahrheit, in: Thomas-Mann-Jahrbuch 22 (2009), S. 9–23, hier S. 14–16. Vgl. Werner Frizen im Kommentar (GKFA 9/2, S. 176). Vgl. Erich Meuthen, Sprachkraft. Versuch über Ironie und Allegorie, München 2011, S. 87–118, der dem Zusammenhang von Ironie und literarischer Identitätskonstitution in Lotte in Weimar nachgeht.
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III. Kritik germanistischer Literarhistorie
erst genießbar wird‘“ (LW 92). Die Tatsache, dass die Thomas-MannPhilologen das Goethe-Zitat nicht finden konnten, 16 macht stutzig und rückt Thomas Manns eigene Ironie ins Licht: Gerade jenes Goethe-Zitat, welches Goethes Ironie bezeugen soll, erweist sich als erfunden. Die ironische Thematisierung des eigenen Verfahrens ist kein Einzelfall. An späterer Stelle vergleicht Riemer den Liebhaber Goethe mit Jupiter. Thomas Mann hatte den entscheidenden Hinweis zu seinem Roman auf die Weimarer Reise Charlotte Kestners, geb. Buff, im Jahre 1816 dem Psychologen Felix Aron Theilhaber entnommen. Über Goethes Göttlichkeit weiß Riemer, der an der Liebe der verlobten Lotte ‚teilhaben‘ will: Sein Vertrauen, seine Gelassenheit führt sich eben auf die vagierende Göttlichkeit des Teilhabers zurück, welcher unbeschadet der Ehrfurcht und frommen Bewunderung, die sie erregt, eine gewisse reale Bedeutungslosigkeit innewohnt, – was ich erwähne, weil Sie [Charlotte] von ‚Nicht ernst nehmen‘ sprachen (LW 117f.).
Der Sprachwitz meint mehr als das Zollen von Tribut. 17 Konzepte wie Intertextualität oder Dialogizität erfassen den Vorgang schlecht, weil hier nicht einfach nur ein anderer Text, sondern zwei epistemische Paradigmen, die Philologie und die sie transzendierende Autorenpsychologie, auf dem Spiel stehen. Als Dichter nimmt Thomas Mann eine kritische Position ein, die sich auf methodologischer Ebene bewegt. Er ironisiert die Philologie, indem er ihre Schwächen, ihre Funktionsmechanismen, aber auch ihre Ähnlichkeiten zur Poesie analysiert. Man hat früh im Künstlertum das zentrale Thema Thomas Manns erkannt. 18 Die Auseinandersetzung mit Goethe und der stete Austausch mit der Germanistik haben dazu geführt, dass er die Medialität, in der es zur Sprache kommt, mitdenkt, in die Darstellung einbezieht und ihr Gestalt verleiht als Romanfigur oder gar als Erzähler selbst. Die Annahme eines mit dem Künstlertum korrespondierenden Germanistentums liegt nahe. 2.2. Thomas Manns Germanistentum Das Germanistentum – welches Thomas Mann resümierend in Goethe und die Demokratie an sich erkennt und womit nicht allein eine Fixierung auf _____________ 16 17 18
Ebd., S. 297f. Ebd., S. 322. Vgl. die bei Emil Ermatinger in Zürich von Carl Helbling verfasste Dissertation Die Gestalt des Künstlers in der neueren Dichtung. Eine Studie über Thomas Mann (1921), die Thomas Mann kannte, und Thomas Manns Brief an Carl Helbling am 22.6.1921 (GKFA 22, S. 399f.). Helbling gehörte zum Zürcher Kreis von Thomas-Mann-Verehrern. Vgl. Thomas Mann/Robert Faesi, Briefwechsel, hg. v. Robert Faesi, Zürich 1962, S. 6.
2. Thomas Manns Lotte in Weimar und der Dienst am Dichter
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die deutsche Literatur gemeint ist, sondern zugleich das Bewusstsein von deren germanistisch-disziplinärer Tradierung19 – wird flankiert von zwei Germanisten: Philipp Witkop und Ernst Bertram. 20 Obzwar Thomas Mann wie kein anderer Autor den deutschen Bildungsbürger repräsentierte, hatte nicht er, sondern sein Bruder Heinrich die humanistische Abteilung des Lübecker Katharineums besucht. Thomas war auf der realgymnasialen Abteilung unterrichtet worden, d. h. ohne die altsprachlichphilologische Formierung. Bildungsparodien wie der Professor Unrat lagen ihm vielleicht auch deshalb fern.21 Die Themen von Bildung und Erziehung führen gleichwohl ins Zentrum des Mann’schen Œuvres; sie werden konditioniert durch Urteile, die in einem bestimmten Bereich des germanistischen Diskurses anzutreffen waren. Thomas Mann pflegte zeit seines Lebens zu den philologischen Ausbildungsstätten, den universitären Seminaren, regen Kontakt. Auch von dort aus suchte man seine Aufmerksamkeit; wie wenige Autoren seiner Zeit hat es Thomas Mann geschafft, besonders die Germanisten für sich einzunehmen. 22 Undenkbar wäre es sonst gewesen, dass er den Literaturnobelpreis erhalten hätte, für den man von Hochschullehrern vorgeschlagen werden musste, deren ästhetische und politische Überzeugungen man, wenn auch nicht unbedingt teilen, so doch nicht durchkreuzen sollte. Thomas Mann blieb eng mit der Institution Universität, den philologischen und literaturwissenschaftlichen Disziplinen sowie mit einzelnen Wissenschaftlern verbunden. 23 In München hörte er bei Franz Muncker 1894/1895 die Vorlesung Geschichte der deutschen Literatur seit 1840. 24 Im Jahre 1919 wurde ihm die Ehrendoktorwürde der Philosophischen Fakultät der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn verliehen,25 später, im amerikanischen _____________ 19 20 21 22
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GKFA 19/1, S. 607. In Witkops Neuauflage seiner Habilitationsschrift Die deutschen Lyriker von Luther bis Nietzsche (1921) wird die Dreiecksbeziehung in der Widmung fassbar: Die beiden Bände sind Bertram und Thomas Mann gewidmet. Zu Thomas Manns Bildungsweg s. Peter de Mendelssohn, Der Zauberer. Das Leben des deutschen Schriftstellers Thomas Mann, Bd. 1, Frankfurt a. M. 1975, S. 108–116. Vgl. die Beiträge von Martus, Die Geistesgeschichte der Gegenwartsliteratur, und Friedhelm Marx, „Lauter Professoren und Docenten“. Thomas Manns Verhältnis zur Literaturwissenschaft, in: Ansel/Friedrich/Lauer (Hg.), Die Erfindung des Schriftstellers Thomas Mann, S. 47–84 und 85–96. Zusammenfassend für die Universität Bonn s. die gründliche Darstellung von Hübinger, Thomas Mann, die Universität Bonn. Zur Exilzeit s. Klaus W. Jonas, Thomas Mann, Hermann J. Weigand und die Yale University. Versuch einer Dokumentation, in: Philobiblon 38 (1994), S. 97–147, 217–232. Mann, Collegheft 1894–1895. Auf Betreiben Bertrams und Litzmanns erhielt Thomas Mann am 3.8.1919 den Ehrendoktor der Universität Bonn, vgl. Hübinger, Thomas Mann, die Universität Bonn, S. 31f., 52
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III. Kritik germanistischer Literarhistorie
Exil, hielt er an der Princeton University Vorlesungen. Der seit 1909 in Freiburg lehrende Philipp Witkop gehörte neben dem engen Freund Ernst Bertram und dessen Lehrer Berthold Litzmann, dem Goethe-Philologen Ernst Beutler,26 den Romanisten Karl Vossler und Ernst Robert Curtius, 27 den Schweizer Germanisten Walter Muschg, Robert Faesi 28 und Max Rychner, des Weiteren Artur Kutscher, Harry Maync, 29 dem geschätzten Fritz Strich oder Käte Hamburger 30 zu jenen Germanisten, deren Forschungen Thomas Mann verfolgte. 31 Fritz Strich, der schon 1932 dafür verantwortlich gewesen war, dass Thomas Mann Goethe mit dem Konzept der Weltliteratur zusammenbrachte („Goethes Statuierung der Weltliteratur“32), hatte entscheidenden Einfluss auf den späten Versuch über Schiller (1955), der an eine der ersten kritisch-dichterischen Arbeiten Thomas Manns, Schwere Stunde (1905), anschließt.33 Im Gegenzug wurde das Werk Thomas Manns Gegenstand der Literaturwissenschaft, wie mehrere Qualifikationsschriften bezeugen. 34 Er wusste seine Verehrer unter den Literaturwissenschaftlern als Propagandisten 35 seines Werkes zu schätzen. Der Fall Thomas Mann zeugt von
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und 65–68. Vgl. auch zur politischen Problematik dieses Vorgangs Herbert Lehnert/Eva Wessel, Nihilismus der Menschenfreundlichkeit. Thomas Manns „Wandlung“ und sein Essay „Goethe und Tolstoi“, Frankfurt a. M. 1991 (= Thomas-Mann-Studien, 9), S. 87f. Hierzu s. Joachim Seng, „ich kann von Goethe nicht anders sprechen als mit Liebe“. Thomas Manns Briefwechsel mit Ernst Beutler, in: Jahrbuch des Freien Deutschen Hochstifts (1998), S. 242–275. Vgl. bes. Thomas Mann an Ernst Robert Curtius am 21.12.1920 (GKFA 22, S. 380f. und den Kommentar ebd., S. 905–909). Vgl. Mann/Faesi, Briefwechsel. Zu Mayncs brieflicher Beziehung mit Thomas Mann s. GKFA 22, S. 693. Vgl. Thomas Mann/Käte Hamburger, Briefwechsel 1932–1955, hg. v. Hubert Brunträger, Frankfurt a. M. 1999 (= Thomas-Mann-Studien, 22). Vgl. Martus, Die Geistesgeschichte der Gegenwartsliteratur, in: Ansel/Friedrich/Lauer (Hg.), Die Erfindung des Schriftstellers Thomas Mann, S. 50f. – Zahlreiche andere, weniger bekannte Germanisten, mit denen Thomas Mann auch in ablehnender Beziehung stand, verzeichnen Heinz J. Armbrust/Gert Heine, Wer ist wer im Leben von Thomas Mann? Ein Personenlexikon, Frankfurt a. M. 2008. Thomas Mann, Goethe als Repräsentant des bürgerlichen Zeitalters [1932], in: T. M., Essays, Bd. 3, hg. v. Hermann Kurzke/Stephan Stachorski, Frankfurt a. M. 1994, S. 307– 342, hier S. 337. Zur benutzten germanistischen Literatur s. den Kommentar (GKFA 2/2, S. 289). Zur weiteren begrifflichen Differenzierung des ‚wissenschaftlichen Gegenstandes‘ als ‚epistemischen Objekts‘ s. Martus, Die Geistesgeschichte der Gegenwartsliteratur, in: Ansel/Friedrich/Lauer (Hg.), Die Erfindung des Schriftstellers Thomas Mann, S. 48. – S. auch die Auflistung der Dissertationen zu Thomas Mann (ebd., S. 51, Anm. 19). Zu Käte Hamburger als ‚Propagandistin‘ Thomas Manns s. die Einleitung von Hubert Brunträger in: Mann/Hamburger, Briefwechsel 1932–1955, S. 7–17, hier S. 10 und 11.
2. Thomas Manns Lotte in Weimar und der Dienst am Dichter
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einer „wechselseitigen Annäherung von Kunst und Wissenschaft“ 36. Die Gründe, 37 weshalb sich Thomas Manns Autorschaft und sein Werk besonders affin zur geistesgeschichtlichen Germanistik verhielten, sind im Hang zur Typisierung, dem Denken in Dualismen, der eigenen Vorliebe für die Wissenschaftskunst, in einer gewissen geistesgeschichtlichen Problemorientierung sowie dem Hang zur kritischen Analyse 38 zu suchen. Aus dem Zusammenspiel dieser Faktoren mit dem philologischliteraturwissenschaftlichen Diskurs ergibt sich Thomas Manns spezifische Autorschaft. Nicht die funktionale Analyse der Geistesgeschichte, sondern die Genese von Thomas Manns Werk vor ihrem Horizont ist dabei maßgeblich. Signifikant zeigt sich die konzeptionelle Ausrichtung an der Germanistik etwa am sogenannten Bildungsroman, den die Germanistik parallel zur Entstehung des Zauberbergs als analytisches Konzept entwickelte. 39 Für den Transfer germanistischer Ideen kam Philipp Witkop keine unwesentliche Rolle zu. Der Studienfreund Artur Kutschers40 gehörte zu jenen neuromantischen und geistesgeschichtlich spekulierenden Autoren, die sich in der Nachfolge Nietzsches selbst als Künstler verstanden. Zunächst hatte Witkop nicht beabsichtigt, eine germanistische Laufbahn einzuschlagen, sondern versucht, sich als Dichter in der Öffentlichkeit zu behaupten. Seine Gedichte „handeln von der Suche nach Glück und von der Vereinigung mit den Allheiten, die letztlich scheitern“ und „zeugen von Klage und Trauer eines jungen bürgerlichen Intellektuellen der Jahrhundertwende über die ihn oft genug empörenden gesellschaftlichen Verhältnisse seiner Zeit.“ 41 In den Briefen Witkops, die er seit dem Sommer 1900 dem Studienfreund Artur Kutscher schrieb, lässt sich der Weg vom Dichter zum Philologen verfolgen. 42 Witkop sah seine Zukunft zu dieser _____________ 36 37 38 39 40 41 42
Martus, Die Geistesgeschichte der Gegenwartsliteratur, in: Ansel/Friedrich/Lauer (Hg.), Die Erfindung des Schriftstellers Thomas Mann, S. 54. Zu diesen aus literatursoziologischer Perspektive ebd., S. 54–63 Das wurde früh bemerkt von Oskar Jancke, Das analytisch-kritische Schaffenselement im Werke Thomas Manns. Nebst einer Bibliographie, Diss. München 1921. Marx, „Lauter Professoren und Docenten“, in: Ansel/Friedrich/Lauer (Hg.), Die Erfindung des Schriftstellers Thomas Mann, S. 87–89, hat diese symptomatische „Interaktion zwischen Literatur und Literaturwissenschaft“ (ebd., S. 87), umrissen. Vgl. Achim Aurnhammer, in: ILG 3, S. 2047f. – Vgl. neuerdings zu Witkop Philipp Redl, Dichtergermanisten der Moderne. Ernst Stadler, Friedrich Gundolf, Philipp Witkop zwischen Poesie und Wissenschaft, Diss. Heidelberg 2013. Herbert Knorr, Zwischen Poesie und Leben. Geschichte der Gelsenkirchener Literatur und ihrer Autoren von den Anfängen bis 1945, Essen 1995 (= Schriftenreihe des Instituts für Stadtgeschichte. Beiträge, 6), S. 85 bzw. 94. Diese Briefe befinden sich im Marbacher Nachlass von Artur Kutscher [DLA A:Kutscher 57.5506]. – Kutschers kritische Hinweise zu Witkops ‚Poesie‘ bewegen sich zwischen allgemeinen Formulierungen: „Vor soviel Größe und Tiefe [im Gedicht Im Wald, A.N.] beugt sich meine Stirn in Staub“ [Witkop an Kutscher am 31.12.1901, in: DLA A:Kutscher
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III. Kritik germanistischer Literarhistorie
Zeit in der Dichtung, und erste Erfolge kleiner Veröffentlichungen bestätigten ihn in der Auffassung. 43 Sein späteres Credo als Literaturwissenschaftler hatte der junge Dichter gegenüber Kutscher angekündigt: Überhaupt ist das erste und Größte die Persönlichkeit des Künstlers, wie sie sich aus seinen Werken ergibt. Der Künstler besteht nicht aus einer Reihe von einzelnen guten Gedichten. Das ist Philologerei! Man erhält nicht aus einzelnen Sonnenstrahlen, die man fängt, die Sonne. 44
Das ungebrochene dichterische Selbstverständnis – „Ich erblicke den Gipfel meiner Lyrik in ‚Ein Liebeslied‘ und ‚Zwischen den Saaten‘ und nach der Seite hin werde ich mich wohl weiter entwickeln“ 45 – war von kurzer Dauer; die dichterische Arbeit geriet bald ins Stocken. Schon im März 1902 war er zu sehr mit dem Verfassen seiner ersten Doktorarbeit beschäftigt.46 Nach dem nationalökonomischen begann Witkop ein literaturgeschichtliches Studium, verließ sich also nicht allein auf die poetische Autorschaft. Am 6. März 1907 teilte er aus Heidelberg seinem Münchener Freund und zugleich Kollegen Kutscher das Erscheinen einer zweibändigen Geschichte der neueren deutschen Lyrik mit. Der Schritt vom Dichter zum Literaturhistoriker war vollzogen: „Ich werde mich im Winter habilitieren und die Literatur wesentlich auch von der ästhetischen und philo_____________
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57.5506/12–13] und detaillierten Anregungen zu literarischem Einfluss und Stil. Als Literaturhistoriker suchte er konkrete Einflüsse nachzuweisen, wogegen sich der Dichter Witkop vehement verteidigte. So erinnere Kutscher die Wendung ‚Diamanten funkeln die Fernen‘ an Dehmels ‚diamantisch reizen die Fernen‘. Zu dieser literarischen ‚Anlehnung‘ bemerkt Witkop etwas gereizt: „Der eine sagt silbern, der andre golden, der dritte diamanten. Glaubst Du, das habe Dehmel allein gesagt? ‚Leis fallen meiner Sehnsucht die großen Augen zu‘ soll angelehnt sein an Eichendorffs ‚Und lächelnd senkt die Sehnsucht ihre großen Flügel.‘ Mensch das sind doch 2 himmelweit verschiedene Bilder. Zudem habe ich mein Gedicht gemacht, bevor ich das betreffende Sonett von Eichendorff kannte“ [Witkop an Kutscher am 31.12.1901, in: DLA A:Kutscher 57.5506/12–13]. „Ich werde jetzt allmählich ein berühmter Mann. Trotzdem ich noch keine gesammelten Gedichte herausgegeben habe, bin ich schon bei allen möglichen Gelegenheiten erwähnt, besonders auf kath. Seite, wo man richtig auf dem Leim kriecht“ [Witkop an Kutscher am 3.7.1901, DLA A:Kutscher 57.5506/6]. – Ende 1901 (undatiert) berichtete Witkop aus Tübingen von einer kuriosen Rezeption seines Gedichts Abendrot: Ein Bamberger Gymnasialprofessor habe es von seinen Primanern auswendig lernen und daran den Aufbau eines Dramas erläutern lassen [DLA A:Kutscher 57.5506/26]. Witkop an Kutscher am 31.12.1901 [DLA A:Kutscher 57.5506/12–13]. Ebd. Ein Liebeslied und andere Gedichte erschien Ende 1901 mit der Jahreszahl von 1902 in Zürich, deren Erfolg immerhin zur Aufnahme in Brümmers Lexikon der deutschen Dichter führte. Vgl. den von Witkop selbst verfassten Eintrag in der 6. Auflage (Franz Brümmer, Lexikon der deutschen Dichter und Prosaisten vom Beginn des 19. Jahrhunderts bis zur Gegenwart, Bd. 8, Leipzig 1913), worin er eigens auf seine psychische Krankheit hinweist: „Ein heftiges Nervenleiden zwang ihn, seine Studien zu unterbrechen und in Baden-Baden und Braunfels a. d. Lahn Heilung zu suchen.“ Witkop an Kutscher, Poststempel vom 21.3.1902 [DLA A:Kutscher 57.5506/14]. – Die Arbeit trägt den Titel Die Organisation der Arbeiterbildung. Eine Kritik und Verknüpfung sämtlicher Arbeiterbildungsbestrebungen (1904).
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sophischen Seite her aufrollen“ 47, musste er eingestehen, ohne jedoch vom Dichtertum ganz abzuweichen; so kündigte er auch eine Sammlung neuer Gedichte an. Die Habilitation „wird schon Aufsehen machen: Die Betrachtungsweise ist ganz neu. Auch ein Band Gedichte ‚Eros‘ ist im Druck.“ 48 Im Februar 1910 berichtete er Kutscher, der weiterhin als Privatdozent in München lehrte, von seiner Berufung nach Freiburg.49 Wie Kutscher, der als Dramatiker gescheitert war, um dann als Dramentheoretiker und -historiker die neueste Produktion auf dem dramatischen Gebiet zu verfolgen, konnte auch der Lyriker Witkop seinem literarischen Interesse nur in Form der wissenschaftlichen Betrachtung auf Dauer Ausdruck verleihen. Von Thomas Manns vertrauter Beziehung zu Witkop zeugt der Briefwechsel, den beide Autoren zwischen 1903 und 1933 führten. Das Interesse an Goethe und Kleist bildet ein Bindeglied, desgleichen Manns Dichtungen, aber auch Witkops germanistische Arbeiten und dessen Engagement für die Arbeiterbildung. Am 15. Juli 1914 las Thomas Mann auf Einladung Witkops in Freiburg u. a. Vorabkapitel aus dem Zauberberg. 50 Witkops Kriegsbriefe deutscher Studenten (1915), ein Buch, das in mehreren erweiterten Auflagen zu seiner erfolgreichsten Publikation werden sollte, sind für Thomas Mann die „ergreifendsten Dokumente dieser Zeit, die mir bisher vor Augen gekommen sind.“51 Witkop, der im April 1916 einberufen worden war, arbeitete als Herausgeber der Kriegszeitung der 7. Armee. Sein volksaufklärerisches Interesse setzte er im Krieg fort, wo er zwischen 1917 und 1918 vor Soldaten Vorträge zur ‚vaterländischen Erziehung‘ hielt. 52 Die volkserzieherische Absicht Witkops zeigt sich gleichfalls im Beitrag Deutsche Dichtung der Gegenwart für den Band Deutsches Leben der Gegenwart (1922), den Thomas Mann, der darin gewürdigt wird, zur Kenntnis nahm. 53 _____________ 47 48 49 50 51
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Brief Witkops an Kutscher am 6.3.1907 [DLA A:Kutscher 57.5506/16]. Brief Witkops an Kutscher am 19.7.1908 [DLA A:Kutscher 57.5506/18]. Brief Witkops an Kutscher am 3.2.1910 [DLA A:Kutscher 57.5506/17]. Vgl. Thomas Mann an Philipp Witkop am 11.11.1914 (GKFA 22, 44f.) und den Bericht der Freiburger Zeitung (abgedruckt in: GKFA 22, S. 535f.). Thomas Mann an Philipp Witkop am 24.6.1915 (GFKA 22, S. 82). Vgl. auch Thomas Mann an Philipp Witkop am 23.3.1915 (GKFA 22, S. 64f.). – Witkop hatte mit Unterstützung des Auswärtigen Amtes und des Unterrichtsministeriums zahlreiche Eltern dazu bewegt, die Briefe ihrer Söhne ihm zeitweilig zur Verfügung zu stellen. Der spätere Titel lautet Kriegsbriefe gefallener Soldaten (1918). – Von Freiburg aus sammelte Witkops Kollege John Meier Soldatenlieder, vgl. John Meier, Das deutsche Soldatenlied im Felde, Straßburg 1916. GKFA 22, S. 737; vgl. auch Wolfgang G. Natter, Literature at war, 1914–1940. Representing the “time of greatness” in Germany, New Haven 1999, S. 90–121. Vgl. Thomas Mann an Philipp Witkop am 14.12.1921 (GKFA 22, S. 414f.).
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III. Kritik germanistischer Literarhistorie
Obzwar sich Witkop von der Philologie polemisch abgegrenzt hatte, sind die Kriegsbriefe das Ergebnis philologischer Praxis, weshalb ihn Thomas Mann als „treuen Sammler und Sichter“54 würdigte. Über Witkops Kleist-Buch, dessen Amphitryon-Kapitel die eigene Kleist-Interpretation prägte, zeigte sich Thomas Mann ebenso begeistert, Witkops dichterische Anlage betonend: Ein gelehrtes Werk ist es nur ganz insgeheim und verschämter Weise, oder vielmehr, das Gelehrte ist ganz verzehrt von ihm. Es ist ein Gedicht, ein ‚intellektueller Roman‘, wie ich den neuen Buchtyp genannt habe, dem es angehört und von dem es ein preiswürdiges Beispiel ist. 55
Bereits an den frühen lyrischen Versuchen Witkops hatte Thomas Mann Anteil genommen. Den Ton von Witkops Gedichten in der Sammlung Eros von 1908 verglich er mit demjenigen Goethes: „‚Ein guter Meister!‘ Und ein gutes, tief und volltönendes Buch, dessen Geist – Ihr erotischer Pantheismus – meinem Herzen wohl vertraut ist!“ 56 Die Gedichte erschienen 1908 gleichzeitig mit der Heidelberger Habilitationsschrift Witkops Die Anfänge der neueren deutschen Lyrik, ein Jahr zuvor war die Dissertation Das Wesen der Lyrik erschienen. Thomas Mann las „vormittags die Gedichte und nachmittags die Habilitationsschrift“, die ihn mit Johann Christian Günther, dem ‚Entdecker der Individualität in der Lyrik‘ (Witkop), und Barthold Hinrich Brockes näher bekannt machte. 57 Die Freiburger Antrittsrede zu Gottfried Keller als Lyriker (1911) ist Thomas Mann gewidmet; Witkop förderte mit Kritiken die Arbeit des Schriftstellers,58 und seine Schüler Conrad Wandrey und Adolf von Hatzfeld folgten ihm
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Thomas Mann an Philipp Witkop am 13.9.1918 (GKFA 22, S. 247–249, hier S. 247). Thomas Mann an Philipp Witkop am 30.11.1921 (GKFA 22, S. 412). Thomas Mann an Philipp Witkop am 24.9.1907 (GFKA 21, S. 379f., hier S. 380). – Thomas Manns Vermittlung des Manuskripts an den Fischer-Verlag war nicht erfolgreich. Witkops Eros erschien dann bei Insel in Leipzig. Vgl. Thomas Mann an Philipp Witkop am 1.11.1908 (GFKA 21, S. 395–397, hier S. 396): „Über G.[ünther] wußte ich bislang nur, was man so weiß. Ihre Studie und nicht zuletzt Ihre Citate werden bewirken, daß ich ihn lese. Selten oder nie hat Gedrucktes mich so ergriffen, wie die Todesverse, die Sie an den Schluß Ihrer Arbeit stellten. Das ist überwältigend! Ich lese sie vor und citiere sie Jedem, dem ich begegne. Ist nicht übrigens die Verwandtschaft mit Paul Verlaine auffallend.“ Vgl. auch (ebd., S. 742) den Kommentar. Vgl. Thomas Mann an Philipp Witkop am 18.7.1907 (GFKA 21, S. 476f.). – Besonders über die Besprechung von Der Tod in Venedig zeigte sich Thomas Mann erfreut: Vgl. Thomas Mann an Philipp Witkop am 12.3.1913 (GFKA 21, S. 515).
2. Thomas Manns Lotte in Weimar und der Dienst am Dichter
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darin. 59 Eine geplante Monographie zu Thomas Mann kam allerdings nicht zustande. 60 Auf der anderen Seite nahm Thomas Mann an Witkops wissenschaftlichen Querelen Anteil. Nachdem Richard M. Meyer 1910 in der Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft Witkops antiphilologischen Gestus angegriffen hatte, den ersten Band von Die neuere deutsche Lyrik heftig kritisierend, suchte Witkop Trost bei Thomas Mann. Meyer hatte Witkops Arbeit zum Anlass einer Apologie seiner Auffassung von Philologie genommen. Grundsätzlich befürworte er die Zusammenarbeit von Philologie und Ästhetik wie bei Dilthey, die Einseitigkeit von ‚unästhetischen Nurphilologen‘ lehne er aber genauso ab wie diejenige von ‚unphilologischen Nurästhetikern‘. 61 Zu Letzteren gehöre Witkop, dem er darauf zahlreiche sachliche Fehler nachweist, vor allem aber dafür kritisiert, dass er die sprachliche Form der Dichtung außer Acht gelassen habe. Auf die von Meyer bemängelten methodischen Grundsätze war Witkop, wie ein Brief an Ricarda Huch bezeugt, durchaus stolz: 62 Ende 1913 übersandte er den zweiten Band seiner Lyrikgeschichte an die von ihm verehrte Neuromantikerin, die als Literaturwissenschaftlerin mit Arbeiten zur Romantik hervorgetreten war, mit der Gewissheit, es seien keine „‚literaturhistorischen‘ Bücher, die ich Ihnen sende, es sind Bekenntnisbücher, in jenem Sinne, in dem auch Ihre Bücher über die Romantik und Gottfried Keller Bekenntnisbücher sind.“63 Die zwei Bände zur Neueren deutschen Lyrik seien „nicht mit gelehrter Tinte sondern schließlich doch mit Blut geschrieben“ 64. In Form der Wissenschaftspoesie suchte Witkop die Allianz mit der Dichtung, indem er einen Konsens in der Haltung beschwor. Für dieses wissenschaftliche Ethos konnte Richard M. Meyer unmöglich Verständnis aufbringen. Thomas Mann reagierte auf Witkops Klagen zurückhaltend. Er fühle sich einerseits Meyer, in dessen Hause er verkehrte, verbunden, andererseits wisse er um Meyers Überlegenheit auf dem Gebiet der Kritik: _____________ 59 60 61 62 63 64
Vgl. zu Wandreys Arbeiten über Mann und Hatzfelds literarische Beziehung mit Mann den Kommentar in: GKFA 22, S. 723 und 751f. Erwähnt bei Thomas Mann an Philipp Witkop am 9.6.1921 (GKFA 22, S. 399 und 937). Thomas Mann ging davon aus, dass Bertram ebenfalls eine solche Arbeit plane (ebd., S. 399). Richard M. Meyer, [Rezension zu: Ph. Witkop, Die neuere deutsche Lyrik], in: Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft 5 (1910), S. 603–605, hier S. 602. Vgl. Philipp Witkop an Ricarda Huch am 8.12.1913, in: DLA A:Huch 68.2181]. Ebd. Ebd. – Witkop erwähnt bei dieser Gelegenheit die bei ihm entstandene Dissertation von [Elfriede] Frieda Gottlieb (1885–1959): Ricarda Huch. Ein Beitrag zur Geschichte der deutschen Epik (Leipzig 1914).
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Wer bin ich, daß ich mich in Kontroversen der Gelehrten mischen dürfte? Ein aus Secunda entlaufener Libertin, der seine Confessionen schreibt. Würde Prof. Meyer mir nicht mit der ganzen ironischen Überlegenheit über den Mund fahren, zu der er sachlich berechtigt wäre? 65
Bezeichnend für die öffentliche Bedeutung der Philologie war es, dass Thomas Mann, der eigentlich jenseits der Wissenschaft stand, die methodischen Frontverläufe genau kannte: „Daß Ihr Werk von philologischer Seite nach Kräften würde herabgesetzt werden – mußten Sie dessen nicht gewärtig sein?“66 Witkop hätte sein Buch „ohne die Seitenhiebe auf textkritische und biographische Methode“ 67 schreiben können: Sie waren aggressiv gegen die Philologie und dürfen sich eigentlich nicht wundern, wenn sie nach Ihnen beißt. Aus jeder Zeile des Meyer’schen Artikels spricht die Gereiztheit über das, was er wahrscheinlich Ihre jugendliche Anmaßung nennt; es ist keine Recension, sondern eine Reaktion […] 68.
Die Mann’sche Charakteristik zeigt die Größe, zugleich aber die wissenschaftliche Beschränktheit des Philologen Meyer: So schlimm ist Richard M. ja garnicht. Er möchte modern sein, er steht in journalistischer Fühlung mit der heutigen Produktion, und wenn er für den ‚Tag‘ schreibt, ist er durchaus nicht akademisch petrefakt. Aber auf wissenschaftlichem Boden paßt er sich an und kehrt seine wissenschaftliche Seite heraus, auf die er natürlich stolz ist, weil er ohne sie nur ein mittelmäßiger Literat wäre. 69
Schließlich lobt Thomas Mann die neue, nichtphilologische Methode in der Germanistik: Er spricht Witkop als Zeichen der Zeit Unzeitgemäßheit zu, und diese sei stärker „als die Philologie“ 70. Auch wenn das Verhältnis Thomas Manns zu dem Freiburger Germanisten mit der Zeit mehr von Höflichkeit als von wissenschaftlicher Wertschätzung geprägt war, blieb es durchaus fruchtbar für das Mann’sche Bildungskonzept. Witkop gehörte zu jenen Wissenschaftlern, die den Glauben an den deutschen Individualismus und den darauf aufbauenden Bildungsgedanken in der geistesgeschichtlichen Betrachtung festigten. Thomas Manns diarisches Urteil über Witkops Goethe-Monographie, diese sei ein ‚dummes Buch‘, 71 könnte die Produktivität der Beziehung verdecken. Ein solches Urteil erinnert auch an die Selbstverständlichkeit, dass Thomas Manns private Ansicht mit seiner öffentlichen nicht deckungsgleich war. Zumindest aber war die öffentliche Haltung von der Germanistik konditioniert. _____________ 65 66 67 68 69 70 71
Thomas Mann an Philipp Witkop am 14.10.1910 (GKFA 21, S. 467–470, hier S. 468). Ebd. Ebd. Ebd. Ebd., S. 469. Ebd. So im Tagebuch von 1936 (vgl. GKFA 9/2, S. 449).
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Für Thomas Mann weitaus wichtiger als die Bekanntschaft mit Witkop war die Freundschaft mit dem Dichter und ebenfalls geistesgeschichtlich geprägten Literaturwissenschaftler Ernst Bertram (1884–1957), vor allem in den 1910er Jahren, bevor dieser 1922 als Professor nach Köln berufen worden war. 72 Thomas Mann, der sich 1927 für Bertrams Rückkehr nach München, um Munckers Nachfolge anzutreten, eingesetzt hatte, war umso enttäuschter, als er nicht annahm.73 Nach 1933 kam es mit Bertram, dem Patenonkel seiner Tochter Elisabeth, zum Bruch. 74 Bertram war 1909 als Mitglied von Litzmanns Bonner Literarhistorischer Gesellschaft an Thomas Mann herangetreten. 75 Noch Jahre später verkehrte Thomas Mann mit dem Bonner Emeritus, nachdem dieser nach München in die Nachbarschaft der Familie Mann gezogen war. 76 Das Referat zu Königliche Hoheit, das der Stifter-Experte Bertram umgehend an den Schriftsteller geschickt hatte, machte auf diesen Eindruck. 77 Die ‚hohe Kritik‘ habe ihren Ort nicht etwa bei den Fachrezensenten oder den Produzierenden, sondern „in der jungen Gelehrten-Generation, welche die _____________ 72
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Hierzu s. Hübinger, Thomas Mann, die Universität Bonn, bes. S. 52–58. – Schriften von Bertram: Dichtung als Zeugnis. Frühe Bonner Studien zur Literatur. Mit einem Nachwort hg. v. Ralph-Rainer Wuthenow, Bonn 1967; Gedichte, Leipzig 1913. – Zu Bertram s. Hajo Jappe, Ernst Bertram. Gelehrter, Lehrer und Dichter, Bonn 1969; Victor Schmitz, Ernst Bertram. Zwischen Stefan George und Thomas Mann, in: Jan Aler (Hg.), Zur Wende des Jahrhunderts. Nietzsche, Bertram, Frommel, Hofmannsthal, Borchardt, Amsterdam 1987, S. 53–71; Karl-Otto Conrady, Völkisch-nationale Germanistik in Köln. Eine unfestliche Erinnerung, Schernfeld 1990; Bernhard Böschenstein, Ernst Bertram und der ‚Zauberberg‘, in: Heinz Gockel (Hg.), Wagner – Nietzsche – Thomas Mann. FS Eckhard Heftrich, Frankfurt a. M. 1993, S. 298–309; Norbert Oellers, Ernst Bertram – mit dem Strom und gegen ihn, in: Dieter Breuer (Hg.), Moderne und Nationalsozialismus im Rheinland: Vorträge des Interdisziplinären Arbeitskreises zur Erforschung der Moderne im Rheinland, Paderborn 1997, S. 213–227; Bernhard Böschenstein, Ernst Bertram, in: Ders. (Hg.), Wissenschaftler im George-Kreis. Die Welt des Dichters und der Beruf der Wissenschaft, Berlin 2005, S. 187–193. Zur Nachfolge Munckers s. Ernst Osterkamp, „Verschmelzung der kritischen und der dichterischen Sphäre.“ Das Engagement deutscher Dichter im Konflikt um die MunckerNachfolge 1926/27 und seine wissenschaftsgeschichtliche Bedeutung, in: JdSG 33 (1989), S. 348–369. Vgl. Thomas Mann an Ernst Bertram am 9.1.1934 und Thomas Mann an Werner Schmitz am 30.7.1948, in: Thomas Mann an Ernst Bertram. Briefe aus den Jahren 1910–1955, hg. v. Inge Jens, Pfullingen 1960, S. 179–182 und 195–198. Hübinger, Thomas Mann, die Universität Bonn, S. 26, weist darauf hin, dass „kein Dichter so oft behandelt worden“ ist wie Thomas Mann. Vgl. dazu Thomas Mann, Abschied von Berthold Litzmann (1926), zitiert nach GKFA 22, S. 552: „Ein ganzes, langwieriges Romanwerk“ – den Zauberberg – „habe ich ihm, während der Entstehung des Buches, in stundenlangen Sitzungen, an die sich fröhliche Abendessen schlossen, vorzulesen gehabt“. Vgl. Ernst Bertram, Thomas Mann. Zum Roman „Königliche Hoheit“, in: Mitteilungen der Literarhistorischen Gesellschaft Bonn 4, Nr. 8, 16.11.1909, S. 195–217. – Zu Litzmann vgl. Kapitel I.2.2. in vorliegender Arbeit.
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besten Traditionen von Forscher- und Erkenner-Leidenschaft, eben Akribie und sachliche Hingebung in die neue Geisteswelt hinbringt.“78 Auch die Betrachtungen eines Unpolitischen, an deren Entstehung Bertram Anteil hat wie umgekehrt Thomas Mann an dessen Nietzsche-Buch, bespricht Bertram ausführlich, 79 wofür sich Mann bedankt: „Diese Art von Philologie, mir aus dem ‚Nietzsche‘ und den Universitätsvorlesungen so lieb vertraut, wieder einmal auf mein eigenes Wesen angewandt zu sehen, ist mir eine Freude und Genugthuung.“ 80 Thomas Manns Urteil über Bertrams Nietzsche-Buch, das für Doktor Faustus eine Quelle wurde, 81 hebt das Buch über die gewöhnlichen Erzeugnisse der historisch-philologischen Methode hinaus: „[E]s ist mein Buch, behandelnd den mir weitaus interessantesten – meinen Central-Gegenstand und ihn mit bewegter Liebe behandelnd, wie Philologie, Historie sie noch nie hervorgebracht hat.“ 82 Im Brief vom 21. September 1918 lobt er, dass nie „eine wesentlich philologische Technik mit so vibrierendem Gefühl gehandhabt worden“83 sei. Bertrams Bedeutung als Literaturhistoriker für den Dichter und Nicht-Philologen Thomas Mann geht über die bloße Vermittlung von Zitaten und Nachweisen bei weitem hinaus. Das Schnee-Kapitel im Zauberberg schließt an Stifters Naturschilderungen an, auf die Bertram den Freund hingewiesen hatte. Stifter war zu diesem Zeitpunkt ein wissenschaftlich kaum beleuchteter Autor gewesen.84 _____________ 78
79 80 81 82 83 84
Thomas Mann an Ernst Bertram am 28.1.1910, in: Thomas Mann an Ernst Bertram, hier S. 7. – S. auch Martus, Die Geistesgeschichte der Gegenwartsliteratur, in: Ansel/Friedrich/Lauer (Hg.), Die Erfindung des Schriftstellers Thomas Mann, S. 66f., der (ebd., S. 66) beobachtet, dass Thomas Mann „erstaunlich genau zentrale konzeptionelle Innovationen“ in der Germanistik erkennt. Vgl. Ernst Bertram, Thomas Manns „Betrachtungen eines Unpolitischen“, in: Mitteilungen der Literarhistorischen Gesellschaft Bonn 11 (1917/1918), Nr. 4, S. 77–105. Thomas Mann an Ernst Bertram, S. 91. Brief vom 4.6.1921. Vgl. Bernhard Böschenstein, Ernst Bertrams Nietzsche – eine Quelle für Thomas Manns Doktor Faustus, in: Euphorion 72 (1978), S. 68–83. Vgl. den Tagebucheintrag am 14.9.1918 in: Thomas Mann, Tagebücher. 1918–1921, hg. v. Peter de Mendelssohn, Frankfurt a. M. 1979, S. 6. Thomas Mann an Ernst Bertram, S. 76. Bertram war 1907 mit der Arbeit Zur sprachlichen Technik der Novellen Adalbert Stifters promoviert worden. Zu Stifter und Thomas Mann s. Roman S. Struc, The threat of Chaos. Stifter’s Bergkristall and Thomas Mann’s Schnee, in: Modern Language Quarterly 24 (1963), S. 169–181; Eizaburo Onagi, Thomas Mann und Adalbert Stifter. Die Stifter-Rezeption Thomas Manns in seiner Exilzeit, in: Johann Lachinger (Hg.), Adalbert Stifter: Studien zu seiner Rezeption und Wirkung 2: 1931–1988 (Kolloquium 2), Linz 2002, S. 75–83. – Vgl. bes. den Brief Thomas Manns an Ernst Bertram am 6.8.1918: Stifters „Naturschilderungen, namentlich die Schilderungen besonderer und extremer Naturereignisse, wie Schnee- und Eiskatastrophen, Gewitter etc. sind geradezu phänomenal […]. Gerade die Irrwanderung der Kinder im Eise, die Sie erwähnen, ist natürlich hervorragend. Wer kann noch so erzählen! Selbst Kasimir Edschmid nicht. Das Vollkommende entmutigt doch zuweilen. Ich hatte vor, im Zauberberg einen unmäßigen Schneefall zu beschreiben und sehe nun, daß
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Bertrams Deutung der Betrachtungen als eine „Autobiographie des Deutschtums“ und als „kritischer Roman vom deutschen Wesen“ 85 trifft Thomas Manns Absichten recht gut. Trotz der politischen Differenzen mit Bertram und des Bruchs nach 1933, trotz Thomas Manns Abkehr von der national-konservativen Gesinnung blieb das Deutschtum ein Lebensthema des Autors: Es war ein germanistisches Thema bzw. bildete ein Erkenntnisziel für Germanisten. Nachdem Thomas Mann vom Knaur-Verlag eine Anfrage erhalten hatte, ein Goethe-Buch zum Jubiläum zu schreiben, holte er am 29. Dezember 1930 Bertrams Rat ein. Eine Hauptquelle, die Thomas Mann nennt, ist, neben Eckermann, Biedermann und Riemer, Bielschowskys Goethe-Biographie. Ihm war klar, dass er sich auf ein Gebiet wagte, auf dem er sich schwerlich gegenüber der literaturgeschichtlichen Zunft behaupten konnte: Geht sie nicht als historische Aufgabe über meine Kräfte und Möglichkeiten? […] Ich werde meine ganze Naivität aufbieten müssen, um es nicht mit der Angst zu bekommen, und, der Bildungsvoraussetzungen für ein solches Werk in argem Grade ermangelnd, wird mir nichts übrig bleiben, als aus Erfahrung zu reden, – über Goethe aus Erfahrung: eine mythische Identifikations-Hochstapelei, mit der vielleicht die Brücke vom ‚Joseph‘ zum ‚Goethe‘ geschlagen wäre. 86
Das Erstarken der Goethe-Philologe war um 1900 auch deshalb möglich geworden, weil dem Paradigma der Autorenphilologie im wissenschaftlichen Diskurs große Geltung zukam. Aus einer Perspektive, die den Autor als wissenschaftliche Kategorie problematisiert und damit dezentriert hat, muten die Leistungen der Goethe-Philologie wie Relikte eines vorwissenschaftlichen Zeitalters an, das in der Philologie den Kult eines verstorbenen Autors pflegte. Thomas Manns kritische Randbemerkungen zu Bielschowskys monumentaler Goethe-Biographie, die ihm zur unverzichtbaren Hauptquelle für seine Beschäftigung mit Goethe wurde, reflektieren zum Teil schon ein Wissen um die Phantastik des biographischen Unterfangens. Dem Kult seitens der Kritik entspricht die Fiktion des Künstlerportraits zahlreicher Dichter, eine Zwischenstellung bildet die essayistische Form des literarischen Portraits. Die Praxis der Autorenhermeneutik, die von der geistesgeschichtlichen Kritik zwar nicht entdeckt, aber vereinfacht wurde, indem sie die aufwendige philologisch-grammatische Analyse ausblendete und dabei das Werk marginalisierte zugunsten _____________ 85 86
St.[ifter] das in ‚Aus dem Bayrischen Walde‘ nicht nur unübertrefflich – sondern unerreichbar gut gemacht hat.“ (Thomas Mann an Ernst Bertram, S. 72). Bertram, Thomas Manns „Betrachtungen eines Unpolitischen“, S. 81. Thomas Mann an Ernst Bertram, S. 171f. – Hans Wysling, Narzißmus und illusionäre Existenzform. Zu den Bekenntnissen des Hochstaplers Felix Krull, Bern 1982 (= ThomasMann-Studien, 5), S. 259, sieht im Konzept der ‚Identifikations-Hochstapelei‘ eine produktive Idee, die das gesamte Spätwerk von Thomas Mann präge.
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III. Kritik germanistischer Literarhistorie
der es bewegenden Ideen, erklärt die Popularität von Dichterportraits außerhalb der eigentlichen Wissenschaft im Genre der Lobrede und des Essays sowie in narrativen Gattungen wie der Erzählung und dem Roman. Aufgabe der literarischen Hermeneutik, wie sie nach Schleiermacher bis in die Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts praktiziert wurde, bildete die Rekonstruktion des Autorengeistes. Bestenfalls arbeitet ihr die gesamte philologisch-grammatische und philologisch-historische Analyse zu. Rudolf Ungers Hamann-Buch stellt ein solches Verfahren idealtypisch aus. 87 Die Stilphilologie wird dabei zur Stilpsychologie, indem das sprachliche Material physiognomisch als Ausdruck eines inneren Wesenskerns interpretiert wird. Auch die Werkinterpretation ist dabei nur vorläufige Interpretation eines Charakters. In der Bestimmung des Autorenethos gipfelte die geistesgeschichtliche Kritik. Abstrahiert man von ihrem disziplinären Diskurskontext, erscheint sie als poetisches Genre, das es jedem Philologen erlaubt, seinen Goethe zu erkennen. In diesem Sinn ist die Autorenhermeneutik ein schöpferischer Akt des Lesens, dem eine erotische Struktur des Begehrens zugrunde liegt. Die Erotik des Lesens wurde in der Moderne nicht selten (national-)pädagogisch legitimiert. Neben dem Rekurs auf die Goethe-Philologie und die geistesgeschichtliche Hermeneutik bildete denn auch der Erziehungsgedanke ein vornehmliches Interesse für Thomas Mann. Sein Versuch, die deutsche Literatur in ihrer nationalerzieherischen Bedeutung zu begreifen, wäre als eine germanistische Fragestellung seiner Epoche durchgegangen. Das konzeptionelle Dreieck zwischen Nation, Erziehung und Dichtung übernahm Thomas Mann in den 1910er Jahren von Autoren wie Witkop und Bertram, weshalb Witkops kaum mehr bekannte Lyrikgeschichte von ‚Luther bis Nietzsche‘ als Ergänzung zu Bertrams Nietzsche-Buch für das Verständnis von Thomas Manns germanistisch konditionierter Autorschaft gelesen werden kann, die den innerdisziplinären Dualismus von positivistischem Biographismus und geistesgeschichtlicher Typologisierung durchspielt. 2.3. Goethe als Erzieher Goethe interessierte Thomas Mann als Erzieher der Deutschen, zumal er sich als solchen in seinen vielen Reden auch selbst verstand. Der Künstler als Erzieher war ein von der geistesgeschichtlichen Germanistik kultivier_____________ 87
Vgl. Rudolf Unger, Hamann und die Aufklärung. Studien zur Vorgeschichte des romantischen Geistes im 18. Jahrhundert, 2 Bde., Jena 1911. Der zweite Band – und diese Rechtschaffenheit unterscheidet das Buch von Gundolfs Goethe – enthält ausschließlich Anmerkungen und Quellenbelege.
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ter, auf den Erfolg von August Julius Langbehns Rembrandt als Erzieher (1890, 721922) zurückgehender Topos, den Thomas Mann aufgriff, wobei unter Erzieher eine Art geistiger Führer verstanden ist. Bereits Nietzsche hatte Goethe als Erzieher den Deutschen empfohlen. 88 Hans Wysling, der sich Thomas Manns Goethe-Nachfolge widmet, hat für diese das Moment der Erziehung als charakteristisch betont. Neben der Ansicht Thomas Manns, Goethe sei wie er selbst ein Glückskind (felix) gewesen, waren es die Merkmale eros und dux, die er mit seinem Vorbild zu teilen meinte. 89 Das problematische Wort von der Führerschaft des Dichters – Goethe als „Führer seiner Generation“ 90 – war im ersten Drittel des zwanzigsten Jahrhunderts kein ungewöhnliches Attribut für den Dichter gewesen. Max Kommerells Studie Der Dichter als Führer in der deutschen Klassik (1928) stellte die prominenteste Verwendungsweise dar. In der poetologischen Rede vom Dichter als Führer gipfelte der philologische Glaube, die Autorität des Dichters ob ihrer ethisch-erzieherischen Leistung heiligen zu müssen. Darin liegt mehr oder weniger reflektiert der Grund, weshalb man in der Schule literarische Autoren las. Noch heute wird klassischen Autoren eine ethische Kraft zugesprochen, die in ihren Schriften gespeichert sei und an der sich die Jugend bilden soll. Das Konzept der ethisch-ästhetischen Führerschaft, wie es Thomas Mann um 1932 verwendete, findet sich gleichfalls in Philipp Witkops Goethe-Buch von 1931, der im Vorwort jene These wiederholt, der Thomas Mann in Goethe und Tolstoi verpflichtet ist: „Die Zeit von Luther bis Nietzsche, die uns [den Deutschen, A.N.] die Befreiung und Vollendung des Individuums gebracht hat, wird im deutschen Geistesleben nicht auszutilgen sein.“ 91 Zugleich bemerkt Witkop aber eine gegenläufige Tendenz: „Wenn der Kollektivismus in den kommenden Jahren eine wachsende Bedeutung erlangen sollte, so wird er in Deutschland doch niemals ein Herden-Kollektivismus sein.“ 92 Denn Witkop interpretiert den „Kollektivismus“, der sich in Deutschland abzeichne, als „Gemeinschaft selbstbestimmter Persönlichkeiten“ 93, d. h. als eine Synthese ‚mittelalterlicher _____________ 88
89 90 91 92 93
„Goethe that den Deutschen nicht noth, daher sie auch von ihm keinen Gebrauch zu machen wissen. Man sehe sich die besten unserer Staatsmänner und Künstler daraufhin an: sie alle haben Goethe nicht zum Erzieher gehabt, – nicht haben können“ (Friedrich Nietzsche, Menschliches, Allzumenschliches II. Der Wanderer und sein Schatten [1880], in: Ders., Werke. Kritische Gesamtausgabe, hg. v. Giorgio Colli/Mazzino Montinari, Bd. IV/3, Berlin 1967, S. 171–341, hier Nr. 107, S. 237.) Wysling, Thomas Manns Goethe-Nachfolge, in: Ders., Ausgewählte Aufsätze, S. 51f. – Zu den Unterschieden s. ebd. S. 57–60. Ebd., S. 52. Philipp Witkop, Goethe. Leben und Werk, Stuttgart/Berlin 1931, S. V. Ebd. Ebd.
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III. Kritik germanistischer Literarhistorie
Gemeinschaft‘ mit neuzeitlich ‚deutscher Individualität‘. Niemand „könnte dazu besser Führer sein als Goethe“94. Den Individualitätsgedanken hatte Witkop bereits in seiner Habilitationsschrift propagiert. In der Neuauflage von 1921, die Thomas Mann und Ernst Bertram gewidmet ist, heißt es etwa über Günthers Bedeutung für die deutsche Individualitätsidee, 95 dass uns dieser Dichter den „ersten tragischen Kampf der Persönlichkeit um ihre Selbstbestimmung und Selbstvollendung“ 96 zeige. Die geistesgeschichtliche Deutung Goethes im Zeichen der deutschen, auf die individuelle Entfaltung abzielenden Bildung interessierte auch Thomas Mann. 97 Seine Hinwendung zu Goethe korrespondierte mit einem wachsenden Interesse an der Frage, welche erzieherische Bedeutung dem Dichter beizumessen sei.98 Die Vortragsfassung des Essays Goethe und Tolstoi, die Thomas Mann am 4. September 1921 in der Bildungsanstalt des Lübecker Johanneums hielt, trug den Titel Die Idee der Erziehung bei Goethe und Tolstoi. Die Fertigstellung der Rede fiel in die Zeit der Redaktion des Zauberbergs als eines Bildungsromans.99 Goethe, der für Thomas Mann seit den Bekenntnissen eines Unpolitischen eine, wenngleich ihre Semantik wechselnde, nationalerzieherische Bedeutung besessen hatte, wurde zunächst als Repräsentant deutscher Innerlichkeit vor dem Hintergrund einer zyklischen Geschichtsauffassung konzipiert: als ein Typus, der in der deutschen Geschichte wiederkehrt und der eine Reihe mit Luther und Nietzsche bil_____________ 94 95 96 97
98
99
Ebd. Thomas Mann an Philipp Witkop am 1.11.1908 (GKFA 21, S. 395–397, bes. S. 396). Philipp Witkop, Die deutschen Lyriker von Luther bis Nietzsche, Bd. 1, Leipzig 1921, S. 42. Das geistesgeschichtliche Interesse Thomas Manns ist früh bemerkt worden: „Thomas Mann steht als Kulturkritiker auf dem Boden der modernen deutschen synthetischen Methode der Geistesgeschichte, das heißt in diesem Falle: er ist bemüht, die Erscheinungen der deutschen Geschichte, und so auch den Nationalsozialismus, aus der alten deutschen Geistestradition abzuleiten und zu erklären“ (Käte Hamburger, Deutsche Emigrantenliteratur, in: Jahrbuch des Reichsverbandes der Lehrer für moderne Sprachen [1946], S. 142– 157, hier S. 144, zitiert nach Brunträger, Einführung, in: Mann/Hamburger, Briefwechsel, S. 14). Vgl. Wysling, Thomas Manns Goethe-Nachfolge, in: Ders., Ausgewählte Aufsätze, S. 22: „Auf Goethe führt Thomas Mann vor allem die ethisch-erzieherische Komponente seines Schaffens zurück, auf Wagner die artistisch-werkbesessene.“ – S. auch Helmut Koopmann, Zu Thomas Manns Goethe-Nachfolge: Orientierungsverlust und Imitatio, in: HeinrichMann-Jahrbuch 17 (1999), S. 29–62. „Der Zbg. ist zum Herbst noch nicht zu erwarten. Besten Falls wird er fertig bis dahin. Kommen Sie nur, ich lese Ihnen gern vor“ (Thomas Mann an Philipp Witkop am 21.5.1921 [GKFA 22, S. 393]). – Vgl. Marx, „Lauter Professoren und Docenten“, in: Ansel/Friedrich/Lauer (Hg.), Die Erfindung des Schriftstellers Thomas Mann, S. 89. – Mit dem Konzept des Bildungsromans war Thomas Mann auch durch Gundolfs Goethe (1916) in Berührung gekommen, vgl. den Kommentar in: GKFA 22, S. 634.
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det. 100 Allerdings vollzog sich mit Thomas Manns politischer Wende eine kritische Bewertung Goethes. Die unablässige Arbeit am Essay Goethe und Tolstoi ist hierfür ein wichtiges Indiz. 101 In der Vortragsfassung von 1921 wird Goethe als Vertreter einer spezifisch deutschen Bildung gegen das lateinisch-rhetorische Ideal Frankreichs aufgestellt. Goethes humanistisches Bildungsideal setzt nicht mehr die pädagogische Konsequenz einer philologisch-formalen Erziehung der Jugend voraus. Den Humanismus begreift Thomas Mann mit Verweis auf Goethe als „Bildungs- und Selbstausbildungs-Individualismus“102. Ein solches Verständnis schließt an die seit dem neunzehnten Jahrhundert vertretene und durch Dilthey philosophisch untermauerte These an, Goethes Dichtung verstehe sich als Beitrag zur modernen Autobiographie. Dichtung als Autobiographie ist aber nach Thomas Mann zugleich Selbsterziehung. Die Vereinigung des ‚pädagogischen mit dem autobiographischen‘ Element, das „Motiv der Erziehung“103, wird auf Rousseau zurückgeführt. Als Dichter sei Goethe in doppelter Hinsicht ein Erzieher: für sich selbst und für seine Leser. Die „Idee der individualistischen Selbstformung“ 104 empfahl Thomas Mann den Deutschen 1921 in dem Bewusstsein, dass damit ein innerer, an der antiken Literatur ausgerichteter Vorgang und kein äußerlich formaler gemeint ist. Wenn er das Schreiben als eine Liebe zu sich selbst versteht und den Trieb des Menschen hochhält, „sein Schicksal literarisch zu feiern“ 105, dann ist dieser Eros immer schon pädagogisch gedacht, weil dieser Trieb aus dem „Gefühl der Verbesserungs- und Vervollkommungsbedürftigkeit“106 resultiert. Die ‚Empfindung des Ich‘ wird als Empfindung einer „Aufgabe, einer sittlichen, ästhetischen, kulturellen Verpflichtung“ verstanden; sie objektiviert „sich im Helden des autobiographischen Bildungs- und Entwicklungsromans, vergegenständlicht sich zu einem Du, an welchem das dichterische Ich zum Führer, Bildner, Erzieher wird“ 107. Die „Würde“ des Dichters Goethe als „eines Jugendführers und Menschenbildners“108 legitimiert dabei seine Autorität als Klassiker. Biographismus und Erlebnisästhetik dominierten das poetologische Denken um 1920, und Thomas Manns Umgang mit den beiden Paradigmen – die zeitgleich mit der ersten Dissertation _____________ 100 101 102 103 104 105 106 107 108
Wysling, Thomas Manns Goethe-Nachfolge, in: Ders., Ausgewählte Aufsätze, S. 37. Die Umarbeitung untersuchen Lehnert/Wessel, Nihilismus der Menschenfreundlichkeit. GKFA 15/1, S. 381 (Fassung von 1921). Ebd. Ebd., S. 382. Ebd., S. 383. Ebd., S. 393. Ebd., S. 393f. Ebd., S. 395.
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III. Kritik germanistischer Literarhistorie
über den deutschen Bildungsroman verlaufen 109 – ist auch ein Versuch, den Sinn dieser Paradigmen in der Nationalerziehung zu bestimmen. Nun ist der Anspruch nicht neu – die Klassikerlektüre an den humanistischen Gymnasien rechtfertigte sich vor allem, wie erwähnt, in der Tatsache der moralischen Vorbildlichkeit der gelesenen Autoren. Neu ist nur das reflexive Moment. Ein Problem allerdings tut sich auf, sobald Thomas Mann auf Goethes eigene Erziehungsprogrammatik zu sprechen kommt, wie er sie in der Pädagogischen Provinz der Wanderjahre vorzufinden meint. Diese Vermengung impliziter und explizit-diskursiver Pädagogik stellt eine Schwachstelle des Essays dar, die zu Verwirrungen geführt hat. Thomas Mann überlagert die Deutung von Goethes ‚pädagogischem Trieb‘, wie er sich in dessen Dichtung kundtue, mit den pädagogischen Überzeugungen Goethes. Zwar findet er bei Goethe, anders als in Tolstojs Erziehungsschriften, keinesfalls jene „extrem antihumanistische, antiliterarische, antirhetorische Auffassung“ 110; jedoch treffe man auch bei Goethe auf jene ‚antiliterarische Tendenz‘, 111 was sich vor allem daran zeige, dass in der Pädagogischen Provinz die klassisch-rhetorische Bildung an den alten Sprachen keine Rolle spiele. Dagegen zeichne sich Goethe durch seinen Hang zu „Sachlichkeit und Tüchtigkeit“ aus: „– damit ist der Geist seiner Erziehung deutsch, nicht rhetorisch-humanistisch“ 112. Der rhetorisch-literarischen Bildung entspreche auf politischer Ebene die Demokratie des Westens; diese aber wird als die ‚politische Form des Humanismus‘ interpretiert.113 Die Perspektive des Vortrags ist auf die Gegenwart bezogen. Thomas Mann spricht über die Erziehung und hält Goethe als Ideal hoch – zum einen den Dichter Goethe als Selbst- und Nationalerzieher, zum anderen dessen undichterische und antiliterarische Programmatik des Handelns und der Sachbezogenheit. Das Urteil des Vortrages wendet sich schließlich gegen die Demokratie, gegen den humanistischen Liberalismus des Westens und gegen seine „mediterran-klassisch-humanistische Überlieferung“ 114. Auch das Anarchische, wofür Tolstoj und der russische Weg _____________ 109 Melitta Gerhard, Der deutsche Entwicklungsroman bis zu Goethes ‚Wilhelm Meister‘, Halle a. d. S. 1926. Mit Gerhards Mutter Adele war Thomas Mann brieflich bekannt. – Vgl. auch Alexander Nebrig, Immer der Sonne nach. Albrecht Schaeffers Helianth, der Entwicklungsroman und die Literaturwissenschaft der 1920er Jahre, in: Jahrbuch zur Kultur und Literatur der Weimarer Republik 15 (2012), S. 99–116. 110 GKFA 15/1, S. 413f. (Fassung von 1921). 111 Ebd., S. 418. 112 Beide Zitate ebd. 113 Ebd., S. 415. Vgl. auch: „Denn das Demokratisch-Politische ist mit dem RhetorischLiterarischen nicht nur verwandt, sondern eines Wesens, es ist die politische Form des Humanismus“ (ebd., S. 418). 114 Ebd., S. 419.
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stehen, komme nicht in Frage. Goethe und das Deutsche werden als die neuen Ideale „von Deutschlands Jugend“115 gepriesen. Thomas Manns pädagogische Ansichten waren noch im Jahre 1921 dezidiert antihumanistisch; das sollte sich jedoch bald ändern. Die politische Wandlung Thomas Manns ließ gleichfalls Fragen der Erziehung nicht unberührt. Sie bedeutete eine bedingungslose Anerkennung der philologisch-rhetorischen Bildung und des Wissens als Tradition. Seit der Essayfassung von 1925, die er mit dem Untertitel Fragmente zum Problem der Humanität versah, vor allem in der Buchfassung von 1932 wandte sich Thomas Mann von der spezifisch deutschen, auf Herder zurückgehenden antirhetorischen und antiphilologischen Bildungsidee ab, weil er darin die Gefahr der politischen Verrohung vermutete. 116 Im Abschnitt Unterricht ist die Rede von romantischer Barbarei, die der lateinischen Zivilisation nun auch in Deutschland weichen müsse. 117 Goethes erzieherische Bedeutung bleibt dessen ungeachtet bestehen, wofür Thomas Mann einigen argumentativen Aufwand betreiben muss. In dem Moment, in dem sich Thomas Mann vom deutschen Bildungsgedanken zugunsten der lateinisch-rhetorischen Formierung abwendet, steht Goethe als Vorbild zur Disposition. In dem Nachfolgevortrag Goethe als Repräsentant des bürgerlichen Zeitalters (1932) versuchte der Nobelpreisträger daher eine Umwertung Goethes, um ihn unter einem anderen Aspekt für das bürgerliche Publikum attraktiv zu machen. Goethe sei nicht mehr nur „der Herr und Meister einer deutschen Bildungsepoche, der klassischen Epoche“118 gewesen, der innere Freiheit und Individualität gelehrt habe; er sei zugleich auch derjenige, der aus dem damit entstehenden politischen Dilemma führen könne. Goethe erscheint in der Auslegung Thomas Manns als Dichter, der das auf Selbstentfaltung getrimmte Bürgertum aus seiner Innerlichkeit ins Soziale überführt. Die „Erziehungsidee“ bildet dabei „Brücke und Übergang […] aus der Welt des persönlich Innermenschlichen in die Welt des Sozialen.“ 119 Die Deckungsgleichheit des Bildungsgedankens mit dem „Erziehungsgedanken“ 120 lässt Goethe für die Deutschen zum Vorbild werden. Die Pointe von Thomas Manns Argumentation besteht darin, dass er jene „bürgerliche[] Ethik“ von Goethes Autorschaft – jenen „Imperativ des ‚Fertigmachens‘“, jene ‚bürgerliche Ordnungsliebe‘, „die ruhige Ausdauer“, jene Konsequenz der Werkgenese, jenes Auffinden aller zu einer Sache notwendigen Dinge, _____________ 115 116 117 118 119 120
Ebd., S. 420. Vgl. Lehnert/Wessel, Nihilismus der Menschenfreundlichkeit. GKFA 15/1, S. 932f. (Fassung von 1925). Mann, Goethe als Repräsentant des bürgerlichen Zeitalters, in: Ders., Essays, Bd. 3, S. 308. Ebd. Ebd.
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III. Kritik germanistischer Literarhistorie
seinen Fleiß – aus ihrer Subjektbezogenheit befreit und aus ihr pragmatische und soziale Energien ableitet. Die soziale Ethik des Bürgertums entspricht formal der philologischen Ethik der Wissenschaft. Hierin ist begründet, weshalb für Thomas Mann später der Philologe zum Sprachrohr der deutschen Kultur werden konnte. Die Philologie sei eine bürgerliche Wissenschaft bzw. Grundlage einer sozialen Klasse. Thomas Mann führt pädagogische, soziale und wissenschaftliche Kategorien zusammen: An Goethes Versen „Wo käm’ die schönste Bildung her, | und wenn sie nicht vom Bürger wär’?“121 entwickelt er eine indirekte Theorie der Avantgarde; Bildung, Bürgerlichkeit und Philologie werden kurzgeschlossen. Eine soziale Klasse habe sich im neunzehnten Jahrhundert über die humanistische Bildung definiert, die wiederum in der Philologie begründet gewesen sei. „Der Wille und die Berufung zur höchsten Entbürgerlichung, zum höchst gefährlichen Abenteuer des versuchenden Gedankens, das ist der Freibrief, den der Geist selbst dem bürgerlichen Menschen ausgestellt hat.“ 122 Auch Nietzsches Wurzeln lagen, bemerkt Thomas Mann, „im Erdreich bürgerlicher Humanität“ 123. Manns These vom bürgerlichen Zeitalter, dessen Repräsentant Goethe gewesen sei, besagt, dass in diesem Bürgerlichen die Kräfte lägen, derer es für die Aufgaben der Zukunft bedürfe. Um diese Kräfte freizusetzen, müsse sich das Bürgerliche selbst überwinden: Die Potenz des Bürgertums freisetzen, heißt: es transformieren. Der späte Goethe wird durch Thomas Mann zum Avantgardisten, weil er aus der bürgerlichen Lebenssicherheit zu neuen Ufern ausgerissen sei. Sein Wagnis kann bildungsmäßig auf die Avantgarde übertragen werden: „Die großen Söhne des Bürgertums, die aus ihm hinaus ins Geistige und Überbürgerliche wuchsen, sind Zeugen dafür, daß im Bürgerlichen grenzenlose Möglichkeiten liegen, Möglichkeiten unbeschränkter Selbstbefreiung und Selbstüberwindung.“ 124 Parallel zur Deutung des Goethe-Bildes fand ein anderer Vorgang statt, der für Thomas Manns Fiktionalisierung von Goethes Autorschaft bestimmend wurde. Thomas Mann durchschaute Goethe als eine philologische Konstruktion, eine Projektionsfläche für das Begehren der Germanisten. Die Medialität ließ sich nun nicht mehr wegdenken, wenn die spezifische Form des Goethe-Bildes, sein Charakter, gewonnen werden sollte. Ernst Bertram schildert in seiner Nietzsche-Monographie das für Goethe so wichtige Strukturprinzip der Nachfolge, das in der Transformation des Wirklichen in den Mythos, der in der Legende festgehalten sei, entstehe: _____________ 121 Goethes Sprüche in Reimen, hg. v. Max Hecker, Leipzig 1908, S. 173. 122 Mann, Goethe als Repräsentant des bürgerlichen Zeitalters, in: Ders., Essays, Bd. 3, S. 338f. 123 Ebd., S. 339. 124 Ebd., S. 341.
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„Geschichtsschreibung“ – genauer: Literaturgeschichtsschreibung – „wurde ihm [Bertram] zur Legendendichtung.“ 125 Diese Position aus der Forschung bestätigt Thomas Mann selbst in einem Rekurs auf eine psychologische Untersuchung. In Freud und die Zukunft legt er nahe, dass Bertram das literaturgeschichtliche Verfahren nur zuspitzt. So hatte Ernst Kris 126 beobachtet, wie die ältere, naive, von der Legende und vom Volkstümlichen her gespeiste und bestimmte Lebensbeschreibung, namentlich die Künstlerbiographie, feststehende, schematisch-typische Züge und Vorgänge, ‚biographisches Formelgut‘ sozusagen konventioneller Art in die Geschichte ihres Helden aufnimmt […] 127.
Eine Grenze zwischen legendärer Biographik und dem, „was Lebenseigentum des Künstlers ist“128, lasse sich nicht ziehen. Aus Thomas Manns Beobachtung leitet sich die wichtige Erkenntnis für das Verständnis des philologischen Charakters des Romans Lotte in Weimar ab, dass die Philologie selbst zu der Legendenbildung beigetragen habe, die für die Goethe-Nachfolge späterer Dichter wirksam geworden sei. Es kann nicht darum gehen, die ältere Biographik unter dem Deckmantel historisch-philologischer Kritik als mythenbildend zu entlarven. Wichtiger ist es dagegen anzuerkennen, dass die Literaturgeschichte das Medium ist, das die Mythen schafft und so eine kultursemiotisch wichtige Aufgabe übernimmt. In den Reden selbst war Goethe für Thomas Mann nicht als Erzieher fragwürdig geworden. Zumindest versuchte er, Goethes erzieherische Bedeutung mit neuen Inhalten zu füllen, nachdem ihm die nationalkonservative Lesart als überholt galt. Man kann aber auch das stete Bemühen, sich ein kohärentes und pädagogisch funktionsfähiges Goethe-Bild zu erarbeiten, als kritische Auseinandersetzung mit Goethes Autorschaft als solcher verstehen, besonders mit Blick auf den Roman Lotte in Weimar, der Goethe weniger als nationalen denn als philologischen Mythos dekonstruiert. 129 Mit der sich festigenden Erkenntnis, dass Goethe eine Erfindung der deutschen Philologie sei, verband sich eine literaturgeschichtliche Aufklärungsarbeit, die sich in der Überarbeitung von Goethe und Tolstoi zwar abzeichnete, aber letztlich nicht ausgeführt werden konnte, weil das Genre der Festrede eng mit den Mechanismen der Lobrede verwoben ist. _____________ 125 Wysling, Thomas Manns Goethe-Nachfolge, in: Ders., Ausgewählte Aufsätze, S. 44. 126 Ernst Kris, Zur Psychologie älterer Biographik, in: Imago 21 (1935), H. 3, S. 320–344. 127 Thomas Mann, Freud und die Zukunft [1936], in: Ders., Schriften und Reden zur Literatur, Kunst und Philosophie, Bd. 2, Frankfurt a. M. 1968, S. 213–231, hier S. 223; vgl. auch Wysling, Thomas Manns Goethe-Nachfolge, in: Ders., Ausgewählte Aufsätze, S. 45. 128 Mann, Freud und die Zukunft, in: Ders., Schriften und Reden zur Literatur, Bd. 2, S. 224. 129 Julia Schöll, Goethe im Exil. Zur Dekonstruktion nationaler Mythen in Thomas Manns „Lotte in Weimar“, in: Thomas-Mann-Jahrbuch 16 (2003), S. 141–158.
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III. Kritik germanistischer Literarhistorie
In den Goethe-Reden bis 1932 und noch später sollte Thomas Mann daher auf die nationalerzieherische Vorbildhaftigkeit Goethes nicht verzichten. In der poetischen Gattung des Romans gelingt ihm die Analyse des literaturgeschichtlichen Mythos, als welchen er Goethe erkannt hatte, und so setzte Lotte in Weimar mit dichterischen Mitteln die Reflexion fort, die in den Goethe-Reden begonnen worden war. 2.4. Das philologische Begehren in der Kritik (Lotte in Weimar, Kap. 3) Thomas Manns Überzeugung, von Goethe nicht anders sprechen zu können „als mit Liebe“ 130, fügt sich in geistesgeschichtliche Sprechweisen: Witkop, wie gesehen, habe seine Lyrikgeschichte mit Blut geschrieben; Unger bekannte kurz vorher, sein Hamann-Buch sei ein „Buch der Liebe“ 131 zur Persönlichkeit des Autors. Hatte das erotische Bekenntnis noch den Goethe-Vortrag von 1932 legitimiert, so dekonstruierte es der Roman Lotte in Weimar. Bereits in der Rede von 1932 war deutlich geworden, dass sich ein Beitrag zu Goethe nicht gegenüber „historisch-kommentatorischen Geistern und Bildungsnaturen, die sich dem Höchsten rein erkenntnismäßig gewachsen fühlen“ 132, behaupten könne. Wenn Elemente des Vortrags innerhalb des Romans, konkret in der Figurenrede Riemers, wieder aufgegriffen werden, dann nicht etwa, weil Thomas Mann eines Sprachrohrs bedurfte, das glaubwürdiger als er selbst diese Thesen vorbringt, sondern vor allem, um die erotische Motivation des Sprechers bloßzulegen. Der Eros als das Begehren nach der Inbesitznahme des Autors bzw. seines Geistes bildet die Triebfeder von Goethes Roman Lotte in Weimar, der bis zum siebenten Kapitel Menschen zur Sprache kommen lässt, die Goethe verehren und bereit sind, der nach Weimar gereisten Charlotte Kästner über ihren einstigen Liebhaber und derzeitigen ästhetischen Souverän im Reich der deutschen Poesie zu berichten. Jener die Narration motivierende Eros kommt in den bloßen Verehrern der Prominenz wie dem Kellner Mager, der mediokren Portraitistin Miss Cuzzle, die sich mit Charlotte als einer der vie-
_____________ 130 Mann, Goethe als Repräsentant des bürgerlichen Zeitalters, in: Ders., Essays, Bd. 3, S. 307. 131 Unger, Hamann und die Aufklärung, S. 4. 132 Mann, Goethe als Repräsentant des bürgerlichen Zeitalters, in: Ders., Essays, Bd. 3, S. 307.
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len Metonymien von Goethes Geist begnügt,133 und an der Musenfreundin Adele Schopenhauer zur Sprache. 134 Den komplexesten erotischen Bezug jedoch stellt Dr. Riemers Verhältnis zu Goethe dar, 135 weil hier die Goethe-Bewunderung selbst produktiv wird und sie für Riemer daher mit immenser Arbeit verbunden ist. Die gesamte Person Riemers samt ihrer geistigen und produktiven Kräfte ist eingespannt in einen Minnedienst am geliebten Dichter, um sich der göttlichen Schönheit zu erinnern. 136 Thomas Mann hat aus Gründen der geschichtlichen Plausibilität nicht den prominenteren Eckermann gewählt, der erst 1822 in Goethes Leben trat, sondern Riemer, der im Jahr der erzählten Begebenheit in Goethes Diensten gestanden hatte. Gleichfalls aber ist Riemer, der bei Friedrich August Wolf geschulte Philologe, der Griechischlehrer von Goethes Sohn August, der Gymnasialprofessor und Bibliothekar in Weimar die treffendere Wahl für das hier in Frage stehende Problem des Philologenopfers, das bis zum Verzicht auf die berufliche Selbstverwirklichung reicht: Anstatt Professor in Rostock zu werden, blieb er bei Goethe. Im Unterschied zu den anderen Verehrern Goethes enthält sein Begehren eine sentimentalische Brechung. Er weiß also um die Begehrensstruktur und damit um die Vergeblichkeit dieser Tätigkeit. Dass Riemer mit sich nicht im Reinen ist, signalisiert Thomas Manns physiognomische Einführung. Er sei ein Mann von „mäßiger Statur“ – er könnte also größer sein; „das strähnig in die Schläfen gebürstet[e] braune _____________ 133 Charlotte nennt sie gegenüber Riemer eine „Virtuosin des Zeichenstiftes, die darauf bestand, in aller Eile das Portrait einer alten Frau zu verfertigen und damit freilich, soviel ich gesehen habe, nur recht annäherungsweise zustande kam …“ (LW 52). 134 S. Irmela von der Lühe, „Opfer einer Fascination“. Die Frauengestalten in Lotte in Weimar, in: Thomas Sprecher (Hg.), Lebenszauber und Todesmusik. Zum Spätwerk Thomas Manns, Frankfurt a. M. 2004 (= Thomas-Mann-Studien, 29), S. 89–104. 135 Vornehmlich mit Blick auf die Urteile Riemers über Goethe analysiert ihn Hubert Ohl, Riemers Goethe. Zu Thomas Manns Goethe-Bild [Paul Requadt zum Gedächtnis], in: JdSG 27 (1983), S. 381–395, bes. S. 388–394. 136 An diesen Zusammenhang hat Jacob Grimm erinnert. ‚Minne‘ enthält deutlicher als ‚Liebe‘ das Moment der ‚Erinnerung der Seele‘ (Anamnesis) an die göttliche Schönheit. Jacob Grimm, Über den Liebesgott [1851], in: J. G., Kleinere Schriften, Bd. 2, Berlin 1865, S. 314–332, hier S. 319, lenkt auf die „von Plato ausgesprochene ansicht zurück […], liebe sei eigentlich erinnerung (ܻȞȐȝȞİȘıȚȢ ȝȞȒȝȘ) der seele an die früher angeschaute göttliche schönheit, demnach mit ȝȑȞȠȢ, mens unmittelbar verwandt. wer sieht nicht, dasz wort und vorstellung der griechischen sprache hier ausdrücklich denen der unsrigen begegnen? minna bezeichnete unserm alterthum nicht nur erinnerung, andenken, sondern auch die ganze leidenschaft der liebe“. Vgl. auch „minnen heisst daher erinnern, gerade wie re-minisci von mens kommt, und mens und Minne sind ein Wort. So möchten auch amor und m-emor verwandt liegen, und ähnliche Ideen müssen sich aus allen Sprachen nachweisen lassen, wenn auch nicht dem Buchstab nach, weil die Liebe ein Sehnen, Trachten und Andenken ist“ (Jacob Grimm an Charles de Villers am 11.6.1813, in: Briefe von Ben[jamin] Constant […] und vielen anderen. Auswahl aus dem handschriftlichen Nachlasse des Ch. de Villers, hg. v. M[eyer] Isler, Hamburg 1879, S. 114–121, hier S. 115).
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Haar“ ist leicht meliert – also weder braun noch grau; die gerade Nase wird durch Fleischigkeit konterkariert; damit wiederum stimmt nicht der weiche Mund überein, „um den ein etwas verdrießlicher, gleichsam maulender Zug lag“ (LW 50). Vor allem aber der Kopf „stand ihm etwas schief“ (LW 50). Die Art und Weise, sich Charlotte vorzustellen, ist nicht allein der Höflichkeit geschuldet: „Ihr Diener, Frau Hofrätin“ (LW 50) will ganz eigentlich verstanden werden. Riemer ist der Diener schlechthin, der Diener des Dichters und damit auch von all jenen, die der Dichter liebte. Riemer redet metonymisch und in Anspielungen, nicht nur um seiner Gesprächspartnerin die Freude der Dechiffrierung zu überlassen, sondern auch dem Leser, der mit Goethes Leben vertraut ist, genauer: dem in der Goethe-Philologie bewanderten Leser. In Riemers Person konzentriert sich die Erzählweise des gesamten Romans. So stellt er sich als „Jugendbildner“ (LW 50) vor und meint damit einerseits, es zieme ihm nicht, der öffentlichen Aufregung um Charlottes Person nachzugehen, andererseits aber erinnert er daran, der Erzieher von Goethes Sohn August zu sein. Bezeichnenderweise ist es der Poet in Riemer („der Poet in mir“ [LW 50f.]), der ihn dennoch dazu verführt habe. Auch diese Aussage hat eine doppelte Funktion: Riemer dichtete ja tatsächlich. Darüber hinaus leitet Thomas Mann den „unwiderstehlichen Wunsch“, jener Frau zu huldigen, „deren Namen mit unserer vaterländischen Geistesgeschichte [!]“ und der „Bildung unserer Herzen so eng verknüpft“ sei (LW 51), aus dem Dichtertum des Philologen ab. Das Begehren des Wissenschaftlers nach dem Dichter, so Thomas Manns scharfsinnige Analyse, erwächst aus den Restbeständen seines eigenen Dichtertums. Charlotte registriert die beiden Tätigkeiten Riemers als Erzieher und als Dichter, bemerkt aber auch, dass Riemer damit von seiner „eigentlichste[n] und einzig bedenkenswerte[n] Eigenschaft“ ablenke: „dem hohen Dienst an jener Stelle“ (LW 51). Riemers Dienerstellung wird also nochmals betont, und die eingangs gegebene Höflichkeitsformel gewinnt ihren Sinn im hohen Dienst, den Riemer zu leisten hat. Damit ist er anderen Begehrenden weitaus überlegen. Als Charlotte kritisch bemerkt, das Portrait der Zeichnerin Cuzzle, das diese von ihr anfertigte, sei nur „annäherungsweise zustande“ (LW 52) gekommen, weiß Riemer, dass Cuzzle zu jenen Naturen gehöre, „bei denen Sehnsucht und Streben nicht proportioniert sind“ (LW 52). Riemer, auf die Menschenmenge hinweisend, die verlangt, Charlotte bzw. „einen Schimmer von Ihrer Person zu erhaschen“ (LW 53), kennt die Logik des Begehrens: „Freilich wächst für uns Menschen der Wert eines Gutes mit der Schwierigkeit es zu gewinnen“ (LW 52). Riemer ist die einzige Figur, die im Bann des Geistes steht und ihn gleichzeitig analysieren kann. Sogar der „Verehrung des Geistes“ (LW 54)
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durch die Weimarer Menge und der Stadt kann er noch etwas abgewinnen, auch wenn sie nur „Vorteil aus dem Ansehen des deutschen Genius“ (LW 54) ziehe. Ihr „Respect“ vor der Autorität der „Werke des Geistes“ halte sich „an die persönlichen Specialissima […], wobei und woran diese Werke entstanden sind“ (LW 54). Dies ist weniger ein Seitenhieb auf die Weimarer Goethe-Verehrung. Getroffen werden soll die biographische Goethe-Philologie, die jedes Detail aus Goethes Leben mit gleicher Aufmerksamkeit sammelt, analysiert und kommentiert, aber für die „Werke des Geistes“ (LW 54) eigentlich keinen Sinn hat. Charlottes Erwiderung parallelisiert implizit Riemers Argumentation mit der Rede Pausanias’ aus Platons Symposion (180c–185c), indem sie Riemer vorwirft, er vermenge eine himmlische (‚Edler-Geistige‘) mit einer gemeinen (‚Gemein-Materiellen‘) Liebe, die sie als „Neugier“ (LW 54) bezeichnet. Riemer gibt die erstaunliche Antwort, dass beides nicht zu scheiden sei. „Derselbe Impuls“, der den ‚Pöbel‘ zusammentreibe, bestimme auch sein Handeln: der Impuls, seine „Huldigung darzubringen“ (LW 55). Allerdings unterscheidet ihn von der gemeinen Menge eine Wesensverwandtschaft zu Charlotte – „die Huldigung […] eines Schicksalsverwandten“ (LW 55). Charlotte wird zum Medium seiner Rechtfertigung, ein „bloßes Mittel“ (LW 59). Er bedarf ihrer als alter ego, um sein Selbst in sie zu projizieren, das identisch mit dem Wesen Goethes ist und der Liebe als solcher. Thomas Mann übernimmt Elemente des platonischen Symposions, das eine Sammlung verschiedener Lobreden auf den Eros ist. Riemers Rede ist gleichfalls eine „Lobrede“ (LW 87), die sich jedoch an der Grenze zur „Hechelei“ (LW 85, 87), zur Schmährede bewegt, und damit Gefahr läuft, eine „Fehlrede“ (LW 87) zu sein. In dieser Justierung besteht Charlottes Aufgabe, die Riemers Reden kommentiert und ihn zu immer neuen Versuchen des Lobpreises bewegt und damit der Rechtfertigung seiner eigenen Liebe zu Goethe. Riemers Selbstverständnis ist das „eines Freundes und Helfers“ (LW 55), er ist „in das große Leben verwoben“ (LW 55) und folglich Teil der Goethe’schen textura; auch einen „Schüler“ (LW 57) Goethes nennt er sich. Heroisierung des Dichters und Dramatisierung seiner Lebensgeschichte bilden die Voraussetzung für die eigene Rolle als Diener des Helden: „Und ich, dem es beschieden war, ebenfalls in dieser Historie Figur zu machen und auf meine männliche Art dem Helden beirätig zur Hand zu gehen, ich, der ich sozusagen die selbe heroische Lebensluft mit Ihnen [Charlotte, A.N.] atme“ (LW 66). Die feudale Abhängigkeit wird von ihm als erotische Hörigkeit verstanden. „Für meine Person diene ich der Wahrheit“ (LW 57), rechtfertigt Riemer die Tatsache, dass er nun schon dreizehn Jahre in den Diensten Goethes steht. Treibende Kraft seiner
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Hingabe zu „lebenslanger Hörigkeit“ (LW 58) seien „Liebe und Bewunderung“ (LW 57). Dieser Hörigkeit ist Riemers Verzicht auf Selbstverwirklichung im Beruf des Philologen geschuldet, das Opfer seiner eigenen Karierre. Riemers Glück und Leben bestünden in der Selbstentäußerung, im Dienste an einer Sache, die nicht die seine und nicht er selbst ist, es schon darum nicht sein kann, weil diese Sache höchst persönlich, ja eigentlich mehr schon eine Person ist, weshalb denn der Dienst daran auch meist nur recht untergeordneter und mechanischer Natur sein kann (LW 63).
Thomas Mann bringt auf den Punkt, wohin der philologische Eifer führen kann: Zur Selbstaufgabe in einem anderen Selbst. Riemer beschönigt diese Tatsache durch den Unterschied zwischen einer ‚süßen‘ und einer ‚bitteren‘ Mannesehre. Er, der Philologe im Dienste Goethes, habe Letztere gewählt. Deshalb unterrichtet Riemer Goethes Sohn im Griechischen und Lateinischen, deshalb wurde er in Weimar nur Gymnasialdozent, anstatt seinem Lehrer in Halle, dem Philologen Wolf, nachzueifern: „Ihm nachzuleben war der Wunsch meines Herzens. Die Laufbahn als Universitätslehrer, ehrenvoll und mit Freizeiten geschmückt, die Raum bieten für den erfrischenden Umgang mit loser gestimmten Musen, deren Gunst mir nicht völlig abgeht – lockte mich über alles“ (LW 68). Seine „Träume“ hätten „höher gegriffen, als nach diesem pädagogischen Mittelstand“ (LW 60). Das „ersehnte Lehramt an einer deutschen Hochschule“ (LW 60) war mit dem Dienst an Goethe unvereinbar, er habe „eine Vokation an die Universität von Rostock“ (LW 61) abgelehnt mit der Begründung, Goethe habe dies nicht ausdrücklich gewünscht: „Große Männer haben an anderes zu denken als an das Eigenleben und -glück der Handlanger“ (LW 61). Der Dienst an Goethe, dem „Genius“ (LW 66), dem „Heros“ (LW 68, 124), der Dienst „an der Person und dem Werke“ (LW 69) bildet die eigentliche Aufgabe Riemers, nicht seine Anstellung als Lehrer Augusts. Konkret gestaltet sich die Dienerschaft in der Lieferung von Wissen, wobei Riemer weiß, dass erst Goethes Geist das Wissen vergolden könne: „In der Tat, andere schuften, schürfen, läutern und horten; aber der König schlägt Dukaten daraus…“ (LW 75). 137 Indirekt offenbart Riemers Tätigkeit des Philologen die eigentliche Tätigkeit des Goethe-Philologen, der nachträglich, also nicht wie Riemer in statu nascendi, das Werk des Dichters durch seine kommentierende Praxis fördert, festigt und verbreitet, und zwar durch die Verheißung eines ‚höchsten Glücks‘ (LW 75). Sonst wäre es nicht zu erklären, _____________ 137 Es sei darauf hingewiesen, dass Thomas Mann seine philologischen Freunde für diese Arbeiten eingespannt hat. Thomas Mann sucht z. B. Rat wegen Goethes Frankfurterisch bei Hans Wilhelm Rosenhaupt, vgl. Armin Wishard, Der Briefwechsel zwischen Thomas und Katia Mann und Hans Wilhelm Rosenhaupt 1932–1947, Teil I, in: Thomas-MannJahrbuch 21 (2008), S. 169–217, hier S. 187.
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daß wirkliche Gelehrte und Männer der Wissenschaft es nicht nur nicht für Raub, sondern für freudigste Ehre erachten, sich um den Schönen Genius, den Mann der Anmut zu scharen, seinen Stab und Hofstaat zu bilden, ihm Wissen zuzutragen, seine lebenden Lexika zu machen, die sich ihm zur Verfügung halten, damit er selbst sich nicht mit Wissenskram zu schleppen braucht (LW 75).
Solche Kanzlisten- und Schreiberdienste hätten, so Riemer, als „Liebesdienste, die man einem großen und teuren Menschen zu leisten gewürdigt ist, gar keine Rangordnung“ (LW 76). Im Gegenteil zählt sich Riemer zu den wenigen Verständigen und Auserwählten, die sie übernehmen könnten. Aufgrund seiner „Vertraulichkeit“ zum Meister sei es belanglos, zwischen „hohen und niederen, […] würdigen und unwürdigen Dienstleistungen“ (LW 81) zu scheiden. Besonders schlecht zu sprechen ist Riemer auf Goethes gewöhnliche Schreiber, 138 die sein „Diktat der geliebten, sonoren Stimme“ (LW 76) eigentlich überhaupt nicht würdigen könnten. Als „Beobachter dieses Heldenlebens“ (LW 77) ist Riemer eingeweiht in das Geheimnis der Werke, in ihren Plan, den er teilweise besser kenne als der Meister selbst. Es sind nicht allein Grammatik, Orthographie, Interpunktion und Stil zu berichtigen, auch über die Konzeption des eigenen Werks lasse sich Goethe belehren. Er finde „ein kindliches Vergnügen daran, über sich selber geistreich aufgeklärt zu werden“ (LW 80) – genau dies sei „des Philologen Sache“ (LW 80). Jene ‚Vertraulichkeit‘ ermöglicht es schließlich, dass Riemer an Goethes Statt die Korrespondenz führt, „nicht etwa nur diktatweise, sondern ganz selbständig für ihn, oder richtiger gesagt: als er selbst geführt habe, – an seiner statt und in seinem Namen und Geiste“ (LW 81). Diese Selbstständigkeit im Dienst schlägt bisweilen um in ihr Gegenteil und wird „zur totalen Selbstentäußerung“ (LW 81); Riemer schreibt bisweilen „goethischer“ (LW 81) als Goethe. Das aber ist das Ziel des Dienstes am Dichter: die völlige Selbstaufgabe, eine IchEntäußerung, die „Aufgabe des eigenen Mannes-Ich“ (LW 82). Thomas Mann hat in dieser Charakterisierung einen wesentlichen Zug der biographistischen Philologie seiner Zeit erkannt. Angesichts des Selbstverlusts muss sich Riemer über Goethes Wert sicher sein, weshalb er auf eine Sakralisierungsstrategie zurückgreift – seine Vorstellung vom Dienst kommt der christlichen Selbstaufgabe in Gott nah: „Wer ist er nach allem und zuletzt, daß es nur überaus ehrenvoll und garnichts anderes sein sollte, sich in ihm zu verlieren und ihm sein Lebens-Ich aufzuopfern?“ (LW 82). In der theologischen Analogie erfüllt der Philologe die Aufgabe des Götterboten bzw. der Engel, indem er zum Sprachrohr des Dichters wird. Welche „Rechtfertigung für das Mannesopfer“ (LW 83) gibt Riemer? _____________ 138 Vgl. Walter Schleif, Goethes Diener, Weimar 1965.
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Die gereizte Apologie, die sich – wie Charlotte bemerkt – aus Riemers ‚Realism der Betrachtungsweise‘ ergibt, besteht in einem Widerspruch zwischen einer konkreten, Goethe entlarvenden Sprache und der eigentlichen Intention der Rede. Riemer hält dieses Versprechen für ein angesichts des Großen nicht ungewöhnliches Verfahren: „wir lobpreisen, wo wir zu schmähen – und fluchen, wo wir zu segnen gedachten“ (LW 85), weil man das Große eben nur negativ in seiner Größe zur Geltung bringen könne. Dennoch versucht er eine positive Bestimmung. Es handele sich „um die sanfteste Form, worin Großheit auf Erden erscheinen mag: Das Dichtergenie; um die Größe in Gestalt höchster Liebenswürdigkeit, das Liebenswürdige zur Größe gesteigert. So wohnet es unter uns und redet mit Engelsmund“ (LW 85). Die Verbindung von Liebenswürdigkeit und Größe zeichne Goethe aus, und Riemers Beschreibung von Goethes Prosa in Longin’schen Kategorien des genus sublime erhebt den Autor ins Göttliche: Da ist nicht Pomp noch Hochgefühl, nichts von Gehobenheit im äußerlichen Sinn – obgleich innerlich alles wunderbar gehoben ist und jeder andere Vortragsstil, nämlich gerade der gehobene, einem daneben platt erscheint – von Feierlichkeit nichts und priesterlicher Gebärde, nichts von Verstiegenheit und Überschwang, kein Feuersturm und Geschmetter der Leidenschaft – im stillen, sanften Säuseln, meine Liebe, ist Gott auch hier (LW 86).
Von hier an wird Goethe unmissverständlich mit einem Gott gleichgesetzt. Charlottes Nachfrage, ob man durch philologische „Genauigkeit“ Goethes Größe als „das Werk der Dichter-Begeisterung“ (LW 88) erfassen könne, korrigiert Riemer, dass es sich nicht um Begeisterung handele, weil Goethe nicht begeistert sei, sondern „erleuchtet“ (LW 88). In der Argumentation Riemers ist Gott „Gegenstand der Begeisterung, aber ihm selbst ist sie notwendig fremd“ (LW 88). Die Annäherung an die göttliche Größe vollzieht sich als Gleichsetzung von absoluter Kunst einerseits und absoluter Liebe sowie absoluter Vernichtung andererseits (LW 89). Das Medium, in dem sich das Teuflische mit dem Göttlichen vereint, bezeichnet Riemer als Ironie (LW 88), die Böses und Gutes gleich gelten lasse (LW 93). Die Apotheose 139 gipfelt in Sätzen wie: „Er ist ein Gott“ (LW 95) oder: „Gottesozon – o ja! Nie atmet man sich satt daran“ (LW 95). Obzwar Riemers dualistische Gottesvorstellung unmöglich eine christliche ist, gleicht das Begehren nach Goethe strukturell der Sehnsucht des Christentums (LW 90) nach Gott. Das religiöse „Entzücken“ (LW 90) entzünde sich an der Vereinung der „mächtigsten Geistesgaben mit der stupendesten Naivität in einer menschlichen Verfassung“ (LW 90). Goethe verheiße dem Seiner Begehrenden „die Befreiung aus den natürlichen _____________ 139 Vgl. Friedhelm Marx, „Die Menschwerdung des Göttlichen“. Thomas Manns Goethe-Bild in „Lotte in Weimar“, in: Thomas-Mann-Jahrbuch 10 (1997), S. 113–132.
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Banden ins Reine, Geistige“ (LW 90). Damit wird der Dienst an Goethe zu einem „Liebesdienst“ (LW 91), und die zuvor als bitter bezeichnete Mannesehre, weil sie sich selbst aufopfert, kehrt sich in Süße um. Goethes Geist, der sich durch das Schöpferische mit der Natur verbindet, so Riemer, fesselt eine Ewigkeit: „nicht neun, nicht vierzehn Jahre“ [LW 91]. Riemers Dienst wird in seiner Eigenschaft als Liebesdienst an dem Umstand deutlich, dass er Goethes Rede wie die eines Geliebten wahrnimmt: rein äußerlich, physiognomisch. Innerhalb der literaturwissenschaftlichen Methodik der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts entsprechen dieser Wahrnehmung neben Rudolf Ungers geistästhetischem Zugang etwa Leo Spitzers physiognomische Stilphilologie oder Eduard Sievers Ohrenphilologie, die sich an der Sprache abarbeiten, um zur Seele des Autors vorzustoßen. 140 Wenn gleichgültig werde, was Goethe gesagt hat, dann liege das daran, daß man ihn liebt und zu sehr auf die Stimme, den Blick, den Ausdruck achtet, womit er etwas sagt, als daß für das Gesagte genug Aufmerksamkeit übrig bliebe, – richtiger: es mag vielleicht nicht genug von dem Gesagten übrig bleiben, wenn man Blick, Stimme und Gebärde davon abzieht, denn sie gehören zur Sache, und in einem mehr als gewöhnlichen Grade ist bei ihm das Sachliche an das Persönliche gebunden und durch dasselbe […] bis in seine Wahrheit hinein bedingt, sodaß es am Ende ohne Zutat und Halt des Persönlichen garnicht mehr wahr ist (LW 92f.).
Riemers Liebesdienst suggeriert am Ende der Rede, dass es sich um ein tragisches Opfer handelt, das er darbietet. Denn am Ende der ausführlichen Eloquenz schlägt seine Rede in Körperlichkeit um: Er war bleich, Schweißtropfen standen auf seiner Stirn, seine Rindsaugen blickten blind und glotzend, und sein offener Mund, dessen sonst bloß maulender Zug dem Ausdruck einer tragischen Maske ähnlicher geworden war, atmete schwer, rasch und hörbar (LW 97).
In Goethe als Repräsentant des bürgerlichen Zeitalters war Thomas Mann auf das zu sprechen gekommen, was den Kern des Riemer-Kapitels ausmachen wird: Goethes Charakteristik als indifferent, teuflisch, ‚naturelbisch‘. Goethes ‚Neigung zum Negieren‘, seine ‚Gleichgültigkeit‘, das „Elementare, Dunkle, Boshafte und Verwirrende, ja Teuflische“ 141, sein ‚Nihilismus‘ und seine „allertiefste[], naturelbische[] Dichtergesinnungslosigkeit“ 142 rücken zunächst Thomas Mann, später Thomas Manns Figur Riemer in den Vordergrund. 143 Was Riemer an Goethe erkennt, ist Indifferenz. _____________ 140 141 142 143
S. Meyer-Kalkus, Stimme und Sprechkünste im 20. Jahrhundert, S. 73–88. Mann, Goethe als Repräsentant des bürgerlichen Zeitalters, in: Ders., Essays, Bd. 3, S. 326. Ebd., S. 329. Dass dieser Gedanke gleichfalls zu jenen ‚Autobiographica‘ zählt (Hermann Kurzke, Thomas Mann. Epoche – Werk – Wirkung, 2., überarbeitete Auflage, München 1991,
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Thomas Mann konnte diese Deutung Goethes in Heines Romantischer Schule vorfinden: „Sein [Goethes] Indifferentismus war ebenfalls ein Resultat seiner pantheistischen Weltansicht.“ 144 Aber der ‚elbische Goethe‘ (LW 93) bedarf nicht allein Liebender wie Riemer, sondern auch derjenigen, an denen sich die eigene Liebe des Helden manifestiert. Das letzte Drittel der Unterredung mit Charlotte widmet sich Goethe selbst als Liebendem – dem jungen Goethe in Wetzlar, dem Vorbild seines Werthers, dem Liebhaber Lottes – und erinnert an ein wesentliches Merkmal der Autorschaft Goethes: Sie ist in hohem Maße eine erotische und deshalb für Riemer anziehend. Riemer übernimmt die Rolle eines „Beichtvaters“ (LW 115), dem Charlotte ihren Kummer anvertraut. Ihr sei bewusst geworden, dass Goethe niemals in sie, sondern in ihre „Verlobtheit“ (LW 116) verliebt gewesen sei, und sie bezeichnet Goethes „Liebe zu einer Braut“ (LW 116) daher als „‚Schmarutzertum‘“ (LW 117). Neben Goethes ‚elbischen Geist‘, der Gut und Böse vereint, gesellt sich die Bezeichnung „‚Kukuksei‘“ (LW 115). Dieses Urteil fügt sich in Riemers Apotheose nahtlos ein, indem er das ‚Schmarutzertum‘ als ein „göttliches Schmarutzertum“ bezeichnet, „ein Sich niederlassen der Gottheit auf menschlicher Lebensgründung […], ein göttlich schweifendes Partizipieren an irdischem Glück, die höhere Erwählung einer hier schon Erwählten, die Liebesleidenschaft des Götterfürsten für das Weib eines Menschenmannes“ (LW 117) – „die Amouren des Zeus“ (LW 126). Riemers kunstreligiöses Konzept der Poesie – sie sei die „Menschwerdung des Göttlichen“ (LW 126) – bietet sodann ein Erklärungsmuster für diese Form der Liebe. Die Tautologie von Poesie, dem Göttlichen und dem Schönen führt das narzisstische Argument der „Selbstgefälligkeit“ (LW 119) ein, wonach sich die Poesie als das Schöne in der Liebe selbst bespiegelt. So müsse man auch Goethes Liebe zu einer Braut verstehen: Es sei gar nicht er selbst, sondern das Göttliche der Poesie, also das Schöne, das sich im Medium der Liebe erkennt. Der Vers von der ‚unsterblich webenden Liebe‘ (LW 113) gewinnt damit einen weiteren Sinn auf der Ebene der poetischen Vertextungswelt: Der göttliche Goethe nutzte die Liebe, um schöne Poesie zu schaffen. Das „Leben des Heros“ (LW 124) wird geschildert in der „Literärgeschichte“ (LW 125), die von der philologischen Forschung konstituiert _____________ S. 262), von denen das Werk Thomas Manns wimmelt, soll nicht unterschlagen werden, scheint mir aber für die hier vorgelegte Interpretation irrelevant zu sein aus dem einfachen Grund, dass das autobiographische Element letztlich Teil der Werklogik wird wie jedes andere Element auch. 144 Heinrich Heine, Die Romantische Schule, Hamburg 1836, S. 84. – Vgl. Wysling, Thomas Manns Goethe-Nachfolge, in: Ders., Ausgewählte Aufsätze, S. 56: „Goethes Universalismus, seinen Indifferentismus, seinen Egozentrismus: das alles hat Heine ins Übermenschliche, Gottähnliche gesteigert“.
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und erzählt wird. Lotte ist eben nur eine weitere „Heldin“ (LW 124) in diesem Heldengedicht. Der Bezug zur epischen Gattung wird indirekt nicht nur über die Heroisierung des Dichters hergestellt, sondern auch formal, wenn Riemer von „Episoden“ (LW 124) spricht. Gleichzeitig reflektiert das Gespräch zwischen Lotte und Riemer die philologische Konstituierung dieses Heldenepos mit, beispielhaft an der Geschichte um die ‚schwarzen Augen‘ der Roman-Lotte. Die echte Lotte war bekanntlich eine „blauäugige Blondine“ 145. Riemer wiegt umgehend jedes neue Detail in seiner Bedeutung „für die schöne Forschung“ ab: „Man muß es ausforschen, muß es der Philologie zugänglich machen…“ (LW 112). Die dem Werther „zum Grunde liegenden Erlebnisse[]“ (LW 112) legitimieren eine solche Denkweise, die nach Riemers Deutung Goethes als des ‚göttlichen Heros‘ zwangsläufig alles zu sammeln beabsichtigt, was das Leben erhellt: Denn das Leben ist die Dichtung. Nicht so sehr Dilthey, dessen geistesgeschichtliches Denken auf einem Erlebnisbegriff basierte, welcher auf den Strukturbegriff zulief, sondern die biographische Forschung stand hier Pate, die alle Werke nur als Ausdruck des göttlichen Dichterlebens begriff. Die Charakteristik Riemers zeichnet die Beweggründe der Autorenphilologie nach, die in der Goethe-Philologie kulminiert war. Eine solche erotische Motivation ihrer Arbeit blieb bei Fachautoren voranalytisch, wenngleich sich die geistesgeschichtliche Seite mit Liebesbekenntnissen nicht zurückhielt. Das gilt auch für Sakralisierungstendenzen, die die Semantik des disziplinären Diskurses leicht erfassen können. Wenn auf Männer wie Riemer und Frauen wie Lotte das Licht „der Geschichte, der Legende, der Unsterblichkeit […] wie auf die um Jesus“ (LW 126) falle, dann macht Thomas Mann explizit, was im Fachdiskurs nur allusorischen Charakter besitzt. Eine wichtige Vorlage für die Riemer-Figur Thomas Manns stellt die Goethe-Biographie des Philologen und Gymnasiallehrers Albert Bielschowsky (1847–1902) dar. Die Analyse von Riemers Begehren nach dem Dichtergenie liest sich wie eine nachträgliche Motivierung von Bielschowskys Goethe-Biographie. Er ist ein nicht genannter ‚Held‘ von Thomas Mann. Als ‚Meister‘ wird Goethe nicht bloß von Riemer bezeichnet, sondern auch von Bielschowsky, gleich zu Beginn seiner Biographie. 146 Auch Goethes Gottähnlichkeit geht auf Bielschowsky zurück. Lotte gerate, so Bielschowsky, in Versuchung durch einen Gottähnlichen, sie ahnte, „daß jener gottbegnadete Jüngling nur ein Gestirn sei, an dem man sich weiden, aber nach dem man nicht greifen dürfe, ohne in den _____________ 145 Albert Bielschowsky, Goethe. Sein Leben und seine Werke, Bd. 1, München 1896, S. 160. 146 Ebd., S. V.
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Abgrund zu stürzen“ 147. Als Goethe Rom verlässt, berichtet Bielschowsky vom „Freundeskreis, dem er Freund, Bruder, Führer, Prophet, Halbgott geworden war.“ 148 Riemer fragt: „Was kommt hinzu bei ihm [Goethe], das ihn zum Halbgott macht, ihn zu den Sternen erhebt?“ (LW 84). Thomas Manns Roman beschränkt sich jedoch nicht auf die kritische Analyse der philologischen Konstruktion von Goethes Autorschaft aus dem Geist der Erotik. Schließlich versucht das Buch als Ethopoiia, die Präsenz des Autors im literarischen Text herzustellen. Jener „Wunsch nach Präsenz“ 149, den Gumbrecht als den verborgenen Impuls der Philologie bezeichnet hat, wird im Roman ganz unkryptisch zur Sprache gebracht. Der Präsenzeffekt gelingt Thomas Mann, indem er zunächst negativ die Abwesenheit des Autors und das Andenken Goethes in der Struktur des Begehrens sichtbar macht, um anschließend im siebenten Kapitel die Lücke im inneren Monolog Goethes mit durchschlagender Evidenz zu füllen. Einerseits gibt der Roman Thomas Mann die Möglichkeit, die philologisch-biographische Deutung Goethes, an der er zeit seines Lebens mitgewirkt hat, hinsichtlich ihrer psychologisch-erotischen Bedingungen offen zu legen; in der Riemer-Figur personifiziert sich das philologische Begehren, das die Goethe-Philologie implicite motiviert. Andererseits ist die höhere, ironisch-dichterische Methodologie keineswegs nur negativ: Zwar wird die Autorenphilologie auf das erotische Begehren zurückgeführt und damit der objektive Anspruch des Literarhistorikers als subjektives Interesse entlarvt; aber aus poetischer Sicht nicht ernsthaft disqualifiziert, weil das kaschierte Movens tatsächlich ein dichterisches ist. Der Dichter erscheint daher als der bessere Begehrende, weil er erstens das Begehren nicht hinter dem Habitus des Gelehrten verstecken muss und zweitens die Lizenz zur Fiktion hat, welche ganz andere Möglichkeitsräume biographischer Erkenntnis eröffnet. Thomas Manns Zugang zu den Akteuren der Literaturgeschichte ist methodologisch reflektiert und frei von jeder Prüderie. Sein korrektiver Eingriff in die Literarhistorie ist von grundsätzlicher Natur: Will er doch nicht nur ein weiteres Goethe-Bild neben die bestehenden und noch kommenden stellen, sondern der philologischen Fachwissenschaft zwar nicht das Feld der Literarhistorie insgesamt, aber die Erforschung ihrer Akteure streitig machen.
_____________ 147 Ebd., S. 163. 148 Ebd., S. 410. Das Wort ‚Halbgott‘ geht auf Caroline Herder zurück, vgl. ebd., S. 515. 149 Gumbrecht, Die Macht der Philologie, S. 17.
IV. Synthesen poetologischer Antagonismen Glaubt man Riemer, dann würde Goethe die Iphigenie bei einem erschöpfenden Studium der griechischen Sachen nicht geschrieben haben: Das Unzulängliche ist produktiv. Ich schrieb meine ,Iphigenia‘ aus einem Studium der griechischen Sachen, das aber unzulänglich war. Wenn es erschöpfend gewesen wäre, so wäre das Stück ungeschrieben geblieben. (Goethe gegenüber Riemer am 20.7.1811) 1
Goethes Diktum suggeriert, dass zu viel Wissen poetisch unproduktiv mache. Sein Wissensbegriff ist in zweifacher Hinsicht problematisch. Er geht erstens von der wissenschaftlichen Erschöpfung eines Gegenstandes aus und rechnet zweitens nicht mit ein, dass neues Wissen auch neue Gestaltungsräume eröffnet. Ein offen-dynamischer Wissensbegriff hätte dann eher zu der Feststellung geführt, dass die Iphigenie eine andere geworden, aber nicht ungeschrieben geblieben wäre. Zugleich hätte sich ihr Autor erschöpfender, aber nicht erschöpfend mit den griechischen Sachen befasst. Auch die Vorstellung, dass das Wissen im Übergang von der Philologie in die Poesie identisch bleibe, ist nicht haltbar; und überhaupt wird man den Eindruck nicht los, dass sich der Philologe Riemer der Autorität Goethes hier bediente, um die Poesie als etwas Unzulängliches zu diskreditieren. Das innerhalb des philologisch-literaturwissenschaftlichen Diskurses verhandelte historische Wissen und die von diesem abhängigen Urteile über einzelne Autoren, ihre Werke, aber auch poetologische Fragen, Theoreme und Terminologien können zwar die dichterischen Produktivkräfte lähmen, aber in gleichem Maße ihren Gang vorantreiben und die dichterische Faktur stabilisieren. Von Interesse sind dabei die Transferprozesse aus der Disziplin in die Dichtung. Im Übergang in den Text wird zwar das Wissen aus den Regeln der Fachkommunikation befreit, aber es bleibt epistemologisch relevant. Das jeweilige Wissenssegment kann die Funktion eines Formprinzips vor allem deshalb erlangen, weil ihm ein durch seine wissenschaftliche Herkunft ausgezeichneter Wahrheits- und Erkenntniswert beigemessen wird. Diese Dynamik soll an zwei Beispielen nachgezeichnet werden. Aufgegriffen werden in Sprach- und Literaturwissenschaft ausgebildete Sem_____________ 1
Zitiert nach: Goethe im Gespräch, hg. v. Friedrich Gundolf, Leipzig 1906, S. 140.
248
IV. Synthesen poetologischer Antagonismen
antiken der Innovation bei Ernst Stadler und der gattungsspezifischen Prosodie bei Hermann Broch. Die wissenschaftlichen Semantiken werden nicht einfach nur integriert, sondern für die jeweilige poetische Fragestellung problematisiert. Von der Wissenschaft diskutierte Begriffsoppositionen bieten sich besonders dafür an, von der Dichtung in Frage gestellt zu werden. Der poetische Widerstand gegen den festen Begriff kann diesen nicht nur als Konstruktion sichtbar machen, sondern zur Synthese eines Antagonismus zwingen, der von der Wissenschaft selbst hingegen noch nicht überwunden wurde. Ein solches synthetisches Formprinzip wirkt in Stadlers Aufbruch, wo die Lösung von der Form in Einheit gedacht wird mit der Bindung an sie. Brochs lyrische Prosa im Tod des Vergil hebt den Unterschied von Vers und Prosa auf. Beide Texte verhandeln poetologische Themen, die zwar nicht auf die Literaturwissenschaft der Moderne beschränkt bleiben, aber durch deren Begrifflichkeit, ihre paradigmatischen Bezüge und semantischen Regeln geprägt sind. Als historische Formationen sind sie aus dieser heraus begreifbar. Dass die vollzogenen Synthesen keinesfalls formale Spielereien sind, sondern einer höheren poetischen Ausdrucks- und Erkenntnisabsicht untergordnet bleiben, wird zu zeigen sein. Synthesen sind folgende Beispiele deshalb, weil sie einen Widerspruch nicht nur eröffnen und austragen, sondern ihn in der poetischen Form überwinden. Stadlers Aufbruch-Gedichte pendeln zwischen Bindung und Lösung, nicht nur formal, sondern auch thematisch auf Ebene des ethischen Anspruchs. Auf ihre Erkenntnisleistung hin überprüft Broch die Dichtung, indem er sie in einen lyrisch-prosaischen Antagonismus aufspaltet, um sie in lyrischer Prosa zu synthetisieren. Die Dramatik der poetologischen Bewegung resultiert zum einen aus der antagonistischen Spannung; zum anderen zehrt sie von dem Umstand, dass diese Spannung auf wissenschaftlicher Seite vorgeprägt ist. Aufgrund der dichterischen Inszenierung einer disziplinären Begriffsspannung reiben sich immer auch die Dichtung und ihre Disziplin aneinander.
1. Ernst Stadlers Aufbruch und die Bindung der erlösten Form Ernst Stadlers (1883–1914) Gedichtsammlung Der Aufbruch (1914, recte 1913) trägt eine Spannung aus, für die das Gedicht Form ist Wollust bezeichnend ist: die Erlösung der Form in der gebundenen Form von Reim und Vers. 2 Das Ineinander von Formkritik und formaler Strenge kann als _____________ 2
Wenn nicht anders angegeben, werden alle Schriften Stadlers zitiert nach Ernst Stadler, Dichtungen, Schriften, Briefe. Kritische Ausgabe, hg. v. Klaus Hurlebusch/Karl Ludwig
1. Ernst Stadlers Aufbruch und die Bindung der erlösten Form
249
ein typisches Merkmal avantgardistischer Literatur gewertet werden.3 Zugleich aber ist diese Erlösung religiös konnotiert. Mehrfach evoziert der lyrische Sprecher der Sammlung eine göttliche Instanz; es geht um Schuld und die Erlösung von ihr. Die Gedichte des Aufbruchs zielen auf die Befreiung des Ich im Medium einer lyrischen Form, die zugleich als schmerzhaft empfunden wird, weshalb die Semantik des Aufbruchs bezogen bleibt auf die leibliche Bedeutung der nicht verheilenden, aufbrechenden Wunde. Den Prätext für den religiösen Bezug und die Wundmetaphorik bildet, wie zu zeigen sein wird, Hartmanns von Aue Der arme Heinrich. Die oratio ligata, die eigentlich eine oratio soluta sein will, ist ein poetischer Topos, der bei Stadler den religiösen bzw. absoluten Wunschzustand des lyrischen Sprechers artikuliert. Der von der Forschung früh bemerkte ‚Gegensatz von Einengungs- und Befreiungsgefühl‘, der sich in der Bildsprache als ‚Stauung‘ und ‚spontane Auflösung dieser Stauung‘ zeigt, 4 bildet das sich daraus ergebende Formprinzip dieser Lyrik. Die Ablehnung alter Bindungen und der Wunsch nach Erlösung sind nach 1910 zeittypisch, insofern sich Stadlers kunstreligiös-messianisch aufgeladene Formkritik auch am äußeren Formzwang Georges oder Hofmannsthals konturierte. 5 Die formale Ebene der Bindung und die semantische der Erlösung waren aber gleichfalls Gegenstände von Stadlers disziplinärer Praxis. An der philologischen Kommentierung mittelalterlicher Versepen Wolframs von Eschenbach und Hartmanns von Aue sowie an der literaturgeschichtlichen Reflexion ihrer Autorschaft und derjenigen Shakespeares und Wielands wird der formale Konflikt zwischen Originalität und Konventionalität ausgetragen, den die eigene poetische Autorschaft Stadlers tangiert. Die religiösen Verserzählungen Parzival und Der arme Heinrich bilden des Weiteren Prätexte für das Erlösungsmotiv.
_____________
3
4 5
Schneider, München 1983, unter der Sigle ES. Im Haupttext folgt der Nachweis direkt hinter dem Zitat in Klammern gemeinsam mit der Seitenzahl. – Zu Stadler vgl. auch die jeweiligen Kapitel bei Behrs, Literatur und Literaturwissenschaft, und Redl, Dichtergermanisten der Moderne. Vgl. Burdorfs Unterscheidung zwischen einem technizistischen und einem emphatischen Formbegriff, in: Burdorf, Poetik der Form, S. 508, und den Gedanken, den er Dieter Henrich entlehnt, dass der Formbruch zum Kompositionsprinzip werde. Hieraus entsteht die Notwendigkeit, Formzertrümmerung und Formerzeugung als eine Bewegung zu denken (ebd., S. 510). Karl Ludwig Schneider, Der bildhafte Ausdruck in den Dichtungen Georg Heyms, Georg Trakls und Ernst Stadlers. Studien zum lyrischen Sprachstil des deutschen Expressionismus, dritte, unveränderte Auflage, Heidelberg 1968, S. 154. Günter Heintz, Ernst Stadlers Anfänge, in: Collectanea philologica. FS Helmut Gipper, hg. v. Günter Heintz/Peter Schmitter, Bd. 1, Baden-Baden 1985, S. 239–272, analysiert die George-Referenzen in Stadlers Frühwerk.
250
IV. Synthesen poetologischer Antagonismen
1.1. Stadlers zweimalige Erneuerung Stadlers literaturgeschichtliche Einordnung fällt nicht leicht. Er gilt als Wegbereiter des Expressionismus, aus einer anderen Perspektive als Überwinder des Ästhetizismus und des Symbolismus. 6 Sein schmales lyrisches Œuvre der beiden Sammlungen Präludien und Der Aufbruch gibt Anlass, die Abkehr vom Ästhetizismus hin zu etwas Neuem an ihm selbst zu beobachten. Dieses Neue war zumindest in Hinblick auf den Ort der Erstpublikationen seiner Gedichte Teil der expressionistischen Bewegung. Stadler gehörte zu den ersten Autoren von Franz Pfemferts Zeitschrift Die Aktion (ab 2/1911), die das maßgebliche Organ jener Literatur werden sollte, die als expressionistisch gilt. Das Politische war für diese Zeitschrift von Anfang an Programm, womit auch Stadlers kritische und aktive Haltung wie diejenige seiner philologisch-poetischen Freunde René Schickele und Otto Flake korrespondierte. Für die Autoren der Aktion war ihre ethisch-politische Disposition wichtiger als ihre grammatisch-stilistische, anders als im Sturm Herwarth Waldens. Sicherlich lassen sich bei Stadler stilistische Tendenzen kühner Bildlichkeit beobachten, die mit der späteren expressionistischen Ästhetik übereinstimmen. Doch letztlich würde dieser Bezug in die falsche Richtung führen. Stadlers Frage war eine ganz eigene. Er hat sie als junger Dichter mit den Präludien (1905, recte 1904) aufgeworfen und als Philologe zu Bewusstsein gebracht. Wenn er erst nach 1910 wieder als Dichter hervortrat, so unterschied sich seine Lyrik von jener, die bis 1904 entstanden war, hinsichtlich der Ausstellung ihrer Neuheit und ihres unkonventionellen Anspruchs. Auch seine kritischen und philologischen Arbeiten thematisieren die Möglichkeiten dichterischer Innovation. Am Ende der philologischen Ausbildung stand Der Aufbruch, aus dem vorab seit 1910 Gedichte erschienen waren. Der Aufbruch fand eine neue lyrische Sprache, indem die Erneuerung sowohl formal als auch inhaltlich als Aufbruch semantisiert wurde: Der alte Sprachleib, so die Leidensmetaphorik, ist wund geworden und droht aufzubrechen. Zwei Tendenzen haben sich in der Deutung von Stadlers kleinem Werk eingespielt. Die eine, vertreten von Karl Ludwig Schneider, geht von einer Zweiteilung aus, unterscheidend zwischen einer neuromantischsymbolistischen Phase bis 1904 und einer expressionistischen Phase nach 1910. Die zweite Deutung, nachdrücklich vertreten von Jost Hermand, _____________ 6
Helmut Gier, Die Entstehung des deutschen Expressionismus und die antisymbolistische Reaktion in Frankreich. Die literarische Entwicklung Ernst Stadlers, München 1977, S. 190–227.
1. Ernst Stadlers Aufbruch und die Bindung der erlösten Form
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weist dagegen auf die Kontinuitäten hin, die sich zwischen den Präludien und der Sammlung Der Aufbruch ergeben. 7 Die erste Deutung bestätigte in seinen kritischen Schriften, zumeist Rezensionen, Stadler selbst, indem er sich von der George-Manier distanzierte. In der wissenschaftlichen Rezeption gilt Der Aufbruch als ein expressionistisches Werk, zum einen weil einzelne Gedichte in einem expressionistischen Organ publiziert worden waren, zum anderen weil Literaturhistoriker, Kritiker und Dichter die Gedichte Stadlers gemeinsam mit denen Georg Heyms und Georg Trakls umgehend als expressionistische kanonisiert haben. 8 Für die zweite Deutung sprechen dagegen motiv- und stilgeschichtliche Kontinuitäten zwischen den Präludien bzw. der frühen Gedichtproduktion und dem Gedichtband Der Aufbruch 9 bzw. der späten Gedichtproduktion. Welcher Stellenwert Stadlers philologischer Arbeit beizumessen ist, hängt nicht wenig davon ab, für welche Sichtweise man sich entscheidet. So könnte man jeweils versuchen, Bruch oder Kontinuität anhand der philologischen Praxis zwischen 1905 und 1910 zu erörtern. Da jedoch der Philologe Stadler in seinen beiden Qualifikationsschriften methodisch durchaus konventionell vorging und seine philologische Reflexion in den diskursiven Bahnen der Disziplin verlief, hat es den Anschein, als hätten die Fragen des wissenschaftlichen Autors die des Dichters nicht tangiert. Den publizistisch durch Die Aktion legitimierten Bruch mit den ästhetizistischen Anfängen kann die wissenschaftliche Qualifikation, wenn überhaupt, nur äußerlich erklären, weil Stadler in dieser Zeit als Dichter nicht hervortrat. Die Entscheidung zwischen stiltypologisch argumentierender Kontinuität und der dramatischen Rede vom Bruch ist kritisch betrachtet ein Effekt der philologischen Qualifikationsphase und dem mit ihr einhergehenden Verstummen der dichterischen Autorschaft. Die kurze Lücke hat die Stadler-Philologie dazu gebracht, von einem frühen und einem späten Stadler zu sprechen. Sie schließt sich jedoch, sobald man nicht zwischen _____________ 7 8 9
Jost Hermand, Stadlers stilgeschichtlicher Ort, in: Der Deutschunterricht 17 (1965), H. 5, S. 21–33. Oskar Walzel, der in der Deutschen Dichtung seit Goethes Tod sonst jeden Vertreter der sogenannten ‚Ausdruckskunst‘ zu kennen scheint, erwähnt Stadler dagegen nicht (1919, 21920). Cordula Gerhard, Das Erbe der ‚Großen Form‘. Untersuchungen zur Zyklus-Bildung in der expressionistischen Lyrik, Frankfurt a. M. 1986 (= Hochschulschriften, Reihe I. Deutsche Sprache und Literatur, Bd. 910), S. 29–34, versucht Aufschluss über Stadlers Verständnis des Zyklus-Begriffes aus seinen literaturwissenschaftlichen und -kritischen Arbeiten zu gewinnen. Allerdings liest sie Stadler affirmativ und unkritisch. S. auch Verena Halbe, Zyklische Dichtung im Expressionismus. Gottfried Benns Gehirne und Ernst Stadlers Der Aufbruch. Exemplarische Untersuchung einer charakteristischen Kompositionsform der literarischen Moderne, Diss. Siegen 1999.
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IV. Synthesen poetologischer Antagonismen
wissenschaftlicher und dichterischer Autorschaft trennt, sondern den Wechsel nur als Sprachwechsel bei gleichbleibender Problemstellung auffasst. Stadler begann als Dichter, sprach dann als Philologe weiter, bis er wieder als Dichter sprechen konnte. Wohlgemerkt gilt eine solche Vereinfachung für das hier zu diskutierende Problem des innovativen Dichtens, das Stadlers Gesamtwerk wie ein roter Faden durchzieht. Der Widerspruch, der sich in der bisherigen Stadler-Forschung als ‚Bruch‘ auf der einen Seite und ‚Kontinuität‘ auf der anderen Seite auftat, wäre somit keine gemäße Beurteilung des Sachverhalts. Stadler verstand sich von Beginn an als ein Neuerer – eine Aufgabe, die ihm zum einen aus der durch den Gymnasialunterricht vermittelten Spannung zur Literaturgeschichte und zum anderen aus dem Bewusstsein um die zahlreichen Neuerungsbewegungen seit 1890 erwachsen war. Stadler war eben nicht der Erste, der sich als Spätling verstand und aus dieser Problematik eine poetische Perspektive gewinnen musste. Insofern er diese Perspektive bis zuletzt dominant setzte, kann von einem Bruch nicht die Rede sein. In diesem Sinne sind aber auch die Kontinuitäten eher als Neuformulierung und Resemantisierung des poetologischen Materials seiner Jugend zu begreifen. In einer von Stadlers ersten Publikationen, die er 1902 in der Zeitschrift Der Stürmer platzierte, wird das poetologische Problem der Erneuerung mittels räumlicher Metaphorik veranschaulicht. Der Raum des Dichters ist das Neuland: Stadler sieht sich, ein Nietzsche-Wort aufgreifend,10 als ein literarischer ‚Spätling‘ (ES 328), der einerseits im Bann der Literaturgeschichte steht und andererseits, über Hofmannsthal oder Arno Holz hinausgehend, erkennen muss, dass bereits diese Autoren versucht haben, sich erfolgreich gegenüber der Literaturgeschichte dichterisch zu behaupten. Insofern ist Stadler ein potenzierter Spätling. Seine gesamte literarische Produktion, sowohl die dichterische als auch die philologische, versteht sich als Antwort auf die damit verbundene Frage: Wie ist eine originäre, nicht konventionelle und keinesfalls epigonale Dichtung überhaupt noch möglich für einen nach 1880 geborenen, bildungsbürgerlich sozialisierten Autor? Es handelt sich um eine Frage, die von einer frühen Darstellung der Gegenwartsliteratur um 1900 aufgeworfen worden war: Adolf Bartels’ Die deutsche Dichtung der Gegenwart. Die Alten und die Jungen. Bartels, nach 1900 als dezidierter Antisemit berüchtigt, hatte am Ende des neunzehnten Jahrhunderts eine – zunächst lose in den Grenzboten erschienene – populäre _____________ 10
Vgl. Friedrich Nietzsche, Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben, in: Ders., Die Geburt der Tragödie. Unzeitgemäße Betrachtungen I–IV. Nachgelassene Schriften 1870–1873. Kritische Studienausgabe, hg. v. Giorgio Colli/Mazzino Montinari, Berlin/New York/München 21988, S. 243–334, hier S. 307 und passim.
1. Ernst Stadlers Aufbruch und die Bindung der erlösten Form
253
Geschichte der Gegenwartsliteratur vorgelegt, die von 1897 bis 1918 neunmal verlegt wurde. Er plädiert am Ende seiner Darstellung für eine Nutzbarmachung des eigentlich abzulehnenden Naturalismus für die neue Heimatkunstbewegung, an deren Anfang er Julius Langbehns Rembrandt als Erzieher (1890) setzt. In ästhetischer Hinsicht teilten Bartels und Stadler neben dem Interesse an neuester Dichtung das programmatische Engagement für die Heimatkunstbewegung, für die sich beide auf den Elsässer Friedrich Lienhard (1865–1929) beriefen. Stadlers spätere Abwendung von Lienhard, den er um 1902 noch geschätzt hatte, 11 wird man zugleich als eine Abwendung von Bartels und dessen antisemitisch-völkischer Literaturpolitik verstehen müssen. Stadlers Interesse an der Heimatkunstbewegung erklärt, dass genau jenes Motto, das er vor seine erste kritische Schrift setzt, bereits in Bartels’ Die deutsche Dichtung der Gegenwart auftaucht. Der Programmschrift Neuland, die ein Jahrzehnt später auch als expressionistisches Manifest durchgegangen wäre, ist ein Urteil vorangestellt, das Bartels wie Stadler einer literaturgeschichtlichen Studie Theodor Fontanes entlehnt haben: In Kunst und Leben gilt dasselbe Gesetz, und wenn die Nachkommen einer zurückliegenden großen Zeit das Kapital ihrer Väter und Urväter aufgezehrt haben, so werden die willkommen geheißen, die für neue Güter Sorge tragen, gleichviel wie. Zunächst muß wieder was da sein, ein Stoff in Rohform, aus dem sich weiter formen läßt (ES 259). 12
Der Titel Neuland spielt auf Cäsar Flaischlens Sammlung neuester Prosa von 1894 an, wo der Zusammenhang von literarischer Kultur und Ackerbau betont ist: Die darin versammelte Literatur sei „aus Umrodung von Wald-, Heide- oder Ackerboden gewonnenes Neuland.“13 Auch der Dichter Flaischlen, promovierter Germanist, forcierte die Heimatkunstbewegung in der Dichtung, die sich als eine der zahlreichen Erneuerungsbewegungen seit 1890 präsentierte. Wenn Stadler später schrieb: „Doch mich reißt es, Ackerschollen umzupflügen“ (Form ist Wollust, ES 138, Z. 4), dann speiste sich die christliche Agrarmetaphorik (Johannes 15.1) auch aus den Anfängen der Heimatkunstbewegung, die sich ja gleichfalls als revolutionär begriff. Sicherlich war Stadler von Bartels’ Literaturgeschichte der Gegenwart nicht unbeeinflusst gewesen. Dennoch behält er sich einen eigenständigen _____________ 11 12
13
Vgl. hierzu den Kommentar von Klaus Hurlebusch und Karl Ludwig Schneider (ES 694f.). Dass Stadler es von Bartels hat, sieht man daran, dass er nicht wie Fontane von ‚großer Epoche‘, sondern von ‚großer Zeit‘ spricht (Adolf Bartels, Die deutsche Dichtung der Gegenwart. Die Alten und die Jungen, Leipzig 31903, S. 203, bzw. Theodor Fontane, Christian Friedrich Scherenberg und das literarische Berlin von 1840 und 1860, Berlin 1885, S. 246f.). Flaischlen, Neuland, in: Ders. (Hg.), Neuland, S. VII.
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IV. Synthesen poetologischer Antagonismen
kritischen Standpunkt vor, der schon in einem frühen Brief vom 29. Mai 1902 an Christian Schmitt zum Ausdruck kam. Zwar schätzte Stadler den Dichter Lienhard, teilte aber nicht dessen ethisches Projekt – ein Widerspruch, der auf Dauer nicht auszutragen war.14 Stadlers programmatischer Neuland-Text stand auf dem Boden der Heimatkunstbewegung, losgelöst von ihren kulturpolitischen Zielen. Neuland unterscheidet zwei Typen von Dichtern, die Entdecker und die Nachtreter: „Die einen sind die Neupräger, die wahrhaft Schaffenden und Schenkenden. […] Die andern sind die Klugen, die Nachfühler und Nachtreter“ (ES 259). Letztere vermögen niemals, „das Innerste mit den Schaudern des aus dem Nichts Herausgebrochenen, des VulkanischEruptiven, Gigantischen zu durchrütteln“ (ES 259). Stadler hält der zeitgenössischen Kritik vor, reaktionär zu sein und das Neue zu verkennen: „Darum hat sie, die da neue Worte schufen, von je gekreuzigt und verbrannt“ (ES 259). Die Kunst müsse sich aber ständig erneuern: „Es ist ruhmvoller und förderlicher, einen Fußbreit Neulandes zu erstreiten als weite Strecken urbaren Bodens zum tausendsten Male anzupflanzen“ (ES 260). Stadler kommt es dabei auf das Neue an sich an, er verkündet es als ein Gesetz, in Abwandlung des aufklärerischen sapere aude: „Habt den Mut, neu zu sein!“ (ES 260). Auch ohne Früchte zu tragen, sei deshalb das Neuland gerechtfertigt. Dieser Grundzug, die Erneuerung der Kunst, insbesondere die der Literatur, als treibende Kraft der Literaturgeschichte zu verstehen, durchzog Stadlers kritische Schriften nach 1910 weiterhin, weshalb sich seine Buchbesprechungen aus dieser Zeit hierin nicht unterscheiden vom frühen Neuland-Text. Gottfried Benns Morgue wird gerechtfertigt mit den Worten: „Entscheidend ist einzig die Leben weckende Kraft des Dichters“ (ES 338). Georg Heyms Der ewige Tag wird eine Wiederaufnahme naturalistischer Tendenzen bescheinigt: „Die Zeit der geschniegelten Wiener Kulturlyrik ist entgiltig vorbei“ (ES 328). Die Rede vom Spätling markiert weiterhin den Standpunkt Stadlers: „Man ist es satt, immer nur Ausklang, Spätling zu sein. Der Wille regt sich, vorwärts zu zeigen statt zurück“ (ES 328). Auch Ibsen habe beigetragen, „die lange getragene Fessel des Epigonentums abzustreifen“ (ES 403). Ein weiteres Moment, das für Stadlers Poetologie wesentlich werden sollte und mit dem Umstand zusammenhing, dass er naturalistische Aspekte übernahm, stellt dasjenige der Wirklichkeitsfreude dar. Diese wurde auch in germanistischen Diskursen als neues dichterisches Ideal hervorgehoben. Wie Stadler grenzte sich Oskar Walzel in seiner Dresdner Antritts_____________ 14
Vgl.: „Vor allem möchte ich einer solch grundsätzlichen und vollständigen Ablehnung des Naturalismus, wie ich sie bei Lienhard finde, doch nicht ganz beistimmen“ (ES 473).
1. Ernst Stadlers Aufbruch und die Bindung der erlösten Form
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vorlesung Die Wirklichkeitsfreude der neueren Schweizer Dichtung (1908) 15 von der geistigen Verfeinerung der Wiener Kreise, in denen Walzel ja verkehrt hatte, ab und wandte sich dem Alltäglichen in der Dichtung zu. Stadler lobt an Werfel eine ‚seelische Haltung‘, „die den innigsten Anschluß an alles Wirkliche suchte, ohne dabei in einen äußerlichen Naturalismus zu fallen“ (ES 344). An Schickeles Gedichten hebt er die „Weltfreudigkeit“ (ES 292) hervor, ebenso an den Texten von Max Dauthenday: „Aber nirgends hat die Weltfreudigkeit, die vielleicht das Grundgefühl unserer Zeit ist, reicheren, umfassenderen, überzeugenderen Ausdruck gefunden“ (ES 330). Zugleich nutzte Stadler nach 1910 den Begriff der Weltfreudigkeit, um sich von dem einstigen Vorbild Lienhard abzugrenzen. Er spricht dem Verfechter der Heimatkunst nun genau das ab, was ihn auf den ersten Blick vielleicht auszeichnet. Stadler zitiert hierzu in dem LienhardAufsatz seine eigene Besprechung von Lienhards Roman Oberlin, dem Weltfreudigkeit gerade abgehe. 16 Mit Bezug auf seine Rezension zu Lienhard verdeutlicht Stadler zudem, dass der Dichter „der Welt schöpferische Werte zu schenken“ imstande sein müsse. Es genüge nicht, „sich im Gegensatz zu seiner Zeit zu fühlen, wenn man es nicht vermag, die Zeitmächte mit dem Zeichen höheren Schöpfertums zu bannen“ (ES 306). Was Stadler an Lienhard vermisst und damit zugleich von jedem echten Erneuerer fordert, ist die Kongruenz zwischen Erneuerungsanspruch und sprachlicher Revolution. Wie jeder Dichter eignete sich auch Stadler imitatorisch ein Vokabular, ein Motivrepertoire und ein Bildprogramm an und fügte es neu kombiniert zusammen, ohne auf die Ausgangsbedeutungen zu achten. Mögen seine Präludien ästhetizistisch sein – An die Schönheit lautet der Titel des Eröffnungsgedichtes – und bis in die Interpunktion hinein in der Manier des frühen George stehen; 17 zur gleichen Zeit problematisierte Stadler seinen dichterischen Standpunkt, indem er die unterschiedlichsten For_____________ 15 16
17
Oskar Walzel, Die Wirklichkeitsfreude der neueren Schweizer Dichtung [Antrittsvorlesung vom 21.10.1907], Stuttgart/Berlin 1908, S. 9f. „‚Das, was heute unsere Besten immer leidenschaftlicher suchen, immer tiefer begreifen, die Hingabe an alles, alles Irdische, die Befreiuung aus wählerischem Geschmäcklertum, die Heiligsprechung jeder Form des Lebens, dieser neue Glaube, diese neue Weltfreudigkeit, sie ist dem Lienhardschen Ideal fremd, das aus den Bedrängnissen und Hoffnungen dieser Zeit auf ein bequemes und von philosophisch-moralischen Maximen umschirmtes ‚Hochland‘ flüchtet‘“ (ES 305). Vgl. in diesem Zusammenhang auch einen Brief, den Stadler am 16. Dezember 1913 an George schrieb, um seine Sympathien mit den ästhetischen Bestrebungen der Blätter für die Kunst zum Ausdruck zu bringen, abgedruckt in: Nina Schneider, Ernst Stadler und seine Freundeskreise. Geistiges Europäertum zu Beginn des Zwanzigsten Jahrhunderts, Hamburg 1993, S. 51, sowie die ebd., S. 116, in Auszügen abgedruckte Rezension Stadlers zu einer Übersetzung der Dichtungen Georges ins Englische aus dem Literarischen Echo 12 (1910), H. 24, Sp. 1790f.
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IV. Synthesen poetologischer Antagonismen
men imitierte und sich somit seiner Konventionalität bewusst zeigte. Die verstreut veröffentlichten Dichtungen zwischen 1901 und 1904, die sich der germanischen Mythologie widmen, formal den Stil Arno Holz’ imitieren und messianische Erneuerungsphantasien beschwören (ES 9–32), geben ein Zeugnis davon. Es verwundert nicht, wenn Stadler diese frühe Stilpluralität, die zugleich Ausdruck von Konventionalität und fehlender Originalität ist, reflektiert. Er habe an sich bemerkt, „daß ich, wie ich das Wesen einer mir interessanten künstlerischen Persönlichkeit mit Leidenschaft ergreife, ebenso rasch wieder mich davon abwende“ (ES 262). Diesen Vorteil aber überwiege eine gewisse Tragik, die Stadler im Sinne Hermann Bahrs modern nennt: Dieser stete Wechsel hält rege, giebt tiefe Einblicke in die Unendlichkeit der Schönheit, wie sie einem auf eine ‚Richtung‘ Versessenen niemals werden. Freilich liegt darin auch eine Tragik. Auf die Masse angewendet nämlich. Niemals gab es eine Zeit, die ihre Helden so rasend rasch überwunden hätte wie die moderne (ES 262).
Auch Stadler war von dieser Dynamik betroffen; seine Wandlung lässt sich an der zweifachen dichterischen Ausführung des Themas ‚Vorfrühling‘ beobachten. Stadler veröffentlichte das Gedicht Vorfrühling 1902 in einer Zeitschrift mit der Gattungsbezeichnung ‚Gedicht in Prosa‘. Schon mit der Gattung Prosagedicht knüpft er an moderne Tendenzen an. Gestaltet ist der Moment kurz vor der jahreszeitlichen Erneuerung, anschaulich gemacht als ein prägnanter Moment durch die Analogie von Bäumen und Körpern. Die Bäume erhalten menschlich-jugendliche Attribute: „gährend der Jugend Saft durch glühende Adern singt“ (Z. 1). Das Gedicht lebt von dem Widerspruch von Innen und Außen sowie von der Spannung, die aus der Fehldeutung der Betrachter („Wanderer“ [Z. 8]) entsteht. Sie kommen an den Bäumen vorüber und nehmen nur winterlich-verdorrte Pflanzen wahr. Sie sehen nicht, dass die Erneuerung und die damit verbundene Vitalität der Natur im Inneren auf den Frühling wartet, um endlich ausbrechen zu können. Das Gedicht könnte trotz seiner Jugendstilelemente auf den ersten Blick in den Zusammenhang des Aufbruchs passen: VORFRÜHLING Bäume weiß ich, frühlingsstarke Bäume, denen gährend der Jugend Saft durch glühende Adern singt. | Die lechzend verlangen nach dem Rausche der Erfüllung. | Aber noch starren sie kahl und stumm. Harte Schorfe ketten die vorschwellenden Triebe. | Und in wilden Träumen nur langen sie empor zu dem schaffenden Licht, daß es sie bade in Glanz und Glut. | Weiten sich ihre Äste, daß gierig sie einsögen den zauberstarken Most lauten Sommerregens, zu erblühen und zu leben gleich ihren Brüdern. |
1. Ernst Stadlers Aufbruch und die Bindung der erlösten Form
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Denn noch kennen sie nicht den Sommerrausch der Erfüllung. Aber krachend durchwühlt ihren Leib der Lenzstrom der Ahnung. | Wanderer ziehen vorüber, und also spricht einer zum anderen: | „Sehet die Bäume dort, wie kahl sie stehen und stumm! | Kalt schleppt sich ihr Blut, und mürrisch fliehen sie des Lenzes sanft wirkende Kraft. | Lasset sie im Dunkeln, die Finstern!…“ | So sprechen sie und gehen vorbei. – | Und nicht einer, der sähe die stürmenden Flammen der Sehnsucht, die gierend | aus ihren Augen lodern und verzehrend über ihnen zusammengluten… (ES 16)
Für den Gedichtband Der Aufbruch verfasste Stadler allerdings ein neues Gedicht unter demselben Titel, was der Vermutung, dieses frühe Gedicht könnte als späteres Aufbruch-Gedicht durchgehen, Einhalt gebietet. Das tatsächliche Aufbruch-Gedicht mit dem Titel Vorfrühling steht im ersten programmatischen Teil ‚Die Flucht‘ vor dem Auferstehungsgedicht Resurrectio, dem Gedicht Sommer, dem Programmgedicht Form ist Wollust 18 sowie dem Titelgedicht Der Aufbruch, welches den ersten Teil beendet. In dieser Reihe gewinnt auch Vorfrühling einen programmatischen Charakter für den Gedichtzyklus. Es besteht aus drei Strophen und aus gereimten Langzeilen (abab, cdcd, efef).19 VORFRÜHLING In dieser Märznacht trat ich spät aus meinem Haus. Die Straßen waren aufgewühlt von Lenzgeruch und grünem Saatregen. Winde schlugen an. Durch die verstörte Häusersenkung gieng ich weit hinaus Bis zu dem unbedeckten Wall und spürte: meinem Herzen schwoll ein neuer Takt entgegen. In jedem Lufthauch war ein junges Werden ausgespannt. Ich lauschte, wie die starken Wirbel mir im Blute rollten. Schon dehnte sich bereitet Acker. In den Horizonten eingebrannt War schon die Bläue hoher Morgenstunden, die ins Weite führen sollten. Die Schleusen knirschten. Abenteuer brach aus allen Fernen. Überm Kanal, den junge Ausfahrtwinde wellten, wuchsen helle Bahnen, In deren Licht ich trieb. Schicksal stand wartend in umwehten Sternen. In meinem Herzen lag ein Stürmen wie von aufgerollten Fahnen. (ES 135)
_____________ 18
19
Vgl. Achim Aurnhammer, „Form ist Wollust“. Ernst Stadlers Beitrag zur Formdebatte im Expressionismus, in: Olaf Hildebrand (Hg.), Poetologische Lyrik von Klopstock bis Grünbein. Gedichte und Interpretationen, Köln 2003 (= UTB, 2383), S. 186–197, und Ernst Schürer, Ernst Stadlers expressionistisches Programmgedicht „Form ist Wollust“, in: Joseph P. Strelka (Hg.), Lyrik. Kunstprosa. Exil. FS Klaus Weissenberger, Tübingen 2004 (= Edition Patmos, 9), S. 121–139. S. zum Reim bei Stadler Arno Schirokauer, Über Ernst Stadler, in: A. S., Germanistische Studien, hg. v. Fritz Strich, Hamburg 1957, S. 414–434.
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IV. Synthesen poetologischer Antagonismen
Die Einheit des Bildes, die sich aus der Analogie von Pflanzlichem (Bäume) und Organischem (Körper) ergab, ist im späteren der beiden mit Vorfrühling betitelten Gedichte ‚aufgebrochen‘. Stadt, Natur und hybride Phänomene der kultivierten Natur wie der Kanal werden jeweils in den drei Strophen evoziert, um die Bedeutung des ‚Vorfrühlings‘ für die Disposition des Sprechers zu verdeutlichen. Die lyrische Erfahrung ist klar in einem Ich subjektiviert, keine mythisch-universale Naturerfahrung erfolgt. Das Moment des ‚Vorfrühlings‘ besitzt zwar auch hier die Funktion, innere Zustände in allen drei Strophen zu markieren, 20 aber aufgrund des Nebeneinanders dreier disparater Bildbereiche (Natur, Kultur, kultivierte Natur) erscheint das Ganze des Gedichts nach außen hin weniger geschlossen. Das Streben nach visueller Sinnlichkeit, die durch den Wechsel der Bildbereiche hervortritt, erinnert an das Stilprinzip Wolframs, wie es die Dissertationsschrift formuliert. Darin wird gleichfalls „eine Einbusse an konkretem Gestaltungsvermögen“ 21 bei Dichtern der Konvention wie Hartmann ausgemacht, verbunden mit einer Distanz zum Leben: „die Umrisse aller Dinge scheinen weniger deutlich, und die Menschen schreiten, wundervolle Geschöpfe der Kunst, durch eine in reifem Geschmacke erschaffene Landschaft.“22 Stadler markiert damit wissenschaftlich seinen poetischen Anspruch.23 In der letzten Strophe von Vorfrühling findet eine weitere Teilung des Bildbereiches durch einen abstrakten Einschub statt: „Schicksal stand wartend in umwehten Sternen“ (Z. 11). Den geöffneten _____________ 20 21 22 23
Vgl.: „meinem Herzen schwoll ein neuer Takt entgegen“ (Z. 4); „Ich lauschte, wie die starken Wirbel mir im Blute rollten“ (Z. 6); „In meinem Herzen lag ein Stürmen wie von aufgerollten Fahnen“ (Z. 12). Ernst Stadler, Über das Verhältnis der Handschriften D und G von Wolframs Parzival, Straßburg 1906, S. 5. Ebd. Besonders nahe kommt der Wissenschaftler Stadler seiner eigenen Bildästhetik auch in einem Vorlesungsmanuskript zur ‚Geschichte der deutschen Lyrik der neuesten Zeit‘. Sie beginnt mit dem lapidaren Satz: „Nietzsche hat zunächst sprachlich gewirkt“ (ES 453). Vor allem die ‚Bildhaftigkeit‘ der dichterischen Sprache habe der Autor revolutioniert. An ihm zeige sich weiter „die neue Leidenschaftlichkeit, die ungestüme Bewegung, die ungeheure Bildhaftigkeit“ (ES 453). Stadler begreift Nietzsche in erster Linie als Spracherneuerer, Nietzsches Wirken habe zu „einer Erneuerung der Sprache und damit der Dichtung selber“ geführt. – Richard Dehmel kommt dabei die Bedeutung zu, als einer der ersten dies erkannt und umgesetzt zu haben. Somit ist das erhaltene Bruchstück der Vorlesung vornehmlich eine Analyse von Dehmels Werk im Zeichen von Nietzsches Lebensemphase. Die Nietzsche-Begeisterung entzündet sich am dionysischen Poesie-Konzept: „Nur die dionysische Kunst hat Raum für jene höchste dichterische Inspiration, deren Begriff, nach Nietzsches Wort, dem Ende des 19. Jahrhunderts verloren gegangen war“ (ES 455). Das dionysische Element ändere zugleich die Einstellung zum Leben, Lyrik sei eine „Verherrlichung des Lebens“ (ES 456) und damit Ausdruck der „Fähigkeit zum Leiden selber“ (ES 456).
1. Ernst Stadlers Aufbruch und die Bindung der erlösten Form
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Schleusen des Kanals folgen die ‚aufgerollten Fahnen‘, das verbindende Element ist der ‚Frühlingswind‘, der beide Bereiche und damit die Seele des Sprechers bewegt. Der Aufbruch des geschlossenen Bildes stellt sicherlich eine wichtige Innovation der Sammlung Der Aufbruch dar. Zugleich aber, gegenläufig geradezu, integriert Stadler kaum spürbar in die Langzeile das bindende Moment des Reims, den das Prosagedicht Vorfrühling von 1902 nicht kannte, womit er den wegen seiner leblosen Bildlichkeit gescholtenen Hartmann wieder näherkommt – hierauf wird zurückzukommen sein. 1.2. Wissenschaftliche und dichterische Autorschaft Kunst und Wissenschaft konnten beide um 1900 als Medien religiöser Erfahrung gelten. Der Philosoph Wilhelm Windelband (1848–1915) verstand sie als die beiden Möglichkeiten des modernen Menschen, sich seiner zeitlichen Hülle zu entledigen und zu erfahren, was Ewigkeit sei. In einem Sub specie aeternitatis überschriebenen Text aus der Sammlung Präludien (21902), die ursprünglich dichterische Gedanken ausführt, 24 liefert Windelband eine Anleitung, „dem Triebleben der alltäglichen Bedürfnisse“ 25 zu entkommen, und geht davon aus, dass die menschliche Existenz „in dem großen Lärm der Dinge dahin“ rausche, solange sie in der „zeitlich bestimmten Individualität“ 26 begründet sei. Selbstaufgabe sieht Windelband als einziges Mittel, um sich von der Zeit zu befreien.27 Der Straßburger Professor, der ein Jahr später nach Heidelberg berufen wurde, bestimmt zwei Wege, Gewissheit über die Ewigkeit zu erlangen – jenen, der in die „Klarheit der Wissenschaft“, und jenen, der in den „Schoß der Kunst“ führt. 28 Er nennt damit zwei moderne säkularisierte Formen, die dem Repertoire der christlichen Weltverneinungs- und Entsagungsethik entnommen sind. ‚Klarheit der Wissenschaft‘ und ‚Schoß der Kunst‘ sind gleichfalls die beiden Pole, zwischen denen Stadlers Autorschaft pendelt. Zwei Jahre später veröffentlichte Ernst Stadler, der bei Windelband studiert hatte, seine eigenen Gedichte ebenfalls unter dem Titel Präludien. Selbst wenn Stadler Windelbands Text nicht gekannt haben sollte, bleibt _____________ 24 25 26 27 28
Hier zitiert nach der dritten Auflage von 1907: Wilhelm Windelband, Präludien. Aufsätze und Reden zur Einleitung in die Philosophie, Tübingen 31907, S. V. Wilhelm Windelband, Sub specie aeternitatis. Eine Meditation [1883], in: ebd., S. 451–463, hier S. 462. Ebd., S. 463. Vgl. ebd.: „Das Beste, was ich als Individuum tun kann, besteht darin, mich zu vergessen und das Allgemeingültige zu ergreifen, das über uns allen als Maß und Ziel waltet.“ Beide Zitate ebd.
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IV. Synthesen poetologischer Antagonismen
er repräsentativ für die Legitimierung des wissenschaftlich-ästhetischen Tuns. Bezogen auf Stadlers epochemachenden Gedichtband Der Aufbruch, stellen die ersten Gedichte tatsächlich ein Vorspiel für etwas Größeres dar. Aber nicht bloß bedingt durch seinen frühen Tod sind sie, im Ganzen gesehen, Teil eines schmalen poetischen Œuvres, das von einem quantitativ nicht zu vernachlässigenden wissenschaftlichen Œuvre sekundiert ist. Nach den Publikationen zwischen 1902 und 1904 schwieg der Dichter Stadler. Ab 1911 veröffentlichte er wieder vereinzelt Gedichte, die Eingang in den Aufbruch fanden. In jenen Jahren, in denen er sich einen Namen als Philologe erwarb, meldete sich Stadler als Dichter nicht zu Wort. Nach dem Abitur auf dem Protestantischen Gymnasium 29 studierte Stadler in Straßburg bei Ernst Martin (1841–1910), Scherers Nachfolger, Philologie. 30 An der Kaiser-Wilhelms-Universität Straßburg hörte Stadler des Weiteren bei dem Romanisten Gustav Gröber (1844–1911), dem Altgermanisten Rudolf Henning (1852–1930), dem Sprachwissenschaftler Heinrich Hübschmann (1848–1908), dem Anglisten Emil Koeppel (1852– 1917), dem Philosophen Windelband, dem Philosophen und Pädagogen Theobald Ziegler (1846–1918). 31 Mit der Reichsgründung 1871 hatte die neue Reichsuniversität Straßburg die kulturpolitische Aufgabe erhalten, das Elsass zu germanisieren. Die Germanistik, die als junge Disziplin höchste politische Legitimität genoss, verstand ihren Lehr- und Forschungsauftrag in diesem Sinne. Vierzig Jahre später schrieb Ernst Stadler in einem Leitartikel für die Straßburger Zeitung, er wünsche sich zumindest _____________ 29
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Vgl. die entsprechenden Jahresberichte des Protestantischen Gymnasiums zu Straßburg, gegründet im Jahre 1538. Im Jahresbericht von 1898/1899 – Stadler war in der UnterSekunda – wurden beispielsweise im Deutschunterricht besprochen und teilweise auswendig gelernt: Schillers Glocke, Maria Stuart, Herders Cid; in Latein wurden Vergil Aeneis I.34– 123, in Griechisch Odyssee I. 1–90 auswendig gelernt (Jahresbericht über das Schuljahr 1898–99, Straßburg 1899). Den Bildungsweg bis zur Dissertation von 1906 schildert er daselbst: „Vorgebildet auf dem Protest[antischen] Gymnasium zu Strassburg bezog ich Ostern 1902 die Universität Strassburg, um mich dem Studium der deutschen Sprache und Literatur zu widmen. Daneben studierte ich romanische Philologie und vergleichende Sprachwissenschaften. Herbst 1902 bis 1903 genügte ich meiner Militärpflicht im Feld-Art.-Rgt. 51 zu Strassburg. Sommer 1904 studierte ich in München, Winter 1904 bis Sommer 1906 wieder in Strassburg“ (Ernst Stadler, Vita, in: Ders., Über das Verhältnis der Handschriften, S. 176). In München, wo er das Sommersemester 1904 verbrachte, besuchte er bei dem Privatdozenten Friedrich von der Leyen Mittelhochdeutsch für Anfänger und Wolframs von Eschenbach Titurel. Bei Hermann Paul hörte er eine Einleitung in das Nibelungenlied und besuchte eine öffentliche Übung zu den Ältesten Minnesängern; bei Muncker hörte er zur Geschichte der deutschen Literatur im Zeitalter der klassischen Kunst und der Romantik und besuchte eine Übung zu Hans Sachs (Belegblatt der besuchten Vorlesungen im Sommersemester 1904, Ernst Stadler: UA München Stud. BB und Verzeichnis der Vorlesungen an der Königlichen Ludwig-Maximilians-Universität München im Sommer-Semester 1904, S. 22, 18 und 19).
1. Ernst Stadlers Aufbruch und die Bindung der erlösten Form
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auf kultureller Ebene die Synthese von Französischem und Deutschem. Für die Literaturgeschichte bedeutete dies einen komparatistischen Blick: Das Elsaß war als Grenzland von jeher der Berührung mit der Nachbarkultur ausgesetzt. Hier dichtete im 13. Jahrhundert Gottfried den Tristan, seiner Form nach und seiner Geistigkeit nach das französischste der großen mittelhochdeutschen Epen. Die Geschichte der elsässischen Litteratur, unter dem Gesichtspunkte dieser Beeinflussung, bliebe noch zu schreiben. Scherer hatte dafür in der Begeisterung der 70er Jahre keinen Blick (ES 383f.).
Wer sich in Straßburg oder als Elsässer berufsmäßig oder zum Studium mit deutscher Literatur beschäftigte, wird zu diesem Politikum eine Haltung gehabt haben. In Stadlers Umfeld dachten andere Dichter und Philologen ebenfalls binational, darunter Otto Flake, René Schickele32 und Ernst Robert Curtius. Mit Letztgenanntem kreuzte sich Stadlers Weg an der Universität Straßburg. Auch Curtius war mit einer textkritischen Arbeit zu mittelalterlichen Handschriften promoviert worden.33 Darüber hinaus waren beide ausgezeichnete Kenner neuester französischer Dichtung: Stadler übersetzte Francis Jammes und Charles Péguy 34 und publizierte 1912 einen Essay über Die neue französische Lyrik; 35 Curtius verfasste die Abhandlung Die literarischen Wegbereiter des neuen Frankreich (1919).36 _____________ 32
33 34
35 36
Vgl. Roger Bauer, Racines françaises de l’expressionisme, Ernst Stadler et ses amis StrasERXUJHRLV LQ =RUDQ .RQVWDQWLQRYLÿ +J ([SUHVVLRQLVPXV LP HXURSlLVFKHQ =ZLVFKHnfeld, Innsbruck 1978 (= Innsbrucker Beiträge zur Kulturwissenschaft, Sonderheft 43), S. 11–14. Ernst Robert Curtius, Li quatre livre des reis. Die Bücher Samuelis und der Könige in einer französischen Bearbeitung des 12. Jahrhunderts, nach der ältesten Handschrift unter Benutzung der neu aufgefundenen Handschriften, Dresden 1911. Vgl. Hans Rollmann, Ernst Stadler and Charles Péguy. The Correspondence, in: Seminar. A Journal of Germanic Studies 21 (1985), S. 253–271. Roman Luckscheiter, Demut als Aufbruch. Ernst Stadlers Übertragungen von Francis Jammes und Charles Péguy im Kontext des Expressionismus, in: Wilhelm Kühlmann/Roman Luckscheiter (Hg.), Moderne und Antimoderne. Der Renouveau catholique und die deutsche Literatur. Beiträge des Heidelberger Colloquiums vom 12. bis 16. September 2006, Freiburg i. Br. 2008 (= Reihe Catholica, 1), S. 219–234. ES 425–430. Beide waren zugleich große Verehrer Balzacs, der ihnen von Hugo von Hofmannsthal vermittelt worden war (vgl. den Essay, den Hofmannsthal der 1908–1911 im Insel Verlag erschienenen Balzac-Ausgabe beigab: Balzac’s Menschliche Komödie). Stadler veröffentlichte 1913 einen Band Erzählungen Balzacs in eigener Übersetzung, der er Hofmannsthals Deutung Balzacs als Verkörperung einer ‚unerschöpflichen Phantasie‘ voranstellt. Curtius’ Buch über Balzac, das 1923 erschien, endet mit Hofmannsthals Essay, der das ‚Tiefste‘ sei, „was je über Balzac gesagt wurde. Wer in Ländern deutscher Zunge Balzac liebt, der kennt diese Seiten halb auswendig“ (Ernst Robert Curtius, Balzac, Bonn 1923, S. 516). In diesem Kontext gedenkt Curtius der „schönen Einleitung, die der unvergeßliche Ernst Stadler der von ihm übersetzten Auswahl Balzacscher Erzählungen […] beigegeben hat“ (Curtius, Balzac, S. 518, Anm. 2).
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IV. Synthesen poetologischer Antagonismen
Dass sich Stadler trotz des großen Interesses an Gegenwartsliteratur zunächst dem Mittelalter zugewendet hatte, erklärt sich aus der germanistischen Qualifikationspraxis. Nach einer Anekdote habe Martin das mittelhochdeutsche Thema der Doktorarbeit damit begründet, dass von Stadlers Kenntnis der neuen Literatur auszugehen sei, aber niemand wisse, ob er auch die alte Literatur beherrsche. 37 Stadlers Antrittsvorlesung zu den Aufgaben der vergleichenden Literaturgeschichtsschreibung zeugt von dem Bemühen, stärker die verbindenden als die trennenden Merkmale zwischen den Nationen zu sehen. In Straßburg begann er zum Winter 1908/09 mit Übungen zur mittelhochdeutschen Grammatik, im Sommer 1909 bot er mittelhochdeutsche Übungen für Anfänger an und las zur Geschichte des deutschen Dramas. 38 Als Stadler in der Aktion zu veröffentlichen begann, legte er eine Neuausgabe von Wackernagels Edition des Armen Heinrich vor. Seit dem Winter 1910 wirkte er an der Université libre in Brüssel, wobei er vorwiegend sprachwissenschaftliche Übungen und Veranstaltungen zur deutschen Literaturgeschichte in französischer Sprache hielt. Er gab nebenher Wielands Shakespeare-Übersetzungen heraus, beendete seine Arbeit für den Oxforder Baccalaureus litterarum und begann wieder zu dichten.39 In einem Gutachten für die Universität von Toronto, wo Stadler im Winter 1914 seine Lehrtätigkeit beginnen sollte, 40 werden nicht nur seine historisch-grammatischen und editionsphilologischen Expertisen gelobt, sondern auch sein Schreibtalent: „writing excellent Modern German prose and even occasionally verse.“ 41 Die wenigen Brüsseler Studenten schienen von den Versen nichts gewusst zu haben. Sie berichten über Seminare zur deutschen Romantik und Goethes Faust sowie über die Lektüre von Georges Dichtungen.42 Im Juni und Juli 1914 kam Stadler noch einmal an die Universität Straßburg zurück. Er hielt dort zwei Vorlesungen: Geschichte der elsässischen Literatur im Zeitalter der Reformation und die weitaus beliebtere Geschichte der deutschen Lyrik der neuesten Zeit. Das „wissenschaftliche Opus, das in der Schweigezeit des Dichters entstanden ist“43, war im Ganzen gesehen beachtlich. _____________ 37 38 39 40 41 42 43
Nach Schneider, Ernst Stadler und seine Freundeskreise, S. 81. Vgl. ebd., S. 95. Vgl. ebd., S. 129. S. hierzu Hans Rollmann, Die Berufung Ernst Stadlers an die Universität Toronto. Eine Dokumentation, in: Seminar. A Journal of Germanic Studies 18 (1982), H. 2, S. 79–113. Zitiert nach Schneider, Ernst Stadler und seine Freundeskreise, S. 131. Vgl. ebd., S. 134f. Karl Ludwig Schneider, Das Leben und die Dichtung [Ernst Stadlers], in: Ernst Stadler, Dichtungen. Gedichte und Übertragungen mit einer Auswahl der kleinen Schriften und Briefe, eingeleitet, textkritisch durchgesehen und erläutert von Karl Ludwig Schneider, Bd. 1, Hamburg s. a. [1954], S. 9–101, hier S. 22.
1. Ernst Stadlers Aufbruch und die Bindung der erlösten Form
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Obgleich der Zusammenhang von Stadlers Unterbrechung der dichterischen Aktivität zu Gunsten der philologischen bekannt ist,44 wurde nie die Frage erörtert, inwiefern die intensive wissenschaftliche Praxis das Innovationspotential des Gedichtbandes Der Aufbruch hervortrieb. Nicht die ‚Gewissenhaftigkeit des Literaturhistorikers‘, sondern „das Entwicklungserlebnis des Dichters“45 habe zur Abkehr von ästhetizistischen Prämissen und zur Hinwendung zum Ethischen, der Verankerung der Kunst im Leben geführt. Das „Außergewöhnliche der Dichtung“ wollte die unmittelbare Nachkriegsgermanistik – Schneiders bis heute einzige StadlerAusgabe (1983) erschien zuerst 1954 – keinesfalls damit erklären, „daß Stadler Literarhistoriker war“ 46. Anstatt in der „sechsjährigen Schweigezeit“ 47 die Vorsicht des Philologen zu erkennen, seinen wissenschaftlichen Ruf durch poetische Bekenntnisse womöglich zu gefährden, wurde sie als Distanznahme von seinem ästhetizistischen Frühwerk gedeutet. 48 Die Ausblendung von Stadlers philologischem und kritischem Œuvre, das quantitativ das poetische überwiegt, ist einem Wissenschaftsverständnis geschuldet, das die methodisch notwendige Trennung zwischen Beobachter- und Gegenstandsebene in der historischen Perspektive aufrechterhält: Der Autor Stadler wird nur zum Teil als epistemisches Objekt behandelt; der wissenschaftliche Part dieser Autorschaft entzieht sich der Vergegenständlichung. Auch wenn Stadlers Position überholt ist, gehört der Philologe Stadler weiterhin der Wissenschaftsgemeinde an, die sich in Misskredit brächte, würde sie nachträglich seine objektive Forschung als subjektive Poetologie deklarieren. Aber nur so kann die produktive Kraft seiner theoretischen und philologischen Praxis, die im Rahmen der Disziplin verlief, gesehen werden. Stadlers Fall und der seines um wenige Jahre älteren Kollegen Hofmannsthal zeigen, dass wichtige Impulse zur Erneuerung der deutschen Literatursprache zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts von philologisch gebildeten Dichtern ausgingen. Umgekehrt werfen sie die Frage auf, wie man sich als philologisch Ungebildeter in _____________ 44 45
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Schneider bemerkt „die in den Vordergrund tretende wissenschaftliche Arbeit“, die „den vorläufigen Abbruch seiner dichterischen Bemühungen herbeigeführt“ habe (ebd., S. 19). Schneider spricht sich vehement gegen eine von Hans Naumann aufgestellte These aus (ebd., S. 54). Naumann schrieb die erste Abhandlung über Stadler, die zwar als Gedächtnisschrift literaturwissenschaftlich dürftig ist, aber doch als Zeitdokument instinktiv auf wesentliche Zusammenhänge hinweist, vgl. Ernst Stadler. Worte zu seinem Gedächtnis, Berlin 1920, S. 18. Das gilt auch für den Nachruf in: Das literarische Echo 17 (1915), H. 14, Sp. 86, wo Stadler als der „straßburger Germanist“ tituliert ist. Schneider, Das Leben und die Dichtung [Ernst Stadlers], in: Stadler, Dichtungen, Bd. 1, S. 100. Ebd., S. 53. Vgl. Schneider: „Die wissenschaftlichen Arbeiten, die die Zeit von 1905 bis 1910 ausfüllen, möchten ihm allmählich einen kräftigen und heilsamen Abstand zu jenen frühen dichterischen Versuchen gegeben haben“ (ebd., S. 61).
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IV. Synthesen poetologischer Antagonismen
dieser Zeit überhaupt auf lange Sicht als innovativer Dichter hätte behaupten können. Stadler war Literarhistoriker und beherrschte das philologische Handwerk, weshalb es eher wunderlich wäre, wenn eine dialektische Spannung zur eigenen Poesieproduktion nicht bestehen sollte. Die ästhetizistisch-impressionistischen Präludien sind vom gymnasialen Literaturunterricht und den ersten Studienjahren geprägt, die ethischen Gedichte des Aufbruchs schrieb ein professioneller Germanist. Dass sein Tod gerade Germanisten dazu bewegte, ihn als Dichter zu würdigen, hat sicherlich mit Stadlers Zugehörigkeit zur wissenschaftlichen Gemeinschaft zu tun. Für Stadlers Rezeption war der Umstand nicht unwichtig, dass Kollegen ihn rasch kanonisierten. 49 Walther Brecht sah, dass in Stadler „der Wille zur Form als Begrenzendem und der liebende Wille zum Sozialen das als wesentlich Grenzenloses empfunden wird, bewußt miteinander stritten.“ 50 Auch nach 1933 blieb Stadler trotz seines Internationalismus im Gedächtnis. „Der jahrelange Feldzug gegen den Expressionismus als ‚Entartete Kunst‘“51, dessen Schaden die AvantgardeForschung der Nachkriegszeit beheben sollte, hatte Ernst Stadler verschont. Er war ein Liebling seiner Kollegen geblieben. Friedrich von der Leyen, bei dem Stadler in München studiert hatte, charakterisiert in seiner Deutschen Dichtung in neuerer Zeit den ehemaligen Schüler mit Blick auf die doppelte Autorschaft: Er schulte sich an den großen Franzosen […], an Richard Dehmel, an mittelalterlicher Kunst und Dichtung. Gelehrter, akademischer Lehrer, Dichter, Deutscher, Elsässer in einem war Stadler neben wenigen Andern eine wundervolle Gewähr, daß auch in der Auffassung und Darstellung und im Erleben der Dichtung und der Deutschheit nach langer Dürre auf unsern Hochschulen wieder ein erquickendes Leben aufwächst. 52
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Friedrich von der Leyen, Deutsche Dichtung in neuer Zeit, Jena 1922, S. 271, Herbert Cysarz, Zur Geistesgeschichte des Weltkrieges, Bern/Frankfurt a. M. 1973 [zuerst 1931], passim, nennt Stadler einen „frühen Bahnbrecher“ (ebd., S. 80), und Herbert Cysarz, Das deutsche Schicksal im deutschen Schrifttum, Leipzig 1942, S. 59, einen ‚Kronzeugen des Deutschtums‘. S. auch Heinz Kindermann, Das literarische Antlitz der Gegenwart, Halle a. d. S. 1930, S. 34. Walther Brecht, Wege und Umwege in der deutschen Literatur seit hundert Jahren. Öffentlicher Vortrag aus den „Gemeinverständlichen Vorträgen der Universität München“, in: DVjs 7 (1929), S. 423–445, hier S. 442. Brecht versteht die moderne Dichtung seit George als Rückwendung zur klassischen Poetik der Idee, wie er sie in Goethe meinte, zu sehen. Dem ging eine Hinwendung zum Empirischen voraus. Bei Stadler sei „die Anerkennung der Idee“ (ebd.) wieder vollzogen gewesen. Schneider, Rechenschaftsbericht [zu Ernst Stadlers Dichtungen], in: Stadler, Dichtungen, Bd. 2, S. 235. Von der Leyen, Deutsche Dichtung in neuerer Zeit, S. 271.
1. Ernst Stadlers Aufbruch und die Bindung der erlösten Form
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Stadlers doppelte Autorschaft gilt es im Folgenden als Einheit zu betrachten, wobei die disziplinären Schriften nicht etwa einfach nur die poetologische Haltung reflektierten, sondern diese sich an den wissenschaftlichen Sprechweisen und Gegenständen ausbildete. 1.3. Innovative und konventionelle Autoren Als Dichter hat sich Ernst Stadler fast ausschließlich auf dem Gebiet der Lyrik betätigt und ist weder als Dramatiker noch als Erzähler hervorgetreten. Dieser Beschränkung entspricht auf der wissenschaftlichen Seite, dass sich Stadlers philologische Arbeiten mit dem Drama und dem Epos bzw. der legendenhaften Verserzählung befassen. Die Beziehung von philologischer und dichterischer Praxis wird im Gattungswechsel kaschiert. Andererseits zeigen Stadlers literaturkritisches Werk und seine Straßburger Vorlesung zur Gegenwartslyrik den hohen Stellenwert der Lyrik auch im kritischen Schaffen an. Stadlers Trennung zwischen begrifflich-wissenschaftlicher und unbegrifflich lyrischer Sprache erschwert die Verbindung beider Bereiche ebenfalls. Jüngst ist nochmals auf die dezidierte Begriffsfreiheit und Bildlichkeit von Stadlers Lyrik hingewiesen worden und umgekehrt darauf, dass sich Stadler in seiner kritischen Prosa nirgends zu seiner eigenen Lyrik äußere, in seiner wissenschaftlichen und auch in seiner Zeitungskritik am Begriff festhalte, suggestive Bilder meide, also in diesen Medien stets Kritiker bzw. nüchterner Literarhistoriker bleibe.53 Der Bezug des wissenschaftlichen Werks zu den Gedichten, welcher es erlaubt, von einer einheitlichen Poetologie zu sprechen, verläuft über die thematisch-motivische Ebene. In Stadlers Handschriftenvergleich zum Parzival und der übersetzungsgeschichtlichen Habilitation zum deutschen Shakespeare geht es um die Frage nach der Originalität von dichterischer Autorschaft. Verfolgt der Vergleich die Absicht, die dichterische Einzigartigkeit und originäre Sprachverwendung des mittelalterlichen Epikers zu zeigen, so kreisen Kritik und Edition der Übersetzung um die Originalitätsproblematik, indem Wieland als konventioneller, also nicht origineller Autor stilisiert wird. Die Neuausgabe und Kommentierung des Armen _____________ 53
Vgl. Wolfgang Harms, Ernst Stadlers lyrischer Zyklus „Der Aufbruch“ als begriffsfreies expressionistisches Programm, in: Joachim Bromand/Guido Kreis (Hg.), Was sich nicht sagen lässt. Das Nicht-Begriffliche in Wissenschaft, Kunst und Religion, Berlin 2010, S. 581–599, hier S. 591: „Die guten Traditionskenntnisse des Literaturhistorikers Stadler hindern den Lyriker nicht an einer freien Mobilisierung und Kombinatorik des Bildlichkeits-Potentials, auch dann nicht, wenn er seine Programmatik lyrisch formuliert und dabei als Ergebnis eher Prozesse als eine Statik vorführt.“
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IV. Synthesen poetologischer Antagonismen
Heinrich (1911) dagegen trifft den Kern des lyrischen Werks nach 1910, insofern sie Fragen der Reimtechnik beantwortet und das wissenschaftliche Interesse auf die Schuld- und Erlösungsdialektik lenkt. Stadlers Dissertation ist beispielhaft für die grammatisch-rhetorische Stilphilologie der Scherer-Schule. Anhand ihres deskriptiv-induktiven Vorgehens wurde in ihr die auf Karl Lachmann zurückgehende Annahme belegt, dass die Sankt Gallener Handschrift des Parzival gegenüber der Münchener ursprünglich sei. Stadler war wie sein Lehrer Ernst Martin davon ausgegangen, dass die Münchener Handschrift bewusst umgearbeitet worden sei. Um die These begründen zu können, Wolframs Sprachverwendung 54 sei nur in der Sankt Gallener Handschrift originär, analysierte er die Wortform, den Wortbestand, die Syntax und das Metrum beider Pergamenthandschriften mit dem Ziel, die spätere, in München aufbewahrte Handschrift als eine Anpassung an die Sprachnormen der Zeit bzw. als eine Stilisierung an einem Ideal zu deuten, dessen Repräsentant Hartmann von Aue gewesen sei. Später wurde Stadler widersprochen und seine These als gewagt kritisiert, da sie, abgesehen von einem textkritischen Missverständnis, auf der Ausblendung bestimmter stilistischer Merkmale basiere. 55 Wenn also Stadler weniger aus dem Material als aus einem Vorurteil heraus, das die Analyse leitete, seine Ergebnisse gewann, zeigt dies nur, wie sehr es ihm darauf ankam, in seiner Studie einen originellen Dichtertypus zu stilisieren. Wolfram vs. Hartmann, so Stadlers These, entspreche dem Kontrast zweier Künstlertypen. Wolfram sei ein Außenseiter, dieses Gefühl gebe ihm, „dem Feinde aller Konvention, den Mut zu jener einzigartigen Originalität der Darstellung“ 56. Wenn zudem Wolfram „formende Sorgfalt“ ab-, dem Konventionalisten Hartmann aber zugesprochen und in dessen Poesie ein „beseligende[s] Gleichmass“ gesehen wird,57 dann fungiert im Hintergrund Nietzsches Antagonismus vom dionysischen und apollinischen Künstler als Deutungsschema. Ein anderer zeitgemäßer _____________ 54 55
56 57
Vgl. hierzu die zeitgenössische Darstellung von Friedrich Dahms, Die Grundlagen für den Stil Wolframs von Eschenbach, Greifswald 1911. Hierzu s. Gesa Bonath, Untersuchungen zur Überlieferung des Parzival Wolframs von Eschenbach, Bd. 1, Lübeck 1970 (= Germanische Studien, 238), S. 27–36, und Jürgen Kühnel, in: Wolfram von Eschenbach, Parzival. Lachmanns Buch III. Abbildung und Transkription der Leithandschriften D und G, hg. v. Jürgen Kühnel, Göppingen 1971 (= Litterae, 4), S. IV. Vgl. auch Gabriel Viehhauser-Mery, Die ‚Parzival‘-Überlieferung am Ausgang des Manuskriptzeitalters. Handschriften der Lauberwerkstatt und der Straßburger Druck, Berlin 2009 (= Quellen und Forschungen zur Literatur- und Kulturgeschichte, 55 = 289), S. 3f., und Robert Schöller, Die Fassung *T des „Parzival“ Wolframs von Eschenbach. Untersuchungen zur Überlieferung und zum Textprofil, Berlin 2009 (= Quellen und Forschungen zur Literatur- und Kulturgeschichte, 56 = 290) Stadler, Verhältnis der Handschriften, S. 7. Beide Zitate ebd.
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Gemeinplatz, der als Prämisse der Studie gelten darf, ist die Annahme, dass mit Zunahme des Grades einer Kultur die Abnahme „an konkretem Gestaltungsvermögen“ erfolge, wie der Eröffnungssatz es formuliert.58 Der Umstand, dass ein Autor sprachliche Eigentümlichkeiten aufweise, war zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts von höchstem Interesse und Grund genug für die philologische Beschäftigung mit ihm. Stadlers Dissertation war damit implizit auch ein Plädoyer gegen die Konventionalität und für die Originalität der Sprachverwendung. Im Anschluss an Lachmann spricht Stadler von Wolframs ‚krausem Sprachgebrauch‘, von ‚ungewöhnlicher Wortwahl‘, seinem ‚dunklen und sprunghaften Stil‘.59 Für Stadler war Wolfram „mit all seinen Gewaltsamkeiten der weitaus reichste und tiefsinnigste Vertreter der ritterlichen Poesie des Mittelalters.“60 Wolfram und Hartmann, um es auf den Punkt zu bringen, werden für Stadler zu Projektionsfiguren zweier poetologischer Prinzipien: Originalität vs. Konventionalität. Dabei wird Originalität physiognomisch verstanden als „Ausdrucksweise eines Dichters, der wie kein anderer seiner Zeit sein Werk mit dem Zauber seiner Persönlichkeit erfüllte.“ 61 Wenn Stadler einen Dichtertypus favorisiert, „dem nicht die ordnende Emsigkeit des Formers eignete, und der nicht immer mit weiser Hand die Fülle der Gesichte zu bändigen wusste, die ihn selig überdrängte“62, dann ergreift er als Philologe indirekt Position innerhalb der poetologischen Diskussion. Der Bruch zwischen den Präludien (1904) und dem Aufbruch (1913) wird überbrückt durch die skizzierte philologische Reflexion. Im Medium der Dissertationsschrift artikulierte Stadler bereits seine Abkehr von der Formkunst des Ästhetizismus.63 Die Hinwendung zur prometheischvitalistischen Auffassung der Poesie wird in der Beobachtung deutlich, dass aus Wolframs „schwerer, stammelnder, schleppender Sprache oft Blitze schossen“64; es ist weiter die Rede davon, dass der favorisierte Dichter „vermöge der Kraft der inneren Anschauung die Gestalten seiner _____________ 58 59 60 61 62 63
64
Ebd., S. 5. Ebd., S. 7 und 9. Ebd., S. 7. Ebd. Ebd. In den späteren literaturkritischen Essays wimmelt es geradezu von Aussagen, in denen sich Stadler von der ästhetizistischen Formkunst distanziert. An René Schickeles Sommernächte betont er: „Nirgends war etwas zu spüren von jenem frühreifen Aristokratentum der Form, jener altklugen Gemessenheit, die damals von Wien herüber die klugen Erstlingsbücher vergiftete“ (ES 276). Im Essay zum 80. Geburtstag von Paul Heyse, der Philologie studiert hatte, spricht er von der Generation, die entschlossen ist, „im Dichtwerk mehr zu sehen als ein freundlich Spiel mit fein gewählten Formen“ (ES 271). Stadler, Verhältnis der Handschriften, S. 7.
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allmächtigen Phantasie zu einer Belebung und Bildlichkeit zu erheben wusste, die jenen feinen, kleineren Geistern ewig verschlossen blieb.“ 65 Stadler knüpft an eine Reihe stilphilologischer Studien der siebziger Jahre des neunzehnten Jahrhunderts an, die den Konsens von Wolframs ‚Eigentümlichkeit‘ in seiner Ausdrucksweise gegenüber anderen mittelalterlichen Epikern verbreitet hatten. Diesen Befund aufgreifend, appliziert er ihn auf den Handschriftenvergleich, um ihn schließlich zu bestätigen. Obzwar in der Mittelalterphilologie weiterhin nicht geklärt ist, in welchem Verhältnis beide Handschriften zueinander stehen – Bumke empfiehlt sie als gleichwertige Parallelfassungen –, konnte sie zumindest Stadlers projektive Deutung entkräften.66 Der Erneuerer Stadler, der er als Lyriker werden sollte, gab in seiner Dissertationsschrift eine detaillierte Beschreibung originärer Sprachverwendung bei Wolfram, die ebenfalls die eigene poetische Praxis charakterisieren hilft. 67 Was, fragt Stadler, zeichnet das ursprüngliche Sankt Gallener Pergament vor der Münchener Stilisierung aus? Morphologisch wähle Wolfram unter den Substantiven „entlegene, veraltete oder dialektisch beschränkte Formen“ 68, er entscheide sich eher für schwache als für starke Verba, 69 die Originalität bekunde sich in Neologismen. Wolframs sprachschöpferische Kraft, „die vor den verwegensten Neubildungen nicht zurückscheute, seine Freude am bunten Spiel der Worte, die ihn oft zu entlegenen und dunklen Ausdrücken greifen liess, bot zu einer Fülle von Änderungen Gelegenheit.“70 Insgesamt sei die neue Gestalt „leichter, glatter und gefälliger als die Vorlage, ohne ihre Dunkelheiten und gewaltsamen Sprünge“ und damit „ärmer an origineller Kraft, oft willkürlich und pedantisch, und mancher tiefen Schönheit beraubt.“71 Die Habilitation zu Wielands Shakespeare-Übersetzung, die vier Jahre später 1910 erschien, griff den Antagonismus von Innovation und Konvention wieder auf und damit zugleich einen Konflikt, der ebenso in den _____________ 65 66
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Ebd. Bonath, Untersuchungen zur Überlieferung des Parzival Wolframs von Eschenbach, Bd. 1, S. 27f. – Vgl. die Besprechung von Joachim Heinzle im Anzeiger für deutsches Altertum und deutsche Literatur 84.3 (1973), S. 145–157, bes. S. 153; zusammenfassend Joachim Bumke, Wolfram von Eschenbach, 8., völlig neu bearbeitete Auflage, Weimar 2004, S. 253f. Sein Lehrer Martin hatte sie 1903 in einem weiterhin lesenswerten Kommentar zur Sprache des Parzival in aller Fülle geschildert. Wolframs von Eschenbach Parzival und Titurel, hg. und erklärt von Ernst Martin, Teil 2: Kommentar, Halle a. d. S. 1903 (= Germanistische Handbibliothek, 9.2). Stadler, Verhältnis der Handschriften, S. 11. Ebd., S. 13–16. Ebd., S. 26. Ebd., S. 171.
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philologischen Wissenschaften selbst ausgetragen wurde, also disziplinär determiniert war. Der Beginn des literarischen Expressionismus fiel mit einem methodischen Umbruch in der Wissenschaft von der Literatur zusammen, an dessen Ende die bis dahin leitende philologische Methode unter Rechtfertigungsdruck stand. Der Fall Ernst Stadlers zeigt jedoch, dass sich die Reflexion des Aufbruchs noch aus der traditionellen induktiv-empirischen Praxis herleitet und nicht, wie es zu erwarten gewesen wäre, aus der geistesgeschichtlich reformierten Philologie. Seine philologische Arbeit bestand vornehmlich in der Edition und Kommentierung des deutschsprachigen Shakespeare. Friedrich Gundolf, der sich nahezu gleichzeitig dem deutschen Shakespeare zuwendete, verfolgte den entgegengesetzten Weg. Im Unterschied zu Gundolf, der den Positivismus in der Philologie durch die Geistesgeschichte überwand und die Disziplin in den Dienst der Gegenwartshermeneutik stellte, rückte Stadler, der sich des krisenhaften Moments seiner Disziplin durchaus bewusst war, von dieser nicht ab. Das Potential der Erneuerung, das die Krise freisetzte, ließ er unangetastet und suchte gerade nicht, es in einer neuen wissenschaftlichen Methode umzusetzen. Der disziplinäre Konservatismus war der poetischen Innovation nicht abträglich. Seit seiner Habilitation wenigstens rollte Stadler als Wissenschaftler ein Thema auf, das mit der Frage der literarischen Erneuerung wie kein anderes verbunden war. Der Umstand, dass er es mit traditionellen philologischen Mitteln löste, darf über die Brisanz des Themas nicht hinwegtäuschen. Stadler, der in Straßburg aufgewachsen war und die Bedeutung dieser Stadt für die deutsche Literaturgeschichte sehr gut kannte, wählte mit der Edition von Wielands Shakespeare einen Gegenstand, der ihn über das Progressive in der Kunst zu reflektieren zwang. Der Aufbruch erfolgt so auch im Zeichen Shakespeares, analog zur Sturm-und-Drang-Emphase des jungen Herder. Die Sturm-und-DrangNachfolge Stadlers, René Schickeles oder Otto Flakes war früher bereits in dem publizistischen Projekt Der Stürmer. Halbmonatsschrift für künstlerische Renaissance im Elsass deutlich geworden. 72 Herders Shakespear (1773) und Gundolfs Shakespeare und der deutsche Geist (1911) ist gemeinsam, dass sie die kritische Methode zur Erforschung der historischen Literatur auf die eigene Gegenwart beziehen wollen. Stadler arbeitet in seiner Besprechung von Gundolfs Studie im Literarischen Echo vom 15. Oktober 1911 den Gegenwartsbezug heraus. Gundolfs Buch sei mehr „als Sammlung und Sichtung literaturhistorischer Dokumente“ (ES 321), über „seine literaturhisto_____________ 72
Gunter Martens, Stürmer in Rosen. Zum Kunstprogramm einer Straßburger Dichtergruppe der Jahrhundertwende, in: Roger Bauer (Hg.), Fin de siècle. Zu Literatur und Kunst der Jahrhundertwende, Frankfurt a. M. 1977 (= Studien zur Philosophie und Literatur des neunzehnten Jahrhunderts, 35), S. 481–507.
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IV. Synthesen poetologischer Antagonismen
rische Bedeutung hinaus“ ruhe in dem Buch „der starke Gegenwartswert“ (ES 325). Schon im April 1911, also vor dem Druck, hatte Stadler die Arbeit Gundolfs, die ihm wahrscheinlich Ernst Robert Curtius vermittelt hatte, studiert und die Gefahr möglicher Überschneidungen in seiner Arbeit für den Baccalaureus litterarum gegenüber dem Oxforder Professor Hermann Georg Fiedler (1862–1945) aus dem Weg geräumt. 73 Konkret wendet sich Stadler in seiner Gundolf-Besprechung gegen eine philologische Methode, die zur leblosen wissenschaftlichen Untersuchungsform geronnen sei („gleichmäßig anstehendes Universalmittel“ [ES 323]) und zwischen dem Wissenschaftler und seinem Gegenstand kein affektives Verhältnis erzeuge. Worum es vielmehr gehe, sei, „daß auch Methode Erlebnis bedeute, von innen her gefühlte und geforderte Formung“ (ES 323). ‚Shakespeare‘ bildet für Stadler ein Schlüsselwort nicht nur zum Verständnis des ‚deutschen Geistes‘, sondern zugleich seiner produktiven Kräfte.74 Stadlers Besprechung von Gundolfs Shakespeare-Buch ist für sein eigenes Wissenschaftsverständnis aufschlussreich. Denn schaut man sich seinen Wieland-Kommentar an, müsste man vermuten, er gehöre eigentlich zu jenen Wissenschaftlern, die ihre ‚Methode‘ nicht zum ‚Erlebnis‘ gemacht haben. Stadlers Praxis zeugt eher noch von der konventionellen historisch-philologischen Methode seiner Lehrer, nicht zuletzt bedingt durch den äußeren Zwang, sich im Projekt einer Akademie-Ausgabe formal anzupassen. Anders als der drei Jahre ältere Gundolf achtete Stadler genauer auf die diskursiven Grenzen, die im neunzehnten Jahrhundert zwischen Poesie und philologischer Disziplin gezogen worden waren. Obgleich sich sporadisch das vitalistische Pathos auch in Stadlers positivistischer Philologie bekundet, ist demgegenüber die neue Literaturwissenschaft Gundolfs, die das „‚Leben‘ als leitende Idee“ 75 in einer ‚poetischen Wissenschaft‘ zu verbinden sucht,76 von anderer Art. _____________ 73
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Vgl. Stadlers Brief vom 2.4.1911 an Hermann Georg Fiedler (ES 484). Zu Gundolf und Curtius s. Friedrich Gundolf, Briefwechsel mit Herbert Steiner und Ernst Robert Curtius, hg. v. Lothar Helbing/Claus Victor Bock, Amsterdam 21963, bes. S. 194. – Hermann Georg Fiedler hatte seit 1907 zugleich den ersten Lehrstuhl für eine neuere Literatur in England inne, vgl. The History of the University of Oxford, Bd. 7: Nineteenth-Century Oxford, Bd. 2, hg. v. M. G. Brock/M. C. Courthoys, Oxford 2000, S. 417. Vgl. „Shakespeares Name scheint am Ende selber ins Gleichnishafte gewandelt, Symbol, Vorwand für alle die Kräfte, deren der deutsche Geist bedurfte, um sich seiner eigensten Triebe bewußt zu werden, sinnlicher Ausdruck für das Schöpfertum des Lebens selbst, das erst wieder der deutschen Dichtung zurückerobert werden mußte, ehe der erschlaffte Boden ein neues Wachstum hergab“ (ES 321). Schlaffer, Poesie und Wissen, S. 238. Ebd., S. 234–243, überträgt den romantischen Begriff auf das frühe neunzehnte Jahrhundert.
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Stadler versäumt es nicht, Gundolfs ‚erlebnishafte Methode‘ in Bezug auf ihren konzeptionellen Ursprung im Dichterkreis Georges zu reflektieren. Die Erkenntnis, dass sich Dichtung und Philologie in einer neuen Form der Wissenschaftskunst sinnvoll ergänzen konnten, war also da. Es wird darauf zurückzukommen sein, was es für Stadler bedeutete, einerseits die neue Wissenschaftskunst Gundolfs zu begrüßen, andererseits aber davor zurückzuschrecken, diese selbst umzusetzen. Aus dieser Spannung entwickelt sich Stadlers Poesie. Schließlich gibt die Gundolf-Besprechung auch Auskunft darüber, wo Stadler den eigenen Gegenstand, die Wieland’sche Shakespeare-Übersetzung, ansiedelt. Sie habe etwas Vorläufiges im Vollendungsprozess der deutschen Literaturgeschichte, der maßgeblich durch Shakespeare eingeleitet worden war: „Ein langes und tief aufwühlendes dichterisches Erleben mußte erst die deutsche Sprache modeln, ehe sie es wagen durfte, Shakespeares Schöpfung in ihrer Ganzheit neu formend zu erschaffen“ (ES 322). 77 Stadlers Wieland-Studie78 besteht aus einem produktions- und einem rezeptionsgeschichtlichen Teil, wobei sich der erste, entstehungsgeschichtliche Teil an Michael Bernays’ Entstehungsgeschichte des Schlegelschen Shakespeare (1872) orientiert. Im Wesentlichen folgt sie den methodischen Richtlinien philologischer Übersetzungskritik und ist vergleichbar mit Hans Uehlins Beitrag zur Geschichte der Racine-Übersetzungen (1903) oder Rudolf Schlössers Monographie zu Goethes Übersetzung von Diderots Le neveu de Rameau (1900), die – wie Stadlers Wieland-Arbeit – im Rahmen einer Edition erfolgt war. 79 Stadler behandelt Entstehungsgeschichte, Übersetzungsfehler, Verwechslungen, Unkenntnis der älteren Sprache, Bildlichkeit, Namen und Wortspiele. Er betont mehrfach, wie fremd der englische Autor noch für Wieland gewesen sei. Dies habe zur Folge gehabt, dass er stets korrigierend in die Übersetzung eingriff: Erst unter der Arbeit erwies sich, daß Wielands Liebe zu Shakespeare doch nicht fest genug gegründet war, um ihn seinem Autor durch alle seine Eigenheiten,
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Vgl. auch: „Wieland, dessen Übersetzung den ersten kühnen Vorstoß zur dichterischen Eroberung Shakespeares bezeichnet, war gescheitert, weil seinem stilsuchenden Ehrgeiz keine Sprache sich anbot, deren frische, am dichterischen Erlebnis reingeglühte Größe und Schmiegsamkeit dem Reichtum Shakespeares gewachsen gewesen wäre, seine nachfühlende Erlebnisfähigkeit aber aus eigenem nur eine ganz bestimmte, räumlich beschränkte Sphäre von Shakespeares Welt zu umspannen und auszudrücken vermochte“ (ES 321f.). Ernst Stadler, Wielands Shakespeare, Straßburg 1910 (= Quellen und Forschungen zur Sprach- und Culturgeschichte der germanischen Völker, CVII). Wielands Gesammelte Schriften, hg. v. der Deutschen Kommission der Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften, zweite Abteilung: Übersetzungen, Bd. 3: Wielands Übersetzungen. Dritter Band: Shakespeares theatralische Werke. Sechster, siebenter und achter Teil, hg. v. Ernst Stadler, Berlin 1911, S. 570–625.
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auch in dem, was dem aufgeklärten 18. Jahrhundert als der Ausfluß einer barbarischen Zeit erschien, mit ungeschwächter Hingebung folgen zu lassen. 80
Interessant ist, dass Stadler trotz der Prosaübersetzung, die notgedrungen die äußere Form des Originals missachtet, Wieland als „Verehrer der Form“ bezeichnet. Wo dieser Übersetzer die Form des Originals preisgebe, leite „ihn planvolle Überlegung und das Gefühl, daß eine formale Änderung der Wirkung des Originals näher komme.“81 Stadler erklärt die Ursachen der prosaischen Form der Übersetzung damit, dass Wieland bei Shakespeare die Form nur als „eine mehr oder minder zufällige Hülle“ von originellen Gedanken begreift. „Hier durfte die Form als etwas Nebensächliches geopfert werden, um desto reiner den eigentlichen Kern, das Gegenständliche, Stoffliche ans Licht zu stellen.“82 Die prosaische Form erscheine Wieland als die zweckdienlichste. 83 Bei der Beurteilung von „Wielands Form“ folgt Stadler Herders Urteilen aus der ersten Sammlung der Fragmente über die neuere deutsche Literatur und dem vierten Kritischen Wäldchen. Wielands technischem Formbegriff setzt er „Herders schöpferische[n] Formensinn“84 entgegen, und so habe seine Sprache „nichts von der klaren Energie der Lessingschen Prosa oder dem lyrischen Feuer von Herders und Goethes Jugendstil.“ 85 Stadler interpretiert Herders Ablehnung der Übersetzung unter dem Gesichtspunkt seines „schmiegsame[n] Formgefühls, das fremde Eigenart so feinfühlig nachzuempfinden und mit so kundiger Sicherheit neuzuschaffen verstand“ 86. Herder hätten sich „künstlerische Gebilde mehr durch den besonderen in ihnen lebenden Rhythmus als durch ihren materiellen Gehalt“ 87 offenbart. Mit Schlegels Übersetzung, ermöglicht durch dessen „schöpferische Anpassungsfähigkeit“ und den Fortschritt der dichterischen Technik, sei erstmals der Versuch gemacht worden, Shakespeare „in deutsche Form zu gießen.“ 88 In Bezug auf die für Stadler in seinen eigenen Dichtungen zentrale Frage nach der Bildlichkeit wird Wieland als verständnislos bezeichnet: _____________ 80 81 82 83
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Stadler, Wielands Shakespeare, S. 21. Ebd., S. 24. Ebd., S. 25. „Er sah sehr wohl, wie unverrückbar diese feinen lyrischen Gebilde in ihrer eigentümlichen Form ruhten, wie jede Änderung in Reimbindung oder rhythmischer Bewegung an ihr Innerstes rührte, das zerstörte, was ‚alle ihre Anmuth ausmacht‘. Nur in seltenen Fällen schien es ihm möglich, diese oft so künstlichen Formen streng und geschmeidig nachzuschaffen“ (ebd., S. 31). Ebd., S. 35. Ebd., S. 36. Ebd., S. 87. Ebd. Ebd., S. 112.
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Shakespeares ungeheure Bildlichkeit, die nicht zu äußerer Zier, sondern als tiefstes Wesen seines Ausdrucks jeden kleinsten Zug mit lebendiger innerer Anschauung durchdringt, mußte auf den Schüler Bodmers, für den die metaphorische Sprache nicht mehr als einen bedachtsam gewählten Schmuck der Rede bedeutete, oft gewaltsam und befremdlich wirken. 89
Der Appendix zur Sprache der Übersetzung90 ähnelt der Darstellung in der Doktorarbeit. Stadlers Wortlisten dienen dem Nachweis, dass Wieland in eine nicht normierte Sprache übersetzte. Der „Mangel an festen Normen“ 91 zeige sich in Orthographie und Lautstand, im Wortgebrauch und in der Formenlehre: Wielands Shakespeare-Übersetzung fällt in eine Zeit vielfacher sprachlicher Gärung, in welcher die den obersächsischen Sprachbestand festlegenden Normierungsversuche der Gottschedianer mit den kühnen sprachlichen Neuerungen Klopstocks einerseits, dem kräftigen Eintreten oberdeutscher Grammatiker für ihren Altertümliches zäh festhaltenden Sprachgebrauch andererseits zusammentrafen. 92
Andererseits sieht Stadler einen technischen Aspekt. Erst „nachdem die deutsche Sprache, im Sturm und Drang gestählt, durch die Wiedergeburt volkstümlicher Lyrik geläutert, im dramatischen Vers des ‚Tasso‘ und der ‚Iphigenie‘ jene freie und geschmeidige Bewegung erhalten hatte“ 93, sei die ‚formgetreue Übersetzung‘ möglich geworden. Sowohl die Doktorarbeit als auch die Habilitation fokussieren die wenigen Freiräume wertender Kritik auf die Frage nach der innovativen Leistung eines Autors, die zudem mit vitalistischer Semantik besetzt wird. Erst mit der Neuausgabe von Hartmanns Armem Heinrich, die zeitgleich mit dem Neuanfang des Dichters Stadler fiel, war es ihm möglich, den Antagonismus zwischen Konvention und Innovation als einen von Bindung an die Form und Lösung von der Form zu denken und in eine produktive Synthese zu überführen. 1.4. Der arme Heinrich und der Aufbruch der Form Stadlers Sammlung Der Aufbruch, René und Anna (Lannatsch) Schickele gewidmet, besteht aus 57 Gedichten, von denen 29 bereits einzeln in Zeit_____________ 89 90 91 92
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Ebd., S. 51. Ebd., S. 113–133. Ebd., S. 133. Ebd. Weiter heißt es ebd.: „Auch der Sprache der Übersetzung verleihen diese sich widerstrebenden Zeittendenzen zuweilen ein etwas zwiespältiges Aussehen, wenn auch natürlich die Anlehnung an den oberdeutschen (schwäbischen und schweizerischen) Sprachbestand bei weitem überwiegt und der Übersetzung das Gepräge gibt.“ Ebd., S. 26.
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schriften publiziert worden waren. Dabei garantierte das Erscheinen in der Aktion, einem ausgewiesen avantgardistischen Organ, die Modernität der Gedichte. Sicherlich auch um die Gedichtsammlung im Jahr 1914 als aktuell zu vermarkten, wurde nicht das Jahr 1913, an dessen Ende der Band erschienen war, sondern 1914 vom Verlag der Weißen Bücher angegeben. Der zeitlich uneinheitliche Entstehungskontext muss wohl als Hauptgrund dafür gelten, dass sich die vier Gruppen, nach denen die Gedichte angeordnet sind – ‚Die Flucht‘, ‚Stationen‘, ‚Die Spiegel‘, ‚Die Rast‘ – in ihrer Funktion nicht erschließen. 94 Die vom Wissenschaftler Stadler allgemein postulierte organische Einheit des Kunstwerkes 95 ist tatsächlich im Aufbruch nicht gegeben. Aber bestimmte Gedichte lassen sich dennoch gruppieren. So sind Judenviertel in London und Kinder vor einem Londoner Armenspeisehaus wegen ihrer sozialrealistischen Anlage doch eher untypisch, andererseits fügen sie sich in Stadlers Programm, das Leben wieder in die Dichtung einzubeziehen. Stadlers soziales Interesse hat womöglich auch Gründe in der Oxforder Praxis der studentischen Sozialarbeit in den Armenvierteln.96 Die politische Reflexion konnte sich vor allem in der Freundschaft mit René Schickele entfalten, über den Stadler schreibt: In Paris, wo die Luft fiebert von politischer Aktualität, wo in ganz anderm Maße als in dem eben erst langsam sich politisierenden Deutschland die Gesamtheit des Volkes an der politischen Bewegung teilnimmt, wo Politik der Lebensnerv der Nation ist, wandelt sich der weltabgewandte Ästhet zum passionierten Kämpfer (ES 288). 97
Im Aufbruch besitzt die gesellschaftliche Thematik vor allem die Funktion, das Thema der menschlichen Leidensgemeinschaft zu akzentuieren. Ummantelt wird es von philologisch gewonnenen Motiven. Dass Stadler seine philologische Herkunft nicht verleugnen kann und will, zeigen Schreib- und Leseszenen, die den Ausgangspunkt bzw. einen Teil dreier Gedichte bilden. Der Spruch beginnt: „In einem alten Buche _____________ 94
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Vgl. dazu schon Schneider und Hurlebusch (ES 640) und Clemens Heselhaus, Ernst Stadlers Essay-Gedichte, in: Ders., Deutsche Lyrik der Moderne von Nietzsche bis Yvan Goll, Bonn 21962, S. 193–205, hier S. 200, der eine ‚Erlebniskurve‘ des lyrischen Ich in der Folge der vier Gruppen zu erkennen meint. Kritisch dazu s. Halbe, Zyklische Dichtung im Expressionismus, S. 246f. Vgl. Stadler, Wielands Shakespeare, S. 1, wo die „künstlerische Schöpfung als ein organisches und notwendiges Ganzes“ bezeichnet wird, auch ist ebd. von der „einzigartige[n] Gestalt eines dichterischen Gebildes“ die Rede. Vgl. Richard Sheppard, Ernst Stadler in Oxford. Addenda, Corrigenda and Two Unpublished Letters, in: Michael Butler (Hg.), The challenge of German culture, FS Wilfried van der Will, s. l. 2000, S. 59–76, hier S. 67f. Am Ende seiner Brüsseler Zeit trat Stadler selbst hervor mit einer Rede über die neue deutsche Jugend, die kritische Töne gegen die wilhelminische Gesellschaftsordnung enthält. Vgl. die Referate dazu (ES 788–794). Über die Irritationen von deutscher Seite darüber berichtete er Schickele am 24.4.1914 (ES 512f.).
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stieß ich auf ein Wort“ (ES 120, Z. 1). Simplicius wird Einsiedler im Schwarzwald und schreibt seine Lebensgeschichte (ES 163) kontrastiert das aktive Leben im kontemplativen Rückblick der Schreibsituation: „Mein Herz läuft durch die alten Bilder nur, um sich zur Einkehr zu besinnen“ (ES 163, Z. 16). Auch in Herrad (ES 183) ist die Verschriftlichung des Lebens in der illuminierten Handschrift Gegenstand des Gedichts.98 Die erste Strophe schildert das Leben der gelehrten Nonne in ihrem Garten, die zweite bei Nacht über ihren Büchern. In der ersten Hälfte der dritten Strophe beschließt sie, all das aufzuschreiben: Und ich beschloß, all das Krause, das ich seit so vielen Jahren Aus Büchern und Wald und Menschenherzen und einsamen Stunden erfahren, Alles Gute, das ich in diesem Erdenleben empfangen, Treu und künstlich in Bild und Schrift zu bewahren und einzufangen (ES 183, Z. 13–16).
In der zweiten Hälfte imaginiert sie, wie sie ihre eigene Schrift lesen würde. Dabei gehen Gartenbild und Buchmetapher ineinander über.99 Das ‚Wort‘ als der Logos ist poetischer Schlüssel, den das Eingangsgedicht Worte enthält, dessen erster Vers an ein mit ihnen verbundenes Versprechen erinnert: „Man hat uns Worte versprochen“ (Worte, ES 119). Das zweite Gedicht Der Spruch kündet von einem anderen, wesentlichen Wort, auf welches der Sprecher in einem „alten Buche“ stieß und das ihn ganz einnimmt: „Dann steht das Wort mir auf“ (ES 120). In Gegen Morgen ist von ‚Kinderworten‘ und dem „Gestammel unverstandener Litanein“ (ES 125) die Rede, in Metamorphosen werden „[v]erzückte Worte ins Leere gesprochen“ (ES 126). ‚Worte‘ werden in Entsühnung mit ‚Sterbeglocken‘ verglichen (ES 144). Als exemplum des Verfalls apostrophiert Stadler „ihr Worte, denen Leben längst entglitten“ (ES 122). Ähnlich ist der bildliche Gebrauch in Winteranfang, wo das ‚Herz‘ zur ‚Mühle‘ wird, deren Kammern leer sind, und schließlich zu einer orientierungslosen Frau: „Sie redet irre Worte in den Abend und schlägt das Kreuz“ (ES 148). Von ‚eingelernten Worten‘, die das ‚Wunder aufhellen‘, spricht das Gedicht Die kleine Schauspielerin (ES 150). In Irrenhaus reden dessen „manchmal fremde Worte, die man nicht versteht“ (ES 166). In Puppen werden ‚Worte‘ verglichen mit ‚gekreuzten Klingen‘, die ‚durch die Luft streichen‘ (ES 167); später heißt es: „Heiße Worte scheinen in der Luft zu schwirren“ (ES 167). Die _____________ 98 99
S. zu diesem Gedicht Harms, Ernst Stadlers lyrischer Zyklus „Der Aufbruch“ als begriffsfreies expressionistisches Programm, S. 593–596; besonders interessant ist der botanische Hinweis auf den Anachronismus, welchen die ‚Dahlie‘ bewirkt. „Später, wenn die Augen schwächer würden, in den alten Tagen, | Würd ich in meiner Zelle sitzen und übers Elsaß hinblicken und mein Buch aufschlagen, | Und meiner Seele sprängen wie am Heiligenquell im Wald den Blinden Wunderbronnen, | Und still ergieng ich mich und lächelnd in dem Garten meiner Wonnen“ (ES 184, Z. 17–22).
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IV. Synthesen poetologischer Antagonismen
Kinder vor einem Londoner Armenspeisehaus sind im gleichnamigen Gedicht ‚wortkarg‘ (ES 173), und auch in dieser sozialkritischen Geste, die Armut als Sprachlosigkeit ausdrückt, zeigt sich, dass in Stadlers Gedichten dem Wort und der Sprache große Bedeutung zukommt. Der Bezug zu Wolframs Parzival, Gegenstand von Stadlers Dissertation, ist auf den ersten Blick offensichtlicher als der zu Hartmanns Armem Heinrich; das Gedicht Parzival vor der Gralsburg interpretiert eine bekannte Szene des Epos: Da ihm die erznen Flügel dröhnend vor die Füße klirrten, Fernhin der Gral entwich und Brodem feuchter Herbstnachtwälder aus dem Dunkel sprang, | Sein Mund in Scham und Schmerz verirrt, indessen die Septemberwinde ihn umschwirrten, | Mit Kindesstammeln jenes Traums entrückte Gegenwart umrang, | Da sprach zu ihm die Stimme: Törichter, schweige! | Was sucht dein Hadern Gott? Noch bist du unversühnt und fern vom Ziele deiner Fahrt – | Wirf deine Sehnsucht in die Welt! Dein warten Städte, Menschen, Meere: Geh und neige | Dich deinem Gotte, der dich gütig neuen Nöten aufbewahrt. | Auf! Fort! Hinaus! Ins Weite! Lebe, diene, dulde! | Noch ist dein Tiefstes stumm – brich Furchen in den Fels mit härtrer Schmerzen Stahl! | Dem Ungeprüften schweigt der Gott! Wie Blut und Schicksal dunkel dich verschulde, | Dich glüht dein Irrtum rein, und erst den Schmerzgekrönten grüßt der heilige Gral. | (ES 156)
Parzivals Gralssuche, die als Motiv die Suche des lyrischen Sprechers veranschaulicht, steht sinnbildhaft für die Dialektik von Schuld und Erlösung: „Wie Blut und Schicksal dunkel dich verschulde, | Dich glüht dein Irrtum rein, und erst den Schmerzgekrönten grüßt der heilige Gral“ (ES 156). Das mit Parzival verbundene Problem der Schuld, die als Verunreinigung symbolisiert ist, wird in anderen Gedichten expliziter; das Motiv der Reinigung ist allgegenwärtig. 100 Zahlreiche Gedichte handeln von Verunreinigung durch sexuelle Handlungen oder Wünsche. 101 Im Gedicht Tage I wird die Bewegung von _____________ 100 Reinheitssemantik und Bereinigung der poetischen Sprache von als poesiefremd verstandenen Elementen gehören zusammen, zu diesem Aspekt s. Jürgen Brokoff, Geschichte der reinen Poesie. Von der Weimarer Klassik bis zur historischen Avantgarde, Göttingen 2010. 101 In Richard Wagners Parsifal ist die Erlösung vom Eros die Erlösung des Eros. Vgl. hierzu Friedrich Voßkühler, Kunst als Mythos der Moderne. Kulturphilosophische Vorlesungen zur Ästhetik von Kant, Schiller und Hegel über Schopenhauer, Wagner, Nietzsche und
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körperlicher Unreinheit hin zu geistiger Reinheit an dem Verlangen nach Prostituierten veranschaulicht: „Folgtest du durch Gassen hingezogen | Feilen Blicken und geschminkten Wangen nach“ (ES 121, Z. 2f.). Der Parzival-Gedanke wird variiert: „Fühltest, wie aus Schmach dir Glück geschähe, | Und des Gottes tausendfache Nähe | Dich in Himmelsreinheit höbe, niegefühlt“ (ES 121, Z. 10–12). Tage II beginnt mit den Ausrufen: „O Gelöbnis der Sünde! All’ ihr auferlegten Pilgerfahrten in entehrte Betten!“ (ES 122, Z. 1). In Tage III ist der Ort der Beichte die Sünde selbst: „Ich stammle irre Beichte über deinem Schoß“ (ES 123, Z. 1). Tage IV, das als Fortsetzung des Beichtgedichtes begriffen werden kann, endet in körperlicher Leidensapotheose: „In Blut und Marter aufgepeitschter Schwären | Erfüllt sich Liebe und erlöst sich Geist“ (ES 124, Z. 7f.). Der junge Mönch (ES 161) stellt eine Gegenfigur dar, indem er bei Gott ist, ohne sich vorher verunreinigt zu haben. 102 Die Stimme des ‚Mönches‘ richtet sich an die Sündigen: „Vermaßt ihr euch zu lieben, die ihr sündhaft nur begehrt, | Mit Tat und Willen trüb die Reine eurer Träume schändet? | O lernet tiefre Wollust“ (ES 161, Z. 1–3). Die Gedichte Reinigung (ES 131), Resurrectio (ES 136) und Entsühnung (ES 144f.) tragen die kathartische Tendenz bereits programmatisch im Titel. Eine direkte Antwort auf das Gedicht Parzival vor der Gralsburg bildet das sich anschließende Gedicht Die Befreiung: „Mich überfloß | Das Gnadenwunder, unaufhörlich quellend – so wie junger Wein | Im Herbst“ (ES 157). Den Moment der höchsten Erfüllung, der Stadler fasziniert, setzt er im Aufbruch immer wieder unter neuen Gesichtspunkten ins Bild. Andere Gedichte wie Die Weinlese (ES 182) umkreisen diesen Aspekt bildlich. Zugleich allegorisiert dieses Gedicht die philologisch-poetische Arbeit im Bild der Weinlese, ein Eindruck, der verstärkt wird, sobald man Stadlers Übersetzung von Francis Jammes Prière pour se recueillir hinzuzieht: „Mein Gott, ich will, den Geist gesammelt, | mich zu dir erheben“ (ES 207). Die Übersetzung der Gedichte Jammes, aber auch derjenigen Péguys beweist Stadlers zu dieser Zeit großes Interesse an religiöser Lyrik. Der Reinigungsgedanke kommt indirekt als formales Zitat zur Sprache, da das Gedicht Form ist Wollust dem Gedicht Reinigung im äußeren Aufbau ähnelt: Form ist Wollust Form und Riegel mußten erst zerspringen, Welt durch aufgeschlossne Röhren dringen:
_____________ Marx bis zu Cassirer, Gramsci, Benjamin, Adorno und Cacciari, Würzburg 2004, S. 185– 188. 102 „Ich bin ein Halm, den meines Gottes Odem regt, | Ich bin ein Saitenspiel, das meines Gottes Finger rühren“ (ES 161, Z. 7f.).
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IV. Synthesen poetologischer Antagonismen
Form ist Wollust, Friede, himmlisches Genügen, Doch mich reißt es, Ackerschollen umzupflügen. Form will mich verschnüren und verengen, Doch ich will mein Sein in alle Weiten drängen – Form ist klare Härte ohn’ Erbarmen, Doch mich treibt es zu den Dumpfen, zu den Armen, Und in grenzenlosem Michverschenken Will mich Leben mit Erfüllung tränken.
Neben der Reinigungsemphase kann das Gedicht auch als eine ästhetische Gewaltphantasie gelesen werden. Es meint eben nicht nur die Befreiung von Formen, die in ihrer beschränkenden Kraft kritisiert werden, sondern zugleich eine Befreiung bzw. Entfesselung der Form als Gewalt. Das Gesetz „der kreativistisch ausgewerteten Gesetzlosigkeit“103, welches die gesamte Avantgarde kennzeichnet, 104 wird soziologisch vereinfacht, wenn man wie Adorno in der Befreiung der Form allein die Befreiung des Menschen aus den kapitalistischen Zwängen sieht.105 Es geht vielmehr um die Offenlegung des Potentials, das beiden Bewegungen gemeinsam ist. Ernst Stadlers Gedicht Form ist Wollust denkt die Befreiung von der Form und Befreiung der Form zusammen und bringt damit die für den Zyklus kennzeichnende dialektische Bewegung zum Ausdruck. Auf thematischer Ebene wird die Bindungs- und Erlösungsdialektik in der religiösen Sehnsucht und in der Schulderlösung entwickelt. Reinheit und Schuld, Formlosigkeit und Form gehören aufs Engste zusammen, wobei der ästhetische Raum dieses Gedankens von Hartmann von Aue in seiner Verslegende Der arme Heinrich umrissen und von Stadler in seiner philologischkritischen Kommentierung neu durchmessen wird. Ähnlich dem Eingang von Stadlers Gedicht Der Spruch („In einem alten Buche stieß ich auf ein Wort“ [ES 120, Z. 1]) beginnt auch Hartmanns Erzählung vom Armen Heinrich mit einer Leseszene (v. 1–15): Ein ritter sô gelêret was, daz er an den buochen las, swaz er dar an geschriben vant: der was Hartman genannt; dienstman was er ze Ouwe. er nam in mange schouwe
_____________ 103 Wolfgang Paulsen, Deutsche Literatur des Expressionismus, 2. überarbeitete Auflage, Berlin 1998 [1983] (= Germanistische Lehrbuchsammlung, 40), S. 16. 104 Vgl. Hanno Ehrlicher, Die Kunst der Zerstörung. Gewaltphantasien und Manifestationspraktiken europäischer Avantgarden, Berlin 2001 (= Studien aus dem Warburg-Haus, 4). 105 Theodor W. Adorno, Ästhetische Theorie, in: Ders., Gesammelte Schriften, Bd. 7, hg. v. Rolf Tiedemann, Frankfurt a. M. 51990, S. 379: „In der Befreiung der Form, wie alle genuin neue Kunst sie will, verschlüsselt sich vor allem anderen die Befreiung der Gesellschaft, denn Form, der ästhetische Zusammenhang alles Einzelnen, vertritt im Kunstwerk das soziale Verhältnis; darum ist die befreite Form dem Bestehenden anstößig.“
1. Ernst Stadlers Aufbruch und die Bindung der erlösten Form
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an mislîchen buochen: da an begunde er suochen, ob er iht des funde, dâ mite er swære stunde möhte senfter machen, und von sô gewanten sachen, daz gotes êren töhte und dâ mite er sich möhte gelieben den liuten. 106
Jacob und Wilhelm Grimm übersetzen: Hartmann, ein Ritter und Dienstmann zur Aue, war wohlgelehrt und konnte lesen, was er von alten Sagen aufgeschrieben fand. Da geschah es zu einer Zeit, daß er in vielerlei Bücher schaute und suchte, ob er etwas fände, das schwere Stunde sanfter mache, aber auch solcher Art sey, daß es Gottes Ehre fördere und ihm der Menschen Liebe erwecke. 107
Die explizite Darlegung des hermeneutischen Fortgangs findet sich nur bei Hartmann: „nû beginnet er iu diuten | eine rede, die er geschriben vant“ (v. 16f.) bzw. bei Grimms: „Nun hebt er an und deutet aus jenen Büchern eine Märe“108. Auch Stadlers Gedicht Der Spruch beginnt die Deutung unmittelbar: „Das [Wort, A.N.] traf mich wie ein Schlag und brennt durch meine Tage fort“ (ES 120, Z. 2). Die Offenlegung der Bezüge zum Armen Heinrich zeigt, dass sich Stadlers Erlösungsphantasie ihrer sprachlichen Bindung, d. h. ihrer Form bewusst ist. Absolution und Religion sind voneinander untrennbar. In der Bindung erfolgt die Erlösung, wie umgekehrt die Erlösung nur als Gebundenheit erfahrbar ist. Religion ist Erlösung von der Form und in der Form zugleich. Stadlers Urteil über Carl Einsteins Bebuquin gilt in gleichem Maße für den Aufbruch: „Alles in allem kann man sagen, das Buch habe den Stil und die Form seiner Idee“ (ES 343). Das Verständnis Wielands als Ausdrucks- und Formkünstler zugleich drückte die Habilitation ähnlich aus. Dieser sei ein „zu tiefer Verehrer der Form, um zu verkennen, in wie hohem Maße künstlerischer Ausdruck an seine Form gebunden ist“109. Hatte Stadler 1906 die Autorschaft Wolframs gegen diejenige Hartmanns ausgespielt, weil Letzterer angeblich konventioneller sei, erfolgte mit der Neuausgabe des Armen Heinrich von 1911 eine Neubewertung. Dem entspricht die Erkenntnis, dass Stadlers Auswahl der poetischen _____________ 106 Im Folgenden zitiert nach: Der Arme Heinrich Herrn Hartmanns von Aue und zwei jüngere Prosalegenden verwandten Inhaltes. Mit Anmerkungen und Abhandlungen von Wilhelm Wackernagel, neu hg. v. Ernst Stadler, Basel 1911, S. 51f. 107 Der arme Heinrich von Hartmann von der Aue, hg. v. den Brüdern Grimm, Berlin 1815, S. 1. 108 Ebd. 109 Stadler, Wielands Shakespeare, S. 24.
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IV. Synthesen poetologischer Antagonismen
Bildlichkeit eher konventionell, dafür aber ihre Ausführung umso origineller ist, indem Stadler die Bilder erweitert und bisweilen „von seinem Bild nicht wieder los“ 110 kommt. Für Stadler, der für den originelleren Wolfram Position ergriffen hatte, rückte nun der Dichtertyp Hartmanns heran, der auch Latein „lesen und schreiben“ konnte, „eine gewisse Gelehrsamkeit“ besaß und wahrscheinlich auf einer Klosterschule gebildet worden war. 111 Der ‚lesende Hartmann‘ steht topisch Wolfram gegenüber, der von sich sagt: „ich enkan deheinen buochstap“ 112. Wie immer man diesen Satz auslegen mag, fest steht, dass Wolfram sich gerade nicht als Vertreter einer gelehrten Lesekultur sehen will, Hartmann dagegen schon. Das ist für die philologische Motivation des als vitalistisch geltenden Aufbruchs nicht ganz unwichtig, weil Stadler hier eine Bezugsperson einbaut, die seiner eigenen Auffassung von Autorschaft nahe kommt. Im Verbund mit seinem Vorgänger Wilhelm Wackernagel nähert sich Stadler dem mittelalterlichen Dichter. Wackernagels Ausgabe orientierte sich im Aufbau an derjenigen, die 1815 die Brüder Grimm ediert hatten, abzüglich der Übersetzung. Wie vor ihm die Grimms widmete sich Wackernagel in den Erklärungen ebenfalls dem Motiv des Aussatzes, der reinigenden Heilung der Schuld durch unschuldiges Blut, dem Opfergedanken, den Entstehungsbedingungen des Textes und dem Namen ‚armer Heinrich‘. Wackernagels Kommentar zum Armen Heinrich war 1885 bereits in einer Ausgabe von Wendelin Toischer erneuert worden. Stadler bearbeitete Einleitung, Abhandlung und Kommentar Wackernagels neu, wobei er seine Zusätze nicht von denen Toischers unterschied. Anhand der Literaturangaben aus der Zeit nach 1885 werden diese aber schnell erkennbar. Wackernagel kommt darin zu dem bemerkenswerten Schluss, Wolfram habe nur ‚Manier‘, genauso wie Gottfried von Straßburg; Hartmann jedoch besitze ‚Stil‘: Bei Hartmann sind Dichter und Dichtung einander eben und gerecht, deshalb kann auch der Dichter so ganz in seiner Dichtung aufgehen: bei Wolfram mangelt diese Zusammenstimmung, sein Streben geht über die Kraft hinaus, die er besitzt, oder doch über die Mittel, die er braucht; Dichter und Dichtung decken einander nicht, und bald ragt so zu sagen der Dichter noch über den Rand des Gedichtes, bald ist ein Teil des Gedichtes von dem Dichter unberührt und unausgefüllt. Darum endlich, wenn Hartmann Stil besitzt, hat Wolfram nur Manier. 113
_____________ 110 Schneider, Der bildliche Ausdruck, S. 156. 111 Vgl. für alle Zitate Stadler/Wackernagel, Der Arme Heinrich, S. 17. 112 Parzival 115, 27, zitiert nach Wolfram von Eschenbach, Parzival, hg. v. Albert Leitzmann, Bd. 1, Halle a. d. S. 41942, S. 90. 113 Stadler/Wackernagel, Der Arme Heinrich, S. 28.
1. Ernst Stadlers Aufbruch und die Bindung der erlösten Form
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Wer mit Goethes Unterscheidung von Manier und Stil aus dem Aufsatz Einfache Nachahmung der Natur, Manier, Stil (1788/89) vertraut ist, weiß um die Abwertung des manieristischen Autors, die mit diesem Urteil verbunden ist. Zwar gibt es dazu von Stadler keine Stellungnahme, aber seine Ergänzungen scheinen dieser These zuzuarbeiten. Auffällig ist, dass Stadler vornehmlich Angaben zur Reimtechnik – d. h. zur poetischen Bindungstechnik neuerer Literaturen schlechthin – macht, die er formal-stilistischen Studien wie derjenigen Hermann Pauls oder Konrad Zwierzinas entnimmt. 114 Zwierzina begründet seine Forschungen über die Reimtechnik damit, Einblick „in die intimsten Feinheiten der Arbeitsweise von Dichtern, die zu den grössten Formtalenten aller Zeiten gerechnet werden dürfen“115, zu geben. Das Mittelalter sei eine Zeit, „der die Sprache Kunst wurde, wie nur einer.“ 116 Der Aufwertung Hartmanns entspricht die Bemerkung Zwierzinas, „wie sehr Hartmann an der Ausbildung seiner Technik arbeitet und sich von starrer Formel und Reimflickerei zu befreien sucht.“ 117 Stadler muss erkennen, dass Hartmanns frühere ästhetische Abwertung als konventioneller Dichter nicht gerechtfertigt war. Somit werden ihm der Autor in formaler Hinsicht und dessen Pseudo-Legende vom Armen Heinrich in motivischer Hinsicht potentielle Autoritäten. Dieser Wandel fällt unmittelbar zusammen mit der Wiederaufnahme von Stadlers dichterischer Praxis im Jahre 1910/11, deren Ergebnis die Sammlung Der Aufbruch ist. Als eine der stilistischen Eigentümlichkeiten von Stadlers Dichtung gilt die gereimte Langzeile, die bisweilen den Eindruck prosaischer Verse erweckt, aber durch Reim und Metrum gebunden ist. Stadlers Langzeilen, zu denen ihn sicherlich auch das Vorbild Walt Whitmans bestärkt hat, imitieren eine Mischung aus Prosa und Vers, wie sie aus der mittelalterlichen Reimprosa bekannt ist. Die Reimprosa bildet den Ausgangspunkt für die Entwicklung des höfisch-epischen Verses. Wackernagel behandelt das Thema ausführlich. Das epische Versmaß „kann halbprosaisch genannt werden, insofern zum Wesen der voll und eigentlich poetischen Form der _____________ 114 Vgl. Carl von Kraus, Metrische Untersuchungen über Reinbots Georg, Berlin 1902 (= Abhandlungen der Königlichen Gesellschaft der Wissenschaften zu Göttingen, philologisch-historische Klasse, N.F. 6.1); B. J. Vos, The Diction and rimetechnic of Hartmann von Aue, New York/Leipzig 1896, und Konrad Zwierzina, Beobachtungen zum Reimgebrauch Hartmanns und Wolframs, in: F. Detter et al. (Hg.), Abhandlungen zur germanischen Philologie. FS Richard Heinzel, Halle a. d. S. 1898, S. 437–511. – Stadlers Ausgangspunkt bildet der Abschnitt zur Metrik bei Hermann Paul, Grundriß der germanischen Philologie, Bd. II.2, Straßburg 21905. 115 Zwierzina, Beobachtungen zum Reimgebrauch Hartmanns und Wolframs, S. 450. 116 Ebd. 117 Ebd., S. 506. Hervorhebung von A.N.
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IV. Synthesen poetologischer Antagonismen
Gesang gehört.“ 118 Wackernagel führt über die halbprosaische Form aus, es handele sich um eine „über das Gewöhnliche hinaus mit Wohlklang geschmückte[] Prosa.“ 119 Die Poetisierung des deutschen Verses, so Wackernagel, orientierte sich am französischen Vorbild. Stadler fügt an dieser Stelle eine ausführliche Bemerkung über die romanische Metrik ein. Was nun Hartmann selbst angeht, so wird er im Zusammenhang der Anfänge des höfischen Verses und zugleich als ein großer Formkünstler diskutiert, der Maßstäbe setzte. Es fänden sich „noch Ueberreste der frühern Kunstlosigkeit“ 120, in den späteren Dichtungen hingegen erscheine bei Hartmann „die neue höfische Kunst in all ihrer Fülle und Reinheit, genauer Vers, genauer Reim.“121 Am Ende weist Wackernagel noch auf Hartmanns wichtigste Besonderheit hin, die in der ‚Reimbrechung‘ liegt, das ist der Gebrauch, den Schluss eines Satzes nicht an das Ende, sondern in die Mitte eines Reimpaares, hinter das erste Reimwort zu verlegen: zwischen Satz und Vers herrscht dadurch dasselbe Verhältnis, das innerhalb des einzelnen Verses zwischen Worten und Füssen herrscht: die Reimbrechung erscheint als eine Cæsur im weiter gedehnten Masstab. 122
Stadlers Ergänzung um Literaturangaben zum Thema deutet auf eine intensive Auseinandersetzung mit dem technischen Aspekt der metrischen Bindung hin. Seine Ergänzungen zum Kommentar Wackernagels betreffen vornehmlich die Reimpraxis Hartmanns, mit der sie eine große Vertrautheit zeigen.123 Der Aufbruch nutzt das Mittel der Reimbrechung effektvoll und bedacht, teilweise erweitert, indem er den Satzschluss nicht nur zwischen zwei Reimwörter legt, sondern auch hinter das zweite Reimwort. Viele der auf Paarreimen beruhenden Gedichte, wie Metamorphosen, verzichten auf Reimbrechung; Form ist Wollust und das Gedicht Der Aufbruch kennen nur den Zeilensprung im letzten Verspaar, aber keine Reimbrechung. Dagegen macht das Gedicht Ende einmal davon Gebrauch, um den Übergang ins ‚Metaphysische‘ zu markieren: Hingebückt, ins Dunkel gekniet, nicht anders sein wollen, geschränkt und gestillt, von Tag und Nacht überblüht, heimgekehrt von Reisen Ins Metaphysische – Licht sanfter Augen über sich, weit, tief ins Herz geglänzt, den Rest von irrem Himmelsdurst zu speisen – (ES 132, Z. 3f.).
_____________ 118 119 120 121 122 123
Stadler/Wackernagel, Der Arme Heinrich, S. 37. Ebd., S. 38. Ebd., S. 40. Ebd. Ebd., S. 46f. Vgl. z. B. ebd., S. 51, 54, 57, 63, 72, 77, 86, 90, 100, 104, 118, 141–143, 151.
1. Ernst Stadlers Aufbruch und die Bindung der erlösten Form
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Die erste Hälfte von Gang in der Nacht (ES 147, bes. Z. 1f.) setzt die Reimbrechung als rhythmisches Mittel des ‚Gehens‘ ein, wobei der Satz über beide Reimzeilen geht: […] Im Schreiten Springen die Häuser aus dem Schatten vor die Rümpfe wilder Schiffe auf entferntem Meer und gleiten Wieder in Nacht. O diese Straße, die ich so viel Monde nicht gegangen – (ES 147, Z. 5–7).
In Befreiung (ES 157, Z. 14f.), Bahnhöfe (ES 158, Z. 1–4), Puppen (ES 167, Z 1f.), im Bewegungsgedicht Fahrt über die Kölner Rheinbrücke bei Nacht (ES 169, Z. 7f., 13f.) und in Meer (ES 174, Z. 1f.) findet sich ebenfalls dieses Mittel. Bei Hartmann diente die Reimbrechung der Vermeidung von Monotonie: Es bricht dessen metrische Eintönigkeit in etwas: um wie viel mehr muss dieses neue Mittel der Bewegung und des Wechsels der Hartmannischen Rede zu gute kommen, der sonst schon eine solche Fülle des Lebens und wohlgegliederter Mannigfaltigkeit inne wohnt? 124
Es gilt zu berücksichtigen, dass in der Langzeile Stadlers die Reimbrechung nicht mehr notwendig ist, um rhythmischer Monotonie vorzubeugen, wie in der kurzen Zeile des höfischen Epos. Denn die Paarreimgruppen werden vom ‚Ohr‘ verzögert wahrgenommen. Bei Stadler sind sowohl dieses Mittel als auch das Enjambement semantischer Art. Gestaltet werden soll der Aufbruch von Satz und Vers. Arno Schirokauer hat die Langzeile vorschnell im Sinne eines Überbordens des lyrischen Ausdrucks gedeutet, ja sogar Stadler und Wolfram im ‚gotischen Dichter‘ enggeführt. Stadler schrieb über Wolfram, er habe nicht die Fülle der Eindrücke bändigen können, aber „aus dessen schwerer, stammelnder, schleppender Sprache [schossen] oft Blitze“ 125. Schirokauer überträgt diesen Satz auf Stadler: Wolframs Sprache wird ein Spiegel der eigenen; die denn auch durchaus nicht schlank und geschmeidig ist, noch etwa leichtfüßig im Spiel anmutiger Arabesken, sondern eher schleppend, nur eben ausgreifend, um Fernliegendes einzuspannen. 126
Was Schirokauer in der feinsinnigen Analyse des Reims übersieht, ist dessen konstitutive Funktion für die Langzeile. Ohne Reim verlöre die Langzeile ihren Sinn und wäre in der Tat nur ein Überborden des lyrischen _____________ 124 Ebd., S. 47. 125 Stadler, Verhältnis der Handschriften, S. 171, und Arno Schirokauer, Über Ernst Stadler, in: Ders., Germanistische Studien, hg. v. Fritz Strich, Hamburg 1957, S. 417–434, hier S. 419. 126 Ebd.
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IV. Synthesen poetologischer Antagonismen
Ausdrucks. Stadlers saubere Behandlung des Reims, der als klanglichrhythmisches und mnemotechnisches Element unnötig ist, zeigt wieder an, wie zentral die Bindung als solche geworden ist: Aus der Form der Bindung ist ihre Idee geworden. Denn die Langzeile ist ja ebenso formaler Ausdruck einer nach Auflösung strebenden Tendenz; diese kann paradoxerweise nur durch Bindungselemente markiert werden. Neben der Bindungstechnik des Reims interessiert Stadler an Hartmanns Text vornehmlich der Erlösungsgedanke. Heinrich ist eine Figur, die, „arm an geistlichem Gute, arm durch die Schuld der Nichtachtung Gottes“127, mit dem Aussatz bestraft wird. Den früheren Reichtum wird Heinrich abgeben; er hofft auf die Erlösung durch eine Jungfrau, die bereit ist, sich für ihn aufzuopfern. Diese Jungfrau ist arm an weltlichen Gütern, dafür umso reicher an geistlichen: „Hartmann liebt es nämlich und übt überall, zuerst einen Streit und dann die Versöhnung sittlicher Gegensätze vorzuführen.“128 Diese dialogische epische Struktur, die Erlösung des Ich in der Aufopferung für ein Du zu erlangen – Jungfrau und Heinrich werden ja in dem Moment erlöst, in dem sie bereit sind, für den anderen sich zu opfern –, überträgt Stadler in den lyrischen Sprecher. Ein Ich will sich opfern oder verschenken, um ein neues Leben zu erlangen: „Und in grenzenlosem Michverschenken | Will mich Leben mit Erfüllung tränken“ (Form ist Wollust, ES 138, Z. 9f.). Der arme Heinrich gehört zu jenen Sagen, in der die Heilung des Aussatzes durch unschuldiges Blut notwendig zum „Organismus“ des Ganzen gehört, „um der religiös sittlichen Idee des Ganzen dichterische Gestalt zu geben.“ 129 Mehr noch als für Wackernagel ist für Stadler Der arme Heinrich ein ethischer Text. Als Wackernagel zur Motivierung der Geschichte die weltliche Liebe heranzieht, widerspricht ihm Stadler: Doch dachte der Dichter dabei [Doppelopfer der Liebenden, A.N.] wohl kaum an die weltliche Minne als treibende Kraft […]. Vielmehr ist die triuwe, die Selbstentsagung und Barmherzigkeit, das ethische Thema der Dichtung, die ganz aus dem Boden der christlichen Weltanschauung gewachsen ist. 130
Für Stadler hat also das ‚Erbarmen des armen Heinrichs‘ vornehmlich einen religiösen Grund. Auch bei Stadler findet sich die mittelalterliche Tendenz, das „grösste Seelenübel durch das grösste Uebel des Leibes […] zu versinnlichen.“131 In Tage IV heißt es: Ich will den Körper so mit Schmerzen nähren, Bis Weltenleid mich sternengleich umkreist —
_____________ 127 128 129 130 131
Stadler/Wackernagel, Der Arme Heinrich, S. 240. Ebd., S. 238. Ebd., S. 224. Ebd., S. 242. Ebd., S. 231.
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In Blut und Marter aufgepeitschter Schwären Erfüllt sich Liebe und erlöst sich Geist. (ES 124, Z. 5–8, Hervorhebung A.N.)
In Fernen fällt der Begriff der ‚Kreatur‘ im Zusammenhang des Aufsichnehmens körperlichen Leidens: „Und mich beströmt wie Herzblut deiner Marter alle Qual der Kreatur“ (Fernen, ES 143, Z. 12). Wackernagel hebt als dritte mittelalterliche Form der Lyrik neben ‚Liedern‘ und ‚Leichen‘ (längere Lieddichtungen) die Spruchdichtung hervor. Bei Hartmann finde sich diese Gattung nicht. Das zweite Gedicht in Stadlers Aufbruch-Sammlung Der Spruch kann dagegen mit Wackernagel gattungstypologisch beschrieben werden: „Dieser [der ‚Spruch‘] ist didaktisch und besteht nur aus einer Strophe, die auch unteilig sein kann.“ 132 Andere Formen der reflexiven Lehrdichtung finden sich dagegen bei Hartmann, so ein „minnigliches Zwiegespräch zwischen dem Herzen und dem Leibe.“ 133 Im Armen Heinrich dient, gemeinsam mit der Rede und dem Selbstgespräch, das Zwiegespräch der Figurencharakterisierung, bei Stadler der ethischen Profilierung des lyrischen Sprechers. Stadlers Gedicht Zwiegespräch ist nicht eindeutig eines zwischen dem ‚Herzen und dem Leibe‘; es wird, nachdem der erste Teil ein Herz bzw. eine Seele zu Gott sprechen lässt („Mein Gott, ich suche dich“ [ES 133]), im zweiten Teil ein Dialog des Ich mit der Seele imaginiert: „Still, Seele! Kennst du deine eigne Heimat nicht?“ (ES 133). Auch das Gedicht Fernen greift die Idee der ‚Zwiesprach‘ auf: „Ist nun dein Leben Zwiesprach mit verwunschnen Dingen, | Sturm, Geist und Dunkel deiner Seele nahe und geliebt?“ (ES 143, Z. 5). Die Opfermetaphorik ist in den Gedichten des Aufbruchs unübersehbar: „Dein Schicksal treibt, als Opfer sich zu spenden“ (Fülle des Lebens, ES 142, Z. 2); „Des Opfers freudig“ (Befreiung, ES 157, Z. 11). In Entsühnung, das ohnehin eine außergewöhnliche Reimbindung zu erkennen gibt, 134 wird die formale Technik der Reimbrechung zusammengeführt mit dem Opfergedanken: Und jäh gereckt die Gier, wie sie sich selbst zum Opfer brächte, Grausam, im eignen Blut die Qualen löschend, und mit Weh ihr Weh ertöte, Im Opfer ihres Leibes. Und ich sah dich bleich, mit nackten Füßen auf dem Büßerberg und über deiner Brust die Röte Der Wunden, die ich dir geschlagen. Sah dich matt und bloß Und schwach. (ES 144, Z. 14–18, Hervorhebung A.N.) […] Nur lächle wieder, du, in deren Schoß Ich wie in klares Wasser meines Lebens dunkles Opfer senke. (ES 145, Z. 24f.)
_____________ 132 Ebd., S. 13. 133 Ebd. 134 Es weist folgendes Schema auf, wobei ein Vers, der auf ‚Traum‘ (= *) endet, ungereimt bleibt: abab c*c dedfeghgfiiklhmnlmkn.
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IV. Synthesen poetologischer Antagonismen
Gerade das Beispiel des Gedichtes Entsühnung zeigt, wie schwer es ist, eine kohärent-realistische Bildlichkeit bei Stadler auszumachen. Die Bildlichkeit ist längst nicht mehr mimetisch geordnet, sondern entfesselt eine sprachimmanente Dynamik, weshalb Stadlers Lyrik auf Darstellungsebene nur punktuell auf den Armen Heinrich bezogen ist. Die Erlösungssprache ist, auch gattungsbedingt, eine ganz andere geworden, frei von Didaxe und Vermittlung. Die Lyrik konzentriert sich allein auf den Nachweis seelischer Verstrickungen des lyrischen Sprechers, die rational nicht klar nachzuzeichnen sind. In Form ist Wollust wird das deutlich. Dieses ‚expressionistische Programmgedicht‘ zeigt sich durchtränkt von christlicher Metaphorik, wenn man wie Stadler in Bezug auf den Armen Heinrich erinnert, 135 dass Gott nach Joh. 15.1 als Ackermann vorgestellt ist. Damit aber ist die Seele ein Acker und der Pflug ein Werkzeug Gottes. Der Vers „Doch mich reißt es, Ackerschollen umzupflügen“ (ES 138, Z. 4) weist über die Metaphorik hinaus ins Allegorische christlicher Erlösung. Genauso ist die Aussage „Form ist klare Härte ohn’ Erbarmen“ (ES 138, Z. 7) christlich konnotiert: „Doch mich treibt es zu den Dumpfen, zu den Armen“ (ES 138, Z. 8) kann als eine Anspielung auf die spezifische Armut des ‚armen Heinrich‘ gelesen werden. Heinrich ist erst geistig arm, dann aber arm an weltlichen Gütern. Den Moment der Erlösung schildert der lyrische Sprecher im Aufbruch als die Aufhebung jeder Differenz und damit der Form und damit der Bindung: „Und in grenzenlosem Michverschenken | Will mich Leben mit Erfüllung tränken“ (ES 138, Z. 9f.). Die Struktur der Zwiesprache, die oben als Übertragung der dialogischen Erlösungsstruktur von der Verslegende in die Lyrik gedeutet wurde, bildet die vornehmliche Sprechsituation vieler Gedichte des Aufbruchs. Das Formprinzip des Aufbruchs kennzeichnet sich als Ineinander eines klanglichen Elements, der Reimbindung, mit einem inhaltlich-gedanklichen Moment, der Erlösung. Auf metaphorischer Ebene führt es zum Gegeneinander stauender und sich entladender Bilder, verstechnisch mit ganz wenigen Ausnahmen zur ausufernden Langzeile, die durch einen klaren Reim begrenzt und damit hergestellt wird. Die Rekonstruktion von Stadlers philologischer Arbeit hat ihre ermöglichende Struktur für sein lyrisches Werk zeigen können, das die terminologische Spannung von konventioneller und originärer Sprache aufhebt, indem es die lyrische Form als die Einheit von Bindung und Lösung begreift.
_____________ 135 Ebd., S. 116. Von Programmgedicht spricht Schürer, Ernst Stadlers expressionistisches Programmgedicht „Form ist Wollust“.
2. Hermann Brochs Tod des Vergil und die lyrische Prosa Der 1886 geborene Hermann Broch gehörte zu jenen männlichen Autoren seiner Generation, die der philologisch-humanistische Bildungsapparat in ihrer Jugend nahezu unberührt gelassen hatte. Erst über vierzigjährig, als er ein Studium aufnahm, war der ehemalige Direktor einer Textilfabrik gezwungen, Latein zu lernen, da es ihm auf der Staats-Realschule bis zu seiner Matura nicht vermittelt worden war. Auch das naturwissenschaftlich-philosophische Studium brachte ihn mit Philologie oder Literaturwissenschaft nicht wirklich in Kontakt. Brochs Themen sind allerdings in einem allgemeinen Sinn mit der vornehmlich geistesgeschichtlichen Germanistik verbunden, und zwar dort, wo sie sich mit zeitgenössischen Forschungsgebieten der allgemeinen Kunstwissenschaft wie der Stilästhetik überschneiden, deren Theoreme und Probleme Broch seit den ästhetischen Frühschriften reflektierte. Prominent diskutiert er im Roman Die Schlafwandler unter Rückgriff auf Konzepte Adolf von Hildebrands, Alois Riegls und Wilhelm Worringers die Korrespondenz von Wert- und Stilpluralität sowie die Identität von Stil und Epoche im Essay Zerfall der Werte. 1 Noch in der späten Hofmannsthal-Studie von 1948, 2 die ihn einmal mehr als literaturkritischen Autor ausweist, und im Essay The Style of the Mythical Age (1947) bleibt das Stilkonzept tragend. 3 Für Stilfragen hat sich Broch nicht nur von geistesgeschichtlicher Seite aus interessiert, sondern auch grammatisch-philolo_____________ 1
2 3
Brochs Werke werden unter Angabe der Bandangabe und der Seitenzahl nach der Sigle KW zitiert: Hermann Broch, Kommentierte Werkausgabe, 13 Bde., hg. v. Paul Michael Lützeler, Frankfurt a. M. 1974–1981. Zitate aus Der Tod des Vergil (= KW IV) werden direkt und verkürzt im Haupttext mit der Sigle TV nachgewiesen, z. B. „Stahlblau und leicht“ (TV 11). Hier: Hermann Broch, Zerfall der Werte (2), in: Die Schlafwandler. Eine Romantrilogie (KW I, S. 436): „Keine Epoche der Menschheit, die sich anders als durch ihren Stil und vor allem durch ihren Baustil charakterisiert hätte, und sie ist wohl nur so weit Epoche zu nennen, als sie ihren Stil besitzt.“ Zur Einheit von Epochenstil und persönlichem Ausdruck Broch, Zerfall der Werte (3) (KW I, S. 444): „Widersinnig wäre es, den Künstler als Ausnahmemenschen anzusprechen, als einen, der eine Art Sonderexistenz innerhalb des Stils führt und ihn produziert, während die anderen ausgeschlossen bleiben.“ Zur Hofmannsthal-Studie s. Manfred Durzak, Hermann Broch. Der Dichter und seine Zeit, Stuttgart et al. 1968 (= Sprache und Literatur, 43), S. 150–188. Zum ‚großen Stil‘ als ‚kulturellem Imperativ‘ bei Broch s. Monika Ritzer, Hermann Broch und die Kulturkrise des frühen 20. Jahrhunderts, Stuttgart 1988, S. 49–51, zu Broch im Kontext der Stilgeschichte s. Ernestine Schlant, Die Philosophie Hermann Brochs, Bern/München 1971, S. 42–52. – Zur Bedeutung des Stilbegriffs für die Entwicklung von Brochs Werttheorie s. Friedrich Vollhardt, Hermann Brochs geschichtliche Stellung. Studien zum philosophischen Frühwerk und zur Romantrilogie „Die Schlafwandler“ 1914– 1932, Tübingen 1986 (= Studien zur deutschen Literatur, 88), S. 58f. und 156f.
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IV. Synthesen poetologischer Antagonismen
gisch war er von der Germanistik der 1910er Jahre nicht unbeeinflusst geblieben. In einem Brief vom 29. September 1950, acht Monate vor seinem Tod, belehrt er den amerikanischen Germanisten Hermann Salinger: „Stil ist in erster Linie eine Sache des Atmens (Sievers)“4. Diese affirmative Bezugnahme Brochs auf den germanistischen Stilphysiognomiker Eduard Sievers zeigt eine gewisse Vertrautheit mit dem philologischliteraturwissenschaftlichen Diskurs, wenngleich Brochs explizite Referenzautoren selten Germanisten, sondern vornehmlich Philosophen waren. Dass philologisch-literaturwissenschaftliche und grammatische Vorstellungen zudem entscheidende produktionsästhetische Bedeutung besaßen, wird die Analyse von Brochs Konzept der lyrischen Prosa unter Rückgriff auf die Poesie/Prosa-Debatte und Karl Vosslers Sprachphilosophie zeigen. Verständlich ist dieser disziplinäre Bezug aber erst vor dem Hintergrund von Brochs prinzipieller Bezogenheit auf die Wissenschaft, die er, biographisch betrachtet, ebenso spät wie seine dichterische Autorschaft ausbildete. 2.1. Dichtung als Komplement der Wissenschaften Das Vorhaben, einen universalen ästhetischen Anspruch in einer unkonventionellen Sprache zu realisieren,5 wird in Hermann Brochs Der Tod des Vergil (1945) bereits mit der Gattungsfrage sichtbar. Rhythmisierte Prosa, innerer Monolog in der dritten Person,6 metrisch nicht geregelte Verse, in die Prosa integrierte Hexameter sowie platonische Dialogpartien in klassisch modernem Duktus bilden ein Ganzes, das sich als ein ‚Roman‘ ver-
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KW XIII/3, Nr. 733, hier S. 499. – Broch leugnet mit dem Rekurs auf Sievers bildungsgeschichtliche Prägungen. Für die irrationale Grundstruktur der ‚Dichterpersönlichkeit‘ sei nur die erste Kindheit prägend gewesen, alle anschließend aufgenommenen Inhalte gehörten zum rationalen Bereich der „Technik“ (ebd., S. 497). Auch für den Stil eines Autors gelte: „und die Atemführung ist nicht zuletzt von der in der Kindheit gesprochenen Sprache abhängig“ (ebd., S. 499). Diesem Widerspruch widmet sich die Analyse von Thomas Borgard, Hermann Brochs Roman Der Tod des Vergil als Gegenstand einer analytischen und funktionalen Geschichtsschreibung, in: Michael Kessler (Hg.), Hermann Broch. Neue Studien, Tübingen 2003 (= Stauffenburg Colloquium, 61), S. 117–167, bes. S. 131. Ein neuerer Forschungsüberblick zum Tod des Vergil bei Michael Roesler, Hermann Brochs Romanwerk. Ein Forschungsbericht, in: DVjs 65 (1991), H. 3, S. 502–585, hier S. 535–575. Zum inneren Monolog vgl. Doris Stephan, Der innere Monolog in Hermann Brochs Der Tod des Vergil, Diss. Mainz 1957. Ein Referat dieser Arbeit bei Manfred Durzak, Hermann Brochs Der Tod des Vergil. Echo und Wirkung. Ein Forschungsbericht, in: Literaturwissenschaftliches Jahrbuch 10 (1969), S. 273–347, hier S. 327–330.
2. Hermann Brochs Tod des Vergil und die lyrische Prosa
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standen wissen will. 7 Thomas Mann, der das Buch „zu den höchsten Leistungen deutschen Schrifttums“8 rechnete, bezeichnete es im Ankündigungstext für die englische Übersetzung als prose-poem. 9 Schon die Trilogie Die Schlafwandler (1931/32) zeigte Brochs zweigliedriges Verfahren, rationale und irrationale Passagen gegeneinander arbeiten zu lassen. 10 Die ‚janusköpfige‘ Spannung des Romans Der Tod des Vergil wurde als ‚kontrapunktisches‘ Verfahren mit einer ‚musikalischen Schreibweise‘, die Broch selbst angesprochen hat, 11 erklärt. Wenngleich der hyb_____________ 7
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9 10
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Einen guten Überblick über den Aufbau gibt Götz Wienold, Die Organisation eines Romans: Der Tod des Vergil, in: Paul Michael Lützeler (Hg.), Materialien zu Hermann Broch ‚Der Tod des Vergil‘, Frankfurt a. M. 1976, S. 251–279, der das ‚Gesetz der Bewegung‘, dem die Sprache des Romans unterliege, herausarbeitet. – S. ferner Klaus Heydemann, Die Stilebenen in Hermann Brochs Der Tod des Vergil, Wien 1972; Barbara Lube, Sprache und Metaphorik in Hermann Brochs Roman „Der Tod des Vergil“, Frankfurt a. M. 1980 (= Europäische Hochschulschriften. Reihe 1, Deutsche Sprache und Literatur, 908). In der englischen Übersetzung rückt Thomas Manns den Roman in den Exilkontext: „highest achievements of German literature in exile“, zitiert nach Paul Michael Lützeler (Hg.), Freundschaft im Exil. Thomas Mann und Hermann Broch, Frankfurt a. M. 2004 (= Thomas-Mann-Studien, 31), S. 132. Manns Roman Lotte in Weimar ähnelt hinsichtlich der camouflierenden Autorfiktion und des inneren Monologs Brochs Der Tod des Vergil, vgl. Theodore Ziolkowski, Hermann Brochs Tod des Vergil und Thomas Manns Lotte in Weimar. Zwei Exilromane, in: Michael Kessler/Paul Michael Lützeler (Hg.), Hermann Broch. Das dichterische Werk. Neue Interpretationen, Tübingen 1987 (= Stauffenburg Colloquium, 5), S. 263–272. Zitiert nach Lützeler (Hg.), Freundschaft im Exil, S. 132. – Zum eigentlichen Prosagedicht s. Wolfgang Bunzel, Das deutschsprachige Prosagedicht. Theorie und Geschichte einer literarischen Gattung der Moderne, Tübingen 2005. Hartmut Steinecke, Hermann Broch und der Polyhistorische Roman. Studien zur Theorie und Technik eines Romantyps der Moderne, Bonn 1968 (= Bonner Arbeiten zur deutschen Literatur, 17), S. 77–81, hier S. 78; zur Einheit von Poesie und Kritik s. Karl Robert Mandelkow, Hermann Brochs Romantrilogie „Die Schlafwandler“. Gestaltung und Reflexion im modernen deutschen Roman, Heidelberg 21975 (= Probleme der Dichtung, 6). Vgl. Hermann Broch, Einige Bemerkungen zur Philosophie und Technik des Übersetzens [1946] (KW IX/2, S. 61–86, hier S. 65). Von einer ‚musikalischen Schreibweise‘ spricht Marianne Charrière, Harmonie und Kontrapunktik als Strukturprinzip im „Tod des Vergil“, in: Richard Thieberger (Hg.), Hermann Broch und seine Zeit. Akten des Internationalen Broch-Symposiums, Nice 1979 (= Jahrbuch für Internationale Germanistik, Reihe A, Kongressberichte, 6), S. 169–182, sowie Dies., Zum Verhältnis Musik-Literatur in Hermann Brochs Der Tod des Vergil, in: Kessler/Lützeler (Hg.), Hermann Broch, S. 7–18, und Béla Szende, Musikalische Gestaltungsprinzipien in Hermann Brochs Roman „Der Tod des Vergil“. Versuch einer Deutung, in: Danielle Buschinger (Hg.), Sammlung, Deutung, Wertung. Ergebnisse, Probleme, Tendenzen und Perspektiven philologischer Arbeit. FS Wolfgang Spiewock, Amiens 1988, S. 162–171. Zur Kontrapunktik und Gegenläufigkeit disparater Elemente vgl. Georges Schlocker, Janusköpfige Sprache. Gedanken zu Brochs Prosa, in: Thieberger (Hg.), Hermann Broch und seine Zeit, S. 146–152, und Alfred Doppler, Die Funktion des Lyrischen in Hermann Brochs Roman „Der Tod des Vergil“, in: ebd., S. 153–160. – Schon Fritz Martini, Das Wagnis der Sprache. Interpretationen deutscher Prosa von Nietzsche bis Benn, Stuttgart 1954, S. 457, wies auf die „mystische coincidentia oppositorum“ hin.
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IV. Synthesen poetologischer Antagonismen
ride Status offensichtlich ist, bedeutet dies keineswegs ein romantisches Überschreiten von Gattungsgrenzen im Dienste des Fragments. Vielmehr ging es Broch um eine ästhetische Totalität, die sich im einheitlichen und geschlossenen Werk manifestieren sollte. Als ein früher Hinweis, dass Der Tod des Vergil die moderne Erfahrung des ‚Wertezerfalls‘ nicht nur dem ästhetischen Anspruch nach in der ‚Synthese‘, sondern auch in der konkreten Darstellung bewältigen wolle, liest sich eine briefliche Äußerung Brochs gegenüber Frank Thiess (1890–1977): „Verwandlung der Addition in eine richtige Synthese: eine Einheit von rationaler Erkenntnis, Epik und Lyrik“ 12. Für das Gelingen einer solchen Synthese besitzt die Sprache der lyrischen Prosa eine ermöglichende Funktion, da Broch durch ihren Einsatz erst jene Erkenntnis gestalten kann, die das Romansujet bildet. Die Kunst könne das Leben nicht verändern und sei damit unnütz, 13 lautet Vergils Erkenntnis im Angesicht des Todes: „nichts vermag der Dichter, keinem Übel vermag er abzuhelfen“ (TV 15). Daher will Vergil sein nutzloses Epos Aeneis vernichten. Zur Verwirklichung des Plans macht Broch die Unterscheidung von wahrer Dichtung und falscher Literatur produktiv, die auch für die zeitgenössische Literaturwissenschaft prägend war. Er beabsichtigt nichts Geringeres, als ein Kunstwerk mit einem epistemologischen Wahrheitsanspruch zu schaffen, dessen Erkenntnisleistung sich gegenüber der wissenschaftlichen behaupten kann.14 Hier wie dort ist das Kunstwerk durch einen inneren Strukturzusammenhang gekennzeichnet. Wolfgang Kayser, die werkimmanenten Bestrebungen seiner Zeit zusammenführend, definierte das Werk als ein „in sich geschlossenes sprachliches Gefüge“ 15 und verteidigte es gegen den platonischen Verdacht, es sei Abglanz von etwas anderem; von phänomenologischer Seite erhielt der Gedanke, das Werk sei als ästhetische Struktur _____________ 12
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Hermann Broch an Frank Thiess am 6.4.1932 (KW XIII/1, S. 186). – Auf die Geschlossenheit der literarischen Großformen der Moderne wies auch Brochs Freund Erich von Kahler hin. Zu von Kahlers Die Auflösung der Form (dt. 1971) s. Carsten Zelle, „The Disintegration of Form in the Arts“. Zur Topik konservativer Literatur- und Kunstkritik bei Erich von Kahler, in: Ralph Kray/Kai Luehrs-Kaiser (Hg.), Geschlossene Formen, Würzburg 2005, S. 94–109. Vgl. Jürgen Heizmann, Antike und Moderne in Hermann Brochs „Tod des Vergil“. Über Dichtung und Wissenschaft, Utopie und Ideologie, Tübingen 1997 (= Mannheimer Beiträge zur Sprach- und Literaturwissenschaft, 33), S. 11–14. Der Tod des Vergil ließe sich denn auch im Sinne Thomas Klinkerts als epistemologische Fiktion verstehen: Thomas Klinkert, Epistemologische Fiktionen. Zur Interferenz von Literatur und Wissenschaft seit der Aufklärung, Berlin 2010 (= Linguae & Litterae, 2). Wolfgang Kayser, Das sprachliche Kunstwerk. Eine Einführung in die Literaturwissenschaft, Bern/München 141969 [zuerst 1948], S. 5.
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eine Wissenseinheit, Auftrieb durch Roman Ingarden, der vom ‚polyphonen Charakter des sprachlichen Gebildes‘ spricht.16 Brochs eigener Werkbegriff erschließt sich aus seinem Syntaxbegriff. Dessen Nähe zu literaturwissenschaftlichen Konzepten wird deutlich, wenn man seinen Anspruch, über die Satzebene hinauszugehen, verfolgt. Syntax kennzeichne nicht nur den Satz oder den Absatz, sondern das Werk als die höchste Wissenseinheit. Jeweils korrespondiere mit den drei syntaktischen Einheiten eine eidetische Einheit, d. h. eine Erkenntniseinheit. Das griechische Eidos (İݭįȦ )בbedeutet zunächst einmal eine äußere Form, in der sich ein Wissen manifestiert. In diesem Bezug zum Griechischen gewinnt das deutsche Wort Gestalt begriffliche Schärfe. Es leitet sich ab von dem, was man sehen kann. Brochs Emphase der „dichterische[n] Syntax“ 17, die als Einheitsprinzip ein griechisches Pendant zur Struktur darstellt (ıȪȞIJĮȟȚȢ – structura – Gefüge), steht im Kontext des neu entstehenden Strukturbegriffs, den Broch konkret den Schriften Ernst Cassirers und Karl Bühlers entnehmen konnte. 18 Die lyrische Prosa schafft ein ‚Gefüge‘ aus ‚Wissenseinheiten‘, das den Prozess der Erkenntnis in syntaktischen Relationen ‚gestaltet‘, wobei eine kognitive jeweils mit einer syntaktischen Einheit korrespondiert. Die höchste Eidos-Einheit – verstanden als Erkenntnis-Einheit – aber ist die ‚Gestalt‘ des Werkes. Vor diesem werkästhetischen Entstehungshorizont wird sich zeigen, dass Brochs ‚Kunstwerk‘ auch in der sprachlichen Lösung des Werkproblems mit der zeitgenössischen Sprach- und Literaturwissenschaft interagiert. Berührungspunkte mit der disziplinären Philologie gibt es, wie im Fall der Romantrilogie Die Schlafwandler, auch seitens der Rezeption. Broch hat an professionelle Literaturwissenschaftler als Leser gedacht. Neben dem kulturgeschichtlich arbeitenden Philologen Konrad Burdach rechnete er die dichtungstheoretisch für ihre Zeit innovativen Literaturwissenschaftler der Geistesgeschichte Herbert Cysarz19 und Fritz Strich sowie den Roma_____________ 16
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Roman Ingarden, Das literarische Kunstwerk. Eine Untersuchung aus dem Grenzgebiet der Ontologie, Logik und Literaturwissenschaft, Halle a. d. S. 1931, S. 25. – Allgemein zur phänomenologischen Ästhetik s. Norbert Krenzlin, Das Werk „rein für sich“. Zur Geschichte des Verhältnisses von Phänomenologie, Ästhetik und Literaturwissenschaft, Berlin 1979, sowie zur phänomenologischen Ästhetik Michael Roesler-Graichen, Poetik und Erkenntnistheorie. Hermann Brochs Tod des Vergil zwischen logischem Kalkül und phänomenologischem Experiment, Würzburg 1994 (= Epistemata. Würzburger wissenschaftliche Schriften, 130), S. 76–87, der den Roman Der Tod des Vergil (ebd., S. 77) als „phänomenologisches Experiment par excellence“ bezeichnet. Hermann Broch, Das Weltbild des Romans [1933] (KW IX/2, S. 89–119, hier S. 109 und 115). Ein Hinweis darauf bei Roesler-Graichen, Poetik und Erkenntnistheorie, S. 20. Broch besaß Cysarz’ Prager Antrittsvorlesung Geschichtswissenschaft, Kunst- und Lebenswissenschaft (Wien 1928), vgl. Klaus Amann/Helmut Grote, Die Wiener Bibliothek Hermann
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IV. Synthesen poetologischer Antagonismen
nisten Ernst Robert Curtius zu seinem erwünschten Publikum. 20 Dass Philologen und Literaturwissenschaftler den gattungsästhetischen Erwartungshorizont seiner Romane konturierten, wiederholte sich in der Zeit des Exils, als Broch an der Yale University als Gastprofessor wirkte. So sind auch die Entstehung von Der Tod des Vergil und die frühe Rezeption eng mit der Disziplin verknüpft. Der Roman wurde umgehend von Germanisten, darunter Brochs Förderer Hermann J. Weigand und Werner Vordtriede, gelesen und gedeutet. Bildungsbiographisch hatte Broch zwar Recht, wenn er gegenüber Vordtriede am 12. Dezember 1948 gestand, „kein Philologe“21 zu sein; auch musste, wenngleich „natürlich […] Sprachgeschichte samt aller zugehörigen Philologie eines der faszinierendsten Gebiete“ 22 sei, diese Disziplin von Brochs umfassendem erkenntnistheoretischen Standpunkt aus als beschränkt erscheinen. 23 Dennoch aber und trotz dieser Selbstzeugnisse erklärt sich Brochs Autorschaft zu einem bestimmten Teil aus der Zugehörigkeit zu einer Epoche der literarischen Bildung, die vom Ineinander von Dichtung und disziplinärer Kritik geprägt war – und zwar nicht erst mit Beginn der Rezeption, sondern schon bei der Konzeption vor dem gemeinsamen Horizont einer pneumatischen Werkästhetik. Der erste und einzige Band von Julius Petersens Poetik Die Wissenschaft von der Dichtung (1939) widmet sich nicht zufällig Werk und Dichter. Petersens Buch ist insofern nützlich, als es alle möglichen Positionen seiner Zeit kennt und gleichzeitig über sie hinausgeht. Nach einer Abgrenzung anderer schriftlicher Überlieferung heißt _____________ 20
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Brochs. Kommentiertes Verzeichnis des rekonstruierten Bestandes, Köln 1990 (= Literatur in der Geschichte, 19), S. 47. Hermann Broch an Daniel Brody am 29.12.1932, Broch-Archiv (zitiert nach Manfred Durzak, Hermann Broch, Reinbek 2001, S. 89). – Auch Carl Schmitt, der die ersten beiden Teile der Trilogie begeistert gelesen hatte, erhielt ein Exemplar (vgl. Vollhardt, Hermann Brochs geschichtliche Stellung, S. 184f.). – Fritz Strich dürfte Broch vor allem über dessen Bruder, den Philosophen Walter Strich bekannt gewesen sein. Walter Strich hatte sich 1909 mit der für Broch nicht unwichtigen Arbeit über Das Wertproblem in der Philosophie der Gegenwart promoviert (vgl. Vollhardt, Hermann Brochs geschichtliche Stellung, S. 116f.). – Gegenüber Wilhelm Emrich, dem er kurz vor seinem Tod gesteht, an den „philosophischen Prinzipien“ der Schlafwandler-Trilogie weiterhin festzuhalten, äußert Broch seine Freude darüber, dass seine geschichtstheoretischen Überlegungen unter den deutschen Fachphilosophen „Anklang erregt haben“ (KW XIII/3, Nr. 753, S. 532, Brief vom 10.4.1951). Hermann Broch an Werner Vordtriede am 12.12.1948 (KW XIII/3, S. 290). Hermann Broch an Daisy Brody am 6.12.1945 (KW XIII/3, S. 42). Vgl. den Brief Hermann Brochs an Egon Vietta vom 14.11.1947, in dem er sich kritisch über Weigands Arbeit äußert (KW XIII/3, S. 188): „Natürlich wird ein Philologe wie Weigand bloß von dem in dem Buch angezogen, was seinen Vorstellungen entspricht, also dem, was darin romanhaft sich noch erfassen läßt.“ – S. auch die weiteren Briefe an Weigand in: KW XIII/3, Nr. 521 (12.2.1946), Nr. 531 (2.4.1946), Nr. 534 (27.4.1946), Nr. 565 (16.8.1947, enthält das Weigand gewidmete Sonett Dantes Schatten), Nr. 579 (9.11.1947), Nr. 612 (16.9.1948), Nr. 618 (14.10.1948), Nr. 622 (26.11.1948).
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es zunächst über Literatur, sie sei „Sprache gewordener Geist, aber sie ist zugleich Schrift gewordener Sprachausdruck. | So befindet sich das Wortkunstwerk in einem Schwebezustand zwischen Buchstabe und Geist.“ 24 Wenn das Werk herangezogen werde zur „Erkenntnis des Zeitgeistes“ 25, werde seine sprachliche Form sekundär. Diese aber gelte es zu berücksichtigen. Auch Broch ging es um ‚Erkenntnis des Zeitgeistes‘ und auch Broch wollte dabei die sprachliche Form nicht als ablösbar begreifen. Der Tod des Vergil gestattet es neben der konzeptionellen und poetologischen auch in verfahrenstechnischer und thematischer Hinsicht, die Frage nach der Rolle von Philologie und Literaturwissenschaft zu stellen. Dieser ‚Roman‘ ist von Paratexten umgeben, die wie der ‚Selbstkommentar‘, die Quellenangaben und die Kritik des eigenen Stils als Praktiken der Philologie erkennbar sind. Daneben stellt sich Broch der Aufgabe, über die künstlerischen Intentionen des lateinischen Dichters Vergil Auskunft zu geben, was trotz des fiktionalen und wegen des poetologischen Status dieses Unterfangens Ähnlichkeiten mit Verfahren der Hermeneutik aufweist. Aber nicht diese Details allein erlauben es, Brochs Produktionsästhetik eine philologisch-literaturwissenschaftliche zu nennen. Die gattungsästhetische Inszenierung dieses ‚Romans‘ leitet sich aus dem Diskursiv der damaligen dichtungstheoretischen Konzeptionen ab. Für Broch war selbstverständlich geworden, dass zwischen ‚Dichtung‘ und ‚Literatur‘ ein epistemologischer Unterschied besteht, dass der Wille zu ‚wahrer Kunst‘ den Romanautor herausfordern und ihn an die Grenzen der konventionellen Schreibweise führen müsse, die es als ‚Experiment‘ zu überschreiten gelte. 26 Brochs Übersetzung dieses Konflikts in den zeittypischen Antagonismus von lyrisch-poetischer und rational-prosaischer Sprache stellt den sichtbarsten Ausdruck davon dar. Was aber ist nach Broch ein ‚wahres Kunstwerk‘, dessen Phantasma der Protagonist, der sterbende Vergil, in Ruhelosigkeit versetzt habe: „den Tod fliehend, den Tod suchend, das Werk suchend, das Werk fliehend“ (TV 13)? Mit Autoren wie Rilke oder Schaeffer teilte Broch die ästhetische Überzeugung einer organischen Kunst: „Das Kunstwerk, das wahre Kunstwerk, ist kein künstliches, sondern ein natürliches Gebilde, natur_____________ 24 25 26
Petersen, Die Wissenschaft von der Dichtung, Bd. 1, S. 53. Ebd., S. 54. Den Experiment-Gedanken verwendet systematisch Roesler-Graichen, Poetik und Erkenntnistheorie, S. 5: „Auf dem Hintergrund der erkenntnistheoretischen Debatte zwischen Neukantianismus, Logischem Positivismus und der Phänomenologie Edmund Husserls […] lassen sich seine Romane als bewußte Gedankenexperimente und ‚methodisch konstruierte‘ Erzählwerke deuten“ (ebd., S. 5).
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IV. Synthesen poetologischer Antagonismen
ähnlich als Produktionsakt des Künstlers“27. Mag dieser Grundsatz zu jener Zeit kein ausschließlich germanistischer gewesen sein, so bleibt er doch erklärbar aus dieser Disziplin, weil nirgends ausführlicher auf die ‚Dichtung‘ Bezug genommen wurde. Günther Müllers Die Gestaltfrage in der Literaturwissenschaft und Goethes Morphologie (1944) formulierte den organisch-synthetischen Mainstream aus, der sich seit Oskar Walzels Kompendium Gehalt und Gestalt (1924) mehr oder weniger reflektiert kundtat und sich in das geistesgeschichtliche Paradigma der Germanistik zwischen 1910 und 1945 einordnet. Mit diesem wiederum ist ein zweites von Broch aufgegriffenes Kriterium verbunden. Indem er den Roman als eine Gattung verstand, die sich zur Epochenanalyse und zur Erkenntnis des ‚Zeitgeistes‘ eigne, orientierte er sich an der geistesgeschichtlichen Epochentypologie seiner Zeit. Der frühe Broch (Die Schlafwandler) war insofern noch mit dem Expressionismus verbunden, als er daran mitwirkte, „das expressionistische Erbe“ in die „theoretische Reflexion“ zu überführen.28 In diesem „Willen zur Deutung“ 29 ähnelte er Kollegen wie Bert Brecht, Robert Musil und Alfred Döblin.30 Dass sich dieser Deutungsanspruch bei Broch im Zeichen eines spezifisch deutschen gelehrten Antimodernismus vollzog, 31 erklärt, weshalb Die Schlafwandler im „expressionistischen Gestus“ nichts weniger als das ‚Ende eines Zeitalters‘ verkünden und ins „unbestimmt Messianische“ verweisen. 32 Zugleich stand Broch dem katholischen Umfeld von Carl Muths Zeitschrift Hochland nahe. 33 Es gibt in seinem Denken Konvergenzen mit Autoren wie Franz Blei, Carl Schmitt, Hugo Ball (Die Folgen der Reformation) 34 oder Ernst Robert Curtius. Brochs voraussetzungsreiche _____________ 27 28 29 30 31 32 33
34
Hermann Broch, Über syntaktische und kognitive Einheiten [1946] (KW X/2, S. 246–299, hier S. 246). Von der ‚organisch-systematischen Ganzheit‘ jedes Kunstwerks ist die Rede im Vortrag Einige Bemerkungen zur Philosophie und Technik des Übersetzens (KW IX/2, S. 78). Vollhardt, Hermann Brochs geschichtliche Stellung, S. 164. – Zu Brochs Expressionismus ebd., S. 184. Ebd., S. 164. Zu Broch und Döblin s. Manfred Durzak, Hermann Broch und Alfred Döblin oder Der deutsche Roman am Scheideweg, in: Kessler/Lützeler (Hg.), Hermann Broch, S. 209–220; Zu Musil und Broch s. Durzak, Hermann Broch. Der Dichter und seine Zeit, S. 114–137. Vgl. Vollhardt, Hermann Brochs geschichtliche Stellung, S. 165, der in diesem Kontext auf die Studie von Fritz K. Ringer The Decline of the German Mandarins. The German Academic Community (1890–1933) von 1969 verweist. Vollhardt, Hermann Brochs geschichtliche Stellung, S. 188. Ebd., S. 185–189. – Zu dieser Zeitschrift neuerdings Maria Cristina Giacomin, Zwischen katholischem Milieu und Nation. Literatur und Literaturkritik im Hochland (1903–1918), Paderborn 2009 (= Politik- und kommunikationswissenschaftliche Veröffentlichungen der Görres-Gesellschaft, 9). Vgl. Peter Uwe Hohendahl, Hugo Ball, in: Wolfgang Rothe (Hg.), Expressionismus als Literatur. Gesammelte Studien, Bern/München 1969, S. 740–752, hier S. 750.
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Geschichtsphilosophie 35 war zwar nicht dezidiert politisch, aber gerade die Prägung durch einen diffusen ‚kulturkritischen Expressionismus‘ machte seine Aussagen politisch brisant. Wenn er sich zudem an ‚stilisierten Epochenbildern‘ orientierte, bettete er sein Denken in geschichtstypologische Kategorien ein, an deren Konzeption auch die Philologie mitgewirkt hatte. Gerade Brochs Rückwendung zum Mittelalter erstaunt zunächst, 36 dabei war sie nur folgerichtig, habe doch mit Beginn der „verbrecherische[n] und rebellische[n]“37 Renaissance „die völlige Wertzersplitterung, die Entfesselung der Vernunft“38 und „Säkularisierung der religiösen Weltbilder“ 39 eingesetzt. Brochs epochentypologischer Ansatz schafft nicht nur den Anschluss seiner Romane an die Philosophie, sondern auch an die Kunstwissenschaft und vor allem an die Geistesgeschichte. 40 Neben diesem positiven Bezug zur Wissenschaft zeigt sich bei Broch noch ein anderer, der komplexer ist, weil er nicht nur die Produktionsästhetik des Autors konkret angeht, sondern das hier in Frage stehende Verhältnis von Disziplin und Literatur grundsätzlicher als bei anderen Autoren verhandelt. Brochs ‚epochale‘ Selbstverständigung im Medium der Dichtung bezog ihre poetologische Kraft aus der Beobachtung, dass eine von den Wissenschaften dominierte Gegenwart die Dichtung fragwürdig gemacht habe. Obgleich Brochs Autorschaft antidisziplinär motiviert war, partizipierte sie dort, wo sie sich von der Wirklichkeit der eigenen Gegenwart und jüngsten Geschichte ab- und der literarischen Tradition zuwendete, an Diskursen der philologischen Disziplinen. Der Tod des Vergil überführt die aus der Spannung zur Wissenschaft resultierende Dichtungstheorie nicht mehr in eine diskursive Argumentation als Essay oder Teil des Romans, sondern in eine genuin poetische Form. Als ‚Roman‘ untertitelt, tritt sie in Konkurrenz zur Vergilphilologie und zur Allgemeinen Literaturwissenschaft, die das Wesen der Dichtung, moderner gesprochen: ihre Prinzipien, untersucht. Die ‚Vergegenwärtigung‘ Vergils erfolgt aber nicht qua philologisch-historischer Methode, sondern mit den Mitteln des Dichters. Brochs Grundspannung von Dichtung und Wissenschaft findet ihren formalen Ausdruck im hybriden Genre seiner lyrischen Prosa, die Elemente der Poesie und der Prosa miteinander verbindet. _____________ 35 36 37 38 39 40
Im Folgenden nach Vollhardt, Hermann Brochs geschichtliche Stellung, S. 189–199. Ebd., S. 201. Broch, Die Schlafwandler (KW I, S. 533). Hermann Broch, Der Wertzerfall und die Schlafwandler (KW I, S. 734). Vollhardt, Hermann Brochs geschichtliche Stellung, S. 11. Zu Brochs Wertphilosophie s. ebd., S. 122–144. Vgl. ebd., S. 209f.
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IV. Synthesen poetologischer Antagonismen
Jeder Leser Hermann Brochs kennt die Irritation, welche die Gegenläufigkeit bestimmter sprachlicher aber auch gegenständlicher Elemente in dessen Romanwerk auslöst. Mit den Termini der Rhetorik gesprochen, handelt es sich um die Mischung von genus humile und genus grande, 41 adäquater um Polyphonie. Die hier vorliegende Stilmischung lässt sich genauer aus der Situation eines Dichters heraus verstehen, der sich dem Wahrheitsanspruch der modernen wissenschaftlichen Disziplinen stellt, ohne den metaphysischen Anspruch der Dichtung aufzugeben. Anders als Musil 42 orientierte er die dichterische Sprache nicht konsequent am analytischen Logos der Wissenschaft oder grenzte sie bewusst davon ab wie der Lyriker Rilke. Der Wechsel drastisch-konkreter und erhaben-abstrakter Wortwahl, rationaler wissenschaftlicher Analyse und irrationaler lyrischer Synthese, 43 hypotaktischer und parataktisch-wiederholender Syntax, prosaischer und rhythmisierter Rede, Verstand und Gefühl veranschaulicht facettenreich die Basisopposition, die Brochs wissenschaftlich-dichterische Autorschaft begründet. Broch bestätigte in verschiedenen Selbstkommentaren zu seinem Roman Die Schlafwandler diesen Befund als Gradation „vom rein Lyrischen bis zum rein Kognitiven“ 44. In Der Tod des Vergil offenbart sich diese ‚Zwitterhaftigkeit‘ in poetologischer Weise, indem Broch die Unfähigkeit, sich für den modernen soziologisch-analytischen Roman zu entscheiden, gattungsästhetisch und sprachlich markiert. 45 Das anachronistische Nationalepos wird zum Thema des zeitgemäßen Romans. Diesem ‚Gattungsgefüge‘, das im Medium des Romans das Epos thematisiert, entspricht formal das Alternieren von Prosa und einer dezidiert unprosaischen Sprache. Das Ineinander von gebundener und ungebundener prosaischer Rede erzeugt eine Spannung der Dichtung zu den Wissenschaften, die kennzeichnend für Brochs Schreibsituation ist. Nach Broch habe „die Mathematisierung der Philosophie […] das ungeheure Gebiet des Mystisch-Ethischen aus ihrer Problematik ausgeschaltet. Legitim ausgeschaltet.“46 Dem Dichter obliege es, die Lücken der _____________ 41 42 43 44 45 46
In diesem Sinne ist die Untersuchung von Klaus Heydemann, Die Stilebenen in Hermann Brochs Der Tod des Vergil, Wien 1962. Zu Musil und Broch s. Durzak, Hermann Broch. Der Dichter und seine Zeit, S. 114–137. Zu Brochs Auffassung des Lyrischen Manfred Durzak, Hermann Broch. Dichtung und Erkenntnis. Studien zum dichterischen Werk, Stuttgart et al. 1978 (= Sprache und Literatur, 103), S. 16–32. Hermann Broch, Der Wertzerfall und die Schlafwandler (KW I, S. 735). Symbolästhetisch hat versucht, den Widerspruch aufzulösen Maria Angela Winkler, Denkerische und dichterische Erkenntnis als Einheit. Eine Untersuchung zur Symbolik in Hermann Brochs Tod des Vergil, Frankfurt a. M. 1980. Hermann Broch, Über die Grundlagen des Romans Die Schlafwandler (KW I, S. 728–733, hier S. 730).
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Wissenschaft zu füllen und die Ganzheitsansprüche des „nach Totalität“ 47 schreienden Menschen zu erfüllen. Diese Aufgabe übernehme der ‚polyhistorische Roman‘ der Moderne, der seiner Zeit den Weg weise, wie auch schon Goethes Wilhelm Meister seiner Zeit den Weg gewiesen habe. 48 Der Dichter werde „zum wegweisenden Deuter dieser Zeit“ 49. Im Brief vom 5. August 1931 an Daniel Brody bekräftigt Broch seine Theorie, daß der Roman und die neue Romanform die Aufgabe übernommen haben, jene Teile der Philosophie zu schlucken, die zwar metaphysischen Bedürfnissen entsprechen, dem derzeitigen Stande der Forschung aber gemäß, heute als ‚unwissenschaftlich‘ oder, wie Wittgenstein sagt, als ‚mystisch‘ zu gelten haben. Die Zeit des polyhistorischen Romans ist angebrochen. 50
Gleichzeitig aber wendet sich Broch gegen den „Wissenschaftler als Romanhelden“ 51, gegen die gebildete Rede bei André Gide oder Thomas Mann. Dass ein ‚Dr. phil. Bertrand Müller‘ Verfasser der Schrift Der Zerfall der Werte ist, stünde dazu im Widerspruch. Broch hat in Denkerische und Dichterische Erkenntnis (1933) die Rolle der Wissenschaft und ihrer seit dem neunzehnten Jahrhundert entstandenen Disziplinen mit dem Ergebnis analysiert, dass sich die Literatur gerade jenen ‚menschlichen Problemen‘ zuwenden müsse, die von der Wissenschaft ausgeschieden werden. Dieses Ergänzungsverhältnis, das für die Wahl der literarischen Themen verantwortlich ist, findet im Symbol des ‚Schlafwandlers‘ einen Ausdruck, weil dessen Taten nicht im Bereich des wissenschaftlich rational Erklärbaren liegen. Dichtung wäre dann die Wissenschaft vom ‚Somnabulen‘. Brochs Dichtung ist auch eine Auseinandersetzung mit dem Logischen Empirismus und der dichtungsfeindlichen Philosophie des Wiener Kreises, mit der er während seines Studiums bekannt geworden war.52 Notwendig kommt Broch auf Goethe zurück, 53 sobald er von der Einheit von Wissenschaft und Dichtung spricht. Die Wiederentdeckung von Goethes naturwissenschaftlichen Schriften im Zuge des Erscheinens der Weimarer Ausgabe ordnete sich in die allgemeine Tendenz der Wissenschaftskritik auf dem Gebiet der Geisteswissenschaften ein. Es wäre nicht übertrieben zu behaupten, dass die Geisteswissenschaften ihr neues _____________ 47 48 49 50 51 52 53
Ebd., S. 731. Ebd., S. 732. Broch, Der Wertzerfall und die Schlafwandler (KW I, S. 734). Hermann Broch an Daniel Brody am 5.8.1931 (KW XIII/1, S. 150–152, hier S. 151). Vgl. dazu Steinecke, Hermann Broch und der Polyhistorische Roman, S. 28. Hermann Broch an Daniel Brody am 5.8.1931 (KW XIII/1, S. 151). Vgl. Roesler-Graichen, Poetik und Erkenntnistheorie, S. 53–61. Zu Brochs Goethe-Bild s. Durzak, Hermann Broch. Der Dichter und seine Zeit, S. 35–52, zu Goethes Bildungsbegriff ebd. S. 42–47.
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IV. Synthesen poetologischer Antagonismen
Selbstverständnis nicht nur negativ in Abgrenzung gegenüber den Naturwissenschaften bezogen, sondern primär aus dem auch bei Rudolf Borchardt herrschenden Affekt gegen die alexandrinische Wissenschaftsgläubigkeit des neunzehnten Jahrhunderts, die den Dualismus von Naturund Geisteswissenschaft erst herbeigeführt hatte. Goethe, für den Naturund Geisterkenntnis nicht zu trennen gewesen waren, gewann innerhalb des neuen erkenntniskritischen Diskurses ungemeine Attraktivität. Die Antwort auf die Frage, weshalb die Gegenwart keinen neuen Goethe hervorbringen könne, liegt für Broch auf der Hand: Die Verwissenschaftlichung der Wissenschaft, die sich in der Ausdifferenzierung zu Disziplinen, 54 der Spezialisierung, Partikularisierung der Fragestellungen und der Ausgrenzung unwissenschaftlicher Methoden abzeichne, habe eine Pluralität des Wissens herbeigeführt, die kein einzelnes Subjekt mehr zu fassen in der Lage sei. Zugleich grenze der wissenschaftliche Prozess mit der Dichtung ein wesentliches Moment der Erkenntnis aus, das Broch im unmittelbaren Zugang zur Welt sah. 55 Seine Bestimmung der Dichtung im Angesicht der modernen Wissenschaft ist dabei fundamentaler Art und begrenzt sich nicht allein auf das Verhältnis von Dichtung und Philosophie. 56 Die Dichtung soll das, was der Wissenschaft abgeht bzw. noch nicht durch sie erfasst wird, kompensieren, letztlich mit dem Ziel vor Augen, beide Seiten wieder zusammenzuführen.57 ‚Goethe‘ bildet potentiell eine Utopie, nicht bloß einen historisch überwundenen Zustand innerhalb des wissenschaftskritischen Diskurses in der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts. _____________ 54
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Paul Michael Lützeler, Einleitung, in: Ders./Michael Kessler (Hg.), Brochs theoretisches Werk, Frankfurt a. M. 1988 (= suhrkamp taschenbuch, 2090), S. 7–12, hier S. 7, weist darauf hin, dass Brochs Theorie „der Ausdifferenzierung und Autonomisierung der partialen gesellschaftlichen Systeme“, die er als Essay in Die Schlafwandler unter dem Titel Zerfall der Werte integriert, nicht bloß inspiriert ist von Max Weber, sondern wissenschaftlich fortgesetzt wird durch den Soziologen Niklas Luhmann. – Zu Weber und Broch s. auch Friedrich Vollhardt, Philosophische Moderne, in: ebd., S. 85–97, hier S. 86–89. Vgl. z. B. Hermann Broch, Das Unmittelbare in Philosophie und Dichtung [ca. 1932] (KW X/1, S. 167–190). Dieses besondere Verhältnis kann eigens herausgelöst werden, vgl. Vollhardt, Hermann Brochs geschichtliche Stellung, S. 7: „Die Verwissenschaftlichung der Philosophie stellt eine notwendige Entwicklung dar, in deren Folge auch die Literatur neue Bedeutung erhält, nicht als Refugium des Irrationalen, sondern als Medium eines sich selbst verantwortlichen philosophischen Denkens“. Im Selbstkommentar zu den Schlafwandlern heißt es: „Der Besitzstand der Literatur zwischen dem ‚Nicht mehr‘ und dem ‚Noch nicht‘ der Wissenschaft ist solcherart eingeschränkter, aber auch sicherer geworden und umfaßt den ganzen Bereich des irrationalen Erlebens und zwar in dem Grenzgebiet, in welchem das Irrationale als Tat in Erscheinung tritt und ausdrucksfähig und darstellbar wird“ (Hermann Broch, Der Roman Die Schlafwandler [KW I, S. 719–722, hier S. 719]).
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Philosophisch und ästhetisch vorgebildet, nahm der „Autodidakt“ 58 Broch in den 1920er Jahren ein Studium der Mathematik, Physik und Philosophie auf, was den disziplinären Status seiner Dichtung vielschichtig macht, 59 besonders wenn man das Interesse an Psychologie und Geschichte mitberücksichtigt und den Autor im Kontext einer entstehenden Wissenssoziologie begreift.60 Dennoch war die Philosophie wegen ihres erkenntniskritischen Potentials für Broch die maßgebliche Wissenschaft geblieben. Seine Bibliothek verblüfft ob ihrer philosophisch-wissenschaftlichen Ausrichtung. Da Broch selbst auf die Notwendigkeit einer wissenschaftlichen Fundierung seines frühen Romanwerks hingewiesen hat, um keinen „Schund“ 61 zu produzieren, wird man seine gelehrte Autorschaft, die häufig mit dem Begriff des poeta doctus erfasst wird, 62 je nach Perspektive als mathematicus, philologus, philosophus, psychologus oder gar sociologus präzisieren dürfen. Egal welche Perspektive letztlich eingenommen wird, darf dies nicht zu einer unkritischen Übernahme von Brochs Prämissen in der affirmativen Lesart führen;63 denn dann steht und fällt alles mit ihnen. Sobald seine philosophischen Thesen und Theorien infolge ihrer Historisierung nicht mehr akzeptabel sind, ist auch die Dichtung selbst in Frage gestellt. Deswegen ist ein Zugang gewählt, der Brochs Roman an seinen eigenen Maßstäben misst, ohne sie zu teilen, aber gerade deshalb die sprachliche Leistung würdigen kann. _____________ 58 59
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Vollhardt, Hermann Brochs geschichtliche Stellung, S. 5. Vgl. hierzu die beiden Studien von Carsten Könneker, Hermann Brochs Rezeption der modernen Physik. Quantenmechanik und ‚Unbekannte Größe‘, in: Zeitschrift für deutsche Philologie 118, Sonderheft: Norbert Oellers/Hartmut Steinecke (Hg.), Zur deutschen Literatur im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts, Berlin 1999, S. 205–239, und Ders., Moderne Wissenschaft und moderne Dichtung. Hermann Brochs Beitrag zur Beilegung der ‚Grundlagenkrise‘ der Mathematik, in: DVjs 73 (1999), H. 2, S. 319–351. Vollhardt, Hermann Brochs geschichtliche Stellung, S. 6 und 9. ‚Schund‘ grenzt Broch vom ‚Dichtwerk‘ im Eingang der Novelle Ophelia ab (KW VI, S. 24– 36, hier S. 24). Hierzu Durzak, Hermann Broch. Dichtung und Erkenntnis, S. 7–15. Vollhardt, Hermann Brochs geschichtliche Stellung, z. B. S. 9, und passim, nennt Broch einen poeta doctus, und Joseph P. Strelka, Poeta doctus oder von den Schlafwandlern zur Massenwahntheorie, in: Ders., Poeta Doctus Hermann Broch, Tübingen 2001 (= Patmos, 6), S. 22–53, und vor allem: Wilfried Barner, Poeta doctus. Über die Renaissance eines Dichterideals in der deutschen Literatur des 20. Jahrhunderts, in: Jürgen Brummack et al. (Hg.), Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte. FS Richard Brinkmann, Tübingen 1981, S. 725–752. Die Broch-Forschung hat dies früh erkannt, vgl. Wolfgang Freese/Karl Menges, BrochForschung. Überlegungen zur Methode und Problematik eines literarischen Rezeptionsvorgangs, München 1977 (= Musil-Studien. Beihefte, 1), und anknüpfend Endre Kiss, Über Hermann Brochs Ehrgeiz, ganzheitliche Strukturen ganzheitlich darzustellen. Reflexionen über die Möglichkeit einer nicht-affirmativen Broch-Forschung, in: Ders. (Hg.), Hermann Broch. Werk und Wirkung, Bonn 1985 (= Sammlung Profile, 19), S. 65–86.
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IV. Synthesen poetologischer Antagonismen
Angesichts ihres fundamentalen erkenntnistheoretischen Ansatzes lässt sich die poetische Autorschaft Brochs keineswegs einzig aus der Spannung zur Philologie oder Literaturwissenschaft verstehen, für die er sich nachweislich hauptsächlich zu interessieren schien, sofern sie sich als geistesgeschichtlich operierende Disziplin artikulierte.64 Noch Brochs Kritik an der „Literaturhistorie“, sie sei durch das „Wichtignehmen der gleichgültigsten Dinge“ 65 gekennzeichnet, gehörte zum Repertoire geistesgeschichtlich fundierter Philologiekritik innerhalb der Germanistik. Dass Broch Literatur analog zu Tendenzen in der deutschen Literaturwissenschaft ergozentrisch zu erklären suchte, zeigt seine bereits angesprochene Konzeption des Gedichts als ‚Systemzusammenhang‘ und ‚syntaktischer Einheit‘, 66 was im Folgenden mit Blick auf den für die lyrische Prosa zentralen poetologisch-literaturwissenschaftlichen Antagonismus von Poesie und Prosa zu erörtern ist. 2.2. Die Poesie/Prosa-Differenz im Kontext der Syntaxtheorie Brochs Der Tod des Vergil schreibt sich in die seit den Anfängen des Schrifttums bestehende Tradition prosimetrischer Mischformen ein. 67 Strukturell wird mit ihr die Hybridität 68 von einem poetischen und einem nicht poetischen Zustand erzeugt. Gleichzeitig greift der Roman die Diskussion des Verhältnisses von Poesie und Prosa auf, die in der deutschen Aufklärungsliteratur einsetzte, in der Romantik in und außerhalb des philologischen Diskurses 69 fortgeführt wurde und im neunzehnten Jahrhundert in einen ästhetischen Diskurs mündete, der den disziplinären Theore-
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Bezeichnenderweise zählt Gundolfs Goethe zu den wenigen germanistischen Schriften in Brochs Bibliothek. Auch kulturgeschichtlich-philologische Forscher wie Konrad Burdach schätzte Broch, dessen Darstellung Reformation, Renaissance, Humanismus (1918) er besaß: Konrad Burdach, Reformation, Renaissance, Humanismus. Zwei Abhandlungen über die Grundlagen moderner Bildung und Sprachkunst, Berlin 1918. KW XIII/3, S. 339. Vgl. Brochs Interpretation von Matthias Claudius’ Abendlied steht in: Ders., Einige Bemerkungen zur Philosophie und Technik des Übersetzens [1946] (KW IX/2, S. 78–61, bes. S. 78f.). S. Ulrich Johannes Beil, Die hybride Gattung. Poesie und Prosa im europäischen Roman von Heliodor bis Goethe, Würzburg 2010 (= Philologie der Kultur, 2). Joseph von Eichendorff, Geschichte der poetischen Literatur Deutschlands, Bd. 1, Paderborn 1857, S. 105, sprach von einem ‚zwitterhaften Mittelding‘. Vgl. für Letzteren Gottfried Hermann, De differentia prosae et poeticae orationis, Leipzig 1803.
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tikern des frühen zwanzigsten Jahrhunderts im deutschen Kontext als Ausgangspunkt diente.70 Die Diskussion der Differenz diente nicht selten dazu, die Ursprünglichkeit der Poesie zu rechtfertigen. Der Topos, die Poesie sei ursprünglich, beschränkte sich nicht allein auf das achtzehnte Jahrhundert. Johann Gottfried Herders Ansicht, jede „Nation lieferte die vortreflichste Meisterstücke der Poesie, ehe sich noch die Prose von jener getrennet und zu ihrer Runde ausgebildet hatte“ 71, war im neunzehnten Jahrhundert common sense und wurde noch im zwanzigsten Jahrhundert von Jurij M. Lotman produktiv gemacht: „Die Verssprache (ebenso wie die gedehnte, singende Rede und der Gesang) war ursprünglich die einzig mögliche Ausdrucksform der Wortkunst.“72 Ein zweites Bedeutungselement von Prosa besteht darin, sie als die Sprache des Verstandes abzuwerten. 73 Damit ist ein Gemeinplatz angesprochen, der im neunzehnten Jahrhundert in die Romandiskussion eingeführt wurde: „Der Roman ist daher die Poesie des Verstandes in ungebundener Rede.“ 74 Der Zusammenhang von Prosa und Moderne war wiederum seit Friedrich Schlegel topisch: Prosa ist die eigentliche Natur der Modernen. Früherhin ist in der modernen Poesie doch wenigstens gigantische Kraft und phantastisches Leben. Bald aber wurde die Kunst das gelehrte Spielwerk eitler Virtuosen. Die Lebenskraft jener heroischen Zeit war nun verloschen, der Geist entflohn; nur der Nachhall des ehemaligen Sinns blieb zurück. 75
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Zur Begriffsgeschichte der Opposition s. Karlheinz Barck, Prosaisch – poetisch, in: Ders. (Hg.), Ästhetische Grundbegriffe. Historisches Wörterbuch in sieben Bänden, Bd. 5, Stuttgart 2003, S. 87–112. Johann Gottfried Herder, Über die neuere deutsche Literatur. Erste Sammlung von Fragmenten. Eine Beilage zu den Briefen, die neueste Litteratur betreffend [11767], in: Johann Gottfried Herder, Sämmtliche Werke, hg. v. Bernhard Suphan, Bd. 1, Berlin 1877, S. 131– 240, hier S. 157. – Zu Herders Prosatheorie s. Hans-Otto Rößer, Bürgerliche Vergesellschaftung und kulturelle Reform. Studien zur Theorie der Prosa bei Johann Gottfried Herder und Christian Garve, Frankfurt a. M. 1986. S. ferner Magda Gohar, Das Verhältnis von Poesie und Prosa als literaturphilosophisches Problem, Diss. Bonn 1978, und Márcio Seligmann-Silva, Prosa – Poesie. Unübersetzbarkeit. Wege durch das 18. Jahrhundert und von den Frühromantikern bis zur Gegenwart, Diss. FU Berlin 1996. Lotman widersprach einem Zweig der Verstheorie des zwanzigsten Jahrhunderts, der versucht hatte, den Vers aus der Kunstprosa zu erklären. Vgl. Jurij M. Lotman, Probleme der Versstruktur, in: Ders., Vorlesungen zu einer strukturalen Poetik. Einführung, Theorie des Verses, hg. v. Karl Eimermacher, übers. v. Waltraud Jachnow, München 1972 (= Theorie und Geschichte der Literatur und der schönen Künste. Texte und Abhandlungen, 14), S. 51–66, hier S. 55. 9JOGD]X9>LNWRU@0>DNVLPRYLÿ@6FKLUPXQVNL-RKDQQ*RWWIULHG+HUGHU+DXSWOLQLHQVHLQHV Schaffens [aus dem Russischen übersetzt v. Heinz Stolpe], Berlin [DDR] 1963, S. 36f. Eichendorff, Geschichte der poetischen Literatur Deutschlands, Bd. 1, S. 118. Friedrich Schlegel, Über das Studium der griechischen Poesie, in: Ders., Studien des klassischen Altertums, hg. v. Ernst Behler, Paderborn 1979 (= Kritische Friedrich-SchlegelAusgabe, Abt. 1, Bd. 1), S. 217–367, hier S. 257.
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IV. Synthesen poetologischer Antagonismen
Die Prosa wurde mit der rhetorischen bei Goethe76 oder, bei Hegel, mit der philosophischen Rede verbunden, der im geschichtsphilosophischen Entwicklungsgang die Aufgabe zukomme, das Absolute zum Ausdruck zu bringen – und gerade nicht mehr der Poesie.77 Im zwanzigsten Jahrhundert mehren sich die wissenschaftlichen Definitionen 78 und die Poesie/Prosa-Differenz erhält disziplinären Charakter, indem divergierende Bestimmungen objektiv bewertet und voneinander abgegrenzt werden. Etwa gleichzeitig mit Brochs Roman Der Tod des Vergil erschien 1943 in der Deutschen Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte eine Art Zusammenfassung der bisherigen Diskussion durch den Zürcher Germanisten Leonhard Beriger unter dem Titel Poesie und Prosa. Eine grundsätzliche Betrachtung, die den germanistischen Reflexionshorizont zeigt, vor welchem Brochs Romanpoetik möglich wurde. Der Schüler Emil Ermatingers teilte mit Broch auch das Interesse an Fragen der ästhetischen Wertung. 79 Beriger, der sich auf den formalen Unterschied zwischen Poesie und Prosa als gebundener und ungebundener Rede konzentriert, grenzt sich von zeitgenössischen Bemühungen Benedetto Croces ab, Poesie und Prosa als zwei bloße ‚Wertstufen‘ zu bestimmen. 80 Aus der formalen Differenz leitet er einen ‚Wesensunterschied‘ ab, der über die Sprachform hin_____________ 76
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Johann Wolfgang Goethe, Besserem Verständniß, in: Ders., Sämtliche Werke. Briefe, Tagebücher und Gespräche, Abt. I, Bd. 3/1: West-östlicher Divan, hg. v. Hendrik Birus, Berlin 22010, S. 137–294, hier S. 205: „Poesie ist, rein und ächt betrachtet, weder Rede noch Kunst; keine Rede, weil sie zu ihrer Vollendung Takt, Gesang, Körperbewegung und Mimik bedarf; sie ist keine Kunst, weil alles auf dem Naturell beruht, welches zwar geregelt, aber nicht künstlerisch geängstiget werden darf; auch bleibt sie immer wahrhafter Ausdruck eines aufgeregten erhöhten Geistes, ohne Ziel und Zweck.“ Vgl. Alexander Nebrig, Poesie oder Prosa? Hegels Literaturbegriff und die ästhetische Erfahrung des Absoluten, in: Albert Meier/Alessandro Costazza/Gérard Laudin (Hg.), Kunstreligion. Ein ästhetisches Konzept der Moderne in seiner historischen Entfaltung, Bd.1: Der Ursprung des Konzepts um 1800, Berlin/New York 2011, S. 161–178. Es waren besonders russische Literaturwissenschaftler, die in den 1920er Jahren wichtige formale Definitionsversuche leisteten, vgl. Wolf Schmid, Elemente der Narratologie, Berlin 2005 (= Narratologia, 8), S. 160, Anm. 6, und Beil, Die hybride Gattung, S. 22. Vgl. z. B. Viktor B. Šklovskijs wahrnehmungspsychologische Bestimmung der Prosa als automatisierter Sprache, im Unterschied zur Poesie, die als Verfremdung der Wahrnehmung begriffen wird (Viktor Šklovskij, Kunst als Kunstgriff, in: Ders., Theorie der Prosa, hg. u. übers. v. Gisela Drohla, Frankfurt a. M. 1966, S. 7–24, bes. S. 13). Šklovskij grenzt sich ab von der Vorstellung Aleksandr A. Potebnjas, Poesie sei Denken in Bildern (ebd., S. 7). – Zu Gertrude Steins, aus ihren prose poems abgeleitetem Prosabegriff s. Evi Zemanek, Das Gesicht im Gedicht. Studien zum poetischen Porträt, Köln 2010 (= pictura & poesis, 28), S. 271– 325. Leonhard Beriger, Die literarische Wertung. Ein Spektrum der Kritik, Halle a. d. S. 1938 [Habilitationsschrift]. Leonhard Beriger, Poesie und Prosa. Eine grundsätzliche Betrachtung, in: DVjs 21 (1943), S. 132–166, hier S. 133.
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aus den ‚Gehalt‘, die ‚Fabel‘ und die ‚Gestalt‘ betrifft. Beiden Weisen des Schreibens eigne eine jeweils andere ‚innere Form‘. Mit dieser ‚wesensmäßigen‘ Bestimmung, die aus Bindung und Nichtbindung der Rede semantische Konsequenzen ableitet, sieht sich Beriger in Einklang mit der bisherigen Diskussion bei den Dichtern Friedrich Schiller, Franz Grillparzer, Friedrich Nietzsche und Carl Spitteler, die allerdings begrifflich kaum weiterhelfe. 81 Der metrischen Diskussion bei Andreas Heusler hält Beriger vor,82 das Problem formalistisch lösen zu wollen. Heuslers Taktmetrik unterscheide zwischen einem ‚geordneten und einem ungeordneten Rhythmus‘. Dagegen bemühe sich Franz Saran, der sich schon 1907 der lyrischen Prosa widmete, 83 über die ‚Schallform eines Werks‘ den Unterschied zwischen Poesie und Prosa zu untersuchen. Zwar kritisiert Beriger, Saran habe das Problem allein als ‚Klangproblem‘ gefasst, dennoch bildet dessen ganzheitlicher Anspruch – „das Ganzheitserlebnis einer dichterischen Schallmasse“ 84 – die entscheidende Kongruenz beider Auffassungen. „Der Unterschied zwischen Prosa und Vers“, so Saran, „liegt auf der ganzen Linie, nicht bloß im Metrischen.“85 Die Eigenart der Poesie sieht Saran vornehmlich darin begründet, dass in ihr anders als in der Prosa ‚zwei Gliederungsprinzipien‘ zusammenspielten. Dieser Gedanke wird von Karl Knauer, Vertreter einer mathematischen Stilforschung, dahingehend interpretiert, 86 dass sich in der Poesie das „Gegenspiel“87 eines ‚sprachlichsyntaktischen‘ und eines ‚metrischen‘ Prinzips beobachten lasse: „Die Prosa [dagegen] steht unter einem einzigen Gesetz, einem einzigen Gliederungsprinzip.“88 Im Fortgang seiner Argumentation kommt Beriger auf das Logische und die Syntax zu sprechen. Poesie wie ‚dichterische Prosa‘ versteht er als das Zusammenwirken ‚geistiger‘, ‚bildhafter‘ und ‚musikalischer Elemente‘. 89 Das Logische definiert er über die Syntax als „denkgesetzliche Beziehung zwischen den Begriffen, durch die sie zu einem Sinnganzen werden, und diese Bezie_____________ 81 82 83 84 85 86 87 88 89
Ebd., S. 134–137. Vgl. Andreas Heusler, Deutsche Versgeschichte, Bd. 1, Berlin 1925 (= Grundriss der germanischen Philologie, 8.1), S. 50f. Vgl. Saran, Deutsche Verslehre, S. 134. Franz Saran, Deutsche Verskunst. Ein Handbuch für Schule, Sprechsaal, Bühne, hg. v. Paul Riemann, Berlin 1934, S. 60. Ebd. Vgl. Karl Knauer, Die klangästhetische Kritik des Wortkunstwerks am Beispiel französischer Dichtung, in: DVjs 15 (1937), S. 69–91. Ebd., S. 77. Ebd., S. 78. Ebd., S. 145f. Vgl. Theodor Haecker, Ueber Francis Thompson, in: Hochland 22 (1924), H. 1, S. 68–80, und H. 2, S. 206–215.
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IV. Synthesen poetologischer Antagonismen
hung kommt sprachlich durch die Syntax zum Ausdruck.“ 90 Berigers These lautet, Poesie unterscheide sich von der Prosa durch eine „Verselbständigung des musikalischen Elements gegenüber dem Logischen“ 91, d. h. dem Syntaktischen. Die dabei entstehende Spannung, die der Prosa abgehe, erhöhe den Ausdruck. Das musikalische Prinzip, das sich wiederum in ein rhythmischmelisches und ein laultlich-sinnliches Element unterscheide, sei ‚ästhetisch‘. Poesie als Verspoesie sei dadurch gekennzeichnet, dass das „musikalisch-ästhetische Prinzip der Wiederkehr des Gleichen dem logischen Prinzip selbständig entgegentritt“92. Beriger nennt in diesem Kontext die altgermanische Stabreimdichtung und die Psalmen, wo „die Wiederkehr des Gleichen zum Prinzip des Parallelismus und der Symmetrie der Glieder abgewandelt erscheint.“ 93 Parallelismus und Symmetrie ermöglichen das ‚Gegenspiel‘ mit dem logisch-syntaktischen Prinzip. Schließlich diskutiert Beriger die Möglichkeit ‚lyrischer Prosa‘ bzw. ‚Lyrik in Prosa‘, die er als eine „Zwitterform“ bezeichnet. 94 In ihr werde Handlung unwesentlich, „das innere Geschehen oder das innere Sein allein wesentlich“ 95. Der Versuch einer genauen Bestimmung unterbleibt. Die ihm bekannten Texte ordnet er entweder der Poesie oder der Prosa zu. Nietzsches Zarathustra enthalte zumindest teilweise lyrische Prosa, was nicht verwundert, da der Begriff der lyrischen Prosa früh für Nietzsches Zarathustra gebraucht wurde. 96 Bedenkt man, dass im neunzehnten Jahrhundert die lyrische Prosa als Unding gegolten hatte, 97 erstaunt es nicht so sehr, dass Beriger Schwierigkeiten hatte, die lyrische Prosa als dichterisches Medium zu akzeptieren. 98 Brochs Roman kann daher auch als indi_____________ 90 91 92 93 94
95 96 97 98
Beriger, Poesie und Prosa, S. 146. Ebd., S. 147. Ebd., S. 148. Ebd., S. 150. Ebd., S. 158f. – Schmid, Elemente der Narratologie, S. 160, spricht von ‚ornamentaler Prosa‘. Diese zeichne sich aus durch eine Überdeterminierung durch „das ‚Sprachdenken‘ der Poesie und durch spezifisch poetische Verfahren wie Paradigmatisierung, Rhythmisierung, Bildung thematischer und formaler Äquivalenz, d. h. durch die Dominanz der unzeitlichen Verknüpfungen über die zeitlichen“. Beriger, Poesie und Prosa, S. 158. Theobald Ziegler, Friedrich Nietzsche, Berlin 1900 (= Vorkämpfer des Jahrhunderts, 1), S. 120. „Eine lyrische Prosa kann es nicht geben“, heißt es 1835 in: Neues Rheinisches Conversations-Lexicon: oder Encyclopädisches Lexicon der gebildeten Stände, Bd. 9, Köln 1835, S. 786. Auch wenn Leo Spitzer diagnostizieren konnte: „Wir sondern nicht mehr streng Prosaund dichterischen Stil; wir sondern nicht mehr literarischen Stil und die Ausdrucksformen mündlicher Rede; wir sondern nicht mehr Schriftsprache und Dialekt“ (Leo Spitzer, Sprachmengung als Stilmittel und Ausdruck der Klangphantasie, in: Ders., Stilstudien, Bd. 2, S. 84–124, hier S. 84).
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rekte Antwort auf eine Frage verstanden werden, die sich aus den Aporien der deutschen Literaturwissenschaft ergab. Wichtiger für das Verständnis von Brochs lyrischer Prosa sind die Ausführungen von Karl Vossler unter dem Titel Poesie und Prosa.99 Sie deuten die innere Form der Prosa als die logische Form, für die sich Broch nachweislich interessiert hat. 100 Vossler versteht den Satz als ein „sprachliches Gebilde, das in letzter Hinsicht zum Ausdruck eines logischen Gedankens dient.“ 101 Im Satzaufbau erfahre das „syntaktische Prinzip“ Bestätigung; in der Poesie hingegen bleibe „die syntaktische Struktur nebensächlich, latent, immanent und ordnet sich der rhythmischen, metrischen Gruppierung unter“ 102. In der Prosa trete sie desto schärfer hervor, „je entschiedener der Prosaiker sich vom poetischen Stil und vom lyrischen Stimmungswesen entfernt.“103 Sobald die „innere Form, die Meinung und Inspiration eines Autors auf das Logische geht, wird sein sprachlicher Ausdruck eo ipso sich auf die syntaktische Seite stützen“104. Auf der anderen Seite setzt Vossler den Begriff des Lyrischen gegen das Logische. Gehe ein Autor auf das Lyrische, bleibe sein Satzbau zwar weiterhin „kunstvoll und berechnet“, werde aber zu einem „Zierpfeiler“; anders im Prosasatz, wo der Satzbau mit einem „Tragpfeiler“ vergleichbar sei. 105 Vosslers Bemerkung, die Syntax sei für Lyrik weniger bedeutsam, mag verwirren. 106 Gemeint ist aber, dass die Syntax in ihr nicht mehr Ausdruck des Logischen ist wie in der Prosa. Die Parallele zu Broch, die daneben in der lyrischen Poesiekonzeption vorliegt, geht eben gerade aus der Zentralstellung der Syntax als tertium comparationis hervor. Es ist die Rolle der Syntax, die in der Poesie und Prosa differiert, aber für beide Bereiche entscheidend ist. Die Analyse der Poesie/Prosa-Diskussion macht literaturwissenschaftliche Möglichkeitsräume sichtbar, auf die Brochs indirekte Prosa-Kritik seiner Syntaxtheorie bezogen ist. In dem Vortrag Einige Bemerkungen zur Philosophie und Technik des Übersetzens, den Broch 1946 auf Einladung Professor Hermann J. Weigands im Germanic Club der Yale University hielt, erwähnt er den Unterschied von Satz- und Gedichtfunktion: „erst im _____________ 99 100 101 102 103 104 105 106
Karl Vossler, Poesie und Prosa, in: Ders., Gesammelte Aufsätze zur Sprachphilosophie, München 1923, S. 212–232. Das Verständnis der prosaischen als der logischen Rede war bereits im neunzehnten Jahrhundert unterschwellig vorhanden gewesen, vgl. Nebrig, Poesie oder Prosa?, S. 174–176. Vossler, Poesie und Prosa, S. 226. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd. S. auch die Kritik bei Beriger, Poesie und Prosa, S. 143f.
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IV. Synthesen poetologischer Antagonismen
Gesamtorganismus des Gedichts, in dem der Satz sozusagen zu einer einzigen Gedichtvokabel wird, läßt er seine ganze Fülle erfassen.“ 107 Voraus geht eine vereinfachte Darstellung der Syntaxtheorie. Brochs Begriff der Syntax ist synonym mit dem der Grammatik im sprachwissenschaftlichen Sinn: Alles Rationale, alles Logische der Welterfassung manifestiert sich in der Sprache, ebenso die Logik selber, mag sie auch durch mathematische Zeichen darstellbar sein. Und gerade die Logik weist darauf hin, daß aller Sprachstruktur, unbeschadet der verschiedenen Grammatiken, in denen sie sich konkret äußert, eine MetaSyntax zugrunde liegt. 108
Brochs Titel Über syntaktische und kognitive Einheiten (1946) klingt nicht nur wie eine Übersetzung von Karl Vosslers Titel Über grammatische und psychologische Sprachformen (1919), sondern der Aufsatz liest sich wie dessen Kontrafaktur. Nachweislich hat Broch Vosslers Aufsatz Über grammatische und psychologische Sprachformen studiert, der 1919 in der Zeitschrift Logos erschienen war und in die Gesammelten Aufsätze zur Sprachphilosophie übernommen wurde. 109 Vossler widmet sich darin der von sprachwissenschaftlichen Philologen wie Hermann Paul gemachten Beobachtung, dass die grammatische Ordnung eines Satzes – das „syntaktische[] Gebilde[]“, „Satzgebilde“ oder „sprachliche[] Gebilde“110 – mit der eigentlichen vom Sprecher oder Schreiber gemeinten Aussage nicht korrespondiert. Bis heute bildet die Frage nach dem Verhältnis von sprachlich-grammatischer Form und der kognitiven Bedeutung ein Hauptgebiet der Linguistik. Broch interessiert sich bei der Lektüre vor allem für den „psychologischen Zusammenhang“ 111. Die entscheidende Stelle, die er bei Vossler anstreicht, folgt auf eine Analyse von Goethes Gedicht Neue Liebe, neues Leben, das als Beispiel für eine „Sprache als Ausbruch innerer Leidenschaften, als Entladung und Lyrik“ 112 angeführt wird. Vossler widerspricht hier vehement Hermann Paul, der versucht hatte, an dem Gedicht tatsächlich psychologische Subjekte von psychologischen Prädikaten zu unterscheiden. Vossler streitet _____________ 107 KW IX/2, S. 79. 108 Ebd., S. 69. 109 Zu Brochs Lektüre s. Amann/Grote, Die Wiener Bibliothek Hermann Brochs, S. 154. – Hier zitiert nach Karl Vossler, Über grammatische und psychologische Sprachformen [1919], in: Ders., Gesammelte Aufsätze zur Sprachphilosophie, München 1923, S. 105–151. 110 Ebd., S. 108, 120, 121. 111 Von Broch unterstrichen, hier zitiert nach Karl Vossler, Ueber grammatische und psychologische Sprachformen, in: Logos 8 (1919), S. 1–29, hier S. 5, Anm. 2. Universitätsbibliothek Klagenfurt IBR 95253 Ex. 2. Für die freundliche Bereitstellung des Materials danke ich Frau Elke Wölcher und Frau Waltraud Vanek. 112 Ebd., S. 5.
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ab, dass es Sätze gebe, die man psychologisch isolieren könnte: „Erstreckt sich nicht unser sprachliches Leben von der Wiege ohne Unterbrechung bis zum Grabe? Ja, es fließt sogar über diese Grenzen hinweg und flutet in das sprachliche Vor- und Nachleben unserer Mitwelt hinaus.“113 Den folgenden Satz strich Broch an: Und ferner wird niemand uns beweisen können, daß in einem Satzgebilde, mag dieses nun isoliert d. h. aus einer Pause auftauchen oder in zusammenhängende Rede sich verflechten, daß das seelisch Bedeutsamere auch immer etwas Neues sein müsse, daß zu etwas Bekanntem hinzutrete. 114
Auch Vosslers Versuch, an Goethes Gedicht die Unmöglichkeit zu zeigen, psychologische Einheiten zu isolieren, ist für Broch wichtig. Nach Vosslers Hinweis: „Was der grammatischen Form nach sich als eine Aussage darstellt, ist eben, der seelischen Meinung nach etwas ganz anderes“, markierte Broch eigens die Stelle: „ein Ausbruch, in dem es schlechthin keine Subjekte noch Prädikate mehr gibt.“115 Die psychologische Seite der Sprache meine etwas anderes als die eigentliche der Grammatik sage. Vossler geht es um die Inkongruenz von Grammatik und Intention. Bei Vossler lautet der Sachverhalt: „Jeder Sprechende hat ein seelisches Streben, d. h. er ‚meint‘ etwas; […] Im Meinen liegt der seelische Wert der Sprache.“ 116 Broch, den Psychologismus kritisierend, spricht statt von psychologischen Kategorien von kognitiven Einheiten: Von der Sprache her wird nichts ‚gemeint‘, vielmehr wird sie, unbeschadet der Autonomie, von einem ‚meinenden Akt‘ der Erkenntnis dirigiert, und ihre Strukturgebilde, also vor allem die Syntax-Einheiten wie der Satz, der Absatz usw. werden bloß dann sinnvoll, und zwar ebensowohl im sprachlichen wie im kognitiven Verstande sinnvoll, wenn als Ergänzung zu ihnen ideale, nicht-empirische Kognitiv-Gebilde angenommen werden, mit denen sie in einem Entsprechungsverhältnis stehen und deren Ausdruck sie sein sollen […] 117.
Broch bezeichnet die kognitiven Einheiten, „welche von der ‚meinenden‘ Erkenntnis den Syntax-Einheiten beizugesellen sind,“ 118 als EidosEinheiten. Diese sind nicht wie bei Vossler psychologisch-intentional gedacht, sondern erkenntnistheoretisch als idealistische Wesenheiten. Worauf es Broch aber ankommt, ist weniger eine Dekonstruktion von Vosslers Ansatz als die Fortsetzung der von Vossler angerissenen Prob_____________ 113 114 115 116
Ebd. Ebd. Ebd., S. 6. Vossler, Über grammatische und psychologische Sprachformen [1919], hier wieder nach den Gesammelten Aufsätzen von 1923 zitiert, S. 104. 117 KW X/2, S. 246–299, hier S. 249. 118 Ebd.
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IV. Synthesen poetologischer Antagonismen
lemstellung im Lichte seiner eigenen Syntaxtheorie. Vossler stellt zunächst verschiedene Formen der Inkongruenz zwischen grammatischer und psychologischer Ebene vor. Die einfachste trete auf, sobald der Sprecher sich „fahrlässig, ungenau, übereilt oder ungeschickt“ ausdrückt. 119 Der zweite Fall grammatischer Ambiguität trete ein, wenn ein Sprecher unentschieden und „zwischen verschiedenen seelischen Meinungen umhergetrieben wird: so daß er sich nicht in der Grammatik, sondern in sich selbst verstrickt.“120 Drittens stellt Vossler die Möglichkeit eines gezielten Konterkarierens der Grammatik vor. Stark normierte Sprachen fordern es nach Vossler geradezu heraus, ihre Regeln des Ausdrucks zu durchkreuzen, um dadurch einen Ausgleich „zwischen grammatischer Struktur und seelischer Meinung zugunsten der letzteren“ 121 wiederherzustellen. Eine letzte Inkongruenz entstehe, wenn die Sprache im Übergang von der Mündlichkeit zur Literatursprache noch nicht ausreichend normiert ist, wodurch notwendig grammatische Ambiguitäten aufträten. Ein gezielter Normbruch sei andererseits nicht möglich, „weil die literarische und sprachliche Geselligkeit noch nicht organisiert war.“122 Diese vier Aspekte mögen zwar auch für den Sprachexperimentator Broch aufschlussreich gewesen sein, aber sein Interesse richtete sich in der Lektüre auf anderes. Vossler stellt daran anschließend die Frage, ob es denn überhaupt den Fall der Deckungsgleichheit zwischen grammatischer und psychologischer Form gebe, ob die „Übereinstimmung der seelischen Meinung mit dem sprachlichen Ausdruck eine empirische Tatsache, ein natürliches Gesetz oder ein festes Ideal sei?“ 123 Vossler sieht die Übereinstimmung als Tatsache in der alltäglichen Praxis vorherrschen, als Norm oder Gesetz in dem Umstand, dass Abweichungen als Fehler erkannt werden. Als Ideal lässt er sie zunächst nicht gelten, weil „gerade die feinste Sprachkunst eine gewis_____________ 119 Dann entstünden Aussagen wie „Dieser Weg ist kein Weg. Wer es dennoch tut, bekommt zwei Tage Haft oder zehn Mark“ (Vossler, Über grammatische und psychologische Sprachformen [1919], hier wieder nach den Gesammelten Aufsätzen von 1923 zitiert, S. 124). Das Werk Benvenuto Cellinis weise solche Fehler auf. 120 Ebd., S. 125. Vossler, der es ‚Idiotie‘ im neutralen Sinn nennt, kennt dafür prominente Fälle aus der Literaturgeschichte wie Nietzsche oder Paul Verlaine. 121 Ebd., S. 129. Die gesamte Avantgardepoetik erklärt sich Vossler dadurch. 122 Ebd., S. 133. Genauso weiß Vossler, „daß der allgemeine Sprachgebrauch klar, fest und einheitlich sein muß, wenn die Rede des Einzelnen sich mit ausdrucksvoll persönlichem Schnitt in erkennbaren Formen darauf abzeichnen soll“ (ebd.). Auf allen Ebenen der Sprache werde ein ‚psychologisch-formales Wechselspiel‘ (ebd., S. 142f.) wirksam für den geschichtlichen Verlauf der Sprache. Stilmittel wie die ‚erlebte Rede‘, so Vossler, würden erst möglich, sobald direkte und indirekte Rede klar definiert sind. Das „Widerspiel formaler und schulmäßiger Überlieferung gegen individuelle Motive seelischer Zugkraft“ (ebd., S. 146) halte letztendlich „unsere Umgangssprache […] in jener steten Bewegung, die man Entwicklung nennt“ (ebd., S. 151). 123 Ebd., S. 148.
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se Gegensätzlichkeit oder Spannung zwischen grammatischen und psychologischen Kategorien, zwischen herkömmlichen und ursprünglichen Ausdrucksformen nötig hat, um gedeihen zu können.“ 124 Schließlich reißt er aber dennoch zwei Möglichkeiten auf: „demnach kann die volle, restlose Übereinstimmung höchstens noch als ein fernes, den Rahmen der historisch gegebenen Sprachen überschreitendes Ideal gedacht werden.“ 125 Entweder ordne sich das Seelische dem Formalen unter, also in Richtung auf eine absolute, übersprachliche Grammatik; oder aber im Sinne der Auflösung alles Formalen und Typischen in der geheimnisvollen Meinung und Inspiration des Individuums, also in der Richtung auf eine übersprachliche, von der Technik des Wortes sich ablösende Sprachkunst. 126
Für die ‚absolute Grammatik‘ kennt Vossler allein die Mathematik: „Der volle Ausgleich zugunsten eines allgemeinen und unbedingt richtigen Ausdrucks“ 127 sei nur hier denkbar. Eine „absolute Sprachkunst“ hält Vossler dagegen als Leistung der Phantasie für möglich: „Der volle Ausgleich zugunsten einer einzigartigen seelischen Meinung, die aus sich selbst ihren Ausdruck erzeugt“ 128, werde durch die Phantasie verwirklicht. „Der phantasiestarke Künstler vermag sich denjenigen Ausdruck zu schaffen, der unverfälscht die Ursprünglichkeit seiner seelischen Meinung darstellt.“129 An diesem Punkt setzt Broch mit seiner platonischen Eidos-Theorie in Über syntaktische und kognitive Einheiten an. 130 Wenn sich die Mathematik eine Sprache geschaffen habe, „in der sich Gedanke und Ausdruck bis zur Identität decken“131, so hofft er, „daß das Problem des Sprachsymbols, das Problem seines Verhältnisses zur Eidos-Einheit, kurzum das Problem der Syntax-Einheiten die ihm notwendige Aufhellung gerade vom Sprachkunstwerk her empfangen werde“ 132. Brochs Über syntaktische und kognitive _____________ 124 125 126 127 128 129 130
Ebd. Ebd. Ebd., S. 148f. Ebd., S. 149. Ebd. Ebd. Vgl. zur Syntax-Studie Roesler-Graichen, Poetik und Erkenntnistheorie, S. 22–52, der in der Arbeit das phänomenologische Interesse differenziert: „Die in die ‚Syntax-Studie‘ eingeflossenen phänomenologischen Gedanken, vor allem die Auffassung des Sprachausdrucks als Ergebnis einer Verbindung von sprachlautlicher Schicht und Meinungsakt sowie die Annahme ‚eidetischer‘ Bestände, rechtfertigen allerdings nicht die Behauptung, daß Broch mit diesem Text eine phänomenologische Sprachtheorie oder gar Poetik entwickelt. Ein Blick in die phänomenologische Literaturtheorie zeigt, daß Broch das Verhältnis zwischen syntaktischen und eidetischen Einheiten zu schematisch beschreibt und bestimmte Differenzierungen unterläßt“ (ebd., S. 77). Zur Syntax-Studie ebd., S. 22–52. 131 KW X/2, S. 257. 132 Ebd., S. 268.
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IV. Synthesen poetologischer Antagonismen
Einheiten versucht die von Vossler aufgeworfene Frage nach dem absoluten Sprachkunstwerk für eine nicht mehr psychologisch-intentionale, sondern kognitive Syntaxtheorie zu beantworten – in der poetischen Praxis antwortet auf Vossler die lyrische Prosa im Tod des Vergil. Der zirkuläre Gedanke, dass die lyrische Prosa, die Erkenntnis und Grammatik zur Deckung bringt, paradoxerweise die Differenz von Poesie und Prosa zum Gegenstand hat, sei im Folgenden auseinandergelegt. 2.3. Lyrische Prosa und geschichtsphilosophische Erkenntnis Die Differenz von lyrischem und prosaischem Sprechen hatte Broch bereits in Die Schlafwandler interessiert. Gerade der erste Teil Pasenow oder die Romantik durchbricht gelegentlich den fortschreitenden Lauf der Prosa durch den Einsatz von Wiederholungsmustern, Interjektionen und Apostrophen, um irrationale Erfahrung zu markieren, z. B. ekstatische Zustände. 133 Im dritten Teil, Huguenau oder die Sachlichkeit, stört die Erzählung Geschichte des Heilsarmeemädchens in Berlin mehrfach den prosaischen Verlauf. Das Lied des Mädchens bringt die dahinter stehende Strategie auf den Punkt: „Gar manches läßt sich bloß in Versen sagen, | So sinnlos scheint es dem, der bloß in Prosa spricht“ 134. Seit der Romantik ist die Integration der Prosa in die Poesie das deutlichste Signal dafür, dass die Einheit der Poesie nicht mehr existiert bzw. dafür, dass zwischen dem Bewusstsein des Dichters und seiner Lebenswelt ein Abgrund sich auftut, dessen Überbrückung zum Thema moderner Poesie wird. Broch lässt Vergil kurz vor dem Tod erkennen, dass er diesen Abgrund zeit seines Lebens ignoriert habe und am Horizont seines Schaffens nicht die Wirklichkeit stehe, sondern eine ins Heroische übersteigerte Vergangenheit. Die der Vergil-Vita entnommene und auch von Rudolf Borchardt aufgegriffene Frage, weshalb der Dichter am Ende sei_____________ 133 Vgl. Broch, Die Schlafwandler (KW I, S. 44f.): „gezogen von der eigenen Bangigkeit und hingezogen von der ihren, wie im Traume schon beide, schlafwandelnd sie hinaufstiegen, die dunkle Treppe, die unter den Füßen knarrte, dunklen Vorraum durchquerten […]. Oh, wie war dies fürchterlich […]: oh, Erlösung ihr Lächeln. […] Oh, Bangigkeit des Lebens […].“ 134 Broch, Die Schlafwandler (KW I, S. 429). Der Satz korrespondiert mit der romantischklassischen Sicht Goethes, der den Unterschied zwischen Prosa und Poesie in der höheren Phantasieleistung Letzterer sah: „Wenn durch die Phantasie nicht Dinge entständen, die für den Verstand ewig problematisch bleiben, so wäre überhaupt zu der Phantasie nicht viel. Dies ist es, wodurch sich die Poesie von der Prosa unterscheidet, bei welcher der Verstand immer zu Hause ist und sein mag und sein soll“ (Johann Wolfgang Goethe gegenüber Johann Peter Eckermann am 5.7.1827, in: Johann Peter Eckermann, Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens, hg. v. Heinz Schlaffer, München 1986 [= Johann Wolfgang Goethe, Sämtliche Werke nach Epochen seines Schaffens, 19], S. 232).
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nes Lebens das nicht vollendete Hauptwerk, die Aeneis, vernichten wolle, 135 beantwortet Broch zweifach: Einerseits fehle dem Werk jeglicher Wirklichkeitsbezug, andererseits sei die ethische Zielsetzung falsch. Beide ineinander verschränkte Antworten entwickelt der zweite Teil, der unter dem Titel Abstieg steht. Der dritte, Erwartung betitelte Teil bildet die rationale Diskursivierung im Medium des ästhetisch-philosophischen Dialogs, dessen Höhepunkt das Gespräch zwischen Augustus und Vergil ist. 136 Die eigentliche Entwicklung der Gedanken geschieht im zweiten Teil als dem Kern von Brochs ästhetischem ‚Experiment‘ (Thomas Mann). Die Sprache, die er darin entwickelt, hebt den Antagonismus von Poesie und Prosa in einer lyrischen Prosa auf und soll die dichterische Erkenntnis in einer idealtypischen Syntax zum Ausdruck bringen. Brochs Vergil-Kenntnisse entsprachen dem allgemeinen Stand, der sich im Vorfeld und während der Jubiläumsfeier von 1930 in diversen Schriften für eine breite Öffentlichkeit formiert hatte;137 ihr hauptsächlicher Vermittler war Theodor Haecker, dessen philosophische Schrift Was ist der Mensch? Broch gleichfalls zur Kenntnis nahm. Haeckers ganzheitlicher Humanismus musste für einen Autor wie Broch, der die moderne Welt in unzählige partiale Wertsysteme zerfallen sah, attraktiv sein. Haecker beobachtet eine gegenläufige Tendenz in der Wissenschaftsentwicklung seiner Zeit. Einer analytischen, alle Einheiten auflösenden Naturwissenschaft, die sich bewusst abwendete vom Systemdenken, stehe eine Geisteswissenschaft gegenüber, die „große und kleine und kleinste geschlossene Menschentypen und Kreise“ 138 entdecke. Gegen die Menschen_____________ 135 Vgl. auch Rudolf Borchardt, Über den Dichter und das Dichterische, in: Ders., Prosa I, hg. v. Marie Luise Borchardt, Stuttgart 1957, S. 38–70, hier S. 50: „Virgil, in dem Augenblick, in dem die Äneis fast abgeschlossen vor ihm liegt, krank auf dem Schiff, das ihn nach Italien tragen soll, gibt seinen Freunden, die bei ihm sind, den bekannten Befehl, sie zu vernichten. Höchst auffallend!“ Borchardt nennt eine Reihe ähnlicher Fälle von Tasso bis Kleist, eine Spezifik des Dichtertums darin sehend, das eigene Werk vernichten zu wollen. 136 Zur platonischen Tradition dieser Unterhaltung s. Frode Helmich Pedersen, „Und wie du mich hassest!“ Das Gespräch zwischen Vergil und Augustus in Hermann Brochs Roman „Der Tod des Vergil“ im Lichte des platonischen Dialogs, in: Text & Kontext 28 (2006), H. 2, S. 35–55. 137 Dies stellt heraus Theodore Ziolkowski, Broch’s Image of Vergil and Its Context, in: Modern Austrian Literature 13 (1980), H. 4, S. 1–30, bes. S. 8–10. Sein Fazit lautet (ebd., S. 12): „As an autodidact with no classical backround, he was limited in his knowledge of Vergil essentially to what he learned from Haecker’s books. (The passing reference to the Aeneid, as we noted, suggests no familiarity with that work.)“ – Zu den wichtigsten Reden (alle abgedruckt in: Hans Oppermann [Hg.] Wege zu Vergil. Drei Jahrzehnte Begegnungen in Dichtung und Wissenschaft, Darmstadt 1966 [= Wege der Forschung, XIX]) gehören u.a. Borchardt, Vergil, Ernst Robert Curtius, Zweitausend Jahre Vergil, Walter F. Otto, Vergil, Wolfgang Schadewaldt, Sinn und Werden der vergilischen Dichtung, Wjatscheslaw Ivanov, Vergils Historiosophie. 138 Theodor Haecker, Vergil Vater des Abendlands, Leipzig 1931, S. 12.
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und Gesellschaftstypen erforschende Geisteswissenschaft setzt er eine ganzheitliche humanistische: „Ich will keinen Augenblick die Ganzheit, die Totalität des Menschen auslassen.“ 139 Wenn sich der konvertierte Katholik Haecker gegen die Abgrenzung in germanische und romanische Welt wendet, dann weiß er um die „natürliche Katholizität des Wahren und des Schönen“140. Vergil wird dabei zum Fixstern 141 dieser katholischen Humanität. Die geistesgeschichtlich orientierte Typenlehre wird jedoch nicht von der Philologie ersetzt, deren Methode mehr der Naturwissenschaft ähnle. Folglich sei die „philologisch-ästhetische Erklärung“ Vergils ein Falsum, das die „Zersetzung des Ganzen, ausgeführt durch zersetzte Geister“142, befördere. Ebenfalls kritisiert Haecker die Wissenschaftsgeneration des George-Kreises: „Die Geschichte vom Mittelalter, die uns Georgeschüler dichten, ist ein ungeheures Falsum […], weil sie über den Glauben schreiben zu können meinen – ohne den Glauben“143. Haecker predigt die Liebe zur anima Vergiliana 144 und weiteren poetischen Geistern. Philologie wäre demnach die Liebe zum Geist des Autors. Dabei steht nach Haecker Vergil für den Eros selbst, 145 es ist die Rede von der „Eschatologie des Vergilischen Menschen“ 146, weshalb die vierte Ekloge auch die messianische Ekloge genannt werde. Das Revolutionäre dieser Vergil-Deutung wird erkennbar vor dem Hintergrund einer seit der Aufklärung bestehenden Abwertung Vergils als eines gelehrten, vor allem aber nicht ursprünglichen Ependichters. Die im achtzehnten Jahrhundert einsetzende Ablösung Vergils durch Homer als Muster des Epos hatte gleichfalls zu einer Herabsetzung des lateinischen Dichters geführt. Die Epenphilologie operierte dabei mit der Opposition von Volksepos und Kunstepos. Vergil habe nur ein Kunstepos gedichtet, Homers Epos sei hingegen poetischer Ausdruck einer archaischen Gemeinschaft. Friedrich August Wolfs, Jacob Grimms, Friedrich Schlegels und Karl Lachmanns Bemühungen, die Autorschaft Homers durch den Volksgeist zu ersetzen, machte dessen Werke umso attraktiver. Hegels epischer Zustand, sein Postulat eines eigentlichen Epos bei Homer, führte genau zu derselben Disqualifizierung der Aeneis als gelehrter, nicht mehr authentischer, da sekundärer Poesie. _____________ 139 140 141 142 143 144 145 146
Ebd., S. 21. Ebd., S. 128. Ebd., S. 127. Ebd., S. 21. Ebd., S. 24. Ebd., S. 141–148. Ebd., S. 135. Ebd., S. 136.
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Ohne dass dies jedes Mal eigens ausgesprochen werden müsste, strukturiert die geschichtsphilosophische Opposition von Poesie und Prosa die romantische Konfrontation von Homer und Vergil. Der Verdacht, Vergil habe Prosa in Versen geschrieben, wobei dann mit Prosa eine bestimmte Geisteshaltung gemeint ist, blieb nach 1930 bestehen. Er ergibt sich aus der Poesie/Prosa-Semantik. Für Goethe ist die Poesie im Divan-Kommentar „immer Ausdruck eines aufgeregten erhöhten Geistes, ohne Ziel und Zweck.“ 147 Prosa jedoch ist überall definiert als Rhetorik, als zweckgerichtete Rede. Somit kann Schellings in der postumen Philosophie der Kunst vorgebrachte Kritik an Vergil, er verfolge einen „bestimmten Zweck“, und zwar die Gründung Roms, einen Zweck, der Homers ‚erhabener Zufälligkeit‘ abgehe, 148 in die Sichtweise überführt werden, Homer sei Poesie, Vergil aber Prosa. Brochs Vergil-Kritik, die als Selbstkritik des Autors Vergil im Roman formuliert ist, ordnet sich in diese Traditionslinie ein. Es geht darum, die ‚wahre Dichtung‘ wiederzugewinnen, indem man erkennt, bislang nur zweckorientiert gedichtet zu haben. Vergils Aeneis, die bildungsmächtigste Dichtung bis in das achtzehnte Jahrhundert, muss daher verbrannt werden. Treibende Kraft des Geschehens ist der Wunsch Vergils, die Aeneis, sein römisches Nationalepos, zu vernichten. Zugleich partizipiert Der Tod des Vergil an der geschichtsphilosophischen Epostheorie und greift die Frage nach der Möglichkeitsbedingung und Aufgabe des epischen Dichtens in der Moderne auf, wie sie von Georg Lukács aufgeworfen worden war. Dieser hatte keinen grundsätzlichen Unterschied zwischen Epos und Roman behauptet, sondern beide Gattungen mit ganzheitlicher Wirklichkeitserfahrung in Verbindung gebracht. Nur für das Epos sei die Ganzheit der Welt gegeben gewesen; der Roman hingegen, geschichtsphilosophisch von Lukács als moderne Gattung konzipiert, sollte diese Ganzheit erst wiederfinden, motiviert durch das Strukturmerkmal der ‚Gesinnung zur Totalität‘. 149 Wirklichkeitsdarstellung ist demnach vor allem eine Syntheseleistung, durch die eine als zersplittert erfahrene Gegenwart wieder zur Einheit geführt werden kön_____________ 147 Goethe, Besserem Verständniß, in: Ders., Sämtliche Werke, Bd. 3/1: West-östlicher Divan, S. 205. 148 Friedrich Wilhelm Joseph von Schelling, Philosophie der Kunst (Aus dem handschriftlichen Nachlaß). Erstmals vorgetragen zu Jena im Winter 1802 bis 1803, wiederholt 1804 und 1805 in Würzburg, in: Ders., Sämmtliche Werke, Bd. I/5, Stuttgart/Augsburg 1859, S. 353–736, hier S. 655. Vgl. zu dieser Stelle Bernd Auerochs, Die Entstehung der Kunstreligion, Göttingen 2006 (= Palaestra, 323), S. 210. 149 Vgl. Georg Lukács, Die Theorie des Romans. Ein geschichtsphilosophischer Versuch über die Formen der großen Epik, Berlin 1920 [zuerst in Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft (1916)], S. 44: „Der Roman ist die Epopöe eines Zeitalters, für das die extensive Totalität des Lebens nicht mehr sinnfällig gegeben ist, für das die Lebensimmanenz des Sinnes zum Problem geworden ist, und das dennoch die Gesinnung zur Totalität hat.“
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IV. Synthesen poetologischer Antagonismen
ne. Auch für den Romancier Broch hat „das Dichtwerk […] in seiner Einheit die gesamte Welt zu umfassen“ und „die Kosmogonie der Welt zu spiegeln“ 150. Interessanterweise hatte Lukács einzig in der Lyrik noch die Möglichkeit gesehen, den Widerspruch von Ich und Welt aufzuheben, weshalb es für Broch nahe lag, daraus eine Lyrisierung des Romans abzuleiten. 151 Broch greift den topischen Gegensatz von Homer und Vergil auf, indem er nur dem Griechen die Leistung zuspricht, Wirklichkeit wiedergegeben zu haben, der Römer Vergil aber habe ein reines Kunst-, d. h. Scheinprodukt geschaffen, das mit Wirklichkeit nichts zu tun habe. Wahre Kunst aber sei Wirklichkeit. Über Homers Epos lässt Broch Vergil denn auch zu seinem Kaiser Augustus sagen: „‚Oh Augustus, alles war schlichte Wirklichkeit bei Homer … sie war seine Erkenntnis‘“ (TV 337). Wenn ein mögliches Verständnis von Prosa Wirklichkeit ist, bedeutet das für die Aeneis, Vergil habe sich der Prosa seiner Lebenswelt nicht gestellt. Er inszenierte die Staatsgründung Roms als Mythos, der nichts mit der augusteischen Wirklichkeit gemein hatte. Brochs Vorwurf an den Dichter der Aeneis kann dahingehend interpretiert werden, dass er die Prosa als die Wirklichkeit seiner Gegenwart einfach negierte und in der Poesie des schönen Scheins eine nicht existente Gegenwelt erzeugte. Anders als bei Homer, für den die Einheit von Epos und Mythos gleichbedeutend mit der Wirklichkeit war und der keinen Gegensatz von Poesie und Prosa kannte, sind Mythos und Epos Schablonen der Literaturgeschichte und der Unterschied von Poesie und Prosa eine Gefahr dafür, als Autor einseitig Partei für einen der beiden Aspekte zu ergreifen. Vergils Aufgabe hätte jedoch darin bestanden, diesen Gegensatz aufzuheben, Wirklichkeit zur Darstellung zu bringen und damit wahre Kunst zu schaffen. Vergil hingegen habe sich nur auf das Verfertigen schöner Verse verstanden. Zu sich selbst sagt Brochs Vergil: „[W]er einen Vers als solchen lobt, ohne sich um die vom Vers gemeinte Wirklichkeit zu kümmern, der verwechselt das Erzeugende mit dem Erzeugten“ (TV 228). Hierin besteht _____________ 150 Broch, Das Weltbild des Romans (KW IX/2, S. 115). 151 Vgl. Lukács, Die Theorie des Romans, S. 54. Auf diesen Zusammenhang hat bereits hingewiesen Manfred Durzak, Hermann Brochs Auffassung des Lyrischen, in: Publications of the Modern Language Association 82 (1967), H. 2, S. 206–216, hier S. 212, Anm. 21. – Eine andere Möglichkeit, auf die Pluralisierung der Erfahrung ästhetisch zu reagieren, entwickelte Michail M. Bachtin, Das Wort in der Poesie und das Wort im Roman, übers. v. Rainer Grübel/Sabine Reese, in: M. B., Die Ästhetik des Wortes, hg. v. Rainer Grübel, Frankfurt a. M. 1979, S. 168–191, bes. S. 186–191, und Michail Bachtin, Epos und Roman. Zur Methodologie der Romanforschung [übers. v. Michael Dewey], in: Ders., Formen der Zeit im Roman, hg. v. Edward Kowalski/Michael Wegner, Frankfurt a. M. 1989, S. 210– 251. Für Bachtin habe der Prosaist die Aufgabe, im Roman die Redevielfalt (Polyphonie) zu gestalten. Der Roman fungiert als synthetisches Supermedium, weil er alle anderen Diskurse in sich vereinen kann.
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jener ‚Eidbruch‘ (TV 228) mit den Göttern, für den sich Vergil schuldig bekennt. Das, was Der Tod des Vergil auf der Ebene des Geschehens als Erkenntnis des Scheiterns an der Wirklichkeit in Szene setzt, ist zugleich ein Gelingen auf der Ebene des ‚Romans‘. Vergils Erkenntnis, wie Dichtung nach dem Verlust der mythisch-epischen bzw. poetisch-prosaischen Einheit sein müsse, ist Gegenstand von Brochs Roman. Die Darstellung dieser poetologischen Erkenntnis, ihre Ästhetisierung, kann kaum anders erfolgen als in der sprachlichen Gegenläufigkeit von ungebundener und gebundener Rede. Diese beiden Formen entsprechen jenen beiden Zuständen, die in ihrer Differenz als Poesie und Prosa den modernen und den im Sinne Hegels epischen Weltzustand markieren. Nur hätte Hegel nie verlangt, die Kluft zwischen epischem und modernem Zustand wieder zu schließen, „der lyrische Gehalt aller Philosophie“ 152 wäre ihm ein Unding gewesen. Brochs implizite Romanpoetik schließt vielmehr an Friedrich Schlegels romantische Idee der ‚progressiven Universalpoesie‘ an 153 und gerade nicht an Hegel, der die Möglichkeit einer solchen verneinte, weil das Absolute in der Moderne allein durch die Philosophie, d. h. durch die wissenschaftliche ‚Prosa des Gedankens‘, erfahrbar sei. 154 Der zweite Teil des Romans dramatisiert mittels des synthetischen Potentials der lyrischen Prosa eine Erkenntnisszene, indem der Vers die ungebundene Rede nicht bloß unterbricht, sondern versucht, ein Kontinuum zwischen gebundener und ungebundener Rede zu erzeugen, also zwischen Poesie und Prosa. Hieraus erklärt sich das, was Broch im Autokommentar als lyrische Prosa155 bezeichnet hat. Dieses Sprechen überbrückt die Differenz von alogischer und logischer Sprache: Nun: die Logizität im alogischen Erleben ist für das Kunstwerk keineswegs etwas Neues, im Gegenteil, sie gehört zur Grundlage des künstlerischen Schaffens, und sie hat in ihm durch alle Zeiten hindurch ihren Niederschlag gefunden, nämlich im lyrischen Gedicht. 156
Broch, der das Lyrische auch als „eine bestimmte Bewußtseins- und Erkenntnisform“ 157 begreift, ist der festen Überzeugung, dass die Lyrik das Alogische „ins Logische“ einspanne, indem sie es „zwischen den Worten _____________ 152 Hermann Broch, Geist und Zeitgeist [1934] (KW IX/2, S. 177–218, hier S. 195). 153 Der, wie Wienold, Die Organisation eines Romans: Der Tod des Vergil, in: Lützeler (Hg.), Materialien zu Hermann Broch ‚Der Tod des Vergil‘, S. 251–279, hier S. 276, bemerkt, „an diesem Buch seine Freude“ gehabt hätte. – Zu F. Schlegels Prosa-Begriff s. Peter Schnyder, Die Magie der Rhetorik. Poesie, Philosophie und Politik in Friedrich Schlegels Frühwerk, Paderborn 1999, S. 51–55. 154 Vgl. Nebrig, Poesie oder Prosa?, S. 163–167. 155 Hermann Broch, Erzählung vom Tode (KW IV, S. 459–464, hier S. 462). 156 Ebd. 157 Durzak, Brochs Auffassung des Lyrischen, S. 206.
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IV. Synthesen poetologischer Antagonismen
und Zeilen ungesagt schweben“ lasse. 158 Nimmt man Broch ernst, dann ist die Synthese von gebundener und ungebundener Rede nicht bloß im Sinne einer musikalischen Überhöhung der Literatur zu verstehen, sondern als einzig möglicher Ausdruck des modernen, nach Erkenntnis des Ich strebenden Dichters. Die Bestimmung der dichterischen Sprache als lyrischer Prosa reagiert auf die moderne Wissenschaft, die in ihrer Logizität zwar neue Erkenntnis schafft, aber immer auch andere wieder verschließt. Das alogische Moment besitzt demnach etwas Korrigierendes, nicht im Sinne eines Irrationalismus, sondern mit rationaler Absicht. Auch wenn Brochs Dichtung letztlich als unverständlich und esoterisch erscheint, beabsichtigte ihr Verfasser das Gegenteil: Klarheit über Realität. Diese wird von einem guten Gedicht ebenso gefordert: „es muß Realitätspartien verarbeiten, die prosamäßig nicht zu erfassen sind“ 159. Unmöglich ist es deshalb, Brochs lyrische Prosa in einfache Prosa zu übersetzen. Sie ist nicht an eine Metasprache anschlussfähig, da sie nicht mimetisch, sondern im Sinne der poetischen Funktion im Verständnis Roman Jakobsons verfährt. Die Ausdehnung des Wiederholungsprinzips, welches das lyrische Sprechen kennzeichnet, auf den literarischen Raum des Romans, kann unmöglich der linearen Entwicklung von Argumentationen dienlich sein, sondern bringt ein zirkuläres Sprechen hervor, das einzelne Schlüsselwörter wie Eid, Eidbruch, Wirklichkeit, Schönheit, Erkenntnis usf. umkreist. Die Frage, weshalb Broch, der als Lyriker hervorgetreten ist, nicht gänzlich auf die Romangattung und die sie tragende Prosa verzichtet hat, beantwortet sich damit, dass ein rein lyrisches Sprechen in Versen angesichts der modernen, von der Prosa der Wissenschaften geprägten Welt unangemessen gewesen wäre und Broch in diesem Fall denselben Fehler begangen hätte wie sein Protagonist Vergil. Das Lyrische entsteht als Antagonismus zur modernen Wissenschaft und ihren rationalprosaischen Diskursen. Gerade weil die Prosa in der Logik der Wissen_____________ 158 Broch, Erzählung vom Tode (KW IV, S. 462). – Das Lyrische bei Broch bestimmt Durzak (Brochs Auffassung des Lyrischen, S. 215) als in „Sprache umgesetzte Ekstase“; es habe nach Doppler (Die Funktion des Lyrischen in Hermann Brochs Roman „Der Tod des Vergil“, in: Thieberger [Hg.], Hermann Broch und seine Zeit, S. 154) die Funktion, die „Totalität aus der Totalität des erlebenden Ichs“ darzustellen, da das Lyrische die Einheit von Subjekt und Objekt gewährleistet: „In der lyrischen Aussageform wird die Platonische Idealität von Subjekt und Objekt realisiert“ (Durzak, Brochs Auffassung des Lyrischen, S. 215). Eine maßgebliche intertextuelle Beziehung besteht zum späten Rilke (vgl. JeanPaul Bier, Rilke und Broch. Parallelen zwischen den Duineser Elegien und den ‚Elegien‘ im Tod des Vergil, in: Lützeler [Hg.], Materialien zu Hermann Broch ‚Der Tod des Vergil‘, S. 295–305). Rechenschaft über sein eigenes Lyrikverständnis legt Broch in einer Analyse von Matthias Claudius’ Abendlied ab, in den Vorträgen Geist und Zeitgeist (1934) sowie Gedanken zum Problem der Erkenntnis in der Musik. Einen Überblick über diese Schriften gibt Roesler-Graichen, Poetik und Erkenntnistheorie, S. 12–16. 159 Hermann Broch an Hans Sahl am 24.7.1943 (KW XIII/2, S. 339f., hier S. 340).
2. Hermann Brochs Tod des Vergil und die lyrische Prosa
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schaft real geworden sei, müsse sie durch das Lyrische korrigiert werden. Versuche man hingegen die Dichtung komplett zu rationalisieren, entsteht nach Broch ‚Kitsch‘. 160 Dichtung ist insofern Erkenntnis, als sie danach strebt, neue sprachliche Formen zu finden und so neue Erkenntnis zu schaffen.161 Der dritte, dialogische Teil des Romans lässt sich daher als Unterbrechung der lyrischen Prosa und als Versuch verstehen, sie in rationale Rede zu überführen, die die gewonnene ‚Erkenntnis der Erkenntnis‘ begrifflich zusammenfasst: „‚Nirgends allerdings“, so Vergil, „ist die Erkenntnispflicht der Kunst so zwingend und bündig scharf vorgeschrieben wie im Bereich der Dichtung, denn die Dichtung ist Sprache, und Sprache ist Erkenntnis‘“ (TV 320). Indem Broch die sprachliche Gegenläufigkeit von ungebundener und gebundener Rede in einem synthetischen Sprachmedium aufhebt, gelingt ihm die Identität von poetischem Mittel und poetischem Zweck als der Darstellung von Vergils paradoxer Erkenntnis, dass die Kunst überflüssig sei. 162 Er überbrückt den Spalt zwischen dem schönen Schein der Versrede und dem prosaischen Leben, den seine Vergil-Figur erfährt, und erreicht, auf formaler Ebene wenigstens, einen synthetischen Effekt. Der Tod des Vergil „erklärt die Kunst für null und nichtig, indem es das Geschehen in einer von Broch selbst so charakterisierten lyrischen Prosa […] aufzulösen sucht.“ 163 Anders gesagt, erfüllt der Roman die Forderung von Lukács’ Romanpoetik nach Synthese der Wirklichkeit nur als formales Spiel mit der Literatur; er überblendet den konkret-historischen Wirklichkeitsbezug mit dem geschichtsphilosophischen, weshalb von der zeitgenössischen Wirklichkeit Brochs nichts zu sehen ist. Nur so kann der Effekt einer Synthese gelingen. Es ist wenig produktiv, Brochs Tod des Vergil nur negativ als „Zerstörung der geschlossenen Romanform“ 164 zu verstehen, zumal dies zu diesem Zeitpunkt wenig innovativ gewesen wäre. Wenn die ‚Struktur der Wirklichkeit‘ als eine gespaltene wahrgenommen wird, dann versucht dieser Roman gerade eine synthetische Sprache zu finden, denn, wie früh gesehen wurde, ging es Broch um „Totalitätsgestaltung“ 165, wozu ihm eine
_____________ 160 Durzak, Brochs Auffassung des Lyrischen, S. 210. 161 Ebd., S. 209. 162 Vgl. Bernhard Fetz, Das unmögliche Ganze. Zur literarischen Kritik der Kultur, München 2009, S. 162, der diese Einsicht mit Prämissen aus Luhmanns Kunsttheorie analogisiert. 163 Ebd. 164 Durzak, Brochs Auffassung des Lyrischen, S. 209. 165 Ebd., S. 210.
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IV. Synthesen poetologischer Antagonismen
rein prosaische Romanform nicht genügt hätte.166 Broch selbst formulierte dieses Programm in Das Weltbild des Romans: Das unendliche, niemals erreichte Ziel der Wissenschaft, ein Totalitätsbild der Erkenntnis zu gewinnen […], findet in der Kosmogonie und der einheitsstiftenden Syntax des Dichterischen zwar keine reale, wohl aber eine symbolhafte Erfüllung. 167
2.4. Vergils Anagnorismos: II Feuer – Der Abstieg Die positive Bestimmung des Dichterischen erfolgt performativ im Schreiben über die Erkenntnis der ‚falschen Dichtung‘ im zweiten Teil des Romans unter dem Titel Feuer – Der Abstieg (TV 71–218). Poetisches Medium der Erkenntnis ist die lyrische Prosa. Die Gliederung des Romans in die vier Elemente Wasser, Feuer, Erde, Äther verweist nicht nur auf die Lehre des Dichterphilosophen Empedokles aus dem fünften vorchristlichen Jahrundert, der Wissenschaft und Dichtung noch nicht trennte, 168 sondern spielt auf jene, von Friedrich Hölderlin in Der Tod des Empedokles (1800) dramatisierte Anekdote an, wonach sich Empedokles in den Vulkan Ätna stürzte, um ein Gott zu werden. Von Brochs Vergil wird ein analoger Absturz in den Tod mittels eines inneren Monologs in der dritten Person simuliert, welcher als Todeserfahrung das Ziel des Romans antizipiert. Obzwar syntaktisch in die Länge gezogen – Broch selbst zählt die Sätze des zweiten Teils „zu den längsten der Weltliteratur“ 169 –, bleibt der Satz, Brochs Syntax-Theorie gemäß, ein zusammenhängender Gedanke:170 Immer stehen die plutonischen Tore geöffnet, unvermeidlich ist der Absturz, von dem es keine Rückkehr gibt, und im Rausch des Sturzes meint der Mensch, es sei ein Sturz nach Aufwärts, meint es so lange, bis er dort, wo die Zeitlosigkeit der himmlischen Geschehnisse sich plötzlich als Gleichzeitigkeit und als ein Zusammentreffen im irdischen Bereich offenbart, bis er an solcher Zeitgrenze dem entgöttlichten Gott begegnet […]; die leere Oberfläche des unbewältigten Seins hatte sich mit einem Male da entblößt […], sich zu einem Nirgendwo aufgelöst, das
_____________ 166 Für Broch, konstatiert Durzak, ebd., S. 211, können konventionelle Gedicht- und Romanformen „die Ganzheit der modernen Wirklichkeit in ihrer formalen Begrenztheit“ nicht fassen. – Die von mir vertretene Ansicht folgt Richard Brinkmann, Romanform und Werttheorie bei Hermann Broch, in: DVjs 31 (1957), H. 2, S. 169–197, der die Romansprache als Lösung eines Sprachkonflikts auffasst. 167 KW IX/2, S. 116. 168 Vgl. Heizmann, Antike und Moderne in Hermann Brochs „Tod des Vergil“, S. 149. 169 Hermann Broch, Technische Bemerkungen zur Übersetzung [1944] (KW IV, S. 490–495, hier S. 492). 170 In seinen Paratexten (KW IV, S. 456–505) zum Roman findet sich dieser Gedanke mehrfach, z. B. Hermann Broch, Stilistische Regeln (KW IV, S. 488).
2. Hermann Brochs Tod des Vergil und die lyrische Prosa
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mit seiner Zufallsanheimgegebenheit sowohl Erkenntnis wie Wissen überflüssig macht und in Nutzlosigkeit hinschwinden läßt. (TV 138f.)
Ziel des Absturzes ist „das Namenlose selber“ (TV 139), dessen Gewinn den Roman beschließt. Über Vergil heißt es im letzten Satz: „er konnte es nicht festhalten, und er durfte es nicht festhalten; unerfaßlich unaussprechbar war es für ihn, denn es war jenseits der Sprache“ (TV 454). Damit erfüllt Broch die paradoxe Forderung der modernen Poetik, die Sprache durch die Sprache aufheben zu wollen. Wenn im zweiten Teil einzelne Passagen durch Versreden unterbrochen werden, dann soll sich die Bedeutung des Gesagten abheben; nicht aber wird hier eine andere sprachliche Technik angewandt. Die Verse sind der Tendenz nach graphisch als solche erkennbar, und die meisten Stellen (TV 92, 94–96, 97f., 111–113, 114–118, 120–124, 191–194, 195f.) fallen weder lexikalisch noch syntaktisch vom Haupttext ab.171 Hier wie dort sind Figuren der Rede wie Parallelismus, Klimax, Wortwiederholung, Anapher, Alliteration, Pleonasmus, d. h. Wiederholungsmittel charakteristisch, die den linearen Verlauf der Sprache permanent unterbrechen und so den Schein einer fortschreitenden, aufeinander aufbauenden Rede gar nicht erst aufkommen lassen. Besonders deutlich wird die Ähnlichkeit an einer Stelle, die beinahe identisch ist in Prosa- und Versform. Der Prosasatz: „Denn wer die erste Pforte des Schreckens hinter sich gelassen hat, der ist umfangen vom Vorhof einer neuen und größeren Unbekanntheit“, wird am Beginn der folgenden Verspartie nur leicht variiert: „denn wer die erste Pforte des Schreckens hinter sich gelassen hat, | der ist in den Vorhof der Wirklichkeit eingezogen“ (TV 94). Schon der erste Teil, der die Ankunft des Protagonisten aus Griechenland zum Thema hat, zeigt mit Wiederholungsstrategien 172 auf der Ebene des Lauts (a), des Wortes, des Satzes (b) und des Absatzes (c), dass die Rede aus dem bloßen Fortschreiten ausbrechen und sich zu rhythmisierten Einheiten organisieren will: (a) „hingeschwunden war nun die Hoffnung, es werde der heilig heitere Himmel Homers hold die Fertigstellung der Äneis begünstigen“ (TV 12); (b) „Warum nur hatte er […]? Warum nur hatte er […]? hingeschwunden war nun die Hoffnung […], hingeschwunden jegliche Hoffnung […], die Hoffnung […], hingeschwunden die Hoffnung […], hingeschwunden war die Hoffnung […]“ (TV 12); (c) _____________ 171 Vgl. Durzak, Brochs Auffassung des Lyrischen, S. 212. 172 Claus Caesar, Poetik der Wiederholung. Ethische Dichtung und ökonomisches „Spiel“ in Hermann Brochs Romanen Der Tod des Vergil und Die Schuldlosen, Würzburg 2001 (= Epistemata. Reihe Literaturwissenschaft, 368), S. 60–88, hier S. 60, spricht von der Wiederholung als „poetologischem Prinzip“ des Romans; s. auch Angela Esterhammer, Eposaufhebende Dichtung. Transition and Repetition in „Der Tod des Vergil“, in: Roger Bauer (Hg.) Space and boundaries in literature. München 1988, München 1990, S. 598– 601, hier S. 601.
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IV. Synthesen poetologischer Antagonismen
„Flucht, oh, Flucht! […] Flucht, oh, Flucht! […] Flucht, oh, Flucht! […]“ (TV 63, 65, 66). Die eigentliche, im Angesicht des Todes stattfindende Erkenntnisszene des zweiten Teils beginnt als Erinnerungsszene: Der im Bett liegende Vergil erinnert sich an seine Kindheit, als er sich das erste Mal „nach dem Bestand und Nichtbestand des eigenen Selbst zu fragen“ (TV 71) aufgefordert fühlte. Die Struktur der Syntax, die eingangs linear fortschreitend ist, ändert sich just da, wo die Erkenntnis der Selbsterkenntnis markiert wird. Die Prosasyntax schlägt um in poetische Syntax, wo Äquivalenzen ihrer Glieder wichtiger werden als der Ausdruck eines logischen Gedankens durch ihre Glieder: und von irgendwoher […] kam taktmäßig […], kam immer wieder, kam wie ein letztes Echo […], wie ein letztes Echo eines […] Auges, so verloren, so gebrochen, so drohend […], so ferneträchtig […], und genau so wie damals […], genau so wie damals […], genau so spürte er auch heute […], und genau so wie damals (TV 71f.).
Das Verfahren, den linear fortschreitenden Prosaduktus an entscheidenden Momenten der Aussageabsicht zu unterbrechen, zeigt sich im Fortgang dieses ersten Abschnittes vermehrt. An seinem Ende (TV 71–90) ist Vergil gezwungen, aufzustehen. Der horizontale Modus der Wahrnehmung – ‚Liegen und Lauschen‘ – wird aufgegeben. Die Dramaturgie des zweiten Abschnittes (TV 90–155) konfrontiert den nun stehenden Vergil mit einer nächtlichen Streitszene, die sich ihm als Wirklichkeitserfahrung offenbart. Die „Notwendigkeit des Atems“ (TV 90), „Erstickungsangst“, „Erstickungspein“, „Lufthunger“ (TV 91) führen den Kranken von seinem Bett an das Fenster. Im dritten Absatz, der aus einem 22 Zeilen langen Satz besteht, löst sich das Schriftbild der Prosa im Übergang von der siebenten zur achten Zeile in Verse auf. Der Hauptsatz lautet: „Zeit strömte oben, Zeit strömte unten“ (TV 92). Das, was folgt, ist eine Apposition zu ‚Zeit‘ bzw. – im syntaktisch reihenden Versteil – zu ‚Gesetz und Zeit‘. Der vierte Absatz (TV 93–99) ist ähnlich strukturiert, sein Thema ist die ‚Notwendigkeit der Erkenntnis‘ und die „Verkerkerung seiner irdischen Unzulänglichkeit“ (TV 96). Im fünften und sechsten Absatz (TV 99–103) gelangt Vergil in den „Vorhof der Wirklichkeit“ (TV 99), aus dem er dann im siebenten Absatz hinaustreten kann (TV 103–111). Nur für die kontemplativen Sequenzen schlägt das Schriftbild von Prosa in Vers um, so auch wieder im achten Absatz (TV 111–125), der sich der Schönheit widmet. Für die Selbsterkenntnis des Helden aber ist der siebente, verslose Absatz von zentraler Bedeutung. In einem „Hörbild“ (TV 103) wird er dreier Betrunkener gewahr, die in einen Streit verwickelt sind. Ihre Worte durchkreuzen seine Apologie des augusteischen Roms im Epos, auch sie er-
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scheinen in lyrischer Prosa, die sich durch die Äquivalenz syntaktischer und lautlicher Elemente, besonders des [k]-Lautes, innerhalb der Sequenz kennzeichnet: „Ein Dreck wird ausgeteilt“, – sie kreischte, daß es über den ganzen Platz hingellte –, „einen Dreck gibt der Cäsar her…ein Dreck is [!] dein Cäsar, ein Dreck ist er, der Cäsar; tanzen und singen und ficken und huren kann er, der Herr Cäsar, aber sonst kann er nix, und ein Dreck gibt er her!“ – „Ficken… ficken… ficken…“, wiederholte der Dicke beseligt, als hätte sich mit diesem einen zufälligen Wort die gesamte Weltgeilheit in ihrer ganzen Zufallsbrunst eröffnet, „der Cäsar fickt, Heil dem Cäsar!“ (TV 107f.)
Der Drastik der Wirklichkeit folgt eine Kontemplation über die Schönheit im achten Absatz. Erst daran schließt sich die eigentliche Erkenntnis an, indem diese drei Figuren in Absatz neun und besonders zehn (TV 125– 137) als „Zeugen des Meineides“ (TV 125) bezeichnet werden, die „Zeugenschaft wider ihn ablegen“ (TV 125). Sie machen ihm bewusst, die Wirklichkeit nie dargestellt zu haben. 173 Dass sich Vergil deshalb des Meineides bezichtigt, hat seinen besonderen Grund in der metaphysischen Konzeption der Kunst. Broch legitimiert die künstlerische Tätigkeit mit einem göttlichen Schwur. Der Grundgedanke ist der, dass die Kunst als Schaffenswille gleichbedeutend mit der göttlichen Liebe sei. Der Künstler hingegen neige dazu, das ‚Erzeugende‘, d. h. das Göttliche, zu vergessen, um sich am ‚Erzeugten‘ zu ergötzen. Vergil disqualifiziert das als bloßes ‚Literatentum‘ (TV 134). Was dieser Eid sei, wird in den graphisch als Versrede gekennzeichneten Partien des zweiten Teils deutlich: den Eid, mit dem Gott und Mensch sich gegenseitig verpflichtet haben, verpflichtet zur Erkenntnis und wirklichkeitsschaffenden Ordnung, verpflichtet zur Hilfe, welche die Pflicht zur Pflicht ist; (TV 123)
Wenn er davon ausgeht, dass sich wahre Kunst allein im ‚Erzeugen‘, nicht aber im ‚Erzeugten‘ manifestiere, übersetzt Broch mit der Opposition des Partizips Präsens und des Partizips Präteritum jene Unterscheidung zwischen innerer und äußerer Form bei Plotin bzw. zwischen ȞȑȡȖİȚĮ und ݏȡȖȠȞ bei Humboldt, die seit 1900 an Bedeutung gewonnen hatte und auf Platons Ideenlehre zurückgeht: nicht der schöne Körper, sondern das Schöne als Idee wird als Ziel aller Liebe im Symposion definiert. Was Broch, _____________ 173 Vergil muss eingestehen, dass er im Sinne von Platons Dichterkritik (bes. Politea 600c– 607a) ein Lügner ist. Zum Verhältnis von Romans und Wirklichkeit s. Hans Blumenberg, Wirklichkeitsbegriff und Möglichkeit des Romans, in: Hans Robert Jauß (Hg.), Nachahmung und Illusion, München 21969 (= Poetik und Hermeneutik, 1), S. 9–27. Demnach rechtfertigt sich die Kunst seit Platons Kritik über ihr Verhältnis zur Wirklichkeit (ebd., S. 10): „Im Grund geht es dabei um das, was einer Epoche als das Selbstverständlichste und Trivialste von der Welt erscheint und was auszusprechen ihr nicht der Mühe wert wird, was also gerade deshalb die Stufe der überlegten Formulierung kaum je erreicht.“
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bzw. seinem Vergil entgeht, ist, dass die sogenannte wahre Kunst nur negativ bestimmbar ist und am Ende Behauptung bleibt. So meint Vergil, die Aeneis sei bloßes, dem Ruhm frönendes Machwerk, aber keine Erkenntnis; er habe das Epos geschrieben in enkomiastischer Absicht, um die römische Welt zu verherrlichen. 174 In Wirklichkeit sei es aber, nach platonischer Kritik, eine Lüge: „Bloß die Lüge ist Ruhm, nicht die Erkenntnis!“ (TV 15). Fragt man nach dem Ort jener wahren Dichtung, die nicht eidbrüchig sein soll, so kann mit ihr nur Brochs Roman selbst gemeint sein; denn wenn eine Dichtung die Schönheit des ‚Erzeugten‘ verneint, dann will sie selbst Innbegriff des ‚Erzeugenden‘ sein und damit vom Höchsten zeugen. Erst im elften Absatz, im Moment seiner Erkenntnis, die aufgrund ihrer Wiederholungsstruktur ein Anagnorismos ist, wechselt der Protagonist erneut die Stellung: „er war fallengelassen worden, und hingebrochen über die Fensterbrüstung, leblos an die staubig heiße Leblosigkeit der Ziegel angeklammert“ (TV 137). Auch der zwölfte Absatz (TV 136–146) imaginiert die Absturzbewegung, die den ‚Sturz ins Namenlose‘ symbolisiert. Die Erinnerung an die von ihm geliebte Plotia wird jeweils innerhalb des Absatzes durch Zeilenbrüche apostrophisch realisiert: „oh Plotia“ (TV 140, 144). Im letzten, dreizehnten Absatz wird der Sinn dieser Absturzbewegung deutlich, indem der Bezug zu Orpheus und Plotia-Eurydike hergestellt wird. Mit der Referenz auf den poeta theologus 175 erhält das Kapitel Abstieg eine literaturgeschichtliche Rückversicherung in doppelter Hinsicht. Einmal ist die ȞȑțȣȚĮ seit Goethes Faust II in der deutschen Literatur ein literarischer Topos, dessen erkenntnisstiftende Funktion als der Transzendentalität des Todes auch Thomas Mann im Zauberberg genutzt hat und der von Martin Heidegger in einer philosophischen Sprache aufgelöst wurde.176 Zum anderen aber wird über Orpheus als den ersten Besucher des Totenreiches daran erinnert, dass Vergils Held Aeneas im sechsten Buch der Aeneis die Unterwelt besucht wie vor ihm schon Odysseus in der Ilias. Broch behauptet durch diese Analogie nichts weniger als Vergils Verwandtschaft mit Orpheus. Bedenkt man, dass Vergil durch die Interpretation Theodor Haeckers als vorchristlicher Dichter verstanden worden war, wird deutlich, dass Broch die Verwandtschaft beider Autoren über die Religion bestimmt. Angesichts der Erzählweise, welche die Grenzen mittels des Monologs der dritten Person zwischen der literarischen _____________ 174 Vgl. auch Paul Michael Lützeler, Einleitung, in: Ders. (Hg.), Brochs „Tod des Vergil, S. 9– 18, hier S. 11. 175 Vgl. Heizmann, Antike und Moderne in Hermann Brochs „Tod des Vergil“, S. 153. Das entsprechende Kapitel lautet bei Heizmann „Der gescheiterte Orpheus“ (ebd., S. 149–173). 176 S. zu Broch: Walter Hinderer, Die „Todeserkenntnis“ in Hermann Brochs „Tod des Vergil“, München 1961.
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Figur und ihrem Autor Hermann Broch verwischt, ist eine solche Inszenierung Vergils eine latente Selbstinszenierung Brochs als poeta vates. Seit Wilfried Barners Studie zum poeta doctus der Moderne weiß man, dass sich hinter dieser Maske die Verzweiflung eines hochgelehrten Autors verstecken kann. 177 Der dritte Abschnitt (TV 155–170) erst teilt die Konsequenz, die aus der Erkenntnis des Meineides folgt, mit: die Aeneis vernichten, eingeleitet wieder im Ton der nach Identität strebenden Varianz des syntaktischen Musters, wobei der Satzmodus ein Ausruf ist: „Wehe dem Menschen, der […], wehe dem Zerknirschten, der […], wehe dem kreatürlichen Seinsrest, der […], wehe dem Menschen, der […]!“ (TV 155). Ebenso ist der Ausgang als ein Ausruf strukturiert: „und es entrang sich ihm wie ein winziger, unzulänglicher, niemals ausreichender Ausdruck […], entrang sich ihm in einem Atemzug, in einem Seufzer, in einem Schrei: ‚Die Äneis verbrennen‘!“ (TV 170). Der vierte Abschnitt (TV 170–210) ist ein einziger Absatz, der unterbrochen wird von Versen Vergils und eigenen Versen sowie von Zeilenbrüchen, die keinen neuen Absatz und damit keine neue ‚kognitive Einheit‘ im Sinne Brochs aufnehmen, sondern eine Wiederholungsstruktur auf Absatzebene schaffen, also nur einen Gedanken intensivieren. Allein zwölfmal setzt Brochs Vergil an mit: „– oh Heimkehr!“ (TV 197–205) und antizipiert das Kapitel IV Äther – Die Heimkehr (TV 413–453). Jene Verse (TV 183–185), die Vergils Aeneis entnommen sind, 178 werden von Broch vor seine eigenen elegischen Verse (TV 191–194) geschaltet. Damit ist Vergils Stimme zu Brochs Stimme geworden: „und er sprach aus einer Brust, die nicht mehr Brust war, er sprach aus einem Munde, der nicht Mund mehr war, sprach in einem Hauche, der nicht Hauch mehr war, sprach Rede, die nicht Rede mehr war, er sprach:“ (TV 190). Es folgen Brochs Verse, eingeleitet mit: „Schicksal, du gehst allen Göttern voran“ (TV 191). Brochs Überlagerung der eigenen Stimme mit derjenigen Vergils kehrt die hermeneutische Prämisse um, die Stimme des Kritikers zum Medium seines Autors werden zu lassen. Stellt der Interpret, einem Geisterbeschwörer gleich, seine Stimme in den Dienst des Autors, so usurpiert Broch die Stimme des Dichters, um sich im Resonanzraum von dessen Autorschaft hörbar zu machen. Brochs verleiht dieser neu gewonnenen _____________ 177 Im Anschluss an die von Barner, Poeta doctus, in: Brummack et al. (Hg.), Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte, S. 728, vorgestellten Kriterien von Wissenschaftsorientiertheit, Traditionsbindung, Handwerklichkeit, Exklusivität und hohem Reflexionsgrad des poeta doctus ist auch Heizmann, Antike und Moderne in Hermann Brochs „Tod des Vergil“, S. 158, aufgefallen, „daß Broch, der gemeinhin als poeta doctus kat ތexochen gesehen wird, dies partout nicht sein will und sich selbst lieber als vates betrachtet.“ 178 Eine intertextuelle Analyse der Bezüge gibt: Kathleen L. Kolmar, The Death of Vergil: Broch’s Reading of Vergil’s Aenid, in: Comparative Literature Studies 3 (1984), S. 255–269.
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IV. Synthesen poetologischer Antagonismen
Stimme – als dem „Sinnbild aller Stimmen“ (TV 210), das in der Synthese von Vergil-Broch, im inneren Monolog in der dritten Person und in lyrischer Prosa hörbar und sichtbar wird – universale Bedeutung: „die Stimme der Zeitlosigkeit und der ewigwährenden Schöpfung, die Richterstimme des Anfangs und des Endes“ (TV 210). Das poetische Rollenspiel ist die Kehrseite der psychologischen Hermeneutik. Der fünfte Abschnitt ist deckungsgleich mit einem Absatz (TV 210– 218). Vergil kommt darin wieder zur Ruhe und wechselt in die liegende, horizontale Ausgangsposition des diesen zweiten Teil einleitenden Abschnitts (TV 71–90). Die Obsession Brochs, eine Sprache zu finden, die unmissverständliche Identität zwischen grammatischer Form und intendierter Aussage im Sinne Vosslers schafft, würde erklären, weshalb seine Satz-Einheiten im Inneren repetitive, bisweilen tautologische Elemente aufweisen. Mittels des Wiederholungsprinzips überschreitet die Prosa stetig die Grenze zur Lyrik. Bevor sich eine gedankliche ‚Eidos-Einheit‘ nach Broch in ihrer sprachlich endgültigen Form wiederfindet, versichert sich der Autor, in zahlreichen Varianten, dass er auch das Richtige zum Ausdruck bringe. Die Wiederholung ähnlicher Elemente, die eine poetisch stringente Form solcher Sätze schaffen, hat ihren Grund in der schwer abschließbaren Suche nach dem richtigen Ausdruck der syntaktisch geschlossenen ‚EidosEinheit‘, die genauso auf Schlüsselwörter wie ‚Schönheit‘ oder ‚Meineid‘ verkürzt werden könnte. Broch löst die Konzepte in komplexe syntaktische Strukturen auf, um Identität zwischen Grammatik und Erkenntnis im epistemologischen Medium der lyrischen Prosa zu stiften. So vollzieht sich einerseits die Fiktionalisierung der Vergil’schen Autorschaft, andererseits der Broch’sche Erkenntnisprozess über die wahre Dichtung.
V. Konjekturen mittelalterlicher Überlieferung Die schriftliche Überlieferung einer Literatursprache sicherzustellen und zu ordnen, sind Aufgaben der Philologie. Dort, wo Lücken in der Überlieferung erkannt werden, ist sie bemüht, diese nach bestem Wissen zu schließen; im Zeitalter des Buchdrucks kommen zu den Handschriften konkurrierende Drucke hinzu, die sie in einen neuen, verbindlichen Text überführt. Dass sich bei solchen Vorgängen kreative Freiräume auftun, die nicht immer auf faktischer Grundlage gefüllt werden können, hat sich vor allem an den editorischen Projekten des neunzehnten Jahrhunderts gezeigt. Ins Zentrum dieser philologischen Notlage weist der Konjekturbegriff.1 Dieses Verfahren setzt in dem Moment ein, in dem die Faktenlage brüchig wird, man aber dennoch weiterzugehen beabsichtigt, um keine unvollständige Arbeit zu hinterlassen. Wird die Ergänzung textueller Lücken als eine Phantasieleistung gewertet, kann umgekehrt der dichterische Umgang mit der Überlieferung als hermeneutischer Versuch angesehen werden, in diese einzugreifen, um sie neu zu verstehen. Sicherlich strapazierte es den Konjekturbegriff, jede Übersetzung, Neubearbeitung, Modernisierung und Nachahmung eines Textes im weiteren Sinn als Korrektur der schriftlichen Überlieferung und damit als eine philologische Tätigkeit zu beschreiben; dennoch kann durch diese Analogie Aufschluss über die Funktionsweise einer Dichtung gewonnen werden, die über die gemeinsame Überlieferung mit der Disziplin verbunden ist. Der Unterschied der poetischen Konjektur gegenüber anderen textbasierten Nachahmungsformen besteht in der epistemologischen Orientierung an der Überlieferung, die ergänzt, korrigiert, ja sogar, wie bei Borchardt, kontrafaktisch in eine neue Richtung gedrängt wird. Mit dem quasiwissenschaftlichen Anspruch, mittels der Poesie zu konjizieren, verbindet sich ein Erneuerungsbedürfnis. Eine ebenso breite wie fundierte literarische Bildung, wie man sie bei den philologisch geschulten Autoren Albrecht Schaeffer und Rudolf Borchardt annehmen darf, unterbindet gerade nicht die Möglichkeit zu literarischer Erneuerung; vielmehr _____________ 1
S. Anne Bohnenkamp/Kai Bremer/Uwe Wirth/Irmgard M. Wirtz (Hg.), Konjektur und Krux. Zur Methodenpolitik der Philologie, Göttingen 2010, insbesondere die Beiträge von Carlos Spoerhase, Konjektur, Divination &c.: Einige Fragen und Probleme, ebd., S. 107– 115, und Caroline Pross, Fingierte Konjekturen. Der Philologe W.G. Sebald, ebd., S. 369– 389.
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V. Konjekturen mittelalterlicher Überlieferung
steigt mit dem Grad jener das Bedürfnis nach dieser. Der poeta eruditus stelle, so Klaus Reichert, philologisches Wissen in den Dienst der Spracherneuerung, bzw. das Neue sei eine „Rettung des Alten“ 2. Bei dem Alexandriner Kallimachos, bei dem sich auf diesen beziehenden Neoteriker Catull (doctus Catullus), bei Friedrich Hölderlin, bei Borchardt und bei Ezra Pound – andere wie Osip Mandel’štam, Giovanni Pascoli und Dante Gabriel Rossetti wären in dieser Reihe zu ergänzen 3 – lasse sich die Erneuerung der Poesie „nicht durch das Zerbrechen geläufiger Formen und ihre Ersetzung durch originelle eigene, sondern durch Wiederbelebung des Alten, die Entdeckung seiner vergessenen, seiner unausgeschöpften Möglichkeiten“ 4 beobachten. Dieselbe Struktur der Erneuerung liegt der Philologie zugrunde; auch in ihr erweist sich das Neue als ‚Rettung des Alten‘. Philologischer Fortschritt entsteht nicht selten, sobald das bisherige Wissen zu einem bestimmten Text nicht mehr ausreicht, um die Fragen zu beantworten, die an ihn gerichtet werden. Dieses Ungenügen wird jedoch erst sichtbar, sobald die bisherige Überlieferung eines Textes einschließlich seiner Paratexte und Kontexte vollständig überblickt wird, sobald also das ‚Alte‘ als solches auch erkannt wird. Das ist der Moment der Verbesserung und Ergänzung – beruhen diese Vorgänge nun auf konjekturaler Intuition oder auf der Faktizität neuer Textzeugnisse.5 Sowohl poetische als auch textkritisch-disziplinäre Erneuerungsprozesse sind damit Erkenntnisprozesse. Dass sie nicht parallel nebenher verlaufen, sondern miteinander verzahnt sind, wird an der sowohl poetischen als auch kritischen Praxis Albrecht Schaeffers und Rudolf Borchardts zu zeigen sein.
1. Albrecht Schaeffers Parzival und der deutsche Charakter Philologische Fragen können sich in ethische Antworten verkehren. Mittelalter- und Goethe-Philologie, aber auch Sprachgeschichte und Gram_____________ 2 3
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Klaus Reichert, Gelehrte Dichter. Zur Geschichte eines behaupteten Widerspruchs, in: Klaus Städtke/Ralph Kray (Hg.), Spielräume des auktorialen Diskurses, Berlin 2003, S. 39– 48, hier S. 41. Zu Mandel’štams Auffassung der ‚philologischen Kultur‘ s. Christa Ebert, Wider den Hunger des Staates – Osip Mandel’štam: Wort und Kultur. Zur Bedeutung der Sprache in der russischen Kultur, in: Dies. (Hg.), Kulturauffassungen in der literarischen Welt Rußlands. Kontinuitäten und Wandlungen im 20. Jahrhundert, Berlin [1995], S. 116–139, hier S. 130–136. Reichert, Gelehrte Dichter, S. 41. Zu diesem Zwiespalt in der textkritischen Praxis der Renaissance s. Klara Vanek, „Ars corrigendi“ in der frühen Neuzeit. Studien zur Geschichte der Textkritik, Berlin 2007 (= Historia Hermeneutica. Series Studia, 4), S. 287–309.
1. Albrecht Schaeffers Parzival und der deutsche Charakter
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matik leisteten im neunzehnten Jahrhundert einer nationalen Ethik Vorschub, indem sie Sinn und Aufgabe des ‚deutschen Charakters‘ mitbestimmten. Literarische Autoren wie Goethe oder mythologische Helden wie Faust, Parzival und Siegfried wurden zu nationalen Identifikationsfiguren aufgewertet, weshalb die dichterische Beschäftigung mit ihnen sowohl philologische als auch ethische Frage aufwerfen konnte. Wilhelm Scherer hatte schon den deutschen Stressakzent aus germanischer Leidenschaft erklärt, 6 was Gustav Roethe (1859–1926) in seiner Berliner Rektoratsrede von 1923 unter dem Titel Wege der deutschen Philologie zu der Behauptung bewog, Scherer habe „den großartigen Plan einer nationalen Ethik in sich“ 7 getragen. Roethe propagierte diese verbreitete Legitimation der Germanistik als nationaler und ethisch relevanter Wissenschaft:8 „Die Wissenschaft der deutschen Philologie ist berufen, in Euch unserm ganzen Volke aus dem deutschen Worte den deutschen Geist, den deutschen Gedanken zu künden.“ 9 Der Philologe sei, so Roethe weiter in Anspielung auf Fausts Übersetzung des griechischen Logos, ein Freund der Tat. Die ethisch-politische Dimension der Philologie, die Roethe der studentischen Jugend eröffnen will,10 liest man heute unwillig: „Euer, der einst führenden deutschen Jugend, wartet die große Aufgabe, daß sich krönend wie bei unsern Ahnen, aus dem deutschen Gedanken löse die schaffende deutsche Tat. Das walte Gott!“ 11 Obzwar nicht in derselben platten Rhetorik, besaß der Gedanke einer nationalliterarischen Ethik ein Komplement in der Dichtung. Einer ihrer Vertreter war Albrecht Schäffer, der ein Schüler Roethes war und der wie dieser den Umlaut im Namen – zu Schaeffer – latinisierte. Sein Fall verdiente kaum Aufmerksamkeit, würde er nur die dichterische Anwendung der Roethe’schen Ideologie veranschaulichen. Interesse aber erregt er deshalb, weil er zwar strukturelle Ähnlichkeiten zur germanistischen Denkfigur des deutschen Charakters aufweist, der sich in der Literatur _____________ 6 7 8
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Wilhelm Scherer, Zur Geschichte der deutschen Sprache, Berlin 1868, S. 158. Gustav Roethe, Wege der deutschen Philologie. Rede zum Antritt des Rektorats der Friedrich Wilhelms-Universität am 15. Oktober 1923, Berlin 1923, S. 6. Vgl. auch Ernst Elster, Der Betrieb der deutschen Philologie an unseren Universitäten, auf dem Grazer Philologentag 1909: „Die wissenschaftliche Arbeit, […], dient mittelbar zugleich der Ausbildung unserer ethisch-nationalen Persönlichkeit“ (Verhandlungen der fünfzigsten Versammlung deutscher Philologen und Schulmänner in Graz vom 28. Sept. bis 1. Okt. 1909, hg. v. Heinrich Schenkl, Leipzig 1910, S. 22–25, hier S. 25). Roethe, Wege der deutschen Philologie, S. 18. Diese vernachlässigt meines Erachtens die sonst vorzügliche Einleitung in den Briefwechsel zwischen Roethe und Edward Schröder von Dorothea Ruprecht und Karl Stackmann, in: Ruprecht/Stackmann (Hg.), Regesten zum Briefwechsel zwischen Gustav Roethe und Edward Schröder, S. 14–46. Roethe, Wege der deutschen Philologie, S. 18.
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V. Konjekturen mittelalterlicher Überlieferung
manifestiere, aber sich inhaltlich-politisch gegenläufig verhält. Man ist vorschnell geneigt, die Thematisierung des Nationalen in der Literatur der Moderne als rechtskonservativ oder gar als Vorbote des Nationalsozialismus zu sehen: Schaeffers Werk jedenfalls demonstriert, dass die nationale Semantik nach 1918 nicht notwendig in Chauvinismus münden musste. 1.1. Revision der nationalphilologischen Ethik im Zeichen der Schuld Roethes Programm einer nationalen Disziplin diente sicherlich auch der Rechtfertigung der Germanistik im System der Wissenschaften; zudem beweist sie die hohe Auffassung, welche die Disziplin von sich selbst und ihrer historischen Geltung besaß: Roethes Charakter und sein Redetalent 12 standen im Dienst einer vermeintlich gewaltigen Autorität. Doch nicht alle konnte Roethe überzeugen, seine nationale und chauvinistische Rhetorik polarisierte vielmehr. Karl Liebknecht nannte den aus Graudenz in Westpreußen stammenden Roethe hinterwäldlerisch, 13 Victor Klemperer hasste ihn. 14 Linke und progressive politische Kräfte, aber auch die neue geistesgeschichtliche Forschergeneration sahen in ihm den Feind aller Innovation. Der ‚Erzgermane‘ 15 und ‚General Roethe‘ 16, der schon vor dem Krieg für die _____________ 12 13
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Vgl. Victor Klemperer, Berliner Gelehrtenköpfe, Potsdam 1910, S. 37, wo Roethe als Verkörperung von Ciceros Rednerideal, wenngleich in negativer Wertung, angesehen wird. Karl Liebknecht, Gegen den Mißbrauch der Wissenschaft, in: Ders., Gesammelte Reden und Schriften, Bd. 7, Berlin [DDR] 1971, S. 210. Es handelt sich um Liebknechts Rede im Preußischen Abgeordnetenhaus (1914), das Roethes Verweigerung, Frauen zu seinen Vorlesungen aufzunehmen, verhandelte. – Klemperer, Berliner Gelehrtenköpfe, S. 38, überliefert, Roethe habe an sein Schwarzes Brett den Satz ‚Frauen haben zu meinen Vorlesungen keinen Zutritt‘ anbringen lassen. Victor Klemperer, Leben sammeln, nicht fragen wozu und warum. Tagebücher 1925– 1932, hg. v. Walter Nowojski, Bd. 2, Berlin 1996, S. 294. Klemperers Eintrag vom 19.9. 1926 ist die lapidare Reaktion auf Roethes Tod. Schon den jungen Hörer von Roethes Vorlesungen habe „der Hass in wacher Spannung“ gehalten, vgl. Ders., Curriculum vitae. Erinnerungen eines Philologen 1881–1918, Bd. 1, Berlin 1989, S. 356f.: „Er ist unter allen Lehrern meiner gesamten Schul- und Studienzeit […], der absolut einzige, den ich nicht nur seinerzeit gehaßt habe, sondern noch immer verabscheue. Orator, nicht Rhetor, sagte ich von Erich Schmidt; Rhetor, nicht Orator, muß es von Roethe heißen. Burgtheaterhaft nannte ich Schmidts Auftreten; wie der Schmierendirektor einer Witzblatt-Zeichnung wirkte Roethe, wenn er in Radmantel und Schlapphut odinhaft herangewallt kam, wenn er breitbeinig und breitbrüstig auf dem Katheder perorierte und agierte.“ Sicherlich ist ein Grund für Klemperers hartes Urteil in Roethes Antisemitismus zu sehen. Klemperer erwähnt auch Roethes Neigung, ständig Bezüge zur Zeitpolitik herzustellen. Als Gegenfigur erscheint Hermann Paul in München. Franz Pfemfert, Kleiner Briefkasten, in: Die Aktion 9 (1919), Nr. 32, Sp. 552. Subulk, General Roethe, in: Der Kritiker 6 (1924), H. 11, S. 20.
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‚Schreckensgalerie‘ der Aktion portraitiert wurde, 17 machte aus seiner politischen Gesinnung keinen Hehl. Während des Krieges erschien er in Hauptmannsuniform auf dem Katheder 18 und blieb bis zu seinem Tod ein beliebtes Angriffsziel in linksexpressionistischen Zeitschriften.19 Als „innovationsfeindlicher Spezialist“20, der „mit Vorliebe vor reaktionären Vereinen“ 21 referierte, war Roethe jedoch kein Sonderling, sondern repräsentierte idealtypisch das gesellschaftliche Selbstbewusstsein der Germanistik. Es kulminierte in obiger Rektoratsrede, in der er den Dienst am Wort als Weg zur „Erweckung nationalen Sinns“ 22 begriff. Die Sprache sei „ein Bekenntnis des Volkes zu sich selbst“. 23 Beschworen wird darin allein eine strenge Philologie, deren große Leistungen in kritischen Ausgaben gipfelten; keineswegs aber die gerade entstehende Literaturwissenschaft, deren positive Ziele Roethe nur „halbklar“24 waren. In seiner ein Jahr darauf gehaltenen Rede Der Dichter des Parzival (1924) manifestierte sich der politische Geltungsanspruch der Deutschen Philologie als ethischer Sendung. Die Rede macht einen feinen Unterschied zwischen dem deutschen Charakter als dem faustischen und der deut_____________ 17 18 19
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Franz Pfemfert, Schreckensgalerie, in: Die Aktion 4 (7. März 1914), Nr. 10, Sp. 215. Anonymus, Ueber Universitäten, Universitätsprofessoren, Studenten und was damit zusammenhängt, in: Die Aktion 9 (1919), Nr. 39/40, Sp. 667. Zu weiteren Angriffen auf Roethe vgl.: Anonymus, Das Gastmahl des Plato, PAN 1, Nr. 3, 1. Dezember 1910, S. 101–102; Alfred Kerr, Der fünfzigste Geburtstag [Gerhart Hauptmanns], in: PAN 3, 22. November 1912, Nr. 8, S. 171–174; Alfred Wolfenstein, Herrenhaus der Zukunft, in: Die Aktion 2 (1912), Nr. 31, Sp. 965–968, hier Sp. 968; Herwarth Walden, Nachfolge, in: Der Sturm 4 (1913), Nr. 166/167, S. 52–54; Richard Huelsenbeck, Disziplin der Gegenwart, in: Die Aktion 4 (1914), Nr. 22, Sp. 472–473; Kurt Kersten, Ueber Brahm und Reinhardt, in: Phoebus 1 (1914), H. 2, S. 63–66 (Man könne nicht, mit Blick auf Max Reinhardt, gleichzeitig ein Freund Roethes und Voltaires sein, vgl. ebd., S. 64; Kersten hatte Roethes Berliner Proseminar im Winter 1912/13 besucht [HU UA, Abgangszeugnisse, Kurt Kersten, 31.3.1913]); Ders., [Besprechung von Karl Vollmoellers Pantomime Das Mirakel], in: Die Aktion 4 (16. Mai 1914), Nr. 20, Sp. 422–423, hier Sp. 423; Walther Rilla, Die Elite, in: Die Erde 1 (1919), H. 5, S. 158–160; Pol Michels, Das Verbrechen der Intellektuellen. Zum 9. November, in: Die Aktion 9 (1919), Nr. 45/46, Sp. 752–754. Jörg Judersleben, Philologie als Nationalpädagogik. Gustav Roethe zwischen Wissenschaft und Politik, Frankfurt a. M. 2000 (= Berliner Beiträge zur Wissenschaftsgeschichte, 3), S. 307. – Klemperer erinnert sich an einen Satz aus Roethes Vorlesung zur ‚Geschichte der Literatur des Mittelalters‘. Im Zusammenhang der These, zum Volkslied gehöre das ‚Schwankende‘, jede „Änderung ermöglichende mündliche Fortpflanzung“, soll Roethe bemerkt haben: „Heute aber kann jeder lesen und schreiben, was ich durchaus für keinen Fortschritt halte“ (Klemperer, Berliner Gelehrtenköpfe, S. 38). Astrid Gohl, Die ersten Ordinarien am Germanischen Seminar, in: Wissenschaftliche Zeitschrift der Humboldt-Universität zu Berlin. Gesellschaftswissenschaftliche Reihe 36 (1987), H. 9, S. 786. Roethe, Wege der deutschen Philologie, S. 3. Ebd., S. 6. Ebd., S. 14.
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schen Kunst im Parzival, worin sich Wilhelm von Humboldts Bildungsgedanke der freien Selbstentfaltung erstmals artikuliert habe: „Ist das Faustische wirklich ein Kennzeichen echter deutscher Art, dann ist der Parzival trotz seiner französischen Grundlage eine höchste Offenbarung deutscher Kunst.“25 In der Person Roethes offenbarte sich, dass die Deutsche Philologie zum Resonanzkörper des Politischen geworden war. Die nationalpolitische Emphase artikulierte nicht das Wunschdenken eines germanistischen Rektors, der seinen Studenten Humboldts „Geist der freien, schaffenden und sich selbst bildenden Persönlichkeit“26 aus didaktischen Gründen auf den Weg geben wollte. Vielmehr sind die Trivialisierungen und Konkretisierungen des Humboldt’schen Bildungsgedankens Indizien dafür, dass sich das neue nationale Bewusstsein in der philologischen Wissenschaft repräsentieren konnte. Aufgrund dieses national-ethischen Anspruchs, den die Disziplin an ihre Gegenstände stellte, stand ein Dichter, der sich um 1920 Wolframs Parzival zuwandte, ebenso wie z. B. Thomas Mann, der den Faust-Mythos oder den Bildungsroman zu erneuern strebte, in einem politisch-philologischen Bezugsrahmen. Roethes ethischer Anspruch schlug sich in erzieherischen Grundsätzen nieder, weshalb man sein Verständnis der Philologie auch als Nationalpädagogik verstanden hat, 27 wobei für ihn die Idee des Deutschtums mit der des Griechentums unauflöslich zusammenhing, wie noch zu zeigen ist. Indem Roethe Philologie und nationale Erziehung aufeinander bezog, führte er zwei für die Bildungspolitik maßgebliche Ziele wieder zusammen, die seit jener auf der Schulkonferenz von 1890 gehaltenen Rede Wilhelms II. für den nationalen und gegen den antik-humanistischen Unterricht divergierten. Das humanistische Gymnasium war um 1900 in eine Krise geraten, seine Fürsprecher in eine Defensive. Spätestens mit Rudolf Hildebrands Buch Vom deutschen Sprachunterricht in der Schule (1868), das 1950 in der vierundzwanzigsten Auflage erschien, war die nationalpädagogische Wichtigkeit des Deutschunterrichtes anerkannt. Sein Schüler und Roethes Konkurrent Konrad Burdach gehörte zu den prominentesten Missionaren des bildungspolitischen Auftrages, die deutsche Sprache und Literatur zur Grundlage des gesamten gymnasialen Unterrichts auszubauen, was mit der Schwächung des klassischen Sprach_____________ 25 26
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Gustav Roethe, Der Dichter des Parzival. Rede zur Gedächtnisfeier des Stifters der Berliner Universität König Friedrich Wilhelm III. in der Aula am 3. August 1924, Berlin 1924, S. 15. Roethe, Wege der deutschen Philologie, S. 18. – Leitzmann hatte 1903 eine wichtige Programmschrift des Humboldt’schen Bildungsdenkens herausgegeben. Wilhelm von Humboldt, Theorie der Bildung des Menschen. Bruchstück [1793], in: Wilhelm von Humboldt, Werke, hg. v. Albert Leitzmann, Bd. 1, Berlin 1903, S. 282–287. Judersleben, Philologie als Nationalpädagogik.
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unterrichtes notgedrungen einhergehen musste. 28 In einer Besprechung von Arbeiten zum deutschen Unterricht hatte Burdach 1886 ein Manifest für das nationale Gymnasium vorgelegt, das er 1914 unter dem Titel Über deutsche Erziehung wieder abdrucken ließ. 29 Anlass war der Ausschluss des Mittelhochdeutschen aus den preußischen Gymnasien von 1882 gewesen. Dieser Streit führte der breiteren Öffentlichkeit vor Augen, dass das philologische Gymnasium nicht mehr ungebrochenen politischen Rückhalt genoß. Unter den Betroffenen regte sich entsprechender Widerstand. Die Schulsatiren um 1900 rebellierten nicht bloß gegen die soziale Disziplinierung des Adoleszenten, sondern oftmals auch gegen die Einübung in die philologische Disziplin, welche in beiden Programmen, sowohl dem griechisch-deutschen Roethes als auch dem bloß nationalen, vorerst nicht angegriffen worden war. Dieser Widerstand gegen die Disziplin erfasste nicht die gesamte Jugend. Für viele der literarisch interessierten und sprachbegabten jungen Männer bildete sie die Grundlage einer lebenslangen Poesieemphase und bestärkte ihren Schritt zu einem philologischen Studium. Roethes Eintreten für das humanistische Gymnasium wird für ihre Abgänger wie Albrecht Schaeffer ein attraktives Sinnangebot dargestellt haben. Schaeffer hat in der pädagogischen Synthese von Griechentum und Deutschtum wichtige Impulse für sein eigenes Formdenken empfangen. Albrecht Schaeffer, einer von siebzehn Abiturienten des Lyceums II zu Hannover des Jahres 1904/05, gab im Jahr der Reifeprüfung als Berufswunsch Neuere Sprachen und Literatur an.30 Seit dem Eintritt ins Gymnasium hatte der Unterricht in Griechisch und Latein dominiert, der jeweils sechs bis sieben Stunden in der Woche ausmachte. Der Deutschunterricht belief sich auf nur drei Stunden. Die Dominanz des sprachlichen Unterrichts ging auf Kosten sogenannter naturwissenschaftlicher Fächer. 31 _____________ 28
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Zusammenfassend zu diesen Vorgängen, die in Otto Lyons geschichtspoetischem Versuch gipfelten, den ‚Germanismus‘ des neunzehnten Jahrhunderts als Gegenstück zum ‚Humanismus‘ der Reformationsepoche zu konzipieren, informiert Horst Joachim Frank, Dichtung, Sprache, Menschenbildung. Geschichte des Deutschunterrichts von den Anfängen bis 1945, Bd. 2, München 1976, S. 502–522. Zur Konkurrenz zwischen deutschem und humanistischem Kulturmodell um 1900 s. auch Esther Sophia Sünderhauf, Griechensehnsucht und Kulturkritik. Die deutsche Rezeption von Winckelmanns Antikenideal 1840– 1945, Berlin 2004, S. 84–101. Der programmatische Aufsatz wurde zuerst abgedruckt im Anzeiger für deutsches Altertum und deutsche Literatur XII (1886), S. 156–163, dann in der Zeitschrift für den deutschen Unterricht 28 (1914), S. 657–678. Vgl. Jahresbericht des Städtischen Gymnasiums Lyceum II an der Goethestraße zu Hannover 1904/1905, S. 15, Nr. 601. Neben Turnen (3 Wochenstunden), Geschichte (3), Französisch (2), Englisch (2), Mathematik (4), Physik (2) und Religion (2) belegte Schaeffer auch einen Hebräischkurs (2). Der
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Nach zwei Semestern in München immatrikulierte sich Schaeffer am 30. April 1906 in Berlin, verweilte im Sommer 1908 in Marburg 32 und kehrte für das Wintersemester 1908/09 nach Berlin zurück, wo er am 28. Juni 1909 „wegen Nichtannahme von Vorlesungen“ ausgetragen wurde. 33 Er belegte im Münchener Sommersemester von 1905 vornehmlich Kurse in Deutscher, Französischer und Klassischer Philologie.34 Im darauf folgenden Winter besuchte er Vorlesungen zum antiken Theater sowie zu Hartmann von Aue und zur deutschen Literatur des Mittelalters bei Hermann Paul.35 Schaeffer studierte auch noch während seines ersten Berliner Aufenthaltes Deutsche und Klassische Philologie. Erst mit seiner Rückkehr aus Marburg vernachlässigte er die Studien; zwei Veranstaltungen zur literarischen Kritik bei Max Herrmann waren die letzten. Bezeichnenderweise fielen die ersten dichterischen Werke Schaeffers, die im Druck erschienen, in das Marburger Semester von 1908, und es ist anzunehmen, dass sich der angehende Autor in dieser Zeit gegen eine philologische Laufbahn entschieden hat. Den Kern seiner philologischen Studien bildeten somit die vier Berliner Semester zwischen 1906 und 1908. Insgesamt sechs, also ein Viertel aller vierundzwanzig besuchten Kurse in den philologischen Wissenschaften und die Hälfte aller germanistischen Seminare belegte Schaeffer bei Gustav Roethe, dessen Veranstaltungen äußerst populär waren: Nibelungenlied (So 06), Deutsche Grammatik und Allgemeine deutsche Literaturgeschichte (Wi 06/07), Wolfram von Eschenbach (So 07), Mittelhochdeutsche Literatur (Wi 07/08). 36 Schaeffers Berliner Studienplan gibt ein _____________
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deutsche Aufsatz, den Wilhelm II. als den ‚Mittelpunkt‘ des gymnasialen Unterrichts empfohlen hatte, widmete sich für die Reifeprüfung dem Thema ‚Goethes Verhältnis zur bildenden Kunst in den Hauptzügen seiner Entwicklung‘. Aus dem Griechischen war Xenophon, Hellenica III, 1–4, zu übersetzen. Daneben gab es noch eine mathematische Aufgabe zu lösen. Vgl. Jahresbericht des Städtischen Gymnasiums Lyceum II (1904/05), S. 10. UniA Marburg Best. 305m 1 Nr. 48. Für die freundliche Auskunft danke ich Frau Dr. Katharina Schaal, Leiterin des Archivs der Philipps-Universität Marburg. – Schaeffers erneute Immatrikulation in Berlin erfolgte am 9.11.1908. Das Datum des Abgangszeugnisses widerspricht der Angabe Schaeffers, er habe bis 1911 studiert. In Berlin jedenfalls ist er nicht wieder aufgetaucht, auch nicht in München oder Marburg. Vgl. HU UA Abgangszeugnisse Albrecht Schaeffer, 7.5.1908 und 14.12.1909. So im ersten Semester bei Otto Crusius (Homer und das ältere griechische Epos), Franz Muncker (Schillers lyrische Gedichte und Dramen), Privatdozent Gottfried Hartmann (Französische Literaturgeschichte im siebzehnten Jahrhundert) und Hermann Breymann (Enzyklopädische Einführung in das Studium der romanischen Philologie). Vgl. den Belegbogen: UAM Stud BB 224 SS05 Schaeffer, Albrecht. – Zu Hartmann s. Stefanie SeidelVollmann, Die Romanische Philologie an der Universität München (1826–1913). Zur Geschichte einer Disziplin in ihrer Aufbauzeit, Berlin 1977, S. 220f. Vgl. den Belegbogen: UAM Stud BB 235 WS05/06 Schaeffer, Albrecht. Über den Inhalt dieser Vorlesungen geben Auskunft die ausführlichen und die Gliederung enthaltenden „Bibliographien seiner Vorlesungen“, die Roethe 1908 als Manuskript dru-
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ausgewogenes Bild – zwölf Veranstaltungen zur Germanischen, zwölf andere zur Klassischen Philologie. Schaeffer verkörperte damit genau jenes Bildungsideal, das Gustav Roethe in einem Vortrag vom 6. Dezember 1905 programmatisch vertreten hatte. Der Vortrag erschien 1906, als Schaeffer nach Berlin kam, im Druck unter dem Titel Humanistische und nationale Bildung. Eine historische Betrachtung 37 und fand noch Jahre später ein kritisches Echo.38 Roethe vertritt nicht nur die Ansicht, dass die neuhumanistische Gymnasialbildung für das Philologiestudium unabdingbar sei. Desgleichen ist er überzeugt, dass sie das nationale Bewusstsein schärften: „Für uns Deutsche besteht kein Gegensatz zwischen humanistischer und nationaler Bildung: im Gegenteil.“ 39 Der topische Zusammenschluss von Deutschtum und Griechentum hat Schaeffer aber weniger in seiner ethischpolitischen Funktion interessiert als in seiner ästhetisch-formalen. Roethe konstatiert unter den Deutschen einen Mangel an Form: „Die unbequeme Wahrheit, daß uns die natürliche Anlage zur Form fehlt, ist beinahe zur Trivialität geworden.“ 40 In der Dichtung führe jene „[l]eidenschaftliche Energie“ der Deutschen zu Maßlosigkeiten: „eine Silbe des Wortes bekommt alle Wucht und allen Klang der Stimme, die andern mögen verkümmern; eine Wortgattung beherrscht den Satz, wenige Begriffe die Kunst unsrer Ahnen; ein Held sammelt die Taten aller“ 41. Roethe greift hier auf die eingangs erwähnte These Scherers zurück, der zufolge die „formlose germanische Leidenschaftlichkeit“42 gar „die Geburtsstätte unserer deutschen Sprache“ 43 sei. Ein Übermaß an Energie stehe einem Mangel an ‚formaler Bildung‘ (Humboldt) gegenüber: „Gewaltige Kraft, die doch verbraust, weil sie sich nicht zu formen weiß: ein mächtiges Volk, das sich selbst so gar nicht kennt.“44 Humboldt hatte in der formalen Bildung, die durch das Erlernen des Griechischen erreicht werde, ein Hauptziel des Gymnasiums gesehen. Roethe beschwört die im Innern des _____________ 37 38 39 40 41 42 43 44
cken ließ und von der meines Wissens allein die Bibliothek der Humboldt-Universität zu Berlin ein Exemplar besitzt (Yc192, F°4). Gustav Roethe, Humanistische und nationale Bildung. Eine historische Betrachtung. Vortrag gehalten in der Vereinigung der Freunde des humanistischen Gymnasiums in Berlin und der Provinz Brandenburg am 6. Dezember 1905, Berlin 1906. Ludwig Gurlitt, Ein Erziehungsreformer, in: Die Aktion 1 (1911), Nr. 23, Sp. 709–711, hier Sp. 710, kritisierte Roethe dafür, dass er die in den Schulromanen zum Ausdruck kommende Kritik am neuhumanistischen Bildungssystem wissentlich ignorierte. Roethe, Humanistische und nationale Bildung, S. 7. Ebd., S. 10. Ebd. Roethe, Wege der deutschen Philologie, S. 6. Scherer, Zur Geschichte der deutschen Sprache, S. 6. Roethe, Humanistische und nationale Bildung, S. 11.
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deutschen Menschen wohnende Potenz: „An Kraft hats dem Deutschen, Gott sei Dank, nie gefehlt: aber sie bedarf der Form, damit sie zur schöpferischen Tat werde.“45 Diese Potenz dürfe jedoch nicht in französischstarre, sondern allein in antik-dynamische Form gebannt werden. Die Romanisierung der deutschen Literatur im Mittelalter findet er beschämend: „Frankreich hat uns oft gelähmt, wo uns Hellas und selbst Rom befreiten.“46 Die Deutschen, jener „formspröde Stamm“, habe erst in der „Schule der Antike eine Fähigkeit des Lernens und Werdens“ 47 entwickelt. Die epische Dichtung des Mittelalters sei vorläufig, da sie ihre Formgebung nicht über die Antike erfahren habe. Roethe wundert sich, wie man glauben konnte, „durch diese deutschen Dichter die Alten ersetzen zu können.“ 48 Im geschichtlichen Entwicklungsgang der deutschen Literatur habe sich der antike Formgedanke mehr oder weniger deutlich gezeigt, und erst in der Weimarer Klassik habe sich jenes deutsche Streben nach der Antike vollendet. Schaeffer, der in seinen theoretischen Schriften und Übersetzungen am Gemeinplatz der griechisch-deutschen Synthese festhielt, griff auch, als er 1922 den Parzival zum Wolfram-Jubiläum erneuerte, 49 den damit verbundenen Gedanken deutscher Formlosigkeit auf, der in der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts für die ästhetische Selbstlegitimation ebenso topisch war. Das Paradox, der Formlosigkeit eine ästhetische Form zu verleihen, meint, dass die sprachliche Form selbst sichtbar formalisiert sein müsse, indem sie äußere Muster auf der Mikro- und Makroebene des Textes wie den Vers bzw. eine strenge Gliederung zu erkennen gibt. Auch wenn sich Schaeffer im Parzival nicht für konkrete griechische Formen interessierte, empfahl er der deutschen Dichtung den griechischen Formwillen, also die gezielte Anwendung von Schemen und Figuren wie die Gattung des Sucherromans. Darüber hinaus verband ihn mit dem ehemaligen akademischen Lehrer Roethe weiterhin die Überblendung nationaler, ästhetischer und ethischer Kategorien. _____________ 45 46 47 48 49
Ebd., S. 28. Ebd., S. 16. Ebd., S. 11. Ebd., S. 16. Vgl. Albrecht Schaeffer, Parzival. Ein Versroman in drei Kreisen, Leipzig 1922. Schaeffers Parzival konnte zum Zeitpunkt des Erscheinens auf Aufmerksamkeit rechnen, da der Stoff unter Germanisten und literarisch Gebildeten allein schon wegen des 700jährigen Wolfram-Jubiläums von 1921 präsent war, und andererseits genossen große Versepen in der literarischen Öffentlichkeit kein geringes Ansehen, wie das Beispiel Carl Spittelers zeigt, der 1920 den Nobelpreis für seinen Olympischen Frühling (1900–1905) erhalten hatte. Die Popularität bezeugt auch eine Studie zum zeitgenössischen Versepos: Walter Arthur Berendsohn, Der Stil Carl Spittelers. Zur Frage des Versepos in neuerer Zeit, Zürich 1923, die auch auf Schaeffer eingeht, ebd., S. 39.
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In seiner Bearbeitung der Parzival-Dichtung Wolframs stellt sich Schaeffer der Frage, wie sich der deutsche Charakter bzw. sein Prinzip der Selbstbildung ästhetisch zur Darstellung bringen lasse. Dabei akzentuiert er mit der Schuld des Helden ein schon bei Wolfram angelegtes Element der Parzival-Charakteristik. Parzival ist anders als Faust kein Held der Tat, die als Quelle der Verschuldung angesehen wird. Obzwar Schaeffer von Roethes ästhetischer Ideologie inspiriert war, lässt sich aus der ideologischen Gemeinsamkeit noch keine politische ableiten. Schaeffers Reflexion auf das Deutsche zeigt weder nationalistische noch chauvinistische Reflexe, sondern wird ganz im Gegenteil dem Pazifismus dienstbar gemacht. Im Angesicht des Ersten Weltkrieges hatte sich in der Literatur ein pazifistisches Bewusstsein gebildet, das die Schuldigkeit des Menschen als conditio humana und das Leben als einen stetig wachsenden Schuldzusammenhang verstand. Schaeffers Parzival als Buch vom deutschen Charakter ist für dieses Bewusstsein beispielhaft und erweist sich als Alternative zum militaristischen Deutschtum genau im selben Sinn, wie Cassirers Buch Freiheit und Form über den Formbegriff versucht, ein anderes, geistiges, Deutschland als das der Kriegspropaganda zu exponieren. 50 Während der Entstehung des Parzival im Winter 1918/19 betonte Schaeffer gegenüber Katharina Kippenberg den pazifistischen Grundgedanken in seiner nationalen Perspektive: „Der Sucher, der unerschütterlich seiner Sehnsucht Treue, Parzival, vorfaustisch, ist ja der eigentliche Held unsers Volkes, nicht der militaristische Siegfried.“51 Den Antimilitarismus des USPD-Wählers Schaeffer dürfte die Lektüre von Heinrich Manns Untertan am 26.12.1918 bestärkt haben.52 In der ‚Selbstkritik‘ (1934/1948) des Parzival wird der Schuldgedanke wieder aufgegriffen: „Das Leben ist Verschuldung; sobald das Leben beginnt, fängt die Verschuldung an; oder aus dem Munde Gurnemanzens: ‚Allen Seins Beginn _____________ 50
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Massimo Ferrari, Ernst Cassirer. Stationen einer philosophischen Biographie. Von der Marburger Schule zur Kulturphilosophie, aus dem Italienischen übers. v. Marion Lauschke, Hamburg 2003 (= Cassirer-Forschungen, 11), S. 32, deutet Cassirers Arbeit an Freiheit und Form als die Suche nach Trost „in einem Deutschland, das anders war als das der brutalen Kriegspropaganda“. Es sei jene durch Goethes Bildungsbegriff charakterisierte ‚deutsche Kultur‘, die Cassirer der Realität entgegengestellt habe. Albrecht Schaeffer an Katharina Kippenberg am 20.1.1919 [DLA A:Kippenberg 64.1461/38]. Vgl. die von Schaeffer autorisierte Tagebuchaufzeichnung: Albrecht Schaeffer, Urania. Das Buch meines Lebens. Bruchstück eines Tagebuches, in: Die Horen 3 (1927), S. 25–41, hier S. 35: „Sehr bewegt vom ‚Untertan‘ Heinrich Manns“, und S. 37. Für Schaeffer wäre es nicht verwunderlich, wenn er diese Tagebuchaufzeichnung für die Publikation stilisiert hätte. Viele Fakten korrespondieren jedoch auch mit dem im Folgenden ausgewerteten Briefwechsel aus dem Winter 1918/1919. – Unklar bleibt Schaeffers Bekenntnis zu Hindenburg in diesem Zusammenhang (ebd., S. 25).
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ist Schuld.‘“53 Schaeffer verbindet in seiner Dichtung die Idee jener dynamischen Selbstvollendung des Individuums, die den deutschen Charakter präge, mit dem zeittypischen „Schicksals-Element der Verschuldung“54. Stefan Zweigs Legende Die Augen des ewigen Bruders (1921), deren ethischer Kern ein „Gesetz der Schuld“ 55 bildet, stellt zu Schaeffers Parzival ein Gegenstück dar;56 Ernst Tollers Masse Mensch (1919) gehört in diesen Kontext,57 letztlich aber auch Franz Kafkas Proceß von 1919. Der messianisch ausgerichtete Gedanke einer wachsenden Verschuldung artikuliert sich gleichfalls in Arbeiten Walter Benjamins, wobei mit Blick auf seine Literaturkritik der Aufsatz zu Goethes Wahlverwandtschaften (1924) heraussticht. 58 Wenn ab 1919 ethische Fragen an literarischen Texten literaturwissenschaftlich sowie dichterisch mit demselben erkenntnistheoretischen Ernst erörtert wurden, deutet dies auf den latenten Zusammenhang beider Seiten hin. Die Poetik berührt sich mit der Hermeneutik, sobald sich Dichtung mit historisch fremder Dichtung auseinandersetzt. Die Vermittlung zwischen dem Werk und dem zeitgenössischen Sinnhorizont, der verschiedene Deutungsparadigmen enthält, fordert die interpretatorische Tätigkeit des Philologen und Dichters zu jeder Zeit aufs Neue, da der Sinnhorizont in Bewegung ist. Sobald die bisherige Metasprache historisch geworden ist, besteht die Notwendigkeit ihrer erneuten Justierung am Text – und zwar hinsichtlich des Anspruches, der von diesem gestellt wird. Der Text bleibt mit sich identisch, aber sein Verstehenshorizont ist in einer Bewegung, aus welcher die Pluralität der Bedeutung hervorgeht. Genau wie also das kritische Genre der Interpretation zwischen Text und _____________ 53 54 55 56 57
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Albrecht Schaeffer, Parzival. Eine Untersuchung, Typoskript 1948, S. 7 [DLA A:Schaeffer 57.5836d]. – Begonnen wurde die Untersuchung 1934. Ebd. Stefan Zweig, Legenden, Stockholm 1945, S. 72. – Am Rande sei daran erinnert, dass Stefan Zweig, Schaeffers Talent erkennend, ihn an den Insel Verlag vermittelte. Vgl. Alfred Mohrhenn, Einführung, in: Albrecht Schaeffer, Parzival. Ein Versroman. Vom Dichter getroffene Auswahl, hg. v. A. M., Bielefeld/Leipzig 1933 (= Deutsche Ausgaben, 275), S. XI. Vgl. Ernst Toller, Masse Mensch. Ein Stück aus der sozialen Revolution des 20. Jahrhunderts, Potsdam 1921, S. 64: „Leben ist Schuld“. – Zum Kontext und mit Blick auf Walter Benjamin s. Birgit Schreiber, Politische Retheologisierung. Ernst Tollers frühe Dramatik als Suche nach einer „Politik der reinen Mittel“, Würzburg 1997 (= Epistemata. Reihe Literaturwissenschaft, 186), S. 140. Darin grenzt sich Benjamin von der Auffassung Gundolfs ab, der in seinem Goethe-Buch (1916) die „schicksalhafte Art des Daseins“ mit pflanzlicher Metaphorik zu erfassen suchte: „Das Schicksal […] betrifft das Leben unschuldiger Pflanzen nicht. Nichts ist diesem ferner. Unaufhaltsam entfaltet es sich im verschuldeten Leben. Schicksal ist der Schuldzusammenhang von Lebendigem“ (Walter Benjamin, Goethes Wahlverwandtschaften, in: Johann Wolfgang Goethe, Die Wahlverwandschaften. Ein Roman, Erläuterungen v. Hans-J. Weitz, Frankfurt a. M. 1972 [= insel taschenbuch I], S. 253–333, hier S. 268).
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Sinnhorizont vermittelt, können die Nachdichtung, die Übersetzung sowie die poetische Konjektur als hermeneutische Vermittlungsleistungen begriffen werden. Eines der Deutungsparadigmen, in dessen Licht Schaeffer den Parzival umarbeitete, ist das der Schuld.59 Produktionsästhetisch von Bedeutung ist dabei sein Formbegriff, in dem sich ethische und ästhetische Kategorien überlagern und der deshalb schwer zu fassen ist, weil er antiformalistische und formalistische Tendenzen kombiniert. Gerade die Auffassung deutscher Formlosigkeit verlangt nach Erklärung. 1.2. Diffusionen des Formbegriffs Form gehört für Schaeffer wie Wesen, Gestalt, Charakter, Streben, germanisch, gotisch und apollinisch, Bewußtsein, Un- und Unterbewußtsein zu seinen „dürftigen paar Termini“ 60. Er müsse, sobald er nicht mehr in Bildern spreche, eine unermeßliche Mühe darauf verwenden, nicht – klarzumachen, was ich meine, sondern erst das Gemeinte klar zu umreißen, so daß man, wenn ich Form sage, nicht an Formales denke – was Gestalt, Erscheinung, Figur heißen kann –, sondern an geformtes Leben nur. 61
Wenn sich Schaeffer selbst darüber im Klaren war, dass seine Verwendungsweise von Form diffus ist, tut es umso mehr Not, die Begriffsbereiche zu sortieren, zumal es im Parzival Schaeffer zufolge immerhin darum geht, deutscher Formlosigkeit Form zu geben. Schaeffers Zeitgenossen konnten noch auf eine stillschweigende Übereinkunft rechnen, wenn sie Form sagten. Dass die ästhetische Kategorie der Form und die ethische Kategorie des Charakters bei Schaeffer zusammentreffen, hat die zeitgenössische Formkritik umgehend gespürt. Die Verflechtung von historisch-kritischem Formdiskurs und Gegenwartsdichtung prägt den Blick auf Schaeffers Werk, das unter zeitgenössi_____________ 59
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Womit er eine auch heute noch zentrale Frage des Textes aufwarf: „Das unwissentliche Schuldigwerden Parzivals bleibt nach wie vor schwer zu begreifen; es kann vielleicht am ehesten als Folge der (quasi notwendigen) Hinfälligkeit des erbsündigen Menschen gedeutet werden“ (Eberhard Nellmann, Probleme der Interpretation, in: Wolfram von Eschenbach, Parzival, nach der Ausgabe Karl Lachmanns revidiert und kommentiert v. E. N., Bd. 2, Frankfurt a. M. 2006, S. 422). – Inwiefern die seit den Anfängen der ParzivalDeutung beliebte theologische Interpretation historisch gerechtfertigt ist, fragt Walter Blank, Mittelalterliche Dichtung oder Theologie? Zur Schuld Parzivals, in: Zeitschrift für deutsches Altertum 100 (1971), S. 133–148. Albrecht Schaeffer, Stefan George, in: Ders., Dichter und Dichtung, S. 297–501, hier S. 308. Ebd.
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schen Literaturwissenschaftlern keinesfalls als neoromantisch und epigonal, sondern als experimentell galt, weil es Ausdruck einer fortwährenden Suche nach neuen formalen Lösungen war. 62 Insofern sind die Versromane und der dreibändige Roman Helianth in doppelter Hinsicht SucherRomane und damit für Philologen und Literaturhistoriker interessant: Neben Leo Spitzer, 63 dem Jean-Paul-Forscher Eduard Berend 64, Rudolf Ibel 65 und Walter Muschg 66 befasste sich auch Oskar Walzel mit Schaeffer. Er zählte ihn zwar nicht zum Expressionismus,67 sah aber Korrespondenzen. Schaeffers Roman Helianth werfe die Frage auf, wie weit der Roman als eine „künstlerische Form, die sich den Absichten der Eindruckskunst besonders gut anschmiegen konnte, in die Welt der Ausdrucksdichtung übergehen kann.“ 68 Walzel, der die jüngsten inhaltlichen und formalen Erneuerungsversuche als Ausdruck einer Verunsicherung begreift, sieht im Helianth und in der Odyssee-Nachdichtung Der göttliche Dulder (1920) den Versuch, „dem Roman der Gegenwart eine neue Form zu geben“ 69. In dem Beitrag, der 1922 in der Germanisch-Romanischen Monatsschrift erschien, greift Walzel eine formästhetische Bemerkung Schaeffers aus dem dritten Teil des Helianth auf. Der Held Georg liest dort seinem Freund _____________ 62 63 64 65
66 67 68 69
Die Ausführungen von V.1.2. überschneiden sich in der ersten Hälfte zum Teil mit Nebrig, Immer der Sonne nach. Albrecht Schaeffers Helianth, der Entwicklungsroman und die Literaturwissenschaft der 1920er Jahre [Abschnitt V]. Leo Spitzer, Vergleich des Proust’schen Stils mit dem Albrecht Schaeffers, in: Ders., Stilstudien, Bd. 2: Stilsprachen, München 21961, S. 473–482. Eduard Berend, Die Technik der ‚Darstellung‘ in der Erzählung, in: GermanischRomanische Monatsschrift 14 (1926), S. 222–233. Zwar versteht sich Ibels Rezension (Albrecht Schaeffers Parzival-Epos. [Ein Brief], in: Der Kreis. Zeitschrift für künstlerische Kultur 9 [1932], S. 633–637) nicht als fachwissenschaftlichen Beitrag, doch ist Ibel selbst promovierter Germanist (Die Lyrik Philipp von Zesens. Ein Beitrag zur Erkenntnis des lyrischen Stils im 17. Jahrhundert, Würzburg 1922). – Ibel verstand sich als Schüler Oskar Walzels, vgl. Rudolf Ibel an Oskar Walzel am 30.11.1928 [DLA A:Walzel]. Ibel, der Parzival als „Wanderer und Sucher deutschen Geblüts“ bezeichnet, bemerkt zu Schaeffers Form in Walzels Kategorien ‚Gehalt und Gestalt‘: „Wie mir nur gelebtes Leben gilt, so auch nur gestaltete Dichtung, d. h. jene im Worte erscheinende Einheit von Gehalt und Gestalt, deren Ursprung stets das Wunder der Kunst bleiben wird. Die Formfrage einer Dichtung ist somit mehr als eine Angelegenheit der Ästheten oder Literaturhistoriker und Philologen, sie ist für den Deutschen insbesondere eine Lebensfrage“ (Ibel, Albrecht Schaeffers Parzival-Epos, S. 636). Walter Muschg, Der dichterische Charakter. Eine Studie über Albrecht Schaeffers „Helianth“, Berlin 1929. Vgl. Oskar Walzel, Albrecht Schaeffer. I/II, in: Germanisch-Romanische Monatsschrift 10 (1922), S. 150–162/213–220, hier S. 150f.: „Dem Expressionismus im strengern Wortsinn […] hat Schaeffer sich niemals ergeben.“ Ebd., S. 150. Ebd. – Über Ernst Toller und die Revolution äußerte sich Schaeffer brieflich gegenüber seiner Frau Irma am 18.4.1919 [DLA A:Schaeffer Slg Bekk].
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Benno eine Abhandlung über Gustave Flauberts Education Sentimentale (1869) vor, in welcher er die These aufstellt, die innere Form als das Formprinzip zahlreicher deutscher Dichtungen sei diejenige des Parzival, verwirklicht in Wolframs Versroman Parzival selbst, in Grimmelshausens Simplizissimus, Goethes Faust und Wilhelm Meister. Den anderen Literaturen sei die Parzivalform bislang unbekannt geblieben, weshalb es sich bei dieser inneren Form um eine spezifisch deutsche Form handele. 70 Zwar habe gerade Chrétien de Troyes einen Sinn für Form besessen, doch nur als ein Wissen um Formales, „ohne Wissen von wirklicher Form.“ 71 Das eigentliche Schicksal von Parzival, dem reinen Toren, sei die reine Form gewesen: „Erkennen und Wissen um eine Bestimmung, Suchen des Weges, das Streben nach Erlösung: Formung des Lebens ist das, Erlösung des eigenen Ich und der chaotischen Welt im geformten Schicksal, in der reinen Form.“ 72 Walzel sieht hier eine Bestätigung seiner formtheoretischen Thesen,73 die sich wiederum auf Georg Simmels Rembrandt-Essay von 1916 stützen, 74 wo ein romanisches von einem deutsch-germanischen Formbewusstsein geschieden wird. Das überindividuelle Formverständnis der Romanen genüge den deutschen Dichtern nicht, die seit Goethe und der Romantik „das Leben in dem Augenblick erfassen [möchten], in dem es an die Oberfläche tritt, es nicht umsetzen in eine längst bestehende, vorbestimmte Gestalt.“ 75 Der Verzicht auf eine allgemeine Form sichere dem „Persönlichsten volle Unbeschränktheit.“76 Als Konsequenz besitze jedes Kunstwerk deshalb „auf solche deutsche Weise seine eigene Gestalt.“ Solche von inneren Gesetzen hervorgebrachte Kunstwerke bezeichnet _____________ 70
71 72 73 74 75 76
Vgl. auch das Vorwort der von Alfred Mohrhenn erstellten Auswahl, wo es heißt, dass Wolfram mit dem Parzival zuerst den Versuch gewagt habe, „uns ein Bild vom deutschen Menschen zu geben“ (Ders., Einführung, in: Schaeffer, Parzival. Ein Versroman [1933], S. III). – Mit ‚deutscher Form‘ ist gerade nicht die nationalistische Sehnsucht nach einer äußeren Einheit im Stil gemeint, wie sie Georg Fuchs (1868–1949) vorschwebte: G. F., Deutsche Form. Betrachtungen über die Berliner Jahrhundertausstellung und die Münchner Retrospektive. Mit einer Einleitung: Von den letzten Dingen in der Kunst, München 21907. Albrecht Schaeffer, Helianth. Bilder aus dem Leben zweier Menschen von heute und aus der norddeutschen Tiefebene in neun Büchern dargestellt. Der drei Bände dritter, Leipzig 1920, S. 751. Ebd. Walzel, Gehalt und Gestalt, S. 323f., führt die Aufsätze an, in denen er diese Thesen entwickelt habe. Walzel bezieht sich vor allem auf folgende Stellen: Georg Simmel, Rembrandt. Ein kunstphilosophischer Versuch, Leipzig 1916, S. 69f., 78f., 201f. Ebenso wichtig: Ernst Cassirer, Freiheit und Form, Berlin 1917. Walzel, Albrecht Schaeffer. I, S. 153. Ebd.
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Walzel mit dem romantischen Terminus organisch, 77 wobei er neben die ästhetische Kategorie der organischen Kunst die ethische Kategorie der organischen Sittlichkeit stellt. Schaeffer meine mit der zitierten Stelle organische Sittlichkeit: „Ihm sind Parzival und dessen Nachfolger Sucher nach dem Gesetz, das in ihrer Persönlichkeit enthalten ist.“ 78 Die innere Form im ethischen Bereich des Charakters sei jedoch von derjenigen, die den ästhetischen Bereich vorbildet, kaum zu trennen, wie sich an mehreren Stellen bei Schaeffer, dem Formkünstler, zeige. So müsse, wer Schaeffers Werke ergründen wolle, „seine Anschauung von sittlicher wie von künstlerischer Form im Auge behalten.“ 79 Diese Argumentation besteht aus drei zirkulär angelegten Schritten: die ethische innere Form der freiheitlichen Selbstentfaltung besitze eine ästhetische Entsprechung in der inneren Form der Suche (1), für die der Name ‚Parzival‘ einsteht (2), diese wiederum sei genuin deutsch (3). Im Helianth suchen „Menschen nach dem Gesetz ihrer Persönlichkeit, nach der sittlichen Form, die ihrem Wesen entspricht.“80 Notwendig sei auch der Autor selbst ein „Formsucher“ nach der deutschen Form.81 Hieraus resultiere: „Jedem Kunstwerk ergibt sich auf solche deutsche Weise seine eigene Gestalt“82. Schaeffers Parzival war erst nach Abfassung des Manuskripts erschienen, so dass ihn Walzel am Ende nur erwähnen konnte.83 Aber seine für Schaeffers Göttlichen Dulder formulierte These, dieses Werk setze die „antike geschlossene Gestalt der ‚Odyssee‘ um in eine fließende, reichbewegte Form, in deutsche Form“84, würde Walzel sicherlich auch hier angewendet haben. Die achtzehn Einwände, die Schaeffer umgehend gegen Walzels Lektüren in den Preußischen Jahrbüchern vorbrachte, 85 berühren Aspekte der Handlungsebene und der literaturgeschichtlichen Einordnung, sie richten sich jedoch nicht gegen die Deutung als Autor von Sucher-Romanen innerer Form, eine Deutung, die Schaeffer in seinen Kritischen Versuchen bestä_____________ 77 78 79 80 81 82 83 84 85
Ebd. Ebd. Ebd. Ebd. – Diesen Aspekt behandelt monographisch Walter Breuer, Begegnung und Selbstbegegnung in Albrecht Schaeffers „Helianth“. Eine Studie zum Problem der Menschendarstellung im deutschen Bildungsroman, Diss. Bonn 1961. Walzel, Albrecht Schaeffer. I, S. 162. Ebd., S. 153. Ebd., S. 220. Ebd., S. 162. Albrecht Schaeffer, Ein Kommentar zum Helianth, in: Preußische Jahrbücher 196 (1924), H. 1, S. 17–40.
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tigt. 86 Zudem bewegt sich Schaeffer in der Metasprache Walzels, wenn er meint, dass er als Verfasser doch noch am besten Auskunft über die „Einzelheiten der Gestalten und Gehalte“ 87 geben könne. Ein Widerspruch tut sich auf, wo sich Schaeffer gegen Walzels These wehrt, die Formlosigkeiten im Göttlichen Dulder seien intendiert und entsprächen der deutschen Form. Schaeffer entschuldigt die Heterogenität seiner Homer-Adaption mit der langen Entstehungsgeschichte und sieht in der Formlosigkeit eine Schwäche, nicht aber den Ausdruck seines Formwillens. 88 Er hat kein grundsätzliches Problem mit Walzels Begriff der deutschen Form; wie noch zu zeigen sein wird, operiert er selbst mit den Begriffen Formlosigkeit und Formwillen. Was Schaeffer eher stört, ist, dass er laut Walzel als Dichter ein allgemeines, auch von anderen Dichtern gebrauchtes Verfahren erfülle. Die Kontroverse mit Eduard Berend zum selben Gegenstand bestätigt den Verdacht, dass sich Schaeffer gegen die begriffliche Vereinnahmung seines Werks durch die Literaturwissenschaft richtet. Berend benutzte, ebenfalls in der Germanisch-Romanischen Monatsschrift, Schaeffers Helianth als Muster jenes epischen Formprinzips, das durch szenische Darstellungsformen den Eindruck von Objektivität erzeugt. 89 Schaeffer wehrte sich im selben Organ, irgendwelche Formprinzipien zur Anwendung gebracht zu haben. 90 Auf die Frage nach dem zu Grunde liegenden Formprinzip gebe es nur eine Antwort: „daß es keine Prinzipien an sich gibt, sondern nur Werke, denen sie immanent sind, aus denen man sie ablösen und deren Ordnung man in ihnen erkennen kann.“ 91 Brieflich ließ er Berend wissen: „Im Gegenteil liegt es durchaus in meinem Stilgefühl, dass eine jede Dichtung von innen heraus sich ihre Form entwickelt. Und es ist keinesfalls meine Absicht, eine einmal gebrauchte Form zu normalisieren und spätere Dichtungen wieder darauf einzurichten.“92 Individuelles Formprinzip und übertragbares Formprinzip werden von Schaeffer geschieden. Form bedeutet für Schaeffer nicht etwas Formales, das er zur Anwendung bringt _____________ 86 87 88 89 90 91 92
Vgl. Albrecht Schaeffer, Über Tragödie und Epos, in: Ders., Dichter und Dichtung. Kritische Versuche, Leipzig 1923, S. 161–296, hier S. 286f. Ebd., S. 17. Ebd., S. 39: „Außerdem wurde das Uebel der Formlosigkeit, wo nicht zu beseitigen, doch durch Ordnung und Teilung zu mildern versucht. Erreicht wurden die beiden Ziele keineswegs.“ Im Einzelnen aber sehe er (ebd., S. 40) ‚Formgesetzlichkeit‘. Erzähltechnischen Problemen im Roman widmet sich Ingrid Hausmann, Die Erzählhaltung in Albrecht Schaeffers „Helianth“. Bauform, Sprachform, Symbolform, Diss. Köln 1961. Albrecht Schaeffer, Die Technik der ‚Darstellung‘ in der Erzählung, in: GermanischRomanische Monatsschrift 15 (1927), S. 13–18. Ebd., S. 18. Albrecht Schaeffer an Eduard Berend am 5.12.1924 [DLA Marbach A:Berend 57.1515].
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und das literaturwissenschaftlich verallgemeinert werden kann. Dennoch bleibt Form eine ihn faszinierende Kategorie, die ethische und ästhetische Aspekte überblendet, wie dies auch für eine bestimmte Auffassung vom Expressionismus kennzeichnend ist. Schaeffers literarischer Formbegriff beansprucht einen direkten Bezug zur Lebenswirklichkeit, weshalb die Form echter Dichtung Erlebnis sei. 93 Alles andere wäre nur äußere Form wie beim Balladendichter des neunzehnten Jahrhunderts. 94 Für Schaeffer besteht ein Übergang von der Form zur Schuld, da er die Erkenntnis des Lebens im Erlebnis als Erkenntnis einer Urschuld begreift. So gesehen hat Schaeffer den Übergang vom Ästhetizismus zu einem ethischen Literaturbegriff vollzogen, was ihn wiederum in die Nähe des Expressionismus bringt. Obwohl er sich bisweilen polemisch gegen den Expressionismus gewendet hat 95 und von Literaturhistorikern der Neoromantik 96 und den Rändern des George-Kreises zugerechnet wird,97 stand er einem bestimmten Verständnis von Expressionismus nahe. So kommt es, dass in Schaeffers Parzival neoromantische und desgleichen expressionistische Züge beobachtet werden können. In ein und derselben Studie zum Parzival ist einerseits die Rede von einem „symbolisch-romantischen Gestaltungswil-
_____________ 93 94 95
96
97
Vgl. Schaeffer, Über George, in: Ders., Dichter und Dichtung, S. 308f. Das „Vergangene zu gestalten und zu erhalten; es in dauerhafte Form zu prägen“, versuche dieser, so Albrecht Schaeffer, Über die Ballade, in: Ders., Dichter und Dichtung, S. 126– 150, hier S. 137. Vgl. den Brief an Else Michel vom 29.12.1918, wo es, S. 4, heißt, „das expressionistische Geschrei“ [DLA A:Schaeffer 87.87/17] sei Beweis für die Gottlosigkeit der modernen Kunst. – Zum Expressionismus-Begriff nach 1920 s. Wilhelm Haefs, Nachexpressionismus. Zur literarischen Situation um 1920, in: Bernhard Gajek et al. (Hg.), Georg Britting (1891–1964). Vorträge des Regensburger Kolloquiums 1991. Frankfurt a. M. 1993 (= Regensburger Beiträge zur deutschen Sprach- u. Literaturwissenschaft, 52), S. 74–98. Repräsentativ dafür ist der Artikel zur Neuromantik von Irmgard Schweikle in: Günther Schweikle/Dies., Metzler Literatur Lexikon, Stuttgart 21990, S. 326. – Zur literarischen Strömung s. Guido K. Brand, Neuromantik, in: Ludwig Marcuse (Hg.), Weltliteratur der Gegenwart, Bd. 1: Deutschland, Berlin 1924, S. 81–190, zu Schaeffer S. 170–174. Anne Kimmich, Kritische Auseinandersetzung mit dem Begriff „Neuromantik“ in der Literaturgeschichtsschreibung, Diss. Tübingen 1936, und Wolfgang Paulsen (Hg.), Das Nachleben der Romantik in der modernen deutschen Literatur, Heidelberg 1969. – Schaeffer selbst stellte Teile seines Schaffens in die romantische Tradition. In Die Meerfahrt (1906), ein Vorläufer von Der Göttliche Dulder, bleibe „die eigentliche Wurzel der Romantik evident“ (Albrecht Schaeffer, Das Werk. Eine Bibliographie mit 2 biographischen Aufsätzen des Dichters, hg. v. Walter Ehlers, Hamburg 1935, S. 45). Vgl. hierzu den Essay von Friedrich Gundolf Stefan George und der Expressionismus (1920). Darin stellt Gundolf den formkritischen Affekt der Expressionisten, der sich gegen die poetische Produktion des George-Kreises richtet und diese als ‚Formalismus‘ diskreditiert, als ein Missverständnis dar (abgedruckt in: Anz/Stark [Hg.], Expressionismus, S. 92–97).
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len“ 98, andererseits von „der Vorliebe des Expressionisten für das schauerlich Groteske“ 99 sowie vom „Stil des Expressionismus“100, der ein Inneres veräußerlichte. 101 Im Sinne der Veräußerlichung einer bereits im Innern vorgebildeten Form als eines Erlebnisses versteht Schaeffer Dichtung als Ausdruck inneren Lebens. Insofern diese innere Form ethisch ist, ist die Repräsentation ihres Ausdrucks die ästhetische Form. Form kann daher bei Schaeffer innerlich und äußerlich codiert sein, wohingegen Form als Schematisierung oder als allgemein einsetzbare Schablone strikt abgelehnt wird. In der Vorbemerkung zu seiner Sammlung kritischer Versuche Dichter und Dichtung von 1923 stellt er die populäre These auf, die Entwicklung des lyrischen Sprechens habe im deutschen Sprachraum seit Johann Christian Günther hingearbeitet über Klopstock, Goethe und Hölderlin auf „den Gewinn eigenen Lebens, eigener Rhythmik und eigener Maße, um […] Ausdruck inneren Lebens“102 als dem Ziel der Kunst zu erwirken. Diese Annahme überschneidet sich mit der expressionistischen Auffassung; Schaeffer grenzt sich aber im selben Atemzug wieder von ihr ab. An den Expressionisten kritisiert er ihren ästhetischen Freiheitswillen, der die Vermittlung des Inneren leugne. Nach diesem falschen Verständnis sei Kunst „der unmittelbare oder unvermittelte Ausdruck inneren Lebens.“ 103 Gerade das will Schaeffer nicht. Um „vom Innen zum Außen, von der Vision zur Gestalt“104 zu gelangen, bedürfe es formaler Übergänge. Die Notwendigkeit, dass der innere Ausdruck in einer Form vermittelt werde, hätten die expressionistischen Dichter verkannt, womit sie konträr zur echten gotischen Kunstauffassung stünden,105 auf die sie sich vermeintli_____________ 98
99 100 101 102 103 104 105
Alexandra Melnyk, Schaeffers und Wolframs Parzival-Epen, Diss. Graz 1948, S. 8, s. auch S. 22. – Melnyk spricht von einer „romantisch-pantheistisch-mystischen“ Weltanschauung (ebd., S. 9, und ausführlich dazu S. 98–102), von der „Sehnsucht des romantischen Menschen“ (ebd., S. 13), von einer „Verwandtschaft mit den Romantikern“ (ebd., S. 31). Ebd., S. 58. Ebd., S. 14. Die Naturschilderungen mischten sogar „Romantik und Expressionismus“ (ebd., S. 73). Schaeffer, Vorbemerkung, in: Ders., Dichter und Dichtung, S. 6. Schaeffer, Über Lessing, in: Ders., Dichter und Dichtung, S. 25. Ebd., S. 26. Mit Worringers Formproblemen der Gotik (1911) befasste sich Schaeffer Ende 1921, vgl. Albrecht Schaeffer an Ludwig Strauß am 19.12.1921 [DLA A:Schaeffer 62.87/17]. Vgl. Albrecht Schaeffer, Vorbemerkung (Ders., Dichter und Dichtung, S. 7f.). – Zur gotischen Literatur im eigentlichen Sinn s. den Artikel von Helmut de Boor im RLG I, S. 601–603. – Aus dem Verzeichnis des Personals der Lehrer, Beamten und Studierenden an der königlich bayerischen Ludwig-Maximilians-Universität zu München, Sommer-Semester 1905, München 1905, S. 111 bzw. 133, geht hervor, dass Worringer wie Schaeffer im Sommer 1905 in München immatrikuliert waren.
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cher Weise beriefen. 106 Den „heutigen Expressionisten“ wirft er im Essay Über die Ballade „Verfälschung gleichsam des expressionistischen Wesens aller Kunst“ 107 vor, wenn sie in der Unmittelbarkeit allein eine Deformation des sprachlichen Ausdrucks sähen. Schaeffers Scheidung eines falschen von einem wahren Expressionismus bringt ihn dahin, aus Friedrich Hölderlin einen Expressionisten avant la lettre zu machen.108 Die expressionistische Prämisse, die Kunst habe die Aufgabe, inneres Leben zu formen, korreliert mit der Synthese von griechischem und gotischem Prinzip und strukturell mit jener von Roethe geforderten Verbindung von antiker Form und deutscher Leidenschaft. Die Behauptung des Fehlens einer formalen Vermittlung bei den falschen Expressionisten mit ihrer „Sucht nach Unmittelbarkeit“ 109 ermöglicht es Schaeffer, ästhetisch eigene Wege zu gehen und sich dennoch das expressionistische Prinzip dienstbar für die eigene Position zu machen, weshalb diese nicht bloß als eine romantische Reaktion zu verstehen ist. Vielmehr kommt in seiner Haltung die Verwandtschaft von Romantik und Expressionismus in der Sehnsucht nach dem Unendlichen zum Ausdruck. Auch Wolfram wird von Schaeffer indirekt analogisiert mit dem romantischen Menschen. Der romantisch gewordene Mensch zeichne sich dadurch aus, dass er den Verlust des Glaubens mit Sehnsucht kompensiert habe: „er glaubte weniger und sehnte sich um so mehr.“ 110 Schaeffer, der in den Formen der deutschen und antiken Literatur bewandert war, konnte oder wollte sie nicht aufkündigen. Stattdessen füllte er den Raum, der die ästhetische Vermittlung des Inneren umfasst, mit den formalen Mitteln der antiken, romanischen und deutschen Literaturen, erweiterte die Ausdruckskunst mit klassischen Formen und verstand diese Formen als formale Übergänge zwischen einem Innen- und einem Außenraum, nicht allein als leblose Schemata. Die traditionellen äußeren literarischen Formen wie Metrum, Reim und Strophen mussten dabei jedoch von ihrer schematischen Äußerlichkeit mittels ihrer Verinnerlichung befreit werden. Das meint, dass sie nicht mehr verwendet werden _____________ 106 Vgl. in diesem Zusammenhang die zeitgenössische Kritik an der populären Auffassung, der Expressionismus sei eine gotische Bewegung, von Hatvani, Der Expressionismus ist tot…, S. 4. Huelsenbeck, Disziplin der Gegenwart, Sp. 472, hatte kurz vor Ausbruch des Ersten Weltkrieges in der Aktion diagnostiziert: „Das Gotische wird wieder modern. In den Flugblättern deutscher Nation […] haben sie das Hildebrandslied aufgetan und seine steifen Rhythmen, so sie auch Ernst Lissauer beherrscht. Die deutsche Kultur, die heute nicht existiert, hat einmal existiert, bis der Dreißigjährige Krieg kam und sie vernichtete. Das ist der Sinn der Pose. Darum wühlen sie in abgelagerten Chansons“. 107 Schaeffer, Über die Ballade, in: Ders., Dichter und Dichtung, S. 126. 108 Ebd., S. 127. 109 Schaeffer, Über Lessing, in: Ders., Dichter und Dichtung, S. 26. 110 Schaeffer, Über die Ballade, in: Ders., Dichter und Dichtung, S. 143.
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dürften zur Darstellung der äußeren Wirklichkeit, sondern nur noch der inneren Welt. Eine solche Argumentation verläuft zirkulär, indem die Form eben nicht nur das Innere nach außen bringt, sondern auch das Äußere nach innen. Dieses zirkuläre Verständnis der Form hat Konsequenzen für das Verhältnis des Dichters zu seiner Wirklichkeit, die, genau genommen, nicht mehr interessiert. Nicht äußere Welt soll dargestellt, sondern innere zum Ausdruck gebracht werden. Den Vorgang einer Verinnerlichung der Formen erörtert Schaeffer an der Gattung der Ballade. Vom Balladendichter fordert er Unmittelbarkeit des inneren Lebens, das aber durch die Sinnlichkeit des Äußeren verdeckt werde. Die besonders bei Balladendichtern des neunzehnten Jahrhunderts anzutreffende „äußere Originellität“ lehnt Schaeffer ab, denn „sie gaben nicht eigentlich das Leben, sondern weckten nur fremdes Leben aus seiner Schlafstarre, bekleideten und verzierten es und so wurden sie selber ein wenig lebendig.“ 111 Dieser Satz ist für das Verständnis von Schaeffers Parzival wichtig, weil auch dort nicht mehr versucht wird, anders als in den historistischen Epennachahmungen des neunzehnten Jahrhunderts, ‚fremdes Leben aus seiner Schlafstarre‘ zu wecken. Die Bedeutung der ethisch-inneren Form ergibt sich für Schaeffer gleichfalls aus der allgemeinen Tendenz der poetischen Verinnerlichung, die schon von Hegel diagnostiziert worden war. Mit der Entdeckung der ‚Seele‘ als eines unendlichen Raumes sei die äußere Welt weniger interessant für die Poesie geworden. 112 Eine Welt als seelischer Innenraum war der zentrale Gegenstand geworden. 113 Daher habe der Künstler die Aufgabe, „das in ihm Lebendige der Welt zu verbildlichen“ 114, nicht aber die Welt selbst. Schaeffer hat in seiner Sammlung Michael Schwertlos von dieser nahezu stofflosen Balladenform Beispiele gegeben. 115 In gewisser Weise ist seine Sicht platonisch und essentialistisch: Wenn Formen Ideen ausdrücken, sind sie deren Manifestationen; ein solcher Vorgang gelingt aber nur dann, wenn Formen auch Ideen ausdrücken und nicht mehr äußere Wirklichkeit darstellen. Die traditionellen Formen, einmal befreit von der Last, äußere Wirklichkeit darstellen zu müssen, eröffnen dem modernen Dichter daher einen ungeheuren Möglichkeitsraum; die Formlosigkeit _____________ 111 Ebd., S. 145. 112 Damit steht Schaeffer zivilisationskritischen Autoren wie George nahe, aber auch Walther Rathenau. George und Rathenau zogen am selben Strang, wenn sie eine Alternative zur industrialisierten Gegenwart in der Kunst anpriesen. Nicht als Zweckgemeinschaft, sondern als „Heimat der Seele“ verstand Walther Rathenau die menschliche Gemeinschaft, vgl. Walther Rathenau, Von kommenden Dingen, Berlin 1917, S. 47. Vgl. auch Rathenaus Schrift Zur Mechanik des Geistes oder Vom Reich der Seele (1913). 113 Schaeffer, Über die Ballade, in: Ders., Dichter und Dichtung, S. 143. 114 Ebd., S. 136. 115 Worauf er ebd., S. 150, selbst hinweist.
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ermögliche die Hinwendung zu anderen Formen. Das Bewusstsein des Deutschen, dem „von jeher sehr wenig an der Form gelegen war“, überschwemme ihm heute „alle Formbehälter mit Möglichkeit.“ 116 Gleich dem Umgang mit der Ballade sei der moderne Umgang mit den schematischen Formen des Mittelalters gekennzeichnet durch Verinnerlichung. Schaeffer beobachtet diesen Vorgang an Mörike, der die Form des tagelieds in Früh im Wagen verinnerlicht habe, 117 sowie an Ludwig Strauß.118 Aus Schaeffers Formverständnis, nach dem Dichtung formale Vermittlung einer inneren Welt ist, ergeben sich sein Umgang mit traditionellen Formen wie dem mittelalterlichen Versroman im Allgemeinen und seine Hinwendung zum Parzival, wo die verinnerlichende Tendenz zum ersten Mal in der deutschen Literatur sichtbar geworden sei, im Besonderen. Wolframs Parzival ist nicht irgendein Vorbild, sondern das schlecht ausgeführte, weil noch zu sehr in der Darstellung der äußeren Welt befangene Urbild moderner Innerlichkeit. 119 Die poetische Konjektur Schaeffers befreit es von der Last, irdische Welt darstellen zu müssen und konzentriert sich gänzlich auf den Ausdruck des deutschen Charakters, der sich durch fortwährende Selbstbildung kennzeichne. Damit wird der Dichtung eine ethische Aufgabe zugesprochen. Bevor dieser Prozess in der ästhetischen Struktur des Parzival nachvollzogen werden kann, sei Schaeffers Aneigung von Wolframs Text beleuchtet. 1.3. Eine Vision im Lichte der Wolfram-Philologie Für Schaeffer ist der Dichter ein Seher (poeta vates), dessen „schöpferische und bildnerische Natur“ als sein Phantasievermögen ihn zu Visionen befähige, „in denen das dem Verstand Unerreichbare, ebenso plötzlich wie unbegründet und zusammenhanglos, aus dem Nichts und vollkommen fertig“120 erscheine. Das seherische Selbstverständnis korrespondiert dabei _____________ 116 Schaeffer, Über Tragödie und Epos, in: Ders., Dichter und Dichtung, S. 214. 117 Albrecht Schaeffer, Über Mörike, in: Ders., Dichter und Dichtung. Kritische Versuche, Leipzig 1923, S. 48–82, hier S. 79. 118 Schaeffer, Ludwig Strauß, in: Ders., Dichter und Dichtung, S. 122f. – Für Strauß wurde eine ähnlich ambivalente Nähe zum Expressionismus festgestellt wie für Schaeffer, vgl. Gert Mattenklott, Ludwig Strauß in den Zwanziger Jahren, in: Horch (Hg.), Ludwig Strauß, S. 186–197, hier S. 187. 119 Zu Parzivals Weg nach Innen bei Schaeffer vgl. Ursula Schulze, Stationen der ParzivalRezeption. Strukturveränderung und ihre Folgen, in: Peter Wapnewski (Hg.), MittelalterRezeption. Ein Symposion, Stuttgart 1986 (= Germanistische Symposien, VI), S. 555–580, S. 571. 120 Albrecht Schaeffer, Mythos. Abhandlungen über die kulturellen Grundlagen der Menschheit, hg. v. Walter Ehlers, Heidelberg 1958, S. 16.
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mit einer Auffassung, nach welcher das Dichten verborgene Theologie ist. Im April 1919, als Schaeffer die Gottlosigkeit seiner Zeitgenossen für die ästhetische und ethische Krise der Gegenwart verantwortlich macht, bekennt er: „Sieh, ich, ich, [!] der ich an Gott noch nicht glaube, ich glaube immer, glühend an ihn, wenn ich dichte, wenn ich im Gedicht seinen katholischen oder hellenischen oder evangelischen Namen schreibe.“121 Schaeffers Kommentare zur Entstehung seiner Werke, so auch des Parzival, geben den Versuch zu erkennen, sich selbst in die Tradition des poeta vates einzuordnen, dessen Postulierung einem hochartifiziellen philologisch-poetologischen Reflexionspotential entspringt bzw. ohne ein solches gar nicht denkbar wäre. Die letzte, nur im Manuskript vorliegende Fassung des Parzival datiert auf den 12. September 1947. 122 Die früheste erhaltende Auseinandersetzung mit dem Stoff ist das Sonett Parsifal vom 20. Juli 1908, dessen Ideen in den Parzival eingegangen seien. 123 Schaeffer bemerkt, er habe sich aus „Abneigung“ gegen Wagners Parsifal, der mit seiner „abominablen ‚Dichtung‘“ Wolframs Parzival den „Todesstoß“ versetzt habe, für die Schreibweise ‚Parzival‘ entschieden. 124 Nicht Wolframs Epos, aber die Gestalt des Helden habe seit „früher Kindheit einen unauslöschlichen Eindruck“ 125 im Autor hervorgerufen. Nicht mehr erhaltene ‚ritterliche Balladen‘ im Ton von Börries von Münchhausen und ‚symbolistische Romanzen‘ seien in dieser Zeit entstanden. 126 Des Weiteren erwähnt Schaeffer einen ver_____________ 121 Albrecht Schaeffer an Else Michel am 19.4.1919 [DLA A:Schaeffer 82.88/5], S. 6. 122 DLA Marbach, Nachlaß Schaeffer 57.5836a. Sie trägt den Untertitel: Ein lyrisches Gedicht in zwölf Büchern. 123 „Parsifal || Es waren Viele die den einen suchten | Den Kelch des Heils den Kelch der Seligkeiten. | In allen Wäldern lag von ihrem Reiten | Der Ton, ihre Wimpel wehten in allen Buchten, || Ihr klagender Horn-Ruf zerriss die Stille der Tannen. | Maeuler ihrer Rosse stiessen in nie berührte | Teiche die blanken zitternden Kreise. Es fuehrte | Immer im Kreise die Fahrt die sie endlos begannen. || Arme Frauen aus Doerfern beim ReisigSammeln | Betteten oft in ihren Schoos der Entstellten | Am Speerschaft Verblutenden huelfloses Beichte-Stammeln. || Dann sahn sie wohl aus dem Tod in den Mondlicht erhellten | Staemmen fern auf ehernem Ross eine dunkle | Ritter-Gestalt u. ahnten den Herrn ihrer Welten“ [DLA Marbach A:Schaeffer Slg Ehlers 60.931]. Daneben: „Ja meine Verse“; auf der Rückseite: „20 VII 08“. – Die Handschrift sei erhalten geblieben, weil er sie der in den 1930er Jahren begonnenen Parzival-Untersuchung beigelegt habe. Alle eigenen Handschriften Schaeffers aus der Zeit vor 1939 seien „zu Grunde gegangen“ (Schaeffer, Parzival. Eine Untersuchung, S. 5 [DLA A:Schaeffer 57.5836d]). 124 Ebd., S. 4f. 125 Ebd., S. 4. 126 Ebd. – Eine Romanze habe einen Parzival dargestellt, „der – vom Gral vertrieben – nackend auf rotem Roß, nur sein ebenso nackiges Schwert vor sich, den Gral in einer unmöglichen, sonnenlosen Finsternis von unendlichen Wäldern sucht, am Ende nach Ersteigung eines ungeheuren Gebirges dieses durchstößt und nun beim Hinaustreten aus dem selbstgegrabenen Tunnel über eine unermeßliche Meeresweite die Blutschale der eben aufgehenden Sonne als Gral erkennt.“
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schollenen Aufsatz zu den „drei großen Suchenden – Ahasver, Odysseus und Parzival“127. Was Wolframs höfisches Epos selbst betrifft, so zeigt sich in den während der Entstehung des Werks verfassten brieflichen Äußerungen der Jahre 1919 und 1920 sowie in der retrospektiven Autokritik von 1934 das Bemühen, dessen Bedeutung herunterzuspielen. Das „von Lachmann herausgegebene Original“ habe Schaeffer „als junger Student der Philologie zwar einmal in der Hand gehalten, allein für Wolframs schwierige Sprache fehlte damals die Schulung“ 128. Wolframs Dichtung sei, „in seine mittelhochdeutsche Sprache eingekapselt, daher von keiner Bedeutung mehr und wohl nur noch Philologen bekannt.“129 An einer solchen Formulierung wird deutlich, dass Schaeffer die Dichtung selbst von ihrer spezifisch mittelhochdeutschen Überlieferung trennt. Der eigentliche Auslöser, seinen Parzival zu schreiben, sei die Nachdichtung von Wilhelm Hertz aus dem Jahr 1898 gewesen, die Schaeffer aber erst Ende 1918 in der Bibliothek des Historikers Mario Krammer (1880–1953) zum ersten Mal entdeckt und umgehend, in der Nacht vom 30. auf den 31. Dezember 1918, gelesen habe. Erst jetzt habe er erfahren, dass „die Geschichte Parzivals nur etwa ein Fünftel der Dichtung Wolframs umfaßt“130. Nach dieser Darstellung ergibt sich eine dichterische Ausgangslage, in welcher der Stoff für Schaeffer eine große symbolische Bedeutung besaß. Die allgemeine Idee, dass Parzival ein Gottsucher sei, habe jedoch ohne genaue textliche Basis lange vorher in ihm existiert. Das Wolfram-Seminar bei Roethe im Sommer 1907 schien er hingegen vergessen zu haben. Eine Vermittlung, diejenige Hertzens, habe ihn dann mit dem eigentlichen Text bekannt gemacht mit der Folge eines plötzlichen Gestaltungsdranges: Nun plötzlich in jener Nacht riß die Lektüre der Herzschen [!] Übersetzung die Gestalt aus der Lebensferne in die Herzmitte des Lebens hinein, und es ist mir bis heute unvergessen geblieben, wie ich nach dem Löschen des Lichts in jener Nacht wach lag bis fast zu Morgen, überschüttet von Visionen […] 131.
Schaeffer habe die Visionen ab dem nächsten Morgen „drei Wochen lang“ ‚unaufhörlich‘, „an manchen Tagen bis zu vierzehn Stunden“ niedergeschrieben.132 Es sei ein ‚dichtender Zustand‘ „des willenlosen Dahinfah_____________ 127 Ebd., S. 5. Er erwähnt nicht Gerhart Hauptmanns als Ullstein-Jugendbuch konzipierte Erzählung Parsival (1914), hingegen die Gedichtsammlung Parcival (1903) von Karl Gustav Vollmoeller. Zu ihr heißt es ebd.: „[D]iese lyrische Paraphrase aus oft zauberhaft schönen und süßen Versen wirkte berauschend in einer Jugendzeit, wo ein schöner Vers einzigen Wert und Beglückung bedeutete.“ 128 Ebd., S. 4. 129 Ebd. 130 Ebd. 131 Ebd., S. 5. 132 Ebd., S. 6.
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rens gleichsam auf der vordersten Woge eines Stromes oder einer Springflut, die hinter mir dahergerollt kam,“ 133 gewesen. Von der Komposition des Ganzen, die er im ersten Anlauf seiner Autokritik vierzehn Jahre später aufgedeckt hat, habe er beim Schreiben selbst nichts gewusst.134 Die Entstehungsgeschichte des Parzival, wie sie sich in den Briefen aus der unmittelbaren Abfassungszeit darstellt, gibt ein ähnliches Bild ab. Biographisch und geschichtlich waren die Monate vor und nach dem Beginn der ersten Niederschrift des Versromans ereignisreich gewesen. Das Ende des Ersten Weltkrieges hatte das Berliner Leben politisch und ökonomisch derart unsicher gemacht, dass Schaeffer in Sorge um seinen gerade erst geborenen Sohn Erwin 135 mit seiner ersten Frau Irma, geb. Bekk, im Frühjahr 1919 nach Neubeuern am Inn umzog. 136 Zudem war am 16. Oktober 1918 seine Mutter verstorben.137 In den Briefen an Katharina Kippenberg aus dieser Zeit kommt Schaeffers politische und zivilisatorische Verunsicherung zum Ausdruck. Für die ersten Wochen des Jahres 1919, also während der Niederschrift des Parzival, besteht eine für den Vielschreiber Schaeffer untypische Lücke im Briefwechsel. 138 Gegenüber Katharina Kippenberg und der Freundin Else Michel 139 äußerte er am 20. Januar 1919, dass er seit drei Wochen, also seit dem Jahreswechsel, an einem Versroman arbeite. Er sei von „früh bis spät“ und „in einem Atemzug, ohne abzusetzen […], spontan aus dem Nichts“ entstanden und heiße „Parzival, ein Versroman in zehn Büchern. – (Annähernd 13000 Verse). […] Wie ich es zustande gebracht habe, ist mir selber das größte _____________ 133 Ebd. 134 Ebd. 135 Zur Geburt des Sohnes vgl. den Brief von Albrecht Schaeffer an Anton Kippenberg am 11.5.1918: „Die Frage ist nun freilich, ob er für den nächsten Krieg heranwächst oder noch in diesem das nötige Alter erreichen wird“ [DLA A:Kippenberg 64.1460/9]. 136 In einem nach 1945 aus New York an Dr. Hermann Beuttenmüller (1881–1960) geschickten Lebenslauf heißt es dazu: „Zu Anfang des Jahres 1919 erlitt mein Leben eine einschneidende Änderung seines norddeutschen Charakters durch meine Übersiedlung nach Süddeutschland, die fluchtartig erfolgte in der Besorgnis für die Gesundheit oder gar das Leben meines kaum ein Jahr alten Sohnes aus meiner ersten Ehe mit Irma Bekk […], da Gas und Milch in Berlin zu versiegen drohten“ [DLA A:Beuttenmüller 58692]. 137 Vgl. die Briefkarte vom 20.10.1918 [DLA A:Seidel 79.382/36] an Ina Seidel aus Eberswalde, wo Schaeffer einst ein Redaktionspraktikum gemacht hatte. – Für das Verhältnis beider aufschlussreich ist Schaeffers kritischer Brief zu Seidels Dichtungen vom 22.10.1918. Darin heißt es u. a.: „Daß es nicht darauf ankommt, von sich schöne Dinge und Gefühle auszusagen – was bloß öder Expressionismus ist; sondern um die Forderungen des Gebildes zu wissen, dessen Vermittler nur die fühlende, dichterische Seele ist.“ 138 Die auch vom Tagebuch bestätigt wird, vgl. Schaeffer, Urania, S. 37. 139 Von einem, zumindest kurzzeitig, vertrauten Verhältnis Michels zu Rilke aus dem Jahr 1916 zeugen die Briefe Michels an Rilke, die sich in Schaeffers Nachlass befinden [DLA A:Schaeffer Ms. Anderer].
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Rätsel.“140 Gegenüber Else Michel sprach Schaeffer wohl versehentlich am selben Tag von „dreißig tausend“ Versen: „Plötzlich überfiels mich, und ich fing an, den alten Faden abzuwickeln aber alles an Menschen, Visionen, Schilderungen selbst erfindend.“ Er begreife selbst nicht, wie ichs zustande gebracht habe. Du mußt Dir, was das Gestalthafte angeht, lauter Bilder von Meister Wilhelm und den andern Cölnern vorstellen, die reinen Gelbs und Rots, außerdem an köstlichen Stoffen, Brokaten, Meßgewändern, Juwelen, Turnieren, Klausnern, Teufelserscheinungen, Legenden, Gotik, Abenteuern, Einhörnern soviel Du nur willst. 141
Im Moment sei er mit der ersten Durcharbeitung beschäftigt, die sich mit kalligraphischer Aufmerksamkeit vollziehe 142 und die Schaeffer zur SelbstPhantasie eines gotischen Schreibers verleitet: „Ich wollte, ich könnte malen wie ein Gotiker; das müßte gradwegs die Seligkeit sein. Ich sperrte mich in die Zelle ein und hinge mir einen Dompfaff ans Fenster, und dann: ‚Laß o Welt, o laß mich sein!‘“143. Die drei Wochen des Eingeschlossenseins bezeichnete er zusammenfassend als einen Traum.144 Auch drei Jahre später gegenüber Heinrich Merck hob Schaeffer in einem Brief vom 6. April 1923 die „fantastische Geburt“ 145, die Planlosigkeit der Ausführung noch hervor und verglich den Schaffensprozess mit einem Traum: „[J]edes gestaltete sich im Gange der Arbeit allemal erst an seiner Stelle, da ich das Gedicht ohne jeden Plan anfing und zu Ende führte, in 3 Wochen. Es war, mehr als irgend etwas Andres, ein Traum.“ 146 Dem Freund und Philologen Ludwig Strauß schrieb Schaeffer am 31. Januar 1919, der gestrige Tag sei der erste Ausflug seit vier Wochen in die „heutige Welt“ gewesen, da er sich „seither ununterbrochen in jener sagenhaften Zeit mit den Formen des 12. Jahrhunderts bewegte, unter Rittern, Klausnern, Engeln, und selbst Höllenteufeln.“ 147 Wenngleich Schaef_____________ 140 Albrecht Schaeffer an Katharina Kippenberg am 20.1.1919 [DLA A:Kippenberg 64.1461/38]. 141 Albrecht Schaeffer an Else Michel am 20.1.1919 [DLA A:Schaeffer 01.95.1]. 142 Im Brief an Else Michel thematisiert er die Freude, die er empfand bei der Niederschrift seines Werkes: „Jetzt schreibe ich das Ganze bei gründlichster Durcharbeitung von vorn und mache mir einmal die Freude, eine Handschrift mit der größten Geduld und Liebe herzustellen, indem ich mit schwarzer Tusche schreibe, die Buchüberschriften mit roter, die Kapitelüberschriften und Eigennamen in lieblicher Abwechslung blau und grün und Parzival immer rot und mit schönen bunten Randlinien“ (ebd.). 143 Ebd. 144 Ebd. Vgl. auch den Brief an Heinrich Merck am 6.4.1923 [DLA A:Schaeffer 60.824]: „Es war, mehr als irgend etwas Andres, ein Traum.“ 145 Ebd. – Vgl. auch den Brief an Else Michel am 20.1.1919 [DLA A:Schaeffer 01.95.1]: „Das Ganze war vollkommen ein Traum.“ 146 Ebd. 147 Albrecht Schaeffer an Ludwig Strauß am 31.1.1919 [DLA A:Schaeffer 62.87/5], vgl. auch die Briefe vom 12.6.1919 und 19.12.1921: „Ich sehe dies größte meiner Gedichte, das mir
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fers briefliche Selbstaussagen nicht bezweifelt werden sollen, ist die Aussage, er habe „spontan aus dem Nichts“ 148 angefangen, schon aufgrund der Nähe einzelner Passagen seines Parzival zu Wolframs Text überspitzt. Erst die zweite Hälfte des Versromans entfernt sich von der Vorlage und ist in großen Teilen Schaeffers Erfindung. Ein Brief an Else Michel just einen Tag bevor Schaeffer mit Hertzens Parzival-Nachdichtung bekannt geworden war, gibt weitere Aufschlüsse über den größeren ideellen Zusammenhang, aus dem seine Dichtung hervorging. Seit einiger Zeit, so Schaeffer am 29. Dezember 1918, arbeite er ein naturwissenschaftliches Werk über die „Entstehung der Erde und des Lebens darauf recht gründlich“ 149 durch, an den Nachmittagen den „Menschen Goethe in seinem ganzen Stoff: Privatleben, Werke, Briefe. Also die Geschichte allen Lebens einerseits und ihre geistige Gipfelung und Quintessenz andrerseits.“150 Welches naturwissenschaftliche Werk Schaeffer meint, lässt sich nicht genau sagen, 151 beide Studienschwerpunkte weisen aber auf das kosmisch-holistische Interesse Schaeffers hin, von dem der Parzival getragen ist. 152 Den bereits erwähnten Untertan Heinrich Manns, aber auch Heinrich von Kleists Briefe las Schaeffer ebenfalls in diesen Tagen. 153 Schließlich, worauf zurückzukommen sein wird, nennt Schaeffer mit Sigmund Freuds Psychoanalyse, insbesondere der Traumdeutung (1900, 51919), unmittelbar vor Beginn der Entstehung des Parzival ein weiteres Interessengebiet. Im selben Brief beneidet er die Adressatin Else Michel um ihre „Träume“, da seine eigenen nur „sinnlos alltägliches Zeug“ 154 enthielten. Dagegen lobt er an Friedrich Huchs (1873–1913) TraumDichtungen deren „wundersames Gemisch von farbig loderndem Bildhaften und ahnungsvoll unverständlichem Dunklen.“155 Der geistige Hori_____________
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in den kaum 4 Monaten brausender Tätigkeit, die es mir verursachte, immer wie ein Geschenk vorkommt, ein durch mich gesauster Meteor, mit dem unbeteiligsten Staunen an, und kann es mir nicht erklären.“ Albrecht Schaeffer an Katharina Kippenberg am 20.1.1919 [DLA A:Kippenberg 64.1461/38]. Albrecht Schaeffer an Else Michel am 29.12.1918 [DLA A:Schaeffer 82.87/17]. Ebd. Emil Koenig, Die Entstehung des Lebens auf der Erde, Berlin 1904, oder Hugo Gerbers, Die Entstehung und Entwicklung des Lebens auf unserer Erde, Agram [i. e. Zagreb] 1878, kämen in Frage. In Schaeffer, Urania, S. 32, ist von einer Geschichte der Erde die Rede. Ebenso sein späteres populär-philosophisches Werk Mythos kennzeichnet dieses Interesse. Zu dessen kulturkritischer und politischer Bedeutung s. Heidi E. Faletti, Albrecht Schaeffer’s Concept of “Mythos” and its Opposition to Both National Socialism and the American Way of Life, in: Neophilologus 63 (1979), S. 407–417. Vgl. Schaeffer, Urania, S. 34f. Albrecht Schaeffer an Else Michel am 29.12.1918 [DLA A:Schaeffer 82.87/17], S. 5f. Ebd., S. 6. Er selbst habe nach der Lektüre von Freuds Traumdeutung nur einen Traum aufgeschrieben, den er Michel beilege. Er liegt dem Brief nicht mehr bei. – Vgl. Träume
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zont, vor dem Schaeffer den Parzival vollendete, ist von einer kosmischholistischen, Goethe’schen Weltsicht sowie Freuds Psychoanalyse als wissenschaftlich verbürgter Methode zur Erkenntnis des seelischen Bewusstseins gekennzeichnet. Die visionäre Genese des Werks bestätigte Schaeffer in der Autokritik von 1934/1948, wo er versuchte, die Komposition des Werkes nach Lektüre von Die Kunst der Fuge des Anthroposophen Erik Schwebs (1889– 1953) offen zu legen, eine Komposition, die ihm zur Zeit der Abfassung „sicherlich nicht bewusst“156 gewesen sei. Er geht so weit, die diskursive „Darlegung“, die dabei entstand, als „Etwas wie eine neue Dichtung – eine innere, spirituelle Dichtung“ 157 zu bezeichnen. Wie diese neue Dichtung zu verstehen sei, wird verständlich im Rekurs auf die philologische Deutung des Wolfram’schen Parzival. Der Unterschied des Dichters Schaeffer gegenüber den ParzivalInterpreten der germanistischen Literaturwissenschaft seit Karl Lachmann besteht in seiner Leugnung einer Einheit des Epos, wodurch Schaeffer die Legitimation gewinnt, den Text neu zu schaffen. Der überlieferte Text des Epos ist, philologisch gesprochen, verdorben und fragmentiert; er, Schaeffer, ergänzt ihn demnach und sondert das ihm nicht Zugehörige aus. Indem Schaeffer Heterogenität dort behauptet, wo die Zunft Einheit sah, kann er die Einheit selbst dichterisch hervorbringen. Doch wird dieser Unterschied selbst wieder aufgehoben, wenn man das hermeneutische Denken der Parzival-Philologie historisiert und es als den produktiven Versuch begreift, die sichtliche Heterogenität in der Einheit einer Gesamtdeutung überwinden zu wollen. Anders gesagt, entsteht der Wille zur Einheit erst aus dem Bewusstsein einer in der Interpretation überwindbaren Vielheit und scheinbaren Disparatheit. Bereits Karl Lachmann hatte in Wolframs Parzival trotz der offensichtlichen Heterogenität von Stoff und Handlung die Einheit im für Schaeffer zentralen ‚Entwicklungsgedanken‘158 erkannt und damit zugleich _____________ (1904) und Neue Träume (1917). Huch hatte sich 1901 in Erlangen mit der Arbeit promoviert: Über das Drama The Valiant Scot, by J. W. Gent. – Zu Huchs Träume s. Peter-André Alt, Der Schlaf der Vernunft. Literatur und Traum in der Kulturgeschichte der Neuzeit, München 2002, S. 339f. 156 Schaeffer, Parzival. Eine Untersuchung, S. 2. 157 Ebd. 158 Albert Fleischmann und Richard Grützmacher, Der Entwicklungsgedanke in der gegenwärtigen Natur- und Geisteswissenschaft. Ein Ring gemeinverständlicher Vorlesungen, Erlangen/Leipzig 1922. Für die literaturwissenschaftliche Begriffsbildung s. Gerhard, Der deutsche Entwicklungsroman bis zu Goethes ‚Wilhelm Meister‘, bes. S. 19ff. – Neuerdings zum Parzival s. Ruth Sassenhausen, Wolframs von Eschenbach „Parzival“ als Entwicklungsroman. Gattungstheoretischer Ansatz und literaturpsychologische Deutung, Köln 2007, in gleicher Weise versteht ihn Katharina Strohkirch, Zum Löwen geboren. Gender in
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einen Zwiespalt markiert.159 Sobald der Parzival als ein gesetzmäßig gebautes Werk verstanden wird, müsste es frei von kontingenten Teilen sein. Der werkästhetische Ansatz, wie er sich für Wolframs Parzival eine Zeitlang behaupten konnte, führte in der Literaturwissenschaft zu Deutungen, die den Sinn des Ganzen in einer Idee zu erfassen suchten, wobei der Werkbegriff in einem überhistorischen Sinn gebraucht wurde. Noch 1951 heißt es in einer Studie zu Wolframs Parzival: „Heute spricht man gern von dem Ganzen der Dichtung, das es zu erfassen gelte“ 160. Nicht allein die Werke der deutschen Klassik, sondern auch mittelalterliche Epen waren somit durch den Akt der Interpretation erschließbar geworden. Dabei wurden heterogene Elemente entweder ignoriert oder aber homogenisiert. In dem Moment jedoch, in dem die Literaturwissenschaft zu einer Form der Hermeneutik geworden war, konnte auf der anderen Seite auch die dichterische Produktion zu einer solchen werden. Die Möglichkeit besteht dort, wo sich Dichter älteren Texten zuwenden, um sie zu erneuern. Für einen modernen Dichter, der sich von der Wirkungsästhetik im Zeichen der Trias von prodesse, delectare, movere befreit hat, führt der Wunsch nach dem Verständnis der älteren Vorlage in der Explikation ihres eigentlichen Aussagekerns zu einer neuen Dichtung. Implizit ist die imitatio auctorum zwar auch vorher schon Interpretation gewesen, aber im Zuge der sich etablierenden hermeneutischen Literaturwissenschaft gewann sie als explizite Interpretation an Attraktivität, wodurch sie sich zugleich veränderte und ihre rhetorische Qualität verlor. Wie beim Literaturwissenschaftler sind die hermeneutischen Kniffe des Verschweigens nicht-kontingenter Teile bzw. ihres Zurechtlegens Teil der dichterischen Praxis. Eine dichterische Hermeneutik markiert den Umgang mit all dem, was keine Notwendigkeit für den Gang des Ganzen besitzt, indem der Dichter nur das wieder aufgreift, was nach seiner Konzeption für das Ganze relevant ist. Auch wenn die hermeneutische Variante der imitatio auctorum zunächst an die rhetorische aemulatio erinnert, geht es bei ihr keinesfalls um die Überbietung der Vorlage durch eine bessere technische Beherrschung der sprachlichen Mittel, sondern darum, den durch Inkonsistenzen im Original, aber auch durch Zugeständnisse des Autors an das Publikum seiner _____________ Entwicklungsromanen aus verschiedenen Jahrhunderten. Parzival, Wilhelm Meisters Lehrjahre, Ahnung und Gegenwart, Netzkarte, Der junge Mann, Stockholm 2002. 159 Im Anzeiger für deutsches Altertum erschien postum (V, 1879, S. 289–305) ein Aufsatz Lachmanns von 1819, worin er als erster „den entwicklungsgeschichtlichen Charakter dieses mittelalterlichen Werkes“ in der Tendenz zum Religiösen erfaßt habe (Robert Lowet, Wolfram von Eschenbachs Parzival im Wandel der Zeiten, München 1955 [= Schriftenreihe des Goethe-Instituts, 3], S. 138). 160 Walter Johannes Schröder, Der Ritter zwischen Welt und Gott. Idee und Problem des Parzivalromans Wolfram von Eschenbachs, Weimar 1952, S. 8.
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Zeit verdeckten Sinn sichtbar zu machen. Der hermeneutische Dichter gewinnt die im Original verlorene Einheit wieder, und zwar nicht wie sein fachwissenschaftlich kritisches Gegenstück, der geistesgeschichtlich verfahrende Literaturwissenschaftler qua Rekonstruktion in einem formal relativ begrenzten Metatext wie dem Aufsatz, sondern qua Poesie samt der sie kennzeichnenden Formen, Gattungen und Verfahrensweisen. Schaeffer verstand wie vor ihm Lachmann den „Entwicklungsgedanken als den geistigen Kern der Dichtung“161, darüber hinaus konkretisierte er ihn über das Konzept der Schuld. Parzivals Entwicklung vollziehe sich als Erkenntnis und Tilgung seiner Schuld. Es bedurfte keiner intensiven Auseinandersetzung mit der zeitgenössischen Parzival-Philologie, um zu derartigen Erkenntnissen zu gelangen. Schaeffers Vorlage, die Ausgabe von Wilhelm Hertz (1835–1902), enthält ein Nachwort von Hertz, das leicht modifiziert in die Neuauflage von Friedrich von der Leyen 1911 übernommen wurde, wo die wichtigsten von Schaeffer gemachten Beobachtungen vorgestellt werden. Wenn Hertz die Heterogenität und Kontingenz der Darstellung betonte, wird dieses Urteil auf seine dichterischpraktische Arbeit am mittelhochdeutschen Text zurückzuführen sein. Wilhelm Hertz war nicht nur als Philologe, sondern auch als Übersetzer und Verfasser von Sagen hervorgetreten, wofür ihm andere Dichterphilologen wie Paul Heyse oder Rudolf Borchardt Respekt zollten. 162 Hertz vereinheitlichte also seine Vorlage behutsam und sah sich gezwungen, „manch üppig wucherndes Beiwerk“ 163 zu kürzen, besonders in der Gawan-Episode und der Gachmuret-Vorgeschichte. Damit stellte er sich indirekt in jene Linie der Wolfram-Kritik, die seit dem Mittelalter dem Autor ein problematisches Formbewusstsein unterstellte. Wolfram erzähle, so etwa Gottfrieds von Straßburg Polemik im Tristan, sprunghaft, form- und traditionslos, er sei vindære wilde mære (v. 4665). Im Wartburgkrieg dagegen erfuhr seine zur Schau gestellte dichterische Laienhaftigkeit eine positive Wendung in der Rolle des wîsen meisters. 164 Letztlich übernahm auch Hertz, wie alle Wolfram-Philologen des neunzehnten und des frühen zwanzigsten Jahrhunderts, die zweite, positive Deutung von Wolframs Stil, wenn er von diesem als dem ‚individuellsten Stilgepräge des deutschen Mittelalters‘ sprach. 165 _____________
161 Ebd. 162 Zu Hertz s. Gerhard Hay in: IGL 2, S. 731–733, dort auch Angaben zu den Nachrufen von Paul Heyse und Rudolf Borchardt. 163 Wilhelm Hertz, Vorrede, in: Wolfram von Eschenbach, Parzival, neu bearbeitet von Wilhelm Hertz, Stuttgart 1898, S. V. 164 Hierzu ausführlich Hedda Ragotzky, Studien zur Wolfram-Rezeption. Die Entstehung und Verwandlung der Wolfram-Rolle in der deutschen Literatur des 13. Jahrhunderts, Stuttgart 1971 (= Studien zur Poetik und Geschichte der Literatur, 20), S. 24–34 bzw. 48–64. 165 Hertz, Vorrede, in: Parzival 1898, S. V.
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In seinem Nachwort Die Sage von Parzival und dem Gral, das zuerst 1881 erschien, wird Hertz deutlicher: Im einzelnen freilich zeigt die Komposition kein so planmäßiges Gefüge, wie wir es heute von einem Epos verlangen würden. Nicht selten verweilt die Erzählung umständlich beim Unwesentlichen, während sie an der Hauptsache flüchtig vorüberstreicht. 166
Besonders stößt sich Hertz daran, dass dem eigentlichen Auftreten des Helden über 3000 Verse zum alleinigen Zwecke vorausgehen, „zu erklären, wie Parzival zu dem heidnischen Halbbruder kommt, und warum Herzeloyde mit dem Neugeborenen in die Einsamkeit flieht.“ 167 Der Satz, dass man sich müde lese, „ehe der Held des Gedichtes geboren ist“168, dürfte Schaeffer motiviert haben, die Vorgeschichte zu streichen. Noch bedeutsamer aber für Schaeffers Interpolation ist Hertz’ Urteil, der „schwächste Fleck des ganzen Plans ist aber der Wendepunkt des Gedichtes, wo nach dem Erscheinen der häßlichen Gralsbotin an Artus’ Fest der Stamm der Handlung sich in mehrere Aeste spaltet.“ 169 Schaeffers Monoperspektive erlaubt eine solche Zerspaltung der Handlung in zwei Verläufe auch gar nicht. Hertz’ Kommentar zu Wolframs Parzival rechtfertigt zukünftige Interpolationen darüber hinaus, indem er nicht bloß die Kontingenz formaler und inhaltlicher Elemente, sondern zahlreiche Varianten der Sage anführt und den Eindruck der Vorläufigkeit der Komposition befördert. Jeden neuen Dichter muss dieses philologische Urteil der anerkannten Autorität Hertz darin bestärken, den Text neu in Angriff nehmen zu dürfen, um ihn poetisch zu konjizieren. Eine Bedeutung des textphilologischen Terminus der Interpolation (lat. Einschaltung, Verfälschung) meint die modernisierende Erweiterung und Kürzung eines Textes. 170 Die Summe der poetisch motivierten Interpolationen an einem Text ließe sich als die poetische Konjektur verstehen, wobei Textkritik und Hermeneutik hier miteinander verbunden werden, um die Eigentümlichkeit des Vorgangs retrospektiv zu verstehen. So geht Schaeffers Parzival auf Wilhelm Hertz’ Neubearbeitung von Wolframs Parzival aus dem Jahr 1898 zurück, auch wenn dies nicht im ersten Moment zu erkennen ist. Ein Aspekt von Schaeffers Modernisierungsinteres_____________ 166 Wilhelm Hertz, Die Sage von Parzival und dem Gral, in: Parzival 1898, S. 413–466, S. 449. – Alle hier wiedergegebenen Inhalte finden sich auch in der späteren Fassung des Nachwortes von Friedrich von der Leyen. 167 Ebd. 168 Ebd. 169 Ebd., S. 450. 170 Vgl. Reinhold R. Grimms Artikel in: Schweikle/Schweikle (Hg.), Metzler Literatur Lexikon, S. 223.
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se ist der Gedanke, dass Parzival als die innere Form der für die deutsche Literatur zentralen Gattung des Sucher- bzw. Bildungsromans zu begreifen sei. Am 6. April 1923 kam Schaeffer im Zuge der Nachkorrektur seiner Parzival-Dichtung auf die „motivlichen Andersheiten seiner Dichtung gegen die ältere“ zu sprechen. Diese ergäben sich „durch die GrundVerschiedenheit, daß bei mir als Seele und Charakter erscheint, was bei Wolfram Figur ist“ 171. ‚Figur‘ aber meint bei Schaeffer ‚Formales‘ im Sinne der Schablone und des Schemas, also ‚nicht geformtes Leben‘. Im GeorgeEssay erfolgt eine diesbezügliche Präzision. Er denke bei Form nicht etwa an ‚Formales‘, „was Gestalt, Erscheinung, Figur heißen kann –, sondern an geformtes Leben nur.“172 Trotz einer rein stofflichen Übernahme, die derjenigen Wolframs von Chrétien gleiche, glaube er, den Wesens-Kern, wie ich ihn in den Verklärungs-Stanzen formuliert habe, ungewandelt behalten zu haben: die Beständigkeit treuer Liebe. Kondwiramur z. B. ist bei Wolfram nur Gattin, d. h. nur Beziehungs-Figur, bei mir hat sie eigenes Sein, eigenes Leiden, Wollen, Verschulden. 173
Der Schuld-Gedanke ist also keine retrospektive Zuschreibung in der Autokritik von 1934/1948, sondern schon während der Entstehungszeit präsent. Auch Hertz bzw. Friedrich von der Leyen hatten den Schuldgedanken hervorgehoben. So habe sich aus der französischen Vorlage schon bei Wolfram, dem „deutschen Dichter[,] ein ernstes, tiefsinniges Lebensepos entfaltet.“ 174 Parzival häufe „unwissend Schuld auf Schuld, im antiken und mittelalterlichen Sinne.“ 175 Dieser Anspruch ist ebenfalls im mittelalterlichen Text selbst begründet. Bei Wolfram wird die Schuld als Sünde in der Unterredung mit Trevrizent (Buch IX) thematisch. 176 Entscheidend ist, dass Schaeffer wie jene hermeneutisch verfahrenden Literaturwissenschaftler diesen Aspekt absolut setzt. Seine Interpretation unterscheidet sich durch ihre poetische Verfahrensweise von Studien wie Gustav Ehrismanns Über Wolframs Ethik in der Zeitschrift für deutsches Altertum (1908).177 _____________ 171 172 173 174
Albrecht Schaeffer an Heinrich Merck am 6.4.1923 [DLA A:Schaeffer 60.824]. Schaeffer, Stefan George, in: Ders., Dichter und Dichtung, S. 308. Albrecht Schaeffer an Heinrich Merck am 6.4.1923 [DLA A:Schaeffer 60.824]. Hier zitiert nach Friedrich von der Leyen (und Wilhelm Hertz), Nachwort, in: Wolfram von Eschenbach, neu bearbeitet von W. H., Wohlfeile Ausgabe. Mit einem Nachwort von F. v. d. L, Stuttgart/Berlin 21914, S. 422. 175 Ebd., S. 423. 176 Vgl. Julius Schwietering, Parzivals Schuld. Zur Religiösität Wolframs in ihrer Beziehung zur Mystik, Frankfurt a. M. 1946, S. 18: „Über die Sünde und den sündhaften Zustand Parzivals entscheiden nicht von außen herbeigeholte Gründe und Ansichten, sondern allein die Dichtung selbst, die darüber eindeutig Auskunft gibt.“ 177 Hierzu s. in aller Ausführlichkeit Lowet, Wolfram von Eschenbachs Parzival.
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Ob Schaeffer die Wolfram-Forschung in ihrer gesamten Breite verfolgt hat, lässt sich schwer sagen, zumal er nach eigener Aussage nur Hertz’ Ausgabe gekannt hat, deren Nachwort den common sense der Forschung darstellt und ihre wichtigsten Probleme referiert. Dass er aber Hertz’ Nachdichtung und deren Nachwort genau gelesen hat, zeigt die metrische Analogie zwischen beiden Texten. Da Hertz gelegentlich den Auftakt fortlässt, sind seine Verse trochäisch und jambisch gemischt. Schaeffer entschied sich für den fünfhebigen Trochäus.178 Allerdings gibt die eigenwillige rhythmische Struktur, die u. a. aus der Vorverlegung des Verbums entsteht, auch eine Parallele zu Anton Schiefners Übersetzung der Kalewala zu erkennen.179 Dass Hertz’ Kommentar poetischen Widerhall gefunden hat, zeigt die Szene, wo Parzival über den Gral aufgeklärt wird, der bekanntlich bei Wolfram ein Stein ist. Schaeffer sieht sich gezwungen, auf die philologische Kommentierungspraxis zurückzugreifen, weil Wolframs Text in dem wichtigen Punkt der Gralsfrage schweigt. Obgleich eigentlich die konkurrierenden Gralsauffassungen stricto sensu nicht zum Verständnis derjenigen Wolframs beitragen, werden sie in den Kommentaren angeführt, als ob es einen Supertext des ‚Parzival‘ gäbe, der alle Gralssagen gleichsam als Mythos integriere. An diesem Supertext partizipiert denn auch Schaeffer. Denn es ist offensichtlich, dass seine Erklärung des Grals nicht von Wolfram, sondern von Wilhelm Hertz kommt. Hertz sagt: „Hierüber weiß uns _____________ 178 Wobei er eine genaue Vorstellung von seiner Verlautbarung hat: „Der Parzival ist in sogenannten fünffüßigen Trochäen – nicht geschrieben, sondern gedichtet; das heißt, daß es nicht fortlaufende Ketten gleichmäßiger Trochäen sind, die nur wegen des angenommenen Gesetzes der Fünffüßigkeit willkürlich zu Zeilen umgebrochen wurden. Sondern jeder Vers ist eine in sich geschlossene Einheit, indem die Stellung jedes Wortes ihren Grund in dem Ton hat, der ihm zukommen soll, also daß auch und vor allem die am Anfang und am Ende jedes Verses stehenden Worte aus erwogener Absicht eben dort und nirgend anders stehen. […] Und so überall wo der Satz über ein Wort durch ein noch so leichtes Anhalten einen Ton empfangen, wenn dies Anhalten auch nicht immer beim Lautlesen durch eine Pause markiert werden kann, so sollte der Lesende es doch innerlich spüren, damit er inne bleibt, so daß es Verse sind, die er liest, nicht Prosa“ (Albrecht Schaeffer, in: Ders., Parzival. Ein Versroman [1933], S. XIV). 179 Schaeffer hatte das Epos in der von Buber mit einem Nachwort versehenen Übersetzung des vielseitigen und nicht nur für die Finno-Ugristik bedeutsamen Philologen Anton Schiefner (1817–1879) von 1852 gelesen, deren rhythmische Ähnlichkeit zu seinen ParzivalVersen nur angesprochen werden kann. Vgl. Kalewala. Das National-Epos der Finnen. Nach der zweiten Ausgabe ins Deutsche übertragen von Anton Schiefner, München 1914, S. 3, V. 1–10, den Eingang: „Werde von der Luft getrieben, | Von dem Sinne aufgefordert, | Daß ans Singen ich mich mache, | Daß ich an das Sprechen gehe, | Daß des Stammes Lied ich singe, | Jenen Sang, den hergebrachten; | Worte schmelzen mir im Munde, | Es entschlüpfen mir die Töne, | Wollen meiner Zung’ enteilen, | Wollen meine Zähne öffnen.“
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Wolfram nichts zu sagen.“ 180 Bevor Hertz die Geschichte vom Blutkelch des Josef von Arimathia in objektiv wissenschaftlicher Manier dem Leser vorträgt, fragt er rhetorisch – und Friedrich von der Leyen übernimmt diese Frage: „Gral, – was heißt Gral?“ 181 Leicht abgewandelt fragt bei Schaeffer Parzival den ewigen Juden Ahasver, der dialogisch das Wissen vom Gral, wie es in den historisch-philologischen Kommentaren gespeichert ist, kundtut: „‚Gral – was ist der Gral?‘“182 Das Beispiel zeigt, dass Schaeffer das philologische Wissen der Kommentarliteratur verwendete. Da er zudem die Übersetzung eines Philologen zur Grundlage nahm, steht seine eigene Auseinandersetzung in dessen Licht. Von einer selbstständigen Lektüre des mittelhochdeutschen Textes ist dagegen nicht auszugehen und sie hätte nur schwerlich seine Gesamtdeutung bestätigt, der Text künde von deutscher Innerlichkeit im Charakter des Parzival. 1.4. Parzivals Charakter Die oben erfolgte Analyse des Formbegriffs aufgreifend (V.1.2.), soll im Folgenden gezeigt werden, wie Schaeffer die für ihn seit seinem Studium bei Roethe bekannte ethische Problematik ästhetisch löst. Unter ethisch versteht Schaeffer ‚charakterlich‘, also das innere Streben einer Person, das zudem als allgemeinverbindlich empfohlen wird. Dieses Streben ist tautologisch, ein Streben um seiner selbst willen und dient der Selbstbildung. Dem Charakter entspricht die innere Form. Mit Schaeffers Formtheorie korreliert die Gattungstheorie des Epos bzw. des Versromans. Schaeffer nennt den Parzival einen Versroman und gerade nicht ein Epos. Die Verinnerlichung habe bei den Deutschen das klassische Epos, das die alltägliche Außenwelt in eine ästhetische Form transponiert, nahezu unmöglich gemacht. In seinem Essay Tragödie und Epos behauptet Schaeffer, die Deutschen besäßen weder ein National- noch ein Volksepos. 183 Schon der Edda, „unserer ‚Urgroßmutter‘“ 184, fehle die Alltagsdar_____________ 180 Hier zitiert nach Von der Leyen, Nachwort, in: Parzival 1914, S. 415 (identisch mit Hertz 1898, S. 419). 181 Ebd. 182 Wolfgang Golther, Parzival und der Gral in der Dichtung des Mittelalters und der Neuzeit, Stuttgart 1925, S. 316, führt zwar Gerhart Hauptmanns Parsival (1914) als Vorlage für die Gralsschilderung an, jedoch hat auch Hauptmann sein Wissen letztlich aus den Kommentaren. Da Schaeffer mit Hertz’ Ausgabe nachweislich gearbeitet hat, ist dies der aktuellere Bezug für ihn. – Für etwaige intermediale Analysen von Bedeutung sind Golthers Hinweise auf Schaeffers Bildprogramm (ebd., S. 319): ‚Hieronymus in der Zelle‘, Böcklins Das Schweigen im Walde, Dürers Ritter zwischen Tod und Teufel. 183 Albrecht Schaeffer, Über Tragödie und Epos, in: Ders., Dichter und Dichtung, S. 269.
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stellung. Der griechische Sänger habe seine Hörerschaft dagegen „mit der eigenen schönen Gestalt seiner Alltage“ 185 beschenkt. Dass in der deutschen Literatur kein Epos entstand, erklärt Schaeffer über den Begriff des Kunstwollens, den Wilhelm Worringer im Rückgriff auf Alois Riegls Kritik des Kunstmaterialismus im Sinne Gottfried Sempers eingeführt hatte. 186 Das echt germanische bzw. deutsche Kunstwollen tendiere nicht zur Ästhetisierung der Lebenswelt, in der auch Götter wie alltägliche Menschen auftreten, sondern zur „Versinnlichung übersinnlicher Erscheinungen.“ 187 Zwar versinnlichten auch die Griechen Übersinnliches, aber weitaus plastischer und differenzierter. Der deutsche Drang nach Stil, der von der eigentlichen Lebenswelt abstrahiert, sei dem griechischen Einfühlungsvermögen in die eigene Umwelt und dem daraus hervorgehenden plastischen Naturalismus fremd. Nur im Kalewala der Finnen, „tartarischen Ursprungs, untermischt mit russischem und germanischem Blut“188, gewahrt er die hellenische Kraft der plastischen Synthese. Basierten die Anfänge der vergleichenden Epenphilologie auf der Ähnlichkeit zwischen der mittelalterlichen Epik und der homerischen, so behauptet Schaeffer ihre unaufhebbare Verschiedenheit. Ebenso wenig wie die germanische Dichtung, so Schaeffer, kann die mittelhochdeutsche Heldendichtung einen epischen Anspruch erheben: „Das deutsche höfische Heldengedicht ist nicht nur nach klassischem Maß kein Epos, sondern es ist wirklich keines. […] Es ist Roman in Versen, ein formloses Ding echt germanischer Art“ 189. Zumal seien diese ‚Romane‘ noch Ausdruck einer „kulturblinden Zeit“ 190. So muss Schaeffer seine Betrachtungen über das Epos mit der „Feststellung schließen, daß es ein deutsches Epos, das alle formalen wie gehaltlichen Forderungen erfüllte, bislang nicht gab.“ 191 _____________ 184 Ebd., S. 270. Schaeffer sieht die germanische Tendenz zum Übersinnlichen bereits in den Zaubersprüchen verwirklicht: „Für den Germanen, es scheint unleugbar, war von Urbeginn das Wichtige, allein Gültige das Übersinnliche, das reine Sein, nicht die Form. Der Gesang war nur ein Mittel, es zu versinnlichen“ (ebd., S. 272). 185 Ebd., S. 270. 186 Vgl. zu Sempers Kunstmaterialismus, dem zufolge Stilentwicklung aus der Veränderung der Faktoren ‚Gebrauch, Rohstoff und Technik‘ entstehe, und zu Riegls Begriff des ‚Kunstwollens‘ Witting, Anmerkungen zu einem Kunstgesetz, S. 43–61, bes. S. 52–63, hier S. 53f. 187 Schaeffer, Über Tragödie und Epos, in: Ders., Dichter und Dichtung, S. 270. 188 Ebd., S. 271. Dieses berühmte, weil von Jacob Grimm, Über das finnische Epos, in: Ders., Kleinere Schriften, Bd. 2, Berlin 1865, S. 75–113, behandelte Beispiel vermittelte ihm Martin Bubers Nachwort zur Ausgabe des finnischen Epos (Kalewala. Das National-Epos der Finnen, S. 467–478). 189 Schaeffer, Über Tragödie und Epos, in: Ders., Dichter und Dichtung, S. 285. 190 Ebd., S. 288. 191 Ebd., S. 293.
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Zwei Merkmale also definieren nach Schaeffer das eigentliche Epos. Die anschauliche Darstellung der Lebenswelt einer Gemeinschaft und eine klassische Form. Wie sein einstiger akademischer Lehrer Roethe glaubte jedoch Schaeffer, die Deutschen kennzeichne Formlosigkeit. Gemeint ist damit eigentlich eine Innerlichkeit, die, um erkannt zu werden, einer formalen Überführung in die ästhetische Form bedürfe. Wolfram, der nicht nur in schematischen französischen Formen befangen sei, sondern zwischen der Darstellung einer Außenwelt und dem Ausdruck einer seelischen Disposition schwanke, habe aber zumindest im Parzival die idealtypische deutsche epische Form vorausgeahnt: „Wolfram ahnte die Zukunft der deutschen epischen Dichtung voraus und legte den Grund“ 192. Zwar gehörten fünf Sechstel „seines formlosen Gedichts“ der eigenen Zeit an, aber die Neuheit, das „Seelische des Helden“ darzustellen, und die Form des ‚Sucher-Romans‘ zu prägen, sei von nachahmungswürdiger Bedeutung. Parzival sei das Urbild des deutschen Sucher- und Bildungsromans, 193 formal jedoch defizitär, woraus Schaeffer seine konjekturale Leistung ableitet, welche die Überlieferung bereinigt und ergänzt. Mit der Formlosigkeit verbunden ist die umschaffende Aneignung fremder Formen. Formlosigkeit bedeutet, wie bereits gesehen, die Möglichkeit für andere Formen. Wenn allerdings von dieser Möglichkeit falsch, wie bei Wolfram, oder gar nicht, wie bei den Expressionisten, Gebrauch gemacht werde, sei das Kunstwerk ästhetisch gescheitert. Schaeffer verzichtet darauf, den germanischen Stabreim wieder einzuführen,194 und akzeptiert die „Versüdlichung oder Romanisierung unseres Verswesens“195. Trotz „angeborener Formlosigkeit“196 beweise die Romanisierung der deutschen Dichtersprache, dass auch der deutsche Dichter einen Form-Willen habe, der als Ausdruckswillen verstanden wird. „Unser Verhältnis zur Form ist nur ein anders als das aller andern Völker“ 197, es sei eines, das von der Wirklichkeit abstrahiere. Für das neue Epos müsse man auf die in ihrer Dimension erst vor einhundert Jahren entdeckte Seele als die innere Form zurückgreifen: „Die Darstellung der Seele als eines Unendlichkeit haltenden, eines werdenden, _____________ 192 Ebd., S. 287. 193 Ebd., S. 286. 194 Andreas Heusler hat das 1925 in dem Aufsatz Deutsche Verskunst gefordert: „Wo den Dichtern von morgen Prosa und freie Rhythmen nicht genug tun und sie des Jambenschritts müde sind, möchten sie wohl in den deutschen Formen das echte Ausdrucksmittel finden. […] | Für den großen Stil aber wäre der Versuch mit unserem ältesten Verse, dem stabreimenden, zu wagen“ (in: W[alter] Hofstaetter/F[riedrich] Panzer [Hg.], Grundzüge der Deutschkunde, Bd. 1, Leipzig 1925, S. 134–162, hier S. 162.) 195 Schaeffer, Über Tragödie und Epos, in: Ders., Dichter und Dichtung, S. 293. 196 Ebd., S. 294. 197 Ebd.
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sich wandelnden Wesens ist für beide [Tragödie und Epos, A.N.] die innere Form.“ 198 Wolframs Parzival sei die „Verschmelzung germanischer Übersinnlichkeit und hellenischen Formwillens in der Figur des SucherRomans“ 199. Die innere Form der Suche und der schuldbeladene Charakter werden in der poetischen Form des Parzival zusammengeführt, und alles ordnet sich diesem Gestaltungsprinzip unter bzw. wird der Text Wolframs von allen Teilen, die hierfür hinderlich seien, gereinigt, und um jene Teile, die hierfür fehlten, ergänzt. Das Strukturprinzip der queste, das bei Wolfram die äußere Handlung vorantreibt, wird zur reinen Selbstsuche, die eine verinnerlichte Suche ist. Um den spezifischen Charakter des deutschen Menschen wiederzugewinnen, müsse er, worin der Sinn der verinnerlichten queste liege, aus seiner Verschuldung befreit werden. Die formale Geschlossenheit seines Versromans steht also keineswegs in Widerspruch mit deutscher Formlosigkeit. Die Einheit zeigt sich an der Einteilung in zwei Teile, drei Kreise und zwölf Bücher, die mit der originalen Handlungsführung Wolframs nicht korrespondieren, sowie der weitgehenden, nur in besonders aussagekräftigen Versen verlassenen trochäischen Fünfheber. In seinem Lessing-Aufsatz reflektiert Schaeffer die Bedeutung, welche die Beachtung der inneren Form für die Einheit des Werkes besitzt: „das Zustandekommen der Geschlossenheit, das Herausarbeiten der klaren, festen Erscheinung von Werk oder Handlung vollzieht sich in einer tieferen Schicht der Natur.“200 Die „innere Struktur“ 201 besitzt produktionsästhetische Relevanz, indem sie Schaeffers eigentümliche Bearbeitung der Vorlage zu einem geschlossenen Werk begreiflich macht. Der Sinn, der in der Tiefenstruktur bzw. der inneren Form angelegt ist und von Schaeffer extrapoliert wird, ist die Verinnerlichung der ritterlichen Suche selbst.202 Räumliche, zeitliche, ereignishafte Differenzierungen werden aufgehoben, alles dient dem einen Zweck der verinnerlichten Suche des Helden. Schaeffer gelingt die Verinnerlichung von Wolframs Parzival, indem er Charakter und Handlung ineinander übergehen lässt, bis diese von jenem
_____________ 198 199 200 201 202
Ebd. Ebd., S. 296. Schaeffer, Über Lessing, in: Ders., Dichter und Dichtung, S. 20. Schaeffer, Über die Ballade, in: Ders., Dichter und Dichtung, S. 135. Das ist in dreifacher Hinsicht problematisch. Einmal werden hier wie in der idealistischen Gehaltästhetik innere Form und äußerer Gehalt des Werkes in ein zirkuläres Verhältnis gesetzt. Weiter erhält die innere Form eine tautologische Bedeutung, denn sie ist das Innere, die Seele selbst. Drittens verfehlt die hermeneutische Extremform in der Allgemeinheit des Ergebnisses ihr Ziel.
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nicht mehr trennbar ist. 203 Anders als im rhetorischen Konzept des Charakters, wonach Rede und Handlungen in der Außenwelt Resultat einer spezifisch ethischen Anlage sind, besteht in Schaeffers psychologischer Variante des Charakters kein kausales Verhältnis zwischen den beiden Seiten. „[D]aß allein im Innen | Alle Dinge Gegenwart gewinnen“, lautet die Lehre von Schaeffers Parzival. 204 Sind bei Wolfram die äußere Handlungswelt des Rittertums und die ethische Disposition seines Helden aufeinander bezogen, so werden die Taten Parzivals zur Metapher seiner Seelenwelt – eine Tendenz, die auch schon bei Gerhart Hauptmann angelegt ist. 205 Die Behauptung Walzels, sittliche Form und innere Form seien für Schaeffer eigentlich ein und dasselbe, wird von der äußeren Form seines Versromans bestätigt. Diese äußere Form bildet in der Gesamtheit zwar keine expressionistische Dichtung, weil die geschlossene und organizistische Einheit zu sehr dem traditionellen Werkverständnis verpflichtet ist. Von expressionistischen Elementen aber wird man sprechen dürfen, und es handelt sich dabei nicht allein um die von einer zeitgenössischen Kritik bemängelte „stilwidrige Mischung von erhabenen und häßlichen Auftritten“ 206. Wie in Schaeffers Roman Helianth wird auch hier die innere Entwicklung des Charakters in der Geschlossenheit der Perspektive verwirklicht. 207 Es gibt nur eine Perspektive, und zwar diejenige Parzivals. Das bedeutet, dass die Geschichte von Parzivals Vater Gachmuret, dessen erster Frau Belakane und seiner Liebe zu Herzeleide nicht mehr vorkommt, und ebenso verzichtet Schaeffer auf die umfangreichen GawanEpisoden bzw. gestaltet sie als Dialog Parzivals mit Gawan. 208 Die zweite von der Verinnerlichung des Geschehens bedingte Formentscheidung betrifft die Darstellung der Rede des Helden. Oftmals ist nicht zu erkennen, ob die wiedergegebenen Vorgänge von einem Erzähler in die indirek_____________ 203 Anke Wagemann, Wolframs von Eschenbach ‚Parzival‘ im 20. Jahrhundert. Untersuchungen zu Wandel und Funktion in Literatur, Theater und Film, Göppingen 1998 (= Göppinger Arbeiten zur Germanistik, 646), S. 41–50. 204 Vgl. die Rede Gurnemanz’ (Schaeffer, Parzival, S. 104). 205 Vgl. Gerhart Hauptmann, Parsival, Berlin 1914 (= Ullstein-Jugend-Buch, 11), S. 48: „War dies er selbst, was er ringsum fühlte, hörte und sah? War es am Ende nur seine Seele, die sich mit solchen Visionen erfüllt hatte? War sie, die Seele, der klingende Dom, den er in sich trug?“ 206 Wolfgang Golther, Parzival in der deutschen Literatur, Berlin/Leipzig 1929 (= Stoff- und Motivgeschichte der deutschen Literatur, 4), S. 49. Nebenbei bemerkt, vermisste derselbe Autor, ebd., „durchaus die von innen her schaffende Neugestaltung, die die einzelnen Teile zu einem einheitlichen Ganzen verschweißt.“ – In der längeren Fassung von 1925 hieß es noch: „wunderliche Mischung“ (Golther, Parzival und der Gral, S. 322). 207 Vgl. Berend, Die Technik der ‚Darstellung‘ in der Erzählung, S. 222–233. 208 Schaeffer, Parzival, S. 375–388.
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te Rede gesetzt oder aber ob sie der sogenannten erlebten Rede zuzurechnen sind. 209 Die Bewegung der Sprache findet ihre Form in Worthäufungen; Reihen von Paradigmen deuten auf die Unmöglichkeit des Autors, sich für einen Begriff zu entscheiden („Höre Rosse, Waffen, Klirren, Stampfen“). 210 Kürzungen, Raffungen und Überschneidungen des originalen äußeren Handlungsverlaufs sind eine weitere Besonderheit, wobei jene Momente wiederum, die symbolisch wichtig sind, im Original aber kurz und sachlich geschildert werden, von Schaeffer hyperbolisch ausgeschmückt werden. Es handelt sich dabei um Wahrnehmungen und Träume Parzivals. Eine der berühmtesten Wahrnehmungen in Wolframs Parzival sind jene drei Tropfen im Schnee, die den Helden tagtraumartig an seine verlassene Frau Kondwiramur erinnern. Bei Wolfram haben die drei Tropfen die Funktion, die Erinnerung an die geliebte Frau in Parzival zu wecken. Dabei wird der Schnee zur Hautfarbe, zwei Tropfen bilden die Wangen ab, der dritte das Kinn: „zwên zaher an ir wangen, | den dritten an ir kinne“ (283, v. 12f.).211 Bei Schaeffer sind die Blutstropfen dagegen ein „Geheimnis“, dessen Lösung dem Helden Schmerzen bereitet, weil es ihn wieder an seine Schuld gegenüber Kondwiramur erinnert, und daran, dass Leben überhaupt Schuld sei. Die Erinnerung ist gerade keine Flucht in die Scheinwelt, sondern Erkenntnis der eigenen Verfallenheit: Rote Tropfen, drei im weißen Schneefeld. Keine Schläfrin, Lilie nicht noch Rose. Und er starrte. Diese Tropfen hielten Ein Geheimnis, heischend, daß ers löse. Und er wehrte sich mit allen Sinnen, Zu erfahren schauriges Geschehen, Ungeheure Missetat zu sehen,
_____________ 209 Oskar Walzel hat darauf hingewiesen (Von „erlebter“ Rede, 1924) und zugleich einen bis heute gültigen terminus technicus zur Erfassung von Erzählformen in der Moderne formuliert (Oskar Walzel, Von „erlebter Rede“ [1924], in: Ders., Das Wortkunstwerk, S. 207–230, hier S. 224f.). Walzel berief sich dabei auf Forschungen der Romanistik (Adolf Tobler, Charles Bally, Gertraud Lerch). 210 Schaeffer, Parzival, S. 263. Darauf hat Oskar Loerke hingewiesen, mit dem Schaeffer gemeinsam im Berliner Wintersemester 1906/07 die Veranstaltungen „Griechische Tragödie“ von Ulrich Wilamowitz-Moellendorff und „Allgemeine Deutsche Literaturgeschichte“ von Gustav Roethe besucht hatte [HU UA Rector und Senat, Abgangszeugnisse, 8.3.1907, Oskar Loerke bzw., 7.5.1908, Albrecht Schaeffer]. Die Rezension des Berliner Börsen-Couriers ist abgedruckt in: Oskar Loerke, Der Bücherkarren. Besprechungen im Berliner BörsenCourier 1920–1928, hg. v. Hermann Kasack, Heidelberg 1965 (= Veröffentlichungen der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung, Darmstadt, 34), S. 156–158, hier S. 157. 211 Wolfram von Eschenbach, Parzival, nach der Ausgabe Karl Lachmanns revidiert und kommentiert von Eberhard Nellmann, Bd. 1, S. 470.
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Eine? Viele, Taten über Taten, Aus dem Herzen in die Welt geraten Ohne Händewerk und Waffenrauschen Durch ein grausenvolles Ortvertauschen. Rot und Weiß und Schuld und Unschuld sind es, Innen lebts, und Leben drauß gewinnt es, Hack die Hände ab, zerreiß die Augen; Lebend ists, und Leben wird es saugen, Rot und Weiß, die wissens, wollens nennen, Rote Tropfen schrieen: Wir bekennen, Und sie zeugten sich wie Tat aus Taten Übers weiße Feld zu roten Saaten, Leintuch blutbesprengt mit Riesenflecken, Und er sahs die Ebene bedecken.. 212
Der Traum, der für Wolfram die wichtigste Form dargestellt hat, um mögliche Aussagen über das Innenleben seines Helden zu formulieren, wird zu einem weiteren Prinzip von Schaeffers Werk erhoben, wenn man dieses als eine bewusste Derealisierung versteht.213 Traumsequenzen sind prinzipiell gleichwertig mit den pseudo-realen Begebenheiten der Außenwelt. Wenn also der Erzähler einmal sagt: „Parzival, so tauch aus dieses Traumes | Unraum wieder in die Welt des Raumes“214, so ist nichts weniger deutlich bestimmbar als jene ‚Welt des Raumes‘ – sie ist der eigentliche Unraum. Schon die Anfangsstellung des Traums von Parzivals Mutter Herzeleide (103, v. 25–104, v. 19) in Schaeffers Parzival betont seine strukturelle Bedeutung. Der andere wichtige Traum, den Wolfram schildert, ist jener nach dem ersten Besuch auf der Gralsburg. Wolframs Erzähler schaltet sich eigens ein und stellt eine Verbindung zwischen den beiden Träumen her: „sô daz der junge wol gevar | sîner muoter troum gar widerwac, | des si nâch Gahmurete pflac“ (245, v. 6–8). 215 Bei Wilhelm Hertz lautet dieser Traum Doch Parzival lag nicht allein; Sein Schlafgeselle war die Pein Voll harter Mühsal, Drang und Streit. Im Schlafe sandte kommend Leid Seine Boten ihm voraus. Ihn übermannte gleicher Graus, Wie seine Mutter er bedroht
_____________ 212 Schaeffer, Parzival, S. 265. 213 Erinnert sei daran, dass Schaeffer, als er über die Entstehung des Parzival berichtete, dieses Werk selbst als „fantastische Geburt“ und als „Traum“ bezeichnet, vgl. Albrecht Schaeffer an Heinrich Merck am 6.4.1923 [DLA A:Schaeffer 60.824] und den Brief an Else Michel am 20.1.1919 [DLA A:Schaeffer 01.95.1]. 214 Schaeffer, Parzival, S. 467 (III.10). 215 Wolfram von Eschenbach, Parzival, S. 408.
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Im Traum nach Gachmuretens Tod. Mit Schwerterhieben war der Traum Ringsum gesteppt an seinem Saum, Dazu mit manchem Lanzenstich. Von Anprall wild und fürchterlich Litt er im Schlafe solche Not: Er wollt’ im Wachen wohl den Tod lieber dulden dreißigfach. So überhäuft ihn Ungemach, Bis er vor Angst und Kümmernissen Entsetzt empor fuhr aus dem Kissen; Ihm schwitzten Adern und Gebein. 216
Es versteht sich, dass Schaeffer diese knappen Hinweise ausgiebiger gestaltet. Bevor jedoch Schaeffer den Traum seines Parzivals darstellt, schaltet er eine Reflexion über den Zustand des Helden ein, um den Besuch auf der Gralsburg als ein innerliches Ereignis zu markieren. Dabei wird die Schuld des Helden mittels jener Wunde des Gralsfürsten erfahrbar gemacht, deren Heilung Parzival unwillentlich verhindert hat. Das Versäumnis, nach dem Leid des Gralsfürsten zu fragen, bildet nur den Anlass, die Erkenntnis der eigenen Schuldigkeit zu erfahren. Amfortas ist unheilbar verwundet, von Parzival erwartet die Gralsgesellschaft die erlösende Frage nach dem Befinden des Königs, doch diese bleibt aus. Deshalb wird er am nächsten Morgen von der Gralsburg verwiesen. Die Gralsburg selbst ist nicht real-empirischer Teil der Erzählung, sondern ein Ort im Inneren des Helden: Parzival erhob sich; fast erstickend An der Luft voll Odem der Verwesung, Suchte er nach Fenstern; keine waren. Ihn betrafs, obzwar er in der ganzen Munsalväsche keine wahrgenommen, Die nur Innres war und nichts als Innres. 217
In einer sich anschließenden Erkenntnis, formuliert in erlebter Rede, gesteht sich Schaeffers Parzival ein, dass die gesamte Gralsburg dem Innenraum angehört: War mir dennoch jegliche Erscheinung Vorgeboren; war wie Wiedersehen, War bekannt auf süße Weise. […] Alles war gemacht aus meinem Herzen. Alles vorgeformt in meinen Sinnen, Konnt’s nicht draußen finden, fand es innen. 218
_____________ 216 Hertz, Parzival 1898, S. 122. 217 Schaeffer, Parzival, S. 254. 218 Ebd.
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Schaeffer transformiert die vorausahnende Funktion des Traums in einen Anagnorismos. Parzival muss erkennen, dass er, seitdem er seine Mutter verlassen hat, schuldig geworden ist. Die Wiedererkenntnis des Innenraums ist verbunden mit der Erkenntnis der eigenen Schuld, wozu sich Parzival mit einer überreifen, innen faulen Frucht vergleicht. Doch erschrak er, seine eignen Worte Nicht begreifend, in den fensterlosen Raum gekerkert. Eine Gruft bedeuchte Das Verließ ihn – Angst umbließ ihn –, jene Ampel Grabesampel, Sarg das Bette. Frug sich grausend: Bin ich draußen jetzo? Ist die Stube nicht im Schloß gelegen? Oder bin ich hier erst in dem letzten Innersten des innern, wie in schönen Früchten, überreifen, drin das Faule? 219
Diese Erkenntnisszene geht der bei Wolfram vorgeprägten Traumszene voraus. Schaeffer gestaltet also nicht den traditionellen Übergang von Wirklichkeit zu Traum, weil es keinen wirklichen Zustand im Sinne eines real-äußeren der zeitlich-räumlichen Logik gibt. 220 Stattdessen konzentriert er sich darauf, die Entdeckung der eigenen Schuld Parzivals zu motivieren. Hier zeigt sich, wie sehr sich der darauf folgende Traum an Konzepten der Freud’schen Traumanalyse orientiert. 221 Aber auch die sprachliche Struktur selbst macht Anleihen bei der Psychologie der Zeit. Es folgen drei Sequenzen, deren Bewegung sich aus Verschiebung und Verdichtung ergibt, den Prinzipien, die Freud für die Traumbewegung als charakteristisch nennt. 222 Es geht darin um Parzivals Schuld gegenüber seiner Frau Kondwiramur, die er wegen seiner aventiure zurückgelassen hat. Die erste Sequenz verlebendigt ein Wandgemälde, eine _____________ 219 Ebd., S. 255. 220 Zu literarisch-philosophischen Raumkonzepten in der Moderne s. Oliver Simons, Raumgeschichten. Topographien der Moderne in Philosophie, Wissenschaft und Literatur, Paderborn 2007. 221 Zu Schaeffer und Freud s. Heidi E. Faletti, Der Feuermythos und die Beziehung Albrecht Schaeffers zu Sigmund Freud, in: Germanisch-Romanische Monatsschrift 73 (1992), H. 4, S. 428–443. – Vgl. auch Walzel, Von „erlebter“ Rede, in: Das Wortkunstwerk, S. 224: „Als Anhänger Sigmund Freuds betritt Schaeffer gern das Feld des Traums, des Halbtraums, des Schwindens der Besinnung. Am liebsten zeigt er dann nur, was irgendeine seiner Gestalten erlebt oder vielmehr zu erleben glaubt, nicht was tatsächlich geschieht.“ 222 Vgl. Sigmund Freud, Das Unbewußte (1915), in: Ders., Gesammelte Werke, Bd. 10, London 1949, S. 285f.: „Durch den Prozeß der Verschiebung kann eine Vorstellung den ganzen Beitrag ihrer Besetzung an eine andere abgeben, durch den der Verdichtung die ganze Besetzung mehrerer anderer an sich nehmen.“ S. auch in: Ders., Die Traumdeutung. Über den Traum (1900), in: Ders., Gesammelte Werke, Bd. 2/3, London 1948, den entsprechenden Abschnitt.
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Jagdszene, wobei der Gegenstand der Jagd sich allmählich zu einer Hinde verdichtet, die sich am Ende als Parzivals Frau zu erkennen gibt: Plötzlich hingen alle Bettgehänge Angerafft an Pfosten, und er starrte Frei ins Zimmer mit den Wandgemälden. Oben quälte sich die trübe Flamme, Wand sich, und die Schatten unten wankten Ungestüm. Kein Laut, – doch an den Wänden Wimmelte die Jagd. Sie war lebendig; Auf den Rossen jagten fort die Ritter, Und die Tiere liefen um ihr Leben. Vögel huschten im Geäste, Affen Sprangen, Marder, und im Buschwerk unten Rauscht’ es, glühten Augen; Tiergesichter, Füße, Felle, Schweife, tanzten zahllos. Alle aber, wie sie sich bewegten, Blieben doch am Ort, und es verschob sich Alles nur, und hinter ihren Jägern Rannten die Gejagten, und vor denen Flohen jene. Nein, sie jagten Alle Miteinander jene weiße Hinde, Die verlassen sprang in Herzensängsten. Und die Rosse rauschten durch das Laubwerk, Hörner bliesen, Wiehern und Gelächter, Schnauben scholl, Gekreisch von Weibern, alles Dumpf und fern wie hinterm Vorhang; wirre Flocht die Jagd sich durcheinander, kreiste, Flackerte. Und jetzt, vom ersten Spieße Fast erreicht, der nach ihr flog: die Hinde Sprang ins Zimmer, lief umher, verhaltend, Angstvoll windend, rannte nach der Türe; Die stand offen. Doch bevor sie dorten Schwand im Dunkel, wandte sie sich rückwärts, Zeigte ihm das kleine todesbleiche Angesicht Kondwiramurs voll solcher Sterbensbangnis, daß er, da sie fort war, Niedersprang vom Bett und mit dem ganzen Jagdgetümmel, zwischen Hunden, Pferden, Tieren, die sich drängten, durch die Türe. 223
Nach diesem Traum und dem ersten Besuch auf der Gralsburg wird Parzival zu einer Leidens- und Sucherfigur. Er lebt u. a. als Falkner und Fährmann der Toten, nicht aber mehr als Ritter. Am Ende seines Lebens, nach gut zwanzigtausend Versen ist Parzival Künstler geworden. Schaeffer kann so die Tätigkeit des Bildhauers am Stein mit der inneren Formung _____________ 223 Schaeffer, Parzival, S. 255f. [Kursivierung., A.N.]
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seines Helden analogisieren. Sie, die stete Formung, gewinnt ihre letzte Gestalt im gestaltenden Künstler und ist damit selbst wieder schöpferisch. Wenn Parzival die Gestalt, die „in allen Dingen“ wohne, befreien könne, so habe diese Befreiung zuerst an ihm selbst angesetzt. Parzival reflektiert diese Selbstwerdung: Da gedacht’ er offenbaren Schauders, Wie er selbst verschlossen war im Steine; Jene Ruhelosigkeit empfunden, Jenes Ziehn und Drängen, das er damals Nicht begriff, entsetzt nur von dem Vorgang Und der Einsicht, daß im Steine selber Keine Ruhe war und Lebens-Unrast. 224
Den Sinn dieses Künstlertums sieht Parzival in der Gotteserkenntnis, deren Medium die Seele ist: Wars denn dieses? fragt’ er jetzo; zuckten Tausend Stränge ungezeugten Daseins Durch mich hin und mögliche Gestalten? War ichs selber, der im Stein enthalten, Lechzend mußte nach der Seele streben, Weil sie Gott vergaß, als er das Leben Allem gab; so lechzen, daß sich nahe Mensch, damit ich es von ihm empfahe: Leben – Gottes Arbeit fortzusetzen –, Leib nach seinem Bild aus Stein zu etzen? 225
Schaeffers Hermeneutik der Suche besitzt eine paradoxe Struktur. Die Seele als der absolute, unendliche Innenraum des Menschen sei mit jeder Geburt gottlos geworden. Diese angeborene Gottlosigkeit bilde aber erst die Bedingung ihres Strebens zu Gott. In Wolframs Parzival sei dieser Gedanke angelegt, aber nur ansatzweise realisiert worden – daher die Interpolationen. Schaeffer implementiert nicht bloß das Formprinzip der Suche in den Versroman, der sich im mittelalterlichen Epos noch nicht genug Raum verschafft habe. Es handelt sich ihm zufolge nicht etwa um eine freie ästhetische Entscheidung seinerseits, sondern sein innerer Formwille habe ihn dazu gedrängt, dieses Werk zu schreiben. Als Deutscher unterliege er dem Zwang, wie einer inneren Stimme der inneren Form der Suche ästhetisch Folge zu leisten. Er habe nur radikalisiert, was seit Wolframs Parzival die großen Werke der deutschen Dichtung bewegt habe. Obwohl man heute Schaeffer ob seiner Sprachmächtigkeit bewundert, steht die Literaturwissenschaft seinen Werken, besonders dem Parzival, _____________ 224 Ebd., S. 614. 225 Ebd.
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eher hilflos gegenüber. Neuerdings nennt man ihn einen „Berserker im Traditionsbergwerk“226. Seine Verse besäßen „einen gewissen Drive“, aber „Festlichkeit [ein Begriff aus Schaeffers Poetik, A.N.] über 20000 Verse“ 227 sei schwer zu ertragen. Schon der Studiengenosse Schaeffers in München, Ernst Lissauer, musste bei allem Lob eine gewisse Verlegenheit bekunden, als er die allgemeine Tendenz Schaeffers, „auf hoher Ebene“ zu schreiben, charakterisierte: „Alles, was über ihn auszusagen ist, auch die Einwände und Einschränkungen, kann nur in dem Bewußtsein vorgebracht werden, daß er zu den wenigen zählt, die in letzter Verantwortlichkeit wirken.“ 228 Schaeffers Parzival ist Ausdruck der hermeneutischen Macht des literaturgeschichtlichen Paradigmas. Der Umstellung von einer eher sammelnden, kommentierenden und analysierenden zu einer hermeneutisch orientierten Philologie entspricht auf der Ebene der dichterischen Praxis eine Abkehr von der bloßen Nachdichtung hin zu einer hermeneutischen Dichtungspraxis, welche die Idee des Werkes mit den Mitteln der Dichtung zu erfassen sucht. Schaeffers nachträgliches Bedürfnis zur Autokritik weist darauf hin, dass er bereits in seiner Dichtung als Hermeneut seiner selbst auftritt. Die Bedeutung des hermeneutischen Paradigmas in der Moderne zeigt sich daran, dass Strukturen der Selbstdeutung in die Texte eingeschrieben werden. Autohermeneutische Strategien sind Ausdruck eines Bedürfnisses seitens der Dichter, ästhetische Offenheit auszuschließen. Die starke hermeneutische Geste soll anzeigen, dass der Autor einen Beitrag leistet, einen bestimmten Mythos oder Stoff bzw. ihre textlichen Fixierungen für die Gegenwart verständlich zu machen, und über das bloße delectare hinausgeht.
_____________ 226 Volker Weidermann, Das Buch der verbrannten Bücher, Köln 2008, S. 95. 227 Schulze, Stationen der Parzival-Rezeption, in: Wapnewski (Hg.), Mittelalter-Rezeption, S. 571. 228 Ernst Lissauer, [Über Schaeffers Gedichte], in: Die Literatur. Eine Monatsschrift für Literaturfreunde 34 (1931/32), S. 430–432, hier S. 430.
2. Rudolf Borchardts Durant und die moderne Seelenform Auf Wilhelm Scherer geht das Bonmot zurück, jeder Philologe sei eine Sekte für sich. 1 Dem ist nur bedingt zuzustimmen: In der Realität einer wissenschaftlichen Disziplin gibt es kollektive Abhängigkeiten, Schülerschaften, Gruppenzwänge, eine produktive Fachkommunikation, so dass sektiererisches Handeln in Grenzen gehalten wird. Genau genommen sind nur jene Autoren Sektierer, die sich der Disziplin und ihren Institutionen verweigern und auf eigene Faust Philologen bleiben. Zu ihnen gehört Nietzsche, mehr noch aber Rudolf Borchardt, weil die Philologie als Methode der literarischen Weltschöpfung bei ihm nie in Frage stand oder nur sekundäres Mittel war. Eine Philologie jenseits der Disziplin unterscheidet sich, zumindest im Kontext der deutschen Wissenschaftskultur, nicht so sehr in der Methode, in den Thesen oder in der Terminologie von ihren fachwissenschaftlichen Pendants, sondern in ihrer Aufwertung der poetischen Praxis. Diese ist weder Gelegenheitsarbeit oder Spiel noch Exemplifizierung, sondern integraler Bestandteil der Autorschaft. Wenn für die Analyse von Borchardts Werk zwischen Philologie und Poesie getrennt wird, dann aus heuristischen Zwecken. Man kann sogar zuspitzen: Borchardt zählt zu jenen Autoren des zwanzigsten Jahrhunderts mit philologischer Kompetenz, die sich nicht von der Philologie abschrecken ließen, nur weil sie als wissenschaftliche Disziplin existierte und dadurch den Eindruck erweckte, ontologisch einen anderen Status zu haben als die Dichtung. Borchardt war sich seiner Sache deshalb sicher, weil er von Anfang an hinter die modernen Wissenschaften zurückging, um bei den Romantikern noch einmal ganz neu anzufangen. Dem methodischen Rückgang entspricht auch einer auf der Ebene des Gegenstands. Die literarische Überlieferung der deutschen Poesie ist für ihn entweder unvollständig geblieben oder, wie die Dante-Übersetzung es zeigt, in die falsche Richtung gegangen. Borchardt griff daher in die Überlieferung qua Poesie ein, jedoch nicht um ihrer selbst willen, sondern mit Blick auf die Gegenwart. Wie dem 1904 erschienenen Buch The Dark Ages von William Paton Ker liegt auch Borchardts im selben Jahr begonnenem Durant die Überzeugung zugrunde, dass die moderne Poesie um 1100 begann. Beide Autoren, aber auch andere wie Ezra _____________ 1
Wilhelm Scherer, Goethe-Philologie, in: Ders., Aufsätze über Goethe, 2. Aufl., Berlin 1900, S. 3-27, hier S. 4 [zuerst 1877]. Vgl. Martus, Werkpolitik, S. 498.
2. Rudolf Borchardts Durant und die moderne Seelenform
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Pound, sahen am Anfang der Moderne die provenzalische Dichtung.2 Frédéric Mistral (1830–1914) versuchte sogar, sie poetisch zu erneuern. Borchardt war der festen Überzeugung, dass sich bei den Provenzalen, zum ersten Mal bei Arnaut Daniel, die moderne Seelenform 3 artikuliert habe – nur habe sie seinerzeit keine deutsche Entsprechung gefunden. Borchardt will nichts weniger, als dieses Versäumnis nachholen. 2.1. Borchardts Bildung und die literarische Nation Niemand hat mit größerer Sorgfalt das Bild Rudolf Borchardts (1877– 1945) geprägt als der Autor selbst. In seinem Umkreis wusste man, dass er seine Phantasien als Realitäten erzählt, George nannte ihn einen Schwindler. 4 Vorsicht ist daher bei Borchardts Äußerungen über die eigene Person geboten. Hofmannsthal, der in ihm einen genialen Philologen, Rhetor und Romancier seiner selbst sah, hat das umgehend erkannt. 5 Der in Sprachen hochbegabte Borchardt 6 war der erste, der seinen Bildungsgang in aller Ausführlichkeit beschrieben, entschieden gedeutet, vor allem aber stilisiert hat. Die Bildungsgeschichte des Eranos-Briefs von 1924 enthält glanzvolle Höhepunkte der Selbstinszenierung wie beispielsweise das Erlebnis der Herder-Lektüre von 1897. 7 Seine „Dramatisierung der deutschen Univer_____________ 2 3 4 5
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Vgl. W.[illiam] P.[aton] Ker, The Dark Ages, New York 1904, S. 6. „The great historical fact belonging to the close of the eleventh century, besides the Crusade, is the appearance of French and Provençal poetry, which is the beginning of modern literature.“ Das Wort ‚Seelenform‘ übernahm Borchardt aus Tacitus’ Biographie Agricola, wo am Schluss von der forma mentis die Rede ist. Michael Landmann, Menschen um Stefan George, Bd. 2, Bonn 1988 (= CASTRVM PEREGRINI, 183), S. 82. Vgl. Hugo von Hofmannsthal an Anton Kippenberg am 18.4.1907, zitiert nach Gerhard Schuster, Rudolf Borchardt und der Insel-Verlag. Zu einem unbekannten Brief an Anton Kippenberg, in: Buchhandelsgeschichte. Aufsätze, Rezensionen und Berichte zur Geschichte des Buchwesens. Beilage zum Börsenblatt für den Deutschen Buchhandel. Frankfurter Ausgabe (1982), H. 3, S. B 97–114, hier S. B 100. Hugo von Hofmannsthal hat Rudolf Alexander Schröder seinen ersten Eindruck über Borchardt am 26.4.1902 übermittelt (abgedruckt in: Rudolf Borchardt, Vivian. Briefe. Gedichte. Entwürfe. 1901–1920, hg. v. Friedhelm Kemp/Gerhard Schuster, Marbach a. N. 1985, S. 212f.) und Borchardts mit seinem Sprachgenie einhergehende Affektiertheit zum Ausdruck gebracht: „Er spricht alle Sprachen sehr geläufig, mit großem Wortreichthum, nur in einem fast unerträglichen Ton, mit einem ostentativen Zuhausesein in der Sprache, das – bei der Häßlichkeit seiner Betonung – zuweilen einen grotesken Eindruck macht. […] Ich habe die begründete Furcht, daß er in wenigen Wochen anfangen wird, wienerisch zu reden“ (ebd., S. 213). Vgl. Rudolf Borchardt, Eranos-Brief, in: Ders., Prosa I, Stuttgart 1957, S. 90–130, bes. S. 112, zu Herder S. 115f. Auch Daniel Hoffmann, „Schöpfungsgewalt, die Formen strömt.“ Rudolf Borchardt, ein Befreiter aus Herders Geist, in: Christoph Schulte (Hg.), Hebräische Poesie und jüdischer Volksgeist. Die Wirkungsgeschichte von Johann Gott-
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sitätslandschaft“ 8, stilistisch geschult an der militärhistorischen Prosa von Xenophons Anabasis, 9 bedient sich rhetorischer und literarischer Verfahren, schafft eine imaginäre Gemeinschaft, als deren Teil sich der Autor begreift, und reiht sich ein in die Tradition der deutschen Gelehrtenbiographik des neunzehnten Jahrhunderts.10 Die Tendenz zur Ästhetisierung und die bildungspolitische Zielsetzung einer Wiedergewinnung der alten preußischen Universität Humboldts erschweren die sachliche Rekonstruktion des eigentlichen Bildungsganges. Die Abwertung des modernen, ausdifferenzierten Wissenschaftsbetriebes und die Aufwertung jener vordisziplinären Anfangszeit der Wissenschaft, die Poesie nicht systematisch ausschied, gehören zu den Grundmustern von Borchardts Wissenschaftskritik seit dem Gespräch über Formen von 1905 bis zum zwei Jahrzehnte später veröffentlichten Brief in der Eranos-Festschrift für den ebenfalls am modernen Wissenschaftssystem gescheiterten Freund Hugo von Hofmannsthal und sind noch in der Pindar-Rede von 1930 hörbar. 11 Verzichtet man einmal auf die Selbstbeleuchtung Borchardts, erscheint der Autor in einem weniger dramatischen Licht. Vorgebildet auf dem Berliner Französischen Gymnasium (1885–1887), 12 dem Gymnasium zu Marienburg in Westpreußen (bis Ostern 1893) und dem Königlichen Gymnasium zu Wesel (bis 1895), 13 durchlief er einen für literarische Autoren seiner Zeit bildungssoziologisch nicht untypischen Werdegang. Auf dem Königlichen Gymnasium zu Marienburg, das er als Obersekundaner verließ,14 musste er ein hohes Lernpensum in den alten Spra_____________ 8 9 10 11
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fried Herder im Judentum Mittel- und Osteuropas, Hildesheim 2003 (= Haskala, 28), S. 225–246, hier S. 226, meldet Zweifel an der Wahrheit dieses Lektüreerlebnisses an. Kai Kauffmann, Rudolf Borchardt und der ‚Untergang der deutschen Nation‘. Selbstinszenierung und Geschichtskonstruktion im essayistischen Werk, Tübingen 2003 (= Studien zur deutschen Literatur, 169), S. 421. Die Bezugnahme geht hinein bis in den Titel von Borchardts Autobiographie: Rudolf Borchardt, Anabasis. Aufzeichnungen. Dokumente. Erinnerungen. 1943–1945, hg. v. Cornelius Borchardt, München 22003. Vgl. Thomas Poiss, Rudolf Borchardt und die universitäre Altphilologie (Friedrich Leo), in: Osterkamp (Hg.), Rudolf Borchardt und seine Zeitgenossen, S. 56–72, hier S. 69. Vgl. Ernst A. Schmidt, Rudolf Borchardts Programmatik als Dichter und Wissenschaftler (Am Beispiel des Berliner Pindarvortrags), in: Rudolf Borchardt/Werner Jaeger, Briefe und Dokumente. 1929–1933, hg. v. E. A. S., München 2007 (= Schriften der RudolfBorchardt-Gesellschaft, 10), S. 187–204. Hierzu Dorit Krusche, „Das Kind der allzu großen Stadt“. Bilder aus Rudolf Borchardts frühen Jahren in Berlin 1882 bis 1886 (= Titan. Mitteilungen des Rudolf Borchardt Archivs 2 [2005]), S. 24–28, wenngleich nach Borchardts eigener retrospektiver Darstellung. Vgl. Friedrich Rohde, Rudolf Borchardt (1877–1945). Abiturient am Weseler Gymnasium im Jahre 1895, in: Heimatkalender des Kreises Wesel 11 (1990), S. 79–83. Im Schulprogramm von 1893 ist erwähnt, dass der Obersekundaner Borchardt der Schulbibliothek Sophie Wörishöffers Buch Im Goldlande Kaliforniens (1891) geschenkt hat, vgl.
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chen bewältigen, deren Klassiker ihm seine späteren biographischen Deutungsmuster vermittelten. Die Dramaturgie der Selbstbiographie Anabasis, die er 1944 verfasste, war hier, im Sprach- und Literaturunterricht des preußischen Gymnasiums, konzipiert worden. Der Unterricht im Griechischen in der Untersekunda konzentrierte sich fast ausschließlich auf Xenophons Hellenika und Anabasis. 15 Die Bedeutung dieses Klassikers als Prosa- und Schulautor hat Borchardt später seiner Schwester geschildert.16 Doch nicht bloß das griechische und lateinische Paradigma beherrschte die literarische Formierung. Die Obersekunda von 1892/1893, die Borchardt besuchte, erhielt neben „sprachgeschichtlichen Belehrungen“ und „Ausblicke[n]“ in die höfische Epik eine „Einführung in das Nibelungenlied unter Veranschaulichung durch Proben aus dem Urtext, die vom Lehrer gelesen und erklärt wurden“ 17. Aufsatzthemen zu Walther von der Vogelweide sind ebenso bezeugt. Für die zeitige Herausbildung eines philologischen Bewusstseins war zudem prägend, dass in Marienburg nur die Ausgaben Teubners für die Lektüre der altklassischen Texte gestattet waren.18 Borchardt war in Berlin,19 Bonn und Göttingen 20 zum Studium orientalischer, antiker und neuer Sprachen und der Archäologie immatrikuliert. Obwohl er von seinen, im Fall Friedrich Leos sogar zur Verwandtschaft gehörenden akademischen Lehrern umgarnt wurde, 21 scheiterte Borchardt _____________ 15 16 17 18 19
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Königliches Gymnasium zu Marienburg, Bericht über das Schuljahr 1892/1893, Marienburg 1893, S. 18. Vgl. Königliches Gymnasium zu Marienburg, Bericht über das Schuljahr 1891/1892, Marienburg 1892, S. 6. Vgl. Rudolf Borchardt an Vera Rosenberg, Mai 1907 (Rudolf Borchardt, Briefe. 1907– 1913. Text, hg. v. Gerhard Schuster, München 1995, S. 72–79). Königliches Gymnasium zu Marienburg, Bericht über das Schuljahr 1892/1893, S. 10. Königliches Gymnasium zu Marienburg, Bericht über das Schuljahr 1891/1892, S. 6. In Berlin war Borchardt vom 20.4.1895 bis zum Winter 1895/96 immatrikuliert. Er hörte u. a. bei Johannes Vahlen zu Catulls Gedichten und zu Euripides, bei Otto Hirschfeld zur Römischen Kaiserzeit, bei Hermann Diels zur griechischen Philosophie und belegte einen Kurs Sanskrit und einen Kurs Arabisch. Vgl. HUUA, Abgangszeugnis Rudolf Borchardt vom 17.3.1896. Zu den Bonner und Göttinger Jahren s. auch David Oels, „Denkmal der schönsten Gemeinschaft“. Rudolf Borchardt und der Germanist Walther Brecht. Mit unveröffentlichten Briefen und Dokumenten 1898–1950 (= Titan. Mitteilungen des Rudolf Borchardt Archivs 11 [2007]), bes. S. 3–20. Umso größer war die Enttäuschung Leos, vgl. Friedrich Leo an Rudolf Borchardt am 10.5.1902, in: Rudolf Borchardt, Briefe. 1895–1905, hg. v. Gerhard Schuster, München 1995, S. 193–201. Zum Verhältnis beider s. Poiss, Rudolf Borchardt und die universitäre Altphilologie (Friedrich Leo), in: Osterkamp (Hg.), Rudolf Borchardt und seine Zeitgenossen, S. 56–72, zur Antike-Rezeption im Allgemeinen bei Borchardt s. Ernst A. Schmidt, Rudolf Borchardts Antike. Heroisch-tragische Zeitgenossenschaft in der Moderne, Heidelberg 2006 (= Schriften der Philosophisch-historischen Klasse der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, 38.2006).
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V. Konjekturen mittelalterlicher Überlieferung
daran, eine literaturwissenschaftliche Laufbahn einzuschlagen. Eine Studie über die Gattungen der griechischen Lyrik kam nie zustande, obwohl ihre Planung den Studenten lange Zeit bewegt hatte. Borchardt, der sich in Briefen an Margarete und Wilhelm Ruer als Doktor der Philosophie bezeichnete und vorgab, habilitieren zu wollen, 22 versagte vor den Sprachregeln einer Disziplin, von der er dennoch nicht loslassen konnte, wie sich in zahlreichen paradisziplinären Beiträgen und Reden und noch in dem Wunsch zeigte, die Berufungspolitik der Philologien mitzugestalten. 23 Es ist wenig erstaunlich, dass gerade der alte Hermann Grimm (1828– 1901) einer seiner Helden in der Wissenschaft war, von dem er glaubte, dass er zu jenen vormodernen Wissenschaftlern gehöre, die Poesie und Wissenschaft vereinen konnten. Bei Grimm hatte sich diese Synthese stilistisch niedergeschlagen in der Form des Essays, der in seiner kulturkritischen Variante auch zur wichtigsten Äußerungsform Borchardts wurde. 24 Er entwickelte die Essay-Form als Alternative zur objektiven Wissenschaftsprosa, die als Medium seiner den Historismus überwindenden geschichtlichen Spekulationen und gleichsam polemischen Stoßrichtung ungeeignet war. Es gehört zu den illusionären Selbstversicherungen Borchardts, die Bereiche des Politischen, Dichterischen und Wissenschaftlichen trennen zu können.25 Biographische Umstände mögen Borchardts Ausscheiden aus der Wissenschaft beschleunigt haben. Am 21. Februar 1902 starb Borchardts Großmutter väterlicherseits, 26 Emilie Borchardt, geborene Leo, eine Ver_____________ 22 23
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Rudolf Borchardt an Wilhelm Ruer am 2.4.1902, in: Borchardt, Briefe. 1885–1896, S. 184– 191, hier S. 186; Rudolf Borchardt an Margarete Ruer am 26.2.1902, in: ebd., S. 170f., hier S. 171. Wobei diese Einmischung auch auf die Gegnerschaft zum George-Kreis zurückzuführen ist, vgl. Ernst Osterkamp, Nachwort, in: Rudolf Borchardt, Aufzeichnung Stefan George betreffend, aus dem Nachlaß hg. und erläutert v. E. O., München 1998 (= Schriften der Rudolf Borchardt-Gesellschaft, 6/7), S. 171–206, hier S. 194. Dieser Gedanke bei Burdorf, Poetik der Form, S. 430. – Zum Essay s. Simon Jander, Die Poetisierung des Essays. Rudolf Kassner – Hugo von Hofmannsthal – Gottfried Benn, Heidelberg 2008 (= Beiträge zur neueren Literaturgeschichte, 257). Vgl. den Brief von Rudolf Borchardt an Alfred Walter Heymel am 25.10.1912, in: Borchardt, Briefe. 1907–1913, S. 410–415, hier S. 413. „Meine politische Schriftstellerei […] muss von meiner dichterischen genauso geschieden werden, wie von meiner klassischphilologischen in die ich soeben durch die Recensio des Alkmanischen Dioskurengedichtes und ein Heft Studien über die Hylasmythe mit einem zweiten Pseudonyme wieder eintrete.“ – Der Hylasstoff bei Properz war schon Gegenstand einer auf Latein verfassten Seminararbeit von 1899, die jüngst veröffentlicht worden ist, vgl. Rudolf Borchardt, „De Hyla commentationem scripsit Rudolfus Borchardt“. Ein Göttinger Seminarreferat aus dem Jahr 1899. Lateinisch und deutsch. Aus dem Nachlaß hg., übersetzt und erläutert v. Gerd von der Gönna (= Titan. Mitteilungen des Rudolf Borchardt Archivs 6 [2006]). So steht es auf dem Grabstein, den abbildet Kai Kauffmann, „Ein so stummes wie unerschöpfliches Bildungsproblem“. Rudolf Borchardt zwischen jüdischer Familienherkunft
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wandte seines Göttinger Lehrers Friedrich Leo. Seit Januar 1902 waren bei Borchardt, der angeblich kurz vor dem Abschluss der Doktorarbeit stand, die monatlichen Zahlungen seines Vaters ausgeblieben. Am 11. April, als er erfolglos um die Hand Margarete Ruers bei deren Vater anhielt, wies er sich als Universalerbe seiner Großmutter aus, sein Vermögen betrage 820000 Mark. 27 Die Dissertation De paraclausithyro et hymenaeo quaestiones selectae muss am 10. Mai 1902 in Teilen als „Druckbogen“ 28 vorgelegen haben, wie aus dem Brief des von Borchardt zutiefst enttäuschten Lehrers Leo hervorgeht. Nicht nur gegenüber den Ruers gab sich Borchardt deshalb schon als Doktor aus. In offiziellen Schreiben unterzeichnete er seine Briefe mit dem akademischen Titel: Warum nicht dies Wahrscheinliche simulieren, um es vorlaufend zu einem Wahren zu machen? Borchardt muß, weil er das geysirhafte Wesen seiner Produktivität kannte, zeitlebens auf die Macht des Planens, Entwerfens, Improvisierens in einem ihm selber oft verblendeten Grade vertraut haben. 29
Andererseits hatte Borchardt den Titel schon lange vorher genutzt. Ein Brief an den Verleger Julius Zeitler vom 3. Oktober 1900 ist mit dem Doktortitel unterzeichnet: Ich habe vor fast einem Jahre über eine Spezialfrage der antiken Lyrik promoviert und stehe jetzt im Staatsexamen. Im November erscheint von mir bei Trübner in Strassburg ‚Motive und Gattungen. Ein Versuch zur Geschichte der Lyrik bei den Griechen. 1. das Lied von der Thüre. 2. das Lied bei der Hochzeit. 3. Das Gedicht auf dem Grabe.‘ 30
Anfang 1902, nachdem er sich Ende 1901 gegenüber dem Mitherausgeber der Zeitschrift Insel, Rudolf Alexander Schröder, als Philologe ausgegeben hatte, 31 bat Borchardt diesen, doch einmal sein Gespräch über Formen samt _____________
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und deutscher Kulturmission, in: Ders. (Hg.), Das wilde Fleisch der Zeit. Rudolf Borchardts Kulturgeschichtsschreibung, Stuttgart 2004, S. 83–128, hier S. 87. Erst 2001 wurde dieser Sachverhalt bekannt, vgl. Kauffmann, Borchardt und der ‚Untergang der deutschen Nation‘, S. 1f. – Rudolf Borchardt, In Memoriam, in: Ders., Prosa VI, hg. v. Marie Luise Borchardt †/Ulrich Ott/Gerhard Schuster, Stuttgart 1990, S. 9f., war es, der das Datum 1904 in Volterra vorverlegte auf 1898. Hier zitiert nach Borchardt, Vivian, S. 51. Im Kommentar werden die Vermögensverhältnisse (ebd., S. 214) wohl auch deshalb als „durchaus fiktiv“ bezeichnet, weil zu dem Zeitpunkt noch nicht bekannt war, dass die Großmutter erst 1902 verstarb. Friedrich Leo an Rudolf Borchardt am 10.5.1902, in: Borchardt, Briefe. 1895–1906, S. 102. Friedhelm Kemp/Gerhard Schuster, Nachwort, in: Borchardt, Vivian, S. 45–179, hier S. 155. Rudolf Borchardt an Julius Zeitler am 3.10.1900, in: Borchardt, Briefe. 1895–1906, S. 106f., hier S. 107. Rudolf Borchardt an Rudolf Alexander Schröder, ca. 12.11.1901, in: Rudolf Borchardt/Rudolf Alexander Schröder, Briefwechsel. 1901–1918, hg. v. Elisabetta Abbondanza, München 2001, S. 36f., hier S. 37: „Es ist vielleicht gut, dass ich dies erst jetzt sage, denn wer kann sagen was Sie von meinen Gedichten gehalten hätten, wenn Sie gewusst hätten, dass es die Verse eines Philologen sind. Ich meine das übrigens nicht sehr
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der Übersetzung von Platons Lysis zu verlegen. Das Wortspiel mit dem Titel des Dialogs – ‚Lysis‘ als ‚Lösung‘ bringt Borchardt zugleich dazu, einen Anfang zu setzen für seine poeto-philologische Autorschaft: Ich würde darin eine leidlich wohlthuende praktische Lösung – oder den Anfang dazu – des zwischen Produktion und Wissenschaft schwebenden dipsychischen Zustandes sehn, über den zwischen uns eher leichte Worte hingeflogen sind, während diese Dinge doch eine furchtbare und aufgerissene Seite haben. 32
Es entspricht Borchardts dramatischer Selbstbeschreibung, wenn man diesen Zustand mit dem Begriff des ‚Konflikts‘33 oder der Krise als einer nicht vollzogenen Entscheidung interpretiert, wie Werner Kraft es vorgeschlagen hat: „Genau dies ist der Name der Krisis: eine falsche Entscheidung als wahre erlebt, auf einem Wege; denn die Möglichkeit erlaubt zwei, die Wirklichkeit aber nur einen Weg.“ 34 In Wirklichkeit war Borchardt spätestens seit 1902 kein Wissenschaftler mehr, sondern hatte sich der Dichtung verschrieben. Der Wissenschaftler Borchardt war Teil der Inszenierungspraxis des Dichters geworden. Borchardts Bestreben, „Poesie im Medium der Geschichte hervorzubringen“ 35, bedurfte der Vereinigung der historisch-philologischen Forschung mit der Dichtung. Geschichte war für ihn identisch mit literarischer Überlieferung, und nur mittels dieser Einheit war die Bildung der Nation im doppelten Sinn möglich: Sie sollte gebildet werden und an ihr wiederum wollte sich Borchardt bilden. Der Bildungsgedanke war gegründet auf dem Verständnis einer literarischen, nicht auf einer ethnischen Gemeinschaft. Das ursprüngliche Verhältnis zwischen dem Dichter und der Gemeinschaft sei in der Moderne zerbrochen: „Wo ist die Gemeinschaft, wo ist das Volk geblieben, mit dem er [der Dichter, A.N.] identisch war, für das und kraft dessen er erfuhr, oder ihm widerfuhr, was ihm widerfuhr?“ 36 Man mag hier schnell versucht sein, soziale und biologische Konzepte der Nation zu assoziieren, Letztere aber waren Borchardt fremd. Borchardts Nationenbegriff37 _____________
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ernsthaft, und will doch hinzufügen, dass ich mich mit der antiken Welt nur deswegen beschäftigte, weil sie, als Ganzes und in jedem ihrer kleinsten Bruchteile die grösste Gewalt über meine Sinne hat.“ Rudolf Borchardt an Rudolf Alexander Schröder, ca. 23.2.1902, in: Borchardt/Schröder, Briefwechsel, S. 40f., hier S. 40. Michael Neumann, Eidos. Borchardt zwischen Croce und Warburg, in: Osterkamp (Hg.), Rudolf Borchardt und seine Zeitgenossen, S. 157–193, hier S. 157. Werner Kraft, Rudolf Borchardt. Welt aus Poesie und Geschichte, Hamburg 1961, S. 22. Ebd., S. 30. Rudolf Borchardt, Über den Dichter und das Dichterische, in: Ders., Prosa I, bes. S. 59– 61, hier S. 48. Zur schwer greifbaren Verwendung von Nation bei Borchardt s. Wolfgang Schuller, Nation und Nationen bei Rudolf Borchardt, in: Kai Kauffmann (Hg.), Dichterische Politik. Studien zu Rudolf Borchardt, Bern 2001 (= Publikationen zur Zeitschrift für Germanistik. N. F., 4), S. 11–25, und Kauffmann, Rudolf Borchardt und der ‚Untergang der deutschen
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wollte zwar ein politischer-praktischer sein, blieb aber literarisch-ästhetisch. Wie einst Dante in De vulgari eloquentia mittels der Poesie die Sprache hatte schaffen wollen, welche die neue politische Gemeinschaft stifte, strebte Borchardt mit der dichterischen Wiedergewinnung der deutschen Nation nach einer neuen Gemeinschaft.38 Wie Dante entwickelte er den Gedanken einer noch nicht bzw. nicht mehr bestehenden Volkssprache, die der Dichter bestenfalls selbst ins Werk setzt: „In mir selber, sagte ich, hatte ich Deutschland zu suchen oder zu ergänzen.“ 39 Einem antikhumanistischen Bildungsideal stellte Borchardt ein deutsch-humanistisches entgegen, das nicht angeboren sei, sondern ‚buchstäblich‘ gewonnen werden müsse: ‚Christentum und Deutschtum‘ seien daher auch keine rassischen „Gestütsbegriffe, sondern Geistermächte und Weltmächte […] – ein auf die eigene Seele übernommenes und in ihr buchstäblich erworbenes Christentum und Deutschtum“ 40. Der Unterschied Borchardts zu anderen Intellektuellen des Kaiserreichs und der Weimarer Republik besteht in seiner philologisch-buchstäblichen Begründung des deutschen Bildungsgedankens einer deutschen Seelenform. Willy Haas’ ‚Morphologie des dichterischen Selbsthasses‘, so der Untertitel zum Fall Rudolf Borchardt (1922), legt diesbezüglich eine später von Kraft weiter ausgeführte Motivation der Borchardt’schen Autorschaft offen. So sei es auffällig, dass die Wiedergewinnung geistiger Heimat bei Borchardt geradewegs ins Deutschtum führe. Borchardt „will von der deutschen Volksgemeinschaft als Deutscher rezipiert werden.“ 41 Neuere Forschungen bestätigen Krafts Vermutung, Borchardts nationale Rhetorik resultiere aus dem Wunsch nach Anerkennung. Die Rede ist von Borchardts „irrige[m] Anspruch […], als könne man, und zwar notwendigerweise nur durch den radikalen Bruch mit allen jüdischen Vorausset_____________
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Nation‘; Matias Martínez, Imaginierte Tradition. Rudolf Borchardts ‚Deutsche Nation‘, in: Corina Caduff/Reto Sorg (Hg.), Nationale Literaturen heute – ein Fantom? Die Imagination und Tradition des Schweizerischen als Problem, München 2004, S. 103–114. Die Schaffung künstlicher Sprachen bewegte nicht bloß Borchardt, sondern auch seinen Antipoden George (vgl. Osterkamp, Nachwort, in: Rudolf Borchardt, Aufzeichnung Stefan George betreffend, S. 171–206). Borchardt hat trotz aller Kritik an George als ‚ästhetischem Staatengründer‘ den Dichter George immer geschätzt (ebd., S. 180). Erwähnt sei auch, dass George, der bei Tobler in Berlin studiert hatte, sich „von jugend auf geplagt“ habe, „aus klarem romanischem Material eine ebenso klingende wie leicht verständliche literatursprache für meinen eigenen bedarf selbst zu verfassen“ (Stefan George an Arthur Stahl am 2.1.1890, zitiert nach: Stefan George, Sämtliche Werke, Bd. 1: Die Fibel. Auswahl erster Verse, hg. v. der Stefan George Stiftung, Stuttgart 2003, S. 125). Rudolf Borchardt, Eranos-Brief, in: Ders., Prosa I, S. 118. Rudolf Borchardt, An den Herausgeber des „Ring“, in: Ders., Prosa VI, S. 177–186, hier S. 178. Kraft, Judentum, in: Ders., Rudolf Borchardt, S. 34–73, hier S. 50.
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zungen, ein deutscher Dichter werden.“ 42 Die Schrift über Dante Gabriel Rossetti wird dabei als Selbstanalyse Borchardts gelesen: So wie Rossetti den Engländer aufgrund seiner italienischen Herkunft besser zur Geltung bringen konnte, habe sich in Borchardt der Deutsche aufgrund einer kaschierten jüdischen Herkunft ausgedrückt.43 Ausgangspunkt waren die ‚Entlarvungen‘ von Haas gewesen: „Wir nannten Borchardt den Immigranten mit einem tiefen und unglücklichen Heimatgefühl für das nationale Immigrationsgebiet.“ 44 Der von Dante Gabriel Rossetti inspirierte Archaismus, 45 den Borchardt die „europäische Stilform“ 46 nennt und der Parallelen zu Ernst Robert Curtius’ Konzept der ‚europäischen Kultur‘ zeigt, ist nach Haas, der hier ähnlich wie sein Prager Bekannter Kafka argumentiert, international wie das Judentum. 47 Sozialpsychologisch ausgedrückt, handelt es sich in Haas’ Deutung um einen Fall von Überassimilation, der für geistige Immigranten wie Borchardt und Rossetti typisch sei. So nachvollziehbar Haas’ und sich daran anschließende Deutungen erscheinen, so wenig haben sie die bildungsgeschichtliche Möglichkeitsbedingung von Borchardts europäischem Stilbewusstsein im Dienste des Deutschtums im Blick. Indem das Judentum als die Triebfeder des Autors _____________ 42 43
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Kauffmann, „Ein so stummes wie unerschöpfliches Bildungsproblem“, in: Ders. (Hg.), Das wilde Fleisch der Zeit, S. 68. Ebd., S. 52. Dabei wird Borchardt als Jude in Deutschland mit dem Vorbild Rossetti (Italiener in England) analogisiert. Solche intimen Aufdeckungen hat Borchardt kritisiert, vgl. Rudolf Borchardt, Dante Gabriel Rossetti, in: Ders., Prosa III, hg. v. Marie Luise Borchardt, Stuttgart 1960, S. 365–393, hier S. 366: „Aber um zu beweisen, […] daß nur sein [Rossettis] italienisches Blut ihn in der englischen Poesie, der er sich als Eingeschneiter habe bedienen müssen, erkläre, hat man solche Bücher allerdings geschrieben.“ Willy Haas, Der Fall Rudolf Borchardt. Zur Morphologie des dichterischen Selbsthasses, in: Gustav Krojanker (Hg.), Juden in der deutschen Literatur. Essays über zeitgenössische Schriftsteller, Berlin 1922, S. 232–240, hier S. 237. Zu Borchardts Rossetti-Schülerschaft s. Markus Neumann, „Die englische Komponente“. Zu Genese, Formen und Funktionen des Traditionsverhaltens im Werk Rudolf Borchardts, Göttingen 2007 (= Palaestra, 326), S. 119–139. Rudolf Borchardt, Epilegomena zu Dante. II: Divina Comedia. Konrad Burdach zum siebzigsten Geburtstage, in: Ders., Prosa II, hg. v. Marie Luise Borchardt, Stuttgart 21992, S. 472–531, hier S. 527. Vgl. Haas, Der Fall Rudolf Borchardt, in: Krojanker (Hg.), Juden in der deutschen Literatur, S. 236: „Die psychologische Situation des Juden in der Diaspora begünstigt die Apperzeption eines Sprachtraditionalismus, der erst durch das philologische Experiment hindurch zu sich selbst kommt, weil er eben nicht der Nation angehört, sondern der ‚Weltliteratur‘ (dieses Wort in seinem humanistisch-kosmopolitischen Sinne, so, wie es etwa Herder oder die deutsche Romantik angewendet hat): denn das Judentum der Diaspora ahnt in der seelischen Voraussetzung eines solchen Experimentativ-Traditionalismus etwas Verwandtes; sich selbst; seine eigene, zerbrochene, ewig schmerzlich-aktuelle, ewig problematische Seelentradition. Zugleich aber seine national-abstrakte Neutralität. Die nationale Sehnsucht dessen, der seine Nation verloren hat, wird zum traditionalistischen Ressentiment.“ – Vgl. auch Franz Kafka an Max Brod, Brief vom Juni 1921, in: Ders., Briefe 1902– 1924, S. 334–338, hier S. 337f.
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Borchardt aufgedeckt wird, wird verkannt, dass die geistige Heimatlosigkeit bzw. die ‚transzendentale Obdachlosigkeit‘ (Lukács) für das moderne Dichtertum ganz allgemein charakteristisch geworden war. Das Deutungsmuster eines jüdischen Komplexes macht zudem blind für den konkreten Verlauf von Borchardts außergymnasialen und außerakademischen Bildungsgang, den erst seine „philologisch-historische Begabung“ 48 gestattete. Der Gang zurück in die gemeinsame Literatur Europas als Medium deutsch-antiken Geistes, der sich letztlich als ein Durchgang in die deutsche Literatur der Zukunft erweisen soll, beruht auf philologischen Bildungsvoraussetzungen, die nur erworben haben kann, wer den Durchgang humanistischer Gymnasien und philologischer Seminare nicht nur hinter sich hat, sondern noch außerhalb versucht, das erworbene Wissen zu ergänzen und in dichterische Produktion umzusetzen. Wenn Borchardt im Plan zur Schrift Untergang der deutschen Nation definiert, was es für ihn bedeute, als deutscher Autor zu schreiben, dann ist dies in einem überlieferungsgeschichtlichen, d. h. nur historisch-philologisch vermittelbaren Sinn zu verstehen: Da es aber nicht eine äußerliche Geburts- und Sprachzugehörigkeit ist, ein Deutscher zu sein, so wenig wie ein Engländer zu sein oder ein Franzose, sondern nur das Bewußtsein einer nationalen Überlieferung und eines nationalen Erbes diese Zugehörigkeit zu Charakter erhebt, so schreibe ich als ein Deutscher, der diese Überlieferung und dies Erbe als seine Pflicht und als sein Recht, und überhaupt als seinen Sinn als Mensch seines Volkes in sich trägt. 49
Ein Widerspruch zu diesem nationalen Anspruch entsteht dadurch, dass sich Borchardt nicht allein für die deutsche Überlieferung interessierte, sondern bedingt durch seine Sprachbegabung für die abendländische im Ganzen. Er verlangte von sich die Homogenisierung und Nationalisierung der nationalliterarisch verschiedenen Überlieferungsstränge. „Dante als Träger eines übernationalen Ideals“ 50 und als italienischer Dichter zugleich war ihm dabei das Vorbild. Diese Paradoxie spiegelt das poetische Werk selbst, das allein auf der autoreigenen Begründungsebene der deutschen Literatur angehört. Abstrahiert man von den Autointerpretationen Borchardts, also vom rednerisch-essayistischen Teil seines Werks, nimmt sich dieses als ein eigenständiger Versuch aus, am Formenreichtum einer spezifischen Formation der Weltliteratur, der antiken und derjenigen des europäischen Mittelalters mittels der Übersetzung und der Adaption ver_____________ 48 49 50
Hugo von Hofmannsthal an Florens Christian Rang am 30.4.1923, zitiert nach: Hugo von Hofmannsthal, Brief-Chronik. Regest-Ausgabe, Bd. 2: 1919–1929, hg. v. Martin E. Schmid, Heidelberg 2003, Sp. 2414. Rudolf Borchardt, Der Untergang der deutschen Nation, in: Ders., Prosa V, hg. v. Marie Luise Borchardt/Ulrich Ott, Stuttgart 1979, S. 502–526, hier S. 503f. Borchardt, Epilegomena zu Dante. II, in: Ders., Prosa II, S. 505.
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schiedener poetischer Gattungen zu partizipieren. Der weltliterarische Formenreichtum kollidiert dabei mit Borchardts Anspruch einer nationalen Poetik, welcher zufolge sich seine Dichtung als Manifestation des deutschen Geistes gestalten soll. 51 Borchardts Antwort auf die Frage, was aus dem historischphilologischen Bildungsgang zu schlussfolgern sei, war ein Archaismus im Dienste der poetischen Erneuerung. Dass der Geschichte für Borchardts Poesie eine eminent wichtige Bedeutung zukam, wurde schon erwähnt.52 Borchardt war der paradoxen Überzeugung, dass gerade die moderne historisch-philologische Wissenschaft, welche die alten Sprachschichten erst wieder verfügbar gemacht hatte, das poetische Verhältnis zu diesen Schichten der Überlieferung irritierte. Bezog man sie ein, wies man sich nicht nur als bewandert in ihr aus, sondern stand unter dem Verdacht professioneller Gelehrsamkeit. Diese, so Borchardts Einwand, sei aber erst aufgrund einer wissenschaftlichen Entwicklung, die zunehmend poetische Elemente aussonderte, entstanden. Im idealtypischen Zustand der Romantik, deren Tradition Borchardt fortzusetzen beabsichtigte,53 hätten beide Seiten, die wissenschaftliche und die poetische, zusammengehört. Die Universität war der ‚geistige Rialto‘ gewesen, jener „Brückenmarkt des überall zuströmenden geistigen Dramas“, und die „Poesie das unsichtbare Zentrum dieses Kräftetausches“ 54. Borchardts Denken suchte nach einem wissenschaftlichen Modus, der das Schisma überwände und zugleich die Poesie mit der Überlieferung befruchten könnte. Der Unterschied zu anderen Autoren, die aus dem Rückgriff auf Altes Neues zu produzieren, betrifft die bewusste disziplinäre Motivierung dieses Vorgangs. Die disziplinäre Entwicklungslogik selbst war es, von der aus Borchardt argumentierte. Seine Kritik, welche die _____________ 51
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Vgl. Ulrich Wyss, Rudolf Borchardt und Josef Nadler, in: Osterkamp (Hg.), Rudolf Borchardt und seine Zeitgenossen, S. 113–131, hier S. 131: „Das Werk […] zerbricht den Horizont einer Nationalliteratur. Daß er trotzdem, und bei allem Wissen um den Untergang der Nation, das nationale als ein Absolutum in seiner Welt nicht preisgab, setzte sein Schreiben unter eine Spannung, die es auseinanderreißt und die Passion eines jeden Lesers in Bewunderung und Erschrecken spaltet.“ Vgl. Kraft, Rudolf Borchardt, diesem folgte Meike Steiger, Textpolitik. Zur Vergegenwärtigung von Geschichte bei Rudolf Borchardt, Würzburg 2003 (= Epistemata. Würzburger wissenschaftliche Schriften, 468.2003). Vgl. auch Dieter Burdorf, Das metaphysische Italien. Kultur, Geschichte und Dichtung bei Rudolf Borchardt und Benedetto Croce, in: Silvio Vietta/Dirk Kemper/Eugenio Spedicato (Hg.), Das Europaprojekt der Romantik und die Moderne. Ansätze zu einer deutsch-italienischen Mentalitätsgeschichte, Tübingen 2005, S. 173–206. Vgl. Susanne Hofmann, Bildung und Sehnsucht. Untersuchungen zum Mittelalterbild Rudolf Borchardts, Paderborn 1995 (= Schriften der Universität, Gesamthochschule Paderborn. Reihe Sprach- und Literaturwissenschaft, 13), S. 18–30. Borchardt, Eranos-Brief, in: Ders., Prosa I, S. 100.
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Prozesse der disziplinären Spezialisierung und Differenzierung nicht akzeptieren wollte und die es als Verlust betrachtete, wenn sowohl polemische als auch poetische Darstellungsverfahren aus der Wissenschaftssprache ausgeschieden wurden, erscheint vom wissenschaftlichen Standpunkt aus gesehen zunächst naiv. Ausdruck eines disziplinären Bewusstseins war sie allemal, und in ihrer integrativen Stoßrichtung nach interdisziplinären und komparatistischen Ansätzen nahm sie bisweilen heutige wissenschaftliche Fragestellungen vorweg. In ihrem zeitlichen Umfeld korrespondierte diese Kritik inhaltlich und methodisch mit Bemühungen Konrad Burdachs, der ebenso zur Gewinnung eines neuen Zugangs zum Mittelalter empfahl, disziplinäre Schranken aufzuheben, 55 weshalb es nicht verwundert, dass an Burdach das Nachwort zur Gesamtausgabe von Dantes Comedia. Deutsch von 1930 adressiert ist. Zu berücksichtigen bleibt allerdings, dass Borchardts explizite Kritik der Disziplin spät einsetzte. Die diesbezüglich programmatischen Reden, die er in einem universitären Rahmen hielt, datieren aus den 1920er Jahren. Trotz dieser verspäteten wissenschaftspolitischen Einmischung, als die sich die Kritik rhetorisch niederschlug, kann eine kritische Einstellung schon mit Borchardts Ausscheiden aus dem wissenschaftlichen Betrieb im Jahre 1902 festgemacht werden. Ihren eigentlichen Grund besitzt die Kritik der Disziplin in Borchardts vielseitigen literarischen Interessen bei gleichzeitiger Weigerung, diese der Professionalisierung zu opfern. So konnte er die Vielseitigkeit nur als Dichter behaupten, und zwar in der literarischen Übersetzung, in einer gattungstypologischen Poetik und in Verfahren des ‚genuinen Archaismus‘. Die Wiederherstellung der deutschen Überlieferung bedeutet auf der anderen Seite, dass Borchardt die Historisierung der Überlieferung nicht anerkannte, weil es in seinen Augen widersinnig erschien, einmal die historisch-philologisch gewonnene Überlieferung wissenschaftlich wiederherzustellen, sie aber in poetischer Hinsicht zu verabschieden. Dichterisch machte Borchardt genau das möglich und lotete die spätere Kritik der Disziplin aus. Die These, dass Borchardt seine spätere integrative Wissenschaft der ‚Mittelalterlichen Altertumswissenschaft‘ zuvor im Spiel der Dichtung austariert hat, lässt sich an dem Epyllion Der Durant veranschaulichen, 56 _____________ 55
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Ausführlich zu Borchardt und Burdach s. Hofmann, Bildung und Sehnsucht, S. 185–195. König, Hofmannsthal, S. 196, Anm. 88, weist auf die Unterschiede hin, die zwischen Burdachs und Borchardts Mittelalterbildern bestehen. Zudem geht Burdachs integrative Wissenschaft auf einen späteren Zeitraum, ein anderes Gebiet (Prag) ein und ist national und nicht universal konzipiert. S. auch Christoph König, Eine Wissenschaft für die Kunst. Wie Burdach, Borchardt und Hofmannsthal einander nützen, in: Osterkamp (Hg.), Rudolf Borchardt und seine Zeitgenossen, S. 84–112. Zitiert wir Der Durant nach der Ausgabe Rudolf Borchardt, Gesammelte Werke in Einzelbänden, Gedichte, textkritisch revidierte Neuedition der Ausgabe von 1957, hg. v. Gerhard
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das einen erotisch zwischen Frauen- und Gottesliebe gespaltenen Charakter entwirft. Mit der Arbeit an diesem Text, der die langwierige Übersetzungsarbeit an einem deutschen Dante mitkonzipieren half 57 und erst 1920, allerdings unvollständig, erschien, hatte er 1904 begonnen. Im Eranos-Brief findet sich für besagte Lesart ein entscheidender Hinweis. Borchardt fragt in einer rhetorisch gespannten Geste: War denn niemandem das Verhängnis wie mir aufgetragen, einer Wissenschaft die er aufgelöst hatte um einer andern willen, die er erst finden mußte, anverlobt zu bleiben und sich gegen diesen Taumel in einer Dichtung zu befestigen, die er durchschaute und dennoch nicht ließ, weil er eine andere durch sie hin gewahrte? 58
Die Beantwortung dieser Frage erfolgt mit den Konzepten einer ‚restaurierenden Revolution‘ bzw. einer ‚revoltierenden Reformation‘, Konzepte, die darauf abzielen, den Ursprung wiederzugewinnen und damit aus den Aporien des Historismus heraus zu gelangen. Es ging nach dem Ende der Wissenschaftlerlaufbahn „um Verwerfung der Zeit und Heimkehr in die Ewigkeit, die, wie es später im Durant heißen sollte, eine Ewigkeit ist nach allen Seiten, eine Funktion der Geschichte, wie der Einsicht, wie der Schöpfung“ 59. Der Verweis auf den Durant ist kein Zufall, weil diese Dichtung, wie zu zeigen sein wird, gleichfalls versucht, ‚Zeit zu verwerfen‘ und Ewigkeit zu gewinnen, indem sie über die ‚moderne Seelenform‘ Mittelalter und Moderne in einen Raum rückt. Was Borchardt erfuhr, nachdem er sich von der disziplinären Wissenschaft losgesagt hatte, um eine neue zu suchen, war das Aufsprengen der Zeitgefängnisse, „auf deren Wände ich gestoßen war“ 60. Erst das Ende des historischen Relativismus habe den Weg wieder frei machen können für das Absolute, welches der menschliche Geist sei. Erkenntnisse der Romanischen, 61 Deutschen und Klassischen Philologie gingen ab 1904 in den Durant ein, um die erotische Verfassung eines modernen Charakters mit der vermeintlichen historischen Überlieferung zur Deckung zu bringen. Die moderne Seelenform, die Borchardt in der Lyrik des Troubadours Arnaut Daniel zum ersten Mal beobachtete, ist _____________
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Schuster/Lars Korten, Stuttgart 2003, unter Angabe der Versnummer in Klammern. Die Gattungsbezeichnung Epyllion gebraucht Rudolf Alexander Schröder, Das Werk Rudolf Borchardts, in: Rudolf Borchardt, Reden, hg. v. Marie Luise Borchardt, Stuttgart [1955], S. 7–42, hier S. 14. Zu dieser s. Hans-Georg Dewitz, ‚Dante Deutsch‘. Studien zu Rudolf Borchardts Übertragung der ‚Divina Comedia‘, Göppingen 1971 (= Göppinger Arbeiten zur Germanistik, 36). Borchardt, Eranos-Brief, in: Ders., Prosa I, S. 121. Ebd., S. 122. Ebd., S. 117. Zu diesen Sebastian Neumeister, Rudolf Borchardt und das romanische Mittelalter, in: Osterkamp (Hg.), Rudolf Borchardt und seine Zeitgenossen, S. 73–83.
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dabei die regulative Idee, die die historische Überlieferung mit der Gegenwart vereint. Borchardt hob jedoch nicht nur die Distanz auf, sondern vollendete im Durant, was in der Überlieferung selbst nur ansatzweise zur Sprache gekommen war. 2.2. Die verhinderte Mittelalterliche Altertumswissenschaft Seinen disziplinkritischen Anspruch, die Distanz zur Überlieferung zu überwinden, hat Borchardt erst spät, im Eranos-Brief, vor allem aber in den Reden der 1920er Jahre begrifflich differenziert. Im Jahr 1927 hielt er diesbezüglich mehrere Reden: Giovanni Pisano und Arnaut Daniel als Schöpfer der modernen Seelenform Europas / Mittelalterliche Altertumswissenschaft (Zürich, 31.1.), Der Kampf um den deutschen Dante (Basel, 1.2.), Der Dichter und die Geschichte (Freiburg, 4.2.), Die geistesgeschichtliche Bedeutung des neunzehnten Jahrhunderts (Marburg, 6.2.), Die Antike und der deutsche Völkergeist (Bremen, 21./27.2.), Schöpferische Restauration (München, 9.3.). Der Zyklus dieser sieben Reden zeugt nicht bloß von gedanklicher Kohärenz, sondern auch von gedanklicher Kontinuität. Seit der Rede über Hofmannsthal aus dem Jahr 1902 sind Borchardts Motive angelegt und werden nicht mehr wesentlich verändert. Wie man über ein Vierteljahrhundert ein und denselben Gedankengang durchhalten kann, lässt sich nur durch ein Bindeglied erklären, welches in der Dante-Übersetzung zu suchen ist. Sie vollzog kontinuierlich das, was in den Reden von 1927 reflexiv erfahrbar gemacht wurde. Rudolf Borchardt hat mit der Mittelalterlichen Altertumswissenschaft, die er als Mantelwissenschaft begreift, 62 ein ernst zu nehmendes und in seiner kulturwissenschaftlichen Dimension integratives Forschungsprogramm entworfen. Statt von ‚Synthese‘ spricht Borchardt von ‚Integration‘. 63 Die wissenschaftliche Disziplin der Mittelalterlichen Altertumswissenschaft sollte die im neunzehnten Jahrhundert vollzogene Ausdifferenzierung der Philologie analog zur Superdisziplin der Klassischen Altertumswissenschaft überwinden. Die Zusammenführung der Geschichtswissenschaft, der Klassischen, Deutschen und Romanischen Philologie sowie der Archäologie und Kunstwissenschaft zu einer Mittelalterlichen Altertumswissenschaft wurde dabei getragen von der Überzeugung, dass das Mittelalter, wie man es ab dem sechsten Jahrhundert ansetzt, gerade _____________ 62 63
Vgl. Borchardt, Epilegomena zu Dante. II, in: Ders., Prosa II, S. 495. Rudolf Borchardt, Mittelalterliche Altertumswissenschaft. Arnaut Daniel und Giovanni Pisano als Schöpfer der modernen Seelenform Europas, in: Ders., Prosa III, S. 71–92, hier S. 72: „Denn nicht Analyse und Synthese, wie gemeinhin kontrastiert wird, Differentiation und Integration sind die Antinomien der groß angesehenen Geschichte des menschlichen Geistes.“
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V. Konjekturen mittelalterlicher Überlieferung
nicht einen Bruch mit der Antike darstellte, sondern gleichsam als translatio deren kulturelles Erbe in den verschiedenen Volkskulturen antrat. Methodisch war damit der Anschluss von Klassischer Altertumswissenschaft und der neu zu schaffenden Mittelalterlichen Altertumswissenschaft gesichert. Das Mandat, das Mittelalter zu restituieren, hätten, so Borchardt, die Romantiker indirekt von Johann Gottfried Herder und der deutschen Volkspoesie bekommen. Die ökonomische Pointe lautet, die Romantiker hätten sich mit der Wissenschaft verkalkuliert, da ihre Blankowechsel nicht eingelöst worden seien. Obwohl die mittelalterlichen Texte vorlägen, fehle das Subjekt, welches sie im Geiste der Romantik erforsche: „Das Material zu einer Wissenschaft ist da, nur die Wissenschaft zu ihr hat sich nicht gefunden.“ 64 Nach diesem Argumentationsgang kann Borchardt auf den Plan treten, die Wissenschaft einlösen, für welche die Romantiker einen Blankowechsel ausgestellt hatten, und den zerbrochenen Kreis der Überlieferung wieder schließen. Borchardts Kritik der historisch-philologischen Wissenschaft des neunzehnten Jahrhunderts ist nur der Formulierung nach originell gewesen. Vorgeprägt war sie im neunzehnten Jahrhundert, wo es integrative Bestrebungen wie August Boeckhs Sachphilologie gegeben hatte, die von Borchardt als Muster seiner neuen, d. h. von der einstigen Romantik geforderten Wissenschaft vorgestellt wurde. 65 Unter Borchardts Zeitgenossen verfolgten Konrad Burdach, 66 Ludwig Traube, Aby Warburg und Eduard Wechssler ähnliche Ziele. 67 Borchardts Kritik der mangelnden Integrationsfähigkeit der Philologien ist aufschlussreich für den Dichter selbst, und wenn die BorchardtPhilologie nachträglich die integrative Leistung seiner Gelehrsamkeit wieder aufspaltet, restituiert sie jenen Zustand, den Borchardt aufheben wollte. Als Romanist war er Germanist, wie er als Klassischer Philologe auch für die neuen Philologien sprach. Es sei, so Borchardt, eine gewaltige Aufgabe gewesen, die romantischen Blankowechsel, die Novalis im Fragment _____________ 64 65 66
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Borchardt, Mittelalterliche Altertumswissenschaft, in: Ders., Prosa III, S. 85. Ebd., S. 86f. Einen Einblick in das kulturgeschichtliche Denken Burdachs geben die versammelten Aufsätze in: Konrad Burdach, Vorspiel. Gesammelte Schriften zur Geschichte des deutschen Geistes, Bd. 1/1: Mittelalter, Halle a. d. S. 1925, darin bes. K. B., Nachleben des griechisch-römischen Altertums in der mittelalterlichen Dichtung und Kunst und deren wechselseitige Beziehungen, S. 49–100, und K. B., Über den Ursprung des mittelalterlichen Minnesangs, Liebesromans und Frauendienstes, S. 252–333. – Eine konkrete Rezeption von Burdachs Mittelalterstudien ist nachweisbar bei Robert Musil, Tagebücher, hg. v. Adolf Frisé, Bd. 1, Reinbek 1983, S. 507–515. Neuere Forschungen haben Borchardts komparativen Ansatz bestätigt, vgl. Karl Bertau, Deutsche Literatur im europäischen Mittelalter, 2 Bde., München 1972f., und Hartmut Kugler (Hg.), Interregionalität der deutschen Literatur im europäischen Mittelalter, Berlin/New York 1995.
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Die Christenheit oder Europa (1799) aufgegeben hatte, einzulösen, weil die von der Romantik gesuchte Wissenschaft eine ganz andere geworden sei. 68 „Als der gewaltige Amtmann von Babylon und Memphis, Hellas und Rom, schlichtet der Deutsche Europa in eine griechisch gestimmte, lateinisch umgeformte Gestalt.“ 69 Zunächst habe sich die translatio in der lateinischen Poesie des Mittelalters vollzogen, die „erst im Laufe des letztverflossenen Menschenalters so gesammelt und vorgelegt“70 worden sei. Borchardt legt das Fundament für den „Seelenausdruck und die Menschengestaltung“ 71 ins lateinische Mittelalter: Das deutsche Mittelalter, das sich aus dem antiken Deutschland entfaltet, ist nicht sein Gegensatz, sondern es verhält sich zu ihm nur wie das energetische zum dynamischen Stadium einer und dergleichen Handlung, wie die Ausfallstellung zur Verteidigungsstellung, der Angriff zur Deckung. 72
Gehört die Verdammung des Mittelalters seit Petrarca zu den Selbstversicherungen der Neuzeit, so zeigte dessen Rehabilitierung seit der Romantik _____________ 68
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Vgl. Borchardt, Mittelalterliche Altertumswissenschaft, in: Ders., Prosa III, S. 85: „Es steht eine germanische Wissenschaft da, eine romanische, eine Kunstgeschichte, eine politische neuere Geschichte, alle ausnahmslos vertikal gestaffelt, von gotischer Grammatik bis zu den dramatischen Belustigungen der Herren Sternheim und von Unruh, vom Rolandslied, Cantar del mio Cid, Bonvesin da Ripa und was nicht sonst, bis zu Ortega, Mallarmé, Marinetti, von der Negerkunst selber bis zur Renaissance der Negerkunst, von der Völkerwanderung bis zum Untergange der deutschen Nation.“ Rudolf Borchardt, Die Antike und der deutsche Völkergeist, in: Ders., Reden, S. 272–308, hier S. 288. Ebd. – Eigens zu erwähnen ist hier die Tätigkeit Ludwig Traubes, des Begründers der Mittellatinistik, da er einen ähnlich integrativen Ansatz verfolgt hatte wie Borchardt. Ludwig Traube stellte die Philologie in den Dienst kulturgeschichtlicher Forschung, genauer: der Erforschung des lateinischen Mittelalters. Zugleich bestand er darauf, von den handschriftlichen Zeugnissen auszugehen. Die Schrift sei „der sichtbarste Ausdruck des ununterbrochenen geistigen Rapportes […], den das lateinische Mittelalter zwischen Altertum und Neuzeit dargestellt hat“ (zitiert nach Franz Boll, „Biographische Einleitung“, in: Ludwig Traube, Zur Paläographie und Handschriftenkunde. Mit biographischer Einleitung von Franz Boll, hg. v. Paul Lehmann, München 1909, S. XL). Traubes Credo, Philologie sei Kulturgeschichte, ließ ihn Germanistik, Romanistik, Theologie, Paläographie, Diplomatik und Klassische Philologie zu einer mediävistischen Superdisziplin verbinden. In der Vorrede zu seiner Habilitationsschrift von 1888, die von Hermann Useners 1882 gehaltener Rektoratsrede zum Verhältnis von Philologie und Geschichtswissenschaft beeinflusst ist, zieht Traube die Konsequenz daraus, dass die moderne Philologie historisch geworden ist, also nicht mehr allein grammatisch-rhetorisch. Er nennt verschiedene Bereiche, in denen die Philologen die Geschichte des Altertums erforschen: den sprachlichen, literaturhistorischen, kulturellen, politischen, rechtlichen und sozialen. Sie alle besäßen jedoch ein Bindeglied in der „methode, welche eine so exakte ist, als sie es sein kann, wo das experiment nicht in corpore uili am kaninchen, sondern am zartorganisiertesten wesen der schöpfung nach dem tode gemacht wird. diese methode ist nichts als die liebevolle beobachtung des trägers der gedanken: des wortes“ (Ludwig Traube, Karolingische Dichtungen, Berlin 1888 [= Schriften zur germanischen Philologie, 1], S. 3). Borchardt, Die Antike und der deutsche Völkergeist, in: Ders., Reden, S. 290. Ebd., S. 292f.
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Konjunktur und war bei genauerer Betrachtung nicht neu. Borchardt knüpfte ebenso an Carl Neumanns Kritik seines Lehrers Jacob Burckhardt an, 73 und in Borchardts Redenjahr 1927 war Charles Homer Haskins’ Buch The Renaissance of the Twelfth Century erschienen, das ebenfalls das Mittelalter aufwertete. Wilibald Schröters Studie zu Ovid und die Troubadours (1908), vor allem aber der erste Band von Eduard Wechsslers Das Kulturproblem des Minnesangs (1909), hatten längst Borchardts Thesen konkretisiert. Borchardts rhetorischer Anspruch kann keineswegs mit der Leistung dieser wissenschaftlichen Arbeiten mithalten, aber dennoch blieb die Konzeptionalisierung der Mittelalterlichen Altertumswissenschaft uneingeholt. Eine weitere Analogie zum integrativen Konzept der Klassischen Altertumswissenschaft bestand in pädagogischer Hinsicht. Wie für die Vertreter des deutschen Philhellenismus vor ihm ging es Borchardt nicht um die bloße historische Wiederherstellung einer vergangenen Kultur. Ein erzieherischer Anspruch für die Gegenwart motivierte zudem den Entwurf dieses Forschungsparadigmas. Für Borchardt hatte sich mit der Übertragung des antiken Erbes auf die mittelalterlichen Volkskulturen in Kunst, Architektur, Literatur und Poesie ein neues, modernes Menschenbild entwickelt: die moderne Seelenform als eine Form der individuellen Selbstbehauptung. Das Skandalöse dieser These lag darin, dass Borchardt die von Jacob Burckhardt zuvor herausgearbeitete Epoche der Renaissance – „eine Sonderepoche sinnlich virtuoser Leistung“74 –, welche die Antikerezeption und das Bewusstsein von Individualität eigentlich begründet haben soll, in dieser Aufgabe nivelliert und gegen sie Front macht als eine rhetorische, auf imitatorischer Tradierung basierende Kultur.75 Den Grund für Burckhardts Fehlschluss sah Borchardt in dem banalen Umstand mangelnden Wissens: „Wir sind die erste deutsche Generation, die das durch wissenschaftliche Arbeit des neunzehnten Jahrhunderts erschlossene Mittelalter besitzt.“76 Burckhardt habe seine Fragestellung nur mit der RenaissanceEpoche beantworten können, weil seine Fragen zu diesem Zeitpunkt „Fragen ohne Antwort waren, Fragen an die Zukunft, Fragen, die zu beantworten es noch keine Materialien, immer noch keine Wissenschaft gab, _____________ 73 74 75 76
Carl Neumann, Byzantinische Kultur und Renaissancekultur, Berlin 1903, und Ders., Ende des Mittelalters? Legende der Ablösung des Mittelalters durch die Renaissance, in: DVjs 12 (1934), S. 124–171. Borchardt, Mittelalterliche Altertumswissenschaft, in: Ders., Prosa III, S. 72. Borchardts Front gegen die Renaissance zeichnet nach Günter Sturm, Rudolf Borchardts antinomisch gespannter Traditionalismus, Diss. Erlangen 1955, S. 33–35. Rudolf Borchardt, Schöpferische Restauration, in: Ders., Reden, S. 230–253, hier S. 250. Zur Kritik der Epochenkonstruktion Renaissance von Jacob Burckhardt vgl. Borchardt, Mittelalterliche Altertumswissenschaft, S. 77–80.
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und keine Systematik und keine Methode.“ 77 Das Mittelalter sei für Burckhardt als Forschungsgegenstand schlichtweg unerschlossen gewesen, obwohl die Romantik an die Wissenschaft das Mandat gegeben habe, jenes zu erforschen. 78 Jener romantische Blankowechsel sei deshalb nie eingelöst worden,79 weil es die postulierte Wissenschaft, welche zur Erforschung des Mittelalters notwendig gewesen wäre, nicht gab. Das Material lag nicht einfach wie bei den Epochen nach dem Buchdruck vor, sondern musste seit den Anfängen im achtzehnten Jahrhundert bei Johann Jakob Bodmer durch eine lange Reihe von „Lehrern und Schülern“ 80 erschlossen werden. Der wissenschaftliche Disziplinbildungsprozess, so Borchardt, enthielt aber das Moment der Differenzierung und vernichtete dadurch die romantisch geschlossene Idee des europäischen Mittelalters wieder: wenn die germanische Philologie als Kind der romantischen Poesie entstand, so war sie, wie das bei Töchtern vorkommen kann, ein Nagel zu ihrem Sarge; die romanische Philologie sonderte sich, ihrem Schalten in fremdem Sprachstoff entsprechend, noch weiter ab. 81
Disziplinbildung und Differenzierung (‚Sonderung‘) führten schließlich dazu, dass sich eine Generation nach Karl Lachmann Romanisten und Germanisten nicht einmal mehr in „Rufweite“ zueinander befanden.82 Zwar wolle Borchardt den ‚Renaissanceklassizismus‘ nicht unterschätzen, aber für ihn stellte sich die Epoche wegen ihres Mittelalterbildes als Verlust dar. 83 Als Kind Herders – „aber wir? Wir Kinder Herders?“84 – sei es für ihn anders als noch für Burckhardt unmöglich, die größte Entdeckung der Romantik zu übergehen: „die Begründung jeder nationalen Kultur auf das Volkstum, die Beschränkung ihrer großen Epochen auf Epochen eben des Volkstums“85. Erst von diesem aus sei die Entdeckung der Individualität und Seelenformen möglich geworden, die Letternkultur der Renaissance habe dieses Volkstum überdeckt. In Deutschland sei es _____________ 77 78 79 80 81 82
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Ebd., S. 80. Ebd. – Vom Standpunkt der Wissenschaft wurde die Rolle der Romantik für die Wissenschaft kritischer gesehen, vgl. Hermann Diels, Über Wissenschaft und Romantik, in: Sitzungsberichte der Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften (1902), S. 25–43. Borchardt, Mittelalterliche Altertumswissenschaft, in: Ders., Prosa III, S. 74. Ebd., S. 75. Ebd. Zitat ebd. Den von Borchardt beschriebenen Prozess kann man sehr genau am wissenschaftlichen Werdegang Moriz Haupts studieren, der sich als Philologe immer weiter von seinen romantisch-universalen Anfängen entfernte und in einer kargen ‚Wortphilologie‘ verlor, vgl. Alexander Nebrig, Komparatistische Ansätze bei Moriz Haupt (1808–1874), in: Zeitschrift für Germanistik N. F. XIX (2010), H. 1, S. 123–139. Borchardt, Mittelalterliche Altertumswissenschaft, in: Ders., Prosa III, S. 82. Ebd., S. 83. Ebd.
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„dem Jahrhunderte zwischen 1750 und 1850 vorbehalten“ geblieben, „den modernen Menschen“ 86 durch Absage an die Renaissance erst zu gewinnen. Würde dagegen Burckhardt das Mittelalter gekannt haben, hätte dies zur Aufhebung seiner Epochenkonstruktion geführt, und Dante wäre dann kein Vorläufer der Renaissance gewesen, sondern der Endpunkt einer Entwicklung. 87 Wenn die „Postulate der Romantik“ nahezu erfüllt seien, zeige sich dies daran, dass „kaum ein Dichter des Mittelalters mehr herauszugeben, kaum ein Bildwerk mehr zu photographieren“ 88 sei. Die Erforschung des „ökumenischen Mittelalters“89, das Borchardt schon 1908 als Epoche benannte, habe höchste Priorität. Sie gebe über die moderne Seelenform, welche in den Formen der Kunst, insbesondere der Poesie gespeichert ist, Auskunft. Da nun aber die Kultur der Gegenwart von dieser Epoche überhaupt kein Bewusstsein mehr habe, gelte es, sie wiederzugewinnen und damit auch die Gemeinschaft, welche sie trägt. Nun ist Borchardt ein Solitär geblieben, worüber auch nicht die eine Anhängerschaft suggerierende Wir-Form hinwegtäuschen darf, die er gegenüber den Münchener Zuhörern der Rede Schöpferische Restauration gebrauchte: Wir ergreifen die deutsche nationale Tradition dort wo ihre zerfaserten Enden halten, in der geistesgeschichtlichen Entwicklung des neunzehnten Jahrhunderts als einem Mandate der deutschen Poesie und setzen das Werk der Romantik schöpferisch an den Stellen fort, an denen sie es unter die Erde tauchend den Wissenschaften überließ, die unter ihrem Anhauche erst entstanden. 90
In seiner kurz vorher gehaltenen Marburger Rede Die geistesgeschichtliche Bedeutung des neunzehnten Jahrhunderts (6.2.1927) formulierte Borchardt noch deutlicher die volkserzieherische Aufgabe des Mittelalters. Obwohl das Mittelalter erschlossen sei, fehle das Volk als der Träger dieser Kultur: „Der Riß mitten durch unser Volk, der unsere große Literatur und Poesie, die größte, die wir in geschlossener Entwicklung je gehabt haben, die des zwölften und dreizehnten Jahrhunderts, ihres Volkes beraubt hat […],
_____________ 86 87
88 89 90
Ebd., S. 84. Ebd., S. 81f. In der Münchener Universitätsrede Schöpferische Restauration (9.3.1927) nannte Borchardt den Fortschritt gegenüber Burckhardt: „Da wir es besitzen und wissen, daß es organisch aus der deutschen Antike erwachsen ist – was noch Jacob Burckhardt nicht wissen konnte –, so ist der Gegensatz von Antike und Mittelalter“, der ja für Burckhardt wesentlich war, „für uns wesenlos geworden“ (Borchardt, Schöpferische Restauration, in: Ders, Reden, S. 250f.). Borchardt, Mittelalterliche Altertumswissenschaft, in: Ders., Prosa III, S. 85. Rudolf Borchardt, Dante und deutscher Dante [1908], in: Ders., Prosa II, S. 354–388, hier S. 356. Borchardt, Schöpferische Restauration, in: Ders., Reden, S. 250.
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dieser Riß, heute zum ersten Mal kann man es sagen, ist heilbar.“91 Die Suche nach dem Volk, das sich den Geist einer vergangenen Kultur wieder aneignet, besaß im deutschen Philhellenismus einen maßgebenden Vorläufer, den Borchardt als Modell vor Augen hat: Auch an der Antike hatten sich Generationen, institutionell gesichert durch das Gymnasium, gebildet. In Borchardts Sprache übersetzt, konnte die Antike auf eine Gemeinschaft rechnen, die ihre Kunstformen als die eigenen begriff und deren Künstler in ihrem Geist neue Formen schufen. Für das Mittelalter suchte Borchardt eine ähnliche Situation herbeizuführen, da er glaubte, dass nur dort die Kontinuität mit der Antike, vorbildlich im Staatskörper des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation, gewährleistet gewesen war und mit der Renaissance ein Abfall begann. Herder bildet für die Erneuerung eine wesentliche Bezugsgröße in doppelter Hinsicht: Er macht sie möglich, versäumt es aber, sie poetisch in Szene zu setzen. Herder sei der erste gewesen, der sich für die von der Gelehrsamkeit der Renaissance freien Volkskulturen interessiert und von hier aus eine Erneuerung der Volksgemeinschaft zu erlangen gesucht habe. Sein „Mandat an die Romantik“92 sei der entscheidende Schritt dabei gewesen, die Volkskulturen zu restituieren. Im Unterschied zu den Romantikern habe Herder jedoch nur Ideen besessen und keine Formen geschaffen, weshalb Herders Wirkung immer nur eine indirekte habe bleiben können. 93 Formen und Gattungen widerstehen der Varianz:94 „An die Stelle der hergebrachten Ordnungen tritt nicht etwa ein produktives Chaos, sondern die reflexive Suche nach einer neuen Ordnung, die am Begriff der Form ihren Halt findet.“ 95 Die Pluralität der Formen zeugt für Borchardt von einer „Pluralität von Ausdrucks-, Gestaltungs-, ja von Lebensmöglichkeiten“ 96. Unschwer ist an Borchardts Argumentation und Metaphorik (‚Mandat an die Romantik‘) die Vermengung von poetischen und politischen Kategorien erkennbar, die Borchardt aber aus der Natur der Sache rechtfertigen würde – war es doch Herder, der erst das poetische Nationalgefühl geweckt habe: „Nicht die deutsche Romantik, jede osteuropäische Romantik geht von Herder aus.“ 97 Das Mandat an die Romantik war zugleich der Begründungsakt für die Nationalphilologien: _____________ 91 92 93 94 95 96 97
Rudolf Borchardt, Die geistesgeschichtliche Bedeutung des neunzehnten Jahrhunderts, in: Ders., Reden, S. 324–344, hier S. 342f. Ebd., S. 336. Ebd., S. 334. Allerdings übersieht Borchardt Herders Form des Volksliedes. Zum ontologischen Formbegriff Burdorf, Poetik der Form, S. 43. Ebd., S. 73. Ebd., S. 457. Borchardt, Die geistesgeschichtliche Bedeutung des neunzehnten Jahrhunderts, in: Ders., Reden, S. 335. – Wie Recht Borchardt hatte, wird darin deutlich, dass sämtliche Folkloreforscher des neunzehnten und zwanzigsten Jahrhunderts, ob nun der Bulgare Ivan Šišma-
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Die zentrale Aufgabe, die Herder der Romantik und dem Jahrhundert übergeben hatte, war, mit der Ausscheidung des deutschen Renaissancebestandes, eine restitutio in integrum des ideellen deutschen Volksganzen durch Rückbelebung und, wenn es sein mußte, Rückerlebnis aller seiner Studien in Geschichte, bis in den Schöpfungstag hinein und den Lebenshauch aus Gottes Mund. 98
Als Autor will Borchardt hinter die Dichterphilologen des neunzehnten Jahrhunderts zurückgehen und zu jenem Standpunkt zurückkehren, welchen die in Herders Geiste handelnden Romantiker eingenommen hatten, denn die nachfolgenden Generationen hätten dieses Volk aufgelöst.99 Der Eranos-Brief hat diesen wiederzugewinnenden Standpunkt genau und aufwendig beschrieben, 100 da nicht nur das Mittelalter, sondern auch der dazu notwendige Standpunkt wiederzugewinnen ist: Es ist der romantische bzw. derjenige Herders. Dass Borchardt eigentlich dort ansetzen wollte, wo Herder aufgehört hatte, wird noch klarer, wenn man sich an den oben zitierten Satz erinnert, Herder habe keine Formen, sondern nur Ideen geschaffen: „Herder hat nur Ideen. Formen sind geprägt und tragen den Stempel des Autors. Ideen sind anonym. Formen sind geschichtsbeständig und gebrauchsfest, – Ideen wandeln sich in der Weitergabe.“101 In der poetologischen Rede Über den Dichter und das Dichterische, die 1920 gehalten wurde und zuerst als Privatdruck 1924 erschien, hat sich Borchardt zu Herders Poesiebegriff ausführlich bekannt. Das Literarische und Künstlerische vom Dichterischen trennend, bestimmte er dort jene ‚Muttersprache des Menschengeschlechts‘, welche die Poesie nach Herder sei, als „eine verlorene Sprache. Denn das Menschengeschlecht ist in hunderttausend Sprachen auseinandergeblüht“ 102, von denen wiederum jede in weitere Sprachen differenziert worden sei. ‚Poesie‘ sei damit jene Ursprache, in welche die verlorene Einheit sich restituiere. Borchardt, darin Benjamin ähnlich, wollte nichts weniger als die Restauration dieser Ein_____________ nov (1868–1926) oder der Russe Viktor 0åLUPXQVNLMLQ+HUGHULKUHQ*HZlKUVPDQQKDtten. Die Genannten standen darüber hinaus in persönlichem Kontakt mit dem Volksliedforscher John Meier in Freiburg. 98 Ebd., S. 339. Die These, Herder habe den ‚Renaissancebestand ausgeschieden‘, greift eine geschichtliche Konzeption von Wilhelm Scherer auf, mit dem Borchardt auf einer Linie sich befand in der Beschreibung der Jahre zwischen 1770 und 1830. Der Anfang von Schöpferische Restauration gleicht Scherers Gedankengang aus der Schrift Die deutsche Litteraturrevolution (1870), abgedruckt in: Wacker (Hg.), Sturm und Drang, S. 17–24. 99 „Die romantischen Definitionen des Volkes an sich, und das des Volkes in Volkslied, Volkskunst, Volksstimme, Volksgefühl, Volkswahrheit sind als theoretische Begriffe durch die Forschung des neunzehnten Jahrhunderts aufgelöst und abgeräumt, als praktische teils in der Sprache der Parteien zerrissen und zerfallen, teils längst zu bloßen Vorwänden geworden“ (Borchardt, Schöpferische Restauration, in: Ders., Reden, S. 247). 100 Borchardt, Eranos-Brief, in: Ders., Prosa I, S. 99. 101 Borchardt, Die geistesgeschichtliche Bedeutung des neunzehnten Jahrhunderts, in: Ders., Reden, S. 334. 102 Borchardt, Über den Dichter und das Dichterische, in: Ders., Prosa I, S. 39.
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heit 103 und besaß genaue Vorstellungen davon, in welchem Raum und in welcher Zeit die mit ihr korrespondierende Ursprache anzusiedeln sei: im Mittelalter Europas, das als Ursprung der nationalen, d. h. der Volksliteraturen, Formen des poetischen Sprechens begründet habe. So wird es geradezu zwingend, in dieses zurückzukehren, um das Ursprungs- als Erneuerungsbewusstsein wiederzugewinnen. Borchardts „deutsche[r] Kulturnationalismus“104, wie immer er durch die jüdische Herkunft motiviert sein mag, ist, wie weiter oben erläutert, hinsichtlich seiner Stoßrichtung vergleichbar mit Dantes De vulgari eloquentia: Denn auch der Florentiner wollte eine poetische Sprache schaffen und zugleich eine Lesegemeinschaft stiften, die mit dem Volk identisch ist. Borchardt buchstabierte die Etymologie des Wortes ‚deutsch‘ aus, weshalb Volk und Deutschtum für ihn wie einst für Herder 105 von der Wortbedeutung her keinen Widerspruch meinen konnten. An Dantes und Borchardts Konzepten des vulgare und des ‚Deutschen‘ wird deutlich, dass sich der Volksbegriff nicht auf eine vorhandene, sondern auf eine potentielle Gemeinschaft bezieht, die literal gebildet werden muss. Die Privilegierung gerade des Deutschen ergab sich aus der banalen Tatsache, dass Borchardt es nicht wie die romanischen Sprachen als Mischsprache verstand. Friedrich Diez hatte gezeigt, dass die romanischen Sprachen auf das Vulgärlatein zurückgehen. Das Deutsche hingegen stehe als Lehnsprache zu den antiken Sprachen. 106 Bei einem Puristen wie Borchardt, der Genealogien beachtete und auf Gattungsgrenzen bedacht war, fand Kreolisierung zumindest auf der sprachgeschichtlichen Begründungsebene keinen Anklang. Der Gedanke, dass die Verbindung von Antike und Deutschtum als konzeptuelle Entlehnung aus der klassisch gelehrten Antike in die Volkskultur, nicht aber als sprachliche Vermischung einer ohnehin untergeordneten Sprache wie dem Vulgärlatein mit der Volkssprache (gälisch, iberisch usf.) stattgefunden hat, ist tragendes Argument der Doppelrede Die Antike und der deutsche Völkergeist. Am Ran_____________ 103 Vgl. zur Relation beider Autoren Ernst Osterkamp, Näherungen. Rudolf Borchardt im Werk Walter Benjamins, in: Germanisch-Romanische Monatsschrift N. F. 31 (1981), H. 2, S. 203–233. Vgl. neuerdings auch Wolfgang Matz, „Eine Kugel im Leibe“. Walter Benjamin und Rudolf Borchardt: Judentum und deutsche Poesie, Göttingen 2011. 104 Kauffmann, „Ein so stummes wie unerschöpfliches Bildungsproblem“, in: Ders. (Hg.), Das wilde Fleisch der Zeit, S. 84. 105 Vgl. Johann Gottfried von Herder, Adrastea 5/2, Leipzig 1803, S. 243, 269. 106 Borchardt, Die Antike und der deutsche Völkergeist, in: Ders., Reden, S. 289. Für das Deutsche sei es zu spät gewesen, sich mit dem Latein wirklich zu vereinen, „weil nur das roh lebendige Soldatentum der römischen Kaiserzeit zur Mischsprache überfließen konnte, nicht mehr das unerschütterliche, unveränderliche gelehrte und zu lehrende gelernte und nur zu erlernende klassische Latein, das nicht mehr Jargon- und Volkssprache werden konnte, sondern höchstens von der erstarkenden Volkssprache aus Variationen, Auflockerungen, Sprengungen sogar erdulden.“
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de sei bemerkt, dass Borchardt, der das slavische Europa nur selten erwähnt, zu Beginn des zweiten Teils seiner Rede auch eine slavische Antike kennt, die er zwar nicht wirklich als Pendant zur deutschen verstehen will, aber dennoch zu erwähnen sich genötigt sieht.107 Politisch habe sich der von Borchardt postulierte Vorgang der ästhetischen und ethischen Bildung im Imperium Romanum Nationis Germanicae artikuliert. 108 Der historisch-politische Zusammenhang, dass die Provence seit 1032 Teil des deutsch-römischen Reiches war, löst das Paradox auf, die provenzalische Poesie sei eine deutsche gewesen. Deshalb habe „die Lyrik des germanisierten Europas, die erste nicht mehr antike Lyrik der Welt, in der Provence den Mut und die Lust gefunden […], sich auszusprechen“ 109. Im Nachwort zur Anthologie Die grossen Trobadors von 1924 werden die Provenzalen als ein von Frankreich ‚kassiertes‘ Mischvolk beschrieben, das alle möglichen Elemente des westlichen Europas aufweist bis auf das Fränkisch-germanische: „Fränkisches fehlt, das Keltische ist zwischen dem griechischen Feuer und den römischen Blasebälgen verschmolzen und zerdampft; den Sprachformen fehlen die keltischen Nasenlaute und trüben Vokale die sonst zäh am keltischen Boden haften“110. Dieser Umstand ist wichtig für das Verständnis von Borchardts Frankenfiktion Der Durant – der Held Durant ist kein Provenzale, sondern Rheinfranke, zu einer Zeit, als es nur provenzalischen Gesang gab. Die provenzalische Poesie „ist die erste grosse Originalpoesie des Abendlandes und die Mutter aller übrigen; die deutsche und italienische, die catalanische und die portugiesische sind durch ihre Glut und Herzensmacht entzündet worden“111. In einer stammesideologischen, mit Josef Nadlers literaturgeschichtlichem Denken zusammengehenden Erklärung 112 entwirft Borchardt eine Genealogie, die es in sich hat. Französische ‚Unterhaltungsliteratur‘ und provenzalische ‚Poesie‘ werden unauflöslich kontrastiert und die fränkische Literaturentwicklung auf sie bezogen. So seien _____________ 107 Ebd., S. 295f.: Auf eine ‚ägyptisch-kleinasiatisch-griechische‘ Antike sei eine hellenistischrömische, darauf aber eine deutsche Epoche der Antike gefolgt. Der „Vollständigkeit halber“ sei der deutschen Antike „eine byzantinisch-slawische“ anzugliedern, „die in der Tat antike Bestände, wirkliche Bestände der antiken Welt, bis in die Jahrhunderte der Renaissance hinein fast als ein barbarisiertes Kuriosum festgehalten hat.“ 108 Ebd., S. 297. 109 Ebd., S. 305. 110 Rudolf Borchardt, Die grossen Trobadors, München 1924, S. 66. – Die eigentümliche Schreibung erklärt sich aus der auch bei Burdach anzutreffenden Unterscheidung zwischen französischen Troubadours und provenzalischen Trobadors: Burdach, Über den Ursprung des mittelalterlichen Minnesangs, in: Ders., Vorspiel, S. 257. 111 Borchardt, Die grossen Trobadors, S. 68. 112 Dazu Wyss, Rudolf Borchardt und Josef Nadler, in: Osterkamp (Hg.), Rudolf Borchardt und seine Zeitgenossen, S. 113–131.
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die Genien der ‚Rheinfranken‘ Heinrich von Veldeke, Gottfried von Straßburg und Hartmann von Aue regional bedingt den Franzosen gefolgt; die Ostfranken wie Wolfram von Eschenbach jedoch den Provenzalen. Diese doppelte Genealogie ist der Generalschlüssel zum Verständnis der mittelhochdeutschen Literaturgeschichte und nicht weniger der Gegenwartsdichtung, die Borchardts eigentlichen Stachel bildet: „Es ist kein Zufall, dass der Rhein, mit einziger Ausnahme Friedrich von Hausens, die keine ist, keine grosse Dichtung hat und bekommt, nie wieder, bis zur zerrissenen Gestalt Stefan Georges.“113 Borchardts Genealogie ist keinesfalls Ausdruck eines bloß nationalen Denkens: Dante ist genauso ein Erbe der Provenzalen, d. h. des Ursprungs der Poesie, wie Wolfram. Für die kulturelle Charakteristik Deutschlands aber werden drei Grenzen bedeutsam: die zwischen römischen und nicht römischen Gebieten, eine andere zwischen alten und kolonialisierten Ostgebieten und „eine dritte, unsichtbare“ scheide „die Deutschen, die ihre Formen aus provenzalischen und die sie aus französischen Händen empfangen haben.“114 Reinmar bilde die einzige Zwischenstellung. Borchardt fühlte sich den Provenzalen verpflichtet. Im Kulturkampf gegen Frankreich war es eine geniale Idee für einen literarisch derart kosmopolitisch gebildeten Nationalisten wie Borchardt, Provence und France gegeneinander auszuspielen. Im Nachwort zu den Grossen Trobadors wird die untergegangene Kultur der Provenzalen zum wahren Ursprung eines Europas, wie es Novalis vorgeschwebt habe. Sie gehöre „zu den tiefverschütteten Schächten und Schätzen unserer eigenen nationalen Bildung“ 115 und sei gleichrangig mit Homer und der Bibel. Dass dieser nationale Bildungsentwurf disziplinärem Denken entspringt und zugleich aus diesem hinausführen möchte, zeigt der rechtfertigende Hinweis auf die deutschen Anfänge der romanischen Philologie. „Durch einen Deutschen“ 116, also durch August Wilhelm Schlegel, sei jene Wissenschaft begründet und fortgeführt worden, wobei Poesie und Wissenschaft Hand in Hand gegangen seien, „bis die Wissenschaft als Examensdisziplin an Akademien sich einklostert und die abwelkende Poesie in Heyses [also des Schülers von Diez, A.N.] schlechten Novellen und nichtssagenden Übersetzungen verflaut.“117 Durch einen deutschen Dichter könne diese Fehlentwicklung korrigiert werden. Als dieser deutsche _____________ 113 Borchardt, Die grossen Trobadors, S. 69. Hausen ist für Borchardt deshalb keine Ausnahme, weil er die Provenzalen rezipiert hat. 114 Ebd., S. 69. 115 Ebd., S. 70. 116 Ebd., S. 71. 117 Ebd., S. 71f.
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Dichter erscheint Borchardt selbst, zumindest in der Begründung seines Übersetzungsprojekts.118 Für den Durant bedeutet die Privilegierung der Provenzalen zwar keine sprachliche Archaisierung wie in den Übersetzungen, 119 aber die Fiktion einer mittelalterlichen Seelenform vor 1150 ist genug, um im Borchardt’schen Sinn authentisch zu sein: Borchardt, wie seinerzeit vor ihm Herder im Volkslied, schafft sich eine Sprache des unmittelbaren Ausdrucks seelischen Leidens, denn der provenzalische Stil sei „nicht nur Sprache und nicht nur Kunst“, sondern „der erregte und energische Ausdruck ungemeiner Seelen und organischer Phantasien in kontrahierten Momenten“. Dieser Stil kennzeichne sich durch „Blitz des Gesanges und durch Wurf [ein Herder-Wort, A.N.], Ausruf, Hyperbel und Bild, durch stürmende Häufung, Pause, Schimpf, Verzerrung, durch Lockruf, Liebesschrei und Lobgesang“ 120. Es wäre zu einfach, in Borchardts Privilegierung der deutschen Antike nur eine nationalistische Reinheitsphantasie zu sehen, wie sie im Verständnis des Armen Heinrich zum Ausdruck kam. 121 Das Pochen auf Reinheit muss im geistigen, genauer philologischen Sinn verstanden werden. 122 Es sind romanische Formen, die Borchardt verwendet, vor allem die Übersetzungen, die seinen literarischen Kosmopolitismus markieren. Borchardt, für den das Übersetzen nichts Sekundäres besaß, sondern Neuschöpfung bedeutete, verdeutschte neben Dantes Vita Nuova und der Divina Commedia Texte aus dem Griechischen, Lateinischen, Provenzali_____________ 118 Vgl. „Der deutsche Dichter, der sein Ohr Folquet und Bertran sich nachsingen zu lassen versucht, steht geisterhaft heimgekehrt wieder an den Anfängen der deutschen dichterischen Dichtung: er thut genau was vor sieben- und achthundert Jahren der ostbairische Kreuzritter oder der rheinische Hofritter im kaiserlichen Palästinalager gethan hat […]: er übersetzt“ (ebd., S. 72). 119 Hierzu: Timo Günther, Archaische Übertragungen – Rudolf Borchardt und Botho Strauß, in: Hartmut Böhme/Christof Rapp/Wolfgang Rösler (Hg.), Übersetzung und Transformation, Berlin 2007, S. 105–119. 120 Borchardt, Die grossen Trobadors, S. 75. 121 Vgl. Fred Wagner, Rudolf Borchardt and the Middle Ages. Translation, Anthology and Nationalism, Frankfurt a. M. 1981 (= Mikrokosmos, 6), S. 67 und S. 68: Borchardt „uses Hartmann as an example to demonstrate how much the scholars of his day and of the second half of the 19th century lacked national pride – a lack which in his eyes manifests itself most drastically in the continuous search for ‘Quellen’ especially of a foreign nature for works which in his view were original parts of German literature.“ 122 In einem Brief hat Borchardt einmal als das Beste, was man Philologen verdankt, ihre geistige Reinheit bezeichnet, nämlich sehen zu können, ob eine Textstelle verdorben ist oder nicht. Ihm selbst sei es so gegangen beim Übersetzen des Lysis. Vgl. Rudolf Borchardt an Karoline Ehrmann am 20.1.1905 aus Bozen, in: R. B., Briefe. 1895–1906, Nr. 72, hier S. 262: „In solchen Dingen absolut pénible sein, ist eine Art von geistiger Reinlichkeitsfrage, das beste was man den Philologen verdankt, und ein Anlass für jeden Philologen stolz zu sein.“
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schen, Französischen und Englischen, ja er probierte sich sogar an russischer Literatur. Nicht bloß klafft zwischen der nationalen Begründungsebene und seiner tatsächlichen Produktion eine strukturelle Lücke. Der für das Verständnis von Borchardts Werk wichtige Satz, wo es „am deutschesten ist, ist Deutschland europäisch gewesen“123, ist vorgeprägt im staatspolitischen und geschichtlichen Denken Friedrichs von Hardenberg. 124 Dante war ihm keinesfalls nur Germane wie für den 1908 abgefertigten Konkurrenten Otto Hauser, 125 sondern „Dichter des provenzalischfranzösisch-deutschen Mittelalters“ 126. Der deutsch-europäische Kulturraum, den Borchardt vor Augen hatte, ist das „kaiserliche Süditalien, das ghibellinische Pisa und die Provence im 13. Jahrhundert“127. Borchardts Gegenüberstellung der Bildhauerei Pisanos und der Poesie Arnaut Daniels erinnert an diejenige zwischen der Architektur der Kirche von San Zeno und der Poesie Arnaut Daniels bei Ezra Pound, 128 wie auch bei diesem auffällig ist, dass er sich besonders für diejenigen Provenzalen interessierte, die Dante in De vulgari eloquentia empfohlen hatte. 129 Pounds Wissen über die romanische Literatur ist Gröbers Grundriss der romanischen Philologie (1888) entnommen, dessen „21,000 folio pages […], needless to say, Tedescan“ 130 seien und der auch für Borchardt eine wichtige Quelle neben Dante, Diez und Vossler gewesen sein mag. _____________ 123 Borchardt, Schöpferische Restauration, in: Ders., Reden, S. 253. 124 S. Richard Samuel, Die poetische Staats- und Geschichtsauffassung Friedrich von Hardenbergs (Novalis). Studien zur romantischen Geschichtsphilosophie, Frankfurt a. M. 1925 (= Deutsche Forschungen, 12). 125 Vgl. Borchardt, Dante und deutscher Dante, in: Ders., Prosa II, S. 354–388. – Vgl. die Übersetzung Dante Alighieri, Das Neue Leben, übers. und hg. v. Otto Hauser, Berlin 1906, bes. das Nachwort ebd., S. 118–122. 126 Kraft, Rudolf Borchardt, S. 152. 127 Borchardt, Mittelalterliche Altertumswissenschaft, in: Ders., Prosa III, S. 89. 128 Vgl. Ezra Pound, The Spirit of Romance. An Attempt to Define Somewhat the Charm of the Pre-Renaissance Literature of Latin Europe, London 1910, bes. S. 13–33, hier S. 13. Einen Vergleich mit Borchardts Mittelalterbild empfiehlt Georg M. Gugelberger, Ezra Pound’s Medievalism, Frankfurt a. M. 1978 (= European University Papers. Series XVIII. Comparative Literature, 17), S. 85. Neumann, Die englische Komponente, S. 225, sieht keine Anzeichen, dass Borchardt Pound gekannt hätte, empfiehlt aber ebenso den Vergleich beider Autoren. – S. auch Ezra Pound, Arnaut Daniel, in: T. S. Eliot (Hg.), Literary Essays of Ezra Pound, New York 1954, S. 109–148. – Zu Arnaut bei T. S. Eliot s. Evi Zemanek, T. S. Eliot und Ezra Pound im Dialog mit Dante. Die Divina Commedia in der modernen Lyrik, München 2008, S. 110–126. 129 Dazu Gugelberger, Ezra Pound’s Medievalism, S. 22. Dabei war für Pound das Buch von H. J. Chaytor, The Troubadours of Dante. Being Selections from the Works of the Provençal Poets quoted by Dante, Oxford 1902, maßgeblich gewesen. 130 Pound, The Spirit of Romance, S. vii. Zugleich versteht sich Pounds Beitrag in scharfer Abgrenzung zur Philologie, und wenn diese überhaupt empfohlen wird, dann in Anlehnung an eine vergleichende Literaturwissenschaft: „THIS book is not a philological work. Only by courtesy can it be said to be a study in comparative literature“ (ebd., S. v).
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Interessanter als die Frage nach Borchardts Quellen zur mittelalterlichen Literatur, die im konkreten Fall heranzuziehen sein werden, ist die Überwindung ihrer disziplinären Teilung in einen germanischen und einen romanischen Teil. Diesen Gedanken, von dem der Durant getragen ist, hat Borchardt erstmals in einer 1908 erschienenen Besprechung von Aufsätzen des Germanisten Wilhelm Hertz ausformuliert. Hertz’ Studie zum mittelalterlichen Frauendienst, die Borchardt für korrigierbar hielt, veranlasste ihn zur Bestimmung seines transnationalen und transphilologischen Standorts. Nicht nur hätten sich „genauere und gerechtere Begriffe vom Wesen des germanischen Liebesgefühls durchgesetzt als man sie 1864 billiger Weise haben konnte“ 131. Völlig verkannt habe Hertz die „Internationalität des europäischen Rittertums“ 132. So hellsichtig diese Behauptung auch ist, Belege für Forschungen über ebendiese Internationalität bleibt Borchardt schuldig, und von Ausnahmen abgesehen, traf sie keinesfalls für die germanistische Forschungstendenz zu. Sie war zu diesem Zeitpunkt weiterhin um Abgrenzung des deutschen vom restlichen europäischen Kulturraum bemüht. Der Hauptvertreter einer transnationalen mediävistischen Forschung war also Borchardt selbst. Nach 1920 korrigierte Borchardt in Reden und konkreten Forschungszeugnissen wie den Epilegomena zu Dante die national begrenzte Disziplin der Philologie, hatte aber in der DurantDichtung diesen Schritt lange zuvor poetisch vollzogen. 2.3. Durants Welt des Mittelalters Borchardt, der Formen von ihrem Anfang her dachte, 133 gewann aus eben diesem Anfang das tragende Prinzip der poetischen Struktur seiner Texte. Sein Archaismus war nicht bloß geschichtliche Spekulation, sondern formpoetisch produktiv. Als Dichter nahm er die gattungsästhetische und -geschichtliche Reflexion vorweg, indem er Gattungen der europäischen Literaturgeschichte auswählte, um sie jeweils zu vollenden und dabei zugleich ihre geschichtliche Herkunft mitzudenken. Borchardts philologischkritische Beschäftigung mit den Gattungen ging ihrer Erfüllung in Dichtung, Übersetzung und Bearbeitung voraus, wie sich an den frühen Elegiendichtungen, den Sestinen, Sonetten und am Tagelied unschwer sehen _____________ 131 Rudolf Borchardt, Zum deutschen Altertum, in: Ders., Prosa VI, S. 312–317, hier S. 313. 132 Ebd. 133 Vgl. Ernst Osterkamp, Die Kraft der Form. Rudolf Borchardts Sonett Abschied [1983], in: Ders., „Der Kraft spielende Übung“. Studien zur Formgeschichte der Künste seit der Aufklärung, hg. v. Jens Bisky/Martin Dönicke/Bernd Klöckener/Steffen Martus/Andrea Polaschegg, Göttingen 2010, S. 299–309, hier S. 301.
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lässt.134 Der Durant zeigt eine andere Bewegung, indem er dichterisch den Horizont erst umriss, den der Forscher später in programmatischen Reden und Schriften erörterte. In den Epilegomena zu Dante. II aus dem Jahr 1930 stellte Borchardt rückblickend die Zeit zwischen 1904 und 1908, also jene Jahre, in denen er auch die Arbeit am Durant begonnen hatte, als Phase einer wissenschaftlichen Einarbeitung in die mittelalterliche Literatur dar. 135 Die Übersetzungen zeugen davon, dass er neben der deutschen ebenso die romanische mittelalterliche Literatur studiert hat.136 Der Durant gehört zu seinen frühesten Dichtungen,137 erschien aber erst 1920, und die Überarbeitung beschäftigte den Autor noch später. 138 Der Untertitel Ein Gedicht aus dem männlichen Zeitalter verlegt das Geschehen des Durant in das ‚männliche Zeitalter‘, womit Borchardt nicht wie der von ihm 1908 rezensierte Wilhelm Hertz die Welt der Germanen von den Witwenverbrennungen bis zu den Ottonen meint.139 Für Borchardt ist das männliche Zeitalter jenes, welches diesen für die Frau rechtlosen Zustand ablöste und die Zeit des Minnesangs in Europa umfasst. Dabei ist nicht unwesentlich, dass Borchardt sich einmal mehr als Scherers Schüler erweist, wenn er dessen Epochentypologie übernimmt, der zufolge die Blütezeit, die der Minnesang in der Literaturgeschichte dargestellt habe, eine männliche Epoche gewesen sei, in der sich die
_____________ 134 Zu den provenzalischen, altitalienischen und mittelhochdeutschen Formen s. Hofmann, Bildung und Sehnsucht, S. 36–121. Zur Elegie s. Hildegard Hummel, Rudolf Borchardt. Interpretation zu seiner Lyrik, Frankfurt a. M. 1983 (= Analysen und Dokumente, 10), S. 65–72, zur Antike allgemein s. Schmidt, Rudolf Borchardts Antike. 135 Vgl. Borchardt, Epilegomena zu Dante. II, in: Ders., Prosa II, S. 492. 136 Der Grund dafür war ein äußerer: Der neu gegründete Insel Verlag, der stark philologisch ausgerichtet und darum bemüht war, die altertümliche europäische und vor allem nationale Literatur zu verbreiten, hatte Borchardt die Möglichkeit in Aussicht gestellt, ein Editionsprojekt, die sogenannte mit dem Litzmann-Schüler Saladin Schmitt im August 1907 geplante Münster-Ausgabe, durchzuführen. Ausführlich dazu s. Schuster, Rudolf Borchardt und der Insel-Verlag, S. B 97–114. 137 In der Erstausgabe von 1920 werden zwei Fassungen, eine von 1904 mit epitomiertem Schluss und eine Überarbeitung von 1905, genannt. Letztere soll 1913 fertiggestellt worden sein. 138 Vgl. anhand des Werkregisters die entsprechenden Briefe in: Rudolf Borchardt, Briefe. 1931–1935, hg. v. Gerhard Schuster, München 1996, und Ders., Briefe. 1936–1945, hg. v. Gerhard Schuster, München 2002. 139 Vgl. Wilhelm Hertz, Über den ritterlichen Frauendienst [1864], in: Ders., Aus Dichtung und Sage. Vorträge und Aufsätze, hg. v. Karl Vollmöller, Stuttgart/Berlin 1907, S. 1–30, hier S. 2: „Jene Zeit war eine durch und durch männliche; dem Schwert gehörte die Welt; der Schwertträger allein war frei, und wer kein Schwert zu führen verstand, war Sklave, war Sache.“
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„deutschen Frauen ziemlich stille verhalten“140. Die männliche Epoche ist bei Borchardt dadurch gekennzeichnet, dass eine männliche Gesellschaft der sprachlos bleibenden „Frau, vor allem der Jungfrau als dem Wunschziele“ 141 gegenübersteht; der ritterliche Frauendienst werde für diese Gesellschaftsform konstitutiv und sei als „Beziehung der männlichen Seele auf die Frau“ 142 Ausdruck eines ‚magischen Lebensprinzips‘, das in der heroisch geprägten Antike den Helena-Mythos, im christlichen Mittelalter aber mythische Figuren wie Beatrice geschaffen habe. Wenn Durant seinen irdischen Besitz verschenkt und danach strebt, sich seiner Individualität zu entledigen 143: „Ach wäre er stumm nur Licht | Jenes Lichtes geschienen!“ (2128f.), wird die theologische Bedeutung dieser Minne als Gottesminne klar. Minne, als Anbetung von Schönheit, ist in Wirklichkeit kein Frauendienst, sondern Gottesdienst, welcher der von Borchardt kaum beschriebenen und damit nahezu unsichtbaren Frau seines Begehrens als Medium transzendenter Erfahrung bedarf. 144 Wie kritisch bemerkt wurde, ging Borchardt davon aus, dass die „gänzliche Entfremdung zwischen den Geschlechtern“ die „magische Wirkung der Frau“ 145 erst möglich werden lässt. Die kulturstiftende Funktion dieser Eros-Konzeption hat Konsequenzen für das Bild der Frau: „Sie wird, heilig verehrt, unwillentlich und unwissentlich Werkzeug zur sittlichen Hebung des Mannes und gleichzeitig als natürlicher Mensch verletzt und erniedrigt.“ 146 Borchardts Gedicht, das den Konflikt von „Gottes- und Frauenminne“ 147 austrägt, besteht aus sechs Teilen. Nach einem handlungsunabhängigen Anfang, der die Leidensgeschichte Durants als Spannung zwischen irdischem Sein und der Sehnsucht nach dem Göttlichen verallgemeinert (1–249), folgen vier ortsgebundene Erzähleinheiten: In Edessa wird die Jugend und Erziehung Durants bis zur Verwundung im Kampf gegen die Heiden berichtet (250–761), auf der Burg Feitun die Genesung und die zur Minnevision führende Begegnung mit Adalais (762–936), auf der Burg _____________
140 Scherer leitet hieraus sogar ethische Verhaltensweisen für die deutsche Frau ab: „Ich glaube in der That, daß die Frauen, mindestens die deutschen, für ihre Nation mehr thun, wenn sie über die Männer eine geräuschlose, sänftigende Macht ausüben, als wenn sie sich auf den Markt drängen und mit den Männern wetteifern“ (Wilhelm Scherer, Skizzen aus der älteren deutschen Litteraturgeschichte. Die Epochen der deutschen Litteraturgeschichte, in: W. S., Kleine Schriften, hg. v. Konrad Burdach, Berlin 1893, S. 672–675, hier S. 675). 141 Borchardt, Die antike und der deutsche Völkergeist, in: Ders., Reden, S. 301. 142 Rudolf Borchardt, Epilegomena zu Dante. I: Einleitung in die Vita Nova [1923], in: Ders., Prosa II, S. 389–471, hier S. 392. 143 Vgl. Hummel, Rudolf Borchardt, S. 213. 144 Zur Frau als ‚Mittel‘ der Transzendenz s. ebd., S. 206, allerdings übersieht Hummel den Zusammenhang zum Liebes- und Schönheitsbegriff Platons. 145 Ebd., S. 214. 146 Ebd. 147 Ebd.
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Nun das Leben als Kreuzritter und der Konflikt mit der niederen Minne, dialogisch ausgetragen mit dem Mönch (937–1499), und schließlich in Antiochia die Wiederbegegnung mit der Angebeteten auf der Pfingstmesse (1500–1756). Den sechsten Teil bildet der epitomierte Schluss als die Raffung eines Zeitraums von drei Jahren bis zur Hochzeit mit Adalais und ihrer umgehenden Vergewaltigung (1757–1952). Diese sechs Teile sind unterteilt in Versgruppen, die inhaltliche Einheiten bilden: Etwa werden in den Versen 25–298 Durants Herkunft, in den Versen 411–470 die Erziehung geschildert. Borchardts Vers ist als mündlicher Vers konzipiert. 148 Der Name des Helden im Titel sowie der Reimpaarvers sind formal dem mittelalterlichen Versepos angepasst. Im Unterschied zum mittelhochdeutschen Vorbild sind Borchardts Reimpaarverse, für deren Bildung er sich des Reimregisters zu Wolframs Werken hätte bedienen können, 149 durchweg dreihebig. Thematische Anlehnungen wie der mittelalterliche Erziehungsgedanke weisen auf Borchardts Kenntnis des Tristan und des Parzival hin. 150 Die Minnevision im Durant hingegen greift Dantes Vita Nuova auf. 151 Durants Fehler, seine Maßlosigkeit, ist gleichfalls ein Motiv mittelhochdeutscher Literatur. 152 Gattungstypologisch schließt Der Durant an die Kreuzzugsepik an, von der jedoch – das ist eine Pointe Borchardts – in der deutschen Literatur kaum zeitgenössische Zeugnisse überliefert sind. Die zuerst von Wilhelm Grimm herausgegebene, nur fragmentarisch überlieferte Verserzählung Graf Rudolf ist „das einzige erhaltene frühmittelhochdeutsche Kreuzzugsepos.“ 153 In den anderen bekannten literarischen Zeugnissen bildet der Kreuzzug zwar ein Motiv, ist aber nicht der eigentliche Stoff der Hand_____________ 148 Borchardts auf Herder zurückgehende Mündlichkeitsemphase und Schriftkritik diskutiert im Kontext der um 1900 entstehenden Oralitätsforschung Heinz Hiebler, Hugo von Hofmannsthal und die Medienkultur der Moderne, Würzburg 2003 (= Epistemata. Reihe Literaturwissenschaft, 416), S. 26–39, bes. S. 28f. 149 Das ist allerdings nicht nachweisbar, jedes andere Reimlexikon hätte Borchardt ebenso dienlich sein können. Zu Wolfram s. Albert Schulz (San Marte), Reimregister zu den Werken Wolframs von Eschenbach, Quedlinburg/Leipzig 1867. – Eduard Korrodi, Gedichte, mit dem Wörterbuch zu lesen [1923], in: Ders., Ausgewählte Feuilletons, hg. v. Helen Münch-Küng, Bern/Stuttgart/Wien [1995], S. 240–242, hier S. 240, nennt neben dem Durant weitere Beispiele für Gedichte, die des Wörterbuches bedürfen. 150 Vgl. Hofmann, Bildung und Sehnsucht, S. 130–135. 151 Ebd., S. 135–146, analysiert den seit Kraft, Rudolf Borchardt, S. 212–232, bekannten Bezug detailreich. 152 Zu Durants Maßlosigkeit s. Hofmann, Bildung und Sehnsucht, S. 130–135. 153 Hans Fromm, Der Graf Rudolf, in: Beiträge zur Geschichte der deutschen Sprache und Literatur 119 (1997), S. 214–234, hier S. 216. – Zur deutschen Kreuzzugsliteratur s. Friedrich-Wilhelm Wentzlaff-Eggebert, Kreuzzugsdichtung des Mittelalters. Studien zu ihrer geschichtlichen und dichterischen Wirklichkeit, Berlin 1960.
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lung. 154 Im Grafen Rudolf werden tatsächlich die epischen Konflikte aus dem Material der Kreuzzüge des zwölften Jahrhunderts gewonnen. Man ist versucht, den Text als einen Prätext des Durant zu lesen. Formal gibt es einen Bezug zwischen dem Grafen Rudolf und Rudolf Borchardts Durant nicht allein hinsichtlich der Verwendung des Paarreims, der für die mittelhochdeutsche Versepik typisch ist. Beide Texte sind fragmentarisch, der erste auf Grund seiner Überlieferung, Letzterer gezielt: Borchardt hat den Durant nach Vers 1756 epitomiert, d. h. in seinen wesentlichen, bis zum Schluss folgenden Handlungselementen zusammengefasst, und damit nicht nur späteren Editoren ein Problem bereitet, sondern auch sich selbst. Er hatte vor, das Werk vollendet noch einmal herauszugeben, wozu es nicht mehr kam. Im Nachlass sind Teile dieser Überarbeitung erhalten. 155 Neben dieser strukturellen Gemeinsamkeit von überlieferungsbedingtem und intentionalem Fragment gibt es noch eine inhaltliche Besonderheit, die den Helden ‚Durant‘ und Borchardts mittelalterlichen Namensvetter ‚Rudolf‘ in Beziehung setzt. Einer der vielen Konflikte Rudolfs ist seine Liebe zu einer Heidin. Der Durant liest sich als eine Kontrafaktur zum Grafen Rudolf, wenn Borchardt seinen Helden nicht nur in Liebe zu einer christlichen Frau versetzt, sondern ihn gegen erotische Beziehungen zwischen Christen und Heiden wettern lässt: Man sahs an ihren Leibern Ohrenringen und Locken Man fings aus ihren Brocken Und sahs an ihren Sitten;
_____________ 154 Borchardts Verschränkung von Frauen- und Gottesminne ist dagegen für viele der mittelhochdeutschen Kreuzlieder des zwölften Jahrhunderts charakteristisch, vgl. Hermann Schindler, Die Kreuzzüge in der altprovenzalischen und mittelhochdeutschen Lyrik, Dresden 1889 (= Programm der Annenschule), S. 35–42, zur Chronologie S. 42–48. 155 Borchardts Autophilologie des Durant zeigt sich in der Fortsetzung des epitomierten Schlusses, die er im Jahr 1935 begann, nachdem er, durch einen Zufall, eine frühe Fassung dieser Fortsetzung wieder gefunden hatte. Das Manuskript, das im Safe seines verstorbenen Schwiegervaters aufgetaucht sei (Rudolf Borchardt an Martin Bodmer am 26.11.1933, in: Borchardt, Briefe 1931–1935, S. 288f.), wird von Varianten ergänzt. Um welches der Konvolute es sich dabei handelt, ist nicht mit Sicherheit zu klären, aber aufgrund des Papierformats und -materials sowie der Schreibweise in zwei Spalten, mit großen Initialen am Anfang jedes Absatzes, fällt in der Mappe 3 eine Blattsammlung heraus (5 Seiten und Blatt, Verse 1–755), die auch wegen des Versvolumens der Angabe „halb Tausend“ entspricht. Ansonsten ist bis auf wenige Ausnahmen das verwendete Papier gleich mit dem der EndHandschrift, so dass wahrscheinlich die meisten anderen Konvolute aus der Überarbeitungsphase 1935/1936 datieren. Borchardt hat die Varianten also selbst vereindeutigt und damit versucht, sich selbst zu kollationieren, „nach einer Uhrmacherei und Lupenarbeit, die dem Literarhistoriker hoffentlich alle Karten so verwirrt hat, dass er neu und Alt nicht mehr wird sondern können – kann ich selber es doch kaum mehr“ (Rudolf Borchardt an Herbert Steiner im Juli 1935, nicht abgesandt, in: Borchardt, Briefe 1931–1935, S. 484–489, hier S. 489). Die Rekonstruktion der Überarbeitungsstufen stellt in der Tat eine künftige Herausforderung für die Borchardt-Philologie dar.
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Frankengeblüt in mitten Der Heiden kann nicht taugen: Was frommen lichte Augen Wenn die Seele verwelschet Und ihren Sinn verfälschet? (594–602)
Dennoch wäre es zu einseitig, den Durant allein als Kreuzfahrerepos im Sinne des Grafen Rudolf anzusehen, weil Borchardts Verserzählung letztlich nicht die Geschichte der Kreuzzüge, 156 sondern die erotische Disposition eines Kreuzritters zum Gegenstand hat wie im Kreuzlied. Gegenüber dieser mittelhochdeutschen Gattung wird die Minneproblematik zuungunsten des Sozialen verinnerlicht, was die Verfahrensweise des Durant in die Nähe zu Schaeffers Parzival rückt. Symbolhaft ist die historische Verortung allemal. Dass Borchardt seine Dichtung in die Zeit des Ersten Kreuzzuges verlegte, geht daraus hervor, dass der politische Raum der Handlung, die Grafschaft Edessa, nur zwischen 1098 und 1146 existierte. Genau genommen wäre der Ziehvater der verwaisten Hauptfigur Durant einer der Grafen des Königs von Jerusalem – „der König gab ihm Lehen | und die Grafschaft Edessen;“ (276f.) –, mit dem er darüber hinaus durch seinen verstorbenen Vater verwandt ist. Der Graf von Edessa ist ein Sohn des väterlichen Onkels aus Lothringen, woher auch Gottfried von Boullion stammte: „– Sippen hatt er daheime | Außer einem Oheime | Zu Lothringen nicht einen“ (263–265). Damit wird die fränkische Herkunft untermauert: „Aus Franken kam ein Ritter“ (250), genauer aus Rheinfranken (285). Trotz der Lokalisierung bleibt die personale Konstellation fiktiv, die in der Grafschaft Edessa genannten Burgen Feitun und Nun gibt es nicht, ebenso wenig Alfusa (511).157 Die ‚Burg Nun‘ – neben der Wüste einer der Orte des Ich 158 – „ist das fiktive Äquivalent zur realen toskanischen Fes_____________ 156 Auf die Quellen wie die Chanson D’Antioche braucht hier nicht eingegangen zu werden, ebenso wenig auf die zahlreichen Darstellungen des neunzehnten Jahrhunderts in französischer, englischer und deutscher Sprache. Genannt sei aus der deutschsprachigen historischen Literatur die romantisch inspirierte Monumentaldarstellung von Friedrich Wilken, Geschichte der Kreuzzüge nach morgenländischen und abendländischen Berichten, 7 Teile, Leipzig 1807–1832. 157 Vgl. Hansgerd Hellenkemper, Burgen der Kreuzritterzeit in der Grafschaft Edessa und im Königreich Kleinarmenien. Studien zur Historischen Siedlungsgeographie SüdostKleinasiens, Bonn 1976 (= Geographica historica, 1), bes. S. 7f. (Grafschaft) und S. 34 (Burg Edessa, Rohais bzw. Urfa). 158 Die folgende Deutung in Anlehnung an das Kapitel „Die Orte des Ichs“ bei Alexander Kissler, „Wo bin ich denn behaust?“ Rudolf Borchardt und die Erfindung des Ichs, Göttingen 2003, S. 140–158. Zur Wüste vgl. ebd., S. 156: „Wenn die leblose Wüsten durchmessenden Joram und Durant Archetypen desjenigen Menschen sind, der ewig um einen Ausdruck für sein Inneres ringt und deshalb schließlich Künstler wird, dann ist die Wüste, die sie verlassen müssen, das Elend der Unfruchtbarkeit.“
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tung, der Fortezza Medicea aus dem fünfzehnten Jahrhundert.“159 Auf ihr ist der „Augenblick Stein geworden.“ 160 Sie symbolisiere die „rein männliche Daseinsform“161. Erst im fünften Buch ist die Handlung wieder auf realgeschichtlichen Boden in Antiochia verlegt. In der Nachlassergänzung zum fünften Teil findet sich eine Stelle, welche eine genaue zeitliche Eingrenzung der Durant-Handlung ermöglichte, wäre sie selbst nicht so missverständlich. Die Rede ist dort vom Einzug Eleonores von Aquitanien (1122–1204) nach Antiochia mit ihrem ersten Mann, dem französischen König Ludwig VII., während des Zweiten Kreuzzuges (1147–1149). Tatsächlich aber ging während Durants Aufenthalt zu Antiochia die Kunde um, eine Königin komme, die Ellinor ‚gleiche‘: Zu Heiligenlande ziehe Wiederum, von Normandie Hochgefürstet ein Leib, Königs Kind, Königs Weib An Schöne unermessen Gleich der noch unvergessen Engelländischen Wonnen Ellinor, unter Sonnen Kron aller Königinnen, (2972–2980)
Wie im Buch Joram arbeitet Borchardt auch im Durant mit Namenskontaminationen,162 die sich gegen philologische Auflösungen sperren. Zwar nennt Borchardt als Kinder des Grafen von Edessa Anselm (321) und Hardwin (326), aber sie können weder Balduin I., Balduin II., Tankred noch den beiden Grafen von Joscelin zugeordnet werden. 163 Bei ‚Adalais‘ könnte Borchardt an die erste Frau des Vizegrafen von Marseille gedacht haben, die, wie Diez sagt, „fast nur aus der Geschichte der provenzalischen Poesie bekannt“ 164 ist und von dem durch Borchardt übersetzten Peire Vidal 165 oder Folquet von Marseille angebetet wurde. 166 Raimonds von Miraval besungene Adalasia ist der Vollständigkeit halber ebenfalls zu _____________ 159 160 161 162
163 164 165 166
Ebd., S. 147. Ebd., S. 148. Ebd., S. 151. Vgl. zum gelehrten Rabbi Mordechai ben Gabirol Friedmar Apel, Jüdischer Selbsthaß. Rudolf Borchardts Buch Joram und die Aporien eines Begriffs, in: Alo Allkemper/Norbert Otto Eke (Hg.), Literatur und Demokratie. FS Hartmut Steinecke, Berlin 2000, S. 161–168, hier S. 162. Balduin I. – von 1098 bis 1100 Graf von Edessa, nach dem Tod Gottfrieds bis 1118 König von Jerusalem – war in dritter Ehe mit Adelheid von Savona verheiratet, aber dieser historische Bezug zu der von Durant angebeteten ‚Adalais‘ ist unwahrscheinlich. Friedrich Diez, Leben und Werke der Troubadours. Ein Beitrag zur nähern Kenntnis des Mittelalters, Zwickau 1829, S. 152. S. Borchardt, Die grossen Trobadors, S. 57f. Diez, Leben und Werke der Troubadours, S. 152, und ebd., S. 235f.
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erwähnen. 167 Auf eine weitere Möglichkeit weist Borchardt in seiner Übersetzung eines Gedichtes des Troubadours und Herrschers Wilhelm X. von Aquitanien, Graf von Poitou (1099–1137), hin. In dem Gedicht schwankt der Sprecher zwischen zwei Geliebten: Agnes und Arsen, die Borchardt mit ‚Adaltrut‘ bzw. ‚Adalheit‘ wiedergibt. 168 Die Vermutung, es handele sich bei ‚Adalais‘ um eine Allusion an die von den Provenzalen besungene Adalasia, wird bestärkt durch den merkwürdigen Namen des Mannes der Adalais: Brun, Graf von Fenis. Mit Graf von Fenis meint man in der deutschen Literaturgeschichte den Minnesänger Rudolf von Neuenburg, bekannt als Rudolf von Fenis oder auch Graf von Fenis, wie ihn Borchardt selbst nennt. 169 Nun gehört gerade er zu den wenigen Minnesängern, bei dem sich der Einfluss der Provenzalen, konkret des Peire Vidal, nachweisen lässt. 170 Einzig noch Friedrich von Hausen, dem von Borchardt wegen seiner rheinfränkischen Herkunft mit George verglichenen Minnesänger, 171 Teilnehmer am Kreuzzug und damit mögliches Vorbild für Durant, zeigt Anleihen bei den Provenzalen. 172 Eine weitere Perspektive auf den Namen Durant eröffnet ein von Borchardt übersetztes Gedicht Peire Vidals, worin er in der zweiten Strophe seine Heimat, die Provence, sowie seinen lyrischen Anspruch gleichermaßen eingrenzt. Eine räumliche Grenze bildet der Fluss Durance, sein Stil ist fränkisch, sein Gegenstand aber ist das Leiden des Herzens: Denn so weiss ich süss kein lehen, denn von Rôdan bis zur Venze schleusst die see und schleusst Durenze noch da solche wonn ergehen; drum bei franker art und sprach stellt · ich heim mein herzen sach Ihr, die macht man lacht in klagen! 173
_____________ 167 Vgl. ebd., S. 383f. 168 Borchardt, Die grossen Trobadors, S. 11. 169 Borchardt, Epilegomena zu Dante. I, in: Ders., Prosa II, S. 405, und Epilegomena zu Dante. II, in: Ders., Prosa II, S. 497. 170 Vgl. Olive Sayce, Rudolf von Fenis, die Lieder. Unter besonderer Berücksichtigung des romanischen Einflusses. Mit Übersetzung, Kommentar und Glossar, Göppingen 1995 (= Göppinger Arbeiten zur Germanistik, 633). 171 Vgl. auch Georges Zeitgedicht Franken, das ein Bekenntnis zur Kultur Frankreichs ist und in der letzten Zeile La chanson de Roland zitiert: „RETURNENT FRANC EN FRANCE DULCE TERRE“ (Stefan George, Der siebente Ring, Berlin 1907, S. 18f., hier S. 19). 172 Vgl. Karl Bartsch, Grundriß zur Geschichte der provenzalischen Literatur, Elberfeld 1872, S. 42, zu Friedrich von Hausen und Folquet de Marseille s. Karl Bartsch, Nachahmung provenzalischer Poesie im Deutschen, in: Germania I (1856), S. 480–482; s. auch Anton E. Schönbach, Die Anfänge des deutschen Minnesanges. Eine Studie, Graz 1898, S. 25f., und Schindler, Die Kreuzzüge in der altprovenzalischen und mittelhochdeutschen Lyrik. 173 Borchardt, Die grossen Trobadors, S. 57.
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Für Borchardt entscheidend ist Durants fränkische Herkunft und sein Dasein in dem neu gegründeten fränkischen Kreuzfahrerstaat. Edessa ist nach der Aufteilung des Frankenreiches im Jahre 843 politischer Ausdruck einer neuen fränkischen Gemeinschaft, die Kreuzfahrer gelten in arabischen Chroniken als Franken. Damit imaginiert sich Borchardt im Durant als Franke, denn ab Vers 1665 folgt ein Geständnis des Autors, er selbst sei Durant. Zudem ist die erste und einzige Version des Durant, die 1920 erschien, mit Borchardts Namen unterzeichnet und Ausdruck körperlicher und seelischer Identifikation mit der Figur des an der Minne leidenden Franken Durant: „Dies schrieb Rudolf Borchardt | Da er sein Blut erlöste | Daß er die Seele tröste“ (1953–1955). Wenn die Hauptfigur eine Projektionsfläche von Borchardts ‚Leiden‘ ist bzw. ihm dazu dient, seiner ‚Seele‘ einen poetischen Ausdruck zu geben, dann findet zugleich eine Merkmalsaufteilung statt. Durant ist Kreuzritter und gerade kein „mittelalterlicher Troubador“174; Borchardt dagegen Dichter bzw. als Übersetzer der Provenzalen Troubadour. Beiden gemeinsam ist das Leiden an der Liebe. 175 Nicht ist ein Minnedichter alter ego Borchardts. Borchardt ist Dichter der Minne, der die Möglichkeiten einer Verbindung von Minne und Ehe reflektiert und damit den im zwölften Jahrhundert von Andreas Capellanus in De amore popularisierten Topos der provenzalischen Poesie aufgreift, dass Ehe und Liebe nicht vereinbar seien: „Liebe von Weib und Mann | Meint ein Kind von den beiden: | Wer das nicht will soll leiden“ (2–4). Durch den Rekurs auf die alteuropäische Poesie konnten bisher drei Figuren des Versgedichts genauer semantisiert werden: der Graf von Fenis, Adalais und Durant. Durants byzantinischer Lehrer ‚Donatus‘ schließlich trägt den mittelalterlich nicht ungewöhnlichen Autornamen für mittelalterliche Grammatiken nach dem Grammatiker Aelius Donatus. Der Donatus provincialis (Lo Donatz proensals) war eine einflussreiche Grundlage für die Troubadour-Dichter,176 die Borchardt kannte. 177 Borchardts Figur des Donatus war durch den ältesten Sohn des Grafen von Edessa, Priester Anselm, von Byzanz nach der Burg Edessa empfohlen worden (523f.). Der Mönch Bernard, mit dem Durant die heftige Kontroverse über die wahre Minne führt, wird an einer Stelle als „Bruder, oh Provenzal“ _____________ 174 Wie dagegen Kissler, „Wo bin ich denn behaust?“, S. 203, meint. 175 Ebd., S. 220, stellt Kissler die häufig bei Borchardt zu beobachtende ‚Unio‘ in den Zusammenhang der dichterischen Subjektwerdung. 176 Vgl. Edmund Stengel, Die beiden ältesten provenzalischen Grammatiken Lo Donatz Proensals und Las Rasos de Trobar. Nebst einem provenzalisch-italienischen Glossar, mit Abweichungen, Verbesserungen und Erläuterungen sowie einem vollständigen Namen- und Wortverzeichniss, Marburg 1878. 177 Vgl. Borchardt, Epilegomena zu Dante. II, in: Ders., Prosa II, S. 498.
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(1358) angesprochen, kurz vorher sagt Durant, dieser Mönch komme aus Okzitanien und der Lombardei (1308–1311). Von Dante wusste Borchardt, dass sich der Dichter Sordel seiner lombardischen Muttersprache nicht bediente und stattdessen die Sprache der Provenzalen schrieb. In der vorangestellten Einordnung zur Sordel-Übersetzung schreibt Borchardt daher: „SORDEL als Provenzale; als Lombarde Sordello von Goito.“ 178 Sordel war für Borchardt seit Robert Brownings Poem Sordello (1840) kein unbekannter. Auch George hatte die entsprechenden Passagen zu Sordel aus Dantes Divina Commedia im sechsten und siebten Gesang des Purgatorio übersetzt. Borchardts Überblendung des Mönchs Bernard mit dem Dichter Sordel, der immerhin als „Keim und Form von Dantes Comedia“ 179 bezeichnet wird, irritiert nur bei Vernachlässigung seiner von Diez berichteten Lebensgeschichte. 180 Nicht nur, dass Sordel vom Kreuzzug verschont bleiben wollte, sein ganzes Leben war bei aller von Dante geschätzten Vaterlandsliebe voller erotischer Abenteuer. Dante siedelt Sordel im Fegefeuer bei den Seelen an, die eines gewaltsamen Todes gestorben sind, was mit dem Fenstersturz des Mönchs durch die Hand Durants – „Fahr hin!“ (1499) – korrespondiert. Durants rhetorisch aufwändige Anrede an den Mönch, er solle sich von der niederen Minne lösen und die sie symbolisierende VenusBüchse von sich werfen – „Wirf den Unrat fort“ (1434) – wird in diesem Moment tatsächlich zu einer Rede Dantes. Der hatte Sordel im Fegefeuer einen ‚Wehruf über Italien‘ (George) anstimmen lassen, 181 nachdem sein Führer durch das Totenreich, Vergil, der in Sordel den Landsmann aus Mantua sieht, das Stichwort gegeben hatte. Durant wird daher in dem Moment zu Dante, wo er sagt: Bruder, oh Provenzal, Da ich zum ersten Mal Der Heimat Dich gemahnte, – Von dem, was da Dir ahnte, Von dem Wort und Getön Floß Dein Aug und ward schön Aus Deiner armen Seele“ (1357–1364). 182
_____________ 178 179 180 181 182
Borchardt, Die grossen Trobadors, S. 61. Ebd. Diez, Leben und Werke der Troubadours, S. 465–481. Purgatorio, VI, v. 79–102. Die von Kraft, Rudolf Borchardt, S. 222, gegebene Erklärung ist mir unklar. Nachdem er eingesteht, es sei schwer zu sagen, weshalb hier Sordel in Erinnerung gerufen wird, heißt es, „daß eine der verborgenen Intentionen des Gedichts überhaupt die ist, Dantesche Situationen in Anwendung auf einen modernen Menschen in ähnlicher Seelenlage umzukehren, um ihnen jeden Schein einer archaisierenden Deutung der eigenen Seelenhaltung zu nehmen.“
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Diez, der alle erotischen Abenteuer und Bekenntnisse Sordels zusammenträgt, 183 könnte Borchardt auf den Widerspruch der Sordel-Figur hingewiesen haben: „[A]lles dies zeigt, daß hier nicht von einem leichtfertigen Sänger der Liebe und Verführer der Frauen, sondern von einem gewichtvolleren Manne die Rede ist.“ 184 Borchardt, der nach Lektüre der Diezschen Darstellung wohl kaum mehr eine charakterlich einheitliche SordelFigur hätte bilden können, transplantiert diesen Widerspruch in die Kunstfigur des ‚Bernard‘ und greift damit nicht bloß die literarische Tradition auf, sondern die Erkenntnisse und den Diskurs der romanischen Philologie: Bernard ist damit genau so eine vom Widerspruch gezeichnete und zum Untergang verurteilte Person wie Durant selbst, der sich Frauen nur im Gottesdienst oder in der körperlichen Vergewaltigung nähern kann. Bernard ist als gespaltene Person eine ‚moderne Seelenform‘ wie der Durant auch. Als Dichter jedenfalls hat Borchardt Sordel hoch geschätzt, dessen Klage um Blacât, in welcher er der Welt das Herz seines Freundes zu essen nahelegt, um sich moralisch zu veredeln, einging in Die grossen Trobadors. 185 In welcher Form zudem Bernard auf den Troubadour Bernart de Ventadorn verweist, der ebenfalls im Kloster endete,186 müsste noch untersucht werden. Dass die Schilderungen von Diez, die schon den von Borchardt geschmähten Paul Heyse beflügelten, 187 in der Phantasie von Borchardt gewirkt haben, wird an ihrer archaisierenden Transformation in Die grossen Trobadors am Beispiel Arnaut Daniels deutlich, jenes Dichters, der mit dem Durant parallelisiert wird. Die anagrammatische Beziehung zwischen ‚Arnaut‘ und ‚Durant‘ stützt diese Vermutung. Wenn Dante, dessen Langform Durante ist, ihn im Fegefeuer zu den wollüstigen Seelen rechnet, so ist auffällig, dass auch Durant zugrunde gehen wird, weil er seinen Sexualtrieb nicht mehr kontrollieren kann. Arnaut, den Dante in De vulgari eloquentia lobend erwähnt hatte und in dem Borchardt Dantes ästhetischen Impulsgeber erkannte,188 tritt am Ende des sechsundzwanzigsten Gesanges des Purgatorio auf Provenzalisch auf, nachdem er zuvor von Guido Guinizelli als der ‚beste Schmied der Muttersprache‘ (Gmelin) – bzw., wie Borchardt übersetzt, als bester „schmied der mundart seiner leute“ – bezeichnet worden ist: _____________ 183 184 185 186 187
Bes. s. Diez, Leben und Werke der Troubadours, S. 471f. Ebd., S. 468. Borchardt, Die grossen Trobadors, S. 61f. Vgl. Diez, Leben und Werke der Troubadours, S. 37. Dazu Maximilian Gröne, Von der Philologie zur Fiktion. Paul Heyses Strategien der Literarisierung am Beispiel von Adam de la Halle und Raimon de Miraval, in: Dehrmann/Nebrig (Hg.), Poeta philologus, S. 177–194. 188 Borchardt, Epilegomena zu Dante. II, in: Ders., Prosa II, S. 513.
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Ich bin Arnault: deich weine und singend geh: klag ich und seh was verschollen verkehrt, und seh getrost Tag, da mir heil gescheh. Mahn aber euch bei da hinten dem Wert, der euch das ziel dieser staffelen würbe: gedenk euch noch bei zeit, was mich verzehrt – 189
Borchardts Hinweise auf Arnauts Reimpraxis und die Emphase des ‚arnautischen‘ 190 Dichtertums überhaupt rechtfertigen zugleich die eigene Poetik: „Trobar clus, verschlossenes Reimen, nannte die entsetzte, erschreckte Zeit dieses schrankenlose Zusammenraffen der Sprache, in dem […] alles heran muß, was etwas zu sagen hat“ 191. Arnauts Poesie bestehe „aus lauter in Dialog zerrissenem Gespräch“ 192, aus „Masken, die sich einander zuzuwenden scheinen wie in Gesprächen“ 193. Mitten zwischen „den zerquält hervorgestoßenen einsilbigen Packversen Arnauts mit ihrer ausdruckschwangeren Überfülltheit“ breche „plötzlich der süße Schrei“194 herein. Leidenschaftlicher Ausdruck, eine dunkle, wortreiche Sprache und aufwendige Dialoge sind auch für den Durant charakteristisch. In seinen Biogrammen, die den Übersetzungen Der grossen Trobadors vorangestellt sind, transformiert Borchardt die Wissenschaftsprosa von Diez in ein altertümliches Pendant: „Und ward gelehret wissenschaft künstlich und fuhr mit spielleuten und het sein gefallen daran, teur reime zu finden. Darum seine lied nicht ebene zu verstehn sind noch zu lernen.“ 195 Auch die von Borchardt übersetzte Sestine ähnelt im Wortbestand und syntak-
_____________ 189 Rudolf Borchardt, Dantes Comedia. Deutsch, hg. v. Marie Luise Borchardt, Stuttgart 1967, S. 282 bzw. 283. – Borchardts Konkurrent Otto Hauser hat Dantes Versen in anderen Sprachen eine kurze Studie gewidmet: Ders., Fremde Sprachen in der Divina Commedia, in: Zeitschrift für vergleichende Literaturgeschichte XVII (1908), H. 3/4, S. 262–270, bes. S. 263. – Zur Arnaut-Stelle in T. S. Eliots Waste Land Zemanek, T. S. Eliot und Ezra Pound im Dialog mit Dante, S. 110–113. 190 Die Epilegomena zu Dante. II sind voller Verweise auf Arnaut, der Ausdruck ‚arnautisch‘ fällt konkret: Borchardt, Epilegomena zu Dante. II, in: Ders., Prosa II, S. 526. 191 Borchardt, Mittelalterliche Altertumswissenschaft, in: Ders., Prosa III, S. 90. Zu Borchardt und Arnaut s. Ulrich Wyss, Literaturlandschaft und Literaturgeschichte. Am Beispiel Rudolf Borchardts und Josef Nadlers, in: Kugler (Hg.), Interregionalität der deutschen Literatur im europäischen Mittelalter, S. 45–63, hier S. 51–56. 192 Borchardt, Mittelalterliche Altertumswissenschaft, in: Ders., Prosa III, S. 91. 193 Ebd. 194 Ebd. 195 Borchardt, Die grossen Trobadors, S. 45. Bei Diez steht: „Er legte sich mit Erfolg auf die Wissenschaften, doch verließ er diese Laufbahn wieder und ergab sich ganz der Dichtkunst, bei welcher einige gelehrte Vorkenntnisse damals schon sehr zu Statten kamen; wirklich zierte er einige seiner Lieder mit mythologischen Anspielungen, wie sie nicht jedem Sänger zu Gebote standen“ (Diez, Leben und Werke der Troubadours, S. 344).
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tisch der Version von Diez, 196 dem Borchardt jovial Dilettantismus bescheinigt.197 Borchardts konzeptionelles Interesse an Arnaut aber richtete sich auf dessen Bedeutung für die Entstehung der modernen Seelenform: „Ausgang der tragischen Individualpoesie Europas.“ Neben Arnauts „Erfindung der Sestine“198, welche auch Borchardt produktiv machte, war der Grund seiner Faszination an dem Provenzalen diese Bestimmung sowie die „Erfindung der leidenschaftlichen Widersinne“ 199. Das berühmte Geleit am Ende von Lied X bringt das auf den Punkt: „Ich bin Arnaut, zwinge winde; | und hetz auf hasen den stier; | und schwimm· auf wider gefälle.“ 200 ‚Widersinn‘ und ‚Individualpoesie‘ sind gleichfalls die beiden tragenden Momente im Durant. Im Nachlassfragment spricht Donat, der ehemalige Lehrer Durants, diesen als Arnaut an, wenn er wünscht, wie sein ehemaliger Schüler zu sein, so leiden zu können wie er: Für die Wonne, zu leiden: Für Leidenschaft, zu meiden: Spiel um Spiel zu verlieren: Hasen hetzen mit den Stieren
_____________ 196 Ebd., S. 354f. – Borchardt übernahm die bei Diez ausführlich überlieferte Anekdote, Arnaut habe in einem Wettstreit am Hofe des Königs von England einfach die Verse seines Kontrahenten auswendig gelernt, als dieser übte, und sie als die seinen zuerst vorgesungen, so dass sein Kontrahent das Nachsehen hatte. 197 Vgl. Borchardt, Die grossen Trobadors, S. 74. – Zu Diez als Übersetzer s. Udo Schöning, Friedrich Diez als Übersetzer der Trobadors. Ein Beitrag zur Geschichte der deutschen literarischen Übersetzung, Tübingen 1993 (= Transfer, 6). – Ein Vergleich mit Diez offenbart Borchardts Übernahme der Endwörter im Vers: „Vermag nicht auszureißen Zahn noch Nagel | Dem Kläffer, der durch Lug verliert die Seele“ (Diez, Leben und Werke der Troubadours, S. 354, Kursivierung A.N.) bzw.: „mag nicht klau aus mir sprengen noch kein nagel | des gleissnervolks, das sich lügt um die seele –“ (Borchardt, Die grossen Trobadors, S. 46, Kursivierung A.N.). Auch Diez’ Prosaübersetzungen werden durch Borchardt umgestaltet: „In dieser artigen und muntern Weise fertige ich Verse und hoble und bohne sie; sie werden die Probe halten, wenn sie die Feile bestanden haben. Denn die Liebe hat mich ganz inne und vergoldet meinen Gesang, der von einer Dame ausgeht, welche den Ruhm aufrecht hält und beherrscht“ (Diez, Leben und Werke der Troubadours, S. 197). Borchardt ‚feilt‘ die Vorlage um: „Wählig in ton hier und witzig | wort schaff ich hoblend und zimmer· , | und kommen vollends zurecht, | als bald · ichs schick · an die feile; | denn Minn· übergüldt mir geschwinde | mein singen, das bricht aus Ihr, | die prangt an herrlichster stelle“ (Borchardt, Die grossen Trobadors, S. 48). 198 Ebd., S. 46. 199 Ebd., S. 48. 200 Ebd., S. 49. – Vgl. Arnaut Daniel, En cest sonet coind’ e leri [Canzone X], in: Ders., Canzoni, hg. v. Gianluigi Toja [Firenze 1961], S. 271–274, hier S. 274: „Ieu sui Arnautz q’amas l’aura, | e chatz la lebre ab lo bou | e nadi contra suberna.“ S. ferner die Ausgabe mit englischen Übersetzungen: James J. Wilhelm, The Poetry of Arnaut Daniel, New York/London 1981 (= Garland Library of Medieval Literature, 3, Seies A), S. 40–43. Zur zitierten Stelle s. Wyss, Literaturlandschaft und Literaturgeschichte, in: Kugler (Hg.), Interregionalität der deutschen Literatur im europäischen Mittelalter, S. 53f.
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Den Wind ballen zu Hauf Und schwimmen mühlradauf. All meine Habe gerne Biete ich drum daß ichs lerne (2228–2235).
Insofern Arnaut für Borchardt am Anfang der modernen Poesie steht, fragt sich, welcher Stellenwert eigentlich Dante im Durant zukommt. Der Umschlag von hoher Minne in ihr Gegenteil201 gibt zu einer weiteren Namenskontamination Anlass, die darüber Aufschluss gibt. Wie gesehen, verstand sich Borchardt als Kritiker der philologischen Wissenschaften, umso mehr dort, wo er selbst wie in der Dante-Philologie meinte, fachlich mitreden zu dürfen. Sein Text Moderne Danteunterschiebungen ist geschrieben von der Warte desjenigen, der ein integratives, vernunftgeleitetes Bild der Sache vor Augen hat und sich gegen die in mühsamer Kleinarbeit verlierenden Wissenschaftsarbeiter wendet. Man dürfe sagen, „alle entscheidenden wissenschaftlichen Epochen träten dann ein, wenn eine souveräne Vernunft Ordnung in die von Heeren des Verstandes angerichteten Verwüstungen bringt“202. Der Streit um die Zuschreibung einer italienischen Adaption des Rosenromans unter dem Namen Durante zum Korpus Dantes wird von dieser Warte aus geführt. Im Jahre 1881 war ein titellos überlieferter Text erschienen, der das Bild vom Ideologen göttlicher Minne und des Frauenlobs, als der Dante seit der Vita Nuova gelten durfte, beunruhigte. Die Handschrift von Il Fiore lag bis 1881 unentdeckt in der Bibliothek der Medizinischen Fakultät von Montpellier, und da sich der lyrische Sprecher zweimal ‚Ser Durante‘ nennt, hatte es umgehend Versuche gegeben, das Gedicht Dante zuzuschreiben. Da es sich jedoch beim Rosenroman respektive bei Il Fiore um eine körperliche, auf Misogynie basierende, also gegenteilige Auffassung von Liebe zu derjenigen handelt, die Dantes Vita Nuova vertritt, stand Dantes Autorschaft damit vor einer Zerreißprobe. Borchardt machte diese Zerreißprobe zumindest diskursiv nicht mit. Als Alfred Bassermann 1926 im Kommentar zu seiner Übersetzung der italienischen Sonett-Adaption 203 des Roman de la rose das Werk Dante zuschrieb, 204 reagierte Borchardt prompt und stritt in dem Beitrag Moderne Dante-Unterschiebungen für die Neue Zürcher Zeitung ab, Dante könne solch ein Werk verfasst haben: _____________ 201 Zur hohen Minne s. Haferland, Hohe Minne. 202 Rudolf Borchardt, Moderne Danteunterschiebungen, in: Ders., Prosa I, S. 424–434, hier S. 430. 203 Für die Gattungsgeschichte des Sonett-Romans ist Il Fiore mit Blick auf Aleksandr S. Puškins Evgenij Onegin (vollständig zuerst 1833) hoch interessant. 204 Dante Alighieri, Die Blume (Il Fiore), übersetzt von Alfred Bassermann, Heidelberg 1926.
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„wer ihm [Dante] den Fiore gibt, gibt ihn nicht preis, er gibt ihn auf“ 205. Unklar bleibt, ob Borchardt Il Fiore und die über das Werk auf Italienisch geführte Diskussion, die unmittelbar vor der Entstehung seines Durant stattgefunden hatte, zu diesem frühen Zeitpunkt schon kannte. 206 Karl Vossler hat den Text bereits in seiner auflagenstarken, bei Göschen erschienenen Italienischen Literaturgeschichte (1900) vorgestellt. 207 Es wäre unwahrscheinlich, dass ein Kenner der altitalienischen Literatur wie Borchardt von dieser Diskussion nichts mitbekommen hätte. ‚Durante‘ einzig als ablativus modi für ‚stark im Leiden‘ oder ‚mit Härte ertragen‘ zu verstehen, würde auch Borchardts Kenntnisse zur italienischen Literaturgeschichte in Frage stellen. Der oben erwähnte toponymische Bezug zur Durance und die anagrammatische Verwandtschaft mit Arnaut führen zu einer semantischen Mischung, welche dem Helden eine literaturgeschichtliche Legitimationskraft verleiht, durch die er als authentischer Vertreter einer den Ursprung der modernen Seelenform repräsentierenden Minnedichtung gelten kann. Der Durant selbst jedenfalls trägt die Spannung zwischen körperlich frauenfeindlicher Liebe und hoher Minne mit der Folge aus, dass der Held diese Zerreißprobe nicht besteht. Drastischer als im Rosenroman, wo die sexuelle Eroberung im Pflücken der Rose beschönigend gerechtfertigt wird, vergewaltigt der Durant genau die Frau, die er bis dahin angebetet hatte. Zudem erweist er sich im Vorfeld der Vergewaltigung als Kämpfer gegen die seiner Meinung nach unsittliche körperliche Liebe. Mit anderen Worten vollzog Borchardt in seinem Helden genau jene Bewegung, welche die Danteforschung seit der Entdeckung von 1881 beunruhigt hatte. Gewiss hielt Borchardt wie vor ihm schon Vossler 208 vom Rosenroman nichts: Eine der langweiligsten aller langweiligen und mechanischen Liebesallegorien des Mittelalters und die allerpopulärste unter ihnen […]; beginnend noch mit der Werbung um die Blume der Liebe – endend im Federzuge der Canaille von
_____________ 205 Rudolf Borchardt, Moderne Danteunterschiebungen, in: Ders., Prosa I, S. 433. 206 Vgl. Guido Mazzoni, Se possa il Fiore essere di Dante Alighieri, in: Raccolta di Studii critici dedicata ad Alessandro D’Ancona, Florenz 1901, und Francesco D’Ovidio, [Besprechung von Guido Mazzoni, Se possa il Fiore essere di Dante Alighieri], in: Bulletino della Società Dantesca X (1903), S. 273–292. – Hummel, Rudolf Borchardt, S. 219, hat ebenso wenig eine Erklärung dafür. 207 Hier nach Karl Vossler, Italienische Literaturgeschichte, Berlin/Leipzig 31916, S. 18. 208 Vgl. Karl Vossler, Die göttliche Komödie. Entwicklungsgeschichte und Erklärung, 1. Bd., II. Teil, Heidelberg 1907, S. 517: „Durch das bedeutendste allegorische Lehrgedicht der Franzosen, durch den zweiten Teil des Rosenromans hindurch ergießt sich ein breiter und stinkender Strom von Kot. Hier haben alle Schweinpelze des späteren Mittelalters, insbesondere die Herren Geistlichen und Gelehrten, behaglich geschöpft, um sich mit Libertinismus und Weiberverachtung zu beschmieren.“
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Meung, die die Allegorie schon auf die Nenner des deklarierten Pöbels umrechnen muß, mit Dingen die sich nicht mehr andeuten lassen. 209
Borchardt zeigt sich derart angewidert von den ‚Schmutzereien‘, 210 dass es schwer glaublich ist, er habe sie tatsächlich in seine Dichtung konzeptuell eingehen lassen. Dennoch gesteht er, auch Dante sei Schmutzereien nachgegangen: Schmutzereien sind, ich leugne es nicht, obwohl ich wohl der einzige sein werde, der es weiß, versteckt in der berühmten Sestine Arnauts, die Dante bewundert und nachgeahmt, bis in das Versteckte hin nachgeahmt hat: aber in seinem Verstecke steht an Stelle des üblen unreinen Schreis des großen Provenzalen der leidenschaftliche Ruf des großen Italieners. 211
Dieser Hinweis ist aufschlussreich für den Durant und seine sexuelle Drastik am Ende. Mit diesem im Namen seines Helden eingeschriebenen Doppelverweis bekräftigt Borchardt nolens volens oder vielleicht sogar wissentlich den Zwiespalt, der das Formprinzip des Durant bildet. Vossler kannte zwar die platonisch-irdische Einheit des Eros in Dichtungen der Renaissance, hielt sie aber bei Dante für unmöglich, da dieser Dichter nicht ein Spiel der Phantasie betrieben, sondern sein Herz ausgesprochen habe: Nicht daß wir glaubten, zynisches Gebaren sei unvereinbar mit platonischer Liebe. In der italienischen Dichtung des 16. Jahrhunderts findet sich Beides nur allzu nahe beisammen. Aber mit Beatrice ist es unvereinbar. Sie lebt nicht in der Phantasie allein, sondern auch im Herzen ihres Dichters. 212
Auch Borchardt spielt mit der Identität von Autor und Sprecher-Ich in der Figur des Durant, nur dass er jene zynisch-platonische Ambivalenz gestaltet, die Dantes rein platonischer Auffassung des Eros fremd war, fremd sein musste, da die Vita Nuova eine allegorische Rechtfertigungsschrift mit klaren Positionen war. 213 Diesem Genre gegenüber kann die Durant-Dichtung die Identität zwischen dem Protagonisten und dem biographischen Ich zugleich aufs Spiel setzen und die Krise des platonischen Eros gestalten, nicht aber als eine ‚gescheiterte Vita Nuova‘, 214 da dies vorausetzte, sie könne noch gelingen, sondern als eine überwundene. Von _____________ 209 210 211 212 213
Borchardt, Moderne Danteunterschiebungen, in: Ders., Prosa I, S. 425. Ebd., S. 433. Ebd. Vossler, Die göttliche Komödie, 1. Bd., II. Teil, S. 517f. Von Rechtfertigungsschrift spricht Hummel, Rudolf Borchardt, S. 217. Die Minne Dantes in der Vita Nuova beschreibt Borchardt als allegorisch: „Die neuplatonische Lehre vom Eros als magischer Weltmacht, die schon Guido Guinizelli mit der allegorisierten Minne unlöslich identifiziert hatte, bestimmt seine stark zum Allegorischen neigende Phantasie zur festen Figur des ihn begleitenden und geleitenden Amore, um die herum eine Schematik sich ausbildet“ (Borchardt, Epilegomena zu Dante. II, in: Ders., Prosa II, S. 469f.). 214 So Kraft, Rudolf Borchardt, S. 230.
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einem Scheitern kann nur werkästhetisch gesprochen werden, da die moderne Seelenform, die Borchardt in der mittelalterlichen Überlieferung bei Arnaut vorfindet und ergänzen will, Fragment bleibt. 2.4. Minne als Fragment Innerhalb der erwähnten sechsgliedrigen, ortsgebundenen Struktur ist der fünfte Teil, also die Pfingstszene zu Antiochia, für die Erweiterungen aus dem Nachlass publiziert sind, von besonderer Bedeutung. Sie schließen die Lücke, welche Borchardt aufgerissen hat, um just im Moment der Wiederbegegnung Durants mit Adalais während der Pfingstzeremonien selbst in Erscheinung zu treten. Die Angebetete geht an Durant vorbei: All dies Seelen-Festtägliche Riß lautlos die Unsägliche Durch ein Vorüberschreiten Aus den steinernen Seiten Der menschlichen Gefüge – (1662–1666)
Darauf setzt Borchardt, Durants Perspektive verlassend, nun selbst in einer vierfachen, mit dass-Konjunktionen eingeleiteten Bezeugung an, deren erste Hälfte lautet: – Und daß ich dies nicht lüge Und auch keinem nachschwätze, Der ich die Worte setze Einsam und Menschen satt In der elenden Stadt Volterra, […] (1667–1672) – Daß ich dies nicht in Scherz Noch zu Dank einem Weibe Sondern wahrhaftig schreibe, Das zeugt in Finsternissen Mir so wahr mein Gewissen Als Gott verborgen bleibt Ob was die Hand hier schreibt Menschen Augen je lesen: Ich bin selber gewesen Da des Gleichen geschah […] (1679–1688)
Im Erstdruck folgt auf das Bekenntnis der von Borchardt als solcher bezeichnete epitomierte Schluss (1757ff.). Das Nachlassstück zeigt, dass Borchardt eine mehr als doppelt so lange Selbstreflexion der Autorschaft vorgesehen hatte. Die Perspektive wechselt darin erst mit Vers 1912 wieder zum Durant: „Er ging ihr nicht entgegen | Und ging ihr auch nicht nach“ (1912f.). Zuvor aber findet ein Musenanruf statt, der umständlich motiviert ist. Borchardt wendet sich zunächst dem Leser zu: „Menschen
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Kind, gib die Hand, | Komm wieder zu Durant“ (1757) und versichert nochmals, nicht Kunst, sondern Not begründe den Gesang: „Nicht von Kunst hab ich Amt | Zu scheiden Minne und Ehe“ (1794f.). Der Argumentation ist schwer zu folgen, Borchardt nennt das Verhältnis zwischen sich selbst, dem angesprochenen Du und der Figur labyrinthisch: „Was sie auch seien“ (1771), jene Geschichten, „um uns zwei zu verbünden“ (1769), „sie sind | Dir und mir Labyrinth“ (1771f.). Keinesfalls sollen sie unterhalten: „Die Weile Dir zu kürzen, | So weder so zu schürzen | Einen buntfarbenen Faden, | Hab ich Dich nicht geladen | Noch wärs Dir an mir Recht“ (1773–1778). Borchardt nennt sich „Durantes Knecht“ (1779) und zugleich „mein selber der Herre“ (1780), und er habe die Aufgabe erhalten, den Sündenlauf der Welt an ihm, Durant, zu verkünden (1783f.). Im nächsten Abschnitt (1809–1911) geht es um das Vermögen, poetisch dieses Vorhaben zu meistern: „Herz, vermöchtest Du das!“ (1809). Im Musenanruf wird Wolfram von Eschenbach Borchardts Muse, um das göttliche Werk zu vollbringen. Die Verkehrung des Musenanrufs ist bezeichnend. Nicht der Gott hilft dem Dichter, sondern der Dichter dem Gott, wie es im Gespräch über Formen angekündigt ist: „Der unbekannte Gott“215 brauche den Dichter, die Poesie werde zum ‚göttlichen Feld‘: Wolfram, edeler Laie, Ahnen Tiefbronn des Hortes, Freiherr eigenen Wortes, Amtmann der Schildes Pflicht In Gedichte, in Gedicht Dienstmann des Sakramentes Dem ich gelobte, und nennte es Kein Mund nach mir mit Namen – Wirf durch mich einen Samen In das göttliche Feld Des Trotzens meiner Welt – Welt Welt – die es Götzen klagt Daß sie Gott nicht mehr wagt – Daß ich trotz ihren Pfaffen Mir kraft dein möge schaffen Auf dieses Durant Wegen Segen, und, seis „Unsegen“ (1895–1911)
Zentral für Borchardts Verständnis der Wolfram’schen Autorschaft ist das Verständnis jener Parzival-Stelle, in der Wolfram, „einer der gelehrtesten und belesensten Menschen seiner Volkszeit“ 216, bekennt, „ich enkan de_____________ 215 Rudolf Borchardt, Das Gespräch über Formen, in: Das Gespräch über Formen, in: Ders., Prosa I, hg. v. Maria [!] Luise Borchardt, Stuttgart 1957, S. 328–373, hier S. 353. 216 Borchardt, Epilegomena zu Dante. I, in: Ders., Prosa II, S. 397.
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heinen buochstap“ 217. Im Durant heißt es: „der verfuhr weil er musste | Und keinen Buchstab wusste“ (1884f.). Das bedeute allerdings nicht, „was man ihm allen Ernstes aufs Wort geglaubt hat, sondern daß er sein Gedicht als freien ritterlichen Gesang genommen zu sehen wünscht, wie sein Lied, nicht als Buch, wie die Literatur der Literaten.“218 Es ist jener Herder’sche Gestus – die Überwindung der Gelehrsamkeit aus deren Geiste –, der die Verwandtschaft mit Arnaut, dem letratz, schafft.219 Die Anrufung Wolframs erlaubt es nicht mehr, den Durant als bloßes Selbstbekenntnis des Autors Borchardt zu lesen. Stattdessen geht es wie in den Bezügen auf Dante und Arnaut, den Borchardt auch in Wolfram sieht, 220 darum, die eigene poetische Autorschaft als einen Möglichkeitsraum von literarischer Traditionsbildung zu verstehen. Das mittelalterliche Kreuzzugsgedicht, das hier entworfen wird, um eine bestimmte Form der Gottesminne als geschichtliche Möglichkeit zu postulieren, bedarf der Kontamination der verschiedenen Autorschaften. Anders gesagt, begreift Borchardt sich nicht Wolfram, Dante oder Arnaut als historisch gegenüber stehend, sondern mit ihnen auf einer Ebene, in ein und demselben poetischen Raum, in dem die Geschichtlichkeit der Texte aufgehoben ist. Ob es Borchardt gelingt, die tatsächlich gegebene historische Kluft zu überwinden, ist eine andere Frage; der Anspruch zumindest ist da. Auf keinen Fall aber darf man Borchardts poetische Autorschaft rein biographisch auffassen, indem man den Durant mit Borchardts eigener erotischer Situation in Bezug setzt. Ein solcher Ansatz verkennt die kritische Einstellung, mit der Borchardt als Dichter das Problem der mittelalterlichen Minne anging. Da Borchardt selbst jedoch die biographische Lesart befördert hat, indem er den Text mit seinem Namen bezeugte und der Fiktion entriss, sei es gestattet, jene intimen Briefe, die Borchardt im April 1905 aus Bozen an Karoline Ehrmann schrieb, heranzuziehen, um zu sehen, dass der Dichter des Eros nicht mit dem epistolarisch-erotischen Subjekt identisch ist. Der biographische Rekurs soll die biographische Lesart gerade widerlegen. Mit ungewöhnlicher erotischer Offenheit versuchte Borchardt, die Gefahr des Schwulstes nicht scheuend, die körperliche Liebe in der Pathetik des hohen Stils erfahrbar zu machen.221 Der nach der Trennung von _____________ 217 Parzival 115, 27, zitiert nach Wolfram von Eschenbach, Parzival, hg. v. Albert Leitzmann, Bd. 1, Halle a. d. S. 41942, S. 90. 218 Borchardt, Epilegomena zu Dante. I, in: Ders., Prosa II, S. 397. 219 Vgl. ebd. 220 Borchardt, Epilegomena zu Dante. II, in: Ders., Prosa II, S. 500. 221 Vgl. die Beschreibung des Kusses in: Rudolf Borchardt an Karoline Ehrmann am 7.4.1905 aus Bozen, in: Borchardt, Briefe. 1895–1906, Nr. 80, hier S. 304.
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Margarete Ruer „durch Liebe zerstörte“ 222 junge Mann gab sich seit der Bekanntschaft mit Karoline Ehrmann selbstsicher und innerlich gefestigt. Einen Höhepunkt stellt der Brief vom 10. April 1906 dar, in dem er der zwei Monate darauf geheirateten Frau den Zusammenhang von biologischer und künstlerischer Potenz klar macht. Außer bei sich selbst und Goethe beobachtet Borchardt, dass fast alle großen Künstler „schwache und unfähige Naturen“223 gewesen seien, umgekehrt große Liebhaber wie Casanova schlechte Autoren: „Siehst Du, es ist ja bei mir eine Ausnahme, dass ich diese Gewalt des Blutes doppelt hab, in der Kunst und im Leben.“ 224 Nach einer Reihe von Beispielen, in der Baudelaire etwa als ‚Päderast‘ bezeichnet wird, widmet sich Borchardt in aller Ausführlichkeit seiner Zeugungskraft, die sein „süss aufschwellendes Geschlecht“225 bereithält und seinen großen Kinderwunsch 226 begründet. Im selben Brief äußert sich Borchardt ebenso über Sinn und Zweck der Ehe, und eben jenen Widerspruch, den der Durant zwischen der gesellschaftlichen Institution und der Liebe nicht aushält, löst Borchardt hier zumindest für sich auf. Das Verhältnis zwischen Mann und Frau bestimmt er als das höchste der sittlichen Welt. 227 Der Konflikt Durants ist also tatsächlich nicht derjenige Borchardts, auch wenn seine Unterschrift und die erwähnte Einschaltung des Autors in das Handlungsgeschehen es vorgeben. In den Brautbriefen an Karoline Ehrmann, die zeitgleich mit dem Durant entstanden, sah der Briefschreiber die Einheit von Ehe und Liebe in einer Heirat mit Ehrmann verwirklicht. 228 Sein poetischer Charakter ist vielmehr ein Gegenentwurf zum Briefsubjekt. Wenige Tage später, am 16. April 1906, machte Borchardt deutlich, dass das Liebesideal der Hohen Minne nur ein Gegenstand der Betrachtung sei, aber kein Modell für die _____________ 222 Rudolf Borchardt an Karoline Ehrmann am 10.4.1905 aus Bozen, in: Borchardt, Briefe. 1895–1906, Nr. 81, hier S. 315. 223 Ebd., S. 308. 224 Ebd. 225 Ebd., S. 312. 226 Die Ehe mit Karoline Ehrmann blieb kinderlos. S. in diesem Zusammenhang Kauffmann, Rudolf Borchardt und der ‚Untergang der deutschen Nation‘, S. 157–159, vgl. auch Rudolf Borchardt an Karoline Ehrmann am 27.1.1905 aus Bozen, in: Borchardt, Briefe. 1895– 1906, Nr. 73, hier S. 271. – Die im Juli 1906 mit Karoline Ehrmann (1873–1944) geschlossene Ehe wurde 1919 wieder geschieden. Mit Marie Luise Voigt, die er Anfang 1921 heiratete, hatte Borchardt vier Kinder. Das Motiv der ‚Unfruchtbarkeit‘ findet sich in den Gedichten Magnolie des Herbstes und Bei Betrachtung von Landschafts-Zeichnungen. Zur ästhetischbiologischen Überschneidung der Unfruchtbarkeit im Konzept der Gattung s. Kissler, „Wo bin ich denn behaust?“, S. 137. 227 Rudolf Borchardt an Karoline Ehrmann am 12.4.1905 aus Bozen, in: Borchardt, Briefe. 1895–1906, Nr. 82. 228 Vgl. ebd., S. 322f., hier S. 322: Borchardt sei „nicht der Ansicht, dass alle Eheleute solche Liebesleute sein können wie Du und ich“.
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Subjektbildung. 229 Schon in Volterra hatte Borchardt der Geliebten geschrieben, sie solle ihre „sinnliche Natur“ 230 nicht verneinen. Für die affirmative biographische Interpretation des Durant wurde bislang ein nicht abgeschickter Brief Borchardts an den Germanisten Josef Nadler herangezogen. Die Dichtung sei die „verhüllte Darstellung einer seelischen Situation, die als Vorgang, Abbruch und unerschöpfliches Nacherlebnis meine Jugend bis in das erste Jahrzehnt des Mannesalters vollständig ausgefüllt und mit sich gesättigt hat“ 231. Im selben Brief an Nadler entwirft Borchardt aber auch eine „Weltformel des erotischen Begehrens“232 und versucht so nachträglich seine Dichtung aus sich selbst heraus zu ‚logifizieren‘. 233 Er habe einen historischen Zustand, für den es allerdings keine Zeugnisse (testes) gebe, in der Dichtung plausibel zu machen gesucht. Hätten die Minnesänger, die Provenzalen und Dante nach dem Wahlspruch gedichtet ‚Ich liebe Dich so sehr, dass ich Dich nicht mehr zu besitzen brauche‘, so habe ihn vielmehr das Konzept: ‚Ich liebe dich zu sehr, um Dich noch besitzen zu können‘ interessiert.234 Hieraus leitet Borchardt den Satz ab, er habe versucht, eine zwar angelegte, aber nie ausgeführte Tendenz im Durant zu vollenden: Er verhält sich zur mittelalterlichen Tradition wie Joram zur biblischen, indem er eine nicht zu Ende gekommene Tendenz der menschlichen Seele, hier die Polarität des Mannes gegen die Frau, wie dort die Polarität der Zeitlichkeit gegen die Ewigkeit, dort wo sie fragmentiert vorliegt aufgreift und zu Ende dichtet, dort bei Hiob hier bei Dante. 235
Der biographische Widerspruch, den Borchardt im Brief formuliert, löst sich dahingehend auf, dass nicht von einer Kongruenz zwischen dem seelischen Zustand und dem Durant auszugehen ist, sondern dass _____________ 229 Vgl.: „Und ein andermal übers Frauenideal wo ich Dir auch viele hübsche Sachen sagen könnte, vor allem über Griechen und Provenzalen. Jetzt aber will ich das Ideal ganz fahren lassen und meine reale liebe Herzensfrau aus Herzensgrunde auf den warmen Mund küssen, sie an mich drücken Brust auf Brust mit ihren Fingern spielen und zwischen zwei Küssen ins Ohr vom Wunsch der Nacht, vom Trieb des Bluts und der Seele, von aller meiner Erdensehnsucht zuflüstern, deren letztes Ziel sie und allein sie ist.“ Rudolf Borchardt an Karoline Ehrmann am 16.4.1905 aus Bozen, in: Borchardt, Briefe. 1895– 1906, Nr. 84, hier S. 339. 230 Rudolf Borchardt an Karoline Ehrmann am 29.8.1904 aus Volterra, in: Borchardt, Briefe. 1895–1906, Nr. 68, hier S. 237. 231 Rudolf Borchardt an Josef Nadler, September 1925, nicht abgesandt, in: Rudolf Borchardt, Briefe. 1924–1930, hg. v. Gerhard Schuster, München 1995, S. 104–109, hier S. 105. 232 Wyss, Rudolf Borchardt und Josef Nadler, in: Osterkamp (Hg.), Rudolf Borchardt und seine Zeitgenossen, S. 124. 233 Borchardt an Nadler, September 1925, nicht abgesandt, in: Borchardt, Briefe. 1924–1930, S. 107: „mit solchen Selbstdeutungsversuchen logifiziert man sich nachträglich halb im Scherze.“ 234 Vgl. ebd., S. 105f. 235 Ebd., S. 107.
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Borchardt für den Eros, der ihn als junger Dichter beschäftigt hatte, eine poetische Lösung suchte. Borchardts ‚Logifizierung‘ findet sich im Nachlassfragment zum Durant wieder, worin er Donat, dem ehemaligen Lehrer, seine Konzeption erklärt: Ich minne dich so sehr, Ich bedarf dein nicht mehr – Wie dünkt euch das? Mir krankte Weil ich dich nicht erlangte All mein Herz ungesund Von Minne ins Ferne und wund. Was heißt Minne überaus? Sie minnte über dich aus. (3121–3128)
Borchardts Hinweis von 1925, ihm sei es um einen erotischen Zustand gegangen, der das Objekt der Begierde überwinde, war jedoch im argumentativen Zusammenhang des Erstdruckes mit epitomiertem Schluss nicht umgesetzt worden. Aber selbst wenn man dieses Wissen surrogiert, bleibt der Bruch zum Ende der Handlung bestehen und unklar, weshalb Durant Adalais vergewaltigt. Diese Uneinheitlichkeit steht der poetischen Absicht, eine Tendenz der Überlieferung zu Ende denken zu wollen, entgegen, eine Absicht, die bereits zur Entstehungszeit, zumindest aber für die Zeit bis zum Erstdruck von Borchardt entwickelt worden war. Im Nachwort zum Joram (1907), einer fingierten Apokryphe aus dem Alten Testament, wertete der junge Autor die alexandrinisch gelehrte Poesie auf, 236 die in Kallimachos, dem Borchardt treu bleiben wird, 237 ihren Höhepunkt gefunden habe. Vom Gesichtspunkt des Klassischen sei die Nachahmung in klassischen Formen nicht epigonal, sondern originell und archaistisch. Erst die Unterscheidungen der historischen Wissenschaften hätten den Bruch mit der Überlieferung herbeigeführt und das nationale ‚Ganze‘ fragmentiert: Nun sind bei uns oberflächliche Scheidungen im Schwange, die unter Berufung auf eine Geschichte, die es nicht giebt und auf nichtssagende ästhetische Begriffe alle diese Praxis und so etwa die Kontinuität des homerischen Tones in späteren Jahrhunderten vom griechischen Wesen fortschwätzen und uns als alexandrinisch vergällen wollen. 238
Die historistische Betrachtung habe erst dazu geführt, den Archaismus im Rückgriff auf das geschichtlich Vorausgehende als Spiel der Gelehrten _____________ 236 Vgl. Rudolf Borchardt, Nachwort, in: Ders., Das Buch Joram, Leipzig 1907, S. 42–51, hier S. 42. 237 Vgl. auch Gerhard Schusters und Friedhelm Kemps Kommentar zu Borchardt, Vivian, S. 226: „Kallimachos, das verdiente weiter ausgeführt zu werden, war für Borchardt kein entlegener Autor, sondern das Vorbild dessen, der Philologie, Literaturkritik und Poesie in sich vereinigte.“ 238 Borchardt, Nachwort [zum Joram], in: Ders., Joram, S. 44.
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abzuqualifizieren. Dabei verkenne man die Bedeutung des Alexandriners Kallimachos, der „langsam wieder ein grosser Name“ 239 werde. Borchardt sieht keinen Widerspruch darin, „die eigenste, bewegendste, frischeste Angelegenheit in archaischen Formen vorzutragen“240. Das Sammeln von Fragmenten und ihre Deutung gehören zu den zentralen Aufgaben der Philologie, bzw. die Überlieferung verlangt nach der Philologie, insofern sie nur fragmentarisch vorliegt. Auch die nicht mehr existierenden oder nie geschriebenen Texte wie den Joram oder den Durant zählt Borchardt zu dieser Überlieferung. Der mittelalterliche Eros liegt fragmentiert vor, Borchardt führt ihn der Absicht nach zur Gänze, endet aber tatsächlich wieder im Fragment. Autorisiert erschienen ist Der Durant allein in jener Fassung mit epitomiertem Schluss von 1920. Die späteren Herausgeber Marie Luise Borchardt und Herbert Steiner haben ihn mit dem auch brieflich verbürgten Wissen, dass Borchardt den Text tatsächlich vollendet herausgeben wollte, ‚vollendet‘, indem sie den im Nachlass überlieferten Zwischentext einfach ergänzten. Die jüngsten Herausgeber haben diesen Schritt wieder rückgängig gemacht, den Text nach dem Erstdruck gedruckt und das von Borchardt aufgrund von Varianten ergänzte und kollationierte Nachlassstück im Anschluss als gesonderten Text ediert, dabei jedoch eine Verszählung beibehalten, die den eigentlichen Zusammenhang zwischen dem epitomierten Schluss und dem Nachlassstück suggeriert. Tatsächlich liegt dieses von vielen Varianten umgeben im Nachlass vor, Varianten, die, wie Borchardt in einem nie abgesandten Brief an den späteren Mitherausgeber Steiner keck formulierte, „dem Literarhistoriker hoffentlich alle Karten so verwirrt ha[ben], dass er neu und Alt [!] nicht mehr wird sondern können – kann ich selber es doch kaum mehr“241. Womöglich hätte Steiner für seine Edition, wenn ihn der Brief je erreicht hätte, berücksichtigt, dass der Durant Fragment geblieben ist. Im Kern handelt es sich bei dem Nachlassstück um fast 1500 Verse, die Durants Besuch der Pfingstmesse im Münster zu Antiochia weiter vertiefen und Borchardts anfangs diskutierte Selbstaussagen erweitern. Das Gespräch mit dem Lehrer Donat widmet sich der erotischen Problematik Durants eingehend. Aber auch wenn man wie Steiner diesen Teil hinzunimmt, wäre der Schluss wie schon in der Fassung von 1920 epitomiert. Der Durant, der ein ideelles Fragment ergänzen sollte, blieb selbst unvollendet. Es liegen für den Ausgang des epischen Geschehens auch im Nachlass keine Verse vor bzw. weiterhin die schon 1920 gedruckten Verse _____________ 239 Ebd., S. 45. 240 Ebd. 241 Rudolf Borchardt an Herbert Steiner im Juli 1935, nicht abgesandt, in: Borchardt, Briefe 1931–1935, S. 484–489, hier S. 489.
2. Rudolf Borchardts Durant und die moderne Seelenform
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1757–1952, welche die drei Jahre nach der Pfingstmesse zu Antiochia raffen. Dieser epitomierte Schluss handelt vom Tod des Grafen von Feitun, der einstweiligen Ablehnung des Eheangebots sowie der Hochzeit Durants mit der Witwe des Grafen von Feitun, Adalais, und deren Vergewaltigung in der Hochzeitsnacht. Das Epitom, also die abrisshafte Darstellung des Endes, hat Borchardt zumindest in den erhaltenen Nachlassteilen nicht verändert, sondern sich dort nur auf jenen Teil der Handlung konzentriert, der der epitomierten Handlung vorausgeht bzw. unmittelbar an die Antiochia-Sequenz anschließt. Der Durant ist also bereits als Fragment konzipiert und nicht allein Folge von Borchardts Unvermögen, die Handlung bis zur Katastrophe ausführlich zu entwickeln. Die Vergewaltigung erfolgt in jeder Version unvermittelt, ob nun in der des Erstdrucks von 1920 oder in den um das Nachlassfragment ergänzten Drucken der beiden Auflagen der Werkausgabe von 1957 bzw. 2003. Anders als Dante, der das vulgare nicht aus der Geschichte ableitet, sucht Borchardts restaurativer Ansatz die neue Gemeinschaftssprache für die Poesie hinter den Sprachschichten der Gegenwart bzw. zu einem geschichtlichen Zeitpunkt, der in Dantes Mittelalter fällt. Die Idee, Poesie aus einem geschichtlichen Zustand zu surrogieren, findet sich 1911 brieflich bereits formuliert: der genuine Archaismus greift in die Geschichte nachträglich ein, zwingt sie für die ganze Dauer des Kunstwerks nach seinem Willen um, wirft vom Vergangenen weg, was ihm nicht paßt, und surrogiert ihr schöpferisch aus seinem Gegenwartsgefühl, was er braucht […] 242.
Nicht Sehnsucht nach Vergangenheit, sondern „das resolute Bewußtsein ihres unangefochtenen Besitzes“ 243 sei sein Ausgang, und das Ziel nicht ‚Illusion‘, sondern ‚Travestie‘. Borchardts übersetzungstheoretische Unterscheidung zwischen einem ‚hybriden‘ und einem ‚genuinen Archaismus‘ 244 wird angesichts der Tatsache, dass für ihn zwischen Übersetzung und originärer Dichtung kein qualitativer Unterschied bestand, auch für das mittelalterliche Epyllion Der Durant relevant. Die Zusammenführung der aristotelischen Opposition, „Geschichte ist, was gewesen ist; Poesie ist, was hätte sein können“ 245, zu einem Zustand, der „hätte sein sollen, ja, […] hätte sein müssen“ 246, betrifft nun nicht mehr wie in Dantes Comedia. Deutsch die sprachliche Ebene, sondern die ‚Seelenform‘ des Protagonis_____________ 242 Vgl. Rudolf Borchardt an Josef Hofmiller am 9.2.1911, in: Borchardt, Briefe. 1907–1913, S. 352–359, hier S. 356. 243 Ebd. 244 Ebd., S. 353–356. 245 Borchardt, Epilegomena zu Dante. II, in: Ders., Prosa II, S. 522. 246 Ebd.
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V. Konjekturen mittelalterlicher Überlieferung
ten. Dass Borchardt zur Restauration dieser ‚Seelenform‘ den modernen Psychologismus ablehnt, wurde schon im Nachwort des Joram, seiner „fingierten Apokryphe“ 247 eines alttestamentlichen Autors, deutlich. Der Durant gehört zu Borchardts „Übersetzungen ohne Urtext“248. Als „Minnefiktion“249 kann das Werk den geistig sublimierten Eros in seiner kulturstiftenden Funktion 250 thematisieren, zugleich die im Konzept der hohen Minne angelegte Ausblendung der Sexualität und die daraus erwachsenden Probleme offen legen. Dem männlichen Subjekt der Minne ermangelt es an dem Vermögen, eine Beziehung zur Frau einzugehen – das ist Borchardts Einsicht: „Die psychische Konstellation schlägt nicht nur in grundsätzliche Beziehungslosigkeit zur Frau um […], sondern in Haßliebe“ 251. Borchardt leistet in der Dichtung etwas, das die affirmativ vorgehende Philologie zur Minnelyrik nicht konnte: Er stellt die Minnedichtung in Bezug zu der von ihm als modern postulierten erotischen Verfassung des männlichen Individuums und verabschiedet sie. Seine Dichtung ist keine Minnedichtung, nicht weil sie subjektiver bzw. nicht gesellschaftsbezogen sei,252 sondern weil sie die historische Distanz zur eigentlichen Minnedichtung aufhebt und damit die historische Spezifik der Minnedichtung leugnet. Borchardt denkt die Minne buchstäblich zu Ende, er zieht die unausgesprochenen Konsequenzen eines Konzepts und vollendet die überlieferte Tradition um den Preis ihrer Zerstörung. Borchardts Hermeneutik der Minne, seine Epochenkonstruktion und seine Übersetzungspraxis, wie sie Dantes Comedia. Deutsch belegt, sind keine bloßen geschichtlichen Rekonstruktionen, sondern sie ergänzen, was die Geschichte nicht überliefert oder gar nicht erst ausgeprägt hat. Damit radikalisiert der Dichter die philologische Praxis. Borchardt selbst rechtfertigte sein Verfahren mit der philologischen Autorität Moriz Haupt, der Konrad von Würzburgs Engelhard-Dichtung, die durch die Überlieferung verdorben worden sei, „in ‚klassisches‘ ‚Mittelhochdeutsch‘ zurückrezensiert“253 habe. Borchardt greift ebenfalls die Überlieferung auf, um sie wieder nach seinem Bilde herzustellen. Dabei ist sein Ansatz allerdings völlig idiosynkratisch und von keiner Disziplin kontrollierbar. Seine Konjekturen sind nicht Teil eines wissenschaftlichen Diskurses, aber sie gehen aus einem solchen hervor und holen bisweilen nach, was die Wissenschaft versäumt hat oder was ihr strukturbedingt _____________ 247 248 249 250 251 252 253
Kissler, „Wo bin ich denn behaust?“, S. 69. Ebd., S. 54. Hummel, Rudolf Borchardt, S. 221. ‚Minne als instrumentalisierter Eros‘ – das ist Hummels These ebd., S. 205–221. Ebd., S. 220. Darin sieht Hummel, ebd., S. 221, den Unterschied. Borchardt, Epilegomena zu Dante. II, Ders., Prosa II, S. 509.
2. Rudolf Borchardts Durant und die moderne Seelenform
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verwehrt blieb. Er weicht von den Germanisten und Romanisten ab, weil er nicht in den Grenzen der nationalen Überlieferung denkt, sondern an der ursprünglichen Einheit der Philologie festhält. So kann er die Vita Nuova zum Anlass nehmen, eine von Dante noch nicht gesehene Form der Minne auf Deutsch mit dem Anspruch zu dichten, einen Beitrag zur Hermeneutik des Eros – „sagen wir besser ݏȡȦ “ב254 – im europäischen Mittelalter geleistet zu haben. Das erotische Moment ist es schließlich, das Borchardt von der disziplinären Philologie trennt und das er aus den Zwängen der Disziplin, ihren Diskursregeln und Praktiken befreit. Der Arbeit am Durant, der sich dem mittelalterlichen Eros widmet, war die Beschäftigung mit dem antikplatonischen Eros in der Lysis-Übersetzung und im Gespräch über Formen vorausgegangen. Dieses entfaltet den Gedanken von der Sinnlichkeit der Form, die das erotische Begehren des Lesers freisetze, und ist zugleich voller Invektiven gegen die ‚gelehrte Rohheit‘, die „den Fluch der Schlange trägt, auf dem Bauche zu kriechen und Staub zu fressen ihr lebelang.“ 255 So kann er das Philologische freisetzen als einen poetischen Drang, Formen als das Sinnliche der Poesie zu erfahren und dem Zeugungsdrang nachzugeben: „Es ist aber heilig und recht, daß aus dem Kunstwerke das Sinnliche zuerst unsere Sinne anredet, Zeugungskraft uns nachzuzeugen zwingt, Liebe in einer heimlichen oder einer ungeheuren Form uns gewiß macht, daß wir lieben.“256 Ein Liebender wird bestimmt als jemand, der „Formen fühlt“257. Das ist die Idee, wie sie im Symposion entwickelt wird. 258 Für Borchardt ist nicht akzeptabel, dass die Philologie als Disziplin das Erotische als das Poetische ausblendet, und der Grund, weshalb er unmöglich ein zünftiger Philologe sein konnte. Er verstand im unmittelbaren zeitlichen Vorfeld der Durant-Konzeption, die er kurz nach seinem Austritt aus dem akademischen Betrieb 1902 begonnen hatte, die Überlieferung als „die Zustände einer lebendigen Welt“ 259, deren Erfahrung nicht notwendig des Kenners bedürfe: „Das unvollkommenste Verständnis eines antiken Kunstwerkes in seinen eigenen Formen ist fast immer mindestens ebensoviel, meist aber unendlich viel mehr wert, als das scheinbar vollkommene“260. _____________ 254 Borchardt an Josef Nadler, nicht abgeschickt, September 1925 (Borchardt, Briefe. 1924– 1930, S. 106). 255 Borchardt, Das Gespräch über Formen, in: Ders., Prosa I, S. 365. 256 Ebd., S. 348. 257 Ebd., S. 349. 258 Vgl. Steiger, Textpolitik, S. 72. 259 Borchardt, Das Gespräch über Formen, in: Ders., Prosa I, S. 342. 260 Ebd., S. 343.
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V. Konjekturen mittelalterlicher Überlieferung
Die Hinwendung von der Antike, die er studiert hatte, zum Mittelalter, das er studieren wollte, folgte aus der Erkenntnis, dass der Ursprung der europäischen Nationalkulturen in dem Moment stattgefunden habe, als die Antike ins vulgare transformiert worden sei. Damit gewinnen die mittelalterlichen Formen der Provenzalen, Dantes und der Minnesänger, welche den Eros nicht mehr homoerotisch, sondern erstmals als Frauendienst umkreisen und ob seiner Transzendenzkraft über das, was Ovid vorgegeben hatte, 261 hinausgehen, einen ausgezeichneten Wert im kulturellen Bildungsgang der Neuzeit. Borchardt wendet sich nicht nur ihren Formen zu, indem er übersetzt, sondern zugleich dem ‚sittlichen Gehalt‘ dieses modernen Eros in einer genuinen Form. Ihren Möglichkeitsgrund hat diese Form im Zustand der neuphilologischen Fächer, deren Versäumnisse und einseitige Entwicklungen sie aufzuheben beabsichtigt. Borchardt lieferte erst nachträglich im integrativen Konzept einer Mittelalterlichen Altertumswissenschaft das Paradigma, das seine poetische Form verständlich machen könnte. Trotz der Idee, die Lücke in der erotischen Literaturgeschichte zu füllen, ist seine Dichtung selbst Fragment geblieben; poetisch kann er die erotische Dichtung zwar nicht abschließen, aber deren Ende als Plan in Form des Epitoms skizzieren. Der Durant bleibt eine negative Figur, die zum Scheitern verurteilt ist und von seinem Verfasser am Ende des Gedichtes vernichtet wird: „Gott send ihm einen Pfeil | Mitten durch seine Kehle | Und walte seiner Seele“ (1949–1951). Aufgrund des fragmentierten Zustandes, in welchem der Eros gebrochen ist, ist er selbst wieder Bestandteil der Tradition, aus der er sich speist. Borchardt hat am Ende der Epilegomena zu Dante. I gesagt, die Commedia sei die Erfüllung der weltlichen Poesie der Provenzalen und die Vita Nuova „die Erfüllung der provençalischen und damit der mittelalterlichen Welt der leidenschaftlichen Seele“ 262. Wie Dante gegenüber den Provenzalen sieht sich Borchardt selbst gegenüber dem ganzen Mittelalter. So wie Dantes Comedia. Deutsch als geschichtliches Surrogat gedacht ist und eben nicht als Übersetzung der Divina Commedia, so schreibt sich Der Durant in die Überlieferung der erotischen Literatur des Mittelalters ein – in eine Literatur, die als Produkt der Philologie gelten darf. Für Borchardt ist damit die Einheit von Poesie und Philologie unauflöslich: „Wer die Deutsche Poesie hohen Stiles und menschlichen Gehaltes von der deutschen humanen Forschung trennen wollte, müßte das Herz der Nation durchhauen, in dessen Tiefen beide geschichtlich verwachsen liegen.“ 263 _____________ 261 Zu Ovid und den Provenzalen s. Borchardt, Epilegomena zu Dante. II, in: Ders., Prosa II, S. 502. 262 Borchardt, Epilegomena zu Dante. I, in: Ders., Prosa II, S. 471. 263 Borchardt, Epilegomena zu Dante. II, in: Ders., Prosa II, S. 483.
VI. Ausblick Die Literatur kann, aber sie muss nicht auf ihre Fachwissenschaft bezogen sein. Eine Perspektive sollte eröffnet, aber keine Generalerklärung für moderne Literatur gegeben werden, die sich nach den verschiedensten Richtungen als anschlussfähig erweist und deren Innovationspotentiale oft außerhalb der sie beobachtenden akademischen philologischen Disziplinen liegen. Bisweilen kann es sich aber ergeben, dass aufgrund einer philologischen Poesiekonzeption der Bezug zu jenen wissenschaftlichen Disziplinen, die das philologische Moment auffächern, stark ist. Geschichte, Überlieferung, Poetologie, Epistemologie bilden Aspekte moderner Literatur, die einen solchen Bezug eröffnen. Disziplinär ist Dichtung aber nicht nur, sobald sich ihre Gegenstände mit denen philologischer Disziplinen überschneiden, sondern auch insofern sie selbst zum Gegenstand der Disziplin und insofern sie von der Disziplin gebildet werden kann. Um Vereinseitungen zu vermeiden, ist es nötig, den Ermöglichungscharakter der germanistischen Fachwissenschaft für jeden Fall ausführlich zu begründen. Viele Texte stehen in gar keinem Bezug zur Disziplin, andere lassen Berührungen erkennen, einigen kann eine disziplinäre Poetik nachgewiesen werden. Die Frage nach dem disziplinären Bezug ist nicht nur die nach einer empirischen Begebenheit, sondern zugleich ein Untersuchungsdispositiv, welches das Verhältnis sowohl expliziter Dichter- als auch impliziter Werkpoetiken zu den fachwissenschaftlichen Pendants bestimmt. Nicht dass in der Literaturwissenschaft das Wissen der Literatur generiert würde, aber es wird bisweilen durch sie gefiltert. Der Unterschied zwischen disziplinärem und literarisch-poetischem Schreiben liegt nicht so sehr in den Gegenständen als vielmehr in der Konzeption beider Autorschaften. Wissenschaftler sind Teil einer Diskursgemeinschaft, deren Vertreter miteinander kommunizieren und ständig ihre Spielregeln aushandeln. Die dichterische Autorschaft ist dagegen darum bemüht, verbindliche Diskursregeln zu unterminieren. Zumindest in der Moderne war die dichterische Autorschaft ihrem Anspruch nach anti-disziplinär. Damit ist nicht ausgeschlossen, dass Dichter an dem Wissen der Fachwissenschaft partizipierten, sondern angezeigt, wie der weitere Umgang mit diesem Wissen sich vollzog.
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VI. Ausblick
Eine Betrachtungsweise, die für literaturgeschichtliche Fragen die Fachgeschichte heranzieht, gewinnt auch wegen des hohen Explikationsgrades des wissenschaftlichen Diskurses. Nicht selten werden in die Poesie Begriffe und Konzepte eingespeist und dabei dekontextualisiert. Entweder werden sie selbst oder ihre aus dem Übertragungsprozess resultierende Differenz durch den Vergleich mit dem Fachkontext erhellt. Allerdings ist die Disziplin kein derart geschlossenes Gebilde, dass man sie in anschaulicher Plastizität zur Darstellung bringen könnte. Eher müsste man von einem Konglomerat verschiedener Diskurse sprechen, die auch von zeitlichen Ungleichzeitigkeiten zeugen. Anders als in den empirischen Naturwissenschaften gibt es in der Germanistik prinzipiell unbegrenzte Laufzeiten. Nicht nur positivistische Forschungen zur Faktenlage eines Autors, sondern auch methodische Ansätze bleiben noch lange nach dem Tod der Wissenschaftler rezipierbar. Es gibt Renaissancen von Akteuren, die zu Lebzeiten vom Wissenschaftssystem ausgegrenzt wurden. Einen Paradigmenwechsel, der das ganze Fach umwälzte, wird man schwerlich ausmachen können. Zwar werden einzelne Paradigmen durchaus für immer ausgeschieden, aber die Realität des Faches erweist sich als pluralistisch. Der Umgang mit den nicht geteilten Methoden der anderen Kollegen kann zu kritischen Diskussionen führen, doch in der breiten Praxis herrscht eine gewisse Toleranz. Für die Erforschung des disziplinären Bezugs erfordert diese fachliche Zersplitterung genaues Hinsehen. Ein Schriftsteller kann gegen die Germanistik polemisieren, tatsächlich aber damit eine ganz bestimmte Formation meinen, die bisweilen von einem einzigen Wissenschaftler repräsentiert wird. Nicht die Disziplin, sondern nur ein von ihr verwaltetes epistemisches Moment steht in Frage. Für die detaillierte Erforschung ist deshalb die Kenntnis der Fachgeschichte unabdingbar. Vielleicht ist es deshalb kein Zufall, dass gerade die Geisteswissenschaften eine rege fachgeschichtliche Forschung etabliert haben. Die Fachgeschichte der Philologien besitzt nicht allein die genealogische Funktion, die Herkunft der eigenen Methoden besser zu verstehen; das von ihr gewonnene historische Kontextwissen wird tatsächlich gebraucht, damit der nicht ungewöhnliche Rekurs auf die ältere Forschung methodologisch reflektiert verläuft. Warum aber bislang die Fachgeschichte als isoliertes Phänomen betrachtet wurde, ist nur verständlich vor dem Hintergrund eines strengen Wissenschaftsverständnisses, dass zwischen Objekt- und Beobachterebene eine scharfe Grenze zieht. Weder entspricht diese Forderung der disziplinären Realität noch der poetischen. Philologen werden zu Dichtern bzw. entgrenzen ihren Diskurs; Dichter studieren die Forschung, übernehmen ihre Urteile oder aber setzen sich produktiv damit
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auseinander. Tatsächlich also ist die Grenze zwische Disziplin und Dichtung permeabel. Eine verdienstvolle wissenschaftsgeschichtliche Forschung, die in den letzten Jahrzehnten entstanden ist, kann durch die Rückbindung an die Literaturgeschichte aus ihrem Schattendasein innerhalb der Germanistik befreit werden. Neben den systematischen Fragen nach den verschiedenen Kontakt- und Interaktionsformen zwischen Literatur und ihrer Wissenschaft gibt es verschiedene Anschlussmöglichkeiten für eine historische Forschung. Insgesamt sollen sieben Forschungsparadigmen vorgestellt werden, die sich in der Praxis überschneiden können. Sie entsprechen einerseits der Systematik der Studie und laden andererseits dazu ein, den historischen Rahmen zu erweitern: 1. Bildungsgeschichte; 2. Institutionen- und Disziplingeschichte; 3. Produktionsgeschichte; 4. Rezeptions- und Wirkungsgeschichte; 5. Geschichte der literarischen Kultur; 6. Geschichte der deutschen Literatur in der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts; 7. Vergleichende Literaturgeschichte. 1. Die bildungsgeschichtliche Forschung gehört zur Grundlagenforschung. Die Quellen sind da: Die humanistischen Gymnasien informieren in ihren Schulprogrammen über die literarische Bildung junger Autoren; die bildungsgeschichtliche Rolle der Universitäten lässt sich mithilfe der Universitätsarchive erschließen. Aufgabe ist es, Hinweise in biographischen Lexikoneinträgen wie den, dass ein Autor Deutsche Philologie studierte, mit Bedeutung zu füllen. 2. Es böte sich eine feldtheoretisch angelegte Erforschung der Kontaktformen an, die zwischen Wissenschaftlern und literarischen Autoren bestanden haben. Die Konstellationsforschung müsste die empirischen Wechselbeziehungen zwischen Wissenschaftlern und Autoren auf institutioneller Ebene untersuchen. Es geht um das Engagement von Germanisten zur Vergabe von Literaturpreisen, um akademische Abhängigkeiten und Freundschaften, die in Briefwechseln dokumentiert sind, Poetikdozenturen, aber auch um den Bereich der feuilletonistischen Kritik, der von professionellen Germanisten bestritten wird. 3. Für das Verständnis der Produktionsvorgänge, der Organisationsprinzipien und Intentionen ist die Einbeziehung des Fachwissens dienlich. Sobald sich jene Aspekte mit wissenschaftlichen Diskussionen überschneiden, kann eine vergleichende Analyse erhellend sein. Dieser Bereich besitzt eine wesentliche Bedeutung für die Hermeneutik der Texte. 4. Die Rezeptionsgeschichte eines Autors findet in der Moderne zu großen Teilen in der germanistischen Disziplin statt; auch die Wirkungsgeschichte wird im disziplinären Diskurs organisiert. Es wäre naiv, zu glauben, Kanonisierungsprozesse seien nur ökonomisch bedingt durch
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das Interesse des Buchhandels und könnten ohne das Eingreifen der Wissenschaft erfolgen. Bereits seine Beobachtung adelt den Dichter. Die formalen, ästhetischen und politischen Kriterien, nach denen zeitgenössische Literatur Gegenstand der Beobachtung werden kann, sind allerdings so vielseitig geworden, dass es fast schon interessanter zu fragen wäre, warum einem Autor die Aufmerksamkeit versagt geblieben ist. 5. Die Erforschung des Verhältnisses von Poesie und Philologie bringt neue Erkenntnisse zu Tage, die als Bausteine für eine literarische Kultur der Moderne verwendet werden können. Neben die Literaturkritik in ihren verschiedensten medialen Formen ist, zumindest in Deutschland, die Disziplin getreten. Literatur kann mit Blick auf beide Größen entstehen und von beiden beobachtet werden. Autoren wechseln zwischen den verschiedenen Genres wie zwischen verschiedenen Sprachen oder sie loten nur die Zwischenräume aus, profitieren also von der Spannung der Diskursbereiche. Bislang wurde die Literaturgeschichte der Moderne als Wechselspiel zwischen Kritik und Poesie erzählt. In der Disziplin zeigt sich eine dritte Größe. Diese Überlegung gewinnt an Plausibilität, wenn man bedenkt, dass in einigen Wissenschaftskulturen die Literaturkritik tatsächlich akademisiert wurde, womit eine kulturkomparatistische Perspektive eröffnet wird (7). 6. Zu überlegen wäre auch, wie sich die Erforschung der PoesiePhilologie-Konstellation in die zweite Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts und in die Gegenwart übertragen ließe. Das Konzept einer disziplinaffinen Literatur bleibt weiterhin von Interesse, wobei zwei entscheidende Veränderungen innerhalb des disziplinären Entwicklungsganges zu beachten sind: die Abspaltung der Linguistik von Philologie und Literaturgeschichte sowie die Theoretisierung des wissenschaftlichen Diskurses und eine damit verbundene gesellschafts- und ideologiekritische Einstellung der Wissenschaft, die das Moment der Kritik nicht mehr nur auf den Text richtet. Aufgrund der Aufwertung des Konzeptes Gegenwartsliteratur und der sich daraus ergebenden personalen Verflechtungen zwischen Universitätsgermanistik, Literaturbetrieb und den literarischen Autoren hat die Bedeutung der Disziplin für den literaturgeschichtlichen Prozess ab der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts eher zu- als abgenommen. So würde man nicht bloß Autoren zu berücksichtigen haben, die nachweislich ein philologisch-kulturwissenschaftliches Studium absolviert haben wie Martin Walser (*1927), Peter Hacks (1928–2003), Christa Wolf (1929–2011), Hans Magnus Enzensberger (*1929), Botho Strauß (*1944), Winfried Georg Sebald (1944–2001), Herta Müller (*1953), Rainald Goetz (*1954), Thomas Kling (1957–2005), Durs Grünbein (*1962), Yoko Tawada (*1960), Ulrike Draesner (*1962), Lutz Seiler (*1963), Christian Kracht (*1966), Daniel Kehlmann (*1975) und viele mehr, sondern auch
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all jene, deren literarische Arbeit sich auf wissenschaftliche Fragen zurückführen lässt. Wenn daher die literarische Produktion der ehemaligen DDR, Österreichs, der Schweiz, der alten und der neuen Bundesrepublik in Zusammenhängen mit der Germanistik und anderen Philologien steht – sei es bildungsbiographisch, institutionengeschichtlich, sei es werkpolitisch oder produktionsästhetisch, sei es einfach nur deshalb, weil bestimmte Wissensformationen, Fragestellungen und Formprinzipien in der poetischen Literatur zuvor von der Disziplin als Erkenntnisse gewonnen worden waren –, dann bietet sich hier ein fruchtbares Feld an, auf dem sich die literarische Kultur auch der jüngsten Vergangenheit in ihrer Vielfalt beschreiben ließe. Kausalgenetisch darf dabei keinesfalls vorgegangen werden, denn das bedeutete die Priorität des wissenschaftlichen Diskurses gegenüber der Dichtung und verkennte die originäre, mit dem wissenschaftlichen Diskurs nach der Transformation in die Poesie nicht mehr kompatible Sichtweise der Poesie. Die disziplinäre Rückbindung der Literatur an die Geschichte der Philologien und Literaturwissenschaften besitzt semantischen Mehrwert und schließt jene Zusammenhänge auf, die nicht aus der realpolitischen Geschichte und der sozialhistorischen Formation erklärt werden können, sondern aus dem Entwicklungsgang der Disziplin. 7. Sämtliche Bereiche haben in verschiedenen nationalen Wissenschaftskontexten eine andere Spezifik. Bildungsbiographien divergieren national. In Frankreich etwa war um 1900 das rhetorische Paradigma stärker als in Deutschland ausgeprägt. Auch sind die philologischen Wissenschaften anders organisiert, greifen auf andere Traditionen zurück. Hieraus ergeben sich wiederum andere produktions- und rezeptionsgeschichtliche Umgangsformen. Sicherlich ist es dort, wo Literaturwissenschaft noch als criticism und nicht als science verstanden werden kann wie im angelsächsischen Raum, einfacher, zwischen beiden Bereichen von Poesie und Kritik zu wechseln, weil man sich nicht mit derselben Radikalität als forschender Beobachter versteht, sondern auch als Akteur des literarischen Feldes. Der Vergleich der verschiedenen nationalen und kulturellen Poesie-Philologie-Konstellationen wäre eine lohnende Aufgabe.
VII. Anhang 1. Abkürzungen und Siglen 1.1. Abkürzungen DLA DVjs FS JbDS HU UA LMU Monacensia UA s. a. s. l. So Wi
Deutsches Literatur Archiv Marbach Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte Festschrift Jahrbuch der Deutschen Schillergesellschaft Humboldt-Universität zu Berlin, Universitätsarchiv Ludwig-Maximilians-Universität München Münchener Stadtbibliothek Universitätsarchiv sine anno sine loco Sommersemester Wintersemester
1.2. Siglen ES
Ernst Stadler, Dichtungen, Schriften, Briefe. Kritische Ausgabe, hg. v. Klaus Hurlebusch/Karl Ludwig Schneider, München 1983. GKFA Thomas Mann, Große kommentierte Frankfurter Ausgabe. Werke – Briefe – Tagebücher, hg. v. Heinrich Detering/Eckhard Heftrich/Hermann Kurzke/Terence J. Reed/Thomas Sprecher/Hans R. Vaget/Ruprecht Wimmer, Frankfurt a. M. 2001ff. HWPh Joachim Ritter † (Hg.), Historisches Wörterbuch der Philosophie, völlig neubearbeitete Ausgabe des Wörterbuchs der philosophischen Begriffe von Rudolf Eisler, 13 Bände, Basel/Stuttgart 1971–2007. IGL Christoph König (Hg.), Internationales Germanistenlexikon. 1850–1950, 3 Bände, Berlin/New York 2003. KW Hermann Broch, Kommentierte Werkausgabe, 13 Bände, hg. v. Paul Michael Lützeler, Frankfurt a. M. 1974–1981.
2. Zitierte Literatur 2.1. Ungedruckte Quellen Andrian, Leopold von, an Oskar Walzel (Briefe), in: DLA A:Walzel. Askanischer Verlag an Oskar Walzel (Brief vom 13.4.1917), in: DLA A:Walzel. Bahr, Hermann, an Julius Petersen (Briefe vom 30.7./21.9.1929), in: DLA D:Petersen 62.45/1–2. Ball, Hugo, an Artur Kutscher (Brief vom 26.9.1913), in: DLA A:Kutscher 57.4252. Binding, Rudolf Georg, an Hermann Pongs (Briefe vom 23.6./3.7./25.10./ 13.11.1924), in: DLA A:Pongs 71.620/1–4. Borchardt, Rudolf, Abgangszeugnis, in: HU UA, Abgangszeugnis Rudolf Borchardt vom 17.3.1896. Ders. an Hermann Pongs (Brief vom 30.6.1926), in: DLA A:Pongs 72.622/1. Ders. an Julius Petersen (Brief vom 15.11.1930), in: DLA D:Petersen 62.87. Bühler, Charlotte, an Oskar Walzel (Brief vom 27.4.1919), in: DLA A:Walzel. Curtius, Ernst Robert, an Oskar Walzel (Brief vom 28.12.1918), in: DLA A:Walzel. Däubler, Theodor, an Julius Petersen (Brief vom 5.1.1932), in: DLA D:Petersen 62.122/2. Ders. an Oskar Walzel (Brief vom 31.12.1919), in: DLA A:Walzel. Döblin, Alfred, an Oskar Walzel (Brief vom 1.6.1931), DLA A:Walzel, 91.137.3. Ders. an Oskar Walzel (Brief vom 12.1.1932), in: DLA A:Walzel. Edschmid, Kasimir, an Artur Kutscher (Briefe vom 21.6.1919/23.5.1920), in: DLA A:Kutscher 57.4440/41. Ehrenstein, Albert, an Oskar Walzel (Briefe von 1916–1933), in: DLA A:Walzel. Ernst, Paul, an Julius Petersen (Brief vom 16.12.1923), in: DLA D:Petersen 62.158/1. Flex, Walter, an Elias von Steinmeyer (6 Briefe), in: UB Erlangen Ms 2616. Hasenclever, Walter, an Oskar Walzel (Briefe vom 29.12.1920/7.10.1921/26.10.1921), in: DLA A:Walzel. Henschke, Alfred, Abgangszeugnis, in: HU UA Abgangszeugnis Alfred Henschke vom 7.10.1911, Matrikel 692.101. Ders. Belegbogen, in: LMU UA Belegbogen Stud. BB. 339 Winter 1911/12, Alfred Henschke. Hofmannsthal, Hugo von, an Hermann Pongs (Brief vom 16.6.1926), in: DLA A:Hofmannsthal 71.634. Ders. an Artur Kutscher (Brief vom 1.2.1908), in: DLA A:Kutscher 57.4720. Holz, Arno, an Julius Petersen (Briefe 1921–1922), in: DLA Marbach A: Petersen D 62. 235/1–10. Ders. Materialverzeichnis zum Dafnis, 10 Bl., in: Arno Holz Archiv der Landesbibliothek Berlin, Nr. 6885. Ibel, Rudolf, an Oskar Walzel (Brief vom 30.11.1928), in: DLA A:Walzel. Johst, Hanns, an Artur Kutscher (Brief von 1917, undatiert), in: DLA A:Kutscher 5.4761/58. Ders. an Oskar Walzel (Brief vom 20.5.1916), in: DLA A:Walzel.
430
VII. Anhang
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2. Zitierte Literatur
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VII. Anhang
Ders., Hermann Brochs Tod des Vergil und Thomas Manns Lotte in Weimar. Zwei Exilromane, in: Kessler/Lützeler (Hg.), Hermann Broch, S. 263–272. Zymner, Rüdiger, „Da ich weder ein gebohrner Schlesier / noch auß Meissen bün“. Die Lieder des ‚Schäfers Dafnis‘ (von Arno Holz), in: Jens Stüben (Hg.), Ostpreußen, Westpreußen, Danzig. Eine historische Literaturlandschaft, München 2007, S. 409–423.
3. Personenregister Adler, Alfred 71 Adler, Paul 73, 118, 125 Agamben, Giorgio 24 Alexis, Willibald 161 Alewyn, Richard 92 Altenberg, Peter 63, 68 Alverdes, Paul 44 Andrian-Werburg, Leopold von 73 Arent, Wilhelm 171f. Aretino, Pietro 51 Arnaut Daniel 33, 94, 371, 382f., 395, 406–412, 414 Arnim, Achim von 27, 45, 84, 115, 119, 129 Augustus [Gaius Octavius] 311, 314 Bach, Alfred 109 Bachmair, Heinrich F. S. 81 Badt, Bertha 107 Bahr, Hermann 68, 73, 75, 77, 98, 256 Balduin I. 402 Balduin II. 402 Ball, Hugo 44, 82, 86, 294 Balzac, Honoré de 51, 261 Bartels, Adolf 63, 192, 197, 252f. Bassermann, Alfred 409 Baudelaire, Charles 415 Bausch, Eugenie 82 Becher, Johannes R. 50, 71f., 81, 118 Becker, Julius Maria 72 Benda, Oskar 151 Benjamin, Walter 3, 101, 145f., 150, 193, 336, 390f. Benn, Gottfried 39, 42, 118, 125, 127, 135, 146–149, 169, 251, 254, 374 Benrath, Henry [Albert Heinrich Rausch] 43 Berend, Eduard 338, 341, 362 Bergemann, Fritz 50 Bergengruen, Werner 43 Beriger, Leonhard 302–305 Bernanos, Georges 41 Bernart de Ventadorn 406 Bernays, Michael 21, 48, 186, 271 Bertram, Ernst 22, 37, 50, 65, 68, 146, 217f., 223, 225–228, 230, 234f.
Beutler, Ernst 49, 218 Beuttenmüller, Hermann 349 Bielschwosky, Albert 170, 214, 227, 245f. Bienert, Ida 73 Bierbaum, Otto Julius 47, 63, 68, 193 Binding, Rudolf Georg 93f. Bithell, Jethro 103 Blaß, Ernst 58, 118, 136, 147, 149–151, 153f. Blei, Franz 5, 43, 102, 294 Bloedau, Carl August von 161 Bluth, Karl Theodor 43 Boccaccio, Giovanni 129 Boeckh, August 116, 384 Bodmer, Johann Jakob 273, 387 Bodmer, Martin 400 Boldt, Paul 43 Borchardt, Emilie, geb. Leo 374 Borchardt, Marie Luise, geb. Voigt 418 Borchardt, Rudolf 3, 7, 10, 23, 29, 50, 65, 92, 94, 97, 99, 150, 225, 298, 310f., 325f., 354, 370–422 Borinski, Karl 90, 115 Bosch, Rudolf 133 Bourdieu, Pierre 14 Brahm, Otto 134, 173, 329 Brandenburg, Hans 84 Braun, Hanns 44 Braungart, Hermann 174 Brecht, Bertolt 4, 34, 39, 56, 69, 83, 86, 294 Brecht, Walther 22, 264, 373 Brentano, Clemens 45, 115, 119 Breymann, Hermann 332 Brinkmann, Richard 113 Brinkmann, Rolf Dieter 55 Brockes, Barthold Hinrich 222 Brod, Max 112, 118, 125 Brodnitz, Käthe 86 Brody, Daniel 292, 297 Browning, Robert 51, 405 Brümmer, Franz 38, 220 Buber, Martin 125, 145f., 357, 359 Buchwald, Reinhard 50 Büchner, Georg 39, 45, 121, 129
482
VII. Anhang
Bühler, Charlotte 117 Burckhardt, Jacob 35, 116, 386–388 Burdach, Konrad 37, 157, 172, 191, 291, 300, 330f., 378, 381, 384, 392, 398, 422 Busch, Wilhelm 181 Busse, Carl 44, 85 Caesar, Gaius Iulius 39 Capellanus, Andreas 404 Cassirer, Ernst 115, 213–215, 291, 335, 339, Castle, Eduard 152 Cato der Ältere [Marcus Porcius Cato] 204 Catull [Gaius Valerius Catullus] 203, 326, 373 þHFKRY, $QWRQ3DYORYLÿ51 Cellini, Benvenuto 308 Chrétien de Troyes 129, 339, 356 Christiansen, Broder 151 Cicero [Marcus Tullius Cicero] 163, 328 Claudius, Matthias 300, 316 Conrad, Georg Michael 80, 84, 89 Coster, Charles de 129 Croce, Benedetto 302, 376, 380 Crusius, Otto 332 Curtius, Ernst Robert 85, 117, 171, 218, 261, 270, 291, 294, 311, 378 Cysarz, Herbert 59, 105, 264, 291 Dach, Simon 200 Däubler, Theodor 72f., 97, 99, 118, 125, 127 Dahn, Felix 63 Dante Alighieri 10, 94, 97, 129, 292, 370, 377–379, 381–383, 388, 391, 393f., 395f., 397, 399, 403–421 Dauthenday, Max 255 Davidsohn, Georg 132f. Dehmel, Richard 59, 68, 220, 258, 264 Demokrit 205 Demolder, Eugene 129 Dessoir, Max 42, 44, 133, 137, 153, 156 Diderot, Denis 51, 271 Diebold, Bernhard 44 Diels, Hermann 191, 373, 387 Diez, Friedrich 391, 393, 396, 402, 405– 408 Dilthey, Wilhelm 59, 77, 112, 131f., 134, 149, 198, 223, 231, 245 Dinger, Hugo 82
Döblin, Alfred 5, 58, 72, 76, 92, 94–100, 124f., 132, 155, 294 Donatus, Aelius 404 Dornseiff, Franz 151 'RVWRHYVNLM)sGRU0LFKDMORYLÿ 51 Draesner, Ulrike 426 Droste-Hülshoff, Annette 45, 107 Du Bois Reymond, Emil 176 Düber, Rudolf 161 Eckermann, Johann Peter 211, 227, 237, 310 Eckhart von Hochheim 129 Edschmid, Kasimir [Eduard Schmid] 43, 71, 75, 88, 103, 121–130, 169, 226 Eichendorff, Joseph von 178, 220, 300 Einstein, Albert 116 Einstein, Carl 136–139, 161–167, 279 Ehrenbaum-Degele, Hans 43 Ehrenstein, Albert 58, 71, 78, 118 Ehrmann, Karoline 394, 414–416 Ehrismann, Gustav 28, 356 Eleonore von Aquitanien 402 Eliot, Thomas Stearns 395, 407 Elster, Ernst 28, 93, 134, 148f., 161 Elster, Hans Martin 56f. Empedokles 318 Enders, Carl 28, 63, 68, 95 Enzensberger, Hans Magnus 55, 426 Erdmann, Karl Otto 131 Ermatinger, Emil 37, 153, 216 Ernst, Otto 68 Ernst, Paul 55, 84, 91, 97f. Ettlinger, Josef 193 Eulenberg, Herbert 66 Faesi, Robert 30, 54, 216, 218 Fallersleben, Heinrich Hofman von 168 Feuchtwanger, Lion 23, 44f., 80 Ficker, Ludwig von 43 Fiedler, Hermann Georg 270 Fischer, Kuno 133 Fischer, Hans W. 185f., 196 Flaischlen, Cäsar 44, 124f., 253 Flake, Otto 43, 250, 261, 269 Flaubert, Gustave 51, 110, 129, 338 Fleißer, Marieluise 86 Fleck, Ludwik 15 Flex, Walter 45f. Folquet von Marseille 394, 402f.
3. Personenregister Fontane, Theodor 22, 91, 135, 253 Foucault, Michel 15–17, 39, 168 Fränkel, Jonas 30, 49 Frank, Bruno 44 Frank, Leonhard 125 Freud, Sigmund 235, 351f., 366 Freytag, Gustav 21f., 61, 161, 168f. Friedrich von Hausen 393, 403 Friedrich Wilhelm III. 330 Fulda, Ludwig 97 Geibel, Emanuel 53 George, Stefan 23, 34, 36, 46, 58, 61, 66, 91, 120, 135, 144, 147, 150–154, 160, 225, 249, 255, 262, 264, 271, 312, 337, 342, 345, 356, 371, 374, 377, 393, 403, 405 Gerhard, Adele 232 Gerhard, Melitta 232, 352 Gervinus, Georg Gottfried 37, 85, 175, 194 Gide, André 33, 51, 297 Gmelin, Hermann 406 Goedeke, Karl 168, 175f., 193–195 Goethe, August von 237f., 240 Goethe, Johann Wolfgang 2, 8, 21, 30, 42, 44, 48–51, 54, 57, 60, 64, 71, 73–75, 80, 99, 105f., 109, 116f., 125, 129, 152, 156, 159–161, 164, 169–171, 179, 187, 198, 200, 211–218, 221f., 224, 227–246, 247, 262, 264, 271f., 281, 294, 297f., 300, 302, 306f., 310, 313, 322, 326f., 332, 335f., 339, 343, 351f., 370, 415 Goetz, Rainald 426 Gogh, Vincent van 129 *RJRO1LNRODM9DVLO·HYLÿ 129 Goll, Claire, geb. Aischmann, verh. Studer 118 Goll, Iwan 118 Golther, Wolfgang 358 *RU·NLM 0DNVLP >$OHNVHM 0DNVLPRYLÿ Peškov] 61, 67 Gottfried von Straßburg 280, 354, 393 Gottlieb, Elfriede 223 Gottsched, Johann Christoph 14, 120, 176, 197, 273 Grabbe, Christian Dietrich 83 Greflinger, Georg 196 Grillparzer, Franz 44, 303 Grimm, Hermann 22, 374
483
Grimm, Jacob 29, 33, 106, 237, 279f., 312, 359 Grimm, Wilhelm 29, 279f., 399 Grimmelshausen, Hans Jakob Christoffel von Gröber, Gustav 260, 395 Grünbein, Durs 426 Günther, Alfred 72f. Günther, Johann Christian 193, 196–200, 222, 230, 343 Gütersloh, Paris von 118 Gumpert, Martin 118 Gundolf, Friedrich 5, 23, 37, 43, 72, 102, 105, 110, 117, 135, 145f., 170, 214, 219, 228, 230, 247, 269–271, 300, 336, 342 Gurlitt, Ludwig 333 Haas, Willy 377f. Hacks, Peter 90, 426 Hadwiger, Victor 43 Haecker, Theodor 303, 311f., 322 Halbe, Max 68, 89, Hamann, Johann Georg 176, Hamann, Richard 128, 228, 236 Hamburger, Käte 218, 230 Hamsun, Knut 129 Hardekopf, Ferdinand 43 Hardenberg, Henriette 118 Hartmann, Gottfried 332 Hartmann, Moritz 133 Hartmann von Aue 249, 258f., 266f., 273, 276, 278–285, 332, 393f. Haskins, Charles Homer 386 Hasenclever, Walter 39, 45, 72, 104, 107, 118 Hatvani, Paul 128, 133 Hatzfeld, Adolf von 118, 222f. Haupt, Moriz 210, 387, 420 Hauptmann, Gerhart 66, 83, 156, 347, 358, 362 Hausenstein, Wilhelm 127 Hauser, Otto 395, 407 Hayn, Hugo 195f. Hebbel, Friedrich 80, 83, 85, 90, 169 Hecker, Max 49, 234 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 85, 276, 302, 312, 315, 345 Hegner, Jacob 72f. Heidegger, Martin 322
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VII. Anhang
Heine, Heinrich 45, 49, 156, 159–161, 168, 244 Heinrich von Veldeke 393 Heinse, Wilhelm 129 Heinzel, Richard 68f., 151 Helbling, Carl 216 Hellingrath, Norbert von 29, 46 Henckell, Karl 84 Hennecke, Hans 43 Henning, Rudolf 260 Herder, Caroline 246 Herder, Johann Gottfried 12, 51, 70, 103, 106, 109, 123, 164, 176, 233, 260, 269, 272, 301, 371f., 378, 384, 387, 389–391, 394, 399 Hermand, Jost 250 Herrad von Landsberg 275 Herrmann-Neiße, Max 73, 118 Herodot 163 Herrmann, Max 99, 156, 332 Hertz, Wilhelm 348, 351, 354–358, 364f., 396 Hesse, Hermann 63, 66, 68, 95 Hessel, Franz 43 Hettner, Hermann 22, 116 Heym, Georg 39f., 58, 71, 74f., 112f., 118, 136, 164, 249, 251, 254 Heymel, Alfred Walter 47f., 374 Heynicke, Kurt 118 Heyse, Paul 22, 267, 354, 393, 406 Heusler, Andreas 156, 303, 360 Hildebrand, Adolf von 287 Hildebrand, Rudolf 330 Hiller, Kurt 24, 74, 127, 136–139, 149 Hirschfeld, Otto 373 Hoddis, Jakob van 136 Hölderlin, Friedrich 12, 29, 46, 71, 127, 129, 144, 318, 326, 343f. Holm, Korfiz 81, 84, 89 Hofmannsthal, Hugo von 1, 22f., 34, 43, 46f., 50f., 63, 68, 73, 87f., 92, 94, 120, 150, 225, 252, 261, 263, 287, 371, 379, 381, 383 Hofmiller, Josef 419 Holz, Arno 2, 7f., 91, 93, 131f., 135, 158, 169–210, 252, 256 Horaz [Quintus Horatius Flaccus] 163, 200, 203,
Homer 71, 125, 144, 162–165, 312–314, 319, 332, 341, 359, 393, 417 Huch, Friedrich 44, 351 Huch, Ricarda 47, 50, 63, 66, 91, 223 Huebner, Friedrich Markus 115 Hübschmann, Heinrich 260 Hülsenbeck, Richard 118 Hünich, Fritz Adolf 50 Humboldt, Wilhelm von 14, 70, 321, 330, 333, 372 Ibsen, Henrik 56, 254 Ibel, Rudolf 338 Ingarden, Roman 291 Israel ben Elieser 129 Jacob, Heinrich Eduard 114, 136 Jacobowski, Ludwig 27, 172 Jacobsen, Jens Peter 67 Jaeger, Werner 18, 64, 372 -DNREVRQ5RPDQ2VLSRYLÿ, 316 Jammes, Francis 261, 277 Janssen, Magdalena 82–85 Jean de Meung 411 Jellinek, Max Hermann 196 Jerschke, Oskar 193 Johst, Hanns 43, 65f., 72, 83, 86, 89, 93, 118, 169 Jolles, André 49 Jung, Franz 125f. Kästner, Charlotte 216, 236–246 Kästner, Erich 44, 105–107 Kafka, Franz 67, 60, 125, 336, 378 Kahler, Erich von 290 Kaiser, Georg 93, 99, 141 Kaiser, Wilhelm 161 Kallimachos 326, 417f. .DQGLQVNLM9DVLOLM9DVLO·HYLÿ58, 79, 158 Kant, Immanuel 76, 176, 293 Kasack, Hermann 118, 145, 156, 363 Kassner, Rudolf 50, 374 Kauffmann, Friedrich 175 Kayser, Rudolf 40, 45, 103, 115–121 Kehlmann, Daniel 426 Ker, William Paton 370 Kerr, Alfred 101, 213, 329 Kersten, Kurt 45, 329 Kesten, Hermann 44 Kessel, Martin 16, 45, 57–59, 76, 78, 104 Kesser, Hermann 72, 93
3. Personenregister Kessler, Harry von 50f. Keyserling, Eduard von 66 Kindermann, Heinz 264 Kippenberg, Anton 47–52, 175, 349, 371 Kippenberg, Katharina 47, 50, 143, 335, 349, 351 Klabund [Alfred Henschke] 34, 42f. 80, 82, 87 Kleist, Ewald von 178 Kleist, Heinrich von 5, 83, 92, 221f., 311, 351 Klemm, Wilhelm 118 Klemperer, Victor 69, 328f. Klopstock, Friedrich Gottlieb 12, 15, 144, 257, 273, 343 Knauer, Karl 303 Kölwel, Gottfried 118 Koeppel, Emil 260 Körber, Lili 45 Körner, Josef 26 Köster, Albert 43f., 49–51, 105–109, 161, 173, 176, 185, 187, 193, 198, Kokoschka, Oskar 72, 78 Kolb, Annette 125 Kommerell, Max 229 Konrad von Würzburg 420 Korff, Hermann August 93, 105–107, 110, 161 Kracauer, Siegfried 146 Kracht, Christian 426 Kraft, Werner 376 Krammer, Mario 348 Krell, Max 103, 121–127 Kraus, Karl 71, 101, 140 Kris, Ernst 235 Kuckhoff, Adam 45 Kuhn, Hedda 86 Kulka, Georg 118 Kuster, Fritz 190 Kutscher, Artur 4, 42, 56, 61f., 65, 72, 79– 90f., 95, 218–221 Kyser, Hans 44 Lachmann, Karl 29, 48, 164, 210, 266, 312, 337, 348, 352, 354, 363, 387 Landau, Edwin Maria 45 Langbehn, August Julius 229, 253 Lasker-Schüler, Else 103, 118, 125 Lehman, Rudolf 153 Lehmann, Wilhelm 45, 125
485
Lenz, Jakob Michael Reinhold 83, 102, 171f. Leo, Friedrich 372f., 375 Leo, Ulrich 153 Leonhard, Rudolf 118 Lessing, Gotthold Ephraim 12, 22, 39, 45, 48, 106, 145, 152, 162, 272, 343f., 361 Lessing, Otto Erich 173 Levy, Emil 33 Leyen, Friedrich von der 44, 52, 57, 79, 177, 260, 264, 354–356, 358 Lichtenberger, Henri 126 Liebknecht, Karl 328 Liechtenstein, Alfred 118 Liliencron, Detlev von 58 Lissauer, Ernst 44, 58, 85, 87, 343, 369 Leitzmann, Albert 49, 280, 330, 414 Leybold, Hans 86 Lienhard, Friedrich 173, 253–255 Litzmann, Berthold 4, 28, 29, 63–68, 70, 84, 95, 193, 197, 198f., 217f., 225, 397 Loewenson, Erwin 112 Loerke, Oskar 44, 97, 99, 118, 145, 147, 154–157, 363 Lotman, Jurij 0LFKDMORYLÿ 301 Lotz, Ernst Wilhelm 118 Lucka, Emil 93 Ludwig VII. 402 Luhmann, Niklas 298, 317 Lukács, Georg 112, 313f., 317 Luther, Arthur 54 Luther, Martin 125, 228–230 Lyon, Otto 331 Maeterlinck, Maurice 67 Majut, Rudolf 45 0DQGHO·äWDP2VLSĖPLO·HYLÿ 41, 326 Mann, Heinrich 39, 87, 98, 110, 124f., 137–139, 230, 335, 351 Mann, Thomas 2, 7f., 22, 30, 34, 45f., 55, 58, 62f., 66, 68, 82f., 87, 89, 92, 99, 135, 169f., 211–246, 289, 297, 311, 322, 330 Marbe, Karl 116, 159f. Marinetti, Filippo Tommaso 158 Markwardt, Bruno 134f., 174 Martin, Ernst 260, 262, 266, 268 Mauriac, François 41
486
VII. Anhang
Mayer, Paul 118 Maync, Harry 54, 214, 218 Meidner, Ludwig 125 Meier, John 221, 390 Merck, Heinrich 350, 356, 364 Merker, Paul 49, 58f. Meyer, Richard M. 42, 44, 46, 57, 133, 172f., 223f. Meyer, Theodor A. 131, 135, 152 Michel, Else 342, 347, 349–351, 364 Michels, Pol 329 Mierendorff, Carlo 24, 124 Milev, Geo [Georgi Milev Kasabov] 41 Mill, John Stuart 174 Minor, Jakob 50, 68f., 81, 152 Mistral, Frédéric 371 Moeller van den Bruck, Arthur 101 Mörike, Eduard 39, 346 Molière [Jean-Baptiste Poquelin] 66 Molo, Walter von 91, 97, 169 Mommsen, Theodor 22, 171 Mühsam, Erich 56, 80f., 89 Müller, Herta 426 Müller-Freienfels, Richard 58 Münchhausen, Börries von 347 Muncker, Franz 29, 42–45, 50, 56, 81, 89f., 115, 152, 217, 225, 260, 332 Mundt, Albert 118 Murnau, Friedrich 44 Muschg, Walter 72, 218, 338 Musil, Robert 3, 36f., 137–139, 174, 294, 296, 299, 384 Musset, Alfred de 51 Muth, Carl 43 Naager, Franz 184 Nadler, Josef 153, 190, 380, 392, 407, 416, 421 Naumann, Hans 57, 263 Neumann, Carl 386 Neumann, Fritz 41 Nietzsche, Friedrich 12f., 22, 30, 37, 61, 86, 116, 125, 136, 147, 173, 196, 211, 217, 219, 225–230, 234, 252, 258, 266, 274, 276, 289, 303f., 308, 370 Norden, Eduard 163, 166 Notker, Balbulus 129 Novalis [Friedrich von Hardenberg] 44, 119, 129, 384, 393f. Nowak, Heinrich 44
Opitz, Martin 178, 180, 186f., 191, 199, 203, 210 Otto III. 129 Otten, Karl 118 Ovid [Publius Ovidius Naso] 163, 203, 386, 422 Paalzow, Hans 194, 197 Pannwitz, Rudolf 44 Paquet, Alfons 87, 93 Pascoli, Giovanni 326 Paul, Hermann 42–44, 134, 159, 174, 260, 281, 306, 328, 332 Paul, Jean [Johann Paul Friedrich Richter] 121, 338 Péguy, Charles 261, 277 Peire Vidal 402f. Pessoa, Fernando 41 Petersen, Ella 91 Petersen, Julius 4, 22, 33, 49, 51, 61f., 69, 79, 85, 90–100, 155f., 175f., 292f. Petsch, Robert 44, 69 Pfemfert, Franz 250, 328f. Picard, Max 74 Pindar 29, 151, 372 Pinthus, Kurt 6, 23, 45, 71, 103–115, 120 Piper, Reinhard 194f., 200f., 206f., 209 Pisano, Giovanni 94, 383 Piscator, Erwin 44 Platen, August von 44, 60 Platon 150, 163, 165, 201, 239, 288, 309, 311, 316, 321f., 345, 376, 398, 411, 421 Plotin 321 Ponten, Josef 93 Pörtner, Paul 113 Poeschel, Ernst 47f. Pollak, Oskar 27 Pongs, Hermann 69, 92–94, 142, 153 Pouet, Georg Minde 92 Pound, Ezra 33, 41, 326, 371, 395, 407 Pulver, Max 118 Puškin, $OHNVDQGU6HUJHHYLÿ 409 Raabe, Paul 11, 113 Racine, Jean 163, 271 Raffael da Urbino 137 Raimond de Miraval 402 Rathenau, Walther 345 Reichert, Klaus 326 Reinhardt, Max 329
3. Personenregister Reinmar 157, 393 Remarque, Erich Maria 122 Renn, Ludwig [Arnold Baron Vieth von Golßenau] 39f. Rennert, Hugo 33 Reß, Robert 173, 184f. Riegl, Alois 135, 287, 359 Riemann, Robert 57, 161 Riemer, Friedrich Wilhelm 211, 215f., 227, 236–247 Riess, Edmund 161 Rilke, Rainer Maria 29, 33f., 46f., 50, 58, 66, 73, 88, 93, 95, 120, 293, 296, 316, 349 Rilla, Walther 329 Rimbaud, Arthur 87, 147 Roda Roda, Alexander [Sándor Friedrich Rosenfeld] 87 Roethe, Gustav 39, 42f., 70, 115, 131, 155f., 327–335, 344, 348, 358, 360, 363 Roetteken, Hubert 116, 159 Rosenberg, Vera, geb. Borchardt 373 Rossetti, Dante Gabriel 326, 378 Roth, Eugen 45, 118 Roth, Joseph 44 Rousseau, Jean-Jacques 231 Rubiner, Ludwig 44, 58, 74 Rudolf von Neuenburg 403 Ruer, Margarete 374, 375, 415 Ruer, Wilhelm 374 Ruest, Anselm 74 Rychner, Max 85, 218 Sachs, Hans 187 Sack, Gustav 125 Salinger, Hermann 288 Sallust [Gaius Sallustius Crispus] 163 Salus, Hugo 68 Samuel, Richard 395 Saran, Franz 27f., 81, 139–141, 303 Sauer, August 27, 34, 43, 46, 50 Sauer, Hedda 46 Saxl, Fritz 166 Schäfer, Walter Erich 69 Schäfer, Wilhelm 66, 93, 97 Schaeffer, Albrecht 2, 5, 7, 10, 34, 44, 47, 93, 136, 142–146, 232, 293, 325–369, 401 Schaeffer, Erwin 349
487
Schaeffer, Irma, geb. Bekk Schaukal, Richard von 338, 349 Scheffel, Joseph Victor von 168 Scheffer, Thassilo von 44 Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph 313 Scherer, Georg 84f. Scherer, Wilhelm 8, 21, 29, 30f., 36f., 53, 57, 62, 69, 91, 105–107, 110–112, 114, 132, 134, 152, 155, 170f., 174– 176, 178, 192, 210, 260f., 266, 327, 333, 370, 390, 397f. Schickele, Anna 93, 273 Schickele, René 97f., 44, 118, 124f., 250, 255, 261, 267, 269, 273f. Schiefner, Anton 357 Schiller, Friedrich 23, 37, 42, 44–46, 54, 84, 169, 209, 214, 260, 276, 303, 332, Schlaf, Johannes 44, 67, 172, 190f. Schlegel, August Wilhelm 271f., 393 Schlegel, Friedrich 12, 21, 26, 77, 119, 150, 301, 312, 315 Schleiermacher, Friedrich Daniel Ernst 228 Schlenther, Paul 134, 173 Schlösser, Rudolf 271 Schmid Noerr, Friedrich Alfred 44 Schmidt, Erich 21f., 37, 43, 48–50, 53, 62, 68, 70, 78, 91, 107, 115, 133f., 156, 172f., 328 Schmitt, Saladin 68, 397 Schmitt, Carl 73, 86, 292, 294 Schmitt, Christian 254 Schneider, Karl Ludwig 250, 263 Schnitzler, Arthur 72 Scholz, Wilhelm von 45, 84, 93, 97, 193 Schreyer, Lothar 78f. Schröder, Edward 39, 70, 131, 327 Schröder, Rudolf Alexander 47, 91, 371, 375f., 382 Schüddekopf, Carl 49 Schürer, Oskar 118 Schulte, Karl 107 Schultz, Franz 37, 49 Schwebs, Erik 352 Schwieger, Jacob 193, 195, 203 Scott, Walter 161 Sebald, Winfried Georg 325, 426 Seidel, Ina 93, 349 Seidel, Willy 95, 92
488
VII. Anhang
Seiler, Lutz 426 Semper, Gottfried 359 Sencke, Walter 81 Servaes, Franz 196f. Seuffert, Bernhard 161 Shakespeare, William 23, 44, 51, 66, 105, 249, 262, 265, 268–273 Sievers, Eduard 28, 33, 69, 158, 243, 288 Simchowitz, Sascha 67 Simmel, Georg 42, 44, 137, 152, 339 ãNORYVNLM9LNWRU%RULVRYLÿ 75, 302 Soergel, Albert 57, 69 Sommerfeld, Martin 118 Sophokles 163 Sordel 405f. Spielhagen, Friedrich 134 Spiero, Heinrich 22 Spitteler, Carl 30, 54, 303, 334 Spitzer, Leo 92, 152, 243, 304, 338 Spranger, Eduard 64 Stadler, Ernst 2, 9, 23, 34, 118, 219, 248– 286 Stammler, Wolfgang 57 Steffen, Albert 125 Steiger, Edgar 83 Stein, Charlotte von 48 Steiner, Herbert 270, 400 Steinmeyer, Elias von 46 Sternheim, Carl 110, 124, 126, 385 Sternberg, Leo 75 Stieler, Kaspar 193, 195, 201, 203 Stifter, Adalbert 46, 225f. Stoessl, Otto 135 Storm, Theodor 22, 45, 92, 134, 144 Stramm, August 46, 160 Strauß, Botho 394, 426 Strauß, Emil 44 Strauß, Ludwig 142–145, 343, 346, 350 Strich, Fritz 42, 69, 79, 81, 105, 115, 117, 131, 143, 152, 192f., 218, 291f. Strich, Walter 292 Stucken, Eduard 99 Sulger-Gebing, Emil 56, 83 Susman, Margarete 147f. Tacitus, Publius Cornelius 163, 166, 191, 371 Taine, Hippolyte 45, 50 Tankred 402 Tawada, Yoko 426
Thiess, Frank 93, 290 Thukydides 163, 191 Tieck, Ludwig 21, 179 Titus Livius 163 Treitschke, Heinrich von 22 Tobler, Adolf 46, 363, 377 Toller, Ernst 118, 336, 338 7ROVWRM/HY1LNRODHYLÿ 51, 232 Trakl, Georg 71, 118, 148, 249, 251 Traube, Ludwig 384f. Uehlin, Hans 271 Uhland, Ludwig 21, 61, 81, 156, 168 Ulitz, Arnold 44 Ulrich, Paul 161 Unger, Rudolf 179, 214, 228, 236, 243 Unruh, Fritz von 72, 89, 91, 385 Urzidil, Johannes 34, 44, 118 Usener, Hermann 385 Usinger, Fritz 45 Vagts, Alfred 44, 82, 118 Vahlen, Johannes 373 Vergil [Publius Vergilius Maro] 2, 9, 99, 162–165, 203, 248, 260, 287–324, 405 Verhaeren, Émil 87 Verlaine, Paul 222, 308 Villon, François 41, 87 Vischer, Melchior 44 Vollmoeller, Karl Gustav 329, 347 Vossler, Karl 9, 69, 117, 135, 152, 218, 288, 305–310, 324, 396, 410f. Volkelt, Johannes 137 Wackernagel, Wilhelm 262, 279–285 Wagner, Max 179, 195 Wagner, Richard 230, 276, 347 Wahl, Hans 49 Waldberg, Max von 43f., 105, 107, 152, 161, 193, 196, 198f. Walden, Herwarth 147, 157–160, 176, 250, 329 Waldmann, Ludolf 179 Walther von der Vogelweide 49, 155–157, 187, 373 Walser, Martin 211, 426 Walzel, Oskar 4, 27f., 47, 49, 51, 54, 57, 61, 68–79, 92, 95, 117f., 130, 144f., 148f., 169, 179, 192, 251, 254f., 294, 338–341, 362f., 366 Wandrey, Conrad 135, 222f.
3. Personenregister Warburg, Aby 376, 384 Wassermann, Jakob 63, 68 Weber, Max 15f., 36, 39, 298 Wechssler, Eduard 384, 386 Wedekind, Frank 44, 56, 83, 89, 110, 181 Wegner, Armin Theophil 73 Weigand, Hermann J. 217, 292, 305 Weininger, Otto 140 Weisenborn, Günther 72 Weiss, Ernst 118, 126 Weiß, Konrad 44 Werder, Diederich von dem 186, 193 Werder, Karl 133 Werfel, Franz 45, 58, 74f., 97, 104, 107, 112, 118, 126, 132f., 255 Whitman, Walt 87, 281 Wiese, Benno von 69 Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von 156, 363 Wilde, Oscar 51 Wildenbruch, Ernst von 62 Wilhelm II. 332 Wilhelm X. von Aquitanien 403 Willmczik, Kurt 100 Winckelmann, Johann Joachim 16, 145, 331 Windelband, Wilhelm 259f. Witkop, Philipp 83, 147, 214, 217–224, 228–230, 236 Witkowski, Georg 48f., 84, 186–190, 193 Wittig, Gregor Konstantin 197 Wölfflin, Heinrich 42, 44, 74f., 115, 117f., 143, 213
489
Wörishöfer, Sophie 372 Wolf, Christa 426 Wolf, Friedrich 69, 72, 93 Wolf, Friedrich August 21, 237, 312 Wolfenstein, Alfred 118, 329 Wolfram von Eschenbach 10, 44, 249, 258, 260, 266–268, 276, 279–281, 283, 330, 332, 334f., 339, 342, 344, 346–358, 360–364, 366, 368, 393, 399, 413f. Wolff, Eugen 27, 55, 57, 91, 171f., 176f., 187, Wolff, Gustav 137 Wolff, Kurt 66, 104, 107, 113, 147 Wolff, Rudolf 117 Wolfskehl, Karl 45 Wolters, Friedrich 150 Worringer, Wilhelm 75, 143, 174, 343, 359 Wundt, Wilhelm 137, 149 Xenophon 163, 372 Zarncke, Friedrich 193 Zech, Paul 38, 118 Zeitler, Julius 375 Zesen, Philipp von 196, 338 åLUPXQVNLM, Viktor MaksLPRYLÿ 92, 301, 390 Zola, Émile 110 Zur Linde, Otto 45 Zweig, Arnold 211 Zweig, Stefan 45, 50f., 72, 87, 336 Zwierzina, Konrad 281