Russisch-deutsche Verflechtungen. Ausgewählte Beiträge zur Literatur- und Kulturgeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts. [1. ed.] 9783770566761, 9783846766767


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German Pages XX, 389 [410] Year 2022

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Russisch-deutsche Verflechtungen
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Inhalt
Vorwort
Die Rückkehr an die eigenen Ufer. Von Lebenswerk, Würde und Ethos Konstantin Asadowskis
1. „Manchmal ist es unerträglich …“. Briefe aus dem Blockadewinter
2. Berufsverbot für einen ‚Kosmopoliten‘. Viktor Žirmunskij in den Jahren 1948/49
3. Blok und Grillparzer
4. Schellings russische Gesprächspartner
5. Russen im Nietzsche-Archiv
6. „Das Land der Genies“ – Deutschland, gesehen von Andrej Belyj
7. Zwei Türme – zwei Mythen (Stefan George und Vjačeslav Ivanov)
8. Reinhold von Walter zwischen Blok und Rilke
9. Geschichten und Geheimnisse des „Alten Enthusiasten“. Akim Volynskij – Lou Andreas-Salomé – Rainer Maria Rilke
10. Blick ins Chaos: Hermann Hesse über Dostoevskij und Russland
11. Stefan Zweig in der UdSSR
12. Ein Russe in Deutschland: die Odyssee des ‚Professors‘ Matankin
13. Heinrich Böll und die sowjetischen „Dissidenten“
Backmatter
Verzeichnis der Erstveröffentlichungen
Namenregister
Publikationsreihe
Recommend Papers

Russisch-deutsche Verflechtungen. Ausgewählte Beiträge zur Literatur- und Kulturgeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts. [1. ed.]
 9783770566761, 9783846766767

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Russisch-deutsche Verflechtungen

Schriftenreihe des Instituts für russisch-deutsche Literatur- und Kulturbeziehungen an der RGGU Moskau herausgegeben von Dirk Kemper und Elisabeth Cheauré Wissenschaftlicher Beirat Natalia Bakshi (Moskau) Ekaterina Dmitrieva (Moskau) Weertje Willms (Freiburg) Pawel Zajas (Poznán) Aleksej Žerebin (St. Peterburg)

Band 24 · 2022

Konstantin Asadowski

Russisch-deutsche Verflechtungen Ausgewählte Beiträge zur Literatur- und Kulturgeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts

Herausgegeben von

Fedor Poljakov und Natalia Bakshi

Gedruckt mit finanzieller Unterstützung des Goethe-Instituts Sankt-Petersburg sowie der Philologisch-Kulturwissenschaftlicher Fakultät der Universität Wien und der Societas Rerum Slavicarum Philologica (Wien)

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Alle Rechte vorbehalten. Dieses Werk sowie einzelne Teile desselben sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen ist ohne vorherige schriftliche Zustimmung des Verlags nicht zulässig. © 2022 Brill Fink, Wollmarktstraße 115, D-33098 Paderborn, ein Imprint der Brill-Gruppe (Koninklijke Brill NV, Leiden, Niederlande; Brill USA Inc., Boston MA, USA; Brill Asia Pte Ltd, Singapore; Brill Deutschland GmbH, Paderborn, Deutschland; Brill Österreich GmbH, Wien, Österreich) Koninklijke Brill NV umfasst die Imprints Brill, Brill Nijhoff, Brill Hotei, Brill Schöningh, Brill Fink, Brill mentis, Vandenhoeck & Ruprecht, Böhlau, Verlag Antike und V&R unipress. www.fink.de Einbandgestaltung: Evelyn Ziegler, München Herstellung: Brill Deutschland GmbH, Paderborn ISSN 2698-7635 ISBN 978-3-7705-6676-1 (paperback) ISBN 978-3-8467-6676-7 (e-book)

Foto: © Mark Serman

Inhalt Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ix Fёdor Poljakov: Die Rückkehr an die eigenen Ufer. Von Lebenswerk, Würde und Ethos Konstantin Asadowskis . . . . . xi 1.

„Manchmal ist es unerträglich …“. Briefe aus dem Blockadewinter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1

2.

Berufsverbot für einen ‚Kosmopoliten‘. Viktor Žirmunskij in den Jahren 1948/49 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 33

3.

Blok und Grillparzer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 55

4.

Schellings russische Gesprächspartner . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 91

5.

Russen im Nietzsche-Archiv  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 121

6.

„Das Land der Genies“ – Deutschland, gesehen von Andrej Belyj (Konstantin Asadowski, Aleksandr Lavrov) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 151

7. Zwei Türme – zwei Mythen (Stefan George und Vjačeslav Ivanov) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 193 8.

Reinhold von Walter zwischen Blok und Rilke . . . . . . . . . . . . . . . . . . 221

9.

Geschichten und Geheimnisse des „Alten Enthusiasten“. Akim Volynskij – Lou Andreas-Salomé – Rainer Maria Rilke . . . . . 239

10. Blick ins Chaos: Hermann Hesse über Dostoevskij und Russland . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 265 11.

Stefan Zweig in der UdSSR . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 291

12. Ein Russe in Deutschland: die Odyssee des ‚Professors‘ Matankin (Konstantin Asadowski, Gabriel Superfin) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 315

viii

Inhalt

13. Heinrich Böll und die sowjetischen „Dissidenten“  . . . . . . . . . . . . . . 351 Verzeichnis der Erstveröffentlichungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 367 Namenregister  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 371 Publikationsreihe  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 387

Vorwort Der vorliegende Band entstand aus Anlass des 80. Geburtstages Konstantin Asadowskis, des herausragenden St. Petersburger Literaturhistorikers, Germanisten und Komparatisten, am 14.  September  2021. Mit der hier getroffenen Auswahl sollen jene Aspekte seiner Forschungsarbeit auch für die deutschsprachigen Fachkreise erschlossen werden, die größtenteils in Asadowskis Sammelband Sjužety i sud’by: nemecko-russkije otraženija („Themen und Schicksale: deutsch-russische Spiegelungen“. Moskau: LitFakt, 2019) erschienen sind. Einige Beiträge wurden hinzugenommen, um das thematische Spektrum in Hinblick auf den gesellschaftlich relevanten Rahmen zu erweitern, einer in Konstantin Asadowskis Werk wesentlichen Dimension. Für die Zustimmung zur Wiederaufnahme ihrer mitverfassten Publikationen danken wir Aleksandr Lavrov (St. Petersburg) und Gabriel Superfin (Bremen). Unser Dank geht ferner an alle Übersetzer*innen der in diesem Band vereinten Abhandlungen, namentlich an Margarita Arsen’eva, Anna Brixa, Lothar Deeg, Christine Hengevoss, Anne Hultsch, Maria Klassen, Jurij Lileev, Patrick Oberstolz, Sabine Schmidt, Holger Siegel, Hanne Wiesner und Aleksej Žerebin. Zum großen Dank verpflichtet sind wir ebenfalls den Verlagen und Reihenherausgebern, die uns die Nachdruckgenehmigung erteilt haben, insbesondere Lazar Fleishman (Stanford) und Christoph Kӧnig (Osnabrück) sowie Peter Lang Verlag (Berlin), Wallstein Verlag (Göttingen) und Wilhelm Fink Verlag (Paderborn). Es sei noch festgehalten, dass die Texte überarbeitet und stellenweise auch einer Revidierung unterzogen wurden. Die Schreibweise der Namen wurde durchweg an die gängige wissenschaftliche Transliteration angepasst und die bibliographischen Angaben wurden vereinheitlicht. Mit Akribie und Sachverstand hat Iris Bäcker (z.Zt. Moskau) das Lektorat durchgeführt, und in Wien steuerten Anne Hultsch und Carmen Sippl zahlreiche weitere Anregungen und Korrekturen bei; Aleksei Chekh übernahm die technische Anpassung der Beiträge, Thomas Mikula und Vivienne Schmid widmeten sich der anspruchsvollen Erstellung des Namenregisters. Ihnen allen gilt unser herzlicher Dank. Schließlich sei dem Goethe-Institut St. Petersburg und ganz besonders dessen Leiter, Günther Hasenkamp, der Philologisch-Kulturwissenschaftlichen Fakultät der Universität Wien und der Dekanin Melanie Malzahn sowie der Societas Rerum Slavicarum Philologica (Wien) für die finanzielle Förderung und anderweitige Unterstützung des Vorhabens unser innigster Dank ausgesprochen. Moskau / Freiburg i. Br., Wien

Natalia Bakshi, Fedor Poljakov

Die Rückkehr an die eigenen Ufer

Von Lebenswerk, Würde und Ethos Konstantin Asadowskis Fёdor Poljakov In den philologischen und literarischen Kreisen der deutschsprachigen Länder gehört der Name des Germanisten, Literaturhistorikers und Komparatisten Konstantin  Asadowski (Konstantin Markovič Azadovskij) neben Viktor Žirmunskij, Vladimir Admoni, Lev Kopelev oder Efim Ėtkind seit Jahrzehnten zu den bekanntesten russischen Fachleuten, deren Werke auch im deutschen Sprachraum verlegt und gelesen werden. In seiner Heimat ist er über seine Forschungsleistungen hinaus auch als Übersetzer und Publizist bestens bekannt. Nur wenigen hingegen eröffnete sich bislang Asadowskis eigenes dichterisches Werk. Symbolisch war seinerzeit die Aufnahme zweier Gedichte von ihm, die während eines Besuches im Dorf Norenskaja (im Archangel’sker Gebiet) im Dezember 1964 bei seinem dorthin verbannten Freund Iosif Brodskij entstanden waren, in einen Sammelband von dessen Gedichten. Brodskij selbst erkannte bei der Auswahl der Texte später nicht die Herkunft dieser Gedichte. Ihr gemeinsamer Freund, der Petersburger Historiker Jakov Gordin beschließt mit dieser Episode seine Würdigung Asadowskis und bezeichnet eine solche Integrierung des Gastgeschenkes von Asadowski in Brodskijs eigenes Textkorpus als sehr vielsagend.1 Das ist ein sicherlich nicht beabsichtigtes, aber dennoch authentisches Zeugnis seiner dichterischen Verwandtschaft mit Brodskij. Sowohl über dieses Zeichen der Freundschaft vor dem Hintergrund der Begegnungen in Norenskaja als auch 17 Jahre danach in New York gibt es eine fesselnde Erzählung Konstantin Asadowskis selbst.2 In der öffentlichen Wahrnehmung bleibt Asadowskis Name auch mit der unauslöschbaren Erinnerung an Repressalien und politische Verfolgung der spätsowjetischen Zeit verbunden. Im Dezember 1980 aufgrund gefälschter Beweismittel verhaftet und im März 1981 zu zwei Jahren Lagerhaft verurteilt, führte er nach seiner Freilassung am 18. Dezember 1982 für sich und seine Frau Svetlana, ebenfalls unrechtmäßig verurteilt, einen Kampf um die juristische Bestätigung des staatlichen Unrechts. Die Verfolgung Asadowskis gibt ein unverfälschtes Bild der spätsowjetischen Realität wieder, ähnlich wie die Verleumdung des herausragenden Übersetzers Efim Grigor’evič Ėtkind 1 Gordin 2011, S. 9. 2 Azadovskij 2011.

xii

Fёdor Poljakov

(1918–1999)3 oder wie die Ermordung des Germanisten und Übersetzers Konstantin Petrovič Bogatyrev (1925–1976).4 Die emotionalen, moralischen, gesellschaftlichen Umstände und Details dieser für seine Familie, darunter auch für Asadowskis Mutter Lidija Vladimirovna (geb. Brun, 1904–1984), schicksalhaften Ereignisse wurden in einer großartigen und kompromisslosen Untersuchung des Moskauer Historikers Pëtr Družinin festgehalten.5 Dieses Werk gibt insgesamt eine sehr eindeutige Antwort auf eine wesentliche Frage: „Was ist der Grund dafür, dass der Germanist und Übersetzer, der in literarhistorische Recherchen vertieft und nicht unmittelbar an der Dissidententätigkeit beteiligt war, in eine solche Ungnade gefallen ist?“6 Wenn Družinins Buch wie vorgesehen bald in englischer Übertragung vorliegen wird, wird dieses zeitgeschichtliche Zeugnis auch in fachlich relevante Zusammenhänge der Wissenschaftsgeschichte erneut hineinwirken. Zur Rekonstruktion des Sachverhaltes betreffend die Familie Konstantin Asadowskis (d. h. eine mit geheimdienstlichen Methoden durchgeführte Provokation, bei der eine große Zahl an Beteiligten auffällt7) kommt die von Efim Ėtkind hervorgehobene Verbindung zwischen der Verfolgung Asadowskis und den ideologischen Prozessen gegen die vorhergehenden zwei Generationen von Geisteswissenschaftlern in der Sowjetunion hinzu, auf die auch der in diesen Sammelband aufgenommene Beitrag Asadowskis „Berufsverbot für einen ‚Kosmopoliten‘“ ausführlich eingeht. Dass jedoch ein solches Szenario noch in den angeblich fast schon liberalen Jahren des sowjetischen Systems gegen einen „unpolitischen“ Intellektuellen voll und ganz eingesetzt wurde, mag auch nach den vergangenen Dezennien verwunderlich erscheinen. In der Retrospektive wird aber nicht nur Verwunderung ausgelöst, sondern es tritt auch die eindeutige, mit Dokumenten und Gerichtsbeschlüssen untermauerte, moralische Überlegenheit Asadowskis zutage. Im Februar 1989 wurde er und im Juni 1993 seine Frau rehabilitiert, da nun in den beiden Fällen gerichtlich festzustellen war, dass es sich um eine geheimdienstliche Provokation gehandelt hatte. In den 1990-er Jahren wurden sie als Opfer politischer Verfolgungen anerkannt. Asadowskis Lebensweg trägt den Stempel dieser Leningrader Situation, die aufgrund der Kontaminierung der wissenschaftlichen Tradition mit den ideologischen Exzessen hier zumindest eines kurzen Kommentars bedarf. 3 4 5 6 7

Ėtkind 2001. Kasack / Etkind / Kopelew 1982. Družinin 2016. Lavrov 2016. vgl. dazu noch Katerli 2011.

Die Rückkehr an die eigenen Ufer

xiii

Es würde der Persönlichkeit Asadowskis nicht gerecht, die vielschichtigen Gründe für seinen Widerstand des Geistes mit einem verbreiteten Motto Andrej Sinjavskijs, seine (d. h. Sinjavskijs) Unstimmigkeiten mit dem Sowjetregime seien ästhetischen Charakters, zu apostrophieren, wenngleich auch diese nicht ganz außer Acht zu lassen sind. Aber der Konflikt erschöpft sich nicht in einer Person und nicht in einer Generation, und da sich seitdem viele Ereignisse überlagert haben, wäre zunächst zu definieren, wie die Natur dieser Übergriffe und Verfolgung in dem damaligen unmittelbaren Leningrader Kontext umrissen werden könnte. Da die mitunter prägnantesten dichterischen Zeugnisse der historischen Analyse sowohl des „Silbernen Zeitalters“ als auch der Leningrader Periode im Leben St.  Petersburgs auf Anna Achmatova zurückgehen,8 entlehnen wir einige ihrer Bilder für diese Retrospektive auf Konstantin Asadowskis Biographie. In einem als „Elegie“ bezeichneten Fragment eines Poems, datiert mit „Leningrad 1944“, schrieb Achmatova: „Wie einen Fluss hat mich die erbarmungslose Epoche umgedreht. Man hat mein Leben vertauscht. Es floss in ein anderes Flussbett, an dem anderen vorbei, und meine eigenen Ufer kenne ich nicht […]“. Die Lebensläufe der Generation der Eltern Asadowskis und ihres Freundeskreises, die in den hier versammelten Artikeln sowohl als Lebende und Überlebende als auch als Beispiele der „Sekundärliteratur“ vorkommen werden, stehen allesamt unter diesem Vorzeichen. Diese Generation, zu der auch jene gehörten, die seinerzeit mit der gefahrvollen Bezeichnung „Formalisten“ versehen waren, tarnten sich als sowjetische Literaten oder retteten sich in die Literaturgeschichte und die Textologie von Puškin oder Lev Tolstoj, in die Dialektologie und die vergleichende Epenforschung, die russische volkstümliche Überlieferung, kurzum, in verschiedenste Richtungen der geisteswissenschaftlichen Disziplinen. Nach dem Zweiten Weltkrieg, in den späten 1940er Jahren, begann in der Sowjetunion eine weitere Welle von ideologischen Säuberungen; Achmatova gehörte zu denjenigen, die den öffentlichen Demütigungen am härtesten preisgegeben war. In den philologischen, historischen u.  a. Disziplinen entluden sie sich auf unterschiedliche Weise, ein Hammerschlag sollte dabei die sog. „entwurzelten“ oder „heimatlosen Kosmopoliten“ treffen, was in Wirklichkeit eine zügellose antisemitische Kampagne darstellte. Sie wütete in Leningrad um einiges brutaler als in Moskau; die Facetten jenes wiederkehrenden stalinistischen Terrors sind in einem zweibändigen Werk des bereits erwähnten Historkers Pëtr Družinin hinreichend dargestellt.9 Konkret bedeutete das für die Forschungsarbeit in 8 vgl. hierzu insbesondere Toporov 1990. 9 Družinin 2012.

xiv

Fёdor Poljakov

der Philologie und Literaturgeschichte, dass jeder Vergleich zwischen einem russischen und einem „westlichen“ Phänomen, ob in genetischer oder typologischer Hinsicht, ideologisch verdreht und kriminalisiert werden konnte, so z.  B.  die  Feststellung eines bei Puškin vorkommenden Motivs in einem französischen Werk oder eine Parallele zwischen einem russischen Märchen und einem Text aus der Grimmschen Sammlung. Insbesondere traf es die vergleichende Epenforschung und überhaupt die Komparatistik. Solche Vorkommnisse zu entlarven, war in jenen Tagen die vorgeschriebene Ausübung des „Patriotismus“, der „Wachsamkeit“ und dergleichen; all diese Kampfbegriffe bilden eine Schicht markierter Lexik und sind heute noch leicht identifizierbar. Eine solche Atmosphäre wirkte sich gerade in der russischen Umgebung wie ein geistiges Tschernobyl aus, beruhen doch die Grundlagen der russischen Kultur seit der postpetrinischen Epoche auf der Dichotomie Russland / (West)Europa. Asadowskis Vater Mark Konstantinovič, der bereits zu Lebzeiten anerkannte herausragende Erforscher der russischen Folklore, überstand und überlebte zwar diese verbalen Repressalien, aber die Widerlichkeit und alle damit einhergehenden sozialen Bedrohungen und menschlichen Enttäuschungen haben seine Gesundheit stark beeinträchtigt und seinen frühen Tod herbeigeführt. (In den letzten Lebensjahren widmete sich der Volkskundler Mark Azadovskij der Erforschung der „Dekabristen“, d. h. den Ereignissen um den Petersburger Aufstand einer adligen Geheimgesellschaft im Dezember 1825). Mit dieser Erfahrung der Verfolgung und des Niedergangs, noch intensiviert durch die Widerfahrnisse aus den Familien ihrer akademischen Umgebung, sind die ersten Schritte auf dem Bildungsweg Konstantin Asadowskis verbunden. Ganz wesentlich für die Position Asadowskis ist sein Eintreten gegen die Verdrängung von Repressalien, denen die russische Geisteswissenschaft ausgesetzt war, aus der gegenwärtigen Wahrnehmung: Zahlreiche Beiträge und mehrere Quelleneditionen von ihm gelten dem Bewahren dieser Erinnerung. Die persönlichen Schicksale bekommen ihr Recht gegenüber dem viel zu breiten Rahmen der zeitgeschichtlichen Verallgemeinerung, die gnadenlos gegenüber Einzelheiten sein kann. Wie der unvergessene Freund und Biograph Brodskijs, der Literaturwissenschaftler und Dichter Lev Losev10 am Beispiel eines am 18. Dezember 1964 von Anna Achmatova in Rom niedergeschriebenen Gedichtes zeigte, führt der Perspektivenwechsel mit der Zeit dazu, dass die Tragödie eines Volkes dann nur mehr als ein Bildelement mit „einem Wölkchen der Qual“ darüber wahrgenommen wird, wenn man auf die 10

Loseff 2008.

Die Rückkehr an die eigenen Ufer

xv

Dimension des Persönlichen verzichtet. Dieses Achmatova-Paradigma erweist sich als eine weltanschauliche Komponente in Asadowskis Schaffen. In seiner Rede von 1990 hat Efim Ėtkind11 sehr anschaulich ausgeführt, dass die komparatistische Forschung im Rahmen der sowjetischen Ideologie bald gefährlich, bald nicht ganz gefahrlos sein konnte, jedenfalls nicht neutral. Aber „die Asche Klaasens schlägt an meine Brust,“ wie Tyll Uilenspiegel es ausdrückte, und so fiel auch die Entscheidung Konstantin Asadowskis, seine Forschungsarbeit als eine Absage an jenen damals spürbar gewordenen Geist der Auslöschung und Vernichtung zu gestalten. Wie Jakov Gordin feststellt, weisen Asadowskis Studien zu Nikolaj  Kljuev, einem als Bauerndichter bekannten modernistischen Dichter, der 1937 hingerichtet wurde, einen inneren Zusammenhang mit den Themen von Mark  Konstantinovič Azadovskij auf. Es sei noch hinzugefügt, dass die Beschäftigung mit einem Dichter wie Kljuev, der ein solches Schicksal hatte, wie ein klares Bekenntnis anmutet. Während Asadowskis Vater wegen seiner Studien zu Puškin und den Brüdern Grimm angegriffen wurde, legte Konstantin Asadowski eine vollständige Übersetzung der Grimmschen Märchensammlung ins Russische vor. In erster Line hat jedoch Asadowskis komparatistische Ausrichtung die Erforschung der russischen Moderne geprägt. In Anlehnung noch an seine Lehrjahre bei Naum Berkovskij stellte er sich die Frage nach der Rezeption russischer Kultur in den deutschsprachigen Kontexten, später ergaben sich auch viele komplementäre Aspekte. Wie sein Freund (und bisweilen Mitautor), der herausragende Historiker der russischen Literatur der Moderne Aleksandr Lavrov feststellte, gäbe es noch ein gemeinsames Merkmal, das so gut wie allen der Geschichte der Kultur gewidmeten Texten aus der Feder Asadowskis zu eigen ist. Die darin formulierten Ideen und Konzepte entstehen immer auf der Grundlage der Untersuchung eines riesigen Massivs von Fakten und Dokumenten. Nicht selten werden sie von ihm aufgrund minuziöser archivalischer Recherche in zahlreichen Sammlungen in und außerhalb Russlands erstmals bekannt gemacht und sind in die Forschung eingeflossen.12

Literaturhistorische und typologische Studien Asadowskis erlauben nun eine systematisch freigelegte Sicht auf Nietzsche, George, vor allem auf Rilke vor dem Hintergrund der russischen Überlieferung. Dabei vermochte Asadowski plastisch die Paradoxien der westlichen Annäherung an die russische Kultur wie Rilkes Versuch der Entfaltung seiner Russland-Liebe ausgerechnet im 11 12

Bezrodnyj / Ėtkind 1991. Lavrov 2016.

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Fёdor Poljakov

Dialog mit dem großartigen Kunsthistoriker und Maler Aleksandr Benois aufzuzeigen. Von seinen Rilke-Studien, die auch dessen Beziehungen zu Boris Pasternak und Marina Cvetaeva erstmals erschöpfend beleuchteten, wurde in diese Sammlung lediglich ein Beitrag über Akim Volynskij aufgenommen. Die innovativen Studien Asadowskis zur russischen Präsenz im Nietzsche-Archiv, dem in vielfacher Hinsicht wichtigen Vergleich zwischen Stefan George und Vjačeslav Ivanov oder den Rezeptionsbedingungen Stefan Zweigs in der UdSSR verdeutlichen seine methodischen Grundsätze und bringen Ergebnisse, die gleichsam für mehrere Aspekte der Erforschung des kulturellen Dialogs förderlich sind. Bei Konstantin Asadowski ist die Begriffsverbindung „Russland und der Westen“13 thematisch wie biographisch vollends verantwortet. In ihrer überaus pointierten Analyse der weltanschaulichen Grundlagen der übersetzerischen Tätigkeit Asadowskis hat Elena Čižova gezeigt, dass zu den wichtigsten Voraussetzungen der Beschäftigung mit Texten einer anderen Kultur die Schaffung eines gemeinsamen kulturellen Wertes gehört.14 Dieser Ansatz gewinnt auch dadurch an Kraft, dass Asadowski mütterlicherseits mit dem kulturellen Erbe der St.  Petersburger Deutschen verbunden ist, einer Tradition, die im 20. Jh., angefangen mit dem Ersten Weltkrieg, fast ausgelöscht wurde. Fremd sind die deutschsprachigen Kulturen für ihn nicht, Grenzen zwischen den Kulturen erhalten bei ihm keine Legitimierung. Wäre „Kosmopolit“ nicht so eine abgegriffene Bezeichnung, wäre das vielleicht eine passende, wenngleich auch dann recht blasse Charakteristik jener historisch verankerten Position Asadowskis. Konstantin Asadowski wurde in Leningrad in einem der schwersten Momente der Geschichte dieser Stadt geboren; mit der eindringlichen Schilderung der Schicksale seiner Familie beginnt die hier vorgelegte Auswahl aus seinem wissenschaftlichen Werk. Asadowskis geistige Heimat, die Petersburger Kultur, öffnete sich ihm gegenüber auch in der Leningrader Zeit als eine lebendige Quelle. Im Leningrad jener Jahre gab es über die ganze sowjetische Zeit hinweg viele Stränge der ungebrochenen kulturellen und akademischen Tradition, die aufgrund der persönlichen Verbundenheit der Überlebenden den Zugang zu verbotenen Texten und verschollenen Erinnerungen ermöglichten. Ein solcher Zusammenschluss der Generationen bedarf keiner langen Ketten: Es genügt oft eine Begegnung wie die zwischen Achmatova und Brodskij, um eine bedeutsame kulturelle Rezeption zu initiieren. Gewiss, Asadowski reflektierte auch das Streben der offiziellen zeitgenössischen Literatur und Publizistik nach Stalins Tod, sich von den Zensurzwängen zu befreien, zumal in einer Atmosphäre, in der die künstlerische Entfaltung 13 Azadovskij 1973; Rossija i Zapad 2011. 14 Čižova 2011.

Die Rückkehr an die eigenen Ufer

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immer mehr in den Kreisen jenseits des sowjetisch konformen Rahmens stattfand.15 Aber die grundsätzliche Einstellung, vielen anderen unter den sowjetischen Bedingungen ebenfalls wohl vertraut, hat Jakov Gordin treffend in Worte gefasst: „Die hohe russische Kultur erwies sich als bedeutsamer und in mancherlei Hinsicht realer als die alltägliche sowjetische Wirklichkeit“.16 In Hinblick auf die wissenschaftliche Tätigkeit Konstantin Asadowskis sollte es im Laufe der Zeit an Zeichen der Anerkennung nicht mangeln. Sein Eintreten für humanistische Werte der deutschsprachigen Kulturen hat vielfach Würdigung gefunden. Davon seien hier nur einige Höhepunkte erwähnt. Im Jahre 1990 erhielt Asadowski den Gundolf-Preis der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung in Darmstadt; 1992 wurde er auch zum Mitglied dieser Akademie gewählt. 1990/91 hielt er sich am Wissenschaftskolleg zu Berlin auf, 1994 bekam er den Förderpreis der Alexander-von-HumboldtStiftung. Am 21. Januar 2011 wurde Konstantin Asadowski für seinen Beitrag zur deutsch-russischen kulturellen Verständigung mit dem Bundesverdienstkreuz I. Klasse geehrt. Dieser unmittelbare Dialog mit den deutschsprachigen Kulturen von heute, Reisen zu Forschungszwecken, die physische Anwesenheit in den Bibliotheken und Archiven, Begegnungen an den Universitäten – all das wurde für Konstantin Asadowski erst infolge der politischen Umbrüche in der damaligen Sowjetunion möglich, die mit den Veränderungen in Osteuropa einhergingen; seinen ersten sowjetischen Reisepass erhielt er im Oktober 1988. Auch heute, nach drei Jahrzehnten der unvermuteten und fragilen Reisefreiheit, stellt für viele Menschen „von drüben“ die Überwindung von Staatsgrenzen ein kleines Wunder dar. Noch mehr dürfte damals der Beginn einer neuen Epoche auf Asadowski gewirkt haben, hatte er doch bis dahin niemals mit einer solchen Schicksalswendung rechnen können. Durch seine Publikationen und das Wirken seiner Persönlichkeit kam jene geisteswissenschaftliche Tradition, die prägend für ihn selbst war, erneut auch in unserer vergesslichen und verdrängenden Gegenwart zu Wort. Für einen Überblick des Lebensweges von Konstantin Asadowski steht neben der bereits erwähnten Untersuchung Pëtr Družinins samt den darin veröffentlichten Zeugnissen und Dokumenten auch die Zusammenstellung von Michail Bezrodnyj zur Verfügung.17 Die innere Biographie Asadowskis eröffnet sich am ehesten aus der Liste seiner Veröffentlichungen.18 Zuweilen 15 16 17 18

Einen verlässlichen Überblick dazu bietet Grigorij Svirskij  1979; das Buch ist dem Andenken Konstantin Bogatyrëvs gewidmet. Gordin 2011, S. 7. Bezrodnyj / Ėtkind 1991, S. 11–14; Lapidus / Gordin / Bezrodnyj 2001, S. 10–15. M. V. Bezrodnyj in: Bezrodnyj / Ėtkind 1991, S. 15–47; A. Ja. Lapidus in: Lapidus / Gordin / Bezrodnyj 2001, S. 21–101; Lapidus 2011; Lapidus 2021.

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Fёdor Poljakov

gestaltet sich die Suche nach einer bestimmten Publikation nicht leicht, ist man doch immer wieder von der sich darin spiegelnden Vielfalt und dem zeitlichen Horizont Asadowskis fasziniert. Nicht zuletzt dürfte auch die Zahl der Veröffentlichungen erstaunen. Am erstaunlichsten ist jedoch, dass eine solche Leistung, die ihresgleichen sucht, keineswegs mit einem geregelten, stets in ruhigen Fahrwassern verlaufenden Akademiker-Dasein zusammenhängt. In seiner Laudatio auf Asadowski bei der Verleihung des Gundolf-Preises, die sehr treffend „Allen Widrigkeiten zum Trotz  …“ betitelt ist, betonte Efim  Ėtkind19: Wenn es nicht dazu gekommen wäre, dass so viele Jahre in Asadowskis Leben durch die Verleumdungen, Gerichtsverfahren, Lagerhaft überschattet wurden, so hätte sein Werk noch wesentlich umfangreicher sein können. Als Ėtkind das damals sagte, war Konstantin Asadowski gerade 50 Jahre alt. In den seitdem vergangenen 30 Jahren vermochte er – „allen Widrigkeiten zum Trotz  …“ – viele Teile seines großartigen wissenschaftlichen, literarischen und übersetzerischen Werkes zur Vollendung zu bringen. Um erneut mit jenem von Anna Achmatova entliehenen Bild zu sprechen, fließt nun der Fluss des Lebens wieder im Bett seiner eigenen Ufer. Anlässlich des denkwürdigen Ereignisses – der 80. Wiederkehr des Geburtstages von Konstantin Asadowski am 14. September  2021 – sei ihm Schaffenskraft und Gesundheit gewünscht und für seine reichen Geschenke – Untersuchungen, Editionen, Übersetzungen – an die nachkommenden Generationen gedankt. Literatur Azadovskij, Konstantin (1973): Rossija i Zapad. Iz istorii literaturnych otnošenij [Russland und der Westen. Aus der Geschichte der literarischen Beziehungen]. Leningrad. Azadovskij, Konstantin (2011): „Ogljanis’, esli smožeš’“: tri dnja v Norenskoj [„Dreh’ dich um, wenn du kannst“: Drei Tage in Norenskaja]. In: Zvezda (Sankt-Peterburg). 2011. Nr. 9. S. 162–168. Bezrodnyj, Michail  V., Ėtkind, Efim  G. (1991): Konstantin Markovič Azadovskij. K 50-letiju so dnja roždenija. Biobiliografičeskij ukazatel’ [Konstantin Markovič Azadovskij. Zur fünfzigsten Wiederkehr seines Geburtstages. Ein biographischbibliographisches Verzeichnis] / Sostavitel’ M.  V.  Bezrodnyj. Avtor vstup. stat’i E. G. Ėtkind. Sankt-Peterburg. Čižova, Elena S. (2011): Perevod kak sud’ba [Übersetzung als Schicksal]. In: Rossija i Zapad 2011, S. 10–22.

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Bezrodnyj / Ėtkind 1991, S. 5–10.

Die Rückkehr an die eigenen Ufer

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„Manchmal ist es unerträglich …“ Briefe aus dem Blockadewinter

Das Epos der Leningrader Blockade setzt sich aus einer Vielzahl persönlicher Geschichten zusammen. Auch unsere Familie hat ihre eigene, sechs Monate dauernde Blockadegeschichte. Die für diese Veröffentlichung ausgewählten Briefe meines Vaters Mark Konstantinovič Azadovskij (1888–1954) erzählen von unserem Leben während des ersten „Todeswinters“ 1941/1942 und von den tragischen Schicksalen jener Leningrader Wissenschaftler, die sich in der Vorkriegszeit im Umfeld des Lehrstuhls für Folkloristik an der Staatlichen Universität Leningrad (LGU) und der Abteilung für Folkloristik am Literaturinstitut (Puškinskij Dom) zusammengefunden hatten (mein Vater leitete sowohl den Universitätslehrstuhl als auch diese Abteilung). Die schweren Prüfungen begannen für meine Eltern schon im August. Mein Vater bereitete sich auf das neue Studienjahr vor, meine Mutter erwartete ein Kind. Ich wurde am Abend des 14. September 1941 geboren – am 85. Tag des Krieges und dem siebten Tag der Blockade. Dies geschah in der VidemanEntbindungsklinik auf der Vasil’ev-Insel (an der Ecke Bol’šoj Prospekt und 14-aja linija, heute: Geburtsklinik Nr.  1). Meine Mutter befand sich dort seit dem 30. August und mein Vater kam jeden Tag auf die Vasil’ev-Insel, um von ihr einen Notizzettel zu erhalten (denn Familienmitglieder und Bekannte wurden nicht zu den Gebärenden vorgelassen) und um ihr Lebensmittel zu übergeben. Auch ließ er ihr ein tägliches „Bulletin“ mit aktuellen Nachrichten über Freunde und Verwandte, deren Gesundheits- und Seelenzustand sowie anstehende Evakuierungen zukommen. Im Verlauf jener drei Wochen im September  1941, in denen sich meine Mutter Lidija Vladimirovna in der Videman-Klinik befand, wurde die Lage in Leningrad kritisch: Die Stadt wurde eingekesselt, am 8. September, dem offiziellen Beginn der Blockade, schloss sich der Belagerungsring und es begannen die täglichen Bombenangriffe. Durch die Straßen marschierten Rotarmisten und Freiwilligenverbände, Flüchtlinge (aus dem Baltikum sowie aus Novgorod, Pskov und dem Leningrader Gebiet) drängten in die Stadt. Für Unruhe sorgende, mitunter schier unglaubliche Gerüchte, die man als „OŽG“ (abgekürzt für: „eine Frau hat gesagt“) bezeichnete, kamen auf und gingen * Erstverӧffentlichung (in russischer Sprache) in: Zvezda (Sankt-Peterburg). 2020. Nr. 1. S. 152– 176. Dasselbe (in deutscher Sprache): https://drb-ja.com/wp-content/uploads/2020/04/1_ asadowski-deu.pdf.

© Brill Fink, 2022 | doi:10.30965/9783846766767_002

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um. Panikstimmung machte sich breit. Die bereits im Sommer begonnene Evakuierung von Institutionen lief weiter; einige Leningrader hatten zu dieser Zeit die Stadt bereits verlassen, andere machten sich zur Abreise bereit. Lebensmittel gab es nur noch auf Karten, die in der zweiten Julihälfte eingeführt worden waren – die Hungersnot rückte näher.1 Obwohl Mark Azadovskij seine Frau tagtäglich darüber informierte, was in der Stadt vor sich ging, bemühte er sich, sie mit seinen „Bulletins“ nicht zu sehr zu beunruhigen und stattdessen über Alltagsdinge zu schreiben, gewitzt und gelegentlich sogar fröhlich. Die Bomben und Fliegeralarme verschweigen konnte er jedoch nicht (zumal in der Geburtsklinik die Frauen bei jedem Alarm in den Keller geschickt wurden). Im Folgenden führe ich (in Auszügen) einige dieser Briefe an:2 9. September Hören Sie, Madame! Was erwarten Sie denn: Es gab Sedan und Borodino – und heute Nacht hat auch Leningrad seine erste echte Feuertaufe bestanden. Oje, das war jetzt eine schreckliche Nacht, mein Kind! Ich habe nur an dich gedacht. Was ist wohl in deinem Viertel los, was passiert bei dir und wie geht es dir und so weiter – nur darum kreisten alle meine Gedanken. Wie es aussieht, sind unsere Verwandten, Freunde und Bekannte alle wohlauf. 10. September Gestern habe ich es nicht zu dir geschafft. Um 2 Uhr war ich in der Raz’ezžaja[Straße] 21. Ich war dort zur Buchbinderei der Literaturstiftung gegangen, um eine der sibirischen Broschüren zum Binden zu geben, in die ich weiße Seiten einkleben lassen wollte, damit sich allerlei Korrekturen und Ergänzungen leicht anbringen lassen.

1 „Der Hunger hielt ab Mitte September Einzug“, erinnerte sich die Kulturwissenschaftlerin O. M. Frejdenberg (1890–1955), Professorin am Lehrstuhl für Klassische Philologie der Leningrader Staatlichen Universität (LGU), in: Ol’ga Frejdenberg: Osada čeloveka [Die Belagerung des Menschen]. Hg. von K. Nevel’skij [d.i. Judif‘ Matveevna Kagan], in: Minuvšee. Istoričeskij al’manach [Vergangenes. Historischer Almanach]. Bd. 3, Paris 1987, S. 18. Frejdenbergs Tagebücher, die bisher nur in Auszügen bekannt waren, sind in der Unerbittlichkeit der Darstellung und Tiefe der Reflexion des Blockadealltags mit der „Psychologischen Prosa“ Lidija Ginzburgs auf eine Ebene zu stellen (siehe hierzu: I. Paperno. „Osada čeloveka“: Blokadnye zapiski Ol’gi Frejdenberg v antropologičeskoi perspektive [„Die Belagerung des Menschen“: Die Blockadenotizen Olga Frejdenbergs in anthropologischer Perspektive], in: Blokadnye narrativy. Sbornik statej [Blockade-Narrative. Artikel-Sammelband], Moskau 2017, S. 126–151). 2 Die Originale oder Kopien der Briefe von Mark Azadovskij und Lidija Azadovskaja, die im vorliegenden Artikel zitiert werden, befinden sich (wenn nicht anders angegeben) in meinem privaten Archiv.

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Kaum hatte ich mich verabschiedet – Alarm! Ich ging zurück und saß 40 Minuten im Büro der Buchbinderei. Dann ging ich los: Aber ich hatte es so gerade bis zum Ende (genauer gesagt, dem Anfang) der Raz’ezžaja geschafft, da erwischte mich ein neuer Alarm und ich stand in irgendeinem Hof über eine Stunde herum. Dabei hatte ich doch vor, kurz im Kazačij3 vorbeizuschauen. Als der Alarm vorbei war, machte ich prompt einen großen Fehler. Ich hätte gleich die Linie 22 nehmen sollen und zusehen, dass ich ins Haus der Wissenschaftler4 komme, aber ich traf Berkovskij5 – und wir gingen gemeinsam zur Haltestelle der Trambahn Nr. 3. Kurzum: Mir blieben nur noch ein paar Häuser bis zum HdW, da blieb ich erneut stecken – und schaffte es erst um 6 Uhr oder etwas später in die Kantine. Während des Essens erneut Alarm – das Essen wurde unterbrochen. Um halb acht war ich dann doch mit dem Essen fertig und eilte zu dir – auf gut Glück, in der Hoffnung, dass man auch verspätet hereinkommt. Es war allerdings schon halb acht als ich losging. Diesmal erwischte mich der nächste Alarm zum Glück noch auf dem Newski und ich schaffte es, nach Hause6 zu rennen, denn zu dir wäre ich nicht mehr gelangt und hätte irgendwo zwischen der Insel und zuhause festgesessen … Ich war verzweifelt, dass ich es nicht zu dir schaffe, nichts von dir erfahre, dir nichts bringen konnte – und ich weiß, dass du dir wohl auch Sorgen um mich machst. Aber sowie ich die Haustür aufmachte, bekam ich gleich von Nadežda Iv[anovna]7 die Nachricht von deinem Anruf. Abends gegen zwölf rief mich Lidija Nikolaevna8 an. Sie fordert, dass ich dir rechtzeitig (für alle Fälle) einen warmen Mantel, Stiefel und eine warme Decke für das Würmchen und allerlei anderes bringe. Was halten Sie davon? Oje, ob ich es wohl heute zu dir schaffe? Denn jetzt ist es erst 10 Uhr und schon der zweite Alarm. Wahrscheinlich gibt es wieder den ganzen Tag endlose

3 Im Kazačij Pereulok (dt.: Kosakengasse; 1925–1993: Pereulok Il’iča) wohnten die Eltern von Lidija Vladimirovna und ihre Schwester Iraida. 4 Im Leningrader Haus der Wissenschaftler (im Text hier und weiter abgk. HdW, russ.: Dom Učënych, ab 1940 trug es den Namen Maksim Gor’kijs) war eine spezielle Kantine für Wissenschaftler eingerichtet worden. Das HdW befindet sich bis heute an der Dvorcovaja Naberežnaja (Schlossufer) 26. 5 Naum Jakovlevič Berkovskij (1901–1972), Historiker der russischen und westeuropäischen Literaturen, Literatur- und Theaterkritiker. 6 Azadovskij und seine Frau wohnten damals in der Ulica Gercena, Haus 14, Wohnung Nr. 19 (Herzen-Straße; seit 1993: Bol’šaja Morskaja Ulica). 7 Eine Mitbewohnerin der Azadovskijs. 8 L. N. Brun (geb. Sergeeva, 1878–1942), die Mutter von L. V. Azadovskaja. Sie starb während der Leningrader Blockade (s. Anm. 100).

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„Manchmal ist es unerträglich …“ Luftangriffe.9 Bitte doch Ev[genija] Al[eksandrovna]10 zumindest nach schweren Luftangriffen in der Ulica Gercena anzurufen.11 Ich werde dann etwas ruhiger sein! Bei unseren engsten Freunden scheint alles in Ordnung zu sein, aber bei einigen gab es heftige Ereignisse in der Nähe. Eine Sprengbombe schlug an der Naber[ežnaja] 9-ogo janvarja12 ein – und jetzt strahlt da ein Haus (Nr. 14) wie eine Zahnlücke. Es gab da so eine dreistöckige kleine Villa – aber der Teil des Hofes, der auf die Millionnaja geht (Nr. 15), blieb heil, da sind nicht einmal die Fenster geborsten. Im HdW sind alle Fenster heil! […] Über den Luftangriff wurde im Radio berichtet (via TASS) – was bedeutet, da schreiben dann auch die Zeitungen darüber – du kannst dir vorstellen, was mit Mama13 los ist, wenn sie liest: „Es gab Tote und Verletzte.“ Bald kommt wahrscheinlich ein Telegramm. Ich versuche selbst, ihr ein einfaches Telegramm zu schicken, in der Hoffnung, es kommt an. Nun, noch einen Kuss. Heute hat man aufgehört, Weißbrot auszugeben: nur noch auf Kinderkarten. Die Standardnorm: 400 gr. Schwarzbrot – das ist alles. 11. September Inzwischen gab es eine ganze Reihe gewichtiger Ereignisse, die Sie wahrscheinlich interessieren werden.

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In einer Beschreibung der Ereignisse dieses Tages in einem Brief an ihren Mann teilte Lidija Vladimirovna (am Morgen des 11. September) mit, „es gab unzählig viele Alarme, aber alle solche, bei denen man uns nicht nach unten jagte“. „Unten“ war der Luftschutzbunker, in den man die Frauen allerdings am Abend des 10. September geführt hatte. Im gleichen Brief heißt es: „Im Bunker saßen wir zweieinhalb Stunden, bis 1 Uhr nachts. Für mich ist das eine schwere Prüfung. Erstens ist es furchtbar stickig, mich macht solche Luft gleich verrückt (noch dazu stehen Kerosinlampen bereit). Du weißt ja, wie schlecht ich Schwüle vertrage und jetzt bin ich noch dazu sehr geschwächt und bin auch viel schwerer (alles zusammen) als du mich kennst. Und zweitens sitzt man da wie in der Trambahn auf einer harten geraden Bank, wo man sich nicht zurücklehnen kann und der Bauch schrecklich drückt. Davon, dass man sich hinlegen und ausstrecken könnte, ist keine Rede. Das Personal weiß ja nicht mal, wo man die Gebärenden unterbringen und hinlegen kann. Und die Ambulanz liefert ständig noch weitere an. Kranke mit hohem Fieber, frisch Operierte, Eklampsen, solche mit Kaiserschnitten und welche, die vor 15 oder 20 Minuten erst entbunden haben, liegen auf Tragen in allen Ecken und in den Durchgängen oder einfach auf dem Boden.“ (Eklampsie ist eine vergiftungsartige Erkrankung während der Schwangerschaft.) E. A. Pavlovič war eine Ärztin in der Wiedemann-Geburtsklinik. S. Anmerkung 6. Seit 1944 heißt die Uferstraße Dvorcovaja Naberežnaja (Schlossufer). Gemeint ist Vera Nikolaevna Azadovskaja (geb. Tejman, 1870–1950), die in Irkutsk lebende Mutter Azadovskijs.

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Bei dem Luftangriff in der Nacht auf den 9. ist wer wohl umgekommen? Machen Sie sich keine unnötigen Sorgen: Es ist der große Elefant im Zoo, der tot ist.14 Nur damit Sie jetzt wissen, welche Verantwortung Sie tragen.15 Die zweite wichtige Nachricht: Ihr Institut16 wurde in Mitleidenschaft gezogen. Die Deutschen dachten wohl, dass es der deutschen Sprache und deutschen Kultur noch große Unannehmlichkeiten bereiten würde. Die Bombe schlug zwischen den Häusern Nr. 106 und 108 ein. Ein Teil Ihres Gebäudes hat gelitten – dort, wo die Bibliothek ist. Aber die Bücher sind unversehrt, es ist nur alles von den Regalen gefallen. Glovackij17 sucht jetzt neue Räumlichkeiten. Die Vorlesungen wurden eingestellt. Grundsätzlich ist einem aber nicht zum Spaßen, Kindchen. Die Bombardements erfassen immer mehr und mehr Stadtteile. In unserem Institut18 hat es im ersten Stock die Fenster herausgehauen. Brandbomben fielen auf eine ganze Reihe von Nachbargebäuden (Börse, Krupskaja-Institut19 u. a.) Bei A[leksand]r Isaakovič Nikiforov20 sind die Fenster herausgeschlagen, ein Fenster flog bei Nik[olaj] Petrovič21 heraus. Gestern schien es mir, dass es in Eurer Richtung unruhig war – und ich rief um 12.30 Schura22 an. Wie sich zeigte, war alles in Ordnung. Bei ihnen hatte ich gestern den Alarm abgewartet, der begann, als ich gerade das Krankenhaus

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Bei einem Bombenangriff am 8. September schlug eine der Brandbomben auf dem Territorium des Leningrader Zoos ein. Bei der Explosion starb die Elefantenkuh Betti, „der Liebling der Leningrader Kinder“. Vgl. E. Bogorov: Blokada v kadre i za kadrom [Die Blockade in und hinter der Photokamera], in: Neva (Sankt-Peterburg), 1989, Nr. 1, S. 203. In den letzten Monaten vor der Geburt hatte Mark Azadovskij seine Ehefrau zärtlich „Slonënoček“ (kleines Elefäntchen) genannt. Von 1937–1941 hatte Lidija Azadovskaja am 2. Pädagogischen Fremdspracheninstitut (Mojka, 108) studiert. Sie sollte es im Frühjahr 1942 abschließen, doch der Lehrbetrieb wurde im Krieg unterbrochen. Leonard Mironovič Glovackij, der Direktor des 2. Pädagogischen Fremdspracheninstituts. Gemeint ist das Literaturinstitut; heute: Institut für russische Literatur (Puschkin-Haus) der Russischen Akademie der Wissenschaften (Makarov-Ufer, 4). Gemeint ist das Kommunistische Krupskaja-Institut für Politische Bildung (kurz vor dem Krieg umgebildet zum Leningrader Staatlichen Bibliothekarischen Institut), gegenwärtig das St. Petersburger Staatliche Kultur-Institut. Adresse: Schlossufer 2–4 (1941: Ufer des 9. Januar). Nadežda Konstantinovna Krupskaja (1869–1939) war die Ehegattin von V. I. Lenin. Aleksander Isaakovič Nikiforov (1893–21.4.1942), Volkskundler und Literaturhistoriker. Im Herbst 1941 festgenommen, kam er jedoch alsbald frei. Er starb im belagerten Leningrad. Nikolaj Petrovič Andreev (1892–15.1.1942), Volkskundler und Professor am Pädagogischen Herzen-Institut, Freund und Kollege von Azadovskij; s. auch Anm. 68. Aleksandr Borisovič El’jaševič (1888–1967), Wirtschaftswissenschaftler, Professor und 1905–1919 Mitglied der Partei der Sozialrevolutionäre. Einer der engsten Freunde Azadovskijs und dessen Mitschüler im Irkutsker Gymnasium.

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„Manchmal ist es unerträglich …“ verlassen hatte. Ich schaffte es, zu ihnen zu laufen23 – und plauderte dann mit Ekat[erina] Mich[ajlovna] und Alločka.24 Ihre Fahrt hängt offenbar in der Luft. Nachts rief ich dann im Kazačij an. Zuerst sprach ich mit Dimočka25 und dann kam Lid[ija] Nikolaevna an den Apparat. Bei ihnen ist alles in Ordnung und alle Fensterscheiben sind ganz. Nur Rajka26 mussten sie Tropfen geben. Die Zahl derjenigen, die fortwollen, ist in den letzten Tagen deutlich gestiegen – aber Möglichkeiten dafür gibt es nach wie vor kaum. Unsere Akademie mit den korrespondierenden Mitgliedern wird offenbar nach Taschkent verlagert. Vikt[or] Maks[imovič]27 ist blass und dünn geworden. […] Gestern (nein, vorgestern) kam ich pünktlich um 4 Uhr in die Kantine des HdW und gestern auch gegen halb drei. Irgendwie schaffe ich es auch heute. Dafür habe ich es gestern beide Mal glücklich zu dir geschafft. 12. September Nun, mein Mädchen? Wie geht’s, hast du dir wieder Sorgen gemacht? Ich gebe mir alle Mühe, dir heute dieses Briefchen früher zu bringen. Zumal ich mir nicht sicher bin, ob ich es abends schaffe. Gestern, als ich gerade von dir weggegangen war, geriet ich wieder in zwei Alarme. Als Folge dieses ständigen Aussitzens in irgendwelchen Hinterhöfen (ich bevorzuge es, nicht in die Luftschutzkeller hinunter zu gehen) habe ich mir einen kräftigen Schnupfen eingefangen. Heute werde ich mich mit Senfpflastern kurieren. Was sich nach der letzten Nacht ergeben hat, weiß ich noch nicht. Ich weiß nur, dass im Kazačij alles in bester Ordnung ist, auch wenn dort alles übermäßig laut zu hören war. Ich ging bei den El’jaševič vorbei, v.a. um mich zu überzeugen, dass auf der Vasil’ev-Insel alles in Ordnung ist. Wie es aussieht, steht es nicht gut um die Wohnung von Ėsf[ir’] Borisovna Šlosberg28 – das hat mir jedenfalls gestern A.  A.  Morozov29 erzählt, der den Eindruck eines vor Panik völlig aufgelösten Menschen macht. Komplett zerstört ist das Haus, wo Nikolaj

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Familie El’jaševič wohnte damals an der Ecke Bol’šoj Prospekt / 8. Linie (genaue Adresse: 8. Linie, Nr. 21, Whg. 20). Ekaterina Michajlovna El’jaševič (geb. Filipenko, 1887–09.1.1942), Volkswirtin und Nichte des Schriftstellers Andrei Belyj (1880–1934), Ehefrau von Aleksandr El’jaševič; Alla Aleksandrovna Rusakova (1923–2013), Kunstwissenschaftlerin, Tochter von Aleksandr El’jaševič. Gemeint ist Dmitrij Dmitrievič Šamraj (1886–1971), Bibliograph, Buchkundler und Bibliotheksmitarbeiter, erster Ehemann Lidija Azadovskajas (er lebte nach der Scheidung weiterhin bei der Familie ihrer Eltern). Iraida Vladimirovna Rusanova (geb. Brun, 1910–1999), Schwester von Lidija Azadovskaja. Viktor Maksimovič Žirmunskij (1891–1971), Philologe, ab 1966 Mitglied der Akademie der Wissenschaften der UdSSR und einer Reihe westeuropäischer Akademien. Langjähriger enger Freund der Familie Azadovskijs. Ėsfir’ Borisovna Šlosberg (eigentlicher Nachname: Merkel’, 1891–1968), Literaturübersetzerin (aus dem Französischen). Aleksandr Antonovič Morozov (1906–1992), Literaturwissenschaftler, Volkskundler und Übersetzer.

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Čukovskij30 (an der Ecke Nadeždinskaja31 und Žukovskaja) wohnte […] Nicht weit davon wohnen auch die Alexeevs,32 aber ich habe eben erst mit Mich[ail] Pavlovič telefoniert: Bei ihnen ist bislang alles in Ordnung und alle Fenster sind heil. Mama habe ich keine Telegramme geschickt, denn bisher hat man in den zentralen Zeitungen Leningrad noch nicht erwähnt – offenbar weiß man in der Provinz nichts davon – nun, gut so! Aber sobald ich Berichte in den zentralen Zeitungen sehe (also auf der TASS-Linie), telegrafiere ich. Neue Briefe gibt es nicht und Nachrichten auch keine. 13. September Nun ja, meine Kleine, heute habe ich mir meine eigene Luftschutzbunker-Filiale eingerichtet. Die Nacht war zwar in der Tat vergleichsweise ruhig – obwohl, vergleichsweise eher nicht, aber Alarm gab es nur selten. […] Morgens rief ich im Kazačij an, aber in ihrem Viertel ist etwas mit dem Telefon passiert, so dass ich nicht weiß, was es heute als Abendprogramm gibt. Jedenfalls hat meine völlige Gleichgültigkeit gegenüber der Schießerei draußen offenbar den allerbesten Eindruck auf die Deinigen gemacht. […]

Der nächste Tag (14. September) erwies sich als ruhiger als die vorhergegangenen. „Seit dem Morgen hört man eine Kanonade aus schweren Geschützen“, notierte ein Leningrader in seinem Tagebuch. „Nach zwei Luftalarmen griffen die Deutschen beim dritten um zwei Uhr mittags an und warfen Bomben. Es kam zu einem Luftkampf über dem Stadtgebiet und bei Pulkowo hört man Geschützdonner. […] Die Nacht verlief relativ ruhig.“33 Diese „relativ ruhige Nacht“ – die erste meines Lebens – verbrachte Lidija Vladimirovna im unteren Geschoss der Geburtsklinik, das, wie sie ihrem Gatten am nächsten Tag berichtete, sowohl „Luftschutzraum als auch Notaufnahme als auch die Hauptabteilung für bettlägerige Patienten“ war. […] Was die Unterbringungsbedingungen angeht, könnte man genauso gut in normalen Zeiten an der Ecke Prospekt 25. Oktjabrja und Ulica 3. ijulja liegen.34 Gott behüte – falls es irgendjemanden unter den Freunden oder Bekannten in den Sinn kommen sollte, Blumen ins Krankenhaus zu schicken, dann 30 31 32 33

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Nikolaj Korneevič Čukovskij (1904–1965), Schriftsteller und Übersetzer, Sohn des Dichters, Kritikers und Kinderbuchautors Kornej Čukovskij (1882–1969). Teilnehmer an der Verteidigung Leningrads, er ließ sich nach dem Krieg in Moskau nieder. Seit 1936 bis heute: Ulica Majakovskogo. Gemeint ist der Literaturhistoriker und Komparatist Michail Pavlovič Alekseev (1896– 1981) und seine Frau Nina Vladimirovna (geb. Zeitz, 1905–1995). N. P. Gorškov: Siloju sveta v polsveči. Blokadnyi dnevnik, najdennyj čerez 50 let v archivach KGB [Mit der Lichtstärke einer halben Kerze. Ein nach 50 Jahren in den Geheimarchiven des KGB gefundenes Blockade-Tagebuch]. SPb 1993, S. 9. Der Autor des Tagebuchs war später repressiert worden. Der Nevskij Prospekt hieß von 1918 bis 1944 „Prospekt des 25. Oktober“, die Sadovaja Ulica hieß in den gleichen Jahren „Straße des 3. Juli“.

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überrede sie, dieses Vorhaben aufzuschieben. Erkläre ihnen, dass ich mich unter Bedingungen aufhalte, die in etwa einem Zigeunerlager, einem Sammelpunkt für Umsiedler oder einem sinkenden Schiff entsprechen. Wenn es mir morgen besser geht und ich mich kräftiger fühle, verlegt man mich ins Obergeschoss, in ein richtiges Krankenzimmer.“ Lidija Vladimirovna wurde am 20. September aus der Geburtsklinik entlassen. Die Straßenbahnen fuhren noch. Doch um seine geschwächte Frau mit dem Neugeborenen über die Neva nach Hause zu bringen, musste Azadovskij ein Auto organisieren (es gelang ihm, dafür den Chauffeur einer noblen ZIS-Limousine35 zu gewinnen). Endlich wiedervereint in ihrer Unterkunft in der Uliza Gercena machten sich die Eltern daran, sich mit den Blockadebedingungen zu arrangieren. Mein Erscheinen erschwerte ihr Leben erheblich. Die Notwendigkeit, ein Baby zu ernähren und zu pflegen, kostete Zeit und Kraft, wobei sich zu dieser Zeit die allgemeine Lage von Tag zu Tag verschlechterte: Die Leningrader Vororte (Krasnoe Selo, Puschkin u.  a.) waren besetzt, die Deutschen rückten auch von Norden vor und die Normration für Brot wurde auf 200 Gramm gekürzt. Der Überlebenskampf, den in unterschiedlichem Grad alle Leningrader zu führen gezwungen waren, wurde für meine Eltern noch durch die ständige Angst um das Leben und die Gesundheit ihres Kindes erschwert. Davon berichten die im Folgenden (teils vollständig, teils in Auszügen) angeführten Briefe Mark Azadovskijs an eine enge Freundin unserer Familie – die Moskauer Ethnografin Vera Jur’evna Krupjanskaja (1897–1985):36 4. Oktober 1941 Liebe Vera Jur’evna, vor einigen Tagen habe ich Ihren Brief vom 21.9. erhalten und dann, etwas später, auch jenen vom 18.9. Gut möglich, dass auch meine Briefe Sie so inakkurat erreichen: Im September habe ich Ihnen drei oder vielleicht auch vier Postkarten geschickt – in einer davon hatte ich mitgeteilt, dass ich jetzt einen Sohn habe, der morgen genau drei Wochen alt wird. Er heißt Konstantin – Kotik [dieser Kosename bedeutet wörtlich: Katerchen, Anm. d. Übers.]. Große Freude erfüllt nun unser Leben, aber diese Freude wird durch enorme Sorgen getrübt. Die Organisation des Alltags stellt uns vor große Herausforderungen. Vor allem aber tragen wir schwer an der aktuellen Lage Leningrads. 35 36

ZIS ist die Abkürzung von „Zavod imeni Stalina“. Das „Stalinwerk“ war ein Moskauer Automobilwerk, das neben Lastwagen auch große Limousinen – vorrangig für Funktionäre – herstellte. 1956 wurde es in ZIL („Zavod imeni Lichačëva“ [Lichačëv-Werk]) umbenannt. Als „talentierte Folkloristin aus dem Literaturmuseum“ erinnert sich an sie Ėmma Gerštejn, „[…] Sie liebte ihre Arbeit sehr, Vera Jur’evna Krupjanskaja. Eine überaus nette Frau, sie war jene, die im Museum in die Garderobe lief und dort, hinter den Kleidungsstücken versteckt, heulte, als sie vom Hunger erfuhr, der im blockierten Leningrad ausgebrochen war.“ (Ė. Gerštejn: Memuary [Memoiren]. SPb 1998, S. 274).

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Sie in Moskau können sich wahrscheinlich nur schwer vorstellen, wie wir hier leben – wenn man sich jede Nacht die Frage stellt: Wie weiter? Es ist gefährlich, in unserer obersten Etage zu bleiben, aber auch gefährlich, den Kleinen in den stickigen und schmutzigen Schutzraum zu bringen, zumal Lidija Vladimirovna noch unglaublich schwach ist und nur mit Mühen gehen kann. Wir haben einen schönen Sommer und einen wundervollen goldenen Herbst, wie es ihn selten gibt in Leningrad und den wir früher so sehr geliebt haben. Aber jetzt, wenn wir morgens das Fenster öffnen, schauen wir mit Schrecken und Verdruss auf die ins Zimmer flutende Sonne – vom Mond und klarem Nachthimmel ganz zu schweigen. An irgendeine Arbeit ist nicht zu denken, an irgendein zukünftiges Buch oder auch nur an die Materialien dafür. Oben auf dem Schrank liegt eine riesige Mappe: das geliebte Kind, das nie das Licht der Welt erblickte – und ich glaube auch nicht, dass es dieses jemals erblicken wird.37 Man sollte sich Gedanken machen von hier weg zu kommen – aber das ist gegenwärtig kaum zu realisieren. Am schlimmsten ist, dass es manchmal unvermeidlich ist, mit dem Kleinen in den Schutzraum hinunter zu gehen. Selbiger wirkt sich schrecklich auf ihn aus – von der stickigen Luft (bei uns im Haus ist diese Sache sehr schlecht organisiert) magert er ab – und deshalb fehlt uns oft der Mut, von unserer obersten Etage hinunterzugehen. Und dabei vergeht oft die ganze Nacht mit Alarmen: Oft sind die Pausen dazwischen ganz kurz, so dass eine Nacht nach der anderen schlaflos vergeht. Dazu kommen noch die Sorgen um die Ernährung, weniger um die eigene als die für Lidija Vladimirovna. Kurzum, die Nerven sind so angespannt, dass es mir manchmal scheint, ich halte das nicht durch, auch wenn ich äußerlich gänzlich gesund und ruhig wirke. Und in der Tat, weder ich noch L[idija] V[ladimirowna] sind jemals in Panik verfallen, die so häufig viele unserer Bekannten erfasst. Solange  L[idija] V[ladimirovna] im Krankenhaus war (sie verbrachte dort 20 Tage) bin ich kein einziges Mal in einen Schutzraum gegangen – und L[idija] V[ladimirovna] war selbst während ihrer Schwangerschaft ein Vorbild und Muster an Ruhe und Selbstsicherheit. Und dennoch, manchmal ist es unerträglich. Nun, ich muss schließen. Ich umarme Sie – und glaube an ein baldiges Wiedersehen. Ganz der Ihre MA Die Unsrigen38 sind alle vor Ort. A[leksandra] N[ikolaevna]39 ist noch nicht abgereist. Gippius40 und Ėval’d41 wurden aus dem Institut entlassen. 37 38 39 40 41

Gemeint ist die zweibändige Istorija russkoj folkloristiki [Geschichte der russischen Folkloristik], das posthum veröffentlichte Lebenswerk Mark Azadovskijs: 1. Bd.: M. 1958, 2. Bd.: M. 1963; Neuauflage: M. 2013. Mit „den Unsrigen“ meint Azadovskij die Mitarbeiter der Abteilung für Folkloristik am Literaturinstitut (Puškinskij Dom). Aleksandra Nikolaevna Lozanova (1896–1968), Folkloristin und wissenschaftliche Mitarbeiterin der Abteilung für Folkloristik am Literaturinstitut (Puškinskij Dom). Evgenij Vladimirovič Gippius (1903–1985), Folklorist; er leitete bis Oktober 1941 die Phonothek des Puškinskij Dom. Zinaida Viktorovna Ėval’d (1894–27.01.1942), Folkloristin und Expertin für Volksmusik, Autorin von Büchern zur Volkslyrik, zweite Ehefrau von E. V. Gippius. Zu ihrem Tod s. u. den Brief von Azadovskij an V.Ju. Krupjanskaja vom 10.02.1942.

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„Manchmal ist es unerträglich …“ 12. Oktober 1941 Ja, so ein Sohn ist ein schönes, aber ernsthaftes Problem: Wie ernährt man seine Mutter, damit weder sie noch er verkümmert? Ich bin von diesen Sorgen müde und ausgelaugt – und schlimmer noch, von den schlaflosen Nächten völlig zerschlagen. Den Weg zum Schreibtisch habe ich schon völlig vergessen – und nur selten setze ich mich an ihn, um auf die Schnelle etwas für die nächste Vorlesung an der Uni anzusehen. 20. Oktober 1941 Ihr Brief, verehrte Vera Jur’evna, ist auf den 7/X datiert – die zwei Wochen, die seither vergangen sind, fühlen sich wie mehrere Monate an – und ich bin mir nicht sicher, ob dieser Brief Sie in angemessener Zeit korrekt erreicht. Jetzt sind Leningrad und Moskau schon so gut wie gleichauf – und jeder von uns denkt mit Wehmut und Angst an den anderen. Uns ist um unsere Moskauer Freunde angst und bange, ganz offenbar genauso wie diesen um uns. Eine Abreise von hier ist offenbar unmöglich. Aus den Philologenkreisen sind einige Leute mit dem Flugzeug abgeflogen, doch die weitere Evakuierung auf diesem Weg ist zwar nicht eingestellt worden, läuft aber nur noch sehr langsam. Jetzt sind V. F. Šišmarëv und L. V. Ščerba (beide sind korr[espondierende] Mitglieder)42 an der Reihe – sie haben schon Einladungen, aber ihre Abreise wurde um 5–7 Tage verschoben. Die Piksanovs43 sind schon in Moskau (und vermutlich schon weitergereist) – ev. haben Sie sie getroffen. Ich stehe auch auf der sog. Flugzeugliste44, aber für uns alle ist offensichtlich, dass es bis zu unseren Listenplätzen nie gehen wird – und wie sollte ich mit dem Kleinen wegkommen! Aber hierbleiben ist auch aus vielen Gründen beängstigend. Wir bleiben bei fast allen Angriffen in der Wohnung. Ein paar Mal sind wir in den Schutzraum hinunter, aber ich fürchte, dass der Junge sich da irgendeine Krankheit einfängt, die für ihn absolut verhängnisvoll wäre. So verbringen wir ganze Nächte wachend, in der Küche, möglichst nahe der Tür, und lauschen mit angehaltenem Atem jedem Schuss der Luftabwehr oder jeder Explosion von Sprengbomben.45

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Vladimir Fëdorovič Šišmarëv (1875–1957), Philologe und Romanist, seit 1934 Leiter des Literaturmuseums im Puškinskij Dom, seit 1946 Akademiemitglied; Lev Vladimirovič Ščerba (1880–1944), Linguist, ab 1944 Mitglied der Akademie der Wissenschaften der UdSSR. Nikolaj Kiriakovič Piksanov (1878–1969), Literaturwissenschaftler, Mitarbeiter des Literaturinstituts (Puškinskij Dom), Professor an der Universität Leningrad (LGU) (von 1944–1948 Professor an der Universität Moskau (MGU), ab 1931 korrespondierendes Mitglied der Akademie der Wissenschaften der UdSSR, 1942–1944 Professor an der Mittelasiatischen Universität in Taschkent sowie seine zweite Ehefrau Valentina Antonovna. Bereits im September  1941 wurde Akademiemitgliedern, korrespondierenden Mitgliedern der Akademie der Wissenschaften der UdSSR und einer Gruppe von Professoren angeboten, Leningrad per Flugzeug zu verlassen (siehe G. A. Knjazev: Dni velikich ispytanij. Dnevniki 1941–1945 [Tage schwerer Prüfungen. Tagebücher 1941–1945]. SPb. 2009, S. 182). Vgl. in den Erinnerungen von O.  M.  Frejdenberg: „Mit Einsetzen der Kälte gingen die Menschen nicht mehr auf die Treppe hinaus und in den Keller hinunter. Dort konnte man

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Doch es gab auch schlimme Katastrophen in unserem Umfeld. Solange L[idija] V[ladimirovna] im Krankenhaus war, blieb ich bei allen Luftangriffen ruhig zu Hause, las in aller Ruhe auf meinem breiten Sofa, dachte einfach gar nicht an die Möglichkeit einer unmittelbaren Gefahr nach und legte mich schließlich schlafen (schließlich gab es unablässig Luftangriffe seit dem 8/IX). Aber seitdem L[idija] V[ladimirovna] mit Kotik wieder hier ist, ist meine Ruhe dahin – obwohl wir beide, L[idija] V[ladimirovna] und ich, in dieser Situation völlig ruhig bleiben und als Vorbild für die ganze Wohnung gelten. Aber was sind schon Luftangriffe! Sie sind nicht das Allerschlimmste. Ich habe Ihnen vom Tod Olja Volodinas46 geschrieben. Das ist leider nicht der einzige Verlust unter meinen – gar nicht so zahlreichen – Schülern. An der Front ist Kirill Čistov47 gefallen – ein Bruder von Vasilij Čistov48 und ein sehr talentierter und fähiger junger Mann, auf den ich große Hoffnungen gesetzt hatte. Und vor drei Tagen kam bei einem der Luftangriffe auf die Stadt die Aspirantin Galja L’vova49 um. So sind es schon drei! A. M.  Kukulevič50 wurde dreimal verwundet und ist wieder an der Front; ebenso an der Front ist auch Novikov (der Autor des Sammelbandes der Märchen

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sich nur erkälten.“ (O. Frejdenberg: Osada čeloveka [Die Belagerung des Menschen]. Für den Druck vorbereitet von V. Nevel’skoj (Ju.M. Kagan). In: Minuvšee. Istoričeskij al’manach [Vergangenes. Historischer Almanach]. Bd. 3, Paris 1987, S. 15). Ol’ga Karlovna Volodina, Folkloristin, Aspirantin an der Philologischen Fakultät und Schülerin von Azadovskij. Sie kam ums Leben am 28./29.8.1941 auf dem Schiff „Veronia“, das zusammen mit anderen Kriegsschiffen über die Ostsee von Tallinn nach Kronstadt fuhr. Kirill Vasil’evič Čistov (1919–2007), Folklorist und Historiker. Studierte bei M. K. Azadovskij, ab 1981 korrespondierendes Mitglied der Akademie der Wissenschaften der UdSSR. Die Information über den Tod von Kirill Čistov erwies sich als falsch, doch als Azadovskij davon im Herbst 1941 von dessen Ehefrau B. E. Čistova erfuhr, konnte er „die Tränen nicht zurückhalten“ (K. Čistov: Iz vospominanij o M. K. Azadovskom [Aus den Erinnerungen an M. K. Azadovskij]. In: Erinnerungen an M. K. Azadovskij [Vospominanija o M. K. Azadovskom]. Hg. von I. S. Jarnevskij, Irkutsk 1996, S. 77). Vasilij Vasil’evič Čistov (1916–2003), ein Bruder von Kirill Čistov, war Mitte der 1930er Jahre Student an der Philologischen Fakultät der LGU und studierte Folkloristik bei Azadovskij. Später im diplomatischen Dienst tätig. Galina Michajlovna L’vova (1906–16/17.10.1941), Aspirantin an der Philologischen Fakultät der LGU. Anatolij Michajlovič Kukulevič (1915–1942), Folklorist, fiel im Sommer 1942 an der Front. „Er war der beste meiner Schüler“, schrieb Mark Konstantinovič am 5.8.1942 aus Irkutsk an V.Ju. Krupjanskaja, „mit großem historisch-literarischem und folkloristischem Rüstzeug, weitem Blickwinkel und der Gabe, wie ein echter Philologe zu arbeiten  …“ (Iz pisem M. K. Azadovskogo [Auszüge aus Briefen M. K. Azadovskijs] (1941–1954). Für den Druck vorbereitet von L. V. Azadovskaja. In: Iz istorii russkoj sovetskoj folkloristiki [Aus der Geschichte der russischen sowjetischen Folkloristik]. Leningrad 1981, S. 210).

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„Manchmal ist es unerträglich …“ von Gospodarëv),51 über den es keinerlei Auskünfte gibt, ebenso nicht über jene, die in Petrozavodsk geblieben sind (darunter Lëša Sojmonov52). A. N.  Lozanova ist natürlich noch in der Stadt, so wie alle anderen auch. A.  M.  Astachova ist hauptsächlich damit beschäftigt, warme Sachen für die Front zu nähen. Über unsere Schreibtische ist schon Gras gewachsen – und ich schaue oft voller Wehmut auf mein zweibändiges Opus,53 von dem ich schon nicht mehr zu träumen wage, es je gedruckt zu sehen. Oder vielmehr, ich träume hoffnungslos, rechne aber nicht damit. Meine Zeit wird ja vollständig von alltäglichen Besorgungen in Anspruch genommen, mit denen ich, ehrlich gesagt, ziemlich schlecht zurande komme. Alles Gute Ihnen, meine Teure. Ihre Briefe sind für mich und L[idija] V[ladimirovna] eine große Freude. Grüße an alle Freunde. M.A. 31. Oktober 1941 Ich habe Ihnen seinerzeit von Olja Volodina geschrieben. Diese Liste wächst. Gestern haben wir Nadežda Petrovna Dyrenkova verloren, die Autorin des Buches Šorskij fol’klor [Schorisches Brauchtum]“.54 Sie hatte sich bei Löscharbeiten erkältet – das Institut war von zwei Brandbomben getroffen worden – und wurde innerhalb von zwei Tagen von einer Lungenentzündung dahingerafft. Dies ist ein absolut unwiederbringlicher Verlust, denn N[adežda] P[etrovna] kannte sich in ihrem Material aus, das nur ihr zugänglich war. In den letzten Jahren sind wir vertrauter miteinander geworden, und sie hatte vor, unter meiner Leitung eine Arbeit über die schorischen Märchenerzähler zu schreiben. […] Haben Sie die Ausgabe des Literaturnoe nasledstvo mit meinem Artikel über Lermontov gesehen?55 Zu uns ist sie nicht durchgedrungen – und wir können nur davon träumen, irgendwann einmal wenigstens einen Blick darauf zu werfen.

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Nikolaj Vladimirovič Novikov (1911–1997), Folklorist, von 1941–1945 im Armeedienst, ab 1953 wissenschaftlicher Mitarbeiter der Abteilung für mündliche Volkskunst des Literaturinstituts (Puškinskij Dom). Erwähnt ist die Veröffentlichung: Skazki Filippa Pavloviviča Gospodareva [Die Märchen von Filipp Pavlovič Gospodarev]. Redigiert von M. K. Azadovskij, hg. von N. V. Novikov. Petrozavodsk 1941. Aleksej Dmitrievič Sojmonow (1912–1995), Folklorist, 1939–1940 Abteilungsleiter im Wissenschaftlichen Kulturforschungsinstitut (Petrozavodsk), von 1941 bis 1945 im Armeedienst. siehe: Pis’ma M.  K.  Azadovskogo k A.  D.  Sojmonovu 1942–1944 [Briefe M.  K.  Azadovskijs an A.  D.  Sojmonov 1942–1944] hg. von N.  G.  Komelina. In: Russkaja literatura [Russische Literatur], 2009, Nr. 1, S. 229–255. Siehe Anm. 37. Nadežda Petrovna Dyrenkova (1899–28.10.1941), Folkloristin, Ethnografin, Turkologin und wiss. Mitarbeiterin des Museums für Anthropologie und Ethnografie. Ihr Buch Šorskii folklor [Schorisches Brauchtum] (Moskau/Leningrad 1940) ist dem mündlich-poetischen Schaffen der Schoren gewidmet, einem kleinen turksprachigen Volk, das im Südosten Westsibiriens (heute: Gebiet Kemerowo) lebt. Gemeint ist: M.  Azadovskij: Fol’klorizm Lermontova [Folkloristische Bestrebungen Lermontovs], in: Literaturnoe nasledstvo [Literarisches Erbe], Bd.  43–44, Moskau 1941, S. 227–262.

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29. November 1941 Das Schwerste ist für mich gegenwärtig der Verlust von Olja Volodina. Sie erinnern sich sicherlich an diese junge Frau mit den strahlenden Augen, die Sie bei mir in den Maitagen gesehen haben. Damals haben Sie, so scheint mir, auch meinen Schüler Ana[tolij] Mich[ajlovič] Kukulevič kennen gelernt – er wurde verwundet (an Hand und Kopf), aber dürfte alsbald wieder an die Front zurückkehren. Todesnachrichten erweisen sich übrigens recht oft als falsch, aber was Olja angeht, darf man sich offenbar schon keine Illusionen mehr machen.

Den ganzen November über waren sich die Eltern im Unklaren: abreisen oder bleiben? Ihre Lage wurde noch verwickelter, da Lidija Vladimirovna väterlicherseits von russifizierten Deutschen abstammte und den Nachnamen Brun trug – als sie 1935 Azadovskij heiratete, hatte sie ihren Namen nicht geändert (und tat dies auch bis an ihr Lebensende nicht). In ihren Papieren figuriert sie zwar als „Russin“ (die Familie war russisch-orthodox), doch im Herbst 1941 zog allein schon ein deutscher Familienname Aufmerksamkeit auf sich: er sorgte für Vorbehalte und konnte fatale Folgen haben. Bereits am 21. August war der Erlass Nr. 0055/20262 des Kommandeurs der Nordfront und des NKVD „Über die Ausweisung sozial gefährlicher Personen aus Leningrad und dem Gebiet“ ergangen. Zu den „sozial Gefährlichen“ waren unter anderem Deutsche und Finnen gezählt worden.56 Wie in anderen Landesteilen auch begann die massenhafte Verschickung von Deutschen „zur Sonderansiedlung“. Bis zum 1. Oktober waren aus Leningrad und den umliegenden Landkreisen bereits etwa 60.000 Deutsche und Finnen deportiert worden,57 viele von ihnen wurden dann Opfer von Repressionen. Das Festhalten an einem deutschen Nachnamen bedeutete unter diesen Bedingungen ein beträchtliches Risiko einzugehen. Deshalb war Azadovskij gezwungen, in den Lebensmittelkarten wie auch in anderen Dokumenten seiner Frau und seines Sohnes seinen eigenen Familiennamen anzugeben. Eines dieser Dokumente ist erhalten geblieben: Es handelt sich um einen von einer gewissen Lozovskaja, Leiterin des Wohn- und Schutzraumamtes des Stadtviertels Kujbyšev, unterschriebenen Passierschein für L. V. Azadovskaja „zum Einlass in den Schutzraum des Hauses 14 an der Ulica Gercena“.58 Zu den Sorgen und Nöten dieses Blockadeherbstes gesellte sich alsbald noch eine weitere: die Inhaftierung von nahen Freunden und Kollegen. 56 57 58

I. V. Čerkaz’janova: Leningradskije nemtsy: sud’ba voennych pokolenii [Die Leningrader Deutschen: Das Schicksal der Kriegsgenerationen (1941–1955)]. SPb. 2011, S. 21. Blokada Leningrada v dokumentach rassekrečennych archivov [Die Leningrader Blockade in Dokumenten aus freigegebenen Geheimarchiven]. Moskau/SPb. 2005, S. 697. Handschriftenabteilung der Russischen Staatsbibliothek Moskau (im Weiteren: NIOR RGB). Bestand 542 (M. K. Azadovskij). Kart. 55. Nr. 100.

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In der ersten Oktoberhälfte war im Rahmen der damaligen SpionomanieWelle unerwartet V. M. Žirmunskij verhaftet worden – und bald darauf auch Professor G. A. Gukovskij (1902–1950; repressiert), ein Kenner und Forscher der russischen Literatur des 18. Jahrhunderts. Beide verbrachten etwa einen Monat im Untersuchungsgefängnis des NKVD. Alsbald wurde auch – ebenfalls nicht für lange Zeit – A. I. Nikifirov verhaftet.59 Doch es ereigneten sich noch weitaus dramatischere Vorfälle.60 Diese Situation „auf Leben und Tod“, in der Hunger und Kälte, der einsame Kampf um die Lebensgrundlagen und die Angst um das Kind sich mit der für einen Sowjetmenschen schon gewohnten Furcht vor der Repressionsmaschine verbanden, drängte die Eltern zur schnellstmöglichen Abreise. Doch evakuiert zu werden, war im November/Dezember schon nicht mehr so einfach wie im August oder September: Die Zahl der Abreisewilligen war gewachsen, bei den zuständigen Stellen wurden Listen angelegt, die immer wieder revidiert wurden. Viele mussten ihr Recht auf Evakuierung beharrlich durchsetzen. Die Möglichkeit einer Evakuierung sah Mark Azadovskijs anfangs darin, dass er Angehöriger der Universität Leningrad war: Viele Gelehrte und Dozenten der Philologischen Fakultät hatten die Stadt bereits im Sommer oder September/ Oktober verlassen, doch der größte Teil blieb bis Februar 1942 vor Ort. Azadovskij schrieb seiner Mutter am 5. November 1941 nach Irkutsk: Du machst uns zu Unrecht Vorwürfe, dass wir nicht rechtzeitig Vorsorge zur Abreise getroffen haben. Vergiss nicht, dass Lidus’ka im achten Monat schwanger war – es wäre sehr gefährlich gewesen, in diesem Zustand etwas zu riskieren. Wir hätten nur fahren können, wenn es einen direkten und verlässlichen Zug gegeben hätte. Außerdem habe ich erst vergleichsweise spät das Telegramm der Irkutsker Universität61 erhalten. Die Leitung unseres Instituts62 legte mir (wie auch allen anderen in der gleichen Lage) allerlei Steine in den Weg und sperrte sich gegen individuelle Abreisen. Ende August erlaubte man dann endlich allen abzureisen, wohin auch immer (so fuhr S.Ja. Lur’e63 ab), aber für uns war es schon zu spät, und noch später war es dann schon für alle zu spät. 59 60 61 62 63

Siehe Anm. 20. Im Gefängnis starb z. B. der Historiker für russische Literatur und Dichter B. I. Koplan (1898–1941), der im Herbst 1941 verhaftet worden war (ein Schwiegersohn des Akademiemitglieds A. A. Šachmatov). Gemeint ist ein Telegramm des Rektors der Universität Irkutsk mit einem Arbeitsangebot für die Dauer der Evakuierung. Gemeint ist das Literaturinstitut (Puškinskij Dom). Solomon Jakovlevič Lur’e (1890–1964), klassischer Philologe, Althistoriker, Wissenschaftshistoriker, Professor an der Leningrader Universität (1934–1941; 1943–1949). Er konnte im Herbst 1941 nach Irkutsk abreisen, wo er zwei Jahre lang altgriechische Geschichte und Literatur unterrichtete.

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Jetzt fliegen viele auf dem Luftweg mit dem Flugzeug ab bis zu einem gewissen Punkt und dann geht es weiter per Zug. Höchstwahrscheinlich bestellt man mich in den nächsten Tagen ins Präsidium der Akademie der Wissenschaften ein und bietet mir diese Art der Abreise an.64 Das ist natürlich gut, aber dann fängt das Drama mit unserem Kleinen an. Ich muss gestehen, wir haben uns als unerfahrene und dumme Eltern erwiesen und hätten unseren Jungen beinahe vernachlässigt. Wie sich zeigte, hat Lidu’ska zu wenig Milch und so hat er nur die Hälfte dessen bekommen, was ihm nach allen Ernährungsregeln zustehen sollte. Der Junge hat schrecklich an Gewicht verloren. […] Jetzt bekommt er zusätzliche Säuglingsnahrung. […] Kurzum, jetzt aufzubrechen, mit einem Baby in so einem Zustand, angesichts einer ungewissen Zahl von Umsteigestationen, und wenn man nicht weiß, wie viele Tage man unterwegs ist, ohne an die notwendigen Lebensmittel zu kommen, und fast ohne Gepäck, denn im Flugzeug darf man nicht mehr als 15 Kilo pro Person mitnehmen (Kotik würde nicht mitgezählt) – das wäre entsetzlich riskant. Und am schwersten wiegt, dass wir Kotiks Behandlung im allerentscheidendsten Moment unterbrechen und ihn, ohne dass er zu Kräften gekommen wäre, auf so eine Reise mitnehmen müssten. […] Kurzum, ich denke, gegenwärtig darf man sich wirklich nicht auf eine Abreise einlassen – so sehr ich mich auch gerne in Umständen befinden würde, wo es nicht tagtäglich Alarm gibt, wo man nicht voller Angst auf einen sonnigen oder hellen Mondhimmel schaut, sich nicht über Regenwolken und Nebel freut, wo man nicht mit zur Hälfte vernagelten Fenstern leben muss und wo ich normal arbeiten und Lidus’ka normal ernähren kann. Ja, wenn es ein durchgehendes Flugzeug bis Irkutsk oder wenigstens bis Novosibirsk gäbe, wir würden nicht eine Minute nachdenken. Aber es scheint so, dass es nicht in der Macht der Irkutsker Universität steht, was einige andere vergleichbare Organisationen in anderen Städten haben bewerkstelligen können. Unsere materielle Lage hat sich jetzt etwas verbessert: Ich habe nun eine Karte der ersten Kategorie,65 was bedeutet, dass wir zusammen mit Kotiks Karte 800 Gramm Brot pro Tag haben. Für zwei ist das völlig ausreichend. Schade, dass die Ausgabe von Weißbrot auf Kotiks Karte eingestellt wurde, dafür haben wir in verhältnismäßig großer Menge Fett: Über meine Arbeit und Kotiks Karte bekommen wir ein Kilo Butter. Das Einzige, was uns bitter fehlt, ist Milch für Lidus’ka und Gemüse, ebenfalls für sie.66 Ein Fleischgericht ist ihr aber bisher 64 65

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Ein solches Angebot folgte, soweit bekannt, nicht. Im Juli 1941 waren in Leningrad fünf Kategorien an Lebensmittelkarten festgelegt worden (abgestuft nach der Relevanz der jeweiligen sozialen Gruppen); sie wurden am Arbeitsplatz ausgegeben. „Karten der Kategorie I erhielten Blokadniki, die die schwersten, aber für die Stadt und das Land lebenswichtigen Arbeiten erfüllten: Ärzte, Krankenschwestern, Luftabwehrsoldaten, Feuerwehrleute, Werksarbeiter und – selbstverständlich – Totengräber.  … Zum Teil bekamen sie auch jene, die zur künstlerischen, wissenschaftlichen und politischen Elite Leningrads gehörten  …“ (S.  Jarov: Povsednevnaja žisn’ blokadnogo Leningrada [Das Alltagsleben im blockierten Leningrad]. Moskva, 2013, S. 232). Professoren (mit Titel „Doktor der Wissenschaften“) erhielten die Lebensmittelkarten der Kategorie I ab Dezember 1941. „Der größte Mangel herrschte in Leningrad an Obst und Gemüse.“ Ebenda, S. 241.

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„Manchmal ist es unerträglich …“ täglich garantiert. Ich esse im Haus der Wissenschaftler zu Mittag, wobei man mir vorübergehend erlaubt hat, noch ein Essen für Lidus’ka mit nach Hause zu nehmen (eigentlich gibt es die Regel, dass in der Kantine des Hauses der Wissenschaftler Angehörige jetzt nicht mehr versorgt werden). Also, wie du siehst, wir leben alles in allem nicht so schlecht. Vorerst haben wir auch genug Brennholz.

Die Situation der Azadovskijs zu Beginn des Novembers kann man (im Vergleich zu anderen Familien während der Blockade) als erträglich bezeichnen. Sein Professorenstatus erlaubte es Mark Konstantinovič, Frau und Kind mit einem Minimum an Nahrungsmitteln zu versorgen (wie zu lesen, gelang es ihm sogar, im Haus der Wissenschaftler eine „zweite Mahlzeit“ zu bekommen). Doch im Lauf des Novembers verschlechterte sich die Lage drastisch: Die Mindestration an Brot wurde auf 150 Gramm am Tag gekürzt (für Werktätige auf 250 Gramm). Der Hunger holte auch unsere Familie ein. Am  25. November  1941 teilt Azadovskij seiner Mutter Vera Nikolaevna folgendes mit: Mein letzter Brief datierte vom 5. November und ich muss sagen, dass seither viel Wasser die Neva heruntergeflossen ist. All das, was ich dir geschrieben habe, ist hoffnungslos überholt und hat sich geändert. Jeder Tag bringt etwas Neues – aber bisher nicht zum Besseren. Auch unsere Pläne hinsichtlich einer Abreise haben sich geändert. Wie riskant und furchterregend es auch ist, so eine Fahrt mit Kotik zu unternehmen, so müssen wir uns offenbar doch dazu entschließen. Mein Herz verkrampft allein beim Gedanken an so eine Reise mit ihm, aber es ist nichts zu machen. Wir werden also warten, bis wir an die Reihe kommen – sofern natürlich die Universität nicht gegen meine Abreise protestiert, wie es schon bei einigen Professoren geschehen ist. Oft ist es in der Tat richtig unheimlich. Die ständigen Fliegeralarme, der Anblick von Häusern, die oben durch Bomben oder unten durch Beschuss zerstört wurden – all das zwingt dazu, über die schnellste Möglichkeit nachzudenken, Kotik an einen sicheren Ort zu bringen. Und am wichtigsten ist die Frage seiner Ernährung. Lidus’ka müsste das Doppelte von dem zu essen bekommen, was sie gewöhnlich hat, aber jetzt …

Das Jahr 1942 war angebrochen. Es sind manche Erinnerungen von Zeitzeugen erhalten, wie der Jahreswechsel von den Bewohnern der belagerten Stadt begangen wurde – einer Stadt, in der im Dezember die Wasserversorgung zusammengebrochen war, und bald darauf auch die Stromversorgung. „Für viele bedeutete Neujahr, eine Bilanz zu ziehen, Marksteine und Verluste zu zählen und das Vergangene mit der Gegenwart abzugleichen. In diesem Moment spürten die Menschen ein ‚Auftauen‘, wenn sie sich für einen kurzen Moment aus dem Trichter der Blockadehölle in die Vergangenheit

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flüchteten.“67 Ein solches „Auftauen“ erlebten offenbar auch für einen Augenblick meine Eltern in der Nacht vom 31. Dezember auf den 1. Januar. Davon erzählt ein Brief Azadovskijs an Vera Krupjanskaja, den er fast drei Wochen später geschrieben hat: 18. Januar 1942 Vor einigen Tagen habe ich, meine werte Freundin, Ihr Neujahrstelegramm erhalten – ich hoffe, dass auch meines, wenn schon nicht pünktlich, so doch wenigstens mit nicht zu großer Verspätung eingetroffen ist – und vor zwei, drei Tagen erreichten mich auch ihre Briefe von Ende November. Ich nehme an, dass Sie jetzt Ihrerseits über die Briefe verfügen, die im Dezember an Sie gegangen sind. Vor kurzem kam per Flugzeug aus Moskau irgendein wichtiger Funktionär des Künstlerverbands hierher und brachte manchen Leuten Briefe von Moskauer Künstlern mit. Aus ihnen kann man herauslesen, wie höchst unterschiedlich und geradezu unvergleichlich das Leben bei uns und bei Ihnen verläuft. Sie schreiben in Ihrem Brief von unseren schweren Prüfungen, die Sie aus der Entfernung nur erahnen können – aber darum geht es nicht. Wovon Sie sprechen, das Leben im vierten Stock, die Angst bei den Luftangriffen usw., das sind alles Nichtigkeiten, darum geht es nicht. In dem Brief, den ich zu sehen bekam, ging es u. a. um ein Neujahrsfest in einem Moskauer Hotel! Allerdings habe auch ich mit L[idija] V[ladimirovna] den Abend des 31. Dezember sehr angenehm und trostreich verbracht. Leider konnte selbst von den engsten Verwandten niemand kommen – weshalb wir es uns zu zweit (Kotik nicht mitgezählt, er schlief um zwölf schon friedlich) gut gehen ließen: Ausnahmsweise gab es Licht, es war warm (es war das letzte Mal, dass wir das Kabinett heizten), wir kochten Kaffee, tranken jeder ein Gläschen Wein und zum Abendessen gab es bei uns solche Delikatessen wie eine große, dicke Kartoffel für jeden. Ich vergaß anzufügen, dass wir den Kaffee diesmal nicht nur mit Zucker tranken, sondern sogar mit weißem Trockengebäck. Und danach lasen wir Gedichte unserer Lieblingsdichter […] Der unerwartete, wenn auch nicht ganz plötzliche Tod von Nikolaj Petrovič68 wird Sie und alle Moskauer Folkloristen erschüttert haben. Was für ein Zufall: Er starb am gleichen Tag, dem 15. Jan., wie Jur[ij] Matveevič!69 Nun, die sowjetische

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Ebd., S. 263 N. P. Andreev. Über dessen missglückte Evakuierung berichtete Mark Konstantinovič am 22. Dezember 1941 in einem Brief an V. E. Krupjanskaja: „Von den Unsrigen ist niemand irgendwohin abgeflogen und auch nicht auf andere Weise weggekommen. Vor zwei Tagen hätte Nik[olaj] Petr[ovič] Andreev abfliegen sollen, doch aufgrund einer gewissenlosen Unverschämtheit, die sich unsere Verwaltung ihm gegenüber erlaubte, konnte er seine Berechtigung nicht nutzen – und nun hat er anscheinend auf alles gepfiffen und ist offenbar fest beschlossen, dazubleiben.“ Zu den letzten Lebenstagen N. P. Andreevs siehe auch D. Lichačov: „Kak my ostalis‘ živy“ [Wie wir überlebt haben]. In: Neva, 1991, Nr. 1, S. 17. Der führende Moskauer Folklorist Jurij M. Sokolov starb am 15. Januar.

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„Manchmal ist es unerträglich …“ Folkloristik, und gerade sie, hat schwere Verluste erlitten – und wird diese wohl auch weiterhin erleiden. Unser Kotik wächst. Ach, aber unter welchen Umständen! Das arme Kerlchen liegt den ganzen Tag in einem absolut dunklen Zimmer, dessen Temperatur in der Regel zwischen 12 und 8 Grad schwankt. (Und nachts fällt sie auch auf 7 zurück – Grad Celsius, versteht sich). Schon seit etwa einem Monat haben wir ihn nicht mehr baden können, er kommt auch nicht an die Luft – denn seine Eltern können ihn nur mit Mühe über die Treppe tragen und mit ihm draußen spazieren gehen – und das natürlich nicht, weil der Junge selbst zugenommen hätte. Sein Gewicht ist für uns nach wie vor Anlass zur Sorge. Aber ansonsten ist er ein wundervolles, aufgewecktes Kind mit strahlenden Augen und einem fröhlichen, klugen Lächeln. Mit den Nerven sind wir beide am Ende – und oft können wir ihn nicht ohne Tränen anschauen.

Dieser Brief sollte in Moskau einen Monat später ankommen (damals die übliche Laufzeit eines Briefes von Leningrad in den Rest des Landes). „Gestern habe ich nach einer langen Pause Ihren Brief vom 18.1 bekommen“, antwortete Vera Krupjanskaja am 20. Februar 1942. „Wenn man diesen Brief liest, so mischt sich in die Freude über den Kontakt ein Gefühl des Schmerzes und der Angst um Sie. Ich stelle mir ja schon lange das ganze Leid Ihres Lebens vor. Die Briefe kommen ja nur sehr langsam durch, was eine große Kluft zwischen dem Geschriebenen und dem während der Lektüre des Briefes Nachempfundenen.“70 Dem regelmäßigen Schriftverkehr zwischen Moskau und Leningrad tat dies keinen Abbruch: 10. Februar 1942 Meine allerliebste Freundin, die Trauerliste der sowjetischen Folkloristik wächst. Sie haben sicherlich schon meinen Brief erhalten, in dem ich ausführlich über Nik[olaj] Petrovič berichtete. Damals schrieb ich Ihnen, dass mir das Paar Gippius-Ėval’d Sorge bereitet. Meine Befürchtungen erwiesen sich als berechtigt. Am 30. Januar, d. h. genau zwei Wochen nach N[ikolaj] P[etrovič], starb auch Zinaida Viktorovna.71 Den letzten Monat hat sie unter schrecklichen Bedingungen verbracht. Sie hatte sich ohnehin seit dem Beginn des allseitigen Mangels bei allem zugunsten von Evg[enij] Vlad[imirovič]72 eingeschränkt. In der Anfangszeit war bei uns die Sterblichkeit unter den Männern höher als unter den Frauen. Das erklärt sich natürlich aufgrund gewisser physiologischer Besonderheiten in Zusammenhang mit den Regeln der Ernährung und des Stoffwechsels. Wie auch immer, unter den Leningradern entstand und verbreitete sich die Theorie über das größere 70 71 72

NIOR RGB. Bestand 542. Kart. 63. Nr. 32. Bl. 14. Z. V. Ėval’d. E. V. Gippius.

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Durchhaltevermögen von Frauen und die für sie geringere Gefahr durch Unterernährung usw.73 Zina nahm sich diese Theorie ganz besonders zu Herzen und erklärte allen frohgemut, dass sie das „verkraftet“ – Hauptsache, sie rettet ihren Ženja. Und Ženja nahm diese Theorie und Praxis durchaus dankbar auf und bemerkte nicht, wie Zina sich vor aller Augen abzehrte. Allerdings hatte er sich an ihre ständige Aufopferung zu seinen Gunsten (in Bezug auf persönliche, alltägliche, weibliche und wissenschaftliche Dinge) schon vortrefflich gewöhnt. Zu allem Übel hat sie dann noch Mitte Januar alle Lebensmittelkarten verloren – und beide hatten weder Brot noch Gutscheine für die Kantine (in unseren Kantinen gibt man mit der Mahlzeit Gutscheine für Graupen, Fleisch, zum Teil auch für Fett und manchmal Zucker) heraus. Am 16., d. h. jenem Tag, an dem der Tod von N[ikolaj] P[etrovič] bekannt wurde, kamen beide zu mir: Ich war damals selbst nicht gesund und lag im Bett. Lidija Vlad[imirovna] kam zu mir und sagte: „E[vgenij] V[ladimirovič] und irgendein altes Weiblein sind gekommen.“ Sie hatte Z[inaida] V[iktorovn]a nicht erkannt – und in der Tat, vor mir saß eine schwarze, schlimm anzusehende, schmutzige alte Frau, die sich schon lange nicht mehr gewaschen hatte, mit zerfleddertem grauem Haar und irren Augen. Evg[enij] Vlad[imirovič] war das passende Gegenstück dazu. Ich dachte, sie sei gekommen, um gemeinsam den toten N[ikolaj] P[etrovič] zu betrauern – aber wie sich zeigte, wollte sie Gutscheine für die Kantine borgen bis sie neue Lebensmittelkarten bekommt. Beide sprachen dabei nicht auf Augenhöhe mit mir, wie unter Kollegen üblich, sondern so, als wären sie gekommen, um Almosen zu erbitten. Es war schauderhaft, mir schien, die beiden – vor allem Zina – seien Goyas Bildern entsprungen. Bei Zina war schon klar zu erkennen, was für viele in Leningrad jetzt typisch ist: der Zerfall der Persönlichkeit. Ich konnte nach ihrem Besuch lange nicht zu mir kommen. Und am 30. Januar war dann schon vorbei. Evgenij ist jetzt im Krankenhaus und ich hoffe, dass er gerettet werden kann – obwohl er ohne Zina für uns als wissenschaftlicher Mitarbeiter schon sowieso gestorben ist –, natürlich nicht gänzlich, aber im Großem und Ganzen schon! Wesentliche Arbeiten werden wir von ihm nicht mehr zu sehen bekommen. Deshalb halte ich den Tod Zinas für besonders tragisch für unsere Wissenschaft. Es mag Ihnen seltsam erscheinen,

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Vgl. in den Aufzeichnungen von O.  Frejdenberg: „Im Januar starben allein die Männer und vor allem diejenigen im Alter von 35 bis 40 Jahren, also in den besten Jahren. Es starben die Gesunden, Rotbäckigen, Drahtigen und Kraftstrotzenden. Sie legten sich ins Bett und starben innerhalb von zwei bis drei Tagen. Es starben fröhliche und lebensfrohe Menschen. […] Die Frauen hielten bis zum Frühjahr durch.“ (O.  Frejdenberg: Osada čeloveka [Die Belagerung des Menschen]. Hg. von K. Nevel’skij (Ju. M. Kagan). In: Minuvšee. Istoričeskij al’manach [Vergangenes. Historischer Almanach]. Bd. 3, Paris 1987, S. 21). Die gleiche Beobachtung finden sich in den Memoiren eines anderen Zeitzeugen: „Als Erste starben am Hunger die robusten, starken Männer, dann die halbwüchsigen Buben. Die Frauen erwiesen sich als widerstandsfähiger, am besten wussten die jungen Mädchen mit ihren Kräften hauszuhalten“ (S. Ė. Friš: Skvoz’ prizmu vremeni [Durch das Prisma der Zeit]. Moskva, Leningrad, 1992, S. 273).

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„Manchmal ist es unerträglich …“ aber ich (und Anna Michajlovna74 denkt genauso) nehme an, der Tod Zinas ist für die sowj. Folkloristik sogar ein größerer Verlust als der Tod Nik[olaj] Petr[ovičs]. Irgendwann einmal später werde ich Ihnen meinen Gedanken genauer erklären. Natürlich hätte Nik[olaj] Petr[ovič] noch sehr viel geschrieben: Er hätte ein paar „Indizes“ angefertigt – sicherlich hätte er eine zusammenfassende, einführende, große Arbeit (ev. sogar ein Buch) über das russische Märchen vorgelegt, er hätte ein wirklich gutes Lehrbuch für Folkloristik abgeliefert, an dem er im Auftrag von Učpedgiz75 schon arbeitete, doch eine schöpferische Bereicherung der sowj. Folkloristik hätte man von ihm nicht erwartet. Er hätte keine Steine versetzt, während Zina mit ihrer Arbeit über Lyrik, auf Grundlage riesigen Materials, mit ihrer enormen Belesenheit als Musikwissenschaftlerin und der hervorragenden Kenntnis des lit[erarischen] Materials, vollkommen neue Wege eingeschlagen hat und auch E[vgenij] V[ladimirovič] auf selbige brachte – und gemeinsam (hauptsächlich Zina) hinterlassen sie eine hervorragende, nun aber unvollendete Arbeit.

Als Mark Azadovskij diesen, von Trauer um die verschiedenen Freunde und Kollegen erfüllten Brief schrieb, schien die schwerste Phase des ersten Blockadewinters (von Dezember 1941 bis Februar 1942) schon überstanden. Im Februar sollte die Leningrader Philologische Fakultät abreisen und Azadovskij samt Familie stand auf der Liste der zu Evakuierenden. Doch es geschah Unvorhersehbares: Lidija Vladimirovna erkrankte schwer. In einem Brief an Vera Krupjanskaja berichtete Azadovskij: 25. Februar 1942 Für Januar/Februar dürfte dies der vierte Brief sein. Gut möglich, dass Sie sie in anderer, nicht chronologischer Reihenfolge erhalten. In der Zwischenzeit hat sich bei mir viel geändert. Lidija Vladimirovna ist schwer erkrankt. Am 15., just an ihrem Geburtstag, saß der Tod schon auf der Bettkante. Ich werde diesen Tag und die folgenden nie vergessen. Sie litt an einer schweren Magenkrankheit (sei es Hämocolitis oder Dysenterie), die von einer extremen Infektionspsychose begleitet wurde – ich, der die Gründe dafür nicht begriff, dachte schon, dass sie für immer den Verstand verloren habe und ihr wacher Geist auf ewig getrübt sei. Die Woche ihrer Krankheit – nun geht es ihr schon etwas besser und sie befindet sich im Krankenhaus unter nicht gerade günstigen Bedingungen (auch wenn die Verhältnisse dort im Vergleich zu ähnlichen Einrichtungen gut sind: jedenfalls gibt es dort, wo sie sich befindet, den ganzen Tag über Licht, fließend Wasser und es ist warm) – hat mich völlig aus der Bahn geworfen. Das Herz 74

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A.  M.  Astachova (1886–1971), Folkloristin; ab 1934 wissenschaftliche Mitarbeiterin in der Abteilung für Folkloristik des Literaturinstituts (Puškinskij Dom). Siehe Pis’ma A. M. Astachovoj k M. K. Azadovskomu [Briefe von A. M. Astachova an M. K. Azadovskij] (1942–1954), hg. von N. G. Komelina, in: Russkaja Literatura [Russische Literatur], 2013, Nr. 4, S. 104–133; 2014. Nr. 4, S. 36–88. Name des Staatlichen Lehrbuchverlags in Moskau.

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funktioniert schlecht, die Beine versagen ihren Dienst – heute hat man mich aus der Akad. der Wissenschaften am Arm nach Hause geleitet. Ich habe Angst, dass ich eines Tages auf der Straße stürze – und dann wiederholt sich das Schicksal Nik[olaj] Petrovičs. In den nächsten zwei, drei Tagen fahren die Angehörigen der Universität ab. Unter relativ guten Umständen. Via – Saratow! [so in latein. Buchstaben im russ. Original, im Sinne von: Der Weg führt nach Saratov, Anm. d. Übers.] Wir hätten eigentlich alle zusammen abfahren sollen. Jetzt kann aber natürlich keine Rede von einer Abreise sein. Alles in allem beginnt mir die Zukunft Angst zu machen. Wenn Sie mich jetzt auf der Straße träfen, Sie würden wohl in diesem kaum ein Bein vor das andere setzenden Greis ihren Gesprächspartner vom Mai nicht wiedererkennen. Und werden wir uns wohl je noch wiedersehen? […] P.  S.  Habe ich Ihnen geschrieben, dass die Universität mein Buch für den Stalinpreis nominiert hat?76 P. S. Wir verzeichnen erneut schwere Verluste: Vas[ilij] Vas[il’evič] Gippius77 und V.  L.  Komarovič78 sind gestorben. Das bedeutet, wir werden das hervorragende Buch über Gogol nie sehen, das schon zu mehr als der Hälfte fertig war, ebenso nicht die höchst interessante Arbeit über Chroniken (Komarovič).

Die angeführten Briefe sind charakteristisch für Azadovskijs Korrespondenz in den Kriegsjahren. In seinen Berichten über die Nöte der Blockade, die ihn samt Familie rapide dem Untergang näherbrachte, bekundet Azadovskij dennoch beständig seinen Schmerz über die Verluste unter seinen engsten Mitarbeitern (Folkloristen) und den ihm bekannten russischen Literaturhistorikern. Diese schmerzvolle Note zieht sich durch fast alle seine Briefe aus der Kriegszeit. Ganz der Wissenschaft ergeben, war Azadovskij in tiefer Sorge um das Schicksal der russischen Philologie und insbesondere um jene von ihm selbst begründete folkloristische Schule, als deren unbestrittener Leiter er seinerzeit galt (jedenfalls nach dem Tod von Ju.M. Sokolov). „Wie viel sich doch seither79 geändert hat“, klagt Azadovskij am 28. Februar 1942 in einem Brief an N. K. Piksanow, „wie viele unvergessliche, auf ewig unersetzliche Verluste. Die Tode von Nik[olaj] Petr[ovič] Andreev, Vas[silij] Vas[il’evič] 76 77

78 79

Für den Stalinpreis war das Manuskript Istorija russkoj folkloristiki [Geschichte der russischen Folkloristik] vorgeschlagen worden, wurde aber nicht ausgezeichnet. Vasilij Vasil’evič Gippius (1890–01.03.1942), Historiker für russische Literatur und Übersetzer von Lyrik. Bis zu seinen letzten Lebenstagen arbeitete er an seinem Buch über Gogol’, welches abzuschließen ihm nicht vergönnt war (einzelne Kapitel wurden 1948 veröffentlicht). Vasilij Leonidovič Komarovič (1894–17.02.1942), Folklorist, Historiker der altrussischen und klassischen russischen Literatur. Er starb in der Krankenstation des Schriftstellerverbands. D. h. seit Herbst 1941.

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„Manchmal ist es unerträglich …“ Gippius, Vas[ilij] L[eonidovič] Komarovič, Z. V. Ėval’d und Falev80 sind so schwer und sinnlos; schließlich verschwand – und das auf immer – mit jedem von ihnen eine Idee oder eine Studie oder ein fast fertiger Entwurf irgendeiner wichtigen und notwendigen Arbeit […] Wenn uns Menschen verlassen wie V. V. Majkov81 oder N. K. Koz’min82, so kann man das mehr oder weniger normal und gelassen aufnehmen: Ihr Lebensweg als Weg in der Wissenschaft war schon lange abgeschlossen. Aber man kann sich schwerlich mit dem Tode beispielsweise des jungen Aspiranten Savanovič abfinden, der gerade erst eine hervorragende Dissertation über Tjutčev verteidigt hatte.“83

Den Tod junger Wissenschaftler, vorrangig seiner eigenen Schüler, empfand Azadovskij als persönliche Tragödie. Nicht zufällig beginnt die Istorija russkoj folkloristiki [Geschichte der russischen Folkloristik], die Hauptarbeit seines Lebens, mit folgender Widmung: „Im ewigen Angedenken an meine Schüler – die Folkloristen, die im Kampf für die Heimat fielen: Anatolij Kukulevič, Ivan Kravčenko, Ol’ga Volodina, Michail Michajlov …“ Während seine Briefe ausführlich von den Umgekommenen handeln und Details über Frau und Kind mitteilen, äußert sich Azadovskij nur spärlich (möglicherweise aus Rücksicht auf die Militärzensur, die alle Postsendungen kontrollierte) über seinen eigenen „Alltag“ in der Blockade. Höchstens erlaubt er sich zuweilen eine Klage über die Unmöglichkeit, am Schreibtisch zu arbeiten. Es fällt kein Wort über die Unterrichtsstunden mit den Studenten, die bis spät in den Winter unter fast unmöglichen Umständen stattfanden, kein Wort über die Nachtwachen, das Löschen von Brandbomben auf den Dächern Leningrader Gebäude, kein Wort über die anhaltenden Bombardements und Artillerie-Angriffe, über die täglichen Fußmärsche unter Sirenengeheul in die Kantine des Hauses der Wissenschaftler, das unvermeidliche Schlange stehen usw. Davon erzählte viele Jahre später Lidija Vladimirovna: Wie tausende andere Leningrader stand er auf dem Dach, schob Nachtwachen, sah die faschistischen Flugzeuge, wie sie über unsere Stadt flogen und Bomben warfen. Besonders quälte ihn während seiner Nachtwachen im Puškinskij Dom, dass es unmöglich war, nach einer Entwarnung anzurufen und zu erfahren, ob das Haus, in dem sich Kotik und ich befanden, heil geblieben war. Er half 80 81 82 83

Ivan Aleksandrovič Falev (1892–Dezember 1941), Linguist, wissenschaftlicher Mitarbeiter der Akademie der Wissenschaften und Lehrer am Pädagogischen Herzen-Institut. Vladimir Vladimirovič Majkov (1863–21.02.1942), Archäograph, Paläograph und Bibliograph. Nikolaj Kirovič Koz’min (1873–28.2.1942), Literaturhistoriker, Puschkin-Forscher, korrespondierendes Mitglied der Akademie der Wissenschaften der UdSSR. Gemeint ist Dmitrij Danilovič Savanovič (1915–20.12.1941), Doktorand an der Leningrader Universität, der seine Doktorarbeit „Die Poesie Tjutčevs“ am 16. Dezember 1941 – vier Tage vor seinem Tod – glänzend verteidigt hatte.

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eingestürzte Häuser abzutragen und dort verschüttete Menschen zu bergen (so beim Haus an der Ecke Kirpičnyj Pereulok und Ulica Gogolja). Und dabei blieb er immer er selbst und veränderte sich trotz all dieser Umstände nicht um ein I-Tüpfelchen. […] Wie tausende andere Leningrader hungerte und fror er, magerte ab und wurde immer durchsichtiger. Ohne auf den Beschuss zu achten, ging er tagtäglich im Kugelhagel mit Kanne und Dosen ins Haus der Wissenschaftler, um mir eine wässrige Suppe mit einem Kohlblatt und ein Löffelchen Brei oder Nudeln zu bringen. Mit seinen ungeschickten Händen versuchte er, Holzscheite für unseren Kanonenofen klein aufzuspalten und ihn dann anzuheizen. Seine Hände waren von der Kälte geschwollen, sie waren schwarz von Schmutz, Asche und dem Holz, sie rissen auf und wurden von seltsamen Blasen überzogen […]. Zu Prüfungen kamen die Studenten zu ihm nach Hause. Ich erinnere mich, dass er Prüfungen in völliger Dunkelheit abnahm. Nur für den Moment, in dem er ihnen seinen Vermerk ins Studienbuch schrieb, zündete ich eine kleine Weihnachtsbaumkerze an. Im Licht des Mondes, der selbstgebastelten Koptilka [einer für die Blockadezeit typischen, stark rußenden Öllampe aus Blechdosen, Anm. d. Übers.] oder im Widerschein der Flammen im Kanonenofen (sofern er denn angeheizt war) las er Gérard de Nerval, für den er sich damals begeisterte, oder machte letzte Korrekturen und Ergänzungen in seiner Istorija russkoj folkloristiki [Geschichte der russischen Folkloristik].84

Auf die „wissenschaftliche Seite“ seines Blockadelebens und die schlaflosen Nächte, die er über der Istorija russkoj folkloristiki [Geschichte der russischen Folkloristik] verbracht hatte, verweist Mark Azadovskij erst im September 1943 – im Zusammenhang mit einer erneuten Nominierung dieses Buches für den Stalinpreis – in einem seiner Briefe an Nikolaj Gudzij:85 Um es offen und ehrlich zu sagen, ich denke, meine Arbeit hätte den Preis verdient. Sie ist für sich genommen nicht vollkommen, ich sehe in ihr nicht wenige Seiten, die ich gerne überarbeiten würde, ich kenne ihre Unzulänglichkeiten und Mängel und vieles andere. Nicht immer bin ich mit meinem Stil zufrieden, besonders missfällt mir in dieser Hinsicht das Einführungskapitel und vieles anderes. Aber auf der Arbeit liegt auch der Widerschein eines gewissen Heldenmuts. Sie wurde schließlich in Leningrad abgeschlossen und unter Bedingungen geschrieben, von denen unsere westeuropäischen Kollegen höchstwahrscheinlich nie auch nur etwas erahnen werden. Der erste Band wurde noch komplett vor dem Krieg abgeschlossen. Die Kriegserklärung (die 84 85

L. V. Azadovskaja: Serdce ne znalo pokoja [Das Herz fand keine Ruhe], in: Vospominanija o M. K. Azadovskom [Erinnerungen an M. K. Azadovskij], S. 23–24. Nikolaj Kallinikovič Gudzij (1887–1965), Literaturhistoriker, Spezialist für altrussische Literatur, Mitglied der Akademie der Wissenschaften der Ukrainischen Sowjetischen Sozialistischen Republik.

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„Manchmal ist es unerträglich …“ Nachricht im Radio) ereilte mich auf dem Weg zur Maschinenschreiberin, als ich ihr die letzten Seiten zum Abtippen brachte. Aber eine ganze Reihe von Kapiteln des zweiten Bands, ebenso das allgemeine Vorwort u.  a. wurden an Tagen und Abenden mit Bombenangriffen geschrieben, während der nächtlichen Wachdienste im Institut, sie wurden mit klammen Fingern geschrieben, an der Kante eines Tisches, der mit allem möglichen Zeug zugestellt war, im einzigen (halb-)bewohnbaren Zimmerchen, beim Licht einer Koptilka oder Weihnachtsbaumkerze. Und unter denselben Bedingungen tippte sie Lidija Vladimirovna mit der Schreibmaschine ab. Die letzten Seiten schrieb sie am 5.–6. Februar fertig und am 10. wurde sie von dieser schweren Krankheit dahingerafft, die sie um ein Haar endgültig ausgelöscht hätte. Doch alledem wohnte seine eigene Poesie inne. Eine schreckliche, schaurige Poesie, aber eben Poesie. Es ist Nacht. In der Ecke schläft unser Kleiner in einem wattierten Schlafsack, unter einem Berg an Decken dämmert Lidija Vladimirovna. Und ich feuere inzwischen den Kanonenofen an, auf dem ich selbst allen Abendessen mache und zwischendurch schreibe ich an noch unfertigen Stellen meiner Arbeit. Dann hat sich der Ofen aufgeheizt, im Zimmer wird es wärmer, ich wecke die erschöpfte und müde Lidus’ka auf, wir decken endlich unseren Kleinen auf, um ihn zu füttern und frisch zu wickeln, – und dann essen wir unsere 200 Gramm (d. h. am Abend sind davon nicht mehr als 50 für jeden übrig), wir trinken brennend heißen Kaffee mit den Resten der Zuckervorräte von früher. Wir sprechen über unsere Freunde (immer wieder haben wir bei diesen nächtlichen Gesprächen auch an Sie und Ihren letzten Besuch– Sie erinnern sich noch? – gedacht), schmieden Pläne, träumen von Zeiten, an denen man sich an die heutigen nur noch erinnern wird – und dann legen wir unseren Sohn schlafen, Lidus’ka wird erneut zu Bett gebracht und gut zugedeckt und ich sitze wieder, mitten in der Nacht, allein an meinem Buch, solange Kälte und Müdigkeit mich nicht auf jenes breite Sofa treiben, um dann um sechs Uhr morgens aufzuspringen und die letzten Nachrichten zu hören … Und tatsächlich, in solchen Minuten und Stunden habe ich Passagen zu Papier gebracht, die ich für die besten im Buch halte. Natürlich habe nicht nur ich allein so gearbeitet. Unter diesen Umständen schrieb auch der verstorbene Vas[silij] Vas[il’evič] Gippius sein außerordentliches Buch, so las Gruber86 seine Korrekturen und selbstverständlich arbeiteten so auch noch andere. Nur mit dem Unterschied, dass sie nicht so eine zusätzliche „Belastung“ in Form des kleinen, schutzbedürftigen Kotik hatten. Aber darin lag für mich zugleich auch eine Quelle neuer Kraft. Wer weiß, ob ich das alles geschafft hätte, wenn ich nicht jeden Tag und jede Stunde neue Energie aus den blauen, strahlenden, schon damals klaren und klugen Äuglein meines kleinen Jungen hätte schöpfen können. Verzeihen Sie, mein teurer Freund, dass ich Sie hier unvermittelt mit so einem Strom an Lyrik überrollt habe. Genug davon!

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Roman Il’ič Gruber (1895–1962), Musikwissenschaftler. Gemeint ist seine fundamentale Arbeit, das Lehrwerk Istorija muzykal’noj kul’tury [Geschichte der Musikkultur], Bd.  1, Teil 1 und 2, Moskva, Leningrad, 1941.

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Trotz Hunger, Kälte und der Krankheit Lidija Vladimirovnas überstand die Familie den Januar und Februar. Doch im März 1942 waren die Kräfte der Eltern völlig erschöpft. Mark Azadovskijs zuversichtliche Stimmung, die ihn während der Wintermonate nicht verlassen hatte, wich Erschöpfung und sogar Apathie. Dies gesteht er in einem Brief an Viktor Žirmunskij vom 1. März 1942 ein: Jetzt bin ich besonders traurig und niedergeschlagen. Wir haben sehr unter der uns unmöglichen Abreise gelitten. […] Solange noch das ganze Universitätskollektiv vor Ort war, war es einfacher. Alle reisen nach Saratow ab (alle Unsrigen orientieren sich an der Universität, die maximale Aufmerksamkeit und Fürsorge um ihre Leute zeigt, und nicht an der Akademie, deren Verhältnis zu den Mitarbeitern noch zynischer geworden ist); es reisen ab: B.  M.  Ėjchenbaum, S.  D.  Baluchatyj, G.  A.  Gukovskij, M.  P.  Alekseev, V.  E.  Evgen’ev-Maksimov, S.  S.  Mokul’skij, A.  P.  Riftin, V.  N.  Orlov87 u.v.a. A.  A.  Smirnov88 hat es irgendwie individuell geschafft, evakuiert zu werden. Auch ich wollte mich evakuieren lassen, doch einige Tage vor der Abfahrt wurde Lid[ija] Vlad[imirovna] krank; der Tod schwebte einige Tage über ihr – ihre Rettung gelang, doch aus der Abreise wurde nichts. Und noch wichtiger: Wir blieben völlig allein, ohne Freunde, ohne Perspektiven. Geblieben sind auch Mar[ija] Laz[arevna] und Ios[if] Mois[eevič]89, da sie sich wegen des Gesundheitszustands von Roza Nik[olaevna]90 nicht von der Stelle rühren können. Ios[if] Mois[eevič] geht es sehr schlecht, auch Marija Lazarevna ist schrecklich anzusehen. Wobei, auch mich würden Sie nicht erkennen, sollte es möglich sein, dass wir uns irgendwann, irgendwo zufällig auf der Straße begegnen. […] Deshalb ist es nun äußerst schwer, unter solchen Eindrücken und Umständen hier aushalten zu müssen. Bislang war ich die ganze Zeit sehr umtriebig – wie schwer und hart unsere Leningrader Umstände auch waren, ich versuchte zwischen den Aufgaben im Haushalt Zeit für die Arbeit zu finden – ich konnte mein Buch fertigstellen (die Universität hat es, zusammen mit dem Buch von Michail Pavlovič91 für den 87

88 89

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Aufgezählt werden bekannte Leningrader Wissenschaftler, Literaturhistoriker, Freunde Azadovskijs oder dessen Kollegen an der Leningrader Universität oder im Puschkin-Haus: B.  M.  Ėjchenbaum (1886–1959), S.  D.  Baluchatyj (1893–1945), V.  E.  Evgen’ev-Maksimov (1883–1995), S. S. Mokul’skij (1896–1960), A. P. Riftin (1900–1945) und V. N. Orlov (1908– 1985). Zu G. A. Gukovskij und M. P. Alekseev s. oben. Aleksandr Aleksandrovič Smirnov (1883–1962), Literaturhistoriker, Übersetzer, Theaterwissenschaftler (Shakespeare-Experte), Begründer der russischen Keltologie. Gemeint ist Marija Lazarevna Tronskaja (geb. Gurfinkel’, 1896–1987), Germanistin, Autorin von Arbeiten zu westeuropäischen Literaturen, sowie Iosif Moiseevič Tronskij (urspr. Nachname: Trockij, 1897–1970), klassischer Philologe. Beide waren enge Freunde der Familie Azadovskij. Die während der Blockade verstorbene Mutter von M. L. Tronskaja. Für den Stalinpreis wurde M.  P.  Alekseevs  Buchmanuskript über russisch-englische Literaturbeziehungen nominiert, aber nicht mit dem Preis ausgezeichnet. Angereichert um spätere Funde und Entdeckungen wurde diese Arbeit erst 1982 vollständig veröffentlicht. (Literaturnoe nasledstvo [Literarisches Erbe], Bd. 91. M. 1982).

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„Manchmal ist es unerträglich …“ Stalinpreis nominiert – was für dich als einen der Urheber dieser Idee sicher angenehm zu hören ist. Aber das Buch wird zwangsläufig Pavel Ivanovič92 in die Hände fallen, und er wird alles unternehmen, um es zugrunde zu richten: Wir hier werden nicht das Geringste erfahren über das Schicksal unserer Werke – übrigens, Michail Pavlovič sitzt schon auf Koffern.93) – Inzwischen setze ich nur mit Mühen ein Bein vor das andere und fühle mich sehr schlecht. […] Ob man sich wohl wiedersieht, ob man die lang gehegten Pläne und Ideen wird umsetzen können, ob es gelingt, unseren wundervollen Jungen zu retten, ob man den Glauben an die Möglichkeit schöpferischer Arbeit zurückgewinnt – ich weiß es nicht. Das, was wir jetzt durchlebt haben (und es ist noch lange nicht vorbei), wird nicht spurlos an uns vorübergehen. Und das Allerschlimmste, was jetzt zu beobachten ist, ist der Zerfall der menschlichen Psyche bei den Leuten – ich bin, wie mir scheint, noch verschont geblieben –, doch die physischen Kräfte schmelzen einfach dahin, die Gesundheit schwindet (immerhin bin ich schon 54 Jahre alt) und meine so langanhaltende Zuversicht und Selbstsicherheit beginnen mich zu verlassen. Wie gut, meine teuren und lieben Freunde, dass es euch gelungen ist, fortzukommen.

Dieser Brief wurde schon nicht mehr in der Wohnung an der Ulica Gercena geschrieben, sondern in der Krankenstation für kranke und verhungernde Wissenschaftler und Kulturschaffende. Von derartigen Krankenstationen wurden damals mehrere eingerichtet. An eine von ihnen (im Leningrader Haus der Wissenschaftler) erinnert sich Dmitrij Lichačëv: Im März nahm eine Krankenstation für Unterernährte im Haus der Wissenschaftler die Arbeit auf. Der Vorteil dieser Station war, dass man dort ohne Lebensmittelkarten aufgenommen wurde. Die Karten verblieben den Familien. […] Zina94 begleitete mich mit einem Schlitten dorthin. Auf dem Schlitten war Bettzeug: Kissen und eine Decke. Es war furchtbar, von zu Hause wegzugehen: Erneut setzen der Beschuss und die Bombardements ein, die Brände wurden stärker, Telefone gab es noch nicht. Auch wenn ich nur für zwei Wochen fort sollte – was hätte nicht alles passieren können? Und wenn das eine Trennung für immer bedeutete? Im Haus der Wissenschaftler wurden die Zimmer für die Unterernährten leicht beheizt, aber trotzdem war es sehr kalt. Die Zimmer waren oben und zum Essen musste man nach unten in die Kantine und diese Wege über die finstere Treppe hinauf und hinunter raubten viel Kraft. Wir aßen in der dunklen Kantine beim Licht von Koptilkas. Was man uns da in die Teller 92

93 94

Gemeint ist P.  I.  Lebedev-Poljanskij (urspr. Nachname: Lebedev; Pseudonym: Valerian Poljanskij, 1882–1948), marxistischer Literaturwissenschaftler, Professor an der MGU, korrespondierendes Mitglied der Akademie der Wissenschaften der UdSSR (später: Akademiemitglied); ein Bolschewik der ersten Stunde und einer der maßgeblichen sowjetischen Ideologen der 1920er–1940er Jahre. Von 1937 bis 1948 Direktor des Literaturinstituts (Puškinskij Dom). M. P. Alekseev wurde mit seiner Familie nach Saratov evakuiert. Lichačëvs Ehefrau Zinaida Aleksandrovna Lichačëva (geb. Makarova, 1907–2001).

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gab, konnten wir nicht erkennen. Wir sahen nur schemenhaft die Teller und dass etwas hineingegossen oder -gelegt war. Das Essen war nahrhaft. Erst im Haus der Wissenschaftler verstand ich, was es bedeutet, wenn man essen möchte.95

Zur gleichen Zeit wurde auch eine Krankenstation an der Ulica Voinova (heute: Špalernaja) eingerichtet, die der Leitung der Leningrader Abteilung des sowjetischen Schriftstellerverbands unterstand. Hier schaltete und waltete die Schriftstellerin Vera Ketlinskaja, damals die verantwortliche Sekretärin der Verbandsleitung. In dieser Krankenstation verbrachten die Azadovskijs im März 1942 etwa zwei Wochen. Beide waren mit ihren Kräften am Ende, auch ihr psychischer Zustand musste beobachtet werden. Zu der nach Saratov evakuierten Universität zu stoßen, war wegen der Erkrankung Lidija Vladimirovnas ausgeschlossen. Sowohl Gegenwart wie auch Zukunft erschienen ihnen im allerdüstersten Licht. Es war in diesen Tagen, als sich Azadovskij in einem seiner Briefe den Vergleich Leningrads mit einer Totenstadt erlaubte.96 Dennoch half der Aufenthalt in der Schriftsteller-Krankenstation den Eltern: Körperlich und geistig kamen sie wieder etwas zu Kräften. Die Literaturkritikerin E. R. Malkina (1899–1945), die sich dort ebenfalls im März 1942 aufgehalten hatte, erinnerte sich später in einem Brief an Lidija Vladimirovna: Die Krankenstation ist mir auch gut im Gedächtnis geblieben: Kalt, langgezogen, provisorisch und halbhungrig wie es dort für uns damals noch Unersättliche war, so blieb sie für mich doch eine gute Erinnerung. Dies war die erste Stufe zum Leben, eine Art erstes Aufatmen nach dieser Unmenschlichkeit des schlimmen Winters 1942. Es war etwas sehr Gutes, Freundschaftliches, Menschliches und Warmes in diesem Zimmer mit den eng aneinander gestellten Betten, wo die langsame Rückkehr von fast schon zum Tode verdammten Menschen stattfand. Alle, die in diesem Zimmer waren, werde ich für immer in Erinnerung behalten. Ich erinnere mich sehr gut an Sie, so eine schwache, stets zurückhaltende und menschenfreundliche Person.97

Unsere Abreise aus Leningrad, die dann schließlich doch stattfand, hat Mark Azadovskij in einem Brief aus Irkutsk an seine ehemalige Schülerin Taisija Ėrnestovna Stepanova (1900–1987) detailliert geschildert: 95 96

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D. Lichačëv: Kak my ostalis’ živy [Wie wir überlebt haben], in: Neva, 1991, Nr. 1, S. 26. In einem Brief an N.  K.  Piksanov vom 28. Februar 1942 schreibt Azadovskij: „Ach, werter Nik[olaj] Kir[iakovič], wir alle wandeln hier zwischen Toden und Krankheiten umher – und ganz Leningrad gleicht einem Schattenreich. Wie gut, dass Sie und Vikt[or] Maksimovič rechtzeitig abfahren konnten.“ (der Begriff „Schattenreich“ steht auf Deutsch im Originaltext; mit Viktor Maksimovič ist Žirmunskij gemeint.) NIOR RGB. Bestand 542. Kart. 94. Nr. 14. Bl. 1; der Brief datiert vom 2. Juni 1944.

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„Manchmal ist es unerträglich …“ 29. Januar 1943 … Wir sind am 20/III. aus Leningrad abgereist. Bis Mitte Februar hatten wir erträglich, wenngleich in absoluter Dunkelheit und bei einer Temperatur von 8 bis 5° C., gelebt. Ich sage erträglich, denn uns hat die Kantine des Hauses der Wissenschaftler sehr geholfen, wo man mir das Recht auf eine zweite Mahlzeit (für Lid[ija] Vlad[imorovna]) eingeräumt hatte – und wesentlicher noch – wo ich ab dem 15. Januar eine individuelle Lebensmittelzuteilung bekam. Für Ende Februar/Anfang März war die Evakuierung der Universität angesetzt und wir hatten beschlossen, uns ihr anzuschließen, zumal mir ein Fahrzeug direkt von der Universität bis zum anderen Ufer des Ladogasees versprochen worden war, d. h. unter Auslassung der schrecklichen Etappe des Einsteigens am Finn[ländischen] Bahnhof.98 Doch bevor wir ernsthaft anfangen konnten, über die Evakuierung nachzudenken, kam das Unheil über uns. Am 15. Februar, ihrem Geburtstag, trennten Lidus’ka buchstäblich nur noch Sekunden vom Tode – so sagte es mir später der Arzt, mein Bekannter Prof. Ozereckij99, der als Einziger zu mir kam. Sie hatte schwere Dysenterie, hinzu kam eine scharfe psychische Störung (t 41° und darüber). Eine Woche verlebte ich in einem schrecklichen Zustand. Bis dahin hatte ich mich sehr geschont: Ich war wenig herumgegangen, war bemüht, nicht zu oft hinunter- und hinaufzugehen – und nun stieg ich unaufhörlich die Treppen hinauf und hinab und lief in die verschiedensten Ecken der Stadt usw. Den Kleinen hatten wir zur Großmutter gebracht, er wurde damit sogleich von der Muttermilch entwöhnt; Lidus’ka war im Krankenhaus (in der Pestel’-Straße), der Junge nahe des Vitebsker Bahnhofs, und ich musste zudem die Milch in der Kinderberatungsstelle an der Ul. Glinki holen. In der Folge brach auch ich zusammen und man musste mich einmal am Arm aus der Akademie der Wissenschaften nach Hause leiten. Ich lag einige Tage danieder: Wenn dies länger gedauert hätte, wäre die Verbindung zwischen mir, meiner Frau und dem Kind endgültig abgebrochen. Mein Tod hätte auch den Tod der ganzen Familie bedeutet, zumal es der Mutter und dem Vater von L[idija] V[ladimirovna] schon sehr schlecht ging – sie starben bald nach unserer Abreise.100 Zu dieser Zeit wurde die Leningrader Universität evakuiert und um uns wurde es gänzlich einsam. Doch zur gleichen Zeit wurden entschlossene Schritte zu unserer Rettung unternommen. Gerüchte über meinen Zustand waren nach Moskau durchgedrungen. Dort war man schon zuvor aufgrund des Todes von N. P. Andreev und anderen Folkloristen über mein Schicksal besorgt gewesen. Die Moskauer Folkloristen brachten die Frage meiner schnellstmöglichen Evakuierung vor das Präsidium des Schriftstellerverbands und vor das ZK, um

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Von den fünf Bahnhöfen Leningrads war der Finnländische der einzige, der während der Blockadejahre in Betrieb blieb. Hier befand sich der Evakuierungs-Sammelpunkt, von dem die Leningrader über die „Straße des Lebens“ ins Kernland aufbrachen. 99 Nikolaj Ivanovič Ozereckij (1893–1955), Arzt und Psychiater, ab 1938 Prorektor für wissenschaftliche Arbeit, von 1943–1949 Rektor des 1. Leningrader Medizinischen Instituts. Er leitete die Evakuierung der Medizinhochschulen über die „Straße des Lebens“. 100 Vladimir Karlovič Brun (1877–1942) und seine Frau Lidija Nikolaevna starben im April  1942. Ihr Bestattungsort ist unbekannt: Sankt-Peterburg. Kniga pamjati (SanktPeterburg. Gedenkbuch). Bd. 4. B–V. Sankt-Peterburg 1998, S. 309.

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das Gleiche bemühte sich in Leningrad der örtliche Schriftstellerverband.101 Im Ergebnis wurde ich (zusammen mit Tomaševskij102) samt Familie aufgrund einer Sonderverfügung des Smol’nyj per Flugzeug nach Moskau evakuiert. Zuvor verbrachten ich und L[idija] V[ladimirovna] zwei Wochen in einer Krankenstation, was uns erlaubte, wenigstens ein bisschen zu Kräften zu kommen. Reisefertig machen mussten wir uns buchstäblich innerhalb von zwei Tagen. Wir rafften irgendwie und irgendwas zusammen. Sie wissen ja, wie streng im Flugzeug alles begrenzt ist. Ich griff mir ein Exemplar meines Buches, vergaß aber die dazugehörige Bibliografie; ich griff mir eine Übersicht meiner Vorlesungen, ließ aber einige der wichtigsten Kapitel liegen usw. Von Kleidung war gar nicht zu reden. Das Schlimmste war das zweitägige Warten auf das Flugzeug an der Landebahn: Wir übernachteten in einem Unterstand, schliefen auf Pritschen, kochten unserem Sohn Brei auf irgendwelcher Kohleasche u.  a. Der Flug selbst verlief großartig: Das Bürschchen hat sich auf den Armen seiner Mutter nicht einmal gerührt. Abgeflogen sind wir, das kann man wirklich sagen, im allerletzten Moment: Wenn wir noch einen Tag hätten durchhalten müssen, hätte es nichts mehr zu essen gegeben – zumal wir unsere Lebensmittel auch mit den Tomaševskijs teilen mussten. Wir waren nur zu siebt: Wir zu dritt (eher 2½) und vier Tomaševskijs103 (alle erwachsen). Tomaševskij B. V. ist Puschkin-Forscher. […] Wir sind gerade noch rechtzeitig abgereist. Nur unter Mühen gelang es mir, die nach ihrer Erkrankung nur schwer auf die Beine kommende Lidija Vladimirovna ans Ziel zu bringen. Ach, Tesik! Wenn Sie unseren Marsch gesehen hätten, unseren letzten Auszug aus dem Haus. Wir hatten mit den Tomaševskijs einen Wagen gemietet, der uns (oh, zu welchem Preis!) am 18. März zum Flugplatz bringen sollte (etwa 20–25 Werst vor der Stadt).104 Wir fuhren von den Räumlichkeiten des Schriftstellerverbands an der Schpalernaja ab. Das Haus verließen wir gegen 9 Uhr abends: Vorneweg zog der Hauswart auf einem Schlitten unsere Sachen, hinter ihm schob seine Frau unseren Kotik im Kinderwagen und dahinter ich und L[idija] V[ladimirovna], uns gegenseitig stützend, stolpernd, 101 Ein von V.  К. Ketlinskaja unterzeichneter und an A.  A.  Fadeev, den Vorsitzenden der Leitung des sowjetischen Schriftstellerverbandes gerichteter Brief (auf einem Briefbogen der Leitung der Leningrader Abteilung des sowjetischen Schriftstellerverbandes) ist erhalten: „Die Leningrader Abt. des sowjetischen Schriftstellerverbandes bittet um jedwede Unterstützung für das Mitglied des sowjetischen Schriftstellerverbandes, Prof. Azadovskij, Mark Konstantinovič, bei seinem Umzug an einen neuen Wohnort und darum, ihm während seines Aufenthaltes in Moskau bestmögliche Bedingungen zu schaffen, damit er und seine Familie ihre angeschlagene Gesundheit wieder herstellen können.“ (NIOR RGB. Bestand 542. Kart. 62. Nr. 49). 102 Boris Viktorovič Tomaševskij (1890–1957), Literaturhistoriker; bekannt v.a. als Puschkin-Spezialist. 103 Die „vier Tomaševskijs“ sind: B. V. Tomaševskij, seine Frau I. N. Medvedeva-Tomaševskaja (geb. Blinova, 1903–1973) und ihre Kinder Zoja und Nikolaj. 104 Gemeint ist der 1941 eingerichtete Flugplatz „Smol’noe“ (ab 1976: „Rževka“), 16 km nordöstlich des Stadtzentrums. Über diesen Flugplatz lief während des Krieges der Verkehr zwischen der eingekesselten Stadt und dem Rest des Landes, hier wurden Lebensmittel eingeflogen und Stadtbewohner ausgeflogen. Nach 1991 wechselte das Flughafenareal mehrmals den Besitzer, gegenwärtig befindet es sich im Verfallszustand.

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„Manchmal ist es unerträglich …“ stürzend und erneut stolpernd. Der Schlitten mit dem Gepäck kippte mehrmals um, einmal hätte sich der Kinderwagen mit Kotik beinahe überschlagen … Dunkelheit, Kälte, Schneewehen, abgerissene Drähte, Fensterglas unter den Füßen … Und dann morgens um 6 Uhr verließen wir die Stadt – und unser letzter Eindruck von Leningrad war der wundervolle, einmalige Smolny, der sich plötzlich in einer Kurve unseren Blicken öffnete und im rosafarbenen Morgennebel transparent und filigran wirkte. Er schien geradezu in der Luft zu schweben und erschien uns als Symbol der ewigen Schönheit der geliebten Stadt und als Symbol der Hoffnung auf eine Rückkehr und neues Glück.105

In Irkutsk verbrachten wir drei Jahre und kehrten im Frühjahr 1945 nach Leningrad zurück – in die gleiche Wohnung in der Ul. Gercena. Azadovskij nahm seine Lehrtätigkeit (an der Universität) und seine wissenschaftliche Arbeit (im Literaturinstituts (Puškinskij Dom) und am Schreibtisch) wieder

105 Vgl. die Beschreibung derselben Ereignisse in einem Brief Azadovskijs an den Literaturwissenschaftler und Übersetzer  I.Ja. Ajzenštok (1900–1980), verfasst in Irkutsk am 2. August  1942: „Über uns haben Sie wahrscheinlich schon alles von A[leksandr] L[’vovič] erfahren. Um es kurz zu sagen, uns beiden ging es sehr schlecht, besonders Lidija Vladimirovna, die ich im wahrsten Sinne den Krallen des Todes entriss. Der Arzt formulierte es so: „Der Tod stand schon an der Bettkante.“ Und danach konnte auch ich mich kaum mehr auf den Beinen halten. Wenn ich nur an die Akademie der Wissenschaften angebunden gewesen wäre, wäre ich natürlich aufgrund der Gnade von Nichtsnutzen in der Art Fedoseevs und vielen anderen des gleichen Kalibers umgekommen. Und zusammen mit mir auch meine ganze Familie. Doch zum Glück hatte ich auch Verbindungen zur Universität sowie zum Schriftstellerverband. Zuerst rettete mich die Universität, die mich in die äußerst knappe Anzahl jener aufnahm, die (im Januar!) eine individuelle Verpflegungsration bekamen und dann, als schon die ganze Universität evakuiert worden war, war es der Verband: einerseits Vera Ketlinskaja, die uns ihre außerordentliche Fürsorge zuwandte, andererseits die Moskauer Folkloristen, die die Frage über meine eilige Evakuierung vor das Präsidium des Verbandes und das ZK brachten. In der Folge erreichte Vera K[etlinskaja] rasch und ohne weitere Schwierigkeiten die Genehmigung für unsere Abreise aus Leningrad per Flugzeug nach Moskau. Wir flogen (zusammen mit den Tomaševskijs) am 20. März ab – und für uns war es allerhöchste Zeit, denn wir hatten keinen Tropfen Brennstoff mehr, bei Lidija Vladimirovna begannen die Beine anzuschwellen und ich hatte nicht einmal mehr die Kraft, unseren kleinen Jungen zu tragen. Unterwegs trug die ganze Zeit Zoja Tomaševskaja unseren Kotik mit sich herum. In Moskau wurden wir großartig und außerordentlich warm empfangen. Man bestellte mich ins ZK ein, wo A[leksandr] Mich[ajlovič] Egolin mir vorschlug, in Moskau zu bleiben und mehr noch: Man berief mich an die MGU (in die wiedereröffnete Philologische Fakultät), doch das Wohl des Kindes zwang uns dazu, die alte Heimat zu wählen.“ (erwähnt werden: A.  L.  Dymšic (1910–1975), P.  N.  Fedoseev (1908–1990), Z. B. Tomaševskaja (1922–2010), A. M. Egolin (1896–1959); die „alte Heimat“ ist Irkutsk, der Geburtsort von Azadovskij).

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auf. Im Frühjahr 1946 wurde er mit den Medaillen „Für die Verteidigung Leningrads“ und „Für heldenmütige Arbeit im Großen Vaterländischen Krieg“ ausgezeichnet. Diese letzte Periode seines Lebens war durch Verfolgungen, öffentliche Beleidigungen und schmutzige Verleumdungen gekennzeichnet, die ihren Höhepunkt 1949 – im Zenit der ideologischen und gegen die Intelligenz gerichteten (faktisch antisemitischen) Kampagne gegen die „Kosmopoliten“ – erreichten. Unter den Anschuldigungen, die damals auf Versammlungen und in der Presse laut wurden, häuften sich die des „Antipatriotismus“ und „Antisowjetismus“.106 Von der wissenschaftlichen, staatsbürgerlichen und menschlichen Seite des Gelehrten und Blockade-Überlebenden, die sich im Winter 1941/1942 so deutlich gezeigt hatte, wollte in diesen Jahren niemand etwas wissen. Aber auch spätere Geschichtsschreiber der Leningrader Blockade (mit Ausnahme von Sergej Jarov107) hatten Mark Azadovskij – als Augenzeugen der Blockadetragödie und Teilnehmer der Verteidigung der Stadt – anscheinend vergessen. Lidija Vladimirovna überlebte ihren Mann um 30 Jahre und konnte bis zu ihrem Lebensende über die Blockade nicht anders als unter Qualen sprechen. Das Trauma, das sie in diesem schrecklichen Halbjahr erlitten hatte, erwies sich als unheilbar. Sie rügte mich jedes Mal, wenn ich beim Abräumen des Tisches nach dem Essen Brotkrümel in den Mülleimer warf. Wenn sie die (in den 1960er/1970er Jahren ziemlich raren) Augenzeugenberichte ehemaliger Blokadniki las, verwies sie entrüstet auf deren offenkundige Tendenziosität: das Verschweigen von Fakten und die Idealisierung oder Heroisierung der Opfer. Nur die Gedichte von Ol’ga Berggol’c und das Blockadebuch der Schriftsteller Ales’ Adamovič und Daniil Granin hob sie unter den der Blockade gewidmeten Werken ausdrücklich heraus. Sie trug eine Auswahl der Blockadebriefe ihres verstorbenen Mannes zusammen und bereitete deren Veröffentlichung vor; die Drucklegung erfolgte aber erst nach ihrem Tod.108 106 „… Er hat nichts in der sowjetischen Folkloristik organisiert und alles nur diffamiert“, erklärte zum Beispiel P. G. Širjaeva, eine Mitarbeiterin des Russischen Literatur-Instituts, auf einer erweiterten Sitzung des Parteibüros Literaturinstituts (Puškinskij Dom) am 3. März 1949, „[…] Wir sollten seine Arbeiten und sein Verhalten von vorne bis hinten überprüfen. Das ist kein Sowjetmensch, er dürfte weder in einer leitenden Funktion noch überhaupt in der Abteilung für Folkloristik tätig sein; außer Schaden anzurichten hat er nichts vollbracht.“ (Zitiert nach: P. A. Družinin: Ideologija i filologija. Leningrad, 1940-e gody. Dokumental’noe issledovanie [Ideologie und Philologie. Leningrad, die 1940er Jahre. Eine Dokumentation]. Moskau 2012, Bd. 2, S. 261). 107 Siehe Anm. 65. 108 Siehe M. K. Azadovskij: Sibiriskie stranicy. Stat’i, recensii, pis’ma [Sibirische Seiten. Aufsätze, Rezensionen, Briefe], Irkutsk 1988. S. 283–335.

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Schaut man heute zurück und versucht, die Blockade-Ereignisse im Lichte dessen zu erfassen, was man heute darüber weiß, so muss man unweigerlich einräumen: Unsere Familie befand sich nicht in der schlimmsten Lage. Bei allen Prüfungen, die Mark Konstantinovič und Lidija Vladimirovna auferlegt wurden, – harten Prüfungen, die sie bis zum Frühjahr 1942 in einen Zustand völliger körperlicher Erschöpfung gebracht hatten, muss man doch, so widersinnig das auch klingt, die vorteilhaften Umstände sehen, die uns Drei erlaubten, am Leben zu bleiben und aus der belagerten Stadt herauszukommen: die Blockade-Lebensmittelkarten der Kategorie  I, die mein Vater erhielt, die individuelle Verpflegungszuteilung im Januar 1942, die Krankenstation des Schriftstellerverbands, die Gesuche der Moskauer Schriftsteller und Wissenschaftler, der Sonderflug über die Frontlinie hinweg … Und schließlich der Umstand, dass meine Mutter schon im September gebar und nicht im Dezember oder, was völlig hoffnungslos gewesen wäre, im Januar/Februar 1942. „Am 28. Januar 1942 ging ich mit drei Bündeln Brennholz und einer warmen Decke in die Geburtsklinik“, erinnerte sich eine Überlebende der Blockade. „Noch im Mantel wurde ich in den Keller gelegt, wo die Wände von Eis glitzerten. Das Kind legten sie neben mich, mir unter die Decke. Am nächsten Tag wollte man mich entlassen, aber ich war allein, es gab niemanden, der mich hätte abholen können. Am dritten Tag führten sie mich aus der Geburtsklinik und setzten mich in den Schnee, das Kind legten sie neben mich und sagten: ‚Die sterben doch ohnehin.‘ Irgendwie, mit Pausen und Hilfe von Passanten, die mich hochzogen und den Sohn aufhoben, schaffte ich es in die Ulica Gogolja, Haus Nr.  9, Wohnung  3, wo in unserer großen Kommunalwohnung schon niemand mehr war: Alle waren entweder gestorben oder evakuiert worden.“109 Die Erinnerungen dieser Frau, die damals in unserer Nachbarschaft wohnte, – sie sind das echte Zeugnis der Leningrader Blockade: wahrhaftig und schlicht, ohne Schönfärberei und Pathos. Doch wie auch immer: Die Blockade hatte viele Gesichter – und jedes von ihnen ist auf seine Art wahr. Aus dem Russischen übersetzt von Lothar Deeg

109 V. A. Berkovič: Syn rodilsja v janvare 1942 goda [Mein Sohn wurde im Januar 1942 geboren], in: Ėstafeta večnoi žizni. Sbornik vospominanij uchodjaščego pokolenija blokadnikov [Die Stafette des ewigen Lebens. Sammelband von Erinnerungen der scheidenden Generation der Blokadniki]. SPb. 1995, S. 180.

Berufsverbot für einen ‚Kosmopoliten‘ Viktor Žirmunskij in den Jahren 1948/49

Viktor Žirmunskijs wissenschaftliche Laufbahn war von verschiedenen politischen Repressalien überschattet. Dreimal wurde er in der ersten Hochzeit des Stalinismus verhaftet: 1933, 1935 und 1941. Žirmunskij hatte Glück und musste nie länger als zwei Monate in Haft bleiben. Der Grund für die Inhaftierungen 1933 und 1935 waren seine folkloristischen Feldforschungen in russlanddeutschen Siedlungen. 1941 wurde ihm aufgrund seiner Kontakte zu Deutschen erneut Spionage vorgeworfen, u. a. zu deutschen Wissenschaftlern in den 1930er Jahren; aber auch eine bei der Hausdurchsuchung gefundene Karte von St. Petersburg in deutscher Sprache wurde ihm zur Last gelegt. Die näheren Umstände dieser Maßnahmen können hier nicht geschildert werden; ihre exakte Rekonstruktion bleibt Aufgabe zukünftiger Arbeiten. An dieser Stelle soll vielmehr der gravierendste Einschnitt in Žirmunskijs wissenschaftlicher und pädagogischer Laufbahn genauer betrachtet werden: die Entlassung aus der Leningrader Universität im Zuge der antisemitischen Kampagnen des Nachkriegsstalinismus. Nach der Niederschlagung Nazi-Deutschlands begann für die sowjetische Ideologie eine neue Etappe. Da waren das gestiegene Selbstbewusstsein eines Volkes, das den erbitterten Feind hatte besiegen können, die Hoffnung auf bessere Zeiten, die gewissermaßen in der Luft lagen, und die enormen Schwierigkeiten der Nachkriegszeit – all das bewog Stalin, neue Mittel zu ergreifen, um der Freidenkerei und Unzufriedenheit Herr zu werden; notwendig waren sozusagen „Blitzableiter“ für das Massenbewusstsein und neue Anlässe für Repressalien. Die Methoden waren im Prinzip bereits in den 1920er und 1930er Jahren bestens ausgearbeitet und erfolgreich angewandt worden: Terror und die Verbreitung von Angst und Schrecken. Hatte man nach 1917 den * Erstverӧffentlichung in: Bertleff, John, Svetozarova 2018, Bd. 2: Analysen und Quellen. Mit Beiträgen von Konstantin Azadovskij und Dietmar Neutatz sowie einem Repertorium zur Sammlung Viktor Žirmunskij (Deutsches Volksliedarchiv Leningrad), S. 145–162. Wieder in: Geschichte der Germanistik. Historische Zeitschrift für die Philologien. Hg. von Christoph Kӧnig und Anna Kinder in Verbindung mit Michel Espagne u.  a. 2018. Doppelheft  53–54. S. 124–142. Dieser Aufsatz basiert auf folgenden Arbeiten: Azadovskij, Egorov 1989; dies. 1999. Zu diesem Thema siehe auch: Čistov 1994. Zahlreiche und wichtige Archivmaterialien, die die Situation an der Universität Leningrad der Nachkriegszeit schildern und wesentlich vervollständigen, hat der Moskauer Historiker Pёtr Družinin versammelt und veröffentlicht in: Družinin 2012.

© Brill Fink, 2022 | doi:10.30965/9783846766767_003

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„Klassenfeind“ aufgespürt und vernichtet, so nahm in den 1940er Jahren der ideologische Feind den frei gewordenen Platz ein. Den Anfang machte im August 1946 der berüchtigte Beschluss des ZK der KPdSU über die Literaturzeitschriften „Zvezda“ („Stern“) und „Leningrad“. Der Geist dieses Dokuments wie auch der des anschließenden Vortrags von Andrei  A. Ždanov in Leningrad (September  1946) bestimmten von nun an das ideologische Klima im Lande bis zum XX. Parteitag (Februar 1956). Denn diesem Beschluss folgten weitere auf dem Fuße: über die Spielpläne der Sprechbühnen (August 1946), über den Film Bolšaja žizn’ [Das große Leben] (September 1946) u. a. Gleich nach Erscheinen dieser Beschlüsse wurden – auf einen Wink von oben – „patriotische“ Hetzkampagnen ausgelöst, die gezielt bestimmte Gruppen der sowjetischen Intellektuellen diffamieren sollten. Der Begriff ‚Patriotismus‘ wurde zu einem Schlüsselbegriff der neuen Doktrin; dementsprechend richteten sich die ideologischen Kampagnen in den Jahren 1946–1953 gegen die angeblich vor dem Westen und der bürgerlichen Kultur liebedienernden „Antipatrioten“. Hierbei näherte sich der Begriff ‚Patriot‘, der in den Jahren des Krieges noch eine konkrete Ausrichtung gehabt hatte, immer mehr dem Begriff ‚Russe‘. Den Nichtrussen wurde dagegen mit schonungsloser Deutlichkeit vorgeworfen, das „sozialistische Vaterland“ nicht zu lieben. Die maßlose Lobpreisung all dessen, was „echt russisch“ sei (zuvörderst der „russische Patriotismus“) ging einher mit der pauschalen und in keiner Weise begründeten Ablehnung jeglicher Errungenschaften des „bourgeoisen Westens“. Ein hervorstechendes Merkmal der Nachkriegsideologie war der geschickt geschürte Hass gegen alle „Fremdartigen“. Die Scheidung der Menschen in ‚Russen‘ und ,Nichtrussen‘, in ‚Patrioten‘ und ‚Antipatrioten‘ verstärkte die Spannungen in der Gesellschaft, nährte Argwohn, Misstrauen und schuf Feindbilder. Zu Tausenden wanderten Menschen in den Gulag, denen man Kollaboration mit den Deutschen zur Last gelegt hatte, da sie sich auf dem besetzten Territorium befunden hatten oder aus der Gefangenschaft zurückkehrten. Nach Sibirien und Zentralasien wurden die Inguschen, Tschetschenen, Karatschaer, Kalmyken, Krimtataren deportiert. Man verstärkte die Bemühungen, den Sowjetbürgern den Hass gegen alles Ausländische (namentlich das „Westliche“) zu indoktrinieren. Einen nahezu offiziellen Status erhielt gegen Ende der 1940er Jahre auch der Antisemitismus. Bereits in den 1930er Jahren wiederaufgekommen, brach er sich in der Nachkriegszeit ungehindert Bahn. Der auf den Schlachtfeldern vernichtend geschlagene Faschismus siegte nun in der ideologischen Sphäre. Dieses „patriotische“ Pathos und die Diffamierung von allem Ausländischen erreichten ihren Höhepunkt im Juni 1947, als in den Geisteswissenschaften – namentlich in der

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Literaturwissenschaft – eine neue lautstarke Hetzkampagne ausgelöst wurde, an deren Beginn die sogenannte „Diskussion um Veselovskij“ stand. Aleksandr Nikolaevič Veselovskij (1838–1906), Mitglied der Akademie der Wissenschaften und Professor der Petersburger Universität, war ein hervorragender Vertreter der vorrevolutionären russischen Literaturwissenschaft und kann mitnichten verantwortlich gemacht werden für die hitzigen ideologischen Kämpfe, die um seinen Namen in der zweiten Hälfte der 1940er Jahre entbrannten. Veselovskij galt als einer der Schöpfer der komparativen, historisch-vergleichenden Methode in der Literaturwissenschaft. Ohne die Verdienste der nationalen Kulturen herabzusetzen, erforschte Veselovskij, was den Literaturen der slawischen und der westeuropäischen Völker gemeinsam war, und bemühte sich, die Zusammenhänge zwischen Tradition und Neuerertum, Volkskunst und Literatur, kollektivem und individuellem Schaffen herauszuarbeiten. Sein Werk wurde zu Sowjetzeiten von namhaften Literaturwissenschaftlern wie Mark Azadovskij, Michail Alekseev, Viktor Žirmunskij und Vladimir Šišmarëv hoch geschätzt. Der  100. Geburtstag Veselovskijs wurde 1938 von der Akademie der Wissenschaften der UdSSR durch eine Jubiläumsveranstaltung festlich begangen, ein Jahr darauf wurde unter der Herausgeberschaft von Viktor Žirmunskij der Sammelband Istoričeskaja poėtika [Historische Poetik] veröffentlicht – ein Markstein in der sowjetischen Literaturwissenschaft. Das erste Signal zu einer Attacke gegen Veselovskij kam von Aleksandr Fadeev: In seiner Rede auf der XI. Plenarsitzung des Vorstands des Sowjetischen Schriftstellerverbands im Juni 1947 „Die sowjetische Literatur nach dem Beschluss des ZK der Kommunistischen Partei der SU vom 14. August  1946 über die Zeitschriften ‚Zvezda‘ und ‚Leningrad‘“ warf er als Generalsekretär des Schriftstellerverbandes die Frage nach „Veselovskijs Schule“ auf, die angeblich die „Haupturheberin der Liebedienerei vor dem Westen und vor einem bestimmten Teil der russischen Literaturwissenschaft in Vergangenheit und Gegenwart“ gewesen sei.1 Fadeev überzog das Akademiemitglied Vladimir Šišmarëv, der damals Direktor des Instituts für Weltliteratur war, mit einer scharfen Kritik für seine vor kurzem erschienene Arbeit über Veselovskij2 und forderte die Akademie der Wissenschaften und das Ministerium für Hochschulbildung abschließend auf, „sich mit der Tatsache auseinanderzusetzen, dass bei uns im Gor’kij-Institut für Weltliteratur sowie an den Universitäten

1 Fadeev 1947. 2 Šišmarëv 1946.

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Moskau und Leningrad die literarische Ausbildung der Jugend in den Händen von Veselovskijs Papageien, seinen blinden Apologeten, liegt.“3 Fadeevs Aufruf wurde von der Literaturkritik eilfertig aufgegriffen, die Veselovskij und seine „Apologeten“ mit ebenso niederträchtigen wie haltlosen Anklagen überhäufte. Besonders erbittert wurde die Debatte in der Moskauer Zeitschrift Oktjabr’ [Oktober] geführt, wo – so erstaunlich dies klingen mag – auch Anhänger Veselovskijs zu Worte kamen. Akademiemitglied Šišmarëv hatte dabei den Mut zu erklären, die „neue Einschätzung Veselovskijs hat […] in breitesten Kreisen unserer Sowjetunion unter Vertretern verschiedener Generationen und verschiedener nationaler Kulturen großes Befremden hervorgerufen.“4 Doch es überwogen die anklagenden Stimmen. Im Januar 1948 veröffentlichte die Zeitschrift „Oktober“ einen Beitrag des Kritikers und Literaturforschers V. Kirpotin, in dem es u. a. hieß: „Es war Veselovskijs Einfluss, unter dem Žirmunskijs Arbeiten über Goethe und Byron in Russland entstanden[…].“5 Die Bemühungen Žirmunskijs, Šišmarëvs, Azadovskijs und anderer, zur Verteidigung Veselovskijs dessen enge Beziehungen zur russischen demokratischen Kritik geltend zu machen oder seine produktive Rezeption der Fortschrittsideen der 1860er Jahre nachzuweisen, wies Kirpotin mit aller Entschiedenheit zurück. Den Schlussstrich unter die monatelange Diskussion zog die Zeitung Kul’tura i žizn’ [Kultur und Leben]. In einem Artikel unter dem Titel Gegen den bürgerlichen Liberalismus in der Literaturwissenschaft wurde Veselovskij als typischer Vertreter der „liberal-positivistischen“ Wissenschaft diffamiert, der angeblich die Eigenständigkeit der russischen Kultur in Frage stelle und deren Abhängigkeit von der westlichen Kultur verkünde. „Die Tätigkeit der Schule des Veselovskij“, schrieb der anonyme Autor, „ist Ausdruck der Liebedienerei vor jeglichem Ausland, welche heute eines der widerlichsten Überbleibsel des Kapitalismus im Bewusstsein so mancher rückständiger Kreise unserer Intellektuellen darstellt.“6 Zu „Rückständigen“ wurden die Akademiemitglieder A. I. Beleckij, A. S. Orlov und V. F. Šišmarëv, das korrespondierende Akademiemitglied Viktor Žirmunskij sowie Professor I. M. Nusinov erklärt. Der Kampf gegen die „Apologeten“ und „Papageien“ wurde zusehends aggressiver. Davon zeugen auch die Ereignisse, die sich innerhalb der Philologischen Fakultät der Leningrader Universität abspielten: Dort hatte im Oktober 1947 eine Diskussion zu Problemen der Literaturwissenschaft 3 4 5 6

Fadeev 1947. Šišmarjov 1947. Kirpotin 1948. Anonym 1948.

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stattgefunden, an der fast alle bedeutenden Professoren teilnahmen, die damals an der Fakultät tätig waren, darunter M. P. Alekseev, M. K. Azadovskij, B. M. Ėjchenbaum, G. A. Gukovskij, V. Ja. Propp und V. M. Žirmunskij. In der Annahme, dass es sich um eine wirkliche ‚Diskussion‘ handle, versuchten die Professoren ihre Standpunkte zu verteidigen. Nachzulesen ist dies in einem Zeitungsbericht, dessen Verfasser A. G. Dement’ev damals der Sektion (später: dem Lehrstuhl) für sowjetische Literatur vorstand; zugleich war er nebenamtlicher Leiter der Presseabteilung des Leningrader Stadtkomitees der Kommunistischen Partei und Vorstandsmitglied des Leningrader Schriftstellerverbandes. „Leider“, schrieb Dement’ev, „bewiesen die Reden einiger Wissenschaftler der Leningrader Universität, dass sie für sich noch nicht die richtigen Schlussfolgerungen aus den Beschlüssen des ZK der KPdSU zu Fragen der ideologischen Arbeit gezogen haben […] und das Schaffen Veselovskijs weiterhin einseitig und unkritisch einschätzen. Nachdem Prof. Žirmunskij erklärt hatte, nicht zu den Apologeten Veselovskijs zu gehören, bekundete er mit einem Eifer, der einer besseren Sache wert gewesen wäre, seine Verehrung diesem gegenüber und bestand auf dessen Verdiensten […]“7 Über die bei dieser Diskussion an der Philologischen Fakultät herrschende Stimmung berichtet als Augenzeuge L. M. Cilevič: Die Diskussion über Veselovskij fand im Januar 1948 statt und wurde vom Rektor A. A. Voznesenskij eröffnet. Ich erinnere mich an die Worte, mit denen er seine Rede schloss: „Ich möchte die Diskussionsteilnehmer zur Prinzipienfestigkeit aufrufen und vor Erbitterung warnen, die bei einer Kritik an unseren sowjetischen Gelehrten fehl am Platz wäre.“ Der Vortrag von L. A. Plotkin war flau, unkonkret, die Reden von V. M. Žirmunskij und M. K. Azadovskij (an die anderen erinnere ich mich nicht) dagegen energiegeladen und temperamentvoll. Sie ernteten Beifall, besonders als Viktor Maksimovič erklärte: „Ich bin ein glühender Verehrer Veselovskijs!“ Eine Diskussion hat es eigentlich gar nicht gegeben: Der Einheitsfront der Verteidiger Veselovskijs stand als einziger A.  G.  Dement’ev gegenüber. In der direkten Konfrontation war er der Unterlegene. Von dem, was er sagte, ist mir der erste Satz erinnerlich: „Ich kann nicht umhin, das Wort zu ergreifen, denn hier wird etwas Falsches gesagt …“ Als er Žirmunskij die Reverenzbekundung gegenüber Veselovskij vorwarf, wurde ihm aus dem Sitzungssaal entgegengehalten: „Aber Sie haben doch auch gesagt, dass Sie Gukovskij verehren!“ Dement’ev parierte: „Ja, aber ich verehre einen lebenden Sowjetgelehrten und nicht eine bürgerlich-liberale Mumie!“ Dement’evs Rede mündete in ein Gezänk mit den Anwesenden, die ihn immer wieder mit Repliken und empörten Ausrufen unterbrachen.8

7 Dement’ev 1947. 8 Aus einem Brief von L. M. Cilevič an Prof. B. F. Egorov vom 28. April 2000.

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Am 1. April 1948 wurde dann eine erweiterte Sitzung des Fakultätsrats an der Philologischen Fakultät zur Besprechung des erwähnten Beitrags in der Zeitung Kul’tura i žizn’ anberaumt. In seinem Vortrag „Für bolschewistische Parteilichkeit in der Literaturwissenschaft“ erklärte A.  G.  Dement’ev, dieser Zeitungsbeitrag habe Schluss gemacht mit einer „halbherzigen und zweideutigen“ Einstellung zu Veselovskij, und er kritisierte die Fakultätsleitung für die frühere Diskussion, bei der auch „Veselovskijs Anhänger zu Worte gekommen sind.“9 Er kam auch auf Žirmunskijs Werk Uzbekskij narodnyj geroičeskij ėpos [Das Heldenepos des usbekischen Volkes] (Mitautor Ch. Zarifov) zu sprechen und erklärte: „Im usbekischen Volksepos hat V. M. Žirmunskij so viele Motive, Sujets und Gestalten entdeckt, für die es Parallelen bei anderen Völkern gibt, dass das Schaffen des usbekischen Volkes in seiner Schrift manchmal seine nationale Eigenart verliert.“ Und über das Buch Istorija zapadnoevropejskoj literatury [Geschichte der westeuropäischen Literatur], das Žirmunskij gemeinsam mit M. P. Alekseev, A. A. Smirnov und S. S. Mokul’skij verfasst hatte, bemerkte er, es sei „voll von Hochachtung und Anerkennung für Veselovskij“.10 Dieses Mal gab es keine einzige Stimme zu Veselovskijs Verteidigung. Die Hysterie, die sich immer stärker um seinen Namen verdichtete, die spannungsgeladene Situation an der Fakultät, der nicht zu übersehende politische Hintergrund der Geschehnisse – all das bewog selbst die namhaftesten Professoren zu schweigen, ja sich auch öffentlich von ihren Irrtümern loszusagen (die erniedrigende Prozedur der öffentlichen Selbstbezichtigung war seit den Schauprozessen der 1930er Jahre üblich). Kein Wunder also, dass die Leningrader Kollegen im April 1948 außerstande waren, auch nur ein einziges Wort zu ihrer eigenen Verteidigung zu sagen, und dass sie – gebrandmarkt als ideologische Gegner – sich öffentlich zu ihren Fehlern bekennen mussten und gezwungen waren, ihre „unkritische“ Einstellung zu Veselovskijs Werken zuzugeben. Auch V. M. Žirmunskij war unter jenen, die sich selbst einer positiven Einstellung zu Veselovskij bezichtigten. Er sagte: […] Ich erkläre, dass ich und einige meiner Gesinnungsgenossen einen Fehler begangen haben, als wir selbst wie auch die sowjetische Literaturwissenschaft an den Traditionen der philologischen Wissenschaft festhielten, wie sie früher an der Philologischen Fakultät herrschten, vor allem am Erbe Veselovskijs. […] Daher muss ich meine eigene Einstellung als fehlerhaft im politischen und folglich auch im wissenschaftlichen Sinn bezeichnen.11

9 10 11

Dement’ev 1948, S. 8 f. Ebd., S. 83. I. S. 1948, S. 132 f. (Chronika [Rubrik ‚Chronik‘]).

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So wuchs sich im Laufe von rund einem Jahr die „Diskussion über Veselovskij“ zu einer gewaltigen ideologischen Kampagne aus, die sich gegen die Geisteswissenschaften insgesamt richtete und vor allem natürlich gegen die im Fachbereich Literaturgeschichte und -theorie tätigen Wissenschaftler. Allerdings war das Erdachte und Sinnwidrige der gegen Veselovskij und seine „Schule“ erhobenen Anschuldigungen so offenkundig, dass diese zuweilen selbst die aggressivsten Publizisten in Verlegenheit brachten. Es verwundert daher nicht, dass sich die ‚Diskussion über Veselovskij‘ bereits Mitte des Jahres 1948 totgelaufen hatte, auch wenn noch monatelang ein Nachhall zu vernehmen war. Die Kampagne 1947/48 hatte noch keine ausgesprochen nationalistischen Züge getragen. Es ging um sogenannte „Liebedienerei“ und „sklavisches Verhalten“, um Liberalismus und Formalismus (wiederholt kam auch schon das Wort „Kosmopolitismus“ vor), wobei Angehörige verschiedener Nationalitäten, darunter auch Russen, Ziel der Attacken wurden. Ab 1949 nahmen die Ausfälle gegen die sogenannten ‚Kosmopoliten‘ jedoch betont antisemitische Züge an; der Ausdruck ‚Kosmopolit‘, der nun häufig in Zeitungsschlagzeilen auftauchte, wurde regelmäßig verknüpft mit dem herabsetzenden Epitheton „vaterlandslos“. Ausdrücke wie etwa „vaterlandslose Kosmopoliten“, „bürgerliche Kosmopoliten“, „Menschen ohne Herkunft und Abstammung“ usw. waren im Grunde Euphemismen, die ihre eigentliche Bedeutung – ‚Jude‘ – verschleiern sollten. Unter den zahlreichen Vergehen, die den Kosmopoliten jüdischer Abstammung in der damaligen sowjetischen Presse damals zur Last gelegt wurden, waren die verwerflichsten: Liebedienerei vor dem Westen, Betätigung als Helfershelfer des amerikanischen Imperialismus, das ZuKreuze-Kriechen vor der bürgerlichen Kultur und schließlich „bürgerliches Ästhetentum“ (was immer dies sei). Die dezidiert antiwestliche Einstellung und der staatlicherseits begünstigte Antisemitismus verschmolzen zu dem Kampfbegriff ‚Kosmopolitismus‘. Auch in Leningrad konnte man dieser neuen ideologischen Hetzkampagne selbstverständlich nicht entziehen. Zu Beginn des Jahres 1949 erschienen in der Leningrader Presse Kampf-Artikel;12 und auch an der Universität liefen Entlarvungs- und Strafaktionen in den geisteswissenschaftlichen Fakultäten an. In der Philologischen Fakultät wurden vier Professoren zu Hauptschuldigen erklärt: Prof. Mark Azadovskij, Leiter des Lehrstuhls für Folkloristik; Prof. Grigorij Gukovskij, Leiter des Lehrstuhls für russische Literatur; Prof. Viktor Žirmunskij, korrespondierendes Mitglied der Akademie der Wissenschaften und Leiter des Lehrstuhls für westeuropäische Literaturen; Prof. Boris Ėjchenbaum, Professor am Lehrstuhl für russische Literatur. 12

Vgl.: Dement’ev, Druzin 1949.

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G. P. Berdnikov, damals Dekan der Philologischen Fakultät, bereitete eifrig eine Sitzung vor, in der die Gelehrten einer vernichtenden Kritik („prorabotka“) unterworfen werden sollten. Efim Ėtkind, der Schüler von Žirmunskij war und später ein bekannter Literaturforscher und Übersetzer wurde, hat den Sinn dieses Begriffs treffend dargelegt: Alle „Prorabotkas“ verliefen nach einer festgelegten Dramaturgie, es hatte sich ein feststehendes Ritual herausgebildet: Zunächst hielt der Sekretär der Parteiorganisation bzw. ein Sonderbeauftragter des Parteibüros einen Vortrag, darauf ergriffen einige dem Opfer auf den ersten Blick wohlgesinnte Personen das Wort, in Wirklichkeit aber waren es vorher abgerichtete Redner, unter denen die Themen abgesprochen waren und die sich bemühten, die Vorredner nicht zu wiederholen. Besonders geschätzt waren überraschende Behauptungen, die das Opfer überrumpeln und paralysieren sollten: ein belastendes Argument aus einem privaten Brief […], ein zufälliger Zeuge, der etwa von defätistischen Äußerungen des Opfers zur Zeit des Vormarsches der Deutschen zu berichten wusste; ein engerer Kollege bzw. Schüler, oder – noch besser – die ehemalige Frau, die plötzlich an das Rednerpult traten; und siehe, da erblasst das Opfer, senkt den Kopf und schweigt. Die hier angeführten Ausschmückungen verliehen der Prorabotka Glanz und Festlichkeit. Verlief die Prorabotka unspektakulär, so war sie ein Misserfolg, kamen doch die Zuschauer dabei um den Genuss, die Erniedrigung des Opfers mitzuerleben, und – wichtiger noch – fühlten sich um die theatralischen Effekte betrogen, die zu dieser Erniedrigung noch beitragen sollten. Daher war ein weiteres Moment der Prorabotka an der Universität oder im Schriftstellerverband höchst erwünscht: Das Opfer sollte möglichst eine beliebte oder – besser noch – eine berühmte Persönlichkeit sein. Die Demontage eines ruhmreichen Opfers bereitet einen wollüstigen Genuss.13

Zunächst fand am 4. April 1949 an der Philologischen Fakultät eine Parteiversammlung statt. In einem Bericht darüber, veröffentlicht in der Universitätszeitung, war zu lesen: In einem ausführlichen Vortrag von N. S. Lebedev, dem Sekretär des Parteibüros der Fakultät, sowie in den Reden der kommunistischen Genossen A. V. Zapadov, E.  I.  Naumov, В.I.  Bursov, F.  A.  Abramov, A.  I.  Redina, N.  A.  Protasova, N.  V.  Spižarskaja, V.  E.  Balachonov und vieler anderer wurde überzeugend nachgewiesen, dass sich die Professoren  V.  M. Žirmunskij, В.  M.  Ėjchenbaum, M. K. Azadovskij und G. A. Gukovskij nicht nur nicht dem Kampf für die Reinheit der marxistisch-leninistischen Literaturwissenschaft angeschlossen haben, sondern weiterhin auf ihren objektivistischen Positionen eines ästhetisierenden Formalismus verharren, ohne sich von der komparativen Methodik loszusagen.14

13 14

Ėtkind 2001, S. 134 f. – Siehe auch die deutsche Ausgabe dieses Buches: Etkind 1978. Protiv kosmopolitizma i formalizma v literaturovedenii. (S partijnogo sobranija filologičeskogo fakul’teta) [Gegen Kosmopolitismus und Formalismus in der Literaturwissenschaft.

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Es begann eine schamlose Diffamierung dieser vier hervorragenden Gelehrten; ihre gesamte schöpferische Tätigkeit wurde für null und nichtig erklärt, ihr Ruf angefochten und ihre ideologische Position – man pflegte sie ‚moralischideologische‘ zu nennen – attackiert. Im Folgenden sind Auszüge aus diesem Zeitungsbericht angeführt: Als Schüler und Nachbeter der deutschen idealistischen Schule trat V.  M. Žirmunskij zu Beginn seiner wissenschaftlichen Tätigkeit als unverhüllter Mystiker auf. Neben Ėjchenbaum und Šklovskij war er Mitbegründer und Theoretiker der Formalisten-Gruppe OPOJAZ. Nachdem der Formalismus vernichtend geschlagen war, wurde Žirmunskij zum Apologeten der komparativen Methode des bürgerlichen Kosmopoliten  A.  Veselovskij. […] Im vergangenen Jahr, als die Theorie des Kosmopolitismus einen harten Schlag erhielt, verteidigte V. M. Žirmunskij erbittert Veselovskij und bezeichnete Fadeevs Bericht, in welchem dieser das wissenschaftsfeindliche Wesen der Schule Veselovskijs nachgewiesen hatte, als „desorientierend“. Die Komparatistik durchzieht als Leitfaden das gesamte Wirken von V. M. Žirmunskij als Literaturwissenschaftler. In seinem jüngsten, in Zusammenarbeit mit Ch. Zarifov geschriebenen Werk Uzbekskij narodnyj geroičeskij ėpos [Das Heldenepos des usbekischen Volkes] (1947) findet Žirmunskij so viele Motive, Sujets und Gestalten, die denen in den Epen anderer Völker gleichen, dass das Schaffen des usbekischen Volkes bei ihm die Züge einer nationalen Eigenart verliert. […] Alle, die auf dieser Versammlung das Wort ergriffen, haben überzeugend nachgewiesen, dass es sich nicht um einzelne Fehler handelt, sondern um ein fehlerhaftes System der von den Professoren  V.  M. Žirmunskij, B.  M.  Ėjchenbaum, M.  K.  Azadovskij und G.  A.  Gukovskij vertretenen wissenschaftlichen Ansichten. Objektiv gesehen kämpfen diese Gelehrten, ob sie es nun wollen oder nicht, gegen die parteipolitische Linie in der Literaturwissenschaft, sie machen das Sowjetvolk ideologisch wehrlos und schaden der kommunistischen Erziehung der Jugend.

Selbstverständlich waren die Anschuldigungen, die auf dieser Versammlung (wie auch auf weiteren, ähnlich verlaufenden Versammlungen) vorgebracht wurden, gelinde gesagt, aus der Luft gegriffen. Doch Formulierungen wie „sie kämpfen gegen die parteipolitische Linie“ galten als schwerwiegende politische Anklagen, auf die unweigerlich harte Strafen folgten, im günstigsten Fall noch eine administrative (nämlich die Entlassung). Rechnen musste man mit Verhaftung, Prozess, Lager. Die am 4. April 1949 an der Philologischen Fakultät abgehaltene Parteiversammlung war jedoch nur eine Generalprobe für die Hauptverhandlung: die öffentliche Sitzung des Fakultätsrats, die am nächsten Tag stattfinden sollte. Die besondere Bedeutung dieses Ereignisses war Lehrern wie Studenten völlig (Auf der Parteiversammlung der Philologischen Fakultät)], in: Leningradskij universitet [Leningrader Universität] 13, 7. April 1949, S. 2.

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bewusst. Alle Unterrichtsstunden fielen aus, die Aula der Philologischen Fakultät war so überlaufen, dass nicht alle Zuschauer darin Platz fanden; daher wurde die Sitzung in die Aula des Hauptgebäudes der Universität verlegt. Auch diese war überfüllt. Von den vier Angeklagten waren nur zwei anwesend: V. M. Žirmunskij und G. A. Gukovskij; sie mussten sämtliche Reden über sich ergehen lassen. B.  M.  Ėjchenbaum und M.  K.  Azadovskij, beide herzkrank, waren in diesen Tagen krankgeschrieben und konnten der Sitzung daher nicht beiwohnen. Was sie im Übrigen nicht vor der Prorabotka bewahrte. Die mehrstündige Versammlung wurde unter Vorsitz von G.  P.  Berdnikov durchgeführt; er war es auch, der die programmatische Rede hielt und später das Schlusswort sprach. Nachdem er die Reden des Vortages resümiert hatte, überhäufte er V.  M. Žirmunskij mit wütenden Anklagen. Dessen gesamte wissenschaftliche Laufbahn stellte er als eine Aneinanderreihung ärgster Fehler und Mängel dar, um sich abschließend an Žirmunskij mit der Frage zu wenden: Seien Sie ehrlich, Viktor Maksimovič: Können Sie hierhin – und der Redner schlug mit der flachen Hand hart auf den Tisch, [eine theatralische Geste, die sich den Zeitgenossen besonders eingeprägt hat –Einfüg.K.A.] – irgendwelche Ihrer Arbeiten legen, die für das Sowjetvolk von Nutzen sind?!

Im Namen der Parteiorganisation sprach dann Frau A. I. Redina, Dozentin am Lehrstuhl für deutsche Sprache. Zeugen berichteten, dass man an ihre Rede „einfach nicht ohne Schaudern zurückdenken konnte. Sie war die widerlichste“.15 Redina sprach davon, dass Žirmunskij „an seinem Lehrstuhl die Assistentin Sigal beschäftigt, die dort überhaupt keinen Nutzen bringt“16 – eine perfide Anspielung auf das Privatleben Žirmunskijs: Später wurde Nina Sigal seine Frau. Es sprachen auch Studenten, „zwei übereifrige Frontkämpfer in Uniformmänteln“. Einer von ihnen fragte Žirmunskij ergänzend zu Berdnikovs Ausführung: „Was haben Sie uns schon lehren können, Viktor Maksimovič! Wir sind der Meinung, das ist keine Vermittlung von Wissen, sondern die reine Vortäuschung von Lehre.“17 Žirmunskij saß ruhig da, ohne sich zu rühren, ohne auf eine von Berdnikov an ihn gerichtete Frage zu antworten. Bereits wiederholt von Anschuldigungen und Verhaftungen heimgesucht, hätte er sich eigentlich klarer als andere die etwaigen Folgen seines Schweigens ausmalen können. Doch Viktor Maksimovič 15 16 17

Aus Erinnerungen einer Augenzeugin (Irina Ėl’konin, damals Studentin) zur Versamm­ lung am 5. April 1949 (aufgezeichnet von K. Azadovskij im Mai 1989). Ebd. Ebd.

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hielt sich mutig, mit bewundernswerter Würde. Erst als er ans Rednerpult trat, nahm er zu dem Gesagten Stellung und erklärte, dass er sein Leben lang für das Volk tätig gewesen sei und viele seiner Werke als nutzbringend einschätze, dass er seine Tätigkeit keineswegs für makellos halte, vielmehr seine Mängel und Fehler kenne und danach strebe, sie zu überwinden. Abschließend sagte Žirmunskij (nach den Erinnerungen einer Augenzeugin): Der Platz eines Gelehrten ist an seinem Arbeitstisch; ich habe unermüdlich gearbeitet, auch in diesen schwierigen Tagen, und werde auch weiterhin arbeiten – ich hoffe, nicht für mich, sondern für das Sowjetvolk.

Nach diesen Worten wurde im Saal geklatscht. Doch neben dem Beifall gab es auch beleidigende Ausrufe. Es herrschte eine Atmosphäre von Angst und Missgunst. An das Rednerpult traten nun von den Professoren und Dozenten der Philologischen Fakultät einer nach dem anderen; jeder von ihnen wurde – ob nun aus freien Stücken oder gegen seinen Willen – zum Beteiligten an diesem furchtbaren, von falschen Richtern in Szene gesetzten Gericht (besonders ausfallend war in seiner Rede E. I. Naumov, Fachbereich Sowjetliteratur). Es muss gesagt werden, dass viele von den Anklägern gewissermaßen selbst Opfer waren: Opfer der Angst, der Einschüchterung und des Zwangs. Der Druck, der seitens des Parteibüros und des Dekanats ausgeübt wurde, war zuweilen groß; sich dem Mittun zu verweigern gelang durchaus nicht jedem, am wenigsten den Parteimitgliedern. Trotzdem bewahrten manche den Anstand und fielen nicht in die Schmähreden gegen die namhaften Kollegen ein. So beschränkte sich etwa der Dozent S. S. Derkač in seiner Rede auf die obligate Aufzählung der ‚Antipatrioten‘ und wetterte in der Hauptsache gegen den Kosmopolitismus ‚überhaupt‘: als Werkzeug des amerikanischen Imperialismus, als Relikt des noch nicht völlig zertrümmerten Idealismus in der Philosophie … Es ist schier unmöglich, in diesem Beitrag sämtliche Leningrader Hetzveranstaltungen zu berücksichtigen. Solche Sitzungen wurden auch im Institut für Russische Literatur (Puškinskij Dom) durchgeführt, an der Pädagogischen Herzen-Hochschule und an allen geisteswissenschaftlichen Fakultäten der Universität. Das Fazit wurde dann im Sommer 1949 von zwei Leningrader Autoren in einem Aufsatz der Zeitschrift „Zvezda“ („Stern“) gezogen, der vielen Zeitgenossen in Erinnerung geblieben ist. Geschmäht wurden hier V. M. Žirmunskijs Frühwerke über die deutsche Romantik, „wo lang und breit der ‚Einfluss‘ der reaktionären deutschen Romantiker auf die russischen Klassiker breitgetreten“ werde, das lebhafte Interesse am Formalismus in den 1920er Jahren („B. M. Ėjchenbaum und V. M. Žirmunskij […] waren die Urheber und

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führende Theoretiker des OPOJAZ, dessen Tätigkeit von dem MarxismusLeninismus feindlich gesinnten Positionen durchdrungen war“), die „komparativen“ Werke Bajron i Puškin [Byron und Puškin] (1924) und Puškin i zapadnye literatury [Puškin und die westliche Literatur] (1937), „deren Ziel es anscheinend ist, die Unselbständigkeit des Puškinschen Schaffens, seine völlige Abhängigkeit von westeuropäischen Meistern, zu untermauern“, und selbstverständlich auch das „Veselovskij-Unwesen“, das sich in den Werken Uzbekskij narodnyj geroičeskij ėpos [Das Heldenepos des usbekischen Volkes] und Istorija zapadnoevropejskoj literatury [Geschichte der westeuropäischen Literatur] geltend mache.18 Wer damals solche Beiträge, wie etwa diesen von F.  Abramov und N.  Lebedev, gelesen oder als Augenzeuge die Verhandlungen miterlebt und sich die Reden der Pogromhelden angehört hat, konnte auch viele Jahre später nur mit Grauen daran zurückdenken: „Ich war Zeugin dieser fürchterlichen, mittelalterlich anmutenden, von vorgetäuschten Richtern in Szene gesetzten Sitzung gewesen“, erzählte Galina Šapovalova, ehemals wissenschaftliche Mitarbeiterin der Abteilung für Folkloristik am Institut für Russische Literatur (Puškinskij Dom): Es sind über 40 Jahre seitdem vergangen, doch auch heute noch höre ich die Stimmen dieser wildgewordenen großrussischen Chunveibins [junge Revoluzzer während der Kulturrevolution in China in den 1970er Jahren], die mit Schaum vorm Mund ihre Lehrmeister diffamierten, denen sie eben noch – noch eine Woche zuvor – jedes Wort von den Lippen ablasen (und das aus gutem Grund) und höflich um Erlaubnis einer Konsultation baten oder darum, ihnen zu helfen, die eine oder andere Frage zu beantworten … Ich war damals noch eine junge Mitarbeiterin des IRLI [= Institut für Russische Literatur (Puškinskij Dom)], war gesund und widerstandsfähig, wurde aber – nachdem ich diesen im wahrsten Sinne des Wortes apokalyptischen Sitzungen in der Leningrader Universität und im IRLI beigewohnt hatte – richtig krank. Was mussten also erst die Opfer dieser öffentlichen Hinrichtung empfinden, allesamt schon ältere Menschen, die ihr Leben ganz der schöpferischen Tätigkeit gewidmet und sich stets an Werte gehalten hatten wie Ehre, Ehrlichkeit, Gerechtigkeit und Anständigkeit?19

„Meine Generation“, fasst Efim Ėtkind zusammen, „wird Zeit meines Lebens die blutrünstige Einstimmigkeit nicht vergessen, mit welcher die Redner auf diesen Versammlungen Viktor Žirmunskij, Boris Ėjchenbaum, Mark Azadovskij, Grigori Gukovskij brandmarkten und deren Entfernung aus der Leningrader Universität forderten.“20 18 19 20

Abramov, Lebedev 1949. Brief von G. G. Šapovalova an die Redaktion der Zeitschrift „Zvezda“ vom 21. August 1989 (heute im Privatarchiv von К. M. Azadovskij). Ėtkind 2001, S. 255.

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Wie hat sich das weitere Schicksal der verleumdeten Gelehrten gestaltet? Besonders tragisch war das Schicksal von Grigorij Gukovskij: Im August 1949 verhaftet, starb er 1950 im Lefortovo-Gefängnis (Moskau). Sein bereits gedrucktes Werk Puškin i problemy realističeskogo stilja [Puškin und Probleme des realistischen Stils] wurde vernichtet, ohne die Typographie verlassen zu haben. Die Rehabilitierung Gukovskijs erfolgte wie üblich erst posthum; das Buch wurde erst 1958 veröffentlicht. Mark Azadovskij, dessen Herzleiden sich im Laufe der Hetz-Kampagne verschärfte (und später als unheilbar erwies), wurde von der Universität und der Akademie der Wissenschaften entlassen. Doch er arbeitete unermüdlich weiter; von der Möglichkeit, sich weiter mit Folklore zu befassen, ausgeschlossen, schuf er in den letzten Jahren seines Lebens mehrere bedeutende Werke, die Schicksal und Wesen der Dekabristenbewegung zum Hauptthema hatten. Er starb im November 1954. Boris Ėjchenbaum, der älteste von den vier Wissenschaftlern und Autor bedeutender Werke über Lermontov, Lev Tolstoj, die russische Dichtkunst und Prosa, durchlebte nach den Ereignissen von 1949 eine tiefgreifende Krise. Erst gegen Ende der 1950er Jahre nahm er wieder seine schriftstellerische Tätigkeit auf, doch schon im Herbst 1959 starb er eines plötzlichen Todes. Viktor Žirmunskij wurde als Leiter des Lehrstuhls für westeuropäische Literatur seiner Stellung enthoben. Seine Nachfolgerin war T.  V.  Vanovskaja, die Frau G. P. Berdnikovs. Wie auch den anderen Kollegen gelang es ihm nur mit größten Schwierigkeiten, seine Schriften zu veröffentlichen.21 In der vollständigsten Bibliographie seiner Werke sind für die Jahre 1949–1953 nur 20 Arbeiten angeführt, von denen die meisten von Žirmunskij redigierte Übersetzungen, Zeitungs- und Lexikon-Artikel, Besprechungen u.  Ä. sind.22 Es genügt, allein diese Zahl mit der Produktivität Žirmunskijs in anderen, glücklicheren Jahren zu vergleichen, um sich davon zu überzeugen, dass sein Name nach 1949 verpönt und verdrängt war.23 Und doch war ihm das Schicksal mehr gewogen als seinen Kollegen und Leidensgenossen. Sein Wille und eine gute Gesundheit halfen ihm, den schweren Schlag zu überwinden. Der Lehrtätigkeit an der Universität enthoben arbeitete Žirmunskij ab 1950 als leitender wissenschaftlicher Mitarbeiter im

21

22 23

Mehr noch: Druckfertige oder zur Drucklegung freigegebene Aufsätze von Azadovskij, Žirmunskij, Ėjchenbaum u. a. wurden aus Zeitschriften und Sammelbänden entfernt; Karteikarten mit ihren Namen verschwanden aus den alphabetischen Katalogen der wissenschaftlichen Bibliotheken, und die Erwähnung ihrer Werke in Anmerkungen und Fußnoten wurde eliminiert. Genin 2001, S. 68–70. Ausführlich durch Dokumente im Anhang belegt.

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Institut für Sprachwissenschaft bei der Akademie der Wissenschaften, unter der Leitung des Akademiemitglieds V. V. Vinogradov. Erst nach Stalins Tod, der einschneidende Veränderungen im Leben des ganzen Landes zur Folge hatte, begann sich auch Žirmunskijs Lage zu bessern. Um 1955 konnte er seine Lehrtätigkeit wiederaufnehmen: zunächst am Aleksandr-Herzen-Institut, später auch wieder an der Philologischen Fakultät der Universität, wo er Vorlesungen zur Literaturgeschichte und zur Sprachkunde hielt. 1963–1965 leitete er an der Universität den Lehrstuhl für Deutsche Philologie; 1966 wurde er zum ordentlichen Mitglied der Akademie der Wissenschaften der UdSSR gewählt, in den nachfolgenden Jahren zum korrespondierenden Mitglied bzw. Ehrendoktor zahlreicher ausländischer Akademien und Gesellschaften. Wiederholt durfte er nun auch ins Ausland, sogar in ‚kapitalistische Länder‘ (England, Italien) reisen. An seinem Lebensabend war er allgemein anerkannt als herausragender universeller Philologe, sowohl daheim als auch im Ausland. Doch die Ereignisse der Jahre 1948/49 hinterließen für immer eine unauslöschliche Spur in seinem Gedächtnis: Es dürfte das Schändlichste und am schwersten zu Ertragende gewesen sein, was er je erleben musste.

Anhang

Die folgenden Dokumente geben Aufschluss zu bislang unbekannten Hintergründen der beruflichen Laufbahn Viktor Žirmunskijs in den Jahren 1949–1952. Dem Leser wird dabei die zeittypische Sprachverwendung auffallen, die vor allem den Stil der Briefe betreffen (z. B. die Erwähnung der „Stalinschen Lehre von der Sprache“, die damals unvermeidlich war). Originale und Kopien der hier veröffentlichten Dokumente werden in Žirmunskijs Familienarchiv aufbewahrt und wurden dem Autor von den Töchtern Aleksandra V. Žirmunskaja und Vera V. Astvazaturova-Žirmunskaja, dankenswerterweise zur Verfügung gestellt. 1. ERLASS Nr. 797 des Rektors der Staatl. Leningr. A.  A. Ždanov-Universität, Preisträger des Leninordens, vom 3. Mai 1949 Leningrad § 1. Hiermit wird der Erlass des Universitäts-Hauptverwaltungsamts beim Ministerium für Hochschulbildung der UdSSR Nr. 233/YK vom 29. April 1949 bekanntgegeben:

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Prof. V.  M. Žirmunskij wird seiner Stellung als Leiter des Lehrstuhls für westeuropäische Literatur an der Philologischen Fakultät enthoben, da er als Lehrstuhlleiter versagt hat und manche ideologischen Fehler in seiner wissenschaftlichen Tätigkeit sowie der Lehrtätigkeit zugelassen hat. Prof. K. Žigač Leiter des Universitäten-Hauptverwaltungsamts, Mitglied des Kollegiums beim Ministerium für Hochschulbildung der UdSSR §2. In Ausführung des Erlasses des Universitäts-Hauptverwaltungsamts beim Ministerium für Hochschulbildung der UdSSR Nr.  233/YK vom 29. IV. 1949 wird Prof. ŽIRMUNSKIJ, V.  M. ab 5. Mai 1949 seiner Stellung als Leiter des Lehrstuhls für westeuropäische Literatur enthoben; weiterhin behalten wird er seine Stellung als Professor dieses Lehrstuhls mit einem Monatsgehalt von 5500 R. Begründung: Verfügung des Rektors Prof. N. A. Domnin, Rektor der Staatlichen Leningrader A. A. Ždanov-Universität, Preisträger des Leninordens Abschrift beglaubigt: Inspektor der Personalabteilung 2/VI 1949 г. 2. ERLASS des Universitäts-Hauptverwaltungsamts beim Ministerium für Hochschulbildung der UdSSR Moskau Nr. 633/YK 16. November 1949 Viktor Maksimovič ŽIRMUNSKI, Prof. der Leningrader Staatlichen Universität, wird an die I.  Pädagogische  Hochschule für Fremdsprachen als Professor des Lehrstuhls für germanische Philologie versetzt. Prof. K. Žigač Leiter des Universitäts-Hauptverwaltungsamts Mitglied des Kollegiums beim Ministerium für Hochschulbildung der UdSSR Zu versenden an:

1. die Universität 2. das Institut 3. Genossen Žirmunskij 4. die Personalabteilung des Hauptverwaltungsamts 5. die Kanzlei des Hauptverwaltungsamts

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3. Auszug aus dem Erlass Nr. 625 des Ministeriums für Hochschulbildung vom 26. Mai 1949 […] An der Philologischen Fakultät haben die Professoren Ėjchenbaum, Azadovskij, Gukovskij und Žirmunskij in ihren Werken Fehler kosmopolitischen Charakters zugelassen. Die genannten Professoren haben in ihren Vorlesungen und wissenschaftlichen Werken das Schaffen der großen russischen Schriftsteller herabgesetzt, die Ideen des bürgerlichen Ästhetentums und Formalismus verkündet […]. Prof. Žirmunskij, Leiter des Lehrstuhls für westeuropäische Literatur, verteidigt bis heute die antiwissenschaftlichen Konzeptionen von Veselovskij. In seinem Werk Das Heldenepos des usbekischen Volkes (1947) führt Žirmunskij das gesamte usbekische Epos auf germanische, persische, englische und andere epische Traditionen zurück und schweigt den wohltätigen Einfluss der russischen Kultur auf die usbekische tot. Das kollektive Werk des Lehrstuhls für Geschichte der westeuropäischen Literatur Das Mittelalter und die Renaissance (Verfasser: Žirmunskij, Smirnov, Alekseev, Mokul’skij), das 1947 veröffentlicht wurde, enthält gleichfalls ideologische Fehler. In diesem Werk wird Veselovskijs Theorie der Wandermotive positiv eingeschätzt und die nationale Vielfalt der epischen Sagen verschiedener Völker ignoriert. Die Mitarbeiter des Lehrstuhls arbeiten nicht an neuen Spezialkursen über zeitgenössische nationale Literaturen, sondern versenken sich in weit zurückliegende Epochen und vermeiden es, aktuelle zeitgenössische Probleme der Literatur auszuleuchten. Die Themen für Diplomarbeiten führen zu einer falschen Orientierung der Studenten an der formellen, komparatistischen Analyse des Stoffs der literarischen Werke, und somit zu einem unkritischen Studium der reaktionären Dekadenz und des reaktionären Ästhetizismus […]. 4. An das Akademiemitglied V. V. Vinogradov, Direktor des Instituts für Sprachwissenschaft an der Akademie der Wissenschaften der UdSSR Sehr geehrter Vladimir Vladimirovič! Gestatten Sie mir, mich in folgender Angelegenheit an Sie zu wenden. Zurzeit arbeite ich in dem von Ihnen geleiteten Institut an Problemen der Stalinschen Sprachwissenschaft in meinem Fachbereich, der Germanistik, und werde das im Rahmen des Institutsplans (1951–1953) vorgesehene monographische Werk über die deutsche Dialektologie (Mundartforschung)

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fertigstellen. Daneben beschäftige ich mich mit der Vorbereitung einer vierten Auflage meines für Hochschulen bestimmten Lehrbuchs Geschichte der deutschen Sprache, das ich im Sinne der grundlegenden Richtlinien der Stalinschen Lehre von der Sprache zu überarbeiten beabsichtige. Diese Arbeiten können meines Erachtens nur dann erfolgreich sein, wenn sie nicht abseits der lebendigen Praxis, der Lehrtätigkeit in meinem Fachbereich an einer Hochschule verlaufen. Nun bin ich seit drei Jahren, seit dem Herbst 1949, von der Lehrtätigkeit an der Hochschule isoliert. Meine Lehrtätigkeit begann an der Leningrader Universität bereits 1915. In den Jahren 1917–19 war ich als Professor und Lehrstuhlinhaber an der Universität Saratov tätig. Im Herbst 1919 wurde ich als Professor an die Leningrader Universität berufen; seit dieser Zeit und bis zum Herbst 1949 war ich 30 Jahre lang als Professor und Lehrstuhlinhaber an der Leningrader Universität tätig und bekleidete nebenamtlich das Amt eines Professors an der Pädagogischen Alexander Herzen-Hochschule (1923–1931), an der Pädagogischen Hochschule für Fremdsprachen und an anderen Hochschulen, wo ich Vorlesungen hielt und Aspiranten (und in der Akademie der Wissenschaften seit 1935 auch Doktoranden) betreute, und zwar in den Fachbereichen der germanischen und der englischen Philologie (in Sprache wie Literatur). Innerhalb dieses Zeitabschnitts sind Dutzende meiner Schüler zu Doktoren [Dr. habil.] und Kandidaten [Dr. phil.] der philologischen Wissenschaften promoviert worden, sie wurden Professoren, Lehrer und wissenschaftliche Mitarbeiter in den genannten Fachbereichen. Diese meine pädagogische Tätigkeit wurde in den jeweiligen Instituten wiederholt lobend erwähnt. Im April  1949 wurden meine wissenschaftlichen Werke kritisiert für die von mir zugelassenen kosmopolitischen Fehler. Gemäß Tagesbefehl des Universitäts-Hauptverwaltungsamts beim Ministerium für Hochschulbildung vom 23. April  1949, Nr.  233/YK wurde ich meines Lehrstuhls enthoben, da ich mich angeblich „in dieser Stellung nicht bewährt und darüber hinaus mich methodologischer Fehlentscheidungen schuldig gemacht habe“; ich wurde in der Stellung eines Professors desselben Lehrstuhls belassen. Doch die Einstellung der damaligen Fakultätsleitung zu mir, die mich im Herbst 1949 ohne Lehrauftrag ließ, hat mich dazu bewogen, dem Leiter der Universitätsverwaltung Prof. K. Žigač die Bitte vorzulegen, mich an die Leningrader Pädagogische Hochschule für Fremdsprachen zu versetzen, deren Direktor Prof. A.  M.  Komarov mich dringend aufgefordert hatte, die vakante Stellung eines Professors am Lehrstuhl für germanische Philologie zu übernehmen. Als Erfüllung meiner Bitte bekam ich mit Tagesbefehl des Universitäts-Hauptverwaltungsamts vom 16. November 1949, Nr. 633/YK diese Stellung zugewiesen, doch Prof. Komarov lehnte es – trotz der bestehenden

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Übereinkunft – ab, mich im Institut anzustellen, indem er sich auf das Fehlen einer Planstelle berief, und der Leiter des Universitäts-Verwaltungsamts Gen[osse] Žigač hielt es nicht für notwendig, auf der Erfüllung seines Tagesbefehls zu bestehen. Somit blieb ich seit dem Herbst 1949 ohne Lehrauftrag, was ich, und ich spreche hier aus eigener langjähriger Erfahrung, für einen Wissenschaftler für unzulässig halte. Als alter Universitätslehrer, der sein ganzes Leben der pädagogischen Tätigkeit gewidmet hat, die meines Erachtens die Pflicht eines jeden Sowjetgelehrten gegenüber seiner Heimat ist, bedauere ich zutiefst die Trennung von der Praxis meines Fachbereichs, und bin im Übrigen auch der Meinung, dass sich dies höchst negativ auf die Qualität meiner theoretischen wissenschaftlichen Tätigkeit auswirken kann. Dieser Umstand hat mich bewogen, mich an Sie zu wenden mit der Bitte, mir bei der Rückkehr zur pädagogischen Tätigkeit behilflich zu sein. Korrespondierendes Mitglied der Akademie der Wissenschaften der UdSSR, Professor [Žirmunskij] 30. Mai 1952, Leningrad, Zagorodnyj prospekt, 10–10a. 5. An das Ministerium für Hochschulbildung der UdSSR An den stellvertretenden Minister M. A. Prokof’ev, […] Aus dem Urlaub zurückgekehrt, fand ich Ihr Schreiben vom 8. VIII. 1952, Nr. VII–04/ 6979 vor, in dem Sie mir eine Stellung an der Tadschikischen Staatlichen Universität anbieten. Etwas früher, am 8./VII. 1952, erhielt ich von Gen[ossen] Ivančenko, Rektor der Universität Odessa, einen Ruf, den Lehrstuhls für russische Sprache zu übernehmen (wie ich annehme, gleichfalls auf Empfehlung des Ministeriums). Ich danke Ihnen herzlich für Ihr Eingehen auf meinen Wunsch, mich wieder der Lehrtätigkeit an einer Hochschule zu widmen, einer Tätigkeit, die ich rund 35 Jahre (von 1915 bis 1949) ausgeübt habe. Als langjähriger Mitarbeiter der Universität trage ich schwer an der Trennung von der pädagogischen Tätigkeit, die nach meiner Auffassung zur Pflicht eines jeden Sowjetgelehrten gegenüber der Heimat gehört. Leider ist es mir nicht möglich, die an mich ergangenen Angebote anzunehmen, und zwar aus folgenden Gründen. Erstens bin ich kein Fachmann im Fachbereich der russischen Sprache: mein Fachbereich ist die germanische Philologie (in Ihrem Brief ist nicht angegeben, welche Art Arbeit mir an der Tadschikischen Universität angeboten werden soll, doch habe ich allen Grund

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anzunehmen, dass mein Fachbereich dort nicht vertreten ist, ebenso wenig wie in Odessa). Zweitens bin ich als korrespondierendes Mitglied der Akademie der Wissenschaften der UdSSR zugleich auch hauptberuflicher Mitarbeiter des Instituts für Sprachwissenschaft der Akademie der Wissenschaften; die wissenschaftliche Arbeit, die ich im Auftrag dieses Instituts erbringe, bildet einen Teil des von der Regierung bestätigten Gesamtplans der Akademie der Wissenschaften: Dieser Umstand verlangt meine Anwesenheit in Leningrad und in Moskau, wo die Tätigkeit des Instituts verläuft. Darüber hinaus bin ich der festen Überzeugung, dass eine erfolgreiche Erfüllung der mir aufgetragenen wissenschaftlichen Aufgaben (namentlich die in Aussicht gestellte Vorbereitung der vierten Auflage meines für Hochschulen bestimmten Lehrbuchs Geschichte der deutschen Sprache, das ich grundlegend und unter Berücksichtigung der Stalinschen Lehre von der Sprache zu überarbeiten beabsichtige) nur unter der Bedingung möglich ist, dass meine Arbeit als Wissenschaftler nicht isoliert von der lebendigen pädagogischen Praxis verläuft. Damit unmittelbar verbunden ist auch meine Bitte, die Ihnen Akademiemitglied  V.  V.  Vinogradov zusammen mit meinem Brief übermittelt hat. Ich erlaube mir, Sie um die Möglichkeit zu bitten, meine Lehrtätigkeit an einer der Hochschulen Leningrads oder Moskaus wiederaufnehmen zu dürfen, wo ich in meinem Fachbereich unterrichten könnte, ohne die wissenschaftliche Forschungsarbeit, die ich im Auftrag der Akademie der Wissenschaften leiste, unterbrechen zu müssen. Ich erwarte die Rückkehr von Akademiemitglied V. V. Vinogradov aus dem Urlaub, um den Standpunkt der Direktion des Instituts für Sprachwissenschaft, dessen Mitarbeiter ich bin, zu den hier aufgeworfenen Fragen endgültig klären zu können. Anschließend möchte ich Sie bitten, mich persönlich zu empfangen zwecks Klärung aller meiner Angelegenheiten, die meine Arbeit an der Universität betreffen. Hochachtungsvoll korrespondierendes Mitglied der Akademie der Wissenschaften der UdSSR Professor [V. M. Žirmunskij] 6. Stellvertretender Minister für Hochschulbildung der UdSSR _______

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den 4. Oktober 1952 №–11–04/9929 Moskau, Ždanov Str., 11

An Genossen Žirmunskij V. M. Leningrad, 2, Zagorodnyj, 10, Wohnung 10–a

Das Ministerium für Hochschulbildung der UdSSR teilt mit, dass keine Möglichkeit besteht, Ihnen eine Lehrstelle an den Hochschulen Moskaus bzw. Leningrads zu gewähren. 

M. Prokof’ev Aus dem Russischen übersetzt von Margarita Arsen’eva Literatur

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Blok und Grillparzer 1.

Grillparzer in Russland

Franz Grillparzers (1791–1872) Drama Die Ahnfrau – sein erstes bedeutendes Werk – wurde 1817 veröffentlicht und uraufgeführt. Gut ein Jahr später brachte das Wiener Burgtheater Grillparzers zweites Drama Sappho auf die Bühne und feierte damit große Erfolge. Mit den Jahren verbreitete sich Grillparzers Ruf als Dramatiker immer weiter, seine Stücke wurden an den größten Theatern Europas gespielt, in Österreich gilt er als erster Nationaldichter. In Russland wurde der Name Grillparzer ebenfalls recht schnell bekannt, auch wenn seine von russischen und deutschen Theatertruppen aufgeführten Dramen beim russischen Publikum zunächst nur auf wenig Resonanz stießen. Für die erste Hälfte des 19. Jahrhunderts lässt sich für Grillparzers Schaffen kein allgemeines Interesse in Russland feststellen, und selbst wenn sein Name hin und wieder in der russischen Presse Erwähnung fand, so geschah dies meist eher zufällig. Im Jahr 1824 inszenierte eine deutsche Theatertruppe in St. Petersburg Grillparzers Stück Das goldene Vlies. Bei der Aufführung war auch Aleksandr Griboedov zugegen, dessen Reaktion in einem Brief an seinen Schriftstellerkollegen Pavel Katenin vom 17. Oktober 1824 zu lesen ist: „Gestern schlief ich bei den Deutschen inmitten des Lärmens, Klapperns und Getöses von Grillparzers Jamben tief und fest. Sie spielten sein Goldenes Vlies. Die Grundidee ist gelungen.“1 Weiter macht Griboedov den Adressaten kurz mit dem Inhalt des Stücks bekannt und wirft Grillparzer mangelnde Phantasie vor.2 Grillparzers erster russischer Übersetzer war der seinerzeit als Dichter, Dramatiker und Übersetzer bekannte Platon Obodovskij.3 1829 veröffentlichte dieser im Almanach Buket einen Ausschnitt aus Grillparzers erstem Drama (in Obodovskijs Übersetzung: Praroditel’nica, dt. Urahnin, Ahnfrau).4 In demselben * Erstveröffentlichung in: Konstantin Azadovskij. Rossija i Zapad: Iz istorii literaturnych otnošenij. Leningrad, 1973, S.  304–319. Wieder in: Konstantin Azadovskij. Sjužety i sud’by: nemecko-russkije otraženija [Themen und Schicksale: Deutsch-russische Spiegelungen]. Moskva, 2019. S. 9–44. 1 Griboedov 1940, S. 505. 2 Zum Verhältnis von Grillparzers Das goldene Vlies und Griboedovs Tragödie Gruzinskaja noč [Georgische Nacht] (1826–1827) s. Vacuro 1994, S. 162–193; Fomičev 2007, S. 161–163. 3 Potapowa 1997, S. 194–203; Potapova 1997, S. 27–41. 4 Buket 1829, S.  75–82. Der vollständige Text des Stückes erschien erst 1893 (Praroditel’nica. Romantičeskaja tragedija v 5-ti dejstvijach v stichach, sočinenie Gril’parcera. Perevod s nemeckogo P.  Obodovskogo [Die Ahnfrau. Romantische Tragödie in 5 Akten in Versen,

© Brill Fink, 2022 | doi:10.30965/9783846766767_004

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Blok und Grillparzer

Jahr wurde Obodovskijs vollständige Übersetzung des Stücks von der Zensur zur Aufführung zugelassen und die Ahnfrau ins Repertoire der russischen Theater aufgenommen. Die Uraufführung fand am 4. November  1829 am Petersburger Aleksandrinskij-Theater statt, wo es von 1832 bis 1834 sechsmal gespielt wurde; die Rolle der Hauptfigur Jaromir übernahm Vasilij Karatygin. Auch am Moskauer Malyj-Theater wurde die Ahnfrau mehrmals aufgeführt; hier trat Pavel Močalov als Jaromir auf. (Der Kritiker Sergej Aksakov schrieb, nachdem er das Stück am 19. Februar 1831 am Malyj-Theater gesehen hatte, dass „Močalov die Rolle des Jaromir wie auf den Leib geschneidert ist“.5) Die Theaterkritiker rechneten Grillparzer zunächst einhellig den Verfassern romantischer Schicksalstragödien zu, einem Dramentyp, der zu Beginn des 19. Jahrhunderts in Deutschland weit verbreitet war und zu dem die Werke von Zacharias Werner und Adolph Müllner zählten (die auch in Russland zeitweise in Mode waren). „Müllner ist in Werners Fußstapfen getreten“, schreibt etwa der Theaterkritiker der Zeitschrift Moskovskij telegraf [Moskauer Telegraph], „und hat mit seinem großartigen, doch düsteren Stück Die Schuld6 sowie weiteren Werken die Vorherrschaft der Werner’schen Schule ausgeweitet. Nach Müllner haben sich sogleich viele weitere auf diesen Weg gemacht; aus deren Menge besonders Grillparzer herausragt.“7 Das Stück selbst beschreibt der Rezensent als „Blutbad des Schicksals, in das die Menschen wie Schafe zur Schlachtbank geführt werden“. Von Močalovs Auftritt ist er begeistert, verurteilt aber das Genre an sich entschieden: „Man muss zugeben, dass einige Szenen überragend sind, doch in seiner Gesamtheit ist das Stück albern. […] ‚Gut, aber albern‘ wäre noch das beste Urteil über diese Tragödie.“8 Grillparzer verfasste das Stück tatsächlich zu einer Zeit, als das deutschsprachige Theaterpublikum für Schicksalstragödien schwärmte, und einige Elemente darin weisen zweifellos Parallelen zur Dramaturgie eines Werner oder Müllner auf. Dennoch unterscheidet sich Die Ahnfrau in ihrem Wesen von den üblichen Schicksalsdramen. Ihr tragischer Konflikt besteht im Zusammentreffen des natürlichen Lebenswillens des Menschen und der

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6 7 8

verfasst von Grillparzer. Aus dem Deutschen übersetzt von P. Obodovskij] (1893). Sankt-Peterburg: Lit[ografija] Fel’dmana; lithographische Ausgabe des handschriftlichen Manuskripts). Aksakov 1956, Bd.  3, S.  755. Aksakovs Rezension erschien zuerst (ohne Angabe des Autornamens) in der Zeitungsbeilage „Pribavlenie k gazete ‚Molva‘“ (1831. Nr. 8, S. 1–7). Die Autorschaft Aksakovs lässt sich durch eine Reihe von Argumenten belegen (s. Aksakov 1956, Bd. 3, S. 755). Zu Aksakovs Ansichten über die Ahnfrau, deren Aufführung am Malyj-Theater, die deutsche Schicksalstragödie u. a. s. Heier 1970; Heier 1971. Uraufführung 1813 am Wiener Burgtheater; Erstpublikation der russischen Übersetzung 1816. Moskovskij telegraf (1831). Bd. 37, Nr. 4 (Februar 1831), S. 569. Ebenda, S. 571 f.

Blok und Grillparzer

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gleichzeitigen Unmöglichkeit, diesen Willen frei zu bekunden. In Grillparzers Welt herrscht ein unumgängliches Grundprinzip, das die menschlichen Handlungen bestimmt. Der Mensch ist unfrei. Doch obwohl Grillparzer die Abhängigkeit des Menschen von höheren Mächten (dem „Schicksal“) bejaht, hat er als Erbe der Aufklärung zugleich tiefstes Mitgefühl mit diesem und ist bestrebt, die Unnatürlichkeit der menschlichen Lage zu betonen. Voller Teilnahme stellt er Jaromirs kühne Versuche dar, das eigene Ich zu bekräftigen. „In dem Stück herrscht ein gewaltiges Ringen nach individueller Freiheit“9, hebt der deutsche Kritiker Franz Mehring hervor. Das freiheitsliebende Pathos der Ahnfrau bewegt den Literaturhistoriker dazu, dem Stück einen eigenen (wenn auch separaten) Platz neben Werken mit Hang zum Fatalismus, wie sie Schiller, Kleist oder Hebbel (keinesfalls jedoch Werner und Müllner) schufen, einzuräumen. Obodovskijs Übersetzung war für jene Zeit gar nicht übel: Ihre Ausführung in Versen lässt keinen Zweifel an den metrischen Fähigkeiten des Übersetzers. Und doch vermittelt die Übersetzung eine verfälschte Vorstellung vom Stück. Grillparzers in vierhebigen Trochäen gehaltenen Blankvers gibt Obodovskij mal in Alexandrinern, mal in jambischen Fünfhebern, mal in verschieden langen Trochäen wieder. Das, was die deutschen Verse so neuartig und erfrischend macht, geht in der Übersetzung verloren – und damit auch die innere Energie und unbändige Leidenschaft des Originals. Möglicherweise sah auch Obodovskij Grillparzer als Dramatiker vom Schlage Müllners. Bis zum Ende des 19. Jahrhunderts trugen alle handschriftlichen Manuskripte der russischen Ahnfrau den Untertitel „Romantische Tragödie“. Über Grillparzers andere Werke war im Russland der 1820–1830er Jahre nur wenig zu erfahren.10 Eine Ausnahme bildet eine detailreiche Rezension in der Zeitschrift Otečestvennye zapiski [Vaterländische Notizen], die sich zwei „wunderbaren, brandneuen Werken raffinierter Literatur in Deutschland“ widmet, nämlich Grillparzers Stücken Der Traum ein Leben und Ein treuer Diener seines Herrn, die in Wien aufgeführt wurden. Im Übrigen stuft der anonyme Rezensent Grillparzers künstlerisches Können zwar hoch ein, sieht in ihm aber eher einen „Handwerksmeister“ als einen wahren Dichter. „Grillparzer weiß das Interesse der Zuschauer zu wecken“, heißt es in der Rezension, „sie in seinen Bann zu ziehen, die Nerven bis aufs äußerste zu reizen, sie zum Weinen und Fürchten zu bringen, kurz, er vermag noch den hartgesottensten 9 10

Mehring 1894/95. S. beispielsweise die von Michail Pavlov herausgegebene Literaturzeitschrift Atenej: Atenej (1828). Bd. 4, Nr. 15/1828, S. 268f (über Grillparzers neues Drama Ein treuer Diener seines Herrn).

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Blok und Grillparzer

Phlegmatiker aus seiner Apathie zu reißen, doch ist er nicht imstande, in der Seele auch nur einen erquickenden Gedanken, ein starkes Gefühl hervorzurufen: Er beherrscht die Aufmerksamkeit und Nerven seiner Leser und Zuschauer; den Weg zu ihrer Seele kennt er nicht.“11 Insgesamt erschien Grillparzer dem russischen Publikum durch die Übersetzung Obodovskijs in erster Linie als typischer Romantiker und Verfasser von Schicksalsdramen. Diese sich hartnäckig haltende Ansicht vertrat insbesondere auch Vissarion Belinskij. Der Literaturkritiker beurteilte Grillparzer ebenfalls auf Grundlage der Übersetzung Obodovskijs, den er sehr schätzte. In einer Rezension zum zweiten Band des 1841 von Aleksandr Smirdin herausgegebenen Sammelbandes Sto russkich literatorov [Hundert russische Literaten] nannte er Obodovskij „ein erstklassiges und originelles Talent“12. In einer Rezension zum Odesskij al’manach na 1839 god [Odessaer Almanach auf das Jahr 1839] äußert er sich zudem wohlwollend über Nikolaj Protopopov, der in demselben Almanach seine Übersetzung eines Ausschnittes aus der Sappho13 (Akt 3, Szene 1–2) veröffentlicht hatte. Belinskij sah in Grillparzer einen Romantiker, dessen Kunst ein Hang zum Mystischen und Übernatürlichen kennzeichnet. Er stellte ihn in eine Reihe mit Werner und Müllner,14 ja setzte ihn zuweilen gar mit zweitklassigen deutschen Dramatikern wie Raupach und von Schenk gleich.15 In seinem Übersichtsartikel „Russkaja literatura v 1842 godu“ [Russische Literatur im Jahre 1842] schreibt Belinskij: „Wer mit Corneille und Racine aufgewachsen ist, der tut sich allein schon wegen der neuen Form seiner Dramen schwer, Shakespeare zu verstehen; wer aber an die oft wilden, ungeheuerlichen und albernen Formen der Romantiker gewöhnt ist, wer schon früh in den Genuss der Dramen eines Hugo, Dumas, Werner, Grillparzer o. ä. gekommen ist, der versteht Shakespeare ohne Weiteres: Denn ihn kann keine Form mehr in ein solches Erstaunen versetzen, das ihn davon abhielte, sich in das Wesen der dichterischen Schöpfung einzufühlen.“16 Wenn Belinskij feststellt, dass die fatalistische Schule „eine der beklagenswertesten Verirrungen des menschlichen Geistes“ sei, so tut er Grillparzer Unrecht, wenn er ihn ebenfalls zu dieser Schule zählt. Ebenso ungerechtfertigt 11 12 13 14 15 16

Otečestvennye zapiski (1840). Bd.  12, Nr.  10/1840, S.  5 (Rubrik „Inostrannaja literatura“ [Ausländische Literatur], Signatur: H …). Belinskij 1953–1959, Bd. 5, S. 189. Ebenda, Bd. 3, S. 108. Ebenda, Bd. 3, S. 518. Ebenda, Bd. 6, S. 461. Ebenda, Bd. 6, S. 523.

Blok und Grillparzer

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ist es, Hugo und Grillparzer mit Werner in eine Reihe zu stellen. Belinskijs Einschätzung Grillparzers gründet einzig und allein auf der Kenntnis seines ersten Dramas, das dem russischen Publikum damals zudem in einer alles andere als idealen Übersetzung vorlag. In den vier darauffolgenden Jahrzehnten (1845–1885) geriet der Name Grillparzer fast völlig in Vergessenheit.17 Das lag teilweise daran, dass sich die Romantik als literarische Strömung auf den russischen und westeuropäischen Bühnen mittlerweile gänzlich überlebt hatte. Erst Ende der 1880er bzw. Anfang der 1890er Jahre erwachte in Russland erneut das Interesse am österreichischen Dramatiker. Grillparzers hundertjähriges Jubiläum rückte näher, und die Zahl der Artikel und Publikationen über ihn wuchs stetig an. Die westeuropäische (insbesondere die österreichische) Öffentlichkeit bereitete sich auf prunkvolle Feierlichkeiten zum Jahrestag des Dramatikers vor. 1885 und 1890 war das berühmte Meininger Hoftheater auf Russland-Tournee, im Gepäck auch Stücke von Grillparzer, darunter die Ahnfrau.18 Die Meininger feierten mit ihren Aufführungen rauschende Erfolge und blieben dem russischen Publikum noch lange im Gedächtnis. „In meiner frühen Jugend“, so erinnert sich beispielsweise die Schriftstellerin, Übersetzerin und Kritikerin Ljubov’ Gurevič, sah ich einmal die Ahnfrau in der Inszenierung der Meininger. Damals war ich noch nicht imstande, den Sinn, die Idee und Atmosphäre des Stücks zu erfassen, das immerhin fast hundert Jahre zuvor geschrieben worden war, in den schweren Zeiten der Metternich’schen Reaktion. Doch das Entsetzen darüber hat sich mir so stark eingeprägt, dass ich mich noch heute an Details aus dem Stück erinnere, und nach der Aufführung ging ich wie eine Schlafwandlerin umher und zitterte am helllichten Tag vor Angst am ganzen Körper.19

Die große Öffentlichkeitswirksamkeit der Meininger Gastspiele führte in Russland zu einer Reihe von (Prosa-)Nacherzählungen und Neubearbeitungen von

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Einzelne Vertreter der russischen Kultur interessierten sich selbstverständlich auch in diesem Zeitraum weiterhin für Grillparzer. Insbesondere findet er bei Literaten Erwähnung, die in jenen Jahren Wien besuchten. So berichtet T. N. Granovskij in einem seiner Briefe aus Wien, dass er, ausgestattet mit einer Empfehlung von Karl August Varnhagen von Ense aus Berlin, mehrmals versucht habe, bei Grillparzer vorzusprechen, diesen jedoch nie zuhause angetroffen habe (s. Granovskij 1897, S. 347). „[…] Mit ebenso gekonntem Einsatz der darstellerischen Mittel wurde Grillparzers effektvolles und düsteres Drama Das Ahnmütterchen [russ. „Prababka“] aufgeführt“, heißt es in einer Rezension zu den Auftritten der Meininger Truppe, in Niva [Das Gefilde] (1885). Nr. 11/1885, S. 270. Slovo [Das Wort] (1909). Nr. 695, 31. Januar/13. Februar 1909. Sankt-Peterburg, S. 5.

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Blok und Grillparzer

Grillparzers Dramen, insbesondere durch Viktor Aleksandrov (Krylov)20 und Dmitrij Mansfel’d.21 Im Grillparzer-Jubiläumsjahr 1891 übertrug Nikolaj Arbenin, ein Kritiker, Übersetzer und Schauspieler am Moskauer Chudožestvennyj-Theater, die Sappho ins Russische. Die Uraufführung fand am 5. Februar 1892 im Moskauer Malyj-Theater bei einer Benefizvorstellung der Schauspielerin Marija Ermolova statt; deren großes darstellerisches Können wurde durch die Zeitgenossen und Rezensenten besonders hervorgehoben. Bei der Benefizvorstellung von Frau Ermolova am 5. Februar wurde die fünfaktige Tragödie Sappho von Franz Grillparzer aufgeführt, in der ‚für die russische Bühne adaptierten‘ Übersetzung des Schauspielers und Übersetzers N. F. Arbenin. Der Name des deutschen Dichters und Dramatikers Grillparzer ist dem Großteil des russischen Publikums gänzlich unbekannt, und das, obwohl seit seiner Geburt schon mehr als hundert Jahre verstrichen sind und sich sein Todestag im Januar dieses Jahres zum 20. Mal jährte,

so der Rezensent An.22 in der Zeitschrift Russkaja mysl’ [Russischer Gedanke].23 Arbenins Übersetzung24 und die Interpretation der Ermolova änderten das Bild des russischen Publikums von Grillparzer. An die Stelle des romantischen Verfassers von Schicksalsdramen trat nun der „pseudoklassische“ oder „sentimental-nebulöse österreichische Dichter“.25 Die Sappho (mit Ermolova in der Hauptrolle) blieb mehrere Jahre im Repertoire des Malyj-Theaters. Gegen Ende der 1890er Jahre verschwanden Grillparzers Stücke vollständig von den Moskauer und Petersburger Bühnen, bis das Interesse im Jahre 1901 wieder geweckt wurde. Im November  1901 nämlich war die Wiener Burgschauspielerin Adele Sandrock auf Tournee in St. Petersburg und der russischen Provinz. Dabei trat sie wirkungsvoll mit den Monologen der Medea aus Grillparzers gleichnamigem Stück – dem letzten Teil seiner Bühnentrilogie Das goldene Vlies (1818–1819) – auf. Sandrock überzeugte sowohl Zuschauer als auch Kritiker. „Eine hervorragende, eine großartige Schauspielerin!“, lautete das Urteil des bekannten Theaterkritikers 20 21 22 23 24

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Aleksandrov (Krylov) 1885a. Im Zusammenhang mit den Tourneen des Meininger Hoftheaters erschien vermutlich auch Aleksandrov (Krylov) 1885b. Mansfel’d 1904 (lithographische Ausgabe; auf dem Titelblatt steht: „Eins der herausragendsten Stücke aus dem Repertoire der ehemaligen Meininger Truppe“). Hinter diesem Kürzel verbirgt sich E. A. Solov’ëv. Russkaja mysl’ (1892). Buch 3, S. 192; s. auch Ivanov 1892. Zuerst erschienen in der Theaterzeitschrift Artist [Der Künstler]: Artist (1893). Nr.  26, S. 1–8, Nr. 27, S. 1–6, Nr. 28, S. 1–6, Nr. 29, S. 1–12; Einzelausgabe s. Gril’parcer 1895 (Arbenin widmet seine Übersetzung Marija Ermolova und stellt dem Text ein umfassendes Vorwort voran). Ebenda, S. 193.

Blok und Grillparzer

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Aleksandr Kugel’ (Homo Novus).26 Über den Autor der Medea äußerte er sich allerdings in einem anderen Ton: Dieser sei ein „biederer deutscher Pseudoklassiker“, der dem zeitgenössischen Publikum „fremd“ sei.27 Diese Reaktion ist symptomatisch. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts existierte in Russland praktisch keine Literatur zu Grillparzer. Außer Arbenins Vorwort, auf das sich offenbar auch Kugel’ stützte, ist lediglich noch ein Essay mit dem bezeichnenden Titel „Zabytyj dramaturg“ [Der vergessene Dramatiker] zu nennen. Dessen Verfasser Sergej Umanec beginnt mit der bitteren Feststellung, dass Grillparzer zu den „in der russischen Gesellschaft kaum oder so gut wie gar nicht bekannten ausländischen Schriftstellern“28 zähle. Die fünfzehn Seiten, die Umanec dem Österreicher widmete, waren jedoch kaum dazu angetan, diesen Zustand zu ändern: Der Essay strotzt nur so vor sachlichen Fehlern und oberflächlichen Urteilen. Der erste ernsthafte Versuch, das künstlerische Schaffen Grillparzers zu ergründen, wurde von Aleksandr Blok unternommen. 2.

Die Ahnfrau: Übersetzung, Essay, Inszenierung

Blok übersetzte Die Ahnfrau (unter dem Titel Pramater‘) ins Russische und verfasste dazu den kurzen Essay „Ob odnoj starinnoj p’ese“ [Über ein altes Stück], in dem er das Drama analysiert; beide Arbeiten entstanden im Jahre 1908. Anlass für Bloks Beschäftigung mit Grillparzers Stück war ein Gespräch, das er am 6. Januar 1908 mit der Schauspielerin Vera Komissarževskaja29 führte.30 Diese bat Blok um die Übersetzung eines deutschen Stückes für die bevorstehende Theatersaison. „Neulich rief mich die Komissarževskaja zu sich“, berichtet Blok in einem Brief an seine Mutter. „Um die 1½ Stunden besprachen wir alles ganz freundlich […] ich schlug ihr ein Drama Grillparzers vor.“31 Von der Ahnfrau hatte Blok offenbar kurz zuvor durch den Maler Konstantin Somov erfahren, wie aus einem Brief an Vera Komissarževskaja vom 7. Januar 1908 hervorgeht (der Text des von Grillparzer handelnden Briefes wird hier vollständig wiedergegeben):

26 27 28 29 30 31

Teatr i iskusstvo [Theater und Kunst] (1901). Nr. 47, 18. November 1901, S. 851. Ebenda. Trud [Das Werk] (1893). Bd. 17, S. 47. Alternative Schreibweise: Kommissarževskaja. Wir verwenden hier und im Folgenden die in der sowjetischen Zeit übliche Form. S. Komissarževskajas Brief an Blok vom 4. Januar 1908 (Komissarževskaja 1964, S. 172). Blok 1927–1932, S.  189. Die weiteren Verweise auf diese zweibändige Ausgabe werden unter Angabe der Seitenzahl im Fließtext angeführt.

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Blok und Grillparzer Hochverehrte Vera Fëdorovna, verzeihen Sie mir, dass ich Ihnen aufgrund einer Erkältung die vier Bände von Grillparzers Dramen nicht selbst vorbeibringen kann.32 K.  A.  Somov hat mich auf dessen erstes Jugenddrama, Die Ahnfrau (1817), aufmerksam gemacht; im Übrigen sind auch die Sappho und Das goldene Vlies äußerst bekannt. Seine Stücke König Ottokar, Glück und Ende33 sowie Ein treuer Diener seines Herrn34 (alle im beiliegenden Band zu finden) waren dagegen von der staatlichen Zensur in Deutschland verboten. Auf Russisch existiert nur die Sappho, die, wenn ich mich nicht irre, 1895 in der Zeitschrift Artist in der Übersetzung Arbenins35 erschienen ist; die Rolle wurde von der Ermolova gespielt. Ich kenne zwar keins von Grillparzers Stücken, doch nach dem, was ich von ihm gehört habe, kann ich mir gut vorstellen, dass seine heroische (vielleicht sogar melodramatische) Romantik auf der russischen Bühne wiederauferstehen könnte. Wenn Sie es für durchführbar halten, werde ich mich also mit großer Freude an die Übersetzung machen. Seien Sie meiner aufrichtigen Hochachtung und herzlichen Ergebenheit versichert.  Aleksandr Blok36

Komissarževskaja stimmte dem Projekt zu. In seinem nächsten Brief an sie vom 19. Januar 1908 schreibt Blok: „Mit großer Freude nehme ich die Übersetzung von Grillparzers Tragödie in Angriff und hoffe sie Ihnen zu dem von Ihnen genannten Termin – im Mai – zukommen zu lassen.“37 Bloks Briefe aus der ersten Jahreshälfte 1908 lassen Schlüsse darüber zu, wie die Arbeit an der Übersetzung vonstattenging. Der Dichter übersetzte Grillparzer nicht nur „mit großer Freude“, sondern auch mit großem Tempo, und vollendete parallel dazu sein eigenes Stück Pesnja Sud’by [Das Lied des Schicksals]. Am 13. Februar teilt Blok Fëdor Komissarževskij38 mit, er habe „mit der Arbeit noch nicht begonnen“.39 Doch in einem Brief Bloks an Andrej Belyj vom 25. März heißt es: „Ich arbeite intensiv und übersetze eine alte romantische Tragödie Grillparzers – mit Schrecken und Gespenstern und einer weiblichen Hauptfigur wie aus einer illustrierten Prachtausgabe mit Gravüren.“40 32 33 34 35 36 37 38 39 40

Gemeint ist Grillparzer 1903a. Nach dieser Ausgabe übersetzte Blok die Ahnfrau (s. Gril’parcer 1908/1909, S. 17). Gemeint ist ein Stück, nämlich Grillparzers König Ottokars Glück und Ende (1825). Deutsche Erstpublikation 1830. Hier irrt sich Blok in der Jahreszahl (s. Anm. 24). Blok 1963, S. 223. Teatr [Theater] (1940). Nr. 2/1940, S. 117. Fëdor Komissarževskij (1882–1954, USA): Vera Komissarževskajas jüngerer Bruder war Direktor und ab 1908 Regisseur am Komissarževskaja-Theater, wo er auch die Ahnfrau inszenierte. Zit. nach: Rudnickij 1965, S. 91. Blok 1963, S. 233.

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Mit der Gestaltung des Bühnenbildes wollte Blok Konstantin Somov betrauen, der allerdings ablehnte. Daher wandte sich Blok an Aleksandr Benois, der sich bereiterklärte, das Bühnenbild für das KomissarževskajaTheater zu gestalten und auch die Illustrationen für die gedruckte Erstausgabe zu übernehmen. „Auf der gestrigen Vernissage41 ist es mir gelungen, die Frage des Bühnenbildes für die Ahnfrau zu klären“, schreibt Blok am 29. Februar 1908 an Nikolaj Evreinov.42 „K. A. Somov hat, wie zu erwarten war, nicht zugesagt – er möchte im Moment nicht so große Arbeiten auf sich nehmen; A.  N.  Benois äußerte den lebhaften Wunsch, nicht nur das Bühnenbild zu gestalten, sondern sich auch an der Inszenierung zu beteiligen. Benois’ Beteiligung scheint mir ungemein wertvoll …“43 „Benois möchte sehr gerne das Bühnenbild gestalten und das ‚Ahnmütterchen‘ inszenieren“, schreibt Blok einige Tage später (am 2. März) an seine Mutter. „Für mich ist das äußerst reizvoll, wenn nur die Komissarževskijs jetzt nicht knausern und die hohen Kosten scheuen. Aber Evreinov und ich werden sie schon bearbeiten.“ (S. 197)

Aus den Memoiren von Aleksandr D’jakonov (Stavrogin)44 erfährt man, dass Benois deshalb so begeistert war, an der Inszenierung der Ahnfrau teilzunehmen, weil er das Stück in seiner Jugend bereits in einer Aufführung der Meininger (während einer ihrer Russland-Tourneen) gesehen hatte. Es hatte ihn überaus beeindruckt und wurde „das ‚unvergesslichste‘ [Stück] seines Lebens“.45 Blok schrieb Komissarževskij nach New York, um ihm von Benois’ grundsätzlichem Einverständnis zu berichten. „Ich habe aus Amerika einen Brief von Komissarževskajas Bruder erhalten“, schreibt Blok Ende März an Benois. „Sie freuen sich natürlich sehr darüber, dass Sie bei der Inszenierung der Ahnfrau mitwirken wollen, geben aber zu bedenken, dass sie nicht viel zahlen können; nur so viel, wie an M.  V.  Dobužinskij für Bes[ovskoe] dejstvo46. […] 41 42 43 44 45 46

Gemeint ist die Vernissage der Vereinigung russischer Künstler (Sojuz russkich chudožnikov). Ende 1907 (nach der Entlassung Vsevolod Mejerchol’ds) wurde N. Evreinov Regisseur am Komissarževskaja-Theater. Blok 1963, S. 232 (als Adressat von Bloks Brief wird dort fälschlicherweise Nikolaj Rusov angegeben). Aleksandr D’jakonov (Bühnenname Stavrogin, 1882–1963) war Schauspieler, Regisseur und Literat und ab Herbst 1909 am Komissarževskaja-Theater engagiert. Rudnickij 1965, S. 98. Benois bekennt in seinen Memoiren, er sei in seiner Jugend ganz „besessen“ von Grillparzers Drama gewesen (s. Benois 1980, S. 472). Gemeint ist das Stück Besovskoe dejstvo nad nekiim mužem, a takže prenie Života so Smert’ju [Das Höllenspektakel über einen gewissen Ehemann, sowie der Streit zwischen

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Die Komissarževskijs bitten um baldige telegraphische Mitteilung bezüglich Ihrer Zu- oder Absage.“47 Der Briefwechsel zog sich über mehrere Wochen hin und fand Ende April einen erfolgreichen Abschluss. „A. N. Benois ist mit Dobužinskijs Bedingungen einverstanden“, teilt Blok Komissarževskij am 28. April mit, „doch man sollte ihm unbedingt so bald wie möglich Bescheid geben, ob es beschlossene Sache ist. Ich habe mich bereits mehrmals mit ihm getroffen und über die Aufführung gesprochen …“48 Einen Großteil der Übersetzung vollendete Blok im April 1908. Der Dichter arbeitete mit Freude und Begeisterung. Er traf sich oft mit Aleksandr Benois (ihre künstlerische Zusammenarbeit begann Ende März – Anfang April), um mit ihm verschiedene Aspekte der Übersetzung und Inszenierung zu diskutieren. So teilt Blok am 31. März seiner Mutter mit: „Ich bin völlig in die Arbeit vertieft. Übersetze schon den 2. Akt der Ahnfrau. Heute gehe ich zu Benois – wir besprechen die Inszenierung, aus Amerika49 kam ein freundlicher Brief“ (S. 201). Und tags darauf: „Gestern sind Benois und ich zusammengekommen, ich war etwa 2 Stunden bei ihm, ein ganz reizender Mensch …“ (S. 202). Zwei Wochen später (am 15. April) schreibt Blok an seine Mutter: „Ich arbeite sehr viel, übersetze schon den 4. Akt der Ahnfrau und stelle gerade den 2. Akt des Schicksalsliedes [Pesnja Sud’by] fertig (an dem ich noch viel überarbeite und feile)“ (S. 204). Am 21. April schreibt Blok (ebenfalls an seine Mutter): „… kann ich mitteilen, dass ich bereits dabei bin, den letzten Akt der Ahnfrau zu übersetzen. Benois möchte sie gerne Pokojnica [Die Verblichene] nennen (in Klammern dann die deutsche Überschrift) und es so auf dem Buchdeckel und den Theaterplakaten bringen. Ich habe nichts dagegen“ (S.  208). Und am 28. April teilt er seiner Mutter schließlich freudig mit: „Die Ahnfrau ist fertig (in Rohfassung). Das Lied des Schicksals beende ich in ein paar Tagen“ (S. 209). Am selben Tag schickt Blok einen Brief an Fëdor Komissarževskij, in dem er ihn von der abgeschlossenen Arbeit unterrichtet: „Was mich betrifft, so habe ich die Rohfassung der Übersetzung kürzlich abgeschlossen, und bis etwa Mitte Mai hoffe ich Ihnen das ins Reine geschriebene, fertige Manuskript an eine von Ihnen angegebene Adresse schicken zu können … Beinahe die Hälfte der Verse ist gereimt, und insgesamt gibt es mehr als 3500 Verse. Mit meiner

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Leben und Tod] von Aleksej Remizov, das Fëdor Komissarževskij Ende 1907 inszenierte (Bühnenbild: Mstislav Dobužinskij). Zit. nach: Rovda 1963. Rudnickij 1965, S. 93. D. h. von Fëdor Komissarževskij, der sich zu dieser Zeit, wie auch die restliche Theatertruppe, auf Tournee im Ausland befand und mit dem Blok bezüglich seiner Übersetzung geschäftliche Korrespondenz führte.

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Übersetzung bin ich im Großen und Ganzen zufrieden, auch wenn noch Arbeit vor mir liegt; aber soweit ich konnte, habe ich alle metrischen Nuancen Grillparzers berücksichtigt und mich eng an das Original gehalten. Gleichzeitig mit der Aufführung der Ahnfrau soll ein eigenes Buch (bei Pantheon) erscheinen, mit Essays und Anmerkungen (und Vignetten von Benois); für die Bühne muss der Text, wie Sie wohl schon vermutet haben, stark gekürzt werden.“50 Im Mai beendete Blok seine Arbeit am Stück endgültig und begann, sich auf die Aufführung vorzubereiten, an der er sich aktiv beteiligen wollte. In einem Brief an seinen Vater vom 24. Mai berichtet er von seinen Plänen: „Bis zum 1. Juli bin ich im Dorf, dann komme ich zurück, um den Grillparzer aufzuführen und mich um mein Lied des Schicksals zu kümmern, von dem Stanislavskij so begeistert ist“ (S. 212). Drei Tage später, am 27. Mai, schreibt Blok an seine Mutter: „Meine Angelegenheiten hier sind fast erledigt, die Verblichene51 habe ich nach Deutschland52 geschickt und bringe sie dir zum Lesen mit. Benois und ich saßen etwa 6 Stunden zusammen, weil ich in der Übersetzung geschwindelt habe und er die Liebenswürdigkeit und Geduld besaß, meine Schwindeleien mit mir durchzusprechen. Gestern habe ich mit ihm und Dobužinskij die Bühne im Theater ausgemessen“ (S. 213f). Benois, der vom deutschen Original fasziniert war, fungierte tatsächlich als Lektor für Bloks Übersetzung. Das im Blok-Archiv53 erhaltene maschinengeschriebene Manuskript der Ahnfrau (unter der Überschrift Die Verblichene) enthält zahlreiche Korrekturen von Blok und Benois; das Manuskript wird in Dina Magomedovas Arbeit54 genauestens analysiert. Evgenij Nečeporuk (der zudem das handschriftliche Originalmanuskript der Ahnfrau erforscht hat) bemerkt, dass Blok sich dabei „als höchst anspruchsvoller Künstler zeigte, der seinen eigenen Mängeln mit schonungsloser Kritik gegenübertrat“55. Im Übrigen korrigierte Blok – selbst mit Benois’ Hilfe – bei Weitem nicht alle Ungenauigkeiten, die ihm bei der Übersetzung der Ahnfrau unterlaufen waren. In einem Brief an Fëdor Komissarževskij vom 9./22. August 1908 (aus Lugano) macht Benois, der den ganzen Sommer über am Bühnenbild gearbeitet hatte, 50 51 52 53 54 55

Rudnickij 1965, S. 93. Offenbar war Blok noch unschlüssig, welchen Titel er seiner Übersetzung geben sollte; erst im August 1908 ersetzte er Die Verblichene [Pokojnica] endgültig durch Die Ahnfrau [Pramater’]. D. h. an Fëdor Komissarževskij. Das Blok-Archiv wird in der Handschriftenabteilung des Instituts für russische Literatur (Puschkin-Haus) aufbewahrt (F. 654. Op. 1. Nr. 16). S. Bjulleteni 1957, S. 166. Magomedova 1993, S. 105–121. Nečeporuk 1993, S. 122.

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den Regisseur auf eine Reihe von „völlig unmöglichen“ Stellen in Bloks Übersetzung aufmerksam. „Vieles hat A. A. Blok bereits korrigiert“, schreibt Benois, „doch vieles muss noch geändert werden, sodass es dem Original näherkommt. Manche Stellen erscheinen geradezu lächerlich und dumm in ihrer jetzigen Form. Andere sind rhetorisch überfrachtet, wodurch die Handlung und das lebendige Spiel der Schauspieler ins Stocken geraten. Ich weiß, dass Sie all dies einfach streichen wollen,56 doch das ist es ja gerade, dass man nicht alles streichen kann, denn manches davon betrifft ausgerechnet den Kern des Stückes. Und wie wunderschön ist doch das Original!“57 Als Vorwort wollte Blok der russischen Ahnfrau-Ausgabe ursprünglich einen kurzen Essay Hugo von Hofmannsthals58 voranstellen und bat daher seine Tante Marija Beketova, diesen ins Russische zu übersetzen. Davon spricht Blok im Postskriptum eines Briefes an seine Mutter vom 24. Juli: „Jetzt habe ich ganz vergessen, der Tante zu gratulieren.59 Gratulier ihr von mir und richte ihr aus, dass ich ihr demnächst endlich diesen garstigen Hofmannsthal schicke mit der Bitte, ihn in Windeseile zu übersetzen“ (S. 221). Offenbar hatte Blok zu diesem Zeitpunkt Hofmannsthals Essay noch gar nicht selbst gelesen. Als er dies einige Tage später nachholte, war der Dichter so enttäuscht davon, dass er beschloss, das Vorwort zur russischen Ausgabe der Ahnfrau lieber eigenhändig zu verfassen. Ende Juli war sein Essay fertig, und am 31. Juli schreibt Blok an seine Mutter: „Bitte richte der Tante aus, dass es mit Hofmannsthal nichts wird. Dieser Idiot hat eine vierseitige Abhandlung zum Thema Liebe geschrieben und es als Vorwort zu Grillparzers Stück bezeichnet. Ich habe selbst einen Essay geschrieben und gebe das gesamte Buch in den nächsten Tagen in die Druckerei“ (S. 221f). Blok war so erzürnt über Hofmannsthals Essay, dass er den österreichischen Dramatiker in seinem eigenen Vorwort in folgendem Kontext erwähnte: „Als 56

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In einem Brief vom 25. Juni 1908 bat Komissarževskij Blok, in der Übersetzung einige Stellen zu streichen, „die schwer und nur mit Mühe auf der Bühne vorzutragen sind“. In einem Brief aus München vom 18. Juli 1908 (Moskau, Staatliches Literatur- und Kunstarchiv Russlands [RGALI]. F. 55. Op. 1. Nr. 280. Bl. 6 und 7) wiederholte er seine Bitte. Blok berücksichtigte Komissarževskijs Anmerkungen und teilte ihm am 31. Juli mit, er habe die Arbeit an der Bühnenfassung abgeschlossen (s. Rudnickij 1965, S. 100f). Zit. nach Magomedova 1993, S. 120. Neben dieser umfassenden Arbeit existiert noch eine weitere Publikation derselben Briefe (s. Dubnova 1997). Der österreichische Dichter, Dramatiker und Essayist Hugo von Hofmannsthal (1874– 1929) verfasste mehrere Essays zu Grillparzer (u. a. die „Rede auf Grillparzer“, 1922). 1902 schrieb er einen Essay zur Neuausgabe von Grillparzers Drama Des Meeres und der Liebe Wellen (s. Grillparzer 1903b, S. V–IX) (zuerst erschienen in der Wiener Zeitung Neue Freie Presse. Nr. 13704, 18. Oktober 1902, S. 1–2). D. h. Marija Beketova zu ihrem Geburtstag (am 22. Juli) zu gratulieren.

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Kuriosum kann man noch einen kleinen Essay Hugo von Hofmannsthals erwähnen (der als Vorwort zu Grillparzers Tragödie Des Meeres und der Liebe Wellen60 in der neuen deut[schen] Pantheon-Reihe61 sowie in einer Essaysammlung Hofmannsthals62 abgedruckt ist). Darin wird im Grunde weder zur Tragödie noch zu deren Verfasser auch nur ein Wort gesagt.“63 Im August 1908 stellte Blok den Schauspielern am Theater seine Übersetzung mitsamt Essay vor. „Komissarževskij war bei mir“, schreibt er am 4. August an seine Mutter. „Demnächst trage ich den Schauspielern meinen Essay zur Ahnfrau vor. Benois hat bereits die Bühnendekoration geschickt, und die Truppe kommt bald zusammen zum Gespräch und Proben. Die Ahnfrau kommt Ende Sept[ember] auf die Bühne. In Moskau oder Anf[ang] Oktober hier.“ Im selben Brief heißt es: „Das Lied des Schicksals gebe ich in ein paar Tagen zur Abschrift […]. Ich kann nicht mehr weiter daran arbeiten“ (S. 222). In einem Brief vom 16. August teilt Blok schließlich mit: „Das Treffen zur Ahnfrau hat stattgefunden, ich habe der ganzen Truppe das Stück und den Essay vorgetragen“ (S. 225). Bloks Essay erschien unter dem Titel „Ob odnoj starinnoj p’ese“ [Über ein altes Stück] in der Petersburger Zeitung Reč’ [Sprache].64 Das Stück selbst wurde Ende 1908/Anfang 1909 im Petersburger Pantheon-Verlag veröffentlicht, eingeleitet von Bloks Essay (unter dem Titel „Neskol’ko myslej o značenii ‚Pramateri‘ dlja našego vremeni i kratkie svedenija o Gril’parcere“ [Einige Gedanken zur Bedeutung der Ahnfrau für unsere Zeit und kurze Angaben zu Grillparzer]), in dem er – im Vergleich zur Zeitungsfassung – eine Reihe von Änderungen und Ergänzungen vorgenommen hatte.65 Die Buchausgabe von 1908/1909 wurde um weitere Texte ergänzt: „Vvedenie ot nemeckogo izdatelja“ [Einleitung des deutschen Herausgebers]66, „Predislovie k pervomu izdaniju ‚Pramateri‘ Iosifa Šrejfogelja“ [Vorwort von Joseph Schreyvogel zur ersten Ausgabe der Ahnfrau]67 sowie „Primečanija Gril’parcera k ‚Pramateri‘“ 60 61 62 63 64 65 66 67

Von Blok im deutschen Original angeführt. Gemeint ist Hofmannsthals Vorwort zu der 1903 im Berliner S. Fischer Verlag erschienenen „Pantheon-Ausgabe“. Hofmannsthal 1907. Gril’parcer 1908/1909, S. 17. Reč’ (1908). Nr. 280, 17. November 1908, S. 2. Später wurde der Essay in seiner ursprünglichen Form in Band  9 der ersten, in Berlin erschienenen Gesamtausgabe von Bloks Werken aufgenommen (s. Blok 1923, S. 69f). D. h. von Moritz Necker (s. Grillparzer 1903a). Der österreichische Publizist, Dramatiker und Übersetzer Joseph Schreyvogel (1768–1832) gab 1807–1809 das aufklärerische Sonntagsblatt heraus und arbeitete dann als Dramaturg am Wiener Burgtheater. Er war ein väterlicher Freund und Mentor des jungen Grillparzer und schrieb das anonym veröffentlichte Vorwort zur ersten Ausgabe der Ahnfrau (1817).

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[Anmerkungen Grillparzers zur Ahnfrau]; letztere (höchst ungenaue) Bezeichnung stammt entweder von Blok selbst oder von Marija Beketova, welche die Texte übersetzt hatte.68 Als Anhang enthielt das Buch einen Monolog Bertas, der (in der Urfassung in vier Akten) eigentlich den 3. Akt eröffnen sollte, später jedoch durch Bertas Monolog am Ende des 2. Aktes ersetzt wurde.69 So erhielten die russischen Leser eine ziemlich vollständige Vorstellung von Grillparzers Drama. Zu dem bei Panteon erschienenen Buch gab es mehrere Rezensionen: so etwa von dem berühmten Kritiker Julij Ajchenval’d,70 aber auch von Aleksandr Kugel’ (in der Zeitung Novaja Rus’ [Die Neue Rus’]) und Lev Vasilevskij (in der Zeitung Reč’ [Sprache].71 Aufgeführt wurde die Ahnfrau allerdings erst Anfang 1909; die Premiere fand am 26. Januar im Komissarževskaja-Theater (an der Oficerskaja Ulica [heute Ulica Dekabristov]) statt. Das war die fünfte (und letzte) Spielzeit des Theaters in St. Petersburg. Das Bühnenbild und die Kostüme entstanden nach Entwürfen von Benois, die Musik komponierte Michail Kuzmin.72 Die Rollen übernahmen bekannte Schauspieler: Aleksej Feona den Jaromir und Aleksandr Mgebrov den alten Kastellan. Dank dieser herausragenden Mitwirkenden war es nicht weiter verwunderlich, dass die Inszenierung allgemeine Aufmerksamkeit auf sich zog und in die Geschichte des russischen Theaters einging. Doch während Benois’ Bühnendekoration von den zeitgenössischen Kritiken gebührend gewürdigt wurde, fielen die Reaktionen auf die ersten Aufführungen insgesamt recht unterkühlt aus. So sah sich etwa Ljubov’ Gurevič zu der Bemerkung veranlasst, „die schauspielerische Umsetzung entbehrte eines bestimmten Stils, stellenweise war sie einfach schlecht oder gar schluderig. Die Schauspieler konnten sich offenbar nicht in die Atmosphäre des Stückes einfühlen.“73 Und Bloks „liebevoll im Metrum des Originals verfasste“ Übersetzung in Versen war laut L. Gurevič an manchen Stellen „durch eine schändliche Unterbrechung des Rhythmus’“ verunstaltet.74 „Die Aufführung machte von sich reden“, erinnert sich Arkadij Zonov (1907– 1908 Regisseur am Komissarževskaja-Theater). „Bei der Premiere rief das 68 69 70 71 72 73 74

Die „Anmerkungen“ bestanden aus zwei Teilen, nämlich dem von Grillparzer zur Erstausgabe der Ahnfrau verfassten Vorwort (das dann durch Schreyvogels Essay ersetzt wurde) und Briefen Grillparzers. Diese Erläuterung lieferte Blok selbst (s. Gril’parcer 1908/1909, S. 185). Ajchenval’d 1910. Die beiden letzteren werden zitiert in: Gollerbach 2016, S. 110 f. Dort findet sich auch die Geschichte der Blok’schen Ahnfrau-Übersetzung und deren Veröffentlichung im Petersburger Panteon-Verlag (S. 219–224 u. a.). Kuzmin 1981, S. 148–150 (Kuzmins Brief an Blok vom 26. Juni 1908). Slovo [Das Wort] (1909). Nr. 695, 31. Januar/13. Februar 1909. Sankt-Peterburg, S. 5. Ebenda.

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Bühnenbild von A. N. Benois stürmischen Applaus hervor, was die Schauspieler ablenkte, denen es nicht gelang, das Publikum in ihren Bann zu ziehen und das feurige Temperament wiederzugeben, in dem das Stück geschrieben ist. Es konnte bis zum Ende der Spielzeit nur viermal aufgeführt werden.“75 Diese Reaktion deckt sich mit den Erinnerungen Marija Beketovas: „Im Januar 1909“, schreibt sie, „wurde am Komissarževskaja-Theater die Ahnfrau aufgeführt. Weil sie bei der Premiere dabei sein wollte, war die Mutter des Dichters aus Reval [Tallinn] angereist. Doch das Stück war kein Erfolg. Die Schauspieler waren grottenschlecht, und weder Kuzmins interessante Musik noch A.  N.  Benois’ grandioses Bühnenbild konnte die Lage retten. Besonders schwach war die Schauspielerin, die Berta spielte.76 Feona in der Rolle des Jaromir erhielt Applaus, aber eher deshalb, weil sein Monolog revolutionär war.“77 Auch Aleksandr Kugel’ äußerte sich skeptisch, und zwar zur Aufführung selbst („völlig misslungen“) ebenso wie zu Bloks Übersetzung: … man darf sie [Die Ahnfrau] unter keinen Umständen so übersetzen, wie Blok es getan hat. Blok schreibt klingende Reime, die in ihrer Vitalität nah an der Puschkin’schen Schule sind, aber rein gar nichts mit Modernismus oder mit künstlich patinierten Versen zu tun haben. Der sprunghafte und zirpende, flotte und schneidige, klare und klingende Trochäus des Hrn. Blok zerhackt Grillparzers angegilbten, leicht verstaubten, weichen und honigsüßen Stil. So wird das Stück gewissermaßen künstlich restauriert. Man merkt ihm nichts „Ahnfräuliches“, ja nicht einmal mehr etwas Altes an. Ein alter Dichter erzählt eine alte Geschichte, und ein junger Hüpfer dichtet alles neu und wippt dabei sozusagen auf seinen jugendlichen Stelzen hin und her.“78

Auch der Dichter Jurij Verchovskij, ein Freund Bloks, widmete der Übersetzung ein paar Zeilen: „Die schwierige Aufgabe, die romantische Tragödie zu übersetzen, fiel glücklicherweise Al. Blok zu, der in seiner eigenen Dichtung ein ausgeprägter Neoromantiker ist. Wir urteilen hier nicht über die Nähe zum Original, das wir nicht zur Hand haben. Doch es ist dem Übersetzer – trotz einiger kleiner Unebenheiten – zweifellos gelungen, den allgemeinen Ton und Geist des Stückes wiederzugeben.“79 Die Aufführung nannte Verchovskij „gelungen“, wobei er das Bühnenbild und die Kostüme nach Skizzen und Zeichnungen von Aleksandr Benois lobte („In allem spürt man eine ‚Echtheit‘, die auf der Einfühlung in die Intention des Dramatikers gründet“) und 75 76 77 78 79

Zit. nach: Volkov 1926, S. 74. D. h. die Theaterschauspielerin Ėmilija Šilovskaja (1884–1952). Beketova 1922, S. 118. Novaja Rus’ [Die Neue Rus] (1909). Nr. 30, 31. Januar/13. Februar 1909. Sankt-Peterburg, S. 5. Naša gazeta [Unsere Zeitung] (1909). Nr. 26, 31. Januar/13. Februar 1909. Sankt-Peterburg, S. 5.

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die Leistung der Schauspieler als im Großen und Ganzen „flüssig“ bezeichnete. „Allerdings“, schließt er seine Rezension, „wurde das Stück, wie uns scheint, mit leicht erhobener Stimme gespielt. An manchen Stellen wirkte das Spiel übertrieben. An anderen dagegen geradezu abgewürgt.“80 Recht schroff (wenn auch nicht ohne nachsichtige Untertöne) fiel die Besprechung der Ahnfrau-Inszenierung aus der Feder Konstantin Arabažins aus. Der angesehene Literaturhistoriker und Kritiker verriss sowohl das Stück selbst als auch Bloks Übersetzung und insbesondere die Aufführung (mit Ausnahme von Benois’ Bühnenbild): Das Stück ist äußerst primitiv geschrieben. Die Figuren sind schematisch, alle Konflikte sehr gekünstelt, die Bilder erfunden. Nichtsdestotrotz entbehrt es nicht des gewissen romantischen Schwunges und der Leidenschaft, die bei entsprechender Darstellungsweise den Zuschauer in ihren Bann schlagen und faszinieren können. […] Wenn sonst keine Stücke gezeigt werden, kann man sich die Ahnfrau natürlich ansehen. Wenn man jedoch schon in die Tiefen der romantischen Dichtung vordringen wollte, so hätte es dafür sicherlich bessere Stücke gegeben. Allein bei Grillparzer hätten sich unter seinen späteren Stücken weitaus interessantere und lohnenswertere gefunden – beispielsweise die Sappho, Das goldene Vlies u. a. Zu den Vorzügen des Stückes zählt seine lebendige, elegante Sprache, die eines gewissen Schwunges nicht entbehrt. Etwas verdorben wird das Ganze durch das trochäische Versmaß: Dieses verleiht den Reimen ein allzu flottes, sprunghaftes Tempo, was in der russischen Übersetzung besonders abrupt wirkt und dem tragischen Ton des Stückes mit seinen Gespenstern, dem trostlosen Heulen des Sturmes und seinen sonstigen Schauerlichkeiten nicht gerecht wird. Schuld daran ist im Übrigen auch der Übersetzer, dem offenbar Gorodeckijs hüpfende Verse in den Ohren klangen: Tuču v kuču vzbalamuču81… stony, zvony, perezvony [„Stöhnen, Tönen, Dröhnen“]… usw. Hr. Blok hat es nicht nur versäumt, den Trochäus abzumildern, sondern ihm dazu noch die ganz besondere Abgeschmacktheit eines ungeheuer marktschreierischen und erstaunlich banalen Rhythmus’ verliehen. Grillparzers Stück hat im Komissarževskaja-Theater keine angemessenen Schauspieler gefunden, das betrifft insbesondere Hrn. Feona (Jaromir) und Fr. Šilovskaja (Berta), deren Tonfall es an romantischer Dramatik, wahrhafter Begeisterungsfähigkeit und Stilgefühl mangelt. Fr. Šilovskaja ist ein anmutiges, doch wohl eher lyrisches Talent. Hr. Feona ist allzu neurasthenisch. […] Überragend ist das Bühnenbild von A.  N.  Benois. Die letzten beiden Bilder – das

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Ebenda, S. 5 f. Anm. d. Übers.: „Tuču v kuču vzbalamuču“ (wörtl. „Die Wolke vermische ich zum Haufen“) ist eine Parodie von Aleksandr Izmajlov auf die Gedichte Sergej Gorodeckijs.

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Schloss und die Gruft – riefen solche Begeisterungsstürme beim Publikum hervor, wie man sie im Theater seit vielen Jahren nicht erlebt hat.82

Bloks eigene Reaktion fiel übrigens ganz anders aus. Nach der Aufführung setzte er sich sogleich zuhause hin und schrieb an Fëdor Komissarževskij: Ich komme soeben aus dem Theater zurück und möchte Vera Fëdorovna [Komissarževskaja] und Ihnen meine tiefe und aufrichtige Dankbarkeit für die Aufführung der Ahnfrau ausdrücken. Stellen Sie sich vor, ich habe nicht nur das Stück genossen, sondern war gespannt, wie es weitergeht, obwohl ich die Tragödie doch auswendig kenne. Es war eine Freude, Ihr Werk und Benois’ Bühnenbild zu sehen und die Verse zu hören, die ich so liebe, die mir heute jedoch zu vertraulich für die Bühne und für Grillparzer vorkamen. Er ist wohl derber und leidenschaftlicher. Doch diesen Eindruck haben Sie mit Ihrem Rhythmus wiederhergestellt.“83

Vera Komissarževskaja selbst spielte nur ein einziges Mal in der Ahnfrau mit: Am 12. September 1909 übernahm sie bei der letzten Russland-Tournee ihrer Truppe am Moskauer Ėrmitaž-Theater die Rolle der Berta von Borotin. Nach Ansicht der meisten Rezensenten und Memoirenschreiber glückte ihr diese Rolle nicht.84 Doch es gab auch namhafte Gegenmeinungen. Aleksandr D’jakonov (Stavrogin) erinnert sich: Die Rolle der Berta in der Ahnfrau probt Vera Fëdorovna am Tag der Vorführung zum ersten Mal. Welch reiner, tiefer Quell ist doch ihr lyrisches Talent! Wie viel Zärtlichkeit, Wehmut, Liebesbangen liegt in ihren Szenen mit dem Vater! Welche Schönheit in den glänzenden Augen ihres von hellen Locken umrahmten Kindergesichts! Wie viel Anmut in jeder Bewegung … Diese herrliche Blume – Berta – verzaubert mit ihrem Duft die wenigen Zuhörer. – Doch am selben Abend fiel diese Blume abgeknickt herab …“85

Zusammenfassend lässt sich sagen: Die Aufführung der Ahnfrau im Komissarževskaja-Theater fiel durch. Ein Zeitgenosse, der Schauspieler, Dramatiker und Regisseur Aleksej Željabužskij, erklärt den Misserfolg so: 82 83 84 85

Birževye vedomosti (več. vyp.) [Börsenanzeiger (Abendausg.)] (1909). Nr. 10935, 30. Januar, S. 5; Signatur: K. Arn. Teatr [Theater] (1940). Nr. 2/1940, S. 117 f. S. die Zeitungskritiken von S. Jablonovskij (Russkoe slovo [Russisches Wort]) und N. Ėfros (Russkie vedomosti [Russische Nachrichten]) in: Rybakova 1994, S. 455. D’jakonov 1911, S.  297 (Eintragung vom 30. August/20. September  1909). Der Sammelband enthält auch Bloks Essay „Pamjati V. F. Komissarževskoj“ [V. F. Komissarževskaja in memoriam].

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Blok und Grillparzer Die letzte Premiere der Ahnfrau stand bevor, doch Vera Fëdorovna setzte keinerlei Hoffnung darein. Dieselbe Mystik wie bei Andreevs Stück86, noch dazu bis auf die Spitze getrieben von Fëdor Komissarževskij. Am liebsten hätte Vera Fëdorovna das Stück abgesetzt, doch das wäre ein Affront gegenüber Blok gewesen, den sie selbst mit der Neuübersetzung in Versen beauftragt hatte, und gegenüber Benois, der für die Dekoration zuständig war. Außerdem hätte Fëdor Fëdorovič [Komissarževskij] das auch gar nicht zugelassen, der sich – als letzte Chance auf Revanche für die vorangegangenen Misserfolge – mit fanatischem Starrsinn in die Inszenierung verbissen hatte.87

Kurz danach musste das Komissarževskaja-Theater schließen; die Ahnfrau wurde sein Schwanengesang. „Die letzte Premiere des KomissarževskajaTheaters“, so erinnert sich der Schauspieler Nikolaj Chodotov, „war Grillparzers Melodrama Die Ahnfrau. Das war im Januar 1909. Das Stück lief in der Inszenierung Komissarževskijs, das Bühnenbild stammte von Benois, die Musik komponierte der Dichter Kuzmin. Es war ein großartiger Akkord zum Tode dieses hochinteressanten innovativen Theaters.“88 Zehn Jahre später beschäftigte sich Blok erneut für kurze Zeit mit Grillparzers Drama. Anfang Mai 1918 schlug ihm N. A. Baranovskij, der Petrograder Vertreter des Moskauer Sabašnikov-Verlages, vor, die Ahnfrau in der Reihe „Pamjatniki mirovoj literatury“ [Denkmale der Weltliteratur] neu aufzulegen. So widmete sich Blok mehrere Wochen dem Lektorieren seiner Übersetzung: Er korrigierte, optimierte und änderte den Text (insbesondere die letzten beiden Akte). In einem Aufsatz vergleicht Evgenij Nečeporuk die beiden Fassungen eines Fragments (Jaromirs Monolog im 5. Akt) und zeigt an diesem Beispiel, wie grundlegend Blok seinen Text aus dem Jahr 1908 überarbeitet hat.89 Diese Überarbeitungsphase ist in Bloks Zapisnye knižki 1901–1920 [Notizbücher 1901–1920] detailliert festgehalten; unter den Einträgen von Anfang Mai finden sich etwa folgende: „Wie miserabel ich doch den 4. Akt übersetzt habe“ (7. Mai); „… die Ahnfrau ist furchtbar schlecht übersetzt“ (8. Mai); „… die Ahnfrau. (Gott, wer und was war ich bloß, als ich mich mit der Übersetzung des 5. Aktes abgemüht habe!)“ (11. Mai).90 Aus Bloks Bemerkungen lässt sich unter anderem ablesen, dass er erst jetzt von Obodovskijs Übersetzung erfahren und sich offenbar mit der Arbeit seines Vorgängers vertraut gemacht hatte. 86 87 88 89 90

Gemeint ist Leonid Andreevs Stück Čërnye maski [Schwarze Masken] von 1908, das im Dezember 1908 am Komissarževskaja-Theater aufgeführt wurde (Regie: A. P. Zonov und Fëdor Komissarževskij). Das Stück war kein Publikumserfolg. Željabužskij, A. L.: Poslednie gody [Die letzten Jahre]. In: Komissarževskaja 1964, S. 292. Chodotov 1962, S. 220. Nečeporuk 1993, S. 126–129. Blok 1965, S. 385, 386, 404–406, 408–440.

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Am 26. Mai 1918 unterzeichneten Blok und Baranovskij einen Vertrag über die Neuausgabe der Ahnfrau.91 Letztendlich erschien sie dann aber doch nicht im Sabašnikov-Verlag. Im Jahr 1960 wurde erstmals ein Brief veröffentlicht, den Blok am 17. Dezember 1918 an den Verleger Michail Sabašnikov geschrieben hatte: „Hochverehrter Michail Vasil’evič, ich wende mich mit einer Bitte an Sie: Würden Sie meine Übersetzung von Grillparzers Ahnfrau dem Verlag „Vsemirnaja literatura“ überlassen, sofern sie noch nicht in Druck ist? […] Im Falle Ihres Einverständnisses bräuchte ich auch das Textexemplar, das sich bei Ihnen befindet.“92 Bloks Bitte ist nachvollziehbar. Er arbeitete selbst in dem von Maksim Gor’kij gegründeten Verlag „Vsemirnaja literatura“ [Weltliteratur] mit, leitete dort die Abteilung für deutsche Literatur und war in der Lektoratskommission für Versübersetzungen. Und Franz Grillparzer war einer jener Autoren, die der Verlag – möglicherweise auf Initiative von Blok selbst – in Russland bekannter machen wollte (und zwar nicht nur die Ahnfrau). „Hochverehrter Aleksandr Aleksandrovič“, antwortete ihm Sabašnikov, „ich bin Ihrem Wunsch mit großem Bedauern nachgekommen und habe Ihre Übersetzung von Grillparzers Ahnfrau heute an V. F. Chodasevič, den Bevollmächtigten des Verlages „Vsemirnaja literatura“, übergeben.“93 „Der AhnfrauText ist bereits bei „Vsemirnaja literatura“ eingegangen“, bestätigt Blok in einem Brief (an M. Sabašnikov) vom 6. Januar 1919.94 Auf dem von Blok im Mai 1918 überarbeiteten Übersetzungsexemplar findet sich eine Reihe von Anmerkungen der Verlagsgutachter Nikolaj Gumilëv und Faddej Zelinskij.95 Das Stück erschien 1923 bei „Vsemirnaja literatura“ in der ersten russischen Sammlung von Grillparzers Stücken (Die Ahnfrau, Die Jüdin von Toledo, Weh dem, der lügt!).96 Der renommierte Altphilologe Faddej Zelinskij verfasste die Einleitung und einen Kommentar zu jedem Stück. Damit war das Buch die erste russische Ausgabe von Grillparzers Stücken, die mit einem fundierten philologischen Kommentar versehen war. Offenbar plante Zelinskij eine Fortsetzung der Arbeit und die spätere Veröffentlichung von Grillparzers „antiken“ Dramen (Sappho, Das goldene Vlies, Des Meeres und der Liebe Wellen); 91

92 93 94 95 96

Der Vertrag über die Veröffentlichung der Ahnfrau in Bloks Übersetzung ist im Archiv des Sabašnikov-Verlages erhalten: Moskau, Handschriftenabteilung der Russischen Staatsbibliothek (NIOR RGB). Bestand 261. Kart. 7. Nr. 41. Bl. 1–2). Am selben Tag quittiert Blok den Erhalt eines Vorschusses. Kuprijanovskij 1960. Zit. nach: Belov 1987, S. 715. Ebenda. Genaueres dazu s. die zusammenfassenden Kommentare von L. K. Dolgopolov zu Bloks Arbeit an Grillparzers Drama (Blok 1961, S. 595f). Gril’parcer 1923, Bd. 1 (Band 2 erschien nicht).

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das erhaltene Manuskript zu seinem Vorwort und den Anmerkungen zu diesen Dramen enthält ein zustimmendes Gutachten Bloks.97 Das auflebende Interesse an Grillparzer in den Jahren 1918–1919 ist untrennbar mit dem Namen Aleksandr Blok verbunden; vermutlich gehen sowohl einige Übersetzungen als auch kritische Essays aus jenen Jahren auf seine Anregung zurück. So konnte er beispielsweise seinen Freund und Mitstreiter Vil’gel’m Zorgenfrej für die Arbeit an einer Grillparzer-Ausgabe gewinnen. Dieser übersetzte König Ottokars Glück und Ende98 (unveröffentlichte Übersetzung) und Libussa99 ins Russische. Möglicherweise war es auch Blok, welcher der damals noch jungen Literatin und späteren Blok-Spezialistin Ekaterina Malkina (1899–1945) die Übersetzung der Jüdin von Toledo nahelegte. Außerdem traf sich Blok in jenen Jahren mehrmals mit dem Dramatiker Vladimir Vol’kenštejn (1883?-1974), der im Presseorgan der Theaterabteilung des sowjetischen Volkskommissariats für Bildung (Narkompros) einen umfangreichen Essay zu Grillparzer veröffentlichte.100 Die Grillparzer-Rezeption in Russland wurde im ersten Viertel des 20. Jahrhunderts also maßgeblich von der literarischen und verlegerischen Tätigkeit Aleksandr Bloks geprägt.101 Der Dichter übertrug nicht nur die Ahnfrau ins Russische, sondern setzte sich auch dafür ein, Franz Grillparzer dem russischen Publikum als einen der bedeutendsten Dramatiker des 19. Jahrhunderts nahezubringen. 3.

Die Ahnfrau und Das Lied des Schicksals

Bloks Arbeit an Grillparzers Ahnfrau fiel in eine Umbruchszeit der russischen Geschichte: Der Rückgang der revolutionären Welle und das Aufkeimen der politischen Reaktion hatten entscheidenden Einfluss auf die Geisteshaltung und künstlerischen Strömungen der Jahre 1906–1909. Genau zu jener Zeit 97 98

Blok 1962b, S. 471 f. Čertkov 1967, S. 122. Genaueres zu Zorgenfrejs Tätigkeit im Verlag Vsemirnaja literatura s. Blok 1979; Timenčik 1987; Ivanova 1993, S. 192, 194 u. a. 99 Gril’parcer 1919 (hg. von der Theaterabteilung des Narkompros in der Reihe „Inostrannyj repertuar [Ausländisches Repertoire]; das Vorwort beginnt folgendermaßen: „Grillparzer ist in Russland kaum bekannt …“). 100 Vol’kenštejn 1919. Zu Bloks und Vol’kenštejns Schnittstellen (im Rahmen ihrer gemein­ samen Arbeit in der Theaterabteilung des Narkompros) s. Ivanova 1993, S. 185, 212f, 222. 101 Zur prä- und post-Blok’schen Grillparzer-Forschung in Russland s. Michailow 1972; Poyntner 1983; Netscheporuk 1991; Friedlender 1994; Lošakova 2007, außerdem Batiščeva 2003; Čavčanidze 2004; Pavlova 2006. Eine Bibliographie der Arbeiten zu Blok und Grillparzer aus dem Zeitraum 1965–1973 findet sich in Nečeporuk 1993, S. 133.

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plagte Blok die drängende Frage nach der menschlichen Persönlichkeit in ihrem wechselseitigen Verhältnis zur Epoche – nach dem Schicksal, das auf den Menschen lastet. Der Dichter suchte angestrengt nach neuen Wegen in der Kunst und setzte dabei besondere Hoffnungen auf das Theater. „Blok setzt das zeitgenössische Theater in Beziehung zur grundlegenden Frage der Epoche – der sozialen“, betont Jurij Gerasimov.102 Mit seiner „lyrischen Trilogie“ (Neznakomka [Die Unbekannte], Balagančik [Die Schaubude] und Korol’ na ploščadi [Der König auf dem Platz]) sammelte Blok 1906–1907 eigene „Erfahrungen im dramatischen Genre“103 und stellte dabei Betrachtungen über die Natur des modernen Theaters an. Er rief das Theater dazu auf, zum zeitgenössischen Leben Stellung zu nehmen, und träumte von einer hohen, heroischen Kunst. Ab Mitte 1907 konzipierte, schrieb und überarbeitete Blok sein neues Stück (Das Lied des Schicksals), in welchem er die sehnlichsten Gedanken, die ihn damals beherrschten (u. a. in Bezug auf das „Volk“ und die „Intelligenzija“, die Berufung und „Pflicht“ des Künstlers), umzusetzen versuchte. Dieselben Überlegungen finden sich in mehreren seiner damaligen Essays zum Theater („Dramatičeskij teatr V.  F.  Komissarževskoj“ [Das Komissarževskaja-Theater], 1906; „O drame“ [Über das Drama], 1907), insbesondere im Essay „O teatre“ [Über das Theater] (1908), den Blok in jenen Wochen verfasste, als er die Ahnfrau übersetzte (Februar-März 1908). Blok war unzufrieden mit dem kammerstückartigen Charakter des symbolistischen „lyrischen Dramas“. Daher koppelte er die beiden Begriffe voneinander ab und stellte die Lyrik, von der er sich immer weiter zurückzog,104 dem Drama gegenüber. In seinem Essay „O teatre“ wirft er die Frage nach der Rückkehr zu einem „Volkstheater“ (nach Art des antiken griechischen Theaters) auf – zu einem Theater „mit neuem Zuschauerraum“, einem Theater „der großen Leidenschaften“ und „der großen Handlung“.105 Eben diese Merkmale sieht Blok im romantischen Drama, das der klassischen Tragödie nahesteht, verwirklicht. „Ich denke, dass gerade das romantische Drama, welches auch ein melodramatisches Element enthält“, wie Blok es in seiner Erörterung des russischen Volkstheaters als „leibhaftigstem Vorzeichen für das Theater der unmittelbar bevorstehenden Zukunft“ formuliert, „der Weg zu neuen, aufnahmefähigen Formen des Theaters ist. Das Melodrama weckt gerade deshalb unser Interesse, weil es aufnahmefähig ist, weil seine phantastische, 102 Gerasimov 1962. 103 Aus dem Vorwort des Autors zu Blok, Aleksandr (1907): Liričeskie dramy [Lyrische Dramen]. Sankt-Peterburg (zit. nach Blok 1961, S. 434). 104 In seinem Essay „Tri voprosa“ [Drei Fragen] (Februar 1908) betont Blok gar seinen „Hass auf die Lyrik, dies mir so vertraute und nahe Element“ (Blok 1962a, S. 235). 105 Blok 1962a, S. 270, 271, 273.

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handlungsreiche Atmosphäre die Herausbildung des so ersehnten wahren Heldentums auf ganz natürliche Weise begünstigt, sie lässt jene großen, tatkräftigen Charaktere entstehen, welche die zeitgenössischen und teilweise auch die russischen Dramatiker mit ihrem begrenzten Horizont und ihren Scheuklappen in der sie umgebenden Wirklichkeit nicht finden können.“106 Diese Worte stehen in klarem Einklang mit dem, was Blok in seinem ersten Brief an Vera Komissarževskaja am 7. Januar 1908 über Grillparzers Drama schrieb: „… kann ich mir gut vorstellen, dass seine heroische (vielleicht sogar melodramatische) Romantik auf der russischen Bühne wiederauferstehen könnte.“ Es besteht kein Zweifel, dass es gerade die „heroische Romantik“ von Grillparzers Drama war, der Blok von Anfang an faszinierte; der russische Dichter, der sich für die Begründung einer neuen Theaterkultur einsetzte, sah in Grillparzer einen Verbündeten. Wie aus seinen Briefen hervorgeht, arbeitete Blok im Frühjahr und Sommer 1908 parallel an der Übersetzung der Ahnfrau und am Lied des Schicksals. Zu mehreren Gelegenheiten trug er sein „dramatisches Poem“ Freunden und Bekannten (Sergej Gorodeckij, Vsevolod Mejerchol’d, Georgij Čulkov und dessen Frau Nadežda) vor. „Es ist gut, dass er sich alle Meinungen zu seinem Stück so anhört und so mit einbezieht“, schrieb seine Mutter am 24. Juli 1908 an Bloks engsten Freund Evgenij Ivanov.107 Man kann sich unschwer vorstellen, dass Blok seinen Gesprächspartnern auch von Grillparzers Drama erzählte und womöglich Auszüge aus seiner Übersetzung vorlas. Die beiden Werke zum Thema Schicksal, das Blok so stark beschäftigte, näherten sich einander stetig an und überkreuzten sich in seinem Bewusstsein. Während er am Lied des Schicksals feilte, grübelte Blok zugleich über die Ahnfrau, deren tieferen Sinn, den dramatischen Konflikt usw. nach. Einige Tage, bevor er seinen Essay verfasste, hielt Blok seine Überlegungen hinsichtlich seiner Grillparzer-Übersetzung in einem Brief an Fëdor Komissarževskij vom 26. Mai fest: Ich liebe diese Tragödie immer mehr: eine wahre Schicksalstragödie. Sie ist so jugendlich rein und klar, dabei hat Grillparzer sie mit 26, 27 Jahren geschrieben, und sein Gesicht gefällt mir nicht, es hat so etwas Aufgedunsenes und Schlaffes. Aber vielleicht geben die Porträts ihn nicht richtig wieder. Ich bin selbstverständlich Ihrer Meinung, dass die Naivität erhalten bleiben muss, und die Ahnfrau selbst muss greifbar werden. Mittlerweile denke ich sogar, dass man so wenig wie möglich kürzen sollte, nur an den Stellen, die allzu literarisch sind und auf der Bühne nicht überzeugen. Die gesamte Handlung spielt sich vor dem unablässigen Brausen des Schneesturms ab, häufig 106 Ebenda, S. 273. 107 Zit. nach: Kotrelëv et al. 1982, S. 331.

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durchdrungen von Pfeifen und Heulen, dazu von ferne schreckliche Musik, Stimmen der Leidenschaft und des Schicksals. Finden Sie nicht auch? Ich verstehe es so, dass alle Hauptfiguren genau definiert und gewissermaßen von der Aureole ihrer seelischen Eigenschaften – ihrer Tugenden und Laster – umgeben sind. Keine von ihnen weicht auch nur um Haaresbreite zurück – daher rührt die Intensität der Handlung. Berta ist ganz Zärtlichkeit, Zerbrechlichkeit und Frühling. Der Graf ist ganz Edelmut. Jaromir ist ganz Leidenschaft und Rebellion. Der Hauptmann (den ich nicht ausstehen kann) ist ganz Diener des Vaterlandes. Sie alle verbindet diese wahnwitzige Unruhe, eine immer dichter werdende Finsternis, die schließlich von einem glanzlosen Blitz zerschlagen wird. Glanzlos deshalb, weil die Ahnfrau ihren Lobpreis an die „ewigen Mächte“ nur durch die Nacht schickt; und die Bande der Tragödie lösen sich nur in undurchdringlicher Finsternis. Das ist die düstere Jugend Grillparzers.108

Schon hier zeigt sich Bloks Verständnis von der Ahnfrau, die er in endgültiger Form in seinem Essay formulieren sollte. Blok nahm als erster in Russland die spannungsgeladene Atmosphäre in Grillparzers Drama wahr, und als Zeitzeuge der ersten russischen Revolution empfand er diese Atmosphäre als erfüllt von „wahnwitziger Unruhe“ und „immer dichter werdender Finsternis“. Die 1817 verfasste Ahnfrau war ein wahrhaft künstlerisches Spiegelbild der damaligen Epoche. Nach dem Wiener Kongress versuchten die Mitgliedstaaten des Deutschen Bundes unter Führung des Metternich’schen Österreichs konsequent, alle Neuerungen, die im vorangegangenen Vierteljahrhundert im gesellschaftlichen, politischen und kulturellen Leben Westeuropas Einzug gehalten hatten, rückgängig zu machen. In der Hoffnung, das durch die Französische Revolution hervorgerufene Gären in den Gemütern zu unterbinden, richtete Fürst Metternich seine Bemühungen besonders auf den ideologischen Bereich. Strengste Zensurbedingungen wurden eingeführt, alle liberalen Bestrebungen unterdrückt. Die österreichischen Intellektuellen sahen sich immer stärker einem Gefühl geistiger Isolation und tragischer Hoffnungslosigkeit ausgesetzt. Grillparzer bildete keine Ausnahme. Sein gesamtes Schaffen in der (auch Vormärz genannten) Ära Metternich kann als pessimistische Antwort auf die grundlegende Frage des 18. Jahrhunderts betrachtet werden – die Frage nach der Freiheit des Menschen. Der Verlust der freiheitlichen Grundlage und der Triumph der „Notwendigkeit“ bilden nicht nur für die Ahnfrau, sondern auch für die meisten seiner anderen Dramen den Kernpunkt.. Der Anblick des Protagonisten Jaromir, der durch äußere Umstände gezwungen wird, den „Geist der Unschuld“ in sich zu ersticken, zum Räuber und Mörder zu werden und schließlich zu sterben, ruft den Eindruck tiefer Tragik hervor. 108 Rudnickij 1965, S. 95.

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Blok hatte die konkrete politische Situation im Österreich der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts klar vor Augen und zog in seinem Essay konsequent Parallelen zwischen der Entstehungszeit der Ahnfrau und der russischen Gegenwart.109 „… Sie [die Ahnfrau] entstand in einer Epoche der Reaktion, in der alles Lebendige vom Toten zermürbt wird“, so Blok.110 Vielsagend ist auch ein Vermerk vom 19. August 1908 in den Notizbüchern: „Feuilletonartikel zur Ahnfrau (politische Reaktion in Österreich) – in der Slovo“.111 Das Gefühl der eigenen Nähe zu Grillparzers Epoche, das auch zum modernen Klang des „alten Stückes“ führte, versucht Blok, im gesamten Essay darzulegen. Der impressionistische Stil, in dem der Essay gehalten ist, unterstreicht das Gefühl eines Menschen, der im Werk eines fernen und ihm kaum bekannten Autors Merkmale erahnt, die der eigenen Zeit, in die er hineingestellt ist, nahekommen: Noch vor ein oder zwei Jahren hätten wir vermutlich nicht nachvollziehen können, worum die Seele des siebenundzwanzigjährigen österreichischen Dichters weint; seine Tragödie kann man erst in solchen schwarzen Zeiten ganz begreifen, wenn das Alte einfach nicht sterben kann, immer weiter wirres Zeug redet, über Müdigkeit klagt und den Lebenden Sorgen bereitet – zögernd, hartnäckig, zuweilen musikalisch (wie Grillparzers Ahnfrau), während das Neue einfach nicht zu Kräften kommen kann, etwas überraschend Tränen vergießt (wie Jaromir, ein kräftiger und wahrhaft tapferer Bursche) und einen sinnlosen Tod stirbt (so wie Dutzende junger russischer Menschen, die in Ermangelung eines „Lebensziels“ Selbstmord begehen) (S. 8–9).

Vertraute Bloks erinnern sich daran, dass der Winter 1907/1908 für den Dichter die Verkörperung der „reaktionären Epoche“ darstellte. In den Essays jener Zeit bemüht sich Blok, seine Epoche zu definieren und genau zu umreißen. „Diese wahrhaft große, wahrhaft qualvolle Zeit, diese wahrhafte Übergangszeit, in der wir leben, beraubt uns allen Zaubers, an jedem Kreuzweg mahnt uns dichter Dunst, ein ferner glutroter Widerschein der Ereignisse, auf die wir noch immer inbrünstig warten, die wir fürchten und auf die wir hoffen.“112 Dieselbe Stimmung findet sich in Bloks Essay „Literaturnye itogi 1907 goda“ [Literarisches Fazit des Jahres 1907], der mit den Worten beginnt: „Die Reaktion, in deren 109 Wie oben erwähnt, trug Bloks Essay, der als Vorwort zur Pantheon-Ausgabe der Ahnfrau erschien, die bezeichnende Überschrift: „Einige Gedanken zur Bedeutung der Ahnfrau für unsere Zeit und kurze Angaben zu Grillparzer“ (kursive Hervorhebung K. A.). 110 Gril’parcer 1908/1909, S. 13. Die weiteren Verweise auf diesen Essay werden unter Angabe der Seitenzahl (gemäß der Pantheon-Ausgabe) im Fließtext angeführt. 111 Blok 1965, S. 112. Slovo [Das Wort] war eine Petersburger Tageszeitung (1903–1909), für die Blok seinen Essay ursprünglich konzipiert hatte. 112 Blok 1962a, S. 257.

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Zeiten zu leben unser Los ist, hat das Antlitz des gerade erwachenden Lebens vor uns verhüllt, und das womöglich auf viele Jahre hinaus. Vor unseren Augen verzweifeln etliche Generation an ihren besten Hoffnungen.“113 Bloks Weltbild jener Zeit ist geprägt von Verhängnis und dem Warten auf das herannahende „Gewitter“. Es erstaunt nicht, dass die Tragödie Jaromirs – eines Jünglings, „auf dessen Gesicht der Gram schon früh tiefe Furchen gezogen hat“ (S. 12) – Blok so naheging. Seine einer konkreten historischen Epoche zugeordnete Beschreibung der Hauptfigur mag auf den ersten Blick wenig überzeugend erscheinen; zumindest legt der Inhalt der Ahnfrau eine solche Interpretation nicht unbedingt nahe. Und doch wird Bloks Gedankengang nachvollziehbar, wenn man bedenkt, dass Jaromirs Schicksal lediglich die „gramvolle“ Stimmung Grillparzers zum Ausdruck bringt, eines Untertans des Metternich’schen Systems, auf den Bloks bittere Worte durchaus zutreffen. Durch das Setzen solcher Akzente brachte Blok das „alte Stück“ mit der russischen Wirklichkeit nach 1905 in Verbindung und versuchte, ihm einen zeitgemäßen Klang zu verleihen. Mit der Übersetzung für Vera Komissarževskaja hoffte Blok, dass Grillparzers Text auf der Bühne eines „modernen“ russischen Theaters jener Zeit großen Anklang finden würde. Die „heroische Romantik“ des Dramas, den Blok für das russische Publikum auferstehen lassen wollte (s. seinen Brief an Komissarževskaja vom 7. Januar 1908), war nach Absicht des Dichters dazu berufen, das Gefühl eines unfreien Menschen zu vermitteln, dessen Geschicke einem unbarmherzigen Fatum unterworfen sind. In diesem Zusammenhang erscheint auch eine andere Eigenschaft Jaromirs als bedeutsam, die Blok ihm in einem Brief an Fëdor Komissarževskij zuschreibt: Er sei „ganz Leidenschaft und Rebellion“. Mit diesem Bild konnte sich Blok zweifellos identifizieren. Zu dem Wunsch, „wahnsinnig zu leben“ [bezumno žit’] und dem sinnlichen Genuss des Daseins, die in Bloks Werk ihren Niederschlag finden, gesellten sich in diesen Jahren immer stärker ein Gefühl der Veränderlichkeit seiner Umgebung und ein Auflehnen gegen die Wirklichkeit bis hin zur revolutionären Meuterei. „Bloks gesamtes Leben nach 1905 ist ein ununterbrochenes freudloses Aufbäumen, ein nicht endender Protest gegen seine Umgebung, der mit der wachsenden Unterdrückung durch die Reaktion immer stärker wurde, ein Hunger nach Leben und zugleich eine Abscheu davor – all das, was Blok selbst später so treffend in seinen Versen „Und Lebenshaß. Und Lebensliebe / Bis an den Rand des Wahnsinns“ [I otvraščenie

113 Ebenda, S. 209.

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ot žizni, / I k nej bezumnaja ljubov’] zum Ausdruck gebracht hat“, so die BlokForscherin Ekaterina Malkina.114 Offenbar stand Bloks Weltsicht nach 1905 ganz im Einklang mit dem Geist der Ahnfrau. Diese Stimmung wurde noch verstärkt durch seine zusehends pessimistische Einstellung gegenüber der sozialen Schicht, in die der Dichter hineingeboren worden war. Er fühlte schmerzhaft die künftigen Entwicklungen: das unweigerliche Verschwinden des russischen Geburtsadels, den Zerfall der Gutsherren-„Nester“ mit ihren jahrhundertealten Bräuchen, das Erscheinen der „neuen Menschen“ u. ä. Um diese Themen geht es in seinen Essays, Briefen und persönlichen Gesprächen der Jahre 1907–1909. Im Essay „Stichija i kul’tura“ [Die Elementarkräfte und die Kultur] (1908) schreibt Blok: „[…] wohnt uns allen ein Gefühl des Krankseins, der Unruhe, der Katastrophe, des Gespaltenseins inne“115, und den Essay „Narod i intelligencija“ [Volk und Intelligenzija] (1908) beendet er mit den Worten: „[…] von der zottigen Brust eines Gabelpferdes, das über uns schwebt, bereit, uns mit seinen schweren Hufen zu zerstampfen.“116 Der Dichter und Kritiker Nikolaj Nedobrovo beschreibt in seinem Tagebuch einen Besuch, den er Blok Ende 1907 gemeinsam mit dem Literaturwissenschaftler Aleksandr Beleckij abstattete, und berichtet, dass Blok „die Frage stellte: ‚Und wie soll es nun weitergehen?‘ Und er begann davon zu sprechen, dass ‚unser‘ Ende gekommen sei, dass eine neue Intelligenzija komme, die ‚uns‘ ausmerzen werde.“117 Der drohende Untergang der Aristokratie war für Blok eng verbunden mit dem Thema der „Vergeltung“. Im Vorwort zu dem gleichnamigen Poem (1919) heißt es, dass „einzelne Sprösslinge jeder Art sich bis zur festgesetzten Grenze entwickeln und dann wieder von ihrer Umwelt absorbiert werden“. Und er stellt erneut die Frage, die ihn schon 1907 plagte: „Wie geht es nun weiter?“118 Diese Frage verband sich bei Blok in der Epoche „zwischen zwei Revolutionen“ mit dem Problem der humanistischen „Kultur“, die unter dem Druck der neuen („Volks-“)Kräfte zum Untergang verurteilt sei. Dieses Leitmotiv – der unaufhaltsame Untergang des Adels – hat vermutlich auch Bloks Verhältnis zur Ahnfrau bestimmt. In diesem Zusammenhang sei betont, dass der Dichter das historische Schicksal der russischen Aristokratie auch auf einer persönlichen Ebene durchlitt. In seinem Essay zur Ahnfrau bekannte Blok, er unterdrücke in sich „den publizistischen Wunsch, ein 114 Malkina 1937; aus dem Poem „Vergeltung“, dt. Nachdichtung von Heinz Czechowski (Mierau 1978a, S. 222). 115 Blok 1962a, S. 351; dt. von Eckhard Thiele (Mierau 1978b, S. 143). 116 Ebenda, S. 328; dt. von Ingeborg Schröder (Mierau 1978b, S. 140). 117 Bronnyj 1975, S. 177. 118 Blok 1960, S. 297 f.

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Stück über den Untergang des russischen Adels zu übersetzen“, sehe darin jedoch etwas „Unbeschreibliches“, das sich jenseits der Grenzen von „Kunst“ befinde. Dieses „Unbeschreibliche“ wurzelte offenbar in Bloks besonderer, sozusagen „intimer“ Beziehung zum Schicksal. Der Dichter sah sich bekanntlich als letzten Sprössling des „verdorrenden“, d. h. zum Aussterben verurteilten Adelsgeschlechts der Blok-Beketovs. Er neigte dazu, seine adlige Abstimmung als einen Fluch zu betrachten, der über ihm hing119 und das unabwendbare „Finale“120 vorherbestimmte. Der künftige Triumph geheimnisvoller Schicksalsmächte schien Blok ebenso unausweichlich wie gerecht: Die „Erbschuld“ forderte unerbittlich Abbuße. Diese Stimmung wurde vom körperlichen Leiden des Dichters noch verstärkt.121 Aus dem für Bloks Weltsicht so prägenden Fatalismus heraus entstand das Poem Vozmezdie [Vergeltung], mit dessen Konzeption er kurz nach Fertigstellung der Ahnfrau-Übersetzung begann. Die Gedanken über die Unausweichlichkeit von „Untergang“ und „Sühne“, über das „schlechte Blut“, das sich früher oder später auch in seinem eigenen Schicksal bemerkbar machen müsse, verfolgten Blok auch nach 1917. „Er sprach vom Ende des Geschlechts, von der gerechten Vergeltung, davon, dass er nie ein Kind haben werde“, erinnert sich die Dichterin Nadežda Pavlovič, die Blok in seinen letzten Lebensjahren nahestand.122 Grillparzers Tragödie vom „Ende eines Adelsgeschlechts“ brachte somit Bloks eigene beunruhigende und tief verborgene Lebenseinstellung zum Ausdruck. Während er das Drama übersetzte und dessen Sinn ergründete, unterzog Blok, wie erwähnt, auch sein eigenes Schaffen einer Revision. Sein Lied des Schicksals, das zur selben Zeit wie die Ahnfrau fertiggestellt wurde, spiegelt dieses Suchen deutlich wider. Blok verstand ein Theaterstück als „Tragödie einer Persönlichkeit“, in der sich der Zeitgeist wie in einem Tropfen Wasser widerspiegeln sollte. Dementsprechend wollte er ein Stück verfassen, das einen rebellierenden Protagonisten, „Unausgesprochenheit, romantisches Erhobensein über die Wirklichkeit“123, Symbolik und selbst Phantastik miteinander verband. Der Kampf eines tragischen Helden gegen allmächtige Prinzipien, sein Versuch, sich gegen das „Unausweichliche“ aufzulehnen, wurde in den besten Bildern des Genres stets als Beweis für Kraft und Mut aufgefasst, als Ausdruck jenes „Heroismus“, von dem Blok so fasziniert und begeistert war, dass er 1908 das Theater „der großen Handlung und starken Leidenschaften“ ausrief. „Blok, 119 In seinem Gedicht „Religio“ (1902) heißt es: „Ja – čërnyj rab prokljatoj krovi …“ [„Ich bin der schwarze Sklave verfluchten Bluts …“]. 120 S. dazu Matič 2008 (Kap. „Slučaj Aleksandra Bloka“ [Der Fall des Aleksandr Blok]). 121 Lichtenštejn 2009, S. 168–187. 122 Pavlovič 1964, S. 486. 123 Mirza-Avakjan 1960, S. 180.

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der für die Wiedergeburt der Tragödie eintritt, wird die Erneuerung des Helden im Sinne einer aktiven Willensbekundung anstreben“, unterstreicht Leonid Kipnis.124 In diesem Sinne sind Die Ahnfrau und Das Lied des Schicksals zweifellos verwandt. Im letzten Akt des Liedes des Schicksals dominieren Schneesturm, Schneegestöber, geisterhafte Stimmen und eine ferne, überirdische Musik – genau diesen Elementarkräften wollte Blok auch die Ahnfrau annähern (siehe seinen oben angeführten Brief vom 26. Mai 1908 an Fëdor Komissarževskij). Gleiches gilt auch für seine Gedichtzyklen der Jahre 1907–1908 (beispielsweise „Snežnaja maska“ [Schneemaske]). Tatsächlich spielt auch Grillparzers Stück im Winter und bei Unwetter, doch was beim österreichischen Dramatiker ein eher zweitrangiger Aspekt ist, erhält in Bloks Interpretation eine tiefere symbolische Bedeutung. Der Schneesturm, in dem das Gespenst über den Menschen triumphiert, wird für ihn zum Sinnbild der Epoche. Ist es nicht wirklich merkwürdig, dass alle lebendigen und leidenschaftlichen Hauptfiguren der Tragödie […] in der Macht eines „seltsamen Geraschels“ sind, das durch die Säle des gräflichen Schlosses fegt? Dass sie starr sind von der Kälte des Schneesturms, der vor den Fenstern und auf den Feldern heult? Dass all diese merkwürdigen Geräusche und Stimmen ihre höchste Verkörperung in einer altbekannten und zugleich merkwürdig unbekannten Geisterschönheit finden, die der Vater für seine Tochter hält, und der Bräutigam für seine Braut? – Alles, was nach Leben und Erneuerung dürstet, stirbt; nur sie, deren einziger Wunsch es ist, sich auszuruhen, im Sarge Frieden zu finden, sie feiert ihren glanzlosen Triumph, der nur vom Mondschein und den schwachen Kerzen auf dem Tisch erleuchtet wird.“ (S. 10)

Blok offenbart in seinem Essay nicht nur den wahren Sinn von Grillparzers Drama, er nimmt den österreichischen Dichter nicht nur als Künstler einer anderen Epoche wahr, mit dem er in vielem übereinstimmt. Er war darüber hinaus auch der erste in Russland, der Grillparzer den ihm gebührenden Platz in der deutschen Literaturgeschichte zuwies, indem er ihn in eine Reihe mit Heine, Hoffmann, Kleist und Uhland stellte. Durch die Betonung von Grillparzers Ausnahmetalent setzte Blok ihn klar von den übrigen Autoren der romantischen Schicksalstragödie ab. „Wären die Schicksalstragödien nicht bloß leere Staffage“, schreibt Blok, „so hätten das Leben und die Literatur sie in ihren Schoß aufgenommen, und auf der Stirn eines jeden Menschen wäre das Siegel der Ergebenheit aufgedrückt. Doch sie sind in Vergessenheit geraten, und nur die ihnen verwandte Ahnfrau – keine gewöhnliche Schicksalstragödie – ist 124 Kipnis 1987, S. 77.

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im Gedächtnis geblieben“ (S. 13). An anderer Stelle heißt es: „Die Namen von Grillparzers Zeitgenossen, Werner, Müllner und Houwald, sagen uns nichts mehr. Den Namen Grillparzer dagegen hat sich die Geschichte eingeprägt“ (S. 9). Damit war die Vorstellung von Grillparzer als typischem Romantiker der „fatalistischen Schule“, die sich im 19. Jahrhundert in Russland etabliert hatte, endgültig überholt. Die Ahnfrau und Das Lied des Schicksals gehören natürlich zwei verschiedenen literarischen Schulen an, zwischen denen fast ein Jahrhundert liegt, weshalb man von einer Nähe der beiden nur in allgemeinen Zügen sprechen kann. Doch der Charakter des Protagonisten German aus dem Lied des Schicksals, dessen Rebellentum keine Lösung findet und der von Verdammnis gezeichnet wird, ist unbestreitbar den „schwarzen Zeiten“ geschuldet, in denen Bloks Stück entstand. Dieselbe Ambivalenz, die auch Jaromirs Untergang vorausbestimmt, machte aus diesem einen dramatischen Helden, der mit der russischen Wirklichkeit der Jahre 1908–1909 in Einklang stand, und die Ahnfrau selbst zu einem zeitgemäßen Drama, einer „wahrhaften Schicksalstragödie“ (wie Blok sie in seinem Brief an Fëdor Komissarževskij nannte). Marija Beketova erinnert sich, dass Jaromirs Monolog „revolutionär“ gewesen sei. Seine außergewöhnliche Geisteskraft, sein inneres Brennen und sein beharrlicher, wenn auch aussichtsloser Kampf gegen die Welt – diese Eigenschaften von Grillparzers Protagonisten waren Blok besonders vertraut. Daher ist es nicht weiter verwunderlich, wenn er sie an manchen Stellen bewusst betont oder gar verstärkt.125 So ruft die Ahnfrau, wenn sie sich in der letzten Szene über den Leichnam Jaromirs neigt, im Original aus: „Scheid in Frieden, Friedenloser!“ Blok übersetzt diese Stelle mit: „Geh in Frieden, rebellischer Geist!“ Es sei nochmals an den Brief Bloks an Fëdor Komissarževskij erinnert, in dem er den Haupthelden des Grillparzer’schen Dramas mit den Worten beschreibt: „Jaromir ist ganz Leidenschaft und Rebellion“ (kursive Hervorhebung  K.  A.). Dieser von Blok noch verstärkte „rebellische Geist“ sollte Grillparzers Stück in der russischen politischen Situation der Jahre 1908–1909 einen merklich revolutionären Klang verleihen. 

Aus dem Russischen übersetzt von Hanne Wiesner

125 Eine Reihe semantischer Akzente, die von Blok in seiner Übersetzung der Ahnfrau verstärkt oder abgeschwächt werden, wird untersucht in Thompson 1973.

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Schellings russische Gesprächspartner Das russische Schellingianertum ist ein weitgefächertes Thema von eigenständiger Bedeutung.1 Die theoretischen Aspekte des vielschichtigen Problems „Schelling und Russland“ werden im vorliegenden Aufsatz nicht behandelt. Unser Ziel ist vielmehr, den deutschen Lesern einen allgemeinen Überblick zu vermitteln, mit welchen russischen Zeitgenossen Schelling zusammentraf, welchen Charakter diese Bekanntschaften trugen und welchen Inhalt ihre Gespräche hatten. Man findet in der ersten Hälfte des vorigen Jahrhunderts schwerlich einen westeuropäischen Philosophen, dessen Einfluss auf das russische Denken so tief und nachhaltig gewesen wäre wie der Schellings. Er wurde Mitte der zwanziger Jahre zum Idol eines breiten Kreises romantisch gestimmter junger Leute, die zu neuen geistigen Horizonten strebten, welche sich ihnen vor allem in der Naturphilosophie zu eröffnen schienen. Schellings Gedanken von der „lebendigen“ Natur, von der „Weltseele“ usw. wurden von den russischen Romantikern aufgegriffen, studiert und heiß diskutiert – wenn auch bei weitem nicht immer im Schellingschen Sinne gedeutet. Es ist schon mehrfach darauf hingewiesen worden, dass Schelling in mancher Hinsicht für Russland wichtiger war als für Deutschland. Wie Christoph Kolumbus wies er dem Wirken des Menschen eine neue Richtung! rief Vladimir F. Odoevskij aus, der glaubte, Schelling habe dem Menschen die menschliche Seele offenbart.2

Ein anderer Zeitgenosse, der Zensor A. V. Nikitenko, schrieb am 20. Dezember 1826 in sein Tagebuch:

* Erstveröffentlichung in: Deutsche und Deutschland aus russischer Sicht. 19.  Jahrhundert: Von der Jahrhunderwende bis zu den Reformen Alexanders II. Hg. von Dagmar Herrmann und Alexander  L.  Ospovat unter Mitarb. von Karl-Heinz Korn. München 1998, S.  750–774 (= West-östliche Spiegelungen. Wuppertaler Projekt zur Erforschung der Geschichte deutschrussischer Fremdenbilder unter der Leitung von Lew Kopelew. Reihe B, Bd. 3). Wieder (in russischer Sprache) in: Konstantin Azadovskij: Sjužety i sud’by: Nemecko-russkie otraženija [Themen und Schicksale: Deutsch-russische Spiegelungen]. Moskva, 2019, S. 45–79. 1 Die Geschichte des russischen Schellingianertums wird in zahlreichen Studien behandelt. Ein Verzeichnis der wichtigsten Arbeiten (1915–1999) s. in der russischen Fassung dieses Aufsatzes: Azadovskij 2019, S. 45. 2 Odoevskij 1975, S. 16.

© Brill Fink, 2022 | doi:10.30965/9783846766767_005

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Schellings russische Gesprächspartner Napoleon, Byron und Schelling sind die Repräsentanten unseres Jahrhunderts. Sie werden den künftigen Generationen sein Geheimnis offenbaren und ihnen bezeugen, wie in unserer Zeit der menschliche Geist versuchte, über das Schicksal zu triumphieren, und in diesem ungleichen Kampf ermattete.3

Nikitenkos Worte verdeutlichen, was die damaligen russischen Leser an Schelling anzog: die Geistigkeit, die Ungebundenheit des Denkens, das Pathos geistiger Freiheit. Die junge Generation der zwanziger Jahre hatte ein feines Gespür für das „befreiende“, „aufrührerische“ Prinzip, das der Philosophie Schellings zugrunde lag. Schelling war ihr der Sänger des „zu erschaffenden“ Lebens.4 Alexander Gerсen (Herzen) betont 1833: Schelling ist ein hoher Dichter, er verstand die Anforderungen des Jahrhunderts und schuf keinen seelenlosen Eklektizismus, sondern eine lebendige Philosophie […].5

So nimmt es nicht wunder, dass Schellings Philosophie in Russland mehrfach Angriffen seitens der offiziellen Ideologen ausgesetzt war. Michail L. Magnickij (1778–1855), bekannt für seine Unduldsamkeit gegenüber fortschrittlichen Ideen, schrieb in einer an den Minister für Volksaufklärung gerichteten Rezension des Lehrbuches „Anfangsgründe der Logik für die adligen Zöglinge des Pensionats der Moskauer Universität“ (Moskau 1821) von Ivan I. Davydov, einem der ersten russischen Schellinganhänger, es sei von Anfang bis Ende durchtränkt von der „gottwidrigen Lehre Schellings, die ihren Einfluss auf alle Gebiete menschlichen Wissens ausweitet, sogar auf die Literatur“. Die Grundlagen des Schellingianertums seien Freigeisterei und Sittenverderbnis; unter dem Anschein des Idealismus predigten sie „gröbsten Materialismus“.6 Als Stammvater des russischen Schellingianertums gilt Daniil  M.  Vellanskij (1774–1847), ein Philosoph und Naturforscher und der erste bedeutende Vertreter der russischen Naturphilosophie. 1802 bis 1805 studierte er in Würzburg, wo er die Vorlesungen Schellings und des Naturphilosophen Henrik Steffens besuchte. In Aufzeichnungen von Zeitgenossen ist mehrfach bezeugt, dass Schelling Vellanskij besondere Aufmerksamkeit schenkte und seinen Schüler 3 Nikitenko 1955, S. 38. 4 Über das „revolutionäre“ Wesen der Philosophie Schellings siehe Berkovskij 1973, S. 24 f., 30 und passim. 5 In einem Brief an Nikolaj Ogarёv; Gercen 1961, S. 21. 6 Zitiert nach Feoktistov 1865, S. 157 f. –Der russische Titel des Lehrbuchs von I. I. Davydov lautet: Načal’nye osnovanija logiki dlja blagorodnych vospitannikov Universitetskogo pansiona [Anfänge der Logik für adelige Zӧglinge des Universitätspensionats].

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auszeichnete.7 Davon berichtet auch Maximilian Heine, der Bruder des Dichters, der in Petersburg lebte und Vellanskij einen Nachruf widmete.8 Wer noch von den Russen, die Anfang des Jahrhunderts in Deutschland studierten, Schellings Vorlesungen besuchte und mit ihm bekannt war, kann nur vermutet werden: Über genaue Informationen verfügen wir nicht.9 Jedoch sei der Name eines Mannes genannt, der, wiewohl kein Russe, sein Leben doch auf immer mit Russland verband. Friedrich Joseph Haass (1780–1853) aus Münstereifel hörte in Jena Schellings Vorlesungen, bevor er 1806 nach Russland übersiedelte und dort ein berühmter Arzt wurde. Haass bleibt in dankbarer Erinnerung wegen seiner langjährigen philanthropischen Tätigkeit: Er hat als Hauptgefängnisarzt in Moskau viel getan, das Los der Gefangenen zu erleichtern. Im Archiv der Berliner Akademie der Wissenschaften sind zwei Briefe von ihm an Schelling erhalten (von 1820 und 1844), die von einer dauerhaften Bekanntschaft zeugen.10 Anfang der zwanziger Jahre wurde Moskau zum Zentrum des russischen Schellingianertums. „Gleichzeitig mit einer rein literarischen Tätigkeit begann sich in Moskau zu jener Zeit eine neue geistige Tätigkeit unter dem Einfluss Schellings zu regen. 1821 kehrte Professor M. G. Pavlov aus dem Ausland zurück und hielt an der Universität und dem Adelspensionat der Universität Vorlesungen über die Natur. Sie hinterließen einen tiefen Eindruck und bewirkten in der damaligen Moskauer Generation eine Hinwendung zur deutschen Philosophie.“11 Das Moskauer Adelspensionat, an dem Michail Pavlov Vorlesungen hielt und der schon erwähnte Ivan Davydov unterrichtete, besuchte von 1816 bis 1822 Fürst Vladimir Odoevskij, der spätere Vorsitzende der Moskauer „Gesellschaft der Weisheitsliebe“ (Obščestvo ljubomudrija). Gleichzeitig studierten dort Vladimir P. Titov und Stepan P. Ševyrëv, der damals mit Michail P. Pogodin, 7

8 9

10 11

Doch ist über einen persӧnlichen Umgang zwischen ihnen nichts bekannt. Anschauungen und Tätigkeit Vellanskijs untersucht ausführlich Z. A. Kamenskij in seinem Buch Russkaja filosofija načala XIX veka i Šelling [Die russische Philosophie zu Anfang des 19. Jahrhunderts und Schelling]. Moskau 1980. Medicinische Zeitung Rußlands (Sankt-Peterburg), 1847, April, Nr. 15, S. 120. Unter Schellings Hörern von 1803 an der Würzburger Universität nennt I. Kolubovskij M. Ja. Mudrov (1772–1831), der später an der Moskauer Universität Professor der Pathologie, Therapeutik und klinischen Medizin wurde. Vgl. die Bibliographie von I. Kolubovskij in: Šelling 1936, S. 431. Gulyga 1984, S. 309. – Zur Person des Doktor Haass vgl. Der heilige Doktor Fjodor Petrowitsch. Die Geschichte des Friedrich Joseph Haass, Bad Münstereifel 1780 – Moskau 1853. Erzählt von Lew Kopelew, mit einem Vorwort von Heinrich Böll. Hamburg 1984; München 1992. So beschreibt Ivan Kireevskijs Biograph N. A. Elagin die Entwicklung in: Elagin 1911, S. 7.

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dem späteren Historiker, befreundet war. „Sie [Odoevskij, Ševyrëv, Titov und Pogodin] unterhielten sich oft über die Schellingsche Philosophie […].“ Pogodin nahm Titov das Versprechen ab, den „Transzendentalen Idealismus Schellings“ zu übersetzen. Pogodins Biograph teilt auch mit, dass es gerade „die Beschäftigung mit der Philosophie Schellings war, die Pogodin und Venevitinovs Freund Nikolaj M. Rožalin einander nahebrachte“.12 Welche Interessenrichtung in diesem Kreis vorherrschte, darüber geben auch die „Aufzeichnungen“ Aleksandr  I.  Košelevs (1806–1883) Auskunft, der von 1822 bis 1823 an der Moskauer Universität studierte und von 1825 an (zusammen mit Ivan Kireevskij, Venevitinov, Titov, Ševyrëv, Mel’gunov und anderen) im Moskauer Archiv des Auswärtigen Kollegiums Dienst tat. Košelev erinnert sich: Die deutsche Philosophie und insbesondere die Werke Schellings fesselten uns in einem Maße, daß das Studium der übrigen Fächer ziemlich nachlässig betrieben wurde und wir unsere gesamte Zeit den deutschen Weisheitsfreunden widmeten. In dieser Zeit führten wir abends Gespräche, die bis weit nach Mitternacht dauerten, und sie waren für uns viel fruchtbarer als aller Unterricht, den uns die Professoren erteilten. Unser Kreis wuchs und festigte sich immer mehr. Die wichtigsten und aktivsten Mitglieder waren Ivan Kireevskij, Dmitrij Venevitinov, Rožalin, Fürst V. Odoevskij, Titov, Ševyrëv, Mel’gunov und ich. Diesen Gesprächen verdanken wir sehr viel, in wissenschaftlicher wie in moralischer Hinsicht.

Weiter berichtet Košelev – wobei er eindeutig die Moskauer „Gesellschaft der Weisheitsliebe“ im Blick hat: Eine andere Gesellschaft war besonders bemerkenswert: Sie versammelte sich heimlich, und über ihre Existenz wurde niemandem etwas mitgeteilt. Ihre Mitglieder waren Fürst Odoevskij, Iv. Kireevskij, Dm. Venevitinov, Rožalin und ich. Hier regierte die deutsche Philosophie, d. h. Kant, Fichte, Schelling, Oken, Görres und andere. Hier lasen wir manchmal unsere philosophischen Aufsätze vor; aber meistens sprachen wir über die Werke der deutschen Philosophen, die wir gerade gelesen hatten. […] D. Venevitinov sprach am meisten und versetzte uns mit seinen Reden häufig in Begeisterung.13

So waren die meisten Russen, die Schelling später aufsuchten oder seine Vorlesungen hörten, entweder Mitglieder der „Gesellschaft der Weisheitsliebe“ (wie die Brüder Kireevskij, Odoevskij, Rožalin, Titov) oder deren Gefährten 12 13

Barsukov 1888, S. 214. Košelev 1884, S. 8 f. und S. 12.

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und Gesinnungsfreunde (so Mel’gunov, Pogodin, Ševyrëv und Chomjakov). Einige von ihnen (die Brüder Kireevskij, Košelev, Pogodin, Ševyrëv, Chomjakov) nahmen in den vierziger Jahren slavophile Positionen ein. Das Interesse an Schelling blieb in Russland fast während des gesamten neunzehnten Jahrhunderts lebendig. N.  I.  Nadeždin und N.  A.  Polevoj, N. V. Stankevič und A. I. Hercen, A. A. Grigor’ev und F. I. Tjutčev erfuhren die Wirkungskraft seiner Ideen in vollem Maße an sich selbst – ebenso wie viele andere russische Schriftsteller und Denker bis hin zu Dostoevskij und Vladimir Solov’ёv. * Aleksandr  I.  Turgenev, einer der Russen, die Schelling in den dreißiger und vierziger Jahren am nächsten standen, gehörte nicht zu diesem Kreis. Auch er war Zögling des Adelspensionats, hatte aber Moskau schon in jungen Jahren verlassen und sein Studium an der Universität Göttingen (1802–1804) fortgesetzt. 1805 wurde er in Petersburg Direktor des Hauptamtes für geistliche Angelegenheiten ausländischer Konfessionen. Aleksandr Turgenev war ein äußerst wissbegieriger Mensch, und es ist anzunehmen, dass er als einer der ersten Russen Schellings Namen kannte und seine Werke las – wahrscheinlich noch in Göttingen. Über lange Jahre bewahrte er sich seine Liebe zur deutschen romantischen Dichtung und Philosophie. „Über die Freundschaft Schellings mit A.  I.  Turgenev wissen wir äußerst wenig“, klagt der sowjetische Autor einer Schelling-Monographie.14 Die inzwischen gefundenen und in der letzten Zeit publizierten Materialien (Tagebücher und Briefe A. Turgenevs) erlauben indes eine recht vollständige Rekonstruktion der Geschichte seiner Beziehungen zu dem deutschen Philosophen. Die Bekanntschaft wurde am 12./24. August  1825 in Karlsbad geschlossen, wo sich Aleksandr Turgenev gemeinsam mit seinen Brüdern Sergej und Nikolaj zur Erholung aufhielt. Zugleich befand sich auch der später berühmt gewordene Denker Pëtr Ja. Čaadaev dort, der in frühen Jahren stark von der „Identitätsphilosophie“ beeinflusst war. 1823 bis 1826 unternahm Čaadaev eine Reise durch Westeuropa. Mittler der Bekanntschaft zwischen den Russen und Schelling war der deutsche Ingenieur und Architekt Karl Friedrich Wiebeking. In Aleksandr Turgenevs Tagebuch befindet sich unter dem erwähnten Datum die Notiz: 14

Gulyga 1984, S. 227.

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Schellings russische Gesprächspartner Wiebeking hat mich Schelling vorgestellt. Ich war nicht darauf gefaßt, in K[arls]bad den zur Zeit besten denkenden Kopf Deutschlands zu treffen. Er hat mich zu sich eingeladen. Ich bin eine Stunde bei ihm geblieben. Wir haben von Baader gesprochen; doch hat mir Schel[ling] das Schicksal des Prof[essors] Goluchowski aus Wilna empfohlen, den er hochschätzt. Ich habe mich bei Gr[af] Nessel’rode über ihn erkundigt und werde morgen Schelling beruhigen. Er gibt ein neues Werk in drei Teilen heraus. Gegenwärtig wohnt er in Erlangen; dort ist er nicht im Dienst, sondern studiert nur.15

Am nächsten Tag traf sich Aleksandr Turgenev erneut mit Schelling, der ihm eingehend und „in liebenswürdiger Weise“ von seinem philosophischen System („sowohl der Transzendentalphilosophie als auch der Moralphilosophie und der Religion“) erzählte, auf die zeitgenössischen deutschen Historiker (Friedrich Raumer, Arnold Heeren, Barthold Niebuhr) einging und sein Verhältnis zu Fichte erörterte. Schelling versichert, daß die Führung der philosophischen Partei ganz unerwartet ihm zukam und daß er in jener Zeit solch einen Einfluß auf die Gemüter in Deutschland ausgeübt hat, indem er ihnen eine neue Richtung im metaphysischen Bereich zeigte, daß er es jetzt als seine Pflicht betrachtet, alle seine Prinzipien in einer Weise vorzulegen, die für alle angebracht ist; aus diesem Grund veröffentlicht er sein Buch, das er mir nach Paris nachschicken wird.

Danach traf sich Turgenev bis zu seiner Abreise aus Karlsbad am 8./20. September noch einige Male mit Schelling und führte mit ihm lange Gespräche. Gleichzeitig lernte Čaadaev Schelling kennen16 und wurde sein Gesprächspartner. Der Umgang mit beiden Russen übte, wie die Dokumente belegen, auf Schelling einen tiefen Eindruck aus. „Schelling zählte Čaadaev zu den bemerkenswertesten Menschen, die ihm begegnet waren, und er teilte

15

16

Tilliette 1974, S. 290; das folgende Zitat aus ebenda, S. 291. – Den bekannten katholischen Philosophen und Theologen Franz von Baader (1765–1841), seit 1826 Professor in München, lernte A.  Turgenev im August  1832 kennen. Joseph Goluchowski (1797–1858) – Philosoph und Mathematiker, Professor an der Universität von Wilna; begeisterter Anhänger Schellings. – Karl Robert v. Nesselrode (1780–1862) – russischer Staatsmann, von 1816 bis 1856 Außenminister. Über diese Bekanntschaft wusste man in russischen literarischen Kreisen gut Bescheid. Siehe die Notiz Michail P. Pogodins in seinem Tagebuch vom 23. Dezember 1828: „Idee, mit Čaadaev zu korrespondieren, über dessen Bekanntschaft mit Schelling Puškin erzählt hat.“ Zitiert nach Vacuro 1985, S. 26.

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ihm gern seine philosophischen Pläne mit“, versichert P.  N.  Sakulin, der die Rezeption Schellings in Russland erforscht hat.17 Ebendann und ebendort machte sich Schelling auch mit Nikolaj Turgenev (dem Bruder von Aleksandr) bekannt. Die Aufzeichnung in seinem Tagebuch vom 30. August / 11. September beginnt mit den Worten: „Schelling sagte mir heute …“ (darauf folgt Schellings Meinung über den Karlsbader Sprudel, dessen Heilmӧglichkeiten er hoch einschätzte und lobte).18 Die Ereignisse auf dem Senatsplatz in Petersburg veränderten das Leben Aleksandr Turgenevs radikal. Ab jetzt war es untrennbar mit dem Schicksal seines Bruders Nikolaj verbunden, des in Ungnade gefallenen (und in Abwesenheit zum Tode verurteilten) Dekabristen, der sich nach England geflüchtet hatte. Als Schelling aus Erlangen vom königlichen Mäzen Ludwig I. nach München gerufen wurde und ab 1827 an der Münchener Universität las, konnte Turgenev ihn in all den endlosen Sorgen jener Jahre lange nicht besuchen. Erst im Juli 1832 machte er auf dem Weg aus Russland nach Italien für zwei Wochen Station in der bayerischen Hauptstadt. Um diese Zeit hatte sich der russische Bekanntenkreis Schellings erheblich erweitert. In der zweiten Hälfte der zwanziger Jahre waren junge Russen nach München gekommen, um die Vorlesungen der berühmten Professoren – in erster Linie Schellings – zu hören. Einer von ihnen war Graf Michail Ju. Viel’gorskij (1788–1856), der später ein namhafter Mäzen der Musikwelt werden sollte und Puškin in dessen letzten Lebensjahren nahestand. Von seiner Bekanntschaft mit Schelling erfahren wir aus einem erhalten gebliebenen Brief Viel’gorskijs an den deutschen Philosophen aus dem Jahr 1842.19 Der Absender bekennt darin, dass er Schelling während der Zeit seiner „Lieblingsbeschäftigungen“ viel gelesen habe, und erinnert Schelling an ihre „persönliche Bekanntschaft“, die in München mehr als zwölf Jahre zuvor geknüpft worden war. Seit 1822 befand sich an der russischen diplomatischen Mission in München Fëdor I. Tjutčev, der später berühmt gewordene Dichter. Damals, in den zwanziger Jahren wussten nur wenige von seiner Tätigkeit als Lyriker: Er hatte 1828 erst acht Gedichte veröffentlicht. Tjutčevs starkes Interesse an der deutschen Philosophie und Dichtung musste ihn mit Schelling

17 18 19

Sakulin 1913, Teil  1, S.  345. Der Briefwechsel zwischen Čaadaev und Schelling und ihre weiteren Beziehungen werden in der vorliegenden Arbeit nicht behandelt. Koreneva 2017. S. 380. Handschriftenabteilung der Russischen Nationalbibliothek (Rossijskaja Nacional’naja biblioteka) in St. Petersburg (im Weiteren: RNB). F.  539. Op.  2. Nr. 1577. Der Brief (im Original Französisch) enthielt eine Empfehlung für Vladimir Odoevskij, der nach Berlin gefahren war.

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zusammenführen. Persönliche Bekanntschaft schlossen sie in den Jahren 1827/28.20 Pëtr  V.  Kireevskij betonte in einem Brief an seinen Bruder von Oktober 1829, dass Schelling „Tjutčev sehr lobte“21. Allerdings sind im Ganzen nur wenige Einzelheiten über die Begegnungen und Gespräche Tjutčevs mit Schelling überliefert. Verläßliche Informationen über Schelling drangen zu seinen Moskauer Verehrern erst im Jahre 1829 vor, als Pëtr V. Kireevskij nach Deutschland aufbrach, „Schelling und seine Münchner Sippe zu hören“22. In einem ausführlichen Brief an den Bruder vom 7./19. Oktober schildert Kireevskij seine Begegnung mit Schelling: Ich komme soeben von Schelling zurück. Ich war zu ihm gegangen, um ihn um Erlaubnis zu bitten, seinen Vorlesungen beizuwohnen, und unser Gespräch hat sich fast eine Stunde lang fortgesetzt. An dieser Leistung kannst Du mich erkennen? Das Erstaunlichste ist, daß ich nicht einmal verstummte. Was soll ich dir von Schelling sagen? Du kannst dir das seltsame Gefühl nicht vorstellen, das man im Augenblick erfährt, in dem man endlich das weißhaarige Haupt sieht, das vielleicht das erste seines Jahrhunderts ist, wenn man sich von Angesicht zu Angesicht mit Schelling befindet! […] Oft habe ich von Leuten gehört, die ihn gesehen hatten, daß man nach seinem Äußeren nie auf den Gedanken gekommen wäre zu sagen: das ist Schelling. Ich erwartete einen altersschwachen, kränklichen, grämlichen Greis vorzufinden, unter der Last seines Denkens niedergedrückt, wie manche Portraits Kant darstellen; nun sah ich einen Mann, den man in den Vierzigern schätzen konnte, mittelmäßig groß, weißhaarig und mit eher blasser Hautfarbe, aber ein Herkules nach seiner physischen Stärke, mit klarem, heiterem Antlitz. Hellblaue Augen ein rundliches Gesicht, eine hochgewölbte Stirn, eine etwas aufgestülpte sokratische Nase, eine längere, hervortretende Oberlippe; dennoch sind die Züge schön gezeichnet, und das Gesicht trotz seiner Rundlichkeit ist dürr. Seine ganze Person scheint nur aus Muskeln und Knochen gebildet zu sein. Das Schwierigste ist, den Ausdruck seines Gesichts zu kennzeichnen: es hat nämlich keinen besonderen, sondern alle zugleich. […] Er empfing mich und entschuldigte sich, daß er mich habe warten lassen, und bat mich ins andere Zimmer, das anscheinend sein Arbeitszimmer ist. Während der Unterhaltung konnte ich dort nichts bemerken, außer den auf einem großen Tisch aufgestapelten Papieren und einigen Bücherreihen auf Regalen an der Wand. Als ich den Wunsch äußerte, seinen Vorlesungen beizuwohnen, antwortete er, er wäre glücklich, wenn er mir irgendwie behilflich sein könnte, und bat mich, mich an ihn zu wenden für alles, was in seiner Macht liegen 20 21 22

Am 27. November 1828 schrieb Schelling dem französischen Philosophen V. Cousin: „Ich hatte das Vergnügen, Ihre ersten Vorlesungen in Heften gedruckt zu sehen. Herr Tjutčev übergab sie mir.“ In: Schelling 1870, S. 39 (im Original Französisch). Zit. nach: Geršenzon 1912, S. 101. Nikolaj  M.  Rožalins Worte aus einem Brief an Stepan Ševyrëv vom 12. Oktober 1829 aus Dresden, wo Pëtr Kireevskij auf dem Weg nach München einige Tage verweilte, in: Bartenev 1906, S. 229.

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würde. Er ließ mich auf dem Sofa niedersetzen, selbst saß er mir gegenüber auf einen Stuhl; er fing mit der Frage an, ob ich länger hier zu bleiben gedächte, anschließend sprach er von den Hilfsmitteln, die ich hier finden könnte, von den Kunstsammlungen und Bibliotheken; dann erkundigte er sich über den Zustand der Moskauer Universitätsbibliothek nach dem Brand23 und schickte sich an, mich über Moskau zu befragen, über Loder, den er gekannt hatte24, über die Sprache, in welcher die deutschen Professoren bei uns daheim unterrichten, über das Lateinstudium an der Universität. […] Von der Universität ging er zum Lebensstil der Moskauer über, und er sagte, er stelle sich in Moskau eine große Mannigfaltigkeit in jeder Hinsicht vor, eine Mischung von Prunk und asiatischen Sitten mit der europäischen Kultur. Er stellte einige Fragen über den Stand unserer Literatur; Er habe gehört, sagte er, daß sie schnell fortschreite; ebenfalls habe er erfahren, daß die dramatische Kunst gedeihe, daß es insbesondere vorzügliche komische Autoren gebe; leider konnte ich in diesem letzten Punkt seine Meinung nicht bekräftigen. Dann ging er zum gegenwärtigen Krieg über. „Russland“, sagte er, „ist einem großen Schicksal versprochen, noch nie hat es seine Macht so vollkommen wie jetzt gezeigt; jetzt zum ersten Mal blickt ganz Europa, oder wenigstens alle guten Geister, auf es mit Teilnahme und Wünschen für seinen Erfolg; man bedauert nur, daß seine Ansprüche in der gegenwärtigen Lage vielleicht zu bescheiden sind.“25 Er sprach von den Schwierigkeiten, welche die Ausländer im Studium der russischen Sprache haben, ein Studium, das doch so wichtig wäre, sagte er; er lobte ihren Klang. Er sagte, daß er viel von unserem Žukovskij gehört habe und daß dieser nach all diesen Äußerungen ein hervorragender Mensch sein müsse. […] Als ich mich endlich erhob, um mich zu verabschieden, fragte er nach meinem Namen und sagte, es wäre ihm sehr angenehm, wenn ich ab und zu abends zu Besuch käme, eine Einladung, die er zweimal wiederholte. Das ist vorläufig alles, was ich von den Reden Schellings behalten konnte. Seine Stimme ist mild und tief, seine Redeweise weder langsam noch rasch, und ein bißchen hervorstoßend. Sein Gespräch ist schlicht, lebendig und nicht affektiert: man vergißt unwillkürlich, daß man mit dem großen Schelling spricht; übrigens hat er selbst die Gabe, den Gesprächspartner sich wohlfühlen zu lassen.26

Pëtr Kireevskijs Brief bezeugt anschaulich, welch enormes Interesse Schelling Ende der zwanziger Jahre Russland entgegenbrachte. Es versteht sich, dass er seine Informationen über Moskau, die Moskauer Universität, über Žukovskij usw. in erheblichem Maße den russischen Bekannten verdankt, mit denen er 23 24 25 26

Gemeint ist der grosse Brand im Jahre 1812, der den grӧssten Teil der Stadt sowie die Universität mit ihrer Bibliothek vӧllig vernichtete. Justus Christian von Loder (1753–1832), Professor der Medizin an der Moskauer Universität, hatte 1797 bis 1803 in Jena gelehrt; seit 1810 in Russland. Gemeint ist der Krieg zwischen Russland und der Türkei in den Jahren 1828/29. Russland stärkte in diesem Krieg seine Position auf dem Balkan durch Unterstützung der dortigen nationalen Bewegungen gegen die Türkei. Seine Ansprüche als Sieger blieben maßvoll. Zit. nach: Tilliette 1974, S. 326 ff.

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sich 1825 bis 1829 immer wieder traf (A. Turgenev, Čaadaev, Tjutčev). Offenbar bildete sich nicht zuletzt unter ihrem Einfluss seine Überzeugung heraus, dass Russland „einem großen Schicksal versprochen“ sei, ein Gedanke, den er auch in den nachfolgenden Jahren vielfach wiederholte. Auch in anderen Briefen erzählte Pëtr Kireevskij von seinen Besuchen bei dem deutschen Philosophen. Auszüge aus ihnen erschienen bald in der Presse (Moskovskij vestnik, 1830, Nr. 1, S. 115). Im Übrigen hielt es ihn nicht lange in München: Der Besuch der Vorlesungen enttäuschte ihn und bestärkte nur seine russophilen Neigungen. In einem Brief schreibt er: Erst wenn man in Deutschland war, versteht man völlig die große Bedeutung des russischen Volkes, die Frische und Geschmeidigkeit seiner Begabungen, seine Beseeltheit. Man braucht nur mit einem beliebigen einfachen Deutschen zu sprechen und viermal eine Vorlesung an der Münchener Universität zu besuchen, um sagen zu können, daß die Zeit nicht fern ist, in der wir sie auch in der Bildung überholen werden.27

Im Herbst 1830 nahm Pëtr Kireevskij für immer von München Abschied. Das letzte halbe Jahr lebte er in dieser Stadt zusammen mit seinem Bruder Ivan und ihrem gemeinsamen Freund Nikolaj  M.  Rožalin; die beiden waren ebenfalls gekommen, um Vorlesungen zu besuchen. Rožalin als überzeugten Germanophil und Übersetzer des „Werther“ (1828/29) zog es leidenschaftlich zu deutscher Wissenschaft und Kultur. Seine Briefe an Avdot’ja Elagina, die Mutter der Brüder Kireevskij28, geben die Stimmung seines MünchenAufenthalts wieder; hier aus seinem Brief vom 20. März 1830: Wir waren zweimal bei Schelling zu Hause. Das erste Mal gingen Ivan Vasil’evič und ich nach langem Zögern und mit großer Angst zu ihm, um uns für seine Vorlesung anzumelden, und saßen da etwa fünf Minuten bei ihm, in deren Verlauf er wenig Interessantes sagte oder, besser gesagt, gar nichts. Das andere Mal gingen wir alle drei, uns in seine Liste einzutragen; er war beschäftigt und bot uns nicht einmal an, uns zu setzen, aber gestern rief er uns durch Pëtr Vasil’evič zu sich, der den ganzen Abend mit ihm unter vier Augen zugebracht hatte und uns viele bemerkenswerte Aussprüche mitbrachte. Die deutsche Aufklärung, sagte er unter anderem, entwickelt sich so schnell im europäischen Rahmen, daß es unmöglich ist zu berechnen, wie weit Franzosen, Russen und Deutsche kommen werden, und ihre nationalen Unterschiede in den Wissenschaften werden sich bald vollständig angleichen.29 27 28 29

Zit. nach: Geršenzon 1912, S. 104. Die Bekanntschaft  A.  Elaginas mit Schelling kam offensichtlich im Sommer 1841 in Karlsbad zustande. – Vgl. Anm. 61. Rožalin 1909, S. 596; die folgenden Zitate aus ebenda, S. 599 und 600.

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Im Frühling und Sommer 1830 besuchten Rožalin und die Kireevskijs die Vorlesungen Schellings und bildeten eine Art „russischen Zirkel“ innerhalb der Münchner Studentenschaft. „Die Schellingschen Vorlesungen sind besonders interessant geworden“, teil Rožalin am 8. August 1830 Avdot’ja Elagina freudig mit. Stellen Sie sich den alten Platon vor, gerüstet mit allen Errungenschaften der Wissenschaft seit seiner Zeit, wie er in der poetischsten Sprache die Unsterblichkeit der Seele und die Notwendigkeit, alle Dogmen der Offenbarung anzunehmen, beweist; das ist jetzt Schelling. Wie schade, daß man nicht alle jene Russen in seine Vorlesung führen kann, die ihn fürchten, als wäre er der Antichrist! Er liest abends, und in seinem Kurs erholen wir uns von der oft trockenen Arbeit des ganzen Tages […]. Schelling verhält sich zu uns überaus zuvorkommend. Unlängst war bei ihm eine große Abendgesellschaft, zu der auch wir eingeladen waren. Er empfing uns ausgesucht gut und erwies uns sogar durch seine beständige Aufmerksamkeit und Zuwendung im Gespräch eine gewisse Auszeichnung vor den anderen jungen Leuten, die dort waren.

Rožalin setzt seine Erzählungen über Schelling in einem Brief an die Elagina vom 17. August fort, in welchem es heißt: Haben Sie keine Angst, wir sind hier in keiner schlechten Schule. Schelling bewies uns unlängst sowohl die Unsterblichkeit der Seele als auch alles Übrige, was mit diesem Begriff verbunden ist, so, daß ich keine Einwände fand […]. Manchmal ist er ein wahrer Dichter auf seinem Katheder.

Im Unterschied zu den Brüdern Kireevskij, die in München nur ein Semester verbrachten, blieb Rožalin länger und besuchte die Vorlesungen der deutschen Professoren mit unverminderter Begeisterung. Am 17. November 1830 schrieb er: Unschätzbar – diese deutschen Universitäten. Wofür du dich auch entscheiden magst, du mußt sie einmal besucht haben. […] Ich komme hier aus jedem Kurs mit einer Menge neuer Begriffe oder zumindest Fragen heraus, staunend über das festgefügte Gebäude der deutschen Gelehrsamkeit, ärgerlich über mich selbst, voll Bedauern über das gegenwärtige Russland […]. Schelling ist zur Zeit ungewöhnlich interessant. Er liest über die Philosophie der Mythologie, bisher hat er uns nur die Notwendigkeit dieser Untersuchungen dargelegt, das Verhältnis der Mythologie zur Natur, zur Philosophie, Religion, Geschichte, es gab in diesen beiden Vorlesungsstunden unendlich viel Poetisches. Schade, daß Du das nicht hören kannst. Was er verspricht? Er wird mit der Beantwortung der wichtigsten Fragen – über die Anfänge der menschlichen Gattung, über ihren Urzustand, beginnen.30

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In einem Brief an Stepan Ševyrëv; Bartenev 1906, S. 241.

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Aber auch Rožalins Aufenthalt in München war von kurzer Dauer: 1831 fuhr er nach Italien. Das Leben dieses hochbegabten Philologen und Übersetzers, in welchem seine Freunde den künftigen „russischen Winckelmann“ sahen, nahm 1834 ein tragisches Ende. * Am Abend des 29. Juli 1832 in München angekommen, begab sich Aleksandr Turgenev am folgenden Tag zur Universität, um Schellings Vorlesung zu besuchen. Von 12 bis 1 hörte ich Schelling: über die Philosophie der Offenbarung [im Original Deutsch] und bedauerte, daß Čaadaev nicht dabei war! Welchen Genuß hätte ihm dieser Christ-Genius bereitet, der auf den Weg der Wahrheit zurückgekehrt ist und jetzt Christus in der hohen Philosophie verkündet. Ich wollte, wie gewohnt, das Wichtigste notieren, aber in seinen Worten gibt es so vieles und in diesem Vielen wiederum sind so viele Verknüpfungen angelegt, daß ich fürchtete, das auszulassen, was wichtig als Verbindungsglied zum Vorangegangenen und zum Nachfolgenden ist. Sein Hauptthema heute war: „Das Christentum ist nicht eine Lehre, sondern eine Sache“ [im Original Deutsch]. Schelling erkannte mich, trat zu mir und sagte, daß er sich schon bei vielen über mich erkundigt habe, daß er mir mit irgendwem zusammen über irgend etwas geschrieben habe; aber ich habe keine Briefe erhalten, er lud mich ein […]. Er hat außer zwei oder drei Aufsätzen und der Broschüre über die Entdeckung von Faraday [„Über die neue Entdeckung von Faraday“ erschien 1832] seit Karlsbad nichts geschrieben; er ist zu sehr beschäftigt; er ist grau geworden, aber kaum gealtert; ich habe ihn über 5 Jahre nicht gesehen; er zeigte mir einige Teile der Universität, die zusammen mit der Akademie der Wissenschaften in einem Gebäude untergebracht ist. Ich kehrte mit einem Studenten zurück, der mir riet, bei Schubert und Görres31 zu hören; aber ihre Vorlesungszeiten hatte ich mir schon notiert. Schellings Frau ist von ihrer – nach Meinung der Ärzte – unheilbaren Krankheit vollkommen genesen und hat seitdem schon eine Geburt hinter sich: nicht umsonst sprach zu uns der Naturphilosoph [deutsch] Schelling über den Sprudel mit einer gewissen heidnischen Begeisterung, als er die geheimen, im Schoß der Erde verborgenen Kräfte und Eigenschaften jener Quelle aufzählte: Ja, ich erinnere mich, daß er uns damals begeistert erschien, – das war die Dankbarkeit gegen Gott oder damals eher noch – gegen die Natur.32

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Gotthilf Heinrich Schubert (1780–1860), Natur- und Geschichtsphilosoph, seit 1827 Professor in München; Johann Joseph Görres (1776–1848), seit 1827 Professor für Geschichte in München, Vertreter des politischen Katholizismus. Die Tagebücher Aleksandr I. Turgenevs befinden sich in der Handschriftenabteilung des Instituts für russische Literatur (Puškinskij Dom) in St. Petersburg. Alle Materialien des Turgenevschen Archivs werden hier wie im Weiteren zitiert nach: Azadovskij, Ospovat 1988.

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Der weitere Aufenthalt Turgenevs in München, der insgesamt zwei Wochen dauerte, war angefüllt mit Museumsbesichtigungen, Spazierfahrten ins Grüne und – mit neuen Bekanntschaften (die Philosophen und Theologen Franz von Baader, Johann Joseph Gӧrres33 und Gotthilf Heinrich Schubert, der Maler Peter Cornelius, die Kunstgelehrten und -Sammler Sulpiz und Melchior Boisserée und andere). Die meisten Gespräche jedoch führte er mit Schelling, der, wie aus den Tagebuchaufzeichnungen deutlich wird, eine außerordentliche Sympathie für seinen russischen Freund empfand. Schon am folgenden Tag, den 31. Juli, sagte Schelling zu Turgenev bei einem Besuch in dessen Hotel: „Ich habe sonst Niemand hier wie Sie. Sie verstehen …“ [im Original Deutsch], Schelling sprach gern mit ihm über seine Ansichten, seine Eindrücke vom Leben in München. Am 31. Juli notiert Turgenev: Er lobt den König, aber er sagt, daß er das Mönchtum fördere, weil er in ihm die Geschichte sehe, er baue den Franziskanerorden wieder auf, weil dieser dem bayerischen Haus einmal irgendwelche Dienste erwiesen habe; übrigens versuche er sich von den Jesuiten fernzuhalten und möge sie nicht; aber das Historisch-Poetische ist in ihm vorherrschend [im Original deutsch]. „Auch über Sie schreibt man, Sie seien zur katholischen Kirche übergetreten“, sagte ich zu ihm. „Und das nicht das erste Mal“, antwortete er. „Aber ich hüte mich vor Geistlichen in meinen Vorlesungen und wählte absichtlich eine Zeit, die für Seminaristen ungünstig liegt.“ Auch Professoren kommen in seine Vorlesungen, aber er sagt allen, sie seien für normale Hörer gedacht und für niemand sonst. Er lud mich zu einem Abendspaziergang ein. – Tjutčev kam zu mir, wir plauderten über Schelling und die anderen: ein gebildeter Russe, hat viel gelesen und spricht gut […].34

Worüber unterhielten sich Schelling und Aleksandr Turgenev? Die Tagebücher des letzteren geben auf diese Frage eine erschöpfende Antwort. Schelling erzählte seinem russischen Bekannten vom Leben in München, von seinen Veröffentlichungsplänen, beklagte sich über Hegel („Hegel und die Berliner greifen bei ihm heraus, was hervorsticht, er wird dies als nicht ihm gehörig zurückweisen“), gibt interessante Einschätzungen seiner Zeitgenossen – Baader, Bouterwek, Eichhorn und anderer.35 Ausführlich diskutierte man über 33 34 35

Zu Begegnungen A. I. Turgenevs mit Baader und Gӧrres sieh: Asadowski 1998; Azadovskij 1999. Dies war die erste Begegnung zwischen Aleksandr Turgenev und Fëdor Tjutčev. Vgl. ausführlicher: Azadovskij, Ospovat 1989. Friedrich Bouterwek (1766–1828), Philosoph und Literaturhistoriker; ab 1797 Professor in Göttingen. Durch seine mehrfach aufgelegte „Ästhetik“ gewann Bouterwek Einfluss auf die Romantik. – Karl Friedrich Eichhorn (1781–1854), Begründer der historischen Schule in der deutschen Rechtswissenschaft.

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aktuelle politische Probleme. Am  11. August, dem Vorabend seiner Abreise aus München, suchte Turgenev Schelling und seine Familie in Hesselohe auf, dem Sommersitz, auf dem sich der Philosoph gern aufhielt. Mit ihm waren an diesem Tag zu Gast bei Schelling G. H. Schubert, der Schulreformer Friedrich Immanuel Niethammer, Melchior Boisserée und andere. Nach dem Mittagessen ging ich mit Schel[ling], Niet[hammer] und Schub[ert] in den Wald, und wir kamen an der Isar wieder heraus, wo sie noch reizvoller ist. Schel[ling] war begeistert von der Wildheit der Natur und wünschte sich, für immer hier leben zu können: Nichts wünsche er sich so sehr, wiederholte er mehrfach, wie der Besitzer von Hesselohe zu sein. Ich liebe diese Wildheit der Natur; er lebt hier 1 ½ Monate im Sommer. Wir kamen zu dem Punkt, von dem aus die Isar bis in weite Feme zu sehen ist und mit ihren Windungen in der Feme scheinbar einen neuen See bildet, dahinter ein altertümliches Schloß, in dem jetzt eine Pulverfabrik untergebracht ist. Ein wunderschöner Ausblick, und meine Philosophen waren von ihm entzückt!

Turgenev erzählte seinerseits Schelling über Russland und die politische Lage, die dort nach der Zerschlagung der Dekabristenbewegung entstanden war. Diese Behauptung kann man mit großer Sicherheit aufstellen, weil all sein Sinnen und Trachten zu jener Zeit dem Schicksal des Bruders galt. In Aleksandr Turgenevs Tagebuch finden sich keine Erwähnungen von Gesprächen solcher Art – offenbar vermied der politisch vorsichtige Turgenev, Einzelheiten, die im Zusammenhang mit dem Namen seines Bruders standen, schriftlich festzuhalten. Mit keinem Wort wird in seinem Münchener Tagebuch jener Zeit Puškin erwähnt. Dabei hatte sich Aleksandr Turgenev im Sommer 1832 gerade erst in Petersburg von dem Dichter verabschiedet und stand noch unter dem starken Eindruck seiner jüngsten Begegnungen und Gespräche mit ihm. Am 11. August 1832 schrieb er dem Bruder aus München über den letzten Teil des „Evgenij Onegin“, in dem die „Empörung von 1825“ beschrieben wird, und zitierte die „unsterblichen“ Zeilen, die Nikolaj Turgenev gewidmet sind.36 Es ist kaum anzunehmen, dass er den Namen des Dichters, der sein Denken damals so stark einnahm, im Gespräch mit Schelling (in dessen Gesellschaft er am gleichen Tag, dem 11. August, den Spaziergang ins Grüne unternahm!) nicht erwähnte. Wie aus Aleksandr Turgenevs Notiz vom 30. Juli und auch seiner Korrespondenz hervorgeht, sprach er mit Schelling über Čaadaev. (Die Rolle Al. Turgenevs als Mittler zwischen Čaadaev und den westeuropäischen Denkern 36

Maksimov 1974, S. 369–371.

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der dreißiger und vierziger Jahre ist allgemein bis heute kaum erforscht; das gilt auch für das Thema „Čaadaev-Schelling“). Außerdem erzählte er ihm über Žukovskij, von dem der Philosoph schon früher durch gemeinsame Bekannte gehört hatte. Er sprach besonders über die Rolle Žukovskijs als Erzieher des Thronfolgers, über das Bestreben des Dichters, seinem Zögling eine breitgefächerte europäische Bildung zuteil werden zu lassen und einen aufgeklärten Monarchen aus ihm zu machen. Während seines Aufenthaltes in Göttingen im Juni 1832 hatte sich Turgenev auf Bitten Žukovskijs hin mit dem bekannten deutschen Historiker Arnold Heeren über die Ausbildung des Thronfolgers beraten, war aber mit dem Ergebnis des Gesprächs unzufrieden gewesen. In München sprach er dann mit Schelling und teilte Žukovskij am 12. August 1832 mit: Schelling könnte das schreiben, was Du von Heeren wolltest, er übertrifft ihn in allem, vielleicht sogar in Geschichte, und hat sich lange mit Schulbildung und Lehrmethoden für Bayern beschäftigt. Wenn Du hierherkommst, mache Dich unter Berufung auf mich mit ihm bekannt und gib ihm den Auftrag. – Aber auch er ist sehr beschäftigt.

München lag jedoch nicht auf Žukovskijs Reiseroute, und so ist es zu einer Begegnung zwischen dem russischen Dichter und dem deutschen Philosophen nicht gekommen. Die große Sympathie Schellings für Turgenev war höchstwahrscheinlich nicht allein den persönlichen Eigenschaften seines interessierten, hochgebildeten, glänzenden Gesprächspartners zuzuschreiben. Schelling durchlebte damals eine schwere Zeit. Obwohl er in München leitende akademische Funktionen ausübte, obwohl er ein weithin berühmter Professor und Gelehrter war, fühlte er sich in gewisser Hinsicht isoliert. Es gelang ihm in München nicht, eine eigene Schule zu gründen. Seine Polemik mit Hegel nahm an Schärfe zu, Baaders Intrigen hinter den Kulissen, das Misstrauen klerikaler Kreise gegenüber seiner Philosophie – dies alles verärgerte und bedrückte ihn. Anhänger und Verehrer seiner Lehre fand er häufiger unter den nach Deutschland gereisten Russen als unter seinen deutschen Hörern. Dass ihm der Umgang mit Russen, die ihm den hohen Wert seiner philosophischen Ideen und deren Popularität in Russland bestätigten, wertvoll war, ist unter diesen Umständen ganz natürlich. Nachdem Aleksandr Turgenev München verlassen hatte, traf er einen Monat später erneut in Venedig mit Schelling und dessen Frau zusammen. Von dort schrieb er seinem Bruder am 1. Oktober 1832:

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Schellings russische Gesprächspartner Gestern fuhr auch Schelling wieder heim. Wir haben uns oft gesehen und unterhalten, obwohl er seine gesamte Zeit Venedig widmete, von dem er begeistert ist […]. Auch die venezianische Schule hat er sich gründlich angesehen.37

Im Frühjahr 1834 kam Aleksandr Turgenev wiederum nach München, wo er mehr als einen Monat blieb. Auch diesmal war sein Hauptgesprächspartner Schelling. „Ich gehe fast täglich mit Schelling im Hofgarten spazieren, er spricht gern über alles“, erzählt er am 14. April 1834 dem Bruder (im Original Französisch). Seinem Vetter Ivan S. Arževitinov teilte er am 27. April 1834 mit: Ich tanzte Walzer mit der Tochter des ersten Denkers unserer Zeit.38 Auch der Philosoph war auf dem Ball. […] Morgen fängt er seine Vorlesung an, ich werde drei Stunden mithören können, denn ich fahre am 1. Mai.

In Turgenevs Tagebüchern haben sich kurze Zusammenfassungen der Schellingschen Vorlesungsstunden erhalten. Gegenüber dem Bruder äußerte er am 30. April: Ich hörte die beiden ersten Vorlesungsstunden Schellings, morgen werde ich die dritte und letzte hören: über die Mythologie; erstaunlich, wie interessant seine Ansichten [das letzte Wort im Original Deutsch] sind.

Die Begegnungen und Gespräche zwischen Aleksandr Turgenev und Schelling wurden viele Jahre später in Berlin fortgesetzt; das letzte fand im August 1845 statt. Außerdem standen beide während der zwanzigjährigen Dauer ihrer Beziehungen in brieflichem Kontakt. Bekannt sind etwa sechs Briefe Turgenevs an Schelling und zwei Schreiben Schellings (von 1833 und 1845) an seinen russischen Freund39; im zweiten schrieb der Philosoph (aus Karlsbad, am 3. August): Ich kann Ihnen nicht sagen, wie ich nach Ihrem Umgang mich schon oft gesehnt habe. Je älter wir werden, je tiefer uns Erfahrungen und Denken belehrt hat, desto seltener werden für uns diejenigen, mit denen wir zu leben wünschen, weil wir uns innerlichst und im Wesentlichen übereinstimmend fühlen.40

37 38 39 40

Handschriftenabteilung des Instituts für Russische Literatur (Puškinskij Dom), F.  309, Nr. 350, Bl. 166. Gemeint ist Karoline Schelling (1816–1909), verh. Zech (seit 1837), die älteste Tochter des Philosophen. Rezvych 2008. Zit. nach: Gulyga 1984. Zwischen den Seiten  192 und 193 befindet sich eine Fotoreproduktion des deutschen Brieftextes.

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Diese Worte ziehen gleichsam das Resümee einer langjährigen Freundschaft. * Bei der Aufzählung der Russen, mit denen Schelling in München kommuni­ zierte, darf man Fürst Ivan  S.  Gagarin (1814–1882) nicht vergessen. Der junge russische Diplomat (später ein Jesuitenpater), der 1833 als Attaché der russischen Mission in der Hauptstadt Bayerns eintraf, kam bald in Kontakt mit Tjutčev, der ihn offenbar mit dem Philosophen bekannt machte. Ihr enger Austausch begann zwischen 1833 und 1834; es besteht kein Zweifel, dass Gagarin Schellings Vorlesungen besuchte. Eine Nachricht Schellings an Gagarin ist überliefert, nämlich eine Einladung auf eine Tasse Tee in Gesellschaft von mehreren Professoren und französischen Gelehrten.41 Richard Tempest berichtet: Schelling war es, der Gagarin im Jahr 1833 zum ersten Mal von P. Čaadaev erzählte; Letzterer spielte später eine wesentliche Rolle in Gagarins Schicksal und lenkte die Gedanken des zukünftigen Mitglieds der Jesuiten zum Katholizismus. […] Der neunzehnjährige Gagarin, ein enthusiastischer und aufgeschlossener junger Mann, spürte den Reiz dieses Intellekts voll und ganz; er war beeindruckt von der enormen Tragweite von Schellings „Philosophie der Offenbarung“. Aus dem Tagebuch des jungen Diplomaten kann man jedoch schließen, dass er kein ‚Schellingianer‘ geworden ist. Ivan Gagarin wählte einen anderen Weg – die Offenbarung, die ihn erwartete, war eine andere.42

Zu den glühendsten Verehrern Schellings in Russland gehörte Anfang der zwanziger Jahre Michail P. Pogodin (1800–1875). N. Barsukov, der Biograph des Historikers, bemerkt, dass die Begeisterung für die Philosophie Schellings „bei Pogodin wuchs und wuchs, bis sie die Höhe von Herkulessäulen erreichte“43. Schon der junge Pogodin träumte von einer Reise zu Schelling, träumte davon, sich dem Philosophen vorzustellen und ihn zu bitten, dass er „ihn aufklärt und rüstet zum Nutzen des gesamten Nordens“. „Ich bin ein guter Mensch“, wollte er zu ihm sagen, „und liebe die Wissenschaft, erleuchten Sie mich. In mir regt sich stark das Bedürfnis, mich der Philosophie zu widmen.“44 Besonders fesselnd erschien Pogodin Schellings Gedanke, dass „Gott die Seele des Universums“ sei. 41 42 43 44

Tempest 1996, S. 26. Ebenda. Barsukov 1888, S. 280. Zit. nach: Barsukov 1888. Es werden Auszüge aus den Tagebüchern Pogodins von 1824 angeführt.

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Sein Traum von einer Begegnung mit Schelling erfüllte sich erst erheblich später. Im Sommer und Herbst 1835 reiste er durch Deutschland und ÖsterreichUngarn. Fast in jeder Stadt, in der er haltmachte, suchte der Gelehrte das Gespräch mit seinen deutschen Kollegen. Auf dem Weg von Augsburg nach Wien hatte er einige Stunden Aufenthalt in München. Zwischen An- und Abreise der Kutsche lag ein Zeitraum von sechs Stunden. Ich stürmte zu Schelling. Er war im Sommerhaus; ich dorthin, traf ihn auf einer großen, schönen Allee zwischen der Stadt und dem Sommerhaus, im Hintergrund die Tiroler Schneeberge. Ich sprang aus der Kalesche und sagte zu ihm: „Ich bin ein russischer Pilger und komme, mich vor Ihnen zu verneigen.“ Er empfing mich sehr liebenswürdig, fragte nach meinem Namen, und als er erfuhr, daß ich von der Moskauer Universität komme, wollte er von mir etwas über den Philosophieunterricht erfahren. Ich erzählte sofort von den geistlichen Akademien und sagte ihm, daß dort die Philosophie in Blüte stehe und daß der größte Teil seiner Werke in Manuskriptform übersetzt vorliege. „Es wäre mir sehr angenehm, wenn mein letztes Werk, das in diesem Winter erscheinen wird, ins Russische übersetzt würde: die Philosophie der Mythologie.“ Danach wird die Philosophie der Offenbarung folgen und dann – die Weltalter. Letzteres wird ein Werk metaphysischen Inhalts sein, im ersten wird es viel Historisches geben. Schelling fragte mich allgemein über die Fortschritte der Bildung in Russland, und ich antwortete mit Stolz, daß wir im letzten Jahr 6000 Schüler mehr hatten und 90 neue Lehranstalten eingerichtet worden sind. – Schelling ist sehr zuvorkommend. Er ist ganz ergraut, aber frisch und munter, spricht abgehackt und doch fest; seine Physiognomie hat etwas Sokratisches und hinterläßt einen starken, doch angenehmen Eindruck.45

Es fällt auf, dass fast alle Russen, die Schelling begegneten, nach dem Schicksal seiner neuesten Arbeiten fragten. Čaadaev, Aleksandr Turgenev, die „Weisheitsfreunde“ und viele andere russische Schellinganhänger kannten, strenggenommen, nur die frühen, schon seit langem erschienenen Werke, welche die Herausbildung der russischen romantischen Philosophie und Ästhetik stark beeinflusst hatten. So nimmt es nicht wunder, dass alle ungeduldig warteten, in welche Richtung sich die Ideen des von ihnen hochgeschätzten Philosophen entwickeln würden. Schelling arbeitete gerade in den dreißiger Jahren intensiv an der Herausgabe des „theosophischen“ Teils seines Systems, über das er den Gästen aus Russland gern erzählte. (Wie bekannt, gelang es ihm

45

Pis’mо ordinarnogo professora Moskovskogo universiteta Pogodina k g[ospodinu] Ministru narodnogo prosveščenija, iz Germanii, ot 15 sentjabrja 1835 g [Brief des ordentlichen Professors an der Moskauer Universität Pogodin an den Herrn Minister für Volksaufklärung, aus Deutschland vom 15. September  1835]. In: Žurnal ministerstva narodnogo prosveščenija, 1836, čast’. XI, ijul’–sentjabr’ [Teil XI, Juli – September], S. 207.

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aus verschiedenen Gründen zu Lebzeiten nicht, seine „positive Philosophie“ zu veröffentlichen.) Fast gleichzeitig mit Pogodin reiste der Schriftsteller und Diplomat Vladimir P. Titov (1807–1891), der in seiner Jugend zu den „Ljubomudry“ gehört hatte, durch deutsche Länder. Auf dem Wege nach Konstantinopel besuchte er eine Reihe deutscher und italienischer Städte, darunter das „praktische“ Berlin und das „ästhetisch-theoretische“ München.46 Am 16. März 1836 schrieb er an Vladimir Odoevskij aus Pera, einem Vorort von Konstantinopel: In München lernte ich persönlich Schelling, Görres, Baader und die übrigen kennen. Geheimrat von Schelling [im Original Deutsch] gibt sich ganz als Geheimrat und ist seinen Mitbrüdern unerträglich, dennoch ist er meiner Ansicht nach klüger als alle; als ich dort war, begann er seine Vorlesung über die Mythologie, welche er nicht als ein Gemisch von Allegorien und verdrehten historischen Fakten versteht, sondern als eine eigentümliche, unwillkürliche Schöpfung des menschlichen Geistes. Er arbeitet an einem Werk über die Philosophie der Theologie, aber viele meinen, daß er es kaum jemals veröffentlichen wird; es ist ein zu weites Feld, und er hat sich erst in vorgerücktem Alter daran gemacht, es zu bestellen. Schellings Unterricht zeichnet sich durch eine fast französische Klarheit und Schärfe aus. […] Berichte das alles Serbinovič47, den interessiert, was in München los ist, und füge hinzu, daß Schelling der Protestant geblieben ist, der er war, auch wenn er den Protestantismus für unzulänglich hält. Während meines Aufenthalts war von keiner Publikation unter Schellings Aufsicht die Rede; er ist zu beschäftigt, als daß er sich auf journalistische Unternehmungen einlassen würde. Auch danach hat Serbinovič gefragt.48

Titov war sehr zufrieden mit seinen Begegnungen: „Mitteilsame, offene und liebenswürdige Leute“ seien die deutschen Gelehrten. Deutschland erinnerte ihn an einen ehrenwerten Greis, der sich aber auf seine alten Tage manchmal in Phantasien verliert, an der Krücke geht, die Pantoffeln schlurfend nachzieht und seine Gebrechlichkeit selbst empfindet.49

46 47 48 49

Vladimir P. Titov an Vladimir F. Odoevskij, 16. März 1836. RNB. F. 539. Op. II. Nr. 1063, Bl. 18. Gemeint ist Konstantin  S.  Serbinovič (1796–1874), ein hoher Petersburger Beamter, Redakteur des Žurnal Ministerstva narodnogo prosveščenija, mit Žukovskij, Puškin, A. I. Turgenev und anderen bekannt. RNB. F. 539. Op. II. Nr. 1063. Bl. 19. Der Brief ist zum Teil veröffentlicht in Sakulin 1913, Teil 1, S. 334–338. RNB. F. 539. Op. II. Nr. 1063. Bl. 19v.

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Im Herbst 1836 erschien in München ein weiterer russischer Reisender – Nikolaj A. Mel’gunov (1804–1867), Schriftsteller und Übersetzer; auch er hatte seinerzeit den „Weisheitsfreunden“ nahegestanden. In den dreißiger Jahren wurde er ein leidenschaftlicher Germanophile und versuchte auf jegliche Weise die Annäherung zwischen der russischen und der deutschen Literatur zu fördern. Auf Grundlage seiner mündlichen Informationen gab der deutsche Literat Heinrich Joseph König 1837 „Litterarische Bilder aus Rußland“ heraus, ein Buch, das kontroverse Diskussionen auslöste. Mel’gunov schrieb am 4. April 1840 an Varnhagen von Ense: Ich bin ein Pläneschmied, und darin liegt meine Schwäche. Aber mich rechtfertigt mein aufrichtiger Wunsch, Deutschland mit Russland und der russischen Literatur bekannt zu machen.50

Wie Mel’gunov in seinen Briefen nach Russland bedauernd mitteilte, gelang es ihm in München nicht, Schelling zu treffen. An Stepan Ševyrëv schrieb er am 12. August 1836, dass er vorhabe, „sich in der fröhlichen Gesellschaft der Tjutčevs, Gagarins u. a.“ am Tegernsee zu erholen. Gagarin und Tjutčev empfingen mich bestens, ich bin oft bei ihnen, und Tjutčev bei mir. Morgen brechen wir alle zusammen auf. Schelling ist nicht hier; mit Baader, Görres, Boisserée, Cornelius, Schwanthaler u. a. habe ich mich ohne Empfehlungsschreiben bekannt gemacht, aber jeweils nur kurz. Alle sind liebenswürdige, gute Leute. […] Schade, daß Schelling nicht da ist. Was seine eigenen Freunde über ihn reden, ist unendlich bedauerlich: Aus allem wird deutlich, daß seine Zeit abgelaufen ist und von ihm nichts mehr zu erwarten ist.51

Schließlich gelang es Mel’gunov, Schellings Aufenthaltsort zu erfahren, der sich in jenen Monaten für wissenschaftliche Arbeiten nach Augsburg zurückgezogen hatte. In Vorbereitung auf die Begegnung versorgte sich Mel’gunov mit Grüßen von gemeinsamen Bekannten – Sulpiz Boisserée, dem Diplomaten Grigorij I. Gagarin und Fëdor Tjutčev („zwei Freunde Schellings, wiewohl von verschiedener Art und Stufe der Freundschaft“52, merkt Mel’gunov zu den 50 51

52

RNB. F. 865. Nr. 134. Bl. 20 (Original Französisch). RNB.  F.  850. Nr.  370, Bl. 38v. Boisserée – gemeint ist Sulpiz Boisserée, in dessen Tagebuch sich unter dem Datum  21. Sept. 1836 die Notiz findet: „Langer Besuch Mr. de Melgounoff zudringlicher Moscowit – Schellings Hefte etc.“ (Boisserée 1983, S.  158.) – Grigorij I. Gagarin (1782–1837), russischer Botschafter in München 1833–1837; – Ludwig von Schwanthaler (1802–1848), bevorzugter Bildhauer Ludwigs I. Mel’gunov 1839, S.  120. Die deutsche Übersetzung nach Tilliette 1974, S.  392, folgt hier wie im Weiteren der unter Mel’gunovs Mitwirkung für die Zeitschrift „Europa“ erstellten deutschen Fassung des Textes. – Vgl. Anm. 57.

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beiden letzteren an). Er fand heraus, dass Schelling in einem Gasthaus am Stadtrand wohnte, und schickte ihm seine Visitenkarte. Schelling ging bereitwillig auf ein Treffen ein und suchte selbst Mel’gunov auf, was diesen in nicht geringes Erstaunen versetzte: […] warum bezeigt Schelling mir, den er ja nicht kennt, so viel Ehre, und übertritt nicht nur sein Gelübde der Einsamkeit, sondern macht selbst einen Gang zu mir? Ich suchte die Erklärung in meiner Visitenkarte. Ich bin ein Russe, und wir Russen sind in Deutschland sehr geschätzt53 […] Ich weiß, daß Schelling, im Gegentheil von Görres, einen hohen Begriff von Rußland hat, von dem er noch große Verdienste um die Menschheit erwartet. – Außer diesem wichtigen Grunde des mir von Schelling bewiesenen Vorzugs, fand ich noch zwei andere. Einen in einer unbedeutenden, im Russischen sogar unübersetzbaren, in Deutschland aber nicht unwichtigen Partikel „von“, die auf der Visitenkarte vor meinem Namen stand; den andern in den Worten der Karte: „aus Moskau“, einmal weil er diese Stadt als wahre Stellvertreterin Rußlands ansieht, und dann, weil er weiß, daß man sich dort sehr mit seinem System beschäftigt.54

Mel’gunovs Artikel, der in den Otečestvennye zapiski [Vaterländische Annalen] erschien, war eigentlich der erste, der die russischen Leser ausführlich über Schelling informierte. Mel’gunov beschrieb in lebhaften Farben Schellings Erscheinung, sein Gesicht und sein Äußeres, erzählte über die schwierige Lage, in welcher sich der Philosoph seit seiner Übersiedlung nach München befand, wies auf das Schicksal des „Schellingschen Systems“ hin, das den ständigen Angriffen der Hegelschule ausgesetzt war, usw. Sein Gespräch mit Schelling (das im Ganzen von kurzer Dauer war) berührte auch das System der „positiven Philosophie“, an dem der Philosoph gerade arbeitete. Zum großen Teil aber war es Russland und den Russen gewidmet. Ich sprach nun von Rußland, von Moskau, von der Liebe unserer studierenden Jugend zur deutschen Philosophie, und namentlich zu seinem frühen System, indem ich zugleich das Bedauern ausdrückte, daß sein neues System bei uns noch so wenig bekannt sey. – Schelling erwiderte, daß es ihm sehr willkommen seyn würde, mit Rußland in ein intellectuelles Bündnis zu treten; er habe immer gewünscht, die Russen möchten seine Vorlesungen mehr und mehr besuchen. Ich rief ihm einige seiner früheren Hörer in Erinnerung; er fragte mich nach Pogodin, der ihn ein Jahr zuvor besucht hatte. „Ich habe gehört, daß Herr Pogodin irgend ein Werk über Geschichtsphilosophie herausgegeben hat oder herausgibt.“ (Schelling meinte wahrscheinlich die „Historischen Aphorismen“

53 54

Hier weicht die russische Fassung von der deutschen ab: „Ich bin ein Russe, und Schelling liebt Russland und die Russen.“ Mel’gunov 1839, ebenda. Mel’gunov 1839, S. 121 f.; deutsche Übersetzung: Tilliette 1974, S. 393.

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Schellings russische Gesprächspartner Herrn Pogodins.) „Ich bedauere“, sagte Schelling, „daß ich kein Russisch lese; es wäre mir interessant, dem Gange ihrer jungen und frischen Cultur zu folgen“. Er fragte mich auch nach Turg[enev], mit welchem er vor einigen Jahren eine Reise nach Venedig gemacht hatte; nach Č[aadaev] und einigen andern russischen Bekannten. Man sah wohl, wie angenehm es ihm war zu erfahren, welchen Anteil man bei uns an seinen philosophischen Arbeiten nimmt.55

Mel’gunov, der sich mit Schelling hauptsächlich auf Französisch unterhielt, merkte an, dass Schelling sich in dieser Sprache „geläufig und richtig“ verständige, „wiewohl mit ziemlich deutschem Akzent“. Seine Neugier verwandelte sich mehr und mehr in Sympathie. Im Laufe des Gesprächs wurde Schelling immer einfacher in seinen Worten, wie in seinen Manieren. Denn, wie gesagt, erschien er anfangs mit dem Anstrich eines deutschen Höflings, mit dem Aufwande verfeinerter Weltmanier und Artigkeit. Aber schon nach fünf Minuten löste sich diese Hülle, und Schelling erschien endlich vor mir in seiner ganzen genialen Einfachheit.56

Im selben Jahr, als Mel’gunovs Aufsatz über Schelling in Russland und in Deutschland bekannt wurde,57, kam Stepan P. Ševyrëv nach München, wo er sich mit allen berühmten Professoren bekannt machte. Am engsten schloss er sich Baader an, der damals ebenfalls große Hoffnungen auf Russland setzte und in der orthodoxen Kirche die Zukunft der christlichen Welt sah. Doch Schellings Vorlesungen konnte Ševyrëv nicht besuchen. Im Herbst 1839 las der Philosoph nicht an der Universität, sondern lebte seiner Gewohnheit nach außerhalb der Stadt in Neuhaus, wo ihn auch sein Gast aus Russland besuchte. Ševyrëv berichtet in einem offiziellen Schreiben an den Minister für Volksaufklärung S. S. Uvarov: Ich besuchte Schelling in seinem bescheidenen Obdach. Er hieß mich mit ebender Freundlichkeit willkommen, mit der er Russen allgemein zu empfangen pflegt, denn er empfindet für sie eine tiefe Sympathie. Mit dem Ausdruck besonderer Verbundenheit sprach er über seine Beziehungen zu Eurer Exzellenz und erinnert sich dankbar daran, daß Sie ihm einmal eine Expreßsendung mit dem Katalog der östlichen Manuskripte schickten. Der erste Band seines neuen 55 56 57

Mel’gunov 1839, S. 125. Der letzte zitierte Absatz ist in der deutschen Fassung (Tilliette 1974, S. 396) leicht gekürzt; deshalb folgt die Übersetzung an dieser Stelle dem russischen Original. Mel’gunov 1839, S. 128; Tilliette 1974, S. 399. Er wurde von Heinrich Joseph König zusammen mit Mel’gunov für den Druck vorbereitet und mit einigen Berichtigungen in der Zeitschrift Europa. Chronik der gebildeten Welt, 1839, Bd. 4, S. 145–161, abgedruckt. Es ist glaubhaft belegt, dass sein Inhalt den heftigen Unmut Schellings hervorrief.

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philosophischen Systems war, wie man mir sagte, schon ganz gedruckt und bereit zur Auslieferung, er hat ihn aber zurückgehalten; manche sagen, weil er seine Arbeit noch nicht als ausgereift betrachtet; er selbst verweist auf den Mangel an Zeit, der ihm durch seine vielfältigen Beschäftigungen entsteht. […] Ich sprach von der Erwartung der Generation, die unter dem Einfluß seiner Philosophie aufgewachsen und mit ihm durch Vorahnung bei der großen Aufgabe angelangt ist: der unausweichlichen Versöhnung der Philosophie mit der Religion. Er war für meine Worte empfänglich und sagte mit großem Selbstbewußtsein: „Ich bin überzeugt, daß meine russischen Freunde mit mir zufrieden sein werden.“ […] Er verspricht, in seinem System einen Blick in die Zukunft der Menschheit zu richten, soweit dies dem menschlichen Verstand möglich ist. In die Pläne für diese Zukunft ist auch Rußland eingeschlossen, von dem er eine große Entwicklung besonders in religiöser Beziehung erwartet. Begegnung und Gespräch mit Schelling bleiben mir für immer in Erinnerung: Seine großen hellblauen, durchdringenden, allumfassenden Augen sind das Erstaunlichste an seiner Physiognomie.58

„Schade für dich, wenn Schelling nicht lesen wird“59, bedauerte Nikolaj Mel’gunov seinen engen Freund Ševyrëv, der sich damals in Hanau aufhielt. Zugleich bat ihn Mel’gunov inständig, in München Mitschriften von den Vorlesungen Schellings aufzutreiben – zur Weitergabe an Ivan Kireevskij, der sich zu jener Zeit darauf vorbereitete, eine Vorlesung über Schellings Philosophie an der Moskauer Universität abzuhalten. Zugleich äußerte er: Aber Rußland braucht nicht Schel[ling], sondern etwas anderes. Iv[an] Kireev[skij] stellt vielleicht mit der Zeit sein eigenes System vor, ein neues Glied in der Kette der christ[lichen] Systeme, welches sich auf das Glied des Schellingschen Systems stützen würde. Aber offen gesagt, ich traue das Kireevskij nicht ganz zu, denn er ist in die Extreme vornikonscher Rechtgläubigkeit verfallen und hält zu sehr am Buchstaben fest. Lassen wir die Zeit darüber entscheiden, aber auch selbst sollten wir nicht untätig sein.60

Dieses Urteil ist charakteristisch für Mel’gunov, denn er nahm während der vierziger Jahre in dem beginnenden Streit zwischen Slavophilen und Westlern eine mittlere, gemäßigte Position ein. *

58 59 60

Žurnal Ministerstva narodnogo prosveščenija, 1840, čast’. 25, otdel 4, S. 3 ff. Mel’gunov an Ševyrëv, 18. Oktober 1839. RNB. F. 850. Nr. 370, Bl. 86v. Mel’gunov an Ševyrëv, 6. Januar 1840. Ebenda, Bl. 90. – Nikon, russischer Patriarch, reformierte Mitte des siebzehnten Jahrhunderts Riten und Texte der russisch-orthodoxen Kirche.

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Im Herbst 1841 folgte Schelling einer Einladung des preußischen Königs Friedrich Wilhelm IV. nach Berlin und übernahm an der Universität den Lehrstuhl für Philosophie, der seit dem Tode Hegels verwaist war. Seine Antrittsvorlesung am 15. November  1841 zog allgemeine Aufmerksamkeit auf sich und wurde zu einem beachteten gesellschaftlich-kulturellen Ereignis. Es waren einige russische Studenten anwesend, unter ihnen Michail  A.  Bakunin und Michail N. Katkov, dessen Mitteilungen über diese Vorlesung Schellings bald in der russischen Presse erschienen.61 Ein Jahr darauf, als Katkov nach Russland zurückgekehrt war, lernte ihn der junge Friedrich Bodenstedt, der später bekannte Dichter und Übersetzer, kennen, der damals als Deutschlehrer bei der Familie des Fürsten Michail M. Golicyn in Moskau wohnte. Nach vielen Jahren teilte Bodenstedt in seinen Erinnerungen folgende Einzelheiten über Katkov mit: Er [Katkov] erzählte mit Begeisterung von seinem Aufenthalte in Berlin, wo er anderthalb Jahre lang bei Schelling Philosophie gehört und in dessen Hause gastfreundliche Aufnahme gefunden. Er verschwieg mir auch nicht, daß nie ein anderes weibliches Wesen einen so tiefen Eindruck auf ihn gemacht, wie Schellings schöne schwarzäugige Tochter62, ohne daß dabei zwischen ihnen irgendwie von Liebe die Rede gewesen sei; denn wenn dieser tiefe Eindruck sich bei ihm bis zu leidenschaftlicher Liebe gesteigert hätte, so würde er, selbst im Falle liebender Erwiderung, das Verhältnis sofort abgebrochen haben und so um eine schöne Erinnerung ärmer geworden sein, die ihm nun fürs Leben bleibe. Er war nämlich der Ansicht, daß Ehen, aus leidenschaftlicher Liebe geschlossen, naturnotwendig zum Unglück führen müßten und daß überhaupt solche Liebe eine Verwirrung sei, in welche Männer, die sich höhere Lebensziele gesetzt, nicht leicht verfielen. Die ganze Geschichte wurde geplündert, um zu beweisen, daß Vernunftehen die einzig vernünftigen seien. Auf diesen Punkt 61

62

Vgl. Otečestvennye zapiski [Vaterländische Annalen], 1842, Nr.  2, otdel 8, S.  65–70 (M.  N.  Katkovs  Notizen); Moskvitjanin, 1842, Nr.  4, čast’ 2, S.  540 f. u. a. Von Michail Bakunin ist ein Brief aus Berlin an seine Verwandten vom 3. November  1841 bekannt, in dem er erzählt, wie er Schelling kennenlernte: „[…] ich ging zu Schelling, um mich immatrikulieren zu lassen, brachte ihm Grüße von der Elagina, die er in Karlsbad kennengelernt hat. Ich sprach mit ihm über meine Studien, über das, was er lesen wird, – alles im Verlauf einer halben Stunde. Er lud mich ein, ihn zu besuchen, und ich will mich bemühen, ihn näher kennenzulernen. Er gleicht seinem Porträt fast gar nicht – ist von kleinem Wuchs, aber seine Augen sind wunderbar. […] Ihr könnt euch nicht vorstellen, mit welcher Ungeduld ich die Vorlesungen Schellings erwarte.“ Zitiert nach Kornilov 1925, S. 84; Avdot’ja Petrovna Elagina, geb. Juškova (1789–1877), Nichte V. A. Žukovskijs, Mutter der Brüder Kireevskij. In ihrem Moskauer Salon hatten sich in den zwanziger und dreißiger Jahren viele berühmte Schriftsteller und Gelehrte versammelt – Russen wie Ausländer. Schelling begegnete ihr vermutlich im Sommer 1841 in Karlsbad. Gemeint ist offensichtlich Julie Schelling (1821–1885), verh. Eichhorn (seit 1843), die jüngste Tochter des Philosophen.

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und auf die Schellingsche Philosophie, die er, als die einzig positive, mit dem russischen Kirchenglauben eine Vernunftehe eingehen lassen wollte, kamen wir noch oft zurück, und meine Einwendungen dienten nur, ihn immer beredter zu machen in seinen Erörterungen. Sein scharfer Verstand war stark mystisch eingehaucht und die ganze Sprache galt ihm nur nach Schelling als „eine verblichene Mythologie“.63

Anzumerken ist, dass schon in der zweiten Hälfte der dreißiger Jahre Berlin als philosophisches Zentrum (vor allem der Hegelianer) junge Russen weitaus stärker anzog als München. Zwischen 1837 und 1839 hielt sich mehrfach Nikolaj  V.  Stankevič in Berlin auf, um an der Universität Vorlesungen zu hören. Er leitete einen philosophischen Zirkel, der sich in Moskau während der dreißiger Jahren gebildet hatte, und war einst leidenschaftlicher Anhänger Schellings gewesen. In Berlin besuchte Stankevič zusammen mit seinen Freunden Timofej  N.  Granovskij und Januarij  M.  Neverov die Vorlesungen der Hegelianer Karl Friedrich Werder und Eduard Gans. Im Juni 1840 starb Stankevič in Italien; sein russischer Zirkel in Berlin fiel mit seinem Tod jedoch nicht auseinander.64 Für die Hegelianer indes brachen Anfang der vierziger Jahre schwere Zeiten an: das Kräfteverhältnis veränderte sich (wenn auch nur für kurze Zeit) zugunsten Schellings, dessen Name 1842/43 erneut eine breite Popularität gewann. Mitte 1842 kam Fürst Vladimir F. Odoevskij nach Berlin, einer der eifrigsten und konsequentesten russischen Schellingianer. In einem Begleitschreiben an Schelling schrieb M. Ju. Viel’gorskij, dass „die Philosophie für ihn [Odoevskij] immer eine heimliche und sorgsam behütete Freundin gewesen sei, und soviel ich weiß, machte er dank seiner eleganten und genauen Übersetzung Rußland als erster mit Ihnen bekannt“.65 Odoevskij bediente sich dieses Briefes offenbar nicht, denn er verblieb in seinem Archiv. Welche Übersetzung Odoevskijs aus Schelling Viel’gorskij im Auge hatte, konnte bisher mit Genauigkeit nicht ermittelt werden. Wie in den zwanziger so erschien auch in den vierziger Jahren Schelling Odoevskij als „Geistesriese“, als erster Philosoph der Zeit. Im Unterschied zu vielen anderen war Odoevskij nicht der Meinung, der späte Schelling sei seinem System untreu geworden; er betrachtete dessen „Theosophie“ als Fortsetzung der Naturphilosophie. Odoevskij erwartete viel von seiner Begegnung mit Schelling und, kaum in Berlin angekommen, führte sein erster Weg zu

63 64 65

Bodenstedt 1888, S. 220 f. Vgl. Mann 1987. RNB. F. 539. Op. 2. Nr. 1577 (im Original französisch).

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ihm.66 Das folgende Gespräch fand zwischen Schelling und seinem Besucher statt: Ich: Eine Gesamtausgabe Ihrer Schriften wird sehnlichst erwartet. S: Ich bedauere sehr, dass ich bisher keine Zeit hatte, mein Werk zu beenden. Ich: Das ist umso notwendiger, da Hegels Philosophie viele Menschen in den Abgrund der Verleugnung führt und niemanden zufriedenstellt. S: Hat Hegel viele Anhänger in Russland? Ich: Eine ganze Menge. S: Diese Philosophie zerstört wirklich alles wahre Wissen.

Im Verlauf der Unterhaltung wurde über den französischen Mystiker und Philosophen des achtzehnten Jahrhunderts Saint-Martin gesprochen (Odoevskij korrigierte Schelling, der Saint-Martin mit Martinez de Pasqually verwechselte), über Baader und seine Lehren, über religiöse Bewegungen im Allgemeinen und schließlich – über Russland. „Ein wundersames Ding ist euer Rußland“, sagte Schelling zu Odoevskij, „man kann nicht erraten, wofür es bestimmt ist und wohin es geht. Aber es ist für irgend etwas Wichtiges bestimmt.“ Diese Gedanken Schellings über Russland mussten sowohl Odoevskij als auch den anderen Russen imponieren, die damals von der nationalen Idee erfaßt wurden. Über die besonderen Wege Russlands, über seine Zukunft dachten und schrieben damals Čaadaev, Ivan Kireevskij und viele andere. Ein zeitgenössischer Forscher bemerkt: Schelling und (in geringerem Maße) Hegel überzeugten […], wie die gesamte Geschichte des Slavophilentums beweist, eine ganze Plejade junger russischer Denker von der Einzigartigkeit der russischen Kultur, davon, daß ihre Heimat, im Besitz kolossaler potentieller Möglichkeiten, schnell die gebührende Stellung in Europa, in der Weltkultur einnehmen wird. Diese Gedanken, von deutschen Denkern zur rechten Zeit ausgesprochen, ließen auf russischem Boden eine reiche Saat aufgehen.67

Odoevskijs Notizbucheintragung zufolge diskutierte man auch über theologische Gegenstände und über Magnetismus: „Wir können nicht definieren, was Magnetismus ist, solange wir nicht wissen, was Träume sind“, sagte Schelling. Abschließend kam Odoevskij auf die Veröffentlichung der „Philosophie der Offenbarung“ zu sprechen: 66 67

Ihr Gespräch hielt Odoevskij in einer Kurzfassung fest; die folgenden Aussagen und Passagen sind zitiert nach Sakulin 1913, Teil 1, S. 385–386 f. Sacharov 1978, S. 219 f.

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Ich bemerkte zu Schelling, wie notwendig es gerade in der derzeitigen Epoche des Verfalls früherer Überzeugungen wäre, daß er sein letztes Wort ausspreche. Darauf antwortete Schelling: „Ich fühle dies in vollem Maße und habe mich darum entschlossen, meine Arbeit zu Ende zu führen – coûte que coûte.“68

Odoevskij war übrigens einer der wenigen Russen, für die Schelling in den vierziger Jahren seine Autorität behielt. Die Aufmerksamkeit für den Philosophen überlebte in dieser Zeit vor allem im Kreis ehemaliger ‚Ljubomudry‘ (Weisheitsfreunde), dessen jüngsten Besuchern und Zuhörern.69 Auch Aleksandr Turgenev blieb seinem Freund treu und hörte ihm Anfang der vierziger Jahre in Berlin nicht weniger begeistert zu als einst in München. Doch im Grunde genommen strebte das russische philosophische Denken schon in eine andere Richtung: Hegel, Feuerbach, französische Utopisten … „In den fortgeschrittenen Kreisen, bemerkte A. N. Pypin bei der Beurteilung der geistigen Bewegungen der 1840er Jahre (und insbesondere der russischen Volkstümlichkeit [narodnost’]), wird der kurzfristige Einfluss der Schellingschen Philosophie durch die Dominanz des Hegelianismus ersetzt …“70 Das Interesse an Schelling verblasste auch im slawophilen Milieu. Konstantin Aksakov zum Beispiel war ein überzeugter Hegelianer. Und Aleksej S. Chomjakov, der einst den „Weisheitsfreunden“ nahegestanden hatte und nun einer der beharrlichsten russischen Slavophilen war, schrieb enttäuscht von seinem Treffen mit Schelling (das vermutlich im Sommer 1847 zustande kam): Bei Schelling, Neander bin ich buchstäblich zu nichts gekommen. Nur Schmerzen! […] Was für ein dummes Land das heutige Deutschland ist!71

Eine skeptische Haltung gegenüber Schelling findet sich in der russischen Presse immer wieder. So erwähnte Ivan. S. Turgenev in einem seiner Artikel (1853), indem er die ‚positive‘ und ‚praktische‘ Richtung der modernen 68 69

70 71

Sakulin 1913, Teil 1, S. 387. Vgl. z. B. Ivan Kireevskijs Notiz „Reč’ Šellinga“ (1845) – eine Zusammenfassung der Rede des Philosophen vor der Preußischen Akademie der Wissenschaften („Bericht über die Janus-Abhandlung“). Die Notiz war für die Zeitschrift Moskvitjanin bestimmt, wurde aber erstmals von A. I. Košelëv im zweiten Band der Gesamtwerke I. V. Kireevskijs (1861) veröffentlicht. Pypin 1890, S. 32–33. Brief vom 8. Juli 1947 aus Ems an eine unbekannte Person. (Chomjakov 1900, S.  464). Übrigens ist hier anzumerken, dass Chomjakov auch zuvor nicht zu den Verehrern Schellings zählte. „Vom Moment seines Erscheinens im Zirkel an stand Chomjakov abseits – er war nie ein Anhänger Schellings.“ – Koljupanov 1889, S. 161. – Johann August Wilhelm Neander (urspr. David Mendel; 1789–1850), evangelischer Theologe, lehrte ab 1813 in Berlin Kirchengeschichte.

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Wissenschaft anmerkte, jene „manchmal poetischen und tiefen, aber fast immer dunklen und unsicheren“ Hypothesen, mit denen Schelling „zu Beginn des gegenwärtigen Jahrhunderts die Köpfe verdreht hat“.72 Besonders typisch ist in dieser Hinsicht das letzte Werk von Ivan Kireevskij, der Artikel „O neobchodimosti i vozmožnosti novych načal dlja filosofii“ [Über die Notwendigkeit und Möglichkeit neuer Anfänge für die Philosophie] (1856), dessen abschließender Teil Schelling gewidmet ist. Obwohl er dem Idol seiner Jugend Tribut zollt, das „durch seinen angeborenen Genius und durch die außerordentliche Entwicklung seiner philosophischen Tiefe zur Zahl jener Geschöpfe gehörte, die nicht nach Jahrhunderten, sondern nach Jahrtausenden geboren werden“, drückt Kireevskij dennoch seine Unzufriedenheit mit dem ‚begrenzten‘ protestantischen Rationalismus aus, dem es auch in der „Philosophie der Offenbarung“ nicht gelang, die göttliche Wahrheit zu finden. Als Verkörperung des zweigeteilten Abendlandes konnte Schelling, so Kireevskij, „das innere Wesen der Vernunft“ auf der Grundlage des christlichen Glaubens nicht begreifen. Nur Russland, behauptet Kireevskij, sei in der Lage, sowohl die Vorteile als auch die Nachteile des Schellingschen Systems in vollem Maße zu schätzen: „Denn Russland kann von logischen Systemen fremder Philosophien, die für es noch neu sind, mitgerissen werden; aber für die Weisheitsfreundschaft (verujuščee ljubomudrie) ist dieses Land strenger als andere Länder Europas, da es in den alten Kirchenvätern und in den großen geistigen Schriften aller Zeiten – die Gegenwart nicht ausgeschlossen – große Beispiele des geistigen Denkens aufweist.“73 Die romantische Begeisterung für den ‚Schellingianismus‘ in Russland rückte unaufhaltsam in die Vergangenheit und wich dem Streben nach ‚nationaler Originalität‘ sowie anderen Bestrebungen ‚gläubiger Weisheitsfreundschaft‘. Aus dem Russischen übersetzt von Maria Klassen Literatur Asadowski, Konstantin M. (1998): Ein Russe in München. In: Die politische Meinung (Osnabrück). 43. Jg., H. 339, S. 86–95.

72 73

Aus der Besprechung der „Aufzeichnungen …“ von Sergej Aksakov (siehe: Turgenev 1956. S. 157). Kireevskij 1984. S. 270, 272.

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Azadovskij, Konstantin M. (1999): Franc fon Baader v russkich dnevnikach i pis’mach (A. I. Turgenev) [Franz von Baader in russichen Tagebüchern und Briefen]. In: Die Welt der Slaven (München). Bd. 44, S. 63–82. Azadovskij, Konstantin  M. (2019): Sjužety i sud’by. Nemecko-russkie otraženija [Themen und Schicksale: Deutsch-russische Spiegelungen].Moskva. Azadovskij, Konstantin  M.; Ospovat, Aleksandr  L. (1989): Tjutčev v dnevnikach A.  I.  Turgeneva [Tjutčev in den Tagebüchern  A.  I.  Turgenevs]. In: Literaturnoe nasledstvo [Das literarische Erbe]. Bd. 97, Teil 2. Moskva, S. 63–98. Azadovskij, Konstantin  M.; Ospovat, Aleksandr  L. (1988): A.  I.  Turgenev i Šelling po neizdannym materialam [A.  I.  Turgenev und Schelling nach unveröffentlichten Materialien]. In: Voprosy filosofii, Nr. 7, S. 152–164. Barsukov, Nikolaj  P. (1888): Žizn’ i trudy M.  P.  Pogodina [Leben und Werke M. P. Pogodins]. Bd. 1. Sankt-Peterburg. Bartenev, Pёtr I. (Hg.) (1906): Russkij archiv, Nr. 2. Berkovskij, Naum Ja. (1973): Romantizm v Germanii [Die Romantik in Deutschland]. Moskva. Bodenstedt, Friedrich von (1888): Erinnerungen aus meinem Leben. [Bd. 1]. Berlin. Boisserée, Sulpiz (1983): Tagebücher 1808–1843. Darmstadt. Chomjakov, Aleksej  S. (1900): Polnoe sobranie sočinenij [Sämtliche Werke]. Bd.  8. Moskva. Elagin, Nikolaj A. (1911): Materialy dlja biografii I. V. Kireevskogo [Materialien für die Biographie I. V. Kireevskijs]. In: I. V. Kireevskij. Polnoe sobranie sočinenij v dvuch tomach. Bd. 1. Moskva. Feoktistov, Evgenij. M. (1865): Magnickij. Materialy dlja istorii prosveščenija v Rossii [Magnickij. Materialien zur Geschichte der Aufklärung in Russland]. Teil  1. Sankt-Peterburg. Gercen, Aleksandr I. (1961): Polnoe sobranie sočinenij i pisem v 30 tomach [Sämtliche Werke und Briefe in 30 Bänden]. Bd. 21. Moskva. Geršenzon, Michail O. (1912): Obrazy prošlogo [Gestalten der Vergangenheit]. Moskva. Gulyga, Arsenij V. (1984): Šelling. Moskva. Kireevskij, Ivan V. (1984): Izbrannye stat’i (Ausgewählte Aufsätze). Hg. von V.A. Kotel’nikov. Moskva. [Koljupanov, N.] (1889): Biografija Aleksandra Ivanoviča Košeleva [Biographie Aleksandr Ivanovič Košelevs]. T. 1, kn. 2. Moskva. Koreneva, Marina Ju. (Hg.) (2017): Putešestvie v Zapadnuju Evropu 1824–1825: Dnevniki i pis’ma N.  I.  Turgeneva [Die Reise nach Westeuropa. Tagebücher und Briefe N. I. Turgenevs]. Sankt-Peterburg. Kornilov, Aleksandr A. (1925): Gody stranstvij Michaila Bakunina [Michail Bakunins Wanderjahre]. Leningrad, Moskva.

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Košelev, Aleksandr  I. (1884): Zapiski Aleksandra Ivanovica Košeleva. 1812–1883 [Die Aufzeichnungen Aleksandr Ivanovič Košelevs. 1812–1883]. Berlin. Maksimov, M. [Gillel’son, M. I.] (1974): Po stranicam dnevnikov i pisem A. I. Turgeneva [Aus den Tagebüchern und Briefen A. I. Turgenevs]. In: Prometej. Nr. 10. Moskva. Mann, Jurij V. (1987): Stankevič i ego druz’ja [Stankevič und seine Freunde]. In: Zeitschrift für Slawistik, Nr. 4, S. 510–519. Mel’gunov, Nikolaj  A. (1839): Šelling. Iz putevych zapisok [Schelling. Aus Reiseaufzeichnungen]. In: Otečestvennye zapiski [Vaterländische Annalen]. Nr. 5, otdel 2. S. 112–128. Nikitenko, Aleksandr V. (1955): Dnevnik v trëch tomach [Tagebuch in drei Bänden]. Bd. 1. Moskva. Odoevskij, Vladimir F. (1975): Russkie noči [Russische Nächte]. Leningrad. Pypin, Aleksandr N. (1890): Istorija russkoi ėtnografii. V četyrëch tomach [Geschichte der russischen Ethnographie. In vier Bänden]. Bd. 1. Sankt-Peterburg. Rezvych, Pёtr V. (2008): Iz perepiski F. V. J. Šellinga i A. I. Turgeneva [Aus dem Briefwechsel  F.  W.  J.  Schellings mit A.  I.  Turgenev]. In: Novoe literaturnoe obozrenie [Neue literarische Rundschau]. Nr. 91. Moskva, S. 186–195. Rožalin, Nikolaj M. (1909): Vyderžki iz ego pisem [N. M. Rožalin. Auszüge aus seinen Briefen]. In: Bartenev, P. (Hg.): Russkij archiv, Nr. 8. Sacharov, Vsevolod I. (1978): О bytovanii šellingianskich idej v russkoj literature [Die Schellingschen Ideen in der russischen Literatur]. In: Kontekst. 1977. Literaturnoteoretičeskie issledovanija. Moskva. Sakulin, Pavel N. (1913): Iz istorii russkogo idealizma. Knjaz’ V. F. Odoevskij. Myslitel’. Pisatel’ [Aus der Geschichte des russischen Idealismus. Fürst  V.  F.  Odoevskij. Denker. Schriftsteller]. Bd. 1. Moskva. Schelling, Friedrich W. J. (1870): Aus Schellings Leben in Briefen. Bd. 3. Leipzig. Šelling, Fridrich  V.  J. (1936): Sistema transcendental’nogo idealizma [System des transzendentalen Idealismus]. Leningrad. Tempest, Richard (1996): Meždu Rejnom i Senoi. Molodye gody Ivana Gagarina [Zwischen Rhein und der Seine. Die jungen Jahre Ivan Gagarins]. In: Tempest, R. (Hg.): I.  Gagarin. Dnevnik. Zapiski o moei žizni. Perepiska [Tagebuch. Aufzeichnungen zu meinem Leben. Briefwechsel]. Moskva. Tilliette, Xavier (Hg.) (1974): Schelling im Spiegel seiner Zeitgenossen. Torino. Turgenev, Ivan  S. (1956): Sobranie sočinenij. V 12 tomach [Gesammelte Werke. In  12 Bänden]. Bd. 11. Moskva. Vacuro, Vadim  Ė. et  al. (Hg.) (1985): A.  S.  Puškin v vospominanijach sovremennikov [A. S. Puškin in den Erinnerungen der Zeitgenossen]. Bd. 2. Moskva.

Russen im Nietzsche-Archiv Am Rande Weimars, auf der Höhe eines Hügels, von dem sich ein herrlicher Blick auf die alte Stadt und ihre Umgebung eröffnet, stehen Villen aus dem vergangenen Jahrhundert, die mit der Zeit ihren einstigen Glanz verloren haben und grau geworden sind. Zwischen ihnen sticht durch seine edlen Konturen ein elegantes zweistöckiges modernistisches Gebäude hervor, die jedem, der mit der Biographie Nietzsches vertraut ist, bekannte Villa „Silberblick“. An der Giebelfront ist die Inschrift „Nietzsche-Archiv“ eingemeißelt. Doch in diesem Haus, in dem der kranke Philosoph die letzten Jahre seines Lebens verbrachte, ist heutzutage keineswegs das Archiv untergebracht. Hier wohnen hauptsächlich Germanisten, die von der Stiftung „Deutsche Klassik“ zu einem Forschungsaufenthalt in die Stadt Goethes und Schillers eingeladen worden sind. Die Zimmer der Gäste befinden sich in der ersten Etage. Im Erdgeschoss ist eine Dauerausstellung über die Geschichte der Villa. Die „Silbervilla“ auf der Luisenstraße 36 (heute: Humboldtstraße) war einst ein Wallfahrtsort. Nietzsche, der sich 1897 hierher zurückgezogen hatte, war zu dieser Zeit noch nicht so „berühmt“ wie wenig später, erregte aber schon damals die heftige Neugier seiner Zeitgenossen. Bisweilen fuhren sie allein dazu nach Weimar, um den Philosophen anzuschauen. Übrigens glückte es nicht vielen, ihn in dieser letzten Zeit seines Lebens zu sehen. Der unglückliche, dem Wahnsinn verfallene Nietzsche saß stundenlang in ein Plaid gehüllt und scharf von seiner Schwester Elisabeth vor zufälligen oder allzu zudringlichen Besuchern abgeschirmt auf dem Balkon.1 In dieser letzten Zufluchtsstätte des Philosophen befand sich nach seinem Tod auch das originale „Nietzsche-Archiv“, in dem Manuskripte, Konzepte, Briefe etc. aufbewahrt wurden. Von der Schwester schon Anfang 1894 in Naumburg gegründet, erhielt das „Nietzsche-Archiv“ nach 1900 offizielle

* Erstveröffentlichung in: Fridrich Nicše i filosofija v Rossii: Sbornik statej / Hg. von N. V. Motrošilova, Ju.V. Sineokaja. SPb., 1999. S. 109–129. Wieder in: Konstantin Azadovskij. Sjužety i sud’by: Nemecko-russkie otraženija [Themen und Schicksale: Deutsch-russische Spiegelungen]. Moskva, 2019. S. 110–139. 1 Der Petersburger Übersetzer und Sammler F. Fiedler, der im Sommer 1900 Weimar besuchte, notierte er am 14. August in sein Tagebuch: „Nietzsche ist tot. Vor 2 ½ Wochen war ich in Weimar. Ich begab mich am „Felsenkeller“ vorbei zum „Silberblick“ und sah ihn von weitem gesenkten Kopfes auf dem Balkon sitzen. Ich machte keinen Versuch, hineinzukommen, weil ich wusste, dass es vergeben sei: Frau Fӧrster zeigt ihren Bruder keinem“ (Fiedler 1996, S. 280–281).

© Brill Fink, 2022 | doi:10.30965/9783846766767_006

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Anerkennung. In der deutschen Kulturgeschichte nimmt es einen besonderen, und zwar ziemlich ungewöhnlichen Platz ein. Elisabeth Förster-Nietzsche (1846–1935) verlebte in diesem Haus fast vierzig Jahre. Sie trug um den postumen Ruhm ihres Bruders Sorge und sammelte eifrig Materialien über ihn, stellte seine Biographie zusammen,2 gab seine unpublizierten Werke, seine Korrespondenz und vieles andere in Druck (insbesondere ihre eigenen Erinnerungen an ihn). Man muss ihr Gerechtigkeit widerfahren lassen: Die energische und zielstrebige Elisabeth verstand es, das „Archiv“ in eine Art wissenschaftliches Forschungszentrum zu verwandeln, das nicht wenig für die Erforschung, Systematisierung und Publikation des Nachlasses von Nietzsche leistete. Das „Nietzsche-Archiv“ erlebte wechselhafte Zeiten. Die Mehrzahl der Deutschen erinnert sich an den üblen Ruf des „Archivs“: das offiziöse Auftreten von Elisabeth Förster-Nietzsche in den 1920er/1930er Jahren, ihre Begeisterung für Mussolini, ihre antisemitischen Einstellungen, die Achtung und Unterstützung, die sie im Dritten Reich genoss (die bekannte Fotografie von Hitler auf der Schwelle des „Nietzsche-Archivs“, der sich niederbeugt, um der Schwester des Philosophen die Hand zu küssen). All das hatte tatsächlich seinen Platz, ganz zu schweigen von der fragwürdigen Rolle, in der Elisabeth Förster-Nietzsche als Beschützerin und Herausgeberin der Werke Nietzsches auftrat. Wie viele Entstellungen des Willens des Autors, wie viele eigenmächtige Eingriffe in den Text, bis hin zur Vernichtung von Dokumenten, die sie aus diesen oder jenen Gründen für „unnötig“ hielt! Ja, ohne allzu große Rücksicht auf Philosophie und Philologie zu nehmen, schuf sie „ihren“ Nietzsche, gestaltete ihn auf ihre eigene Manier um, simplifizierte und begradigte sein Suchen, verzerrte seinen Charakter, verfuhr frei mit seinen Handschriften und Briefen. Spätere Forscher überführten sie nicht nur einmal dieser und ähnlicher Vorgehensweisen.3 Aber das „Archiv“ kannte auch andere Zeiten, die etwa bis zum Beginn des Ersten Weltkrieges währten. In Weimar kamen damals einige Kulturschaffende zusammen, die den Versuch unternahmen, die Atmosphäre dieser Kleinstadt, die sich immer (selbst zu Zeiten Schillers und Goethes) durch eine gewisse „Schläfrigkeit“ ausgezeichnet hatte, zu beleben. Der um die Jahrhundertwende entstandenen Bewegung „Neues Weimar“ gehörten vor allem Künstler 2 Bei der Biographie Das Leben Friedrich Nietzsche’s handelt es sich um ein zweibändiges Werk (Band zwei ist in zwei Teile untergliedert), dessen Herausgabe sich über fast zehn Jahre hinzog. Der erste Band erschien 1895, der erste Teil des zweiten Bandes 1897, der zweite Teil 1904. 3 Siehe den Beitrag von Macintyre 1992.

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an: der bekannte Designer und Architekt Henry van de Velde (1903 gestaltete er das Gebäude der Villa sowie deren Interieur um und verlieh ihr moderne Akzente); der Grafiker, Maler und Illustrator Ludwig von Hofmann u. a. Die Seele und der Motor der Bewegung war jedoch zweifellos der Diplomat, Schriftsteller, Künstler, Sammler und begeisterte Verehrer Nietzsches Harry Graf Kessler (1868–1937). Ab Beginn der 1900er Jahre bis zu seiner notgedrungenen Emigration 1933 war Kessler eng mit Weimar verbunden (Direktor des Kunstgewerbemuseums, künstlerischer Leiter des Verlages „Cranach“ usw.); auf seine Einladung kamen Dichter, Schriftsteller, Maler nach Weimar. Mit seinen Neigungen und Vorlieben vermochte Kessler auch Elisabeth Förster-Nietzsche einzunehmen, die damals in engen Beziehungen zu der Bewegung „Neues Weimar“ stand. Das „Nietzsche-Archiv“ wurde zu einer Art Salon, zu einem der kulturellen Zentren der Stadt; hier fanden literarische und musikalische Abende statt, wurden Lesungen, Vorträge und Vorlesungen veranstaltet, wobei diese nicht unbedingt Nietzsche gewidmet sein mussten. Das „Archiv“ entstand unter nicht einfachen Bedingungen: Elisabeth Förster-Nietzsche gelang es mehr als einmal, für ihr ,Kind‘ kämpfend, den Widerstand von Widersachern („Philistern“) zu bezwingen.4 Sie festigte den Kult um ihren PhilosophenBruder, indem sie ihn in den 1900er Jahren als Reformator, als „Umwerter“ aller – insbesondere der bürgerlich-spießerischen „Werte“ hinstellte (während dieses Bild des „Revolutionärs“ in den 1930er Jahren durch das des „Willen zur Macht“-Ideologen verdrängt werden sollte). Und man muss anerkennen: Der tatkräftigen Elisabeth war Erfolg beschieden. Das „Nietzsche-Archiv“ wurde zu einem originellen Museum; man schrieb über es, ihm wurden ganze Monografien, luxuriöse, teure Ausgaben, gewidmet.5 Zu den Freunden und Gästen des „Archivs“ zählten Gerhart Hauptmann, Hugo von Hofmannsthal, Richard Dehmel, Detlev von Liliencron, Thomas Mann. Eine Einladung, das „Archiv“ zu besuchen, stellte eine große Ehre dar. Deutsche Professoren setzten sich dafür ein, Elisabeth den Nobelpreis zu verleihen, der norwegische Künstler Edvard Munch malte ihr Portrait und der schwedische Bankier und Mäzen Ernest Thiel spendete ihr eine gewaltige Summe (dank derer zum einen die Nietzsche-Stiftung (1908) entstand, zum anderen eine Reihe von Publikationen realisiert wurden). Im Jahre 1921 erhielt Elisabeth Förster-Nietzsche anlässlich ihres 75. Geburtstages die Ehrendoktorwürde der Universität Jena verliehen.

4 S. Förster-Nietzsche 1907. S. auch Anm. 13. 5 S. Kühn [1904].

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Die Fama von der bewundernswerten und schwerzugänglichen Weimarer Villa,6 die den Nachlass des großen Friedrich Nietzsche in sich verbirgt, erreichte auch Russland. „Das Museum stellt das Privateigentum der Schwester Nietzsches dar“, teilte eine russische Zeitschrift ihren Lesern mit, „und solange diese am Leben ist, bleibt es für ein breiteres Publikum verschlossen. Aber jeder aufrichtige Bewunderer des verstorbenen Philosophen, in dem der Wunsch aufkeimen sollte, ein oder zwei Stunden in der letzten Zufluchtsstätte dieses großen Menschen zu verbringen, kann ungehindert vordringen“.7 Als sie im Dritten Reich Berühmtheit und Ehrungen erlangt hatte, begann Elisabeth Förster-Nietzsche den Bau eines neuen Gebäudes neben dem „Archiv“. Hier sollte sich ihrer Absicht nach eine „Walhalla Nietzsches“ befinden, eine Schatzkammer oder ein Heiligtum, in dem die wertvollsten Reliquien aufbewahrt würden. Es war ihr jedoch nicht beschieden, die Verwirklichung ihres so geplanten Vorhabens zu erblicken: Das Gebäude (das spätere Weimarer Rundfunkhaus) wurde erst 1944 fertiggestellt. Das „Nietzsche-Archiv“ setzte seine Tätigkeit auch nach dem Tod Elisabeths fort. Doch im Dezember 1945 wurde es von der sowjetischen Militäradministration geschlossen. Die kostbaren, über Jahrzehnte angesammelten Materialien wurden 1949–1950 dem staatlichen Goethe- und Schiller-Archiv Weimar zur „speziellen Verwahrung“ übergeben; dort befinden sie sich auch heute noch. Die Bücher sowohl von Nietzsche selbst als auch die Literatur über ihn gingen in den Bestand der örtlichen Herzogin Anna Amalia Bibliothek über. Es stellten sowohl die 1926 gegründete Gesellschaft der Freunde des „Nietzsche-Archivs“ als auch die Nietzsche-Stiftung ihre Tätigkeit ein. Der Name des Philosophen wurde fast verboten (1952 wurde sogar die nach ihm benannte Straße in der Nachbarschaft des „Archivs“ umbenannt). Es verschwand auch die Inschrift über dem Eingang, und die Villa selbst diente im Verlauf einer Reihe von Jahren als Gästehaus für die von fern her (hauptsächlich aufgrund von akademischen Bedürfnissen) angereisten Besucher der 1953 ins Leben gerufenen Nationalen Forschungs- und Gedenkstätten der klassischen deutschen Literatur zu Weimar. Wie bereits gesagt, behielt sie diesen Zweck bis zur Gegenwart bei. Die Situation veränderte sich nach 1991. Es wurde beschlossen, das „Archiv“ (teilweise) in ein Museum umzuwandeln. Die Inschrift über dem Eingang wurde restauriert. In der unteren Etage wurde die erwähnte Ausstellung 6 Vgl. den wesentlich späteren Brief Dmitrij Filosofovs aus Weimar an Aleksandr Blok vom 15./28. September 1909: „Hier starb Nietzsche auch, aber sein Haus ist schwer zugänglich“ (zit. nach Minc 1981, S. 202). 7 Nadeždin 1905.

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installiert. Die in ihr präsentierten Exponate bilden in ihrer Gesamtheit ein prägnantes, fesselndes Narrativ: An dem Schicksal des „Archivs“ kann man mühelos die deutsche Geschichte der letzten einhundert Jahre ablesen.8 Elisabeth Förster-Nietzsche interessierte sich wenig für Russland, wusste offensichtlich auch nur dem Hörensagen nach von der massenhaften NietzscheBegeisterung, die sich an der Jahrhundertwende in bestimmten Kreisen russländischer Intellektueller entfaltete. Übrigens trafen in ihrem Bekanntenkreis auch Zugereiste aus Russland aufeinander. So zeigte sich ungefähr 1903 Graf Mavrikij Ėduardovič Prozor (1849–1928), ein kultivierter Diplomat, Kenner und Übersetzer Ibsens (ins Französische), der als russischer „Minister-Resident“ in Weimar ernannt worden war, in ihrem Salon. Im Jahre 1905 wurde er als russischer Gesandter nach Brasilien versetzt. „Einer meiner guten Freunde, – so äußerte sich Förster-Nietzsche über ihn in einem Empfehlungsbrief . – […] Eher Graf Prozor nach Brasilien ging […] war er viel im Nietzsche-Archiv […] Graf Prozor ist ein ungewӧhnlich geistreicher und unterrichteter Mann und ausserdem nicht umsonst Diplomat, er versteht zwischen verschiedenen Strӧmungen wirkl[ich] glänzend zu vermitteln, in einer vornehmen Art und Weise. Ein Nietzscheaner ist er nicht“.9 Von Freundschaft oder zumindest einer recht nahen Beziehung Prozors zur Schwester Nietzsches zeugt das Faktum, dass der Graf gerade ihr das Vorwort zu seiner 1905 in Paris herausgegebenen Übersetzung von Ibsens Drama Ein Volksfeind zueignete.10 Prozor war mit D. S. Merežkovskij bekannt, dessen Werke er ins Französische übersetzte,11 und wahrscheinlich erfuhr Förster-Nietzsche gerade durch ihn von einem der zu jener Zeit leidenschaftlichsten Nietzsche-Verehrer in Russland. 8

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Die Geschichte des Archivs ist ausführlich dokumentiert in Hoffmann 1991. S. auch den Dokumentenband, der der Nietzsche-Periode Rudolf Steiners (1894–1900) und seinen Beziehungen zum „Nietzsche-Archiv“ und Elisabeth Förster-Nietzsche gewidmet ist (Hoffmann [Hg.] 1993). Goethe- und Schiller-Archiv (Weimar). Bestand 72: Förster-Nietzsche/Nietzsche-Archiv, 72/726a. Akte „Elisabeth Förster-Nietzsche. Briefe (Entwürfe). Januar–März 1906“ (Brief an den Verleger August Scherl vom 20. Januar 1906). Im Weiteren ohne Verweis auf Fonds und Untereinheiten. Ich danke herzlich dem ehemaligen Direktor des Archivs Herrn J. Golz sowie Frau R. Wollkopf für ihre mannigfache Unterstützung. Ibsen 1905. In dem Exemplar, das er Elisabeth Förster-Nietzsche schenkte, befindet sich die Widmung: „A Madame Elisabeth Förster-Nietzsche, outre hommage public, le tribut tout personnel de respect et de dévouement de M. Prozor“ (Frau Elisabeth Förster-Nietzsche neben der öffentlich ausgedrückten Dankbarkeit als Zeichen persönlicher Wertschätzung und persönlicher Ergebenheit von M. Prozor) (Goethe- und Schiller-Archiv). M.  Ė.  Prozor kam mit Merežkovskij auf den Seiten der Zeitschrift Severnyj vestnik (Nördlicher Bote) zusammen (s. Prozor 1895). Prozor brachte in Paris das von ihm ins Französische (gemeinsam mit Sergej Perskij) übersetzte Buch Merežkovskijs Tolstoï et Dostoïevski, la personne et l’œuvre [Tolstoj und Dostoevskij] heraus.

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Außerdem konnte durch Prozor die Kritik der höchsten Werte (die auf Deutsch noch nicht erschienen war) gewonnen und in Russland publiziert werden.12 Prozor verweilte nicht lange in Weimar, bereits im Herbst 1904 wurde er zum Gesandten für Südamerika (Brasilien, Argentinien, Uruguay) ernannt, wo er einige Jahre blieb und von wo aus er weiterhin mit Elisabeth Förster-Nietzsche im Kontakt blieb.13 Etwas später erschien in Weimar einer der beflissensten russischen Germanophilen des Jahrhundertbeginns – der Musikkritiker und (ab 1909) Leiter des Moskauer Verlages „Musaget“ Ėmilij Karlovič Metner/Medtner (1872–1936). In den Folgejahren reiste Medtner regelmäßig nach Weimar, weil er diese Kleinstadt für seine „geistige Heimat“ hielt, und besuchte stets den Salon von Elisabeth Förster-Nietzsche.14 Die Bekanntschaft, die Korrespondenz und die geschäftlichen Beziehungen von Förster-Nietzsche mit Graf Prozor und Ėmilij Medtner sind Gegenstand einer gesonderten Untersuchung: Beide waren mit der Schwester Nietzsches recht eng verbunden, und es sind nicht wenige Materialien überliefert, die dies bestätigen. Wenden wir uns – in Annäherung an dieses Thema – weniger bekannten Episoden zu, die fast keine Spuren im Leben des „Archivs“ hinterließen, aber – jede auf ihre Weise – überaus bemerkenswert für die Geschichte des „russischen Nietzsche“ sind. 12 13

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Nicše 1904. In einer redaktionellen Anmerkung heißt es: „Den Text erhielten wir unter freundlicher Mitwirkung M. Ė. Prozors von der Schwester des verstorbenen Philosophen, Frau Förster-Nietzsche“ (s. dazu: Koreneva 1991, S. 76). Es ist ein Brief von Förster-Nietzsche an M. Prozor vom 22. März 1906 erhalten, in dem sie unter anderem mitteilt: „In Weimar geht es wie es immer gegangen ist, zwischen dem friedl[ichen] Gang seiner Erlebnisse bricht zuweilen der Aufruhr der Philister hervor. Im vorigen Frühjahr gab es einen heiml[ichen] Kampf gegen von de Velde und jetzt gab es einen lauten Kampf gegen unseren vorzügli[chen] Grafen Kessler. Immer sind es die zurückgebliebenen engherzigen Menschen, die sich gegen alles Neue in der Kunst und der Literatur wenden und in dem Kampf zuweilen ordinär werden. Es ist recht schade, dass die Leute uns unnӧtig das Leben schwer machen, denn man müsste ja blind sein, wenn man nicht sähe, dass ohne uns, ohne diese neue Welt, die jetzt durch uns nach Weimar gekommen ist, W[eimar] einen recht zurückgebliebenen Eindruck machen würde, ganz eingeschlafen und gewiss dem Geiste Goethes, auf den sie sich so viel zugute tun, recht fern. Natürlich gibt es auch einige alten Weimaraner, auf die wir Neuen uns verlassen kӧnnen […] aber im Allgem[einen] fühlen wir doch mit jedem Jahr, dass wir: von de Veldes, Graf Kessler, Ludwig von Hoffmanns und ich hauptsächlich auf uns angewiesen sind.“ (Goethe- und Schiller-Archiv). Ljunggren 1994, S.  22, 29 (russische Übersetzung Junggren 2001). Die Briefe Elisabeth Förster-Nietzsches (insbesondre Einladungskarten) an Ėmilij K. Medtner befinden sich in: Moskau, Russische Staatsbibliothek (Rossijskaja Gosudarstvennaja biblioteka), Handschriftenabteilung (im Weiteren: NIOR RGB). Bestand 167. Kart. 14. Nr. 33.

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*** In der zweiten Junihälfte des Jahres 1899 fuhr Semën Afanas’evič Vengerov (1855–1920), der bekannte Bibliograph, Historiograph der russischen Literatur und der russischen Ideengeschichte, nach Weimar. Weil er zu jener Zeit eine russische Schiller-Ausgabe vorbereitete, suchte er in Deutschland nach Bildmaterial. In dem Wunsch, Nietzsche zu besuchen, ging Vengerov die Luisenstraße hinauf, aber am Eingang zum Haus traf er auf Elisabeth, mit der er „sich lange unterhielt“ und die trotzdem nicht erlaubte, auch nur einen Blick auf ihren Bruder zu werfen.15 Zu ebendieser Zeit reiste auch die Schwester Vengerovs durch Deutschland, die Übersetzerin und Kritikerin Zinaida Afanas’evna Vengerova (1867–1941), die in der russischen Periodica über die zeitgenössische westeuropäische Literatur, vor allem über neue Richtungen und die „neue Kunst“ schrieb. Der in Russland bis dahin nur einem vergleichbar kleinen Kreis zugängliche Nietzsche interessierte die den „älteren“ russischen Symbolisten (Z. Gippius, D. Merežkovskij, N. Minskij, F. Sologub u. a.) nahestehende Vengerova zu dieser Zeit besonders. In der zweiten Hälfte der 1890er Jahre führte Z. A. Vengerova mehrere Arbeiten aus, die unmittelbar mit Nietzsche zusammenhingen: Sie übersetzte das von Lou Andreas-Salomé verfasste Buch über ihn ins Russische,16 desgleichen die bekannte Monographie Alois Riehls;17 sie bereitete einen Artikel über Nietzsche für das Enzyklopädische Lexikon [Ėnciklopedičeskij slovar’] von Brockgaus und Efron vor;18 schließlich publizierte sie im Herbst 1899 im Zusammenhang mit dem neuen Roman Jakob Wassermanns Die Juden von Zirndorf (1899) den Artikel „Nicšeanstvo v evrejskom voprose“ (Nietzscheanismus in der jüdischen Frage).19 Z. A. Vengerova pflegte enge Beziehungen mit einigen „Nietzscheanern“ innerhalb Deutschlands verbunden, zum Beispiel mit dem Essayisten, Publizisten und Literaturkritiker Leo Berg, dem Autor des Buches Der Übermensch in der modernen Literatur (1897).20 15 16 17 18

19 20

Fiedler 1996, S. 259–260. Eintragung vom 10.08.1899. Andreas-Salomé 1894. Die Übersetzung des Buches wurde in Fortsetzungen in der Zeitschrift Severnyj vestnik abgedruckt (Andreas-Salomé 1896). Riehl 1897; Ril’ 1898. Das Buch wurde auch in anderen Übersetzungen auf Russisch herausgegeben. [Vengerova] 1897. Der Artikel ist mit „Z. V.“ unterzeichnet. „Schreib bitte über das Schicksal meines Nietzsche“, bat Zinaida Vengerova am 8. April 1897 aus Paris S. A. Vengerov, der die literarische Abteilung des Lexikons redaktionell betreute. – „War man mit ihm zufrieden?“ (RO IRLI. Bestand 377. Op. 4. Nr. 2656. Bl. 20v). Vengerova 1899. S.  die  Rezension  Z.  A.  Vengerovas zu dem Buch von Leo Berg Gefesselte Kunst (1901) (Vengerova 1901).

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Nachdem sie Berlin, München und andere deutsche Städte besucht hatte, in denen sie mit deutschen Schriftstellern und Künstlern zusammengetroffen war, fuhr Zinaida Vengerova im Juli 1899 in den Kurort Homburg (in der Nähe Wiesbadens), wo in diesem Sommer die ihr befreundete literarische Gesellschaft kurte – Sergej Andreevskij, Ljudmila Vil’kina, Zinaida Gippius, Dmitrij Merežkovskij, Nikolaj Minskij (letzter sollte ein Jahr später einen großen Artikel über Nietzsche publizieren21). Von dort aus wandte sich Z. A. Vengerova mit folgendem (auf Deutsch verfassten) Brief an Elisabeth Förster-Nietzsche: Homburg, 11. Juli [18]99 Villa Miramonte Promenade 39 Sehr geehrte Frau Fӧrster, mein Bruder, Prof. S.  Wengeroff aus Petersburg, brachte mir aus Weimar Ihr für mich hӧchst freudiges Vorsprechen, mich bei Ihnen zu empfangen. Ich bin jetzt in einer grӧsseren Arbeit über Friedrich Nietzsche begriffen, die russisch erscheinen soll.22 So würde für mich hӧchst wichtig sein, über manches mit Ihnen zu sprechen, um einige Auskünfte zu bitten – und auch, soweit es mӧglich ist, das aus dem Nietzsche-Archiv zu besichtigen, was Sie eben gestatten wollen und kӧnnen. Auch um die letzteren Bilder Ihres Bruders ist es mir sehr zu thun. Ich brauche Ihnen nicht zu sagen, dass ich eine Nietzsche-Getreue bin und für das Verbreiten seiner Ideen in unserem Lande das thue, was in meinen Kräften steht. Ich glaube, mein Bruder hat Ihnen das schon gesagt. Ich werde in Weimar nächsten Sonnabend sein – und mӧchte wissen, ob ich an diesem Tag oder Sonntag – länger kӧnnte ich nicht bleiben – bei Ihnen vorsprechen kӧnnte und um welche Stunde. Es würde mich selbstverständlich sehr freuen, wenn ich mit Ihnen ungestӧrt sprechen kӧnnte – im Falle ich Sie damit nicht allzu sehr belästige. Wenn Sie die grosse Güte haben wollten, mir Tag und Stunde brieflich zu bestimmen – würde ich Ihnen ungemein dankbar sein. Ich werde mich in Weimar nur des Besuches bei Ihnen halber aufhalten – und da mӧchte ich wissen, wann es am besten wäre zu kommen. Mit der Bitte, mich für die Belästigung zu entschuldigen und in der Erwartung einiger Worte der Antwort zeichne ich Hochschätzend Zinaida Wengerowa23

Was Elisabeth Förster-Nietzsche auf diesen Brief antwortete und ob Zinaida Vengerova tatsächlich „am folgenden Sonnabend“ (aller Wahrscheinlichkeit nach, dem 21. Juli) Weimar besuchte, – dies alles bleibt ungeklärt. Der Besuch 21 22 23

Minskij 1900. Von welcher Arbeit Z. A. Vengerovas die Rede ist, bleibt unklar. Goethe- und Schiller-Archiv.

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scheint nicht stattgefunden zu haben; jedenfalls sind weder in den Briefen von Vengerova selbst noch in ihren Publikationen der Jahre 1899–1901 irgendwelche Erwähnungen eines Besuchs des „Nietzsche-Archivs“ zu entdecken. *** Erfolgreicher war der Publizist, Dramatiker, Übersetzer und Dichter Michail Aleksandrovič Sukennikov (1877–1948), dem es gelang, mit Elisabeth FörsterNietzsche mehr oder weniger dauerhafte Beziehungen anzuknüpfen, was bei den russischen Besuchern des „Archivs“ eine Ausnahme darstellte. Von seinen Treffen und Gesprächen mit der Schwester Nietzsches legte Sukennikov eine Reihe gedruckter Zeugnisse ab, die bisher, soweit bekannt, nicht in das Blickfeld der Forscher zum Thema „Nietzsche und Russland“ geraten sind. Über das Leben  M.  A.  Sukennikovs sind wenige Zeugnisse erhalten. Sein Name erschien erstmals Ende der 1890er Jahre in der Presse, als der aus Odessa stammende junge Mann, nachdem er einige Jahre an der Berliner Universität Medizin studiert hatte, zu dem Schluss gekommen war, dass seine Berufung auf einem anderen Gebiet liege, und sich gänzlich der literarischjournalistischen Tätigkeit hingab. Er wurde zum Berliner Mitarbeiter einiger russländischer – odessitischer, Moskauer und Petersburger – Zeitungen. Die Bandbreite der Probleme, zu denen sich Sukennikov äußerte, war recht weit: von der Frauenbildung bis zum Antisemitismus. 1903 schrieb Sukennikov das Nachwort zu dem kleinen Buch M. Gor’kijs Tri rasskaza [Drei Erzählungen], das in Berlin mit dem Untertitel „Verboten von der russischen Zensur“ herausgegeben wurde. An der Wende von den 1900er zu den 1910er Jahren, als er einige Zeit in Moskau und Petersburg lebte, beteiligte sich Sukennikov am Theaterleben, schrieb selbst Stücke und übersetzte aus dem Deutschen (Gerhart Hauptmann u. a.). Nicht wenig Lärm rief sein polemisches (auf Russisch geschriebenes) Buch mit dem Titel Peterburgskaja gnil’. Točki nad i [Petersburger Fäulnis. Punkte über dem i] (Berlin: G.  Caspari 1913) hervor, das gegen die zeitgenössischen Theatersitten gerichtet war. Zu Kriegsbeginn siedelte Sukennikov nach Kopenhagen über; indem er in seinen Artikeln die chauvinistische russische Presse anprangerte, unterstützte er die sozialistischen Aufrufe zum Friedensschluss. Sukennikov blieb bis zum Ende des Krieges in Dänemark. Unter seinen Werken jener Zeit befindet sich ein in Schweden herausgegebenes Pamphlet über Lenin und Trockij mit dem Untertitel Bluttage in Russland24 (eine Agitationsschrift für die „friedliche“ Politik der Bolschewiki). Aber bald war Sukennikov von dem Bolschewismus 24

Sukennikov 1918.

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enttäuscht. Als er 1920 nach Deutschland zurückkehrte, arbeitete er vor allem als Journalist (insbesondre als Radiojournalist) und war darauf bedacht, sich nach Möglichkeit abseits vom Emigrantenleben zu halten. Seine Artikel wurden auch in dänischen Zeitungen abgedruckt (Sukennikov beherrschte das Dänische und fuhr oft nach Dänemark). Leider brachte keine der Unternehmungen Sukennikov die ihm gebührende Bekanntheit und so blieb er, ungeachtet der großen Zahl an Publikationen (sowohl in Russland als auch jenseits seiner Grenzen), bis an sein Lebensende im Grunde genommen an der Peripherie des literarischen Lebens. Nach 1933 lebte er, nachdem er Deutschland verlassen hatte, in der Tschechoslowakei; ab 1938 in Dänemark.25 Michail Sukennikov lernte des Philosophen Schwester 1904 kennen. In einer seiner Publikationen, die mit seinem Besuch des „Nietzsche-Archivs“ in Verbindung standen, berichtet er später: Als ich Weimar besuchte, um meinen langgehegten sehnlichen Wunsch zu erfüllen, auf den Spuren Goethes und Schillers zu wandeln, zögerte ich es nicht heraus, endlich das Archiv Nietzsches zu besichtigen und wurde von Frau FörsterNietzsche eingeladen, sie zu besuchen. Sie ist eine der Frauen, die durch ihre Liebenswürdigkeit vom ersten Augenblick an zu bezaubern verstehen. Elegant, geschmackvoll mit einem Kleid der Reformbewegung bekleidet, mit frischer Gesichtsfarbe und nicht einem einzigen grauen Haar auf dem Kopf äußerte sie liebenswürdigerweise die Bereitschaft, auf alle Fragen zu antworten, die ich ihr im Zusammenhang mit dem Leben und Schaffen ihres großen Bruders stellen wollte.26

Den Inhalt seines Gesprächs mit der Schwester Nietzsches vertraute Sukennikov der Welt indes schon einige Jahre zuvor an. Als Anlass zu seiner ersten Publikation, die in der Moskauer Tageszeitung Rannee utro [Früher Morgen] publiziert worden ist (Sukennikov gehörte eine Zeitlang zu den Korrespondenten dieser Zeitung), diente ein scheinbar abseitiger Umstand: das Ableben von Pauline Viardot, welches eine Reihe von Reaktionen auch in der russischen Presse hervorrief. „Ich möchte diese ‚Tage der Erinnerungen‘ an Pauline Viardot und an ihren großen adligen Freund als Gelegenheit ergreifen“, erklärte Sukennikov, „um eine bisher unpublizierte Episode weiterzugeben, die drei so bedeutende Persönlichkeiten wie Viardot, Turgenev und Nietzsche als Glieder einer Kette verbindet, eine Episode, die mir 1904 in Weimar von der Schwester des Philosophen des Zarathustra, Frau Förster-Nietzsche, erzählt worden ist“.27 25 26 27

Zu Leben und Werk  M.  A.  Sukennikovs mitsamt einer Bibliographie seiner Arbeiten s. Azadovskij 2018. Sukennikov 1912, S. 1. Sukennikov 1910.

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Weiter folgte die Erzählung der Schwester Nietzsches, deren Text unten in Gänze wiedergegeben wird: Das Interesse für Russland zeigte sich bei meinem Bruder sehr früh, – sagte mir Frau Förster-Nietzsche im Empfangszimmer des Archivs Nietzsches in Weimar – schon während der Zeit des Krim-Feldzugs. Mein Bruder und ich, wir waren damals noch Kinder, interessierten uns lebhaft für die Verteidigung Sevastopol’s und bekundeten unsere Sympathien für die Helden von Sevastopol’ so laut, dass unser Pastor-Vater uns nicht nur einmal vom gemeinsamen Tisch ins Kinderzimmer verjagte. Als jugendlicher Student befasste sich mein Bruder mit Komposition.28 Das Heft mit seinen Jünglingsromanzen schrieb er sorgfältig ab und schenkte es mir. Dieses Heft wird hier im Archiv Nietzsches aufbewahrt. Schauen sie, hier steht von seiner Hand geschrieben: „Romanze nach Worten Aleksandr Puškins“. Zwei solcher Romanzen nach Worten Ihres russischen Dichters befinden sich in diesem Jünglingsheft,29 und meiner Kenntnis nach stammt die dichterische Form der Romanzen von meinem Bruder, der sie auf der Basis einer Interlinearübersetzung irgendeines seiner Freunde anfertigte.30 28 29

Besonders in den Jahren 1861–1864. Bekannt ist nur ein Werk Puškins, das Nietzsche vertonte. Sukennikov hat dies auch in dem Artikel „Nicše i Puškin“ [Nietzsche und Puškin] präzisiert und die Worte von FörsterNietzsche wie folgt angeführt: „[…] Das ist das einzige russische Gedicht, das mein Bruder vertonte“ (Sukennikov 1912. S. 2; vgl. Janz 1972, S. 180). Das Gedicht, um das es sich handelt, ist „Zaklinanie“ [Beschwörung] („O, esli pravda, čto v noči“, 1830 / Oh, wenn es wahr ist, was des Nachts). Eine Beschreibung des Manuskripts und die Reproduktion des musikalischen Textes (erstmals 1907) liefert Janz (Hg.) 1976, S. 333 u. a. Siehe auch Braudo 1922, S. 108; in der Beilage befindet sich der musikalische Text der Romanze. Vgl. außerdem die folgende Passage in dem Artikel „Nicše i Puškin“ [Nietzsche und Puškin]: „Frau Förster-Nietzsche las die ins Deutsche übersetzten Verse Puškins vor, die sorgfältig von Nietzsches Hand silbenweise unter die entsprechenden Takte der Romanze geschrieben worden waren. Es handelt sich um das Gedicht, in dem der Dichter die sterbende Geliebte anruft“ (Sukennikov 1912, S. 2). Was die zweite, von Elisabeth Förster-Nietzsche erwähnte Romanze betrifft, so ist nur deren von Nietzsche notierter Titel bekannt: „Winternacht“ (s. Nietzsche 1976, S.  325). Gemeint ist natürlich „Zimnij večer“ [1825;  Winterabend]. Beide von Theodor Opitz übertragenen Gedichte (unter den deutschen Titeln „Beschwörung“ und „Winternacht“) fanden Eingang in das Buch Puschkin;  Lermontow: Dichtungen 1859, S.  79–80, 76–77, das sich in der Bibliothek Nietzsches befand (s. Oehler 1942, S. 43). Wahrscheinlich beabsichtigte Nietzsche nur, „Winternacht“ zu vertonen oder notierte sich einfach das Gedicht, das ihm gefiel. 30 In dem Artikel „Nicše i Puškin“ [Nietzsche und Puškin] wird darüber ausführlicher gesprochen: „– Die Übersetzung ist nicht sonderlich geglückt, – sagte Frau Förster-Nietzsche. – Wird nicht gesagt, wessen Übersetzung das ist? – Das kann ich nicht sagen. Die Noten sind 1864 geschrieben. Ich halte es gut für möglich, dass mein Bruder, als er sich für diese Gedichte interessierte, am Ende selbst auf der Grundlage einer anderen ihm bekannten Prosa- oder sogar Versübersetzung diese Verse geschrieben hat. Aber mit Sicherheit kann ich das nicht sagen“ (Sukennikov 1912, S. 2).

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Russen im Nietzsche-Archiv Einmal suchte mein Bruder in einem Geschäft in Nizza Bücher aus, wobei er zufällig auf die französische Übersetzung von Dostoevskijs Totenhaus aufmerksam wurde.31 Dieses Buch war für meinen Bruder eine Offenbarung und ab dieser Zeit las er all das Wenige, was von der russischen Literatur in französischer und deutscher Sprache erschien. In den Gesprächen mit mir erwähnte er mehr als einmal die Werke Turgenevs32 und Dostoevskijs, in den 70er Jahren interessierte er sich außerordentlich für die nihilistische Bewegung in Russland. Wie bedeutend das Interesse Nietzsches an diesen Strömungen war, zeigt sich zumindest darin, dass sich unter seinen Papieren das große Tagebuch eines Nihilisten befindet, das ich in absehbarer Zeit publizieren werde.33 Mein Bruder kannte und schätzte die Werke Turgenevs schon, als sie sich zufällig trafen und kennenlernten. Das trug sich folgendermaßen zu. Mein Bruder und ich hatten uns schon recht lange nicht gesehen und hatten vereinbart, uns in Baden-Baden zu treffen. Ich erwartete dieses Treffen mit Ungeduld, weil mein Bruder gerade der Eröffnung des Bayreuther Theaters beigewohnt hatte und voller Eindrücke war.34 Die Beziehung meines Bruders zu Wagner und Bayreuth war äußerst begeistert und er erzählte, erzählte mir endlos. Einmal saßen wir auf einer Bank im Park von Baden-Baden und mein Bruder fuhr fort, seine Bayreuther Eindrücke mit mir zu teilen. Wie groß war unsere Verwunderung, als unweit von uns ein hochgewachsener schlanker alter Herr mit gepflegtem Bart stehenblieb und offensichtlich unserem Gespräch zu lauschen begann. Der alte Herr, der anscheinend von der häufigen Erwähnung der Namen

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Das erste Buch Dostoevskijs, das Nietzsche kennenlernte, waren in Wirklichkeit die Zapiski iz podpol’ja [Aufzeichungen aus dem Untergrund], wie ein Brief des Philosophen an Franz Overbeck vom 23. Februar 1887 bestätigt: „Von Dostojewskij wusste ich vor wenigen Wochen auch selbst den Namen nicht – ich ungebildeter Mensch, der keine Journale liest! Ein zufälliger Griff in einem Buchladen brachte mir das eben ins Franzӧsische übersetzte Werk L’esprit souterrain unter die Augen. […] Der Instinkt der Verwandtschaft (oder wie soll ich’s nennen) sprach sofort, meine Freude war ausserordentlich“ (Nietzsche 1984, S. 27; Nietzsche meint Dostoievski 1886). – Den Zapiski iz mertvogo doma [Aufzeichnungen aus einem Totenhaus] sind auch einige Zeilen in der Nietzsche-Biographie von E.  FörsterNietzsche gewidmet. „In jener Zeit“, erinnert sie (es handelt sich um das Jahr 1890), „vermochte er noch sehr gut, eine richtige Unterhaltung zu führen, z. B. sprachen wir über Dostojewskij und dessen Werk „Das Haus der Toten“, das wir beide franzӧsisch gelesen hatten. Ich dankte ihm, dass er mir diesen Autor empfohlen hatte und fügte hinzu, dass wir doch keinen solchen Psychologen unter unseren deutschen Schriftstellern hätten, worauf er mich fragte: ‚Nun, was meinst Du von Gottfried Keller?“ (Förster-Nietzsche 1904, S. 926). Ein solches Gespräch führt Elisabeth Förster-Nietzsche in ihrer Nietzsche-Biographie an. Sie berichtet, dass Nietzsche, als ihm Turgenevs Erzählung Pervaja ljubov’ [Die erste Liebe] laut vorgelesen wurde, seine Aufmerksamkeit auf die Episode mit der Peitsche richtete, die später angeblich in dem bekannten Ausspruch aus dem Zarathustra aufging (Förster-Nietzsche 1904, S. 560–561). Es ging in das Buch Der Wille zur Macht ein, in dem das Problem des Nihilismus sich als „zentral“ erweist. S. auch Anm. 51. Die Eröffnung des Bayreuther Theaters fand im August 1876 statt. Nietzsche wohnte der ersten Aufführung des Rings der Nibelungen bei.

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Wagner und Bayreuth angelockt worden war, stand, stütze sich mit der einen Hand auf einen Stock und legte die andere sogar ans Ohr, um die Erzählung meines Bruders deutlicher hören zu können. Mein Bruder brauste auf, aber ich beruhigte ihn damit, dass sich der sonderbare Unbekannte anscheinend außerordentlich für Bayreuth interessiere, wenn er sich eine derartige Taktlosigkeit erlaube. Zwei Tage später saßen mein Bruder und ich in einem Café, als ebendieser alte Herr in Begleitung irgendeiner Dame an uns vorbeiging. Mein Bruder rief den Kellner und fragte ihn, wer dieser Herr sei. Sie können sich unser Erstaunen vorstellen, als der Kellner sagte: – Das sind der russische Schriftsteller Ivan Turgenev und die französische Sängerin Pauline Viardot. Mein Bruder entflammte regelrecht. Er war sehr stolz und empfindlich. Aber mit Turgenev wollte er bekannt werden. In der Villa Viardot35 sammelte sich damals die intellektuelle und geistige Blüte der Baden-Badener Kurortgäste. Mein Bruder gab seine Prinzipien preis und verschaffte sich eine Einladung – bei seinem damals schon bekannten Namen36 war das nicht schwierig. Dort, in der Villa Viardot, lernte mein Bruder Turgenev kennen und unterhielt sich mit ihm. Leider ist mir der Inhalt ihrer Unterhaltung nicht bekannt, weil ich nach dem Wiedersehen mit meinem Bruder Baden-Baden verließ. Und in den Heften meines Bruders sind keine Spuren dieser Unterhaltung bewahrt. Aber mein Bruder behielt immer eine ehrfurchtsvolle Beziehung zu Turgenev und erwartete andauernd, dass ihm Pauline Viardot die neuen Werke des russischen Romanciers schicke, wie sie versprochen hatte.37

Diese Enthüllungen der Schwester Nietzsches, die nicht frei von sensationellem Beigeschmack sind, rufen natürlich eine Reihe von Zweifeln hervor, besonders bezüglich des Teils, der sich auf Turgenev und Viardot bezieht. Es geht dabei nicht nur um kleine Ungenauigkeiten, wie sie mitunter vorkommen. So hielt sich Turgenev beispielsweise 1876 nur insgesamt zwei Tage in Baden-Baden auf: vom 29. bis 31. Mai 1876;38 im August und September dieses Jahres war er gar nicht in Baden-Baden, wie auch offenbar Nietzsche nicht, der aus Bayreuth auf direktem Wege nach Basel zurückkehrte (das geht aus seiner Korrespondenz hervor39). Misstrauen gegenüber den Erinnerungen Förster-Nietzsches entsteht auch beim Vergleich des zitierten Textes mit dem, was über dieses Treffen Elisabeth selbst in ihrer Nietzsche-Biographie berichtet hat – viele Jahre vor dem Gespräch mit dem russischen Journalisten.

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Die Villa in Baden-Baden, die Pauline Viardot gehörte, wurde 1871 im Zuge der Ereignisse des französisch-preußischen Krieges verkauft. Ungefähr zur gleichen Zeit verlor auch Turgenev sein Haus in Baden-Baden. In Wirklichkeit war der Name Nietzsches 1876 nur einem sehr kleinen Kreis bekannt. Sukennikov 1910. Turgenev 1966, S. 673. Nietzsche 1980.

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Hier dieser Ausschnitt: Als ich im Frühjahr 1875 kurz vor Pfingsten mit ihm [Nietzsche] in Baden-Baden zusammen war, fand ich ihn sehr elend […] Während des ganzen Aufenthaltes in Baden-Baden sprachen wir nur von Wagner’s.40 Ich war nämlich von Ende Februar bis Anfang April in Bayreuth zu Besuch gewesen und ganz erfüllt von der Verehrung für das geniale Paar. […] In Baden-Baden bemerkte ich zum ersten Mal, dass sich mein Bruder bei aller Verehrung für Wagner und Frau Cosima doch über verschiedene Kunstbegriffe recht abweichend von den Ansichten dieser Beiden aussprach. Einmal saßen wir in der Parkanlage, und während Fritz41 lebhaft derartige Gedanken erӧrterte, bemerkte ich plӧtzlich, dass jenseits des Busches ein Herr saß, der, das Gesicht uns zugewandt, den Arm auf die Lehne gestützt, sehr aufmerksam zuhӧrte. Es war Turgenew, dessen Photographie ich gerade am Morgen in einem Schaufenster genau betrachtet hatte. Als er sah, dass sein Lauschen von uns bemerkt worden war, stand er auf und ging hӧflich grüssend an uns vorbei. Es interessierte uns nun ausserordentlich zu wissen, ob Turgenew genug Deutsch verstehe, einem solchen Gespräch folgen zu kӧnnen. ‚Es ist nur gut, dass er nicht weiss, wer wir sind’ – meinte Fritz, – ‚denn sonst käme noch Wagner unser Gespräch zu Ohren – das gäbe endlosen Verdruss“.42

Diese Episode weckt ebenfalls Zweifel. Im Februar und März 1875 war Elisabeth Förster-Nietzsche tatsächlich in Bayreuth und verkehrte mit den Wagners. (Ihre direkte Bekanntschaft geht auf den Juli 1870 zurück.43) Nietzsche selbst befand aber sich in diesen Monaten des Jahres 1875 nicht in Baden-Baden, sondern in Basel; Turgenev seinerseits wiederum verbrachte damals insgesamt zwei Tage in Baden-Baden – den 30. Mai und 1. Juni 1875, auf dem Weg nach Karlsbad.44 Somit kann ein Treffen mit Turgenev (oder Pauline Viardot), von dem Elisabeth Förster-Nietzsche ihrem russischen Gast so vertraulich erzählte, schwerlich im Frühjahr 1875 oder im August/September  1876 stattgefunden haben, ebenso nicht zu einem früheren Zeitpunkt.45 Die ganze Erzählung erscheint höchst unglaubwürdig. Vergleicht man beide Auszüge und rekonstruiert die ‚Arbeitsmethode‘ Elisabeth Förster-Nietzsches, so wird man sehen, wie ein eigentlich harmloses Sujet in ihrer Wiedergabe mit – keineswegs zufällig gewählten – Details ausgestattet wird. Elisabeth Förster-Nietzsche spürte, dass zwischen dem Autor 40 41 42 43 44 45

Es geht um Richard Wagner und seine Frau Cosima. D. i. Friedrich (Nietzsche). Förster-Nietzsche 1897, S. 179. Wagner 1997, S. 68. S. Anm. 38 und 39. Nikitina 1995; Mostovskaja 1997; dies. 1998; dies. 2003. Nicht in einer der angegebenen Quellen werden die Namen Nietzsches und Elisabeth Förster-Nietzsches erwähnt.

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von Otcy i deti [Väter und Söhne], der dem Westen den ‚russischen Nihilismus‘ enthüllte, und der Philosophie ihres Bruders, des „überzeugten Nihilisten“, eine innere Verbindung existierte (dieses Thema wird bis heute in der wissenschaftlichen Literatur erörtert46). Die Neigung Nietzsches zur russischen Literatur insgesamt war ihr auch gut bekannt. Eine gewisse Rolle dürfte auch ein anderer Umstand gespielt haben: Gerade zu dieser Zeit (im Oktober 1875) lernte der Schriftsteller und Philosoph Paul Rée (1849–1901) Turgenev persönlich kennen, um anschließend, wie man unschwer annehmen kann, in Basel dem Freund und dessen Schwester von diesem Treffen zu erzählen.47 Nietzsche fühlte sich unverkennbar zu Turgenev hingezogen, suchte mit ihm zusammenzutreffen (die „ehrfurchtsvolle Beziehung“, die Förster-Nietzsche erwähnt, stellt keine Übertreibung dar). L.  Andreas-Salomé erinnert sich, dass sie 1882, als sich ihre „Dreieinigkeit“ bildete, einen gemeinsamen Aufenthaltsort diskutierten und fanden: Paris, „wo Nietzsche gewisse Kollegs hӧren wollte und wo sowohl Paul Rée von früher her als auch ich durch St. Petersburg Beziehungen zu Iwan Turgeniew besaßen“.48 Es ist anzunehmen, dass der innige Wunsch Nietzsches, mit Turgenev Bekanntschaft zu schließen, die Schwester bewegte, die Geschichte ihres imaginären Treffens zu erfinden. Die Wechselbeziehungen zwischen Sukennikov und des „NietzscheArchivs“ beschränkten sich keineswegs auf seinen Besuch 1904. Nachdem er in der russischen Presse, wenn auch mit einiger Verzögerung, den Inhalt seines Gesprächs mit Elisabeth Förster-Nietzsche publiziert hatte, schickte Sukennikov einige Zeitungsausschnitte mit einem Begleitschreiben nach Weimar: „Mein Artikel ‚Nietzsche und Puškin‘, dessen Inhalt ich einem Gespräche vom Jahre 1904 verdanke“, schrieb er E.  Förster-Nietzsche, dabei die Bedeutung seiner Publikation offensichtlich überbewertend, „geht durch die gesamte russische Presse“.49 Viele Jahre später, im Frühjahr 1922, besuchte Sukennikov erneut das „Nietzsche-Archiv“. Begeistert von dem Gesehenen (die Arbeit des „Archivs“ entfaltete sich zu jener Zeit mit besonderer Intensität) versprach Sukennikov, regelmäßig russische Publikationen, die mit Nietzsche im Zusammenhang stehen, nach Weimar zu schicken und übernahm für einige Zeit die Rolle eines sozusagen freien russischen Mitarbeiters oder Korrespondenten des „Nietzsche-Archivs“. Es sind aus dieser Zeit einige 46 47 48 49

Aleksic 1995. P. Rée sandte Turgenev sein frisch herausgegebenes Buch Psychologische Betrachtungen und besuchte den Schriftsteller daraufhin, am 5. Oktober 1875, persönlich in Boujival (Pfeiffer 1970, S. 421–422). Andreas-Salomé 1968, S. 79. „Durch Petersburgs“, d. h. dank ihres Aufenthalts in Petersburg, wo Lou Salomé geboren und bis zu ihrer Abreise nach Zürich 1880 erzogen worden ist. Goethe- und Schiller-Archiv (deutschsprachiger Brief vom 6. Mai 1913 aus Berlin).

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seiner Briefe an das „Archiv“ erhalten, von denen einer (seinem Inhalt nach auf den April 1923 zu datieren) unten angeführt wird: Sehr geehrte Herren, als ich vorigen Frühling die Ehre hatte, von Frau Fӧrster-Nietzsche empfangen zu werden und nach einer kurzen Unterhaltung durch die Räume des Archivs geführt wurde, habe ich als russischer Schriftsteller der Leitung des Archivs angeboten, diejenigen russischen Zeitungen an das Archiv zu senden, in denen Artikel über Nietzsche erschienen sind oder auch nur der Name Nietzsches in einem oder anderem Zusammenhange genannt wird. Seit jener Zeit habe ich mehrere russische Zeitungen geschickt und immer die betreffenden Stellen unterstrichen. Ich will auch in der Zukunft damit fortsetzen, brauche keine jedesmalige Bestätigung, bitte aber mir bei Gelegenheit mitzuteilen, ob diese und ähnliche Sendungen für das Archiv wertvoll und wünschenswert sind. Ergebenst M. Sukennikov50.

Aber wieder verging eine nicht geringe Zeitspanne (sieben Jahre!), bis sich Sukennikov entschloss, den Inhalt seines zweiten Gespräches mit E. FörsterNietzsche in die Öffentlichkeit zu bringen. Dieses Mal erhielt die Publikation die Überschrift „Nietzsche, Dostoevskij und Turgenev. Ein Gespräch mit der Schwester Nietzsches“. Im Hinblick auf Turgenev wiederholte Sukennikov den Inhalt ihres ersten Gespräches (oder möglicherweise wurde er von FörsterNietzsche selbst wiederholt, bei der sich mit der Zeit gewisse Stereotype bezüglich ihres Bruders herausbildeten): Sie war angeblich gleich nach dem ersten Bayreuther Festival in Baden-Baden; Turgenev, den die Erzählung Nietzsches interessierte, suchte ein Treffen mit ihm usw. Es kommen dabei einige, nicht uninteressante Details zum Vorschein: Nichts hatte sich in diesem Saal verändert, seit ich vor zirka zwanzig Jahren zum erstenmal der Schwester des Zarathustra-Dichters meine Aufwartung machte: die Jugendkompositionen Nietzsches unter Glas, das Notenheft sogar auf derselben Seite geöffnet, die sich meinem Gedächtnis so stark eingeprägt hatte, da sie eine Vertonung eines Liedes von Puschkin war; der Säbel Nietzsches, den er als Krankenpfleger im Kriege 1866 trug, auf demselben Platz wie damals; über dem Sofa das schöne Bild von Georg Brandes mit seiner Widmung an den großen Philosophen, den er als allererster verstanden und der Mitwelt erklärt hatte; die vielen Bücher in den Regalen, die Nietzsche sein nannte, in denen er gelesen, die er berührt, auf deren Einbänden sein Auge täglich geruht hatte. Nun kam Frau Förster-Nietzsche herunter, eine kleine Frau, etwas altmodisch gekleidet, mit schönen sehr gepflegten Händen und frischen Gesichtszügen, denen man nicht ansah, daß diese Frau bald die Achtzig überschreiten wird. „Sie waren schon einmal bei uns“, begrüßte sie mich in ihrer lebhaften Weise. 50

Ebd.

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„Ja, gnädige Frau, genau vor achtzehn Jahren.“ „Sie haben uns damals einen Artikel nachgeschickt. Leider konnten wir ihn nicht lesen, aber ich danke Ihnen nachträglich dafür.“ Verblüfft durch diese Stärke des Gedächtnisses erinnerte ich Frau FörsterNietzsche an die Frage, wie wir damals anläßlich meines ersten Besuches erörtert haben, ob das in den Papieren Nietzsches gefundene Manuskript Das Tagebuch eines Nihilisten von Nietzsche herrührte. „Wir haben es herausgefunden“, erzählte mir Frau Förster-Nietzsche. „Es ist ein Werk meines Bruders. Zuerst waren wir etwas unsicher, weil der Titel Das Tagebuch eines Nihilisten zu sehr an die zu jener Zeit moderne nihilistische Literatur erinnerte. Wir fanden in diesem Manuskript gewisse Anklänge an die nihilistische Gedankenwelt und ich und meine Mitarbeiter waren eine Zeitlang geneigt, dieses Manuskript für eine Übersetzung, allerdings nicht aus dem Russischen, sondern aus dem Französischen zu halten. Doch das genaue Studium des weiteren, damals noch nicht veröffentlichten Nachlasses Nietzsches, ließ uns endlich in dem Sinne entscheiden, daß es sich um ein eigenes Werk meines Bruders handelt. Wir haben es auch als solches veröffentlicht im Bande Der Wille zur Macht.51 Mein Bruder hat die Werke Dostojewskis flüchtig gekannt. In seiner Bibliothek fand sich allerdings kein Band Dostojewskis, damit ist aber nicht gesagt, dass er Dostojewski nicht gelesen hat oder die Abhandlungen über die Dostojewskische Ideenwelt, die schon damals in der deutschen und französischen Presse erschienen waren, nicht kannte. Die Ähnlichkeit verschiedener Gedankengänge bei Dostojewski und Nietzsche beschäftigt schon seit langem 51

Es geht um den 9. und 10. Band der Ausgabe Nietzsche 1906. Der Text dieser Ausgabe, den Elisabeth Förster-Nietzsche mit ihrer „Einleitung“ und ihren „Kommentaren“ ausstattete („völlig neu gestaltete Ausgabe“), unterscheidet sich wesentlich von der ersten Veröffentlichung des Willens zur Macht 1901 in der 16-bändigen Ausgabe (Nietzsche 1901), die ebenfalls von Elisabeth Förster-Nietzsche realisiert wurde. In die russische Übersetzung des Willens zur Macht (Nicše 1910,) gingen die Einführung und abschließenden Anmerkungen Elisabeth Förster-Nietzsches aus der Ausgabe Nietzsche (1906) ein (der Band wurde 1994 und 1995 wiederaufgelegt; dagegen erschienen weder der 10. Band noch die Bände 4 bis 8 dieser Ausgabe 1906 in russischer Sprache). Es muss gesagt werden, dass Elisabeth Förster-Nietzsche den Konzepten, Entwürfen und Aphorismen Nietzsches aus den 1880er Jahren, die auch in Der Willen zur Macht eingeflossen sind, besondere Bedeutung beimaß, denn es ging, ihrer Annahme nach, um das Hauptbuch ihres Bruders, um seinen Versuch der „Umwertung aller Werte“. Eine Reihe von Fragmenten, die in dem 9. und 10. Band der Leipziger Ausgabe 1906 abgedruckt wurden, sowie ihre genaue Beschreibung und Entstehungsgeschichte hatte Förster-Nietzsche bereits in dem letzten Band ihrer Nietzsche-Biographie veröffentlicht (Förster-Nietzsche 1904). Spätere Forscher zogen bekanntlich die Editionsprinzipien, die Förster-Nietzsche bei der Herausgabe zu Grunde legte, die Auswahl der Texte, ja den Titel selbst in Zweifel. Die Frage des „Nihilismus“ ist in diesem Buch in der Tat zentral, sie wird ausführlich in den einzelnen Teilen dargelegt und verbindet diese dadurch untereinander. Was Das Tagebuch eines Nihilisten jedoch betrifft, so wird ein solches Werk Nietzsches (oder ein Fragment dieses Titels) in keiner der genannten Quellen erwähnt.

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Russen im Nietzsche-Archiv die literarisch-wissenschaftliche Welt. Doch wird es wohl ein ewiges Geheimnis bleiben, ob mein Bruder von Dostojewski beeinflußt war oder ob die beiden Genies ganz unabhängig von einander ihre Ideen, allerdings in so grundverschiedenen äußeren Formen, entwickelt hatten.52

Die Erzählung  M.  Sukennikovs über den Besuch des „Archivs“ endet mit folgender Passage: Nun entschuldigte sich Frau Förster-Nietzsche mit leichter Müdigkeit und zog sich in ihre Zimmer zurück, während Major Köhler53 unsere Führung durch die Räume des Nietzsche-Archivs übernahm. Wir sahen nochmals alle Reliquien, die mit dem Leben Nietzsches verknüpft sind und im Nietzsche-Archiv aufbewahrt werden, die zahlreichen Bücher, die durch die Schriften Nietzsches in der Welt entstanden sind, und endeten den Rundgang in dem Arbeitsraum des Archivs, wo von einer Sekretärin Hunderte von Presseausschnitten und Dutzende von Bücher, die täglich aus allen Ländern der Welt als in irgendeinem Zusammenhang mit Nietzsches Werken und Gedanken stehend einlaufen, gesammelt und registriert werden. Nur das Sterbezimmer Nietzsches wurde uns nicht gezeigt. „Die Schlüssel sind bei Frau Förster-Nietzsche“, erklärte uns Major Köhler, „und sie hat den Wunsch geäußert, daß dieses Zimmer nur nach ihrem Tode den Besuchern gezeigt werden darf, denn es würde sie sehr erregen, falls irgend jemand die Schwelle dieses Heiligtums überschreiten würde.“54

Die Geschichten Elisabeth Förster-Nietzsches sind bei aller Fingiertheit vieler Details (besonders des „Turgenev“-Sujets) nicht ohne Interesse. Auch wenn man in ihnen für gewöhnlich noch das Glaubwürdige skeptisch betrachtet, – ihr Hinweis auf die musikalische Bearbeitung des Puškin-Gedichts, die Geschichte des Tagebuches eines Nihilisten, schließlich ihre (im Großen und Ganzen recht treffende) Bemerkungen über den Einfluss Dostoevskijs auf Nietzsche

52

Sukennikow 1929a. Wiederabdruck unter ebendiesem Titel Sukennikov 1929b; und noch einmal (als Nacherzählung) in italienischer Sprache in der genuesischen Zeitschrift Le opere et i giorni (Sukennikov 1929c). 53 Gemeint ist Major a.  D.  Max  Oehler (1875–1948?), ein Verwandter Nietzsches (mütterlicherseits) und Mitarbeiter des Nietzsche-Archivs in den Jahren 1919–1945. Oehler leitete das Archiv nach dem Tod Elisabeths Förster-Nietzsches.) Gerade an ihn sind die meisten der erhaltenen Briefe  M.  A.  Sukennikovs an das „Nietzsche-Archiv“ gerichtet. Die Arbeit des „Archivs“ unterstützten auch Oehlers Brüder, Richard und Adalbert. Unter den Publikationen Oehlers (siehe auch Anm.  29) ist der von ihm zusammengestellte Jubiläumsband zu nennen (Oehler 1921), zu dessen Beiträgern Ernst Bertram, Thomas Mann, Hans Vaihinger, Paul Ernst u. a. zählen. Friedrich Köhler, der Autor einiger Arbeiten über Nietzsche, befand sich nicht unter den Mitarbeitern des „Archivs“. 54 Sukennikow 1929a.

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(„ewiges Geheimnis“) sollten bei der Untersuchung der russischen Rezeption Nietzsches nicht vernachlässigt werden. *** Es stellt sich die berechtigte Frage, ob Sukennikov den Inhalt seiner Gespräche mit Förster-Nietzsche genau wiedergegeben habe. Natürlich spricht das Faktum, dass die angegebenen Publikationen Sukennikovs zu Lebzeiten Elisabeths entstanden, ihr sogar zugesandt wurden, für eine gewisse Glaubwürdigkeit. Aber es gibt einen Umstand, der die journalistische Reputation Sukennikovs oder wenigstens die Zuverlässigkeit seines Gedächtnisses ernsthaft anzweifeln lässt. Die Sache ist die, dass Sukennikov sehr viel später, bereits nach Ende des Zweiten Weltkrieges, abermals in der Presse mit Berichten über seine Treffen mit der Schwester des Philosophen hervortrat, die er diesmal in der dänischen Zeitung Morgenbladet publizierte. Diese Skizze enthält eine Reihe neuer, überaus interessanter Mitteilungen, wobei eine davon eine wissentliche Lüge darstellt: Sukennikov behauptet, er wäre nicht zweimal, sondern dreimal im Hause Nietzsches gewesen, und zwar das erste Mal angeblich noch zu Lebzeiten des Philosophen. Als er Ende des letzten Jahrhunderts noch in Berlin Medizin studierte, so erinnert sich Sukennikov, habe sich an ihn M. M. Filippov, Redakteur der Petersburger Zeitschrift Naučnoe obozrenie [Wissenschaftliche Rundschau] gewandt und ihn gebeten, von Frau Förster-Nietzsche die Einwilligung zur Publikation bislang unveröffentlichter Texte Nietzsches zu erlangen. Mit dieser Absicht, schreibt Sukennikov weiter, habe er sich denn auch nach Weimar begeben, wo er Förster-Nietzsche traf, die keinerlei Einwände gegen eine Publikation in der russischen Zeitschrift erhoben habe. Während ihres Gespräches sei Nietzsche ins Zimmer gekommen. Ohne den Gast zu beachten, habe er irgendein Buch genommen und es verkehrt herum haltend zu lesen begonnen. Sukennikov habe das Aussehen Nietzsches überrascht: Er sei frisch rasiert gewesen und habe gepflegt ausgesehen. Doch der Blick seiner leeren Augen habe Traurigkeit ausgedrückt. Diese Erzählung kann nicht in Gänze für erfunden erklärt werden. Der Mathematiker, Philosoph, Autor zahlreicher wissenschaftlicher und populärwissenschaftlicher Arbeiten Michail Michajlovič Filippov (1858–1903) war seiner Zeit genauso bekannt wie die von ihm gegründete philosophischliterarische Zeitschrift Naučnoe obozrenie [Wissenschaftliche Rundschau] (1894–1903), ein liberales und für seine Zeit sogar „progressives“ Periodikum, in dem Arbeiten von Marx, Lenin (unter dem Pseudonym N. Il’in), Plechanov,

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Vera Zasulič, Aleksandra Kollontaj u. a. erschienen.55 Ab Mitte der 1890er Jahre zeigte die Zeitschrift ein eindeutiges Interesse an Nietzsche. Eben in dieser Zeitschrift wurde 1897 der für Russland erste Artikel mit einer Beschreibung des Weimarer Hauses, in dem sich der Philosoph gerade niedergelassen hatte, abgedruckt.56 1901 brachte Filippov in der Zeitschrift einen eigenen Nietzsche gewidmeten Artikel unter57 und in dem siebten und achten Heft desselben Jahrgangs die Übersetzung von Briefen Nietzsches an seinen Freund Carl von Gersdorff (die seit Anfang 1900 in Deutschland publiziert wurden). Es ist möglich, dass sich Filippov aus gegebenem Anlass auch an Elisabeth FörsterNietzsche als Herausgeberin und Erbin Nietzsches wandte und dabei seine Bekanntschaft mit Sukennikov nutzte, der noch 1898 in Naučnoe obozrenie (Nr. 2) einen Artikel über die Verbreitung der Universitätsbildung in Europa publiziert hatte. In diesem Teil erscheinen die Erinnerungen Sukennikovs mehr oder weniger glaubhaft. Dagegen ist die Weimar-Reise Sukennikovs zu Lebzeiten Nietzsches (also noch vor August  1900) ganz offensichtlich erfunden. Sie steht vollkommen im Widerspruch zu dem, was Sukennikov, und zwar wiederholt, in seinen früheren Skizzen geäußert hatte (z. B. über seinen „langgehegten sehnlichen Wunsch“, auf den Spuren Goethes und Schillers zu wandeln, der erst 1904 umgesetzt wurde, usw.). Was die weiteren Erinnerungen an den zweiten und dritten Aufenthalt Sukennikovs im „Nietzsche-Archiv“ betrifft (der zweite „im August 1904“, der dritte „fast zwanzig Jahre später“), so ist festzuhalten, dass sie sich zum Teil mit dem Inhalt der früheren Publikationen decken, zum Teil diesen widersprechen. Das 1904 mit der Schwester Nietzsches geführte Gespräch kreist natürlich wiederum um Puškin und Turgenev. In der Vergangenheitsversion berichtet Sukennikov, Förster-Nietzsche habe ihm angeblich gesagt, dass Nietzsche Puškin in der Übertragung Friedrich Bodenstedts gekannt hätte (vgl. ihre Worte, die Sukennikov in dem Artikel von 1912 anführt). Weiter habe sie gesagt: „Mein Bruder kaufte das Buch und las es mehrmals. Nicht alles gefiel ihm. Weder die patriotischen, fast chauvinistischen, noch die typisch russischen Gedichte Puškins riefen seine Bewunderung hervor. Aber die Verse über die Liebe verzauberten meinen Bruder durch ihre Aufrichtigkeit und feinen Nuancen“. Was Turgenev und Nietzsche betrifft, so wird dem Leser erneut die Geschichte ihres „Treffens“ im Park von Baden-Baden vorgelegt. Freilich tauscht 55 56 57

S. Ukazatel’ 1923. Cukerman 1897. Filippov 1901.

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diesmal Nietzsche mit seiner Schwester seine Eindrücke von der Premiere der Wagner-Oper Tristan und Isolde im Bayreuther Theater58, während Turgenev ihr Gespräch aus einiger Entfernung „belauscht“. Dann treffen sich Turgenev und Nietzsche in der Privatvilla und geraten in Streit: Turgenev preist das „Ideal der Schönheit“ und Nietzsche die „Schönheit der Macht“. Turgenev fällt es, wie sich herausstellt, schwer, seinen Gesprächspartner in deutscher Sprache zu widerlegen, aber es tritt eine der Damen für ihn ein, indem sie versichert, dass „tausende russische junge Mädchen ihr Leben nach dem Ideal des Schriftstellers umgestaltet“ hätten. Sodann spricht Nietzsche von Dostoevskij, „bei dem er oft den Abglanz seiner eigenen Ideen wahrgenommen“ habe. Die Beschreibung des dritten Besuchs ist in der Variante von 1945 um ein ausführliches Gespräch über Georg Brandes ergänzt, dessen „wunderschöne Fotografie“ mit Widmungsinschrift für Nietzsche Sukennikov schon bei seinem Besuch 1922 erwähnte. Sukennikov habe geschildert, dass er während des Krieges Gelegenheit hatte, in Kopenhagen einen Vortrag von Brandes zu hören. Die Schwester Nietzsches sei ihm mit Zwischenrufen von der Art: „Er war unser Führer“; „Er ist unser Meister“ ins Wort gefallen. Und habe hinzugefügt: „Ich kann mir die Entwicklung meines Bruders nicht ohne die treue Hand von Georg Brandes, der ihn zur Literatur geführt hat, vorstellen“. Nach dem Gespräch zum Thema „Brandes und die Tschechoslowakei“ sei die Reise Brandes’ nach Russland zur Sprache gekommen.59 Förster-Nietzsche habe sich interessiert, ob Brandes Tolstoj in Jasnaja Poljana besucht habe. Er, Sukenni­ kov, habe ihr berichtet, die beiden hätten sich in Moskau in dem literarischen Salon von Frau Chin kennengelernt.60 An dem Gespräch seien des Weiteren ein „Professor aus Bonn“ sowie Dr. Oehler beteiligt gewesen.61 Der Professor habe angemerkt, er habe bis dahin nicht gewusst, dass Brandes ein Jude sei. Förster-Nietzsche habe versichert, dass sich ihr Bruder nie gegen Juden ausgesprochen habe und dass die feindselige Einstellung Wagners gegenüber Juden letztendlich der Grund gewesen sei, mit ihm zu brechen. Als Elisabeth Förster-Nietzsche starb, so teilt 58 59 60

61

Die Premiere dieser Oper im Bayreuther Theater fand 1886 statt (Turgenev lebte schon gar nicht mehr!). Brandes bereiste Russland im Frühjahr 1887; er hielt in Petersburg, Moskau und Smolensk Vorträge (in französischer Sprache). Chin (Chin-Gol’dovskaja) Rašel’ Mironovna (1863–1928), Schriftstellerin, Theaterkritikerin;  Frau des bekannten Anwalts  O.  B.  Gol’dovskij. Sie war mit Georg Brandes befreundet und korrespondierte mit ihm. Lev Tolstoj lernte sie im April 1900 kennen (s. Sitkoveckaja 1998, S. 89). Von einer persönlichen Bekanntschaft L. Tolstojs und Brandes’ ist nichts bekannt. Siehe Anm. 53.

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Sukennikov abschließend mit, habe Hitler den Wunsch geäußert, der kleinen Zeremonie an ihrem Grab beizuwohnen und im Zusammenhang damit sei die Fotografie von Brandes von der Wand abgehängt worden.62 Man sieht, wie die offensichtlichen Unstimmigkeiten, die auf Elisabeth Förster-Nietzsche zurückgehen, durch diejenigen aus der Feder Sukennikovs überlagert und verschärft werden. Allerdings hat letzterer im Gegensatz zu Elisabeth Förster-Nietzsche natürlich nicht „seinen“ Nietzsche erschaffen. Von seiner Erinnerung 1945 bleibt ein widersprüchlicher Eindruck zurück. Einerseits ist Sukennikov gleichsam bestrebt, „zu Ende zu erzählen“, seine Skizzen um konkrete Details zu ergänzen, die er früher verschwiegen hatte. Andererseits hat man unverkennbar mit Erfindungen zu tun (der erste Besuch, der „Streit“ Nietzsches mit Turgenev usw.). Möglicherweise wollte der Memoirenschreiber, der sich bereits in vorgerücktem Alter befand, ein Bild von sich als einem der Auserlesenen hinterlassen, der „Nietzsche selbst“ von Angesicht zu Angesicht begegnet sei?! Oder hatte ihn hinsichtlich des Datums seiner ersten Weimar-Reise sowie der Geschichten der redseligen Elisabeth FörsterNietzsche sein Gedächtnis schlicht im Stich gelassen, zumal er seine eigenen älteren Publikationen nicht mehr zur Hand hatte? Ein nicht seltener und für das Genre, in dem sich bekanntlich Dichtung und Wahrheit miteinander verbinden, höchst charakteristischer Fall. *** Neben dem „ewigen Geheimnis“ um den Einfluss Dostoevskijs auf Nietzsche bleibt ein weiteres Rätsel, das bis heute nicht gelöst ist: Maksim Gor’kij und Nietzsche. Die Frage, ob Gor’kij ein Nietzscheaner gewesen sei oder nicht, wird schon über ein Jahrhundert lang erörtert. Das Problem stellte sich zeitgleich mit den Lumpenproletariern („bosjaki“) Gor’kijs ein, seinen anarchistischen „individualistischen“ Helden. Die Generation der Jahrhundertwende nahm den Schriftsteller unter eben diesem Vorzeichen wahr. „Zu jener Zeit“, erinnert sich beispielsweise Vladimir Žabotinskij, „kannten wir Gor’kij nur von seinen Kurzerzählungen her, die uns erschienen wie ein Widerhall der Lehre Nietzsches, freilich gehüllt in ein russisches Gewand. Er pries die Menschen des Willens und der Tat, die Sklaven einer ‚Reflexion‘, die ein jedes kühnes Unterfangen seiner Kraft beraube und ersticke, strafte er mit Verachtung.“63 Gemessen an dem in der Sowjetunion kanonisierten Bild Gor’kijs war der russische Schriftsteller jedoch nicht anders als der ideologische Antipode 62 63

Sukennikow 1945. Eine Kopie des Artikels habe ich dank der freundlichen Unterstützung durch Prof. Peter Ulf Møller (Kopenhagen) erhalten. Žabotinskij 1989, S. 31–32.

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Nietzsches zu denken, so dass allein der Gedanke einer ideologischen Nähe beider als lästerlich aufgefasst wurde. Die sowjetische Literaturwissenschaft kämpfte beharrlich für die Reinheit des Bildes des proletarischen Schriftstellers. „Liberal-bourgeoise Literaturwissenschaftler (z.  B. S.  A.  Vengerov) machten einem weis, dass Gor’kij ein Nietzscheaner sei und trachteten, ihn zu einem bourgeoisen Schriftsteller zu machen, ihn zu einem Künstler des dekadenten Lagers zu erklären“, schrieb beispielsweise einer der sowjetischen Gor’kij-Forscher Michajlovskij.64 Immerhin erkannte man seinerzeit gelegentlich an, dass die Problemstellung gerechtfertigt sei. Wie anders, wenn sie doch von Gor’kij selbst „geheiligt“ war, der angelegentlich seines Lumpenproletariats ganz und gar beipflichtete, dass er es „mit diesem und jenem aus der Philosophie Nietzsches ausgestattet habe“.65 Als natürliche Reaktion auf die kärgliche und insgesamt einseitige Beleuchtung des Themas ‚Gor’kij und Nietzsche‘ durch die sowjetische Literaturwissenschaft ist die Serie westlicher Untersuchungen über den Nietzscheanismus Gor’kijs zu sehen, die in den 1960er und 1970er Jahren erschienen und das belegten, was ohnehin augenscheinlich ist: In den „meuternden“ Personen des jungen Gor’kijs wie auch in seinen späteren Werken (bis zu seinem Poem Čelovek [Der Mensch] (1904) und Ispoveď [Die Beichte] (1908) zeige sich das neoromantische Pathos Nietzsches. Daher sei es aus historisch-literarischer Sicht völlig gerechtfertigt, den Namen des deutschen Philosophen und des russischen Schriftstellers miteinander in Bezug zu setzen. Gleiches äußerten im letzten Jahrzehnt auch einheimische Literaturwissenschaftler. „Man hat es hier nicht mit einer von Kritikern kolportierten ‚Legende‘ zu tun, sondern mit einer ernsthaften Problemstellung, der man sich bis in die jüngste Zeit entzog“, stellt M. G. Petrova richtig.66 Angesichts des nicht nachlassenden Interesses67 lässt sich sagen, dass jedwedes Dokument, das die Beziehung Gor’kijs zu Nietzsche erhellt, von historisch-kulturellem Wert ist, so nebensächlich es zunächst erscheinen mag. Im Februar (am 1. März neuen Stils) 1906 traf M. Gor’kij, nachdem er Russland verlassen hatte, zusammen mit Maria Andreeva in Berlin ein, wo er sich fast drei Wochen aufhielt, dicht gedrängt mit Begegnungen und Gesprächen. Er traf sich mit den Führern der deutschen Sozialdemokratie, gab den großen 64

65 66 67

Michajlovskij 1965, S. 37. Ein weiterer Titel einer „wissenschaftlichen“ Arbeit (Makarov 1972) lautet: Legenda o nicšeanstve A. M. Gor’kogo kak buržuaznaja reakcija na rasprostranenie filosofii marksizma v Rossii [Die Legende vom Nietzscheanismus  A.  M.  Gor’kijs als bourgeoise Reaktion auf die Verbreitung der Philosophie des Marxismus in Russland]. Gor’kij 1953, S. 322. Petrova 1989, S. 80. Siehe eine Reihe neuerer Arbeiten: Ravdin 1988;  Kolobaeva 1990;  Polujachtova 1993; Basinskij 1993; Egorova 1994 u. a.

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deutschen Zeitungen Interviews, posierte bildenden Künstlern (Leonid Pasternak, Emil Orlik), trat im Deutschen Theater mit einer Lesung der Legende von Danko auf usw.68 Am 7. März lernte er den Regisseur Max Reinhardt kennen, der bereits 1903 (zusammen mit Richard Vallentin) das Stück Na dne [Auf dem Grund] auf der Bühne des Berliner Kleinen Theaters mit großem Erfolg aufgeführt hatte. In der Saison 1905/1906 verblüffte Reinhardt die Berliner mit einer neuartigen Inszenierung von Hugo von Hofmannsthals Stück Ödipus und die Sphinx (nach Sophokles). Theaterliebhaber aus verschiedenen Städten Deutschlands bemühten sich, die Premiere am 2. Februar oder eine der folgenden Aufführungen sehen zu können. Aus Weimar reisten Harry Graf Kessler und Henry van de Velde an, beide Anhänger Reinhardts und seiner Truppe. Am 15. März schrieb Kessler (aus Berlin) an Hugo von Hofmannsthal: Dass Gorki hier ist, weißt Du vielleicht. Reinhardt hat mich neulich mit ihm zu Tisch eingeladen. Ich habe einen ganz gewaltigen Eindruck von ihm gehabt, ganz inkommensurabel mit seinem Werk, das ich schätze, ohne es irgendwie hors de pair69 zu finden. Er ist aber, hors de pair, ein Herz, das ganz und gar über allem steht, was man sonst trifft, und das einen sofort gefangen nimmt. Du musst ihn kennenlernen, es ist ein Erlebnis.70

Aus den erhaltenen Materialien ist ersichtlich, dass Kessler und Gor’kij während des Essens über Nietzsche sprachen. Man wird schwerlich daran zweifeln, dass beide in ihrer Bewunderung – um nicht zu sagen Hochachtung vor seinem Andenken – zueinander fanden. Außerdem ist bekannt, dass Kessler Gor’kij vom „Nietzsche-Archiv“ und „Neuen Weimar“ erzählte und sich erbot, zwischen dem russischen Schriftsteller und der Schwester des Philosophen zu vermitteln (die ihrerseits nach Berlin gereist war, um das Hofmannsthal-Stück in Reinhardts Theater zu sehen). Diese Unterredungen mündeten in eine offizielle Einladung, die Elisabeth Förster-Nietzsche am 12. März an Gor’kij sandte. Dieser Brief befindet sich im Archiv M. Gor’kijs.71 Sein Text wird nachfolgend nach dem Entwurf in den Papieren Elisabeth Förster-Nietzsches zitiert:

68 69 70 71

Letopis’ 1958, S. 586–590. Unvergleichlich (franz.). – Von dem gewaltigen Eindruck, den Gor’kij mit seinem Auftritt im Deutschen Theater auf Kessler machte, zeugt der Tagebucheintrag vom 10. März 1906 (Kessler 2004, S. 98–99). Hofmannsthal; Kessler 1968, S. 115–116. Letopis’ 1958, S. 588.

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S[ehr] g[eehrter] Herr, Durch Herrn von de Velde und Graf Kessler hӧrte ich, dass Sie meinen Bruder lieben und verehren und gern die Stätte betreten mӧchten, wo der Teure zuletzt geweilt hat. Da mӧchte ich Ihnen nur sagen, dass Sie und Ihre Frau Gem[ahlin] mir herzl[ich] willkommen sind und dass ich mich aufrichtig freue, Sie, von welchem meine Freunde mit solcher Begeisterung sprechen, im Nietzsche-Archiv zu begrüssen und kennenzulernen. Die nächsten Tage bin ich verreist, aber Sonnabend, den 17. März, werde ich wieder zurück sein.72

Gleich nach ihrer Rückkehr erhielt Elisabeth Förster-Nietzsche eine Antwort von Maksim Gor’kij, die Maria Andreeva auf Deutsch verfasst und die er durch seine Unterschrift autorisiert hatte: Hoch geehrte Frau! Es kann keinen sinnenden Menschen auf der Welt geben – er kann nicht ein Künstler73 sein – wenn er Ihren Bruder verehren und lieben nicht versteht. Mir wäre es eine so grosse Freude Ihr Haus, gnädige Frau, zu betreten, aber gleich – es ist mir so ganz unmӧglich, da ich sehr weit, nach America [sic!], wichtigen Grundes wegen – gehen muss. Ich werde die Hoffnung hegen, dass wenn ich einmal wieder zurück bin – erlauben Sie mir dann Sie aufsuchen dürfen? Meine Frau dankt bestens für Ihre liebenswürdige Einladung und sendet Ihnen ihren ehrerbietigen Gruss und ich – küsse die teuere Hand Nietzsches Schwester. M. Gor’kij 17. M[ärz] 1906 J[ahr].74

Die Absage Gor’kijs war natürlich der zeitlichen Bedrängnis geschuldet: Man kann an seinem aufrichtigen Wunsch, Weimar und das „Nietzsche-Archiv“ zu besuchen, nicht zweifeln. Es blieb dem Schriftsteller jedoch tatsächlich keine Zeit für die Reise; schon am 20. März sollte er Deutschland verlassen. Später, während seiner „zweiten Emigration“, lebte Gor’kij einige Jahre (1921–1923) in Deutschland und reiste viel durch das Land; dennoch war es ihm, soweit bekannt, nicht vergönnt, Weimar aufzusuchen. Aus dem Russischen übersetzt von Anne Hultsch 72 73 74

Goethe- und Schiller-Archiv. Im Original: Kunsler (sic!). Ebd. Auf Russisch Azadovskij 1996. Der Brief M. Gor’kijs wie auch der Brief E. FörsterNietzsches vom 12. März 1906 sind im 5. Band der Briefe Gor’kijs abgedruckt (Gor’kij 1999, S. 151–152, 423–424).

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„Das Land der Genies“ – Deutschland, gesehen von Andrej Belyj Konstantin Asadowski, Aleksandr Lavrov „Deutschland, das klassische Land der Genies, wird im Russland der Décadence, dem künftigen Land der Propheten, fortgesetzt.“ (Andrej Belyj an Ėmilij Medtner)1

Der Prosaist, Lyriker und Denker Andrej Belyj (Pseudonym für Boris Nikolaevič Bugaev, 1880–1934) war einer der bedeutendsten Repräsentanten des russischen Symbolismus. Er gehörte zu den russischen Autoren, deren Denken und Schaffen schon sehr früh durch die deutsche Kultur (Philosophie, Literatur und Musik) im selben Maße geprägt waren wie durch die russische. Ja, man kann sogar sagen, die geistigen Impulse aus Deutschland wirkten stärker auf ihn als die russischen Schriftsteller und Philosophen. Nachhaltigen Einfluss auf den Jugendlichen übten Schopenhauer und Nietzsche aus; an deren Stelle traten in dem Jahrzehnt nach 1900 Kant und die Neukantianer (auf sie stützte sich Belyj in diesen Jahren bei seinen Bemühungen um eine erkenntnistheoretische Fundierung des Symbolismus). Nach 1910 folgte er Rudolf Steiner auf dem Pfad der anthroposophischen „Geheimwissenschaft“. Dies sind nicht weniger wichtige Marksteine in der geistigen Entwicklung Andrej Belyjs als die Werke Gogol’s oder Dostoevskijs, Vladimir Solov’ëvs oder Aleksandr Bloks. Schon Belyjs frühkindliche Vorstellungen von Dichtung sind mit deutschen Versen verbunden. „Die ersten Offenbarungen der Dichtung beim Hören von Uhlands Gedicht ‚Schloss am Meer‘“, erinnert er sich später mit Blick auf das Jahr 1884.2 An anderer Stelle teilt er mit: * Erstverӧffentlichung in: Deutsche und Deutschland aus russischer Sicht. 19./20. Jahrhundert: von den Reformen Alexanders II. bis zum Ersten Weltkrieg. Hg. von Dagmar Herrmann. Redaktionelle Bearbeitung Mechthild Keller, Maria Klassen und Karl-Heinz Korn. München 2006. S.  753–791 (= West-östliche Spiegelungen. Wuppertaler Projekt zur Erforschung der Geschichte deutsch-russischer Fremdenbilder unter der Leitung von Lew Kopelew †. Weitergeführt von Karl Eimermacher. Reihe B Band 4). 1 Andrej Belyj an Ėmilij Medtner, 2./3. Juli 1903. In: Belyj, Medtner 2017, S. 281. Ėmilij Karlovič Medtner (1872–1936), Musikkritiker, Journalist und Philosoph; einer der engsten Freunde und Mitstreiter Belyjs während des ersten Jahrzehnts seiner literarischen Tätigkeit. 2 Belyj 2016, S. 31. Kursiv im Original Deutsch. © Brill Fink, 2022 | doi:10.30965/9783846766767_007

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„Das Land der Genies“: Deutschland, gesehen von Andrej Belyj Gedichte von Uhland, Heine und Goethe […] riefen eine belebende Wirkung hervor; seltsam, daß es deutsche Gedichte waren, die mich zunächst stark beeinflußten; meine deutsche Gouvernante las mir Uhland, Goethe und Heine laut vor.3

In der Trilogie seiner Erinnerungen schreibt Andrej Belyj, dass er sich nicht entsinne, wann er das Deutsche zu verstehen begann: „wahrscheinlich habe ich es bei Karolina Karlovna gelernt“4. Dieselben deutschen Gedichte hörte der kleine Junge auch von seiner zweiten Gouvernante Raisa Ivanovna. In seinen Aufzeichnungen heißt es: Sie liest mir Gedichte von Uhland, Heine, Goethe und Eichendorff5 vor, […] die Fabel verstehe ich schlecht, aber die Verse verstehe ich mit dem Herzen; und erstmals höre ich Musik, die mich tief aufwühlt; die Mutter spielt Beethoven, Chopin und Schumann […]. (S. 186)

Zu den Gedichten, die Raisa Ivanovna dem Jungen im Herbst 1884 vortrug, gehörte auch Goethes Ballade Erlkönig, die einen „erschütternden Eindruck“ (S. 181) hinterließ. Diesen Eindruck „vermittelte“ Belyj später dem Helden seines wichtigsten Romans Petersburg (1911–1913) Nikolaj Apollonovič Ableuchov, in dessen Erinnerung „ein Stück Kindheit“ wiedererstand: Auf den zitternden Knien der Alten, Fräulein Nockert, – der Gouvernante – ruht, das sieht er, sein Kopf; die Alte liest unter der Lampe: Wer reitet so spät durch Nacht und Wind? Es ist der Vater mit seinem Kind … Plötzlich – toben vor den Fenstern Unwetter-Böen; und dort wütet die Nacht, und dort wütet der Sturm: dort begibt sich, wahrscheinlich, die Jagd nach dem Kind; an der Wand zuckt der Schatten der Gouvernante.6

3 Ebenda, S. 20. 4 Belyj 1989, S. 186. Im Folgenden wird aus diesem Werk mit entsprechenden Seitenangaben im Text zitiert. – Karolina Karlovna war ein deutsches Kindermädchen im Hause der Familie Bugaev. 5 Seine Liebe zu Eichendorffs Lyrik und zu den Liedern nach dessen Gedichten bewahrte Belyj sein Leben lang. Vgl. Belyj 1924, S. 34. Auf Deutsch erschienen unter dem Titel: Im Reich der Schatten Berlin 1921 bis 1923. Mit einem Essay von Karl Schlögel. Aus dem Russischen übersetzt von Birgit Veit. Frankfurt a. M. 1987; Zitat, S. 39. 6 Belyj 1981, S. 315 f. Deutsch zit. nach Andrej Belyj: Petersburg. Roman in acht Kapiteln mit Prolog und Epilog. Aus dem Russischen von Gabriele Leupold. Mit einem Nachwort von Ilma Rakusa. Frankfurt a. M. und Leipzig 2001, S. 472 f. Kursiv im Original Deutsch.

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Der musikalische Einfluss der Mutter verbindet sich mit dem entgegengesetzten, dem „wissenschaftlich-philosophischen“ des Vaters Nikolaj V. Bugaev, der als Professor für Mathematik an der Moskauer Universität lehrt und als Denker in der Tradition Leibniz’ steht. Dem mit der deutschen klassischen Philosophie gründlich vertrauten Vater ist es zu verdanken, dass der künftige Schriftsteller schon in früher Jugend ständig die Namen Leibniz, Kant, Hegel und die anderer deutscher Philosophen hört. Auch seine naturwissenschaftlichen Interessen werden im elterlichen Haus geweckt. Über sich selbst und seinen Vater schreibt Belyj: „Wir unterhielten uns friedlich über Wundts Begriff der Ursächlichkeit und Ostwalds Energiebegriff“. Und er fasst zusammen: „Mein Vater war mein erster ideologischer Begleiter, der mich über Jahre hinweg geleitet hat […]“7 (S. 51, 65). Allerdings zeigt sich schon während des achtjährigen Besuchs (1891–1899) in Lev I. Polivanovs Privatgymnasium Belyjs Bestreben, die „Philosophie der Väter“, den in seinen Augen vordergründigen und oberflächlichen Positivismus, zu überwinden. Bereits in seiner Kindheit war er nämlich religiösmystischen Anwandlungen unterworfen, die sein Interesse für den Bereich des „Unbewussten“ und des „Unbegreiflichen“ weckten. Den Gymnasiasten zieht es zum okkulten „Wissen“, zu den philosophisch-mystischen Offenbarungen der Weisheit des Altertums; er liest die Werke der Elena Blavatskaja8 und anderer spiritistischer Autoren. Besonders Religion und Kultur des alten Indien haben es ihm angetan. „Die Upanishaden führten mich zu Schopenhauer“, erklärt er im ersten Band seiner Memoiren (S. 337), in dem er unter anderem beschreibt, wie er Die Welt als Wille und Vorstellung, das Hauptwerk des deutschen Philosophen, „bezwang“: „mit einem Konspekt und der Übertragung eines Paragraphen pro Tag“. Schopenhauers Pessimismus, mit dessen Hilfe er sich nach eigenem Bekunden von dem „beleidigend deutlichen Optimismus der positivistisch beschränkten kleinen Wohnungen“ „abnabeln“ konnte, nahm Belyj „durch die Möglichkeit, unmittelbar der Idee ansichtig zu werden“, gefangen (S.  197, 325). „Die Welt ist meine Vorstellung“ – auf dieser „aufrührerischen“ These, die völlige schöpferische Freiheit voraussetzt und in prinzipiellem Gegensatz zum wissenschaftlichen Determinismus der positivistischen Wissenschaft steht, gründet das Verständnis des Lebens als

7 Wilhelm Wundt (1832–1920), Psychologe und Philosoph. Wilhelm Friedrich Ostwald (1853– 1932), Naturwissenschaftler; beeinflusste entscheidend die Entwicklung der physikalischen Chemie. 8 Elena Petrovna Blavatskaja (1831–1891), Schriftstellerin, Gründerin der „Theosophischen Gesellschaft“ (1873).

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ästhetisches Phänomen. Dieses Verständnis wird durch Belyjs Bekanntschaft mit Schopenhauers Ästhetik befördert. Nachdem ich mir Schopenhauers Philosophie der Musik angeeignet hatte, verdreifachte sich meine Aufmerksamkeit für die Musik (S. 337).

Es ist aufschlussreich, dass gerade die Bekanntschaft mit Schopenhauer Belyjs Hinwendung zu Afanasij Fet, dem Verehrer und Übersetzer Schopenhauers und einem der bedeutendsten Dichter des 19. Jahrhunderts, vorbereitete. „[…] nachdem ich erkannt hatte, daß Fets geistiger Führer Schopenhauer gewesen war, entdeckte ich den russischen Dichter; Fet wurde in den folgenden fünf Jahren zu meinem Lieblingsdichter“ (S. 339). In späteren autobiographischen Schriften versuchte Belyj, die Geschichte seiner „sich selbst erkennenden Seele“ zu rekonstruieren. Dabei betonte er wiederholt, sein geistiger Weg habe mit dem Jahr 1895 begonnen. So schreibt er in einem langen Brief vom 1. bis 3. März 1927 an den Literaturhistoriker, Kritiker und Publizisten Ivanov-Razumnik (eigentlich Razumnik Vasil’evič Ivanov, 1878–1946): „1895–1901: Die Periode der Formierung meiner Weltanschauung; erste Schaffensetappe; Ästhetizismus, Symbolismus, Buddhismus, Schopenhauer […].“9 Die Philosophie Schopenhauers, „den mein Vater hasste“ (S. 54) und dessen Einfluss ihn selbst zu einem „vollkommenen Pessimisten“ werden ließ, beurteilt er als eine Art Vorhalle zum „dekadenten“ Weltbild. Bereits in den oberen Gymnasialklassen galt er nach eigener Aussage als „dekadenter Philosoph“ (S.  373). Im Übrigen behauptet Belyj in seinen Erinnerungen, er habe „den Pessimismus des Schopenhauerschen Systems“ bereits in frühem Kindesalter gleichsam als „Befreiung von der Ursächlichkeit und vom Gesetz der Erkenntnisgrundlage“ in sich selbst erlebt, also lange vor der Bekanntschaft mit den Arbeiten des Philosophen. So habe er Schopenhauers Philosophie alles in allem lediglich als „ästhetisches Phänomen der Erinnerungen an Vergangenes“ wahrgenommen (S. 211, 232). Das Ende der „jugendlichen Schwärmerei für Schopenhauer“ bezeichnen etwa die Jahre 1899/1900, als er sich nach Abschluss des Gymnasiums an der mathematisch-physikalischen Fakultät der Moskauer Universität immatrikuliert. Bereits in dieser frühen Phase seiner literarischen Selbstbestimmung, in der Belyj bestrebt ist, seine Theorie der Kunst, vor allem des Symbolismus, wissenschaftlich und methodologisch zu fundieren, bekundet er eine beharrliche Wissbegier für die neuesten Forschungsarbeiten vor allem im Bereich der Philosophie, der Logik und der Psychologie. Im Sommer 1899 9 Belyj, Ivanov-Razumnik 1998, S. 482.

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liest er Eduard von Hartmanns Philosophie des Unbewußten und hofft, die Philosophie Schopenhauers mit den naturwissenschaftlichen Fakten vereinbaren zu können. „Schopenhauer befriedigt mich nicht mehr“, schreibt er in seinen Erinnerungen über diese Zeit, „Hartmann noch weniger; ich suche logische Gedanken bei Lange, schenke der energetischen Position Ostwalds Gehör und interessiere mich auch für den unverhohlenen Parallelismus des Psychologen Høffding […]“ (S.  434).10 Die gegensätzlichen Einflüsse, die der Student der Naturwissenschaften in dieser Zeit zu verarbeiten hat, spiegeln sich in seinem frühen Aufsatz Formy iskusstva [Die Formen der Kunst] (1902) wider, in dem sich nach Belyjs eigener Aussage die Anschauungen Schopenhauers und Ostwalds in eigentümlicher Weise vermengen (S. 54). Und Belyjs Bekanntschaft mit den Schriften Friedrich Albert Langes schafft die Voraussetzungen für seine spätere Annäherung an die neukantianische Schule der Philosophie. Zum Götzen des jungen Andrej Belyj aber, der in seinem ersten Studienjahr alle zuvor dominierenden Interessen verdrängt, wird Nietzsche, dessen Künstlertum und Persönlichkeit ihn gleichermaßen gefangen nehmen.  1.

Nietzsche und Christus Seit dem Herbst 1899 lebe ich durch Nietzsche; er ist meine Erholung, meine intimen Minuten, wenn ich die Lehrbücher und die Philosophie beiseitegelegt habe und mich ganz und gar seinen intimen Beobachtungen, seinem Satz, seinem Stil, seiner Schreibart ergebe; in seinem Aphorismus erblicke ich die äußerste Beherrschung der Kunst des Symbolisierens: die erstaunliche Musikalität nimmt mich, den Musikanten im Grunde des Herzens, gänzlich gefangen […]. Ich erblickte in ihm: 1) den ‚neuen Menschen‘, 2) den Praktiker der Kultur, 3) den Verächter des ‚alten Lebens‘, dessen ganzen Reiz ich an mir selbst erfahren habe, 4) den genialen Künstler, von dessen Rhythmen die gesamte künstlerische Kultur durchdrungen sein sollte (S. 434 f.).

Unter den Werken Nietzsches, die Belyj zwischen 1899 und 1901 mit Entzücken liest, bezaubert und erschüttert ihn am meisten Also sprach Zarathustra. Dieses Buch wird zu seinem ständigen Begleiter. 10

Eduard von Hartmann (1842–1906), Philosoph; sein Hauptwerk Philosophie des Unbewußten erschien 1869. Kurz nach dem Tode Hartmanns schrieb Belyj einige ihm gewidmete Worte in der Moskauer Zeitschrift „Vesy“ [Die Waage], 1906, Nr. 7, S. 80 f. – Friedrich Albert Lange (1828–1875), Philosoph und Sozialpolitiker; einer der ersten Neukantianer. – Harald Høffding (1843–1931), dänischer Philosoph und Psychologe.

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In dem Aufsatz „Krugovoe dviženie (Sorok dve arabeski)“ [Die Kreisbewegung (Zweiundvierzig Arabesken)], einer Arbeit der reifen Schaffensperiode, bekennt Belyj: Wo ich mich auch aufhalte, ich vergehe vor Verlangen, wenn ich nicht Zarathustra, das Evangelium und Gogol’ bei mir habe (früher reiste Kant mit mir: das Buch erwies sich aber auf Reisen als unbequem). Reisen ist gut mit einem beweglichen Zentrum: Mein unbewegliches Zentrum dabei sind Zarathustra, Gogol’ und das Evangelium.“11

Das Zitat bezeichnet genau den Platz, den Zarathustra über Jahre hinweg in seinem Denken einnahm. Neben der christlichen Lehre (in ihren religiösmystischen Traditionen und Verzweigungen) und Gogol’, Belyjs russischem Lieblingsautor, bildet dieses Werk der deutschen Literatur und Philosophie gleichsam die dritte Säule seiner geistigen Welt. Es ist charakteristisch, dass Belyj sich sogar äußerlich einige Züge von Nietzsches Held aneignete: die Art der Bewegung, die schwebende Leichtigkeit, den balancierenden Gang, bisweilen sogar das tänzerische Gehen. (All dies wurde von den Zeitgenossen wahrgenommen und erschien einigen als aufgesetzt und affektiert.) In Wirklichkeit transformierte Belyj lediglich Nietzsches Zarathustra. In seinen Erinnerungen führt er die entsprechende Stelle („Vom höheren Menschen“, Nr. 17–20) an (S. 197). Auch für das literarische Werk des jungen Belyj ist Nietzsche insgesamt, vor allem aber Also sprach Zarathustra, von außerordentlicher Bedeutung. Nietzsches Werk kann in vielerlei Hinsicht als Vorbild für Belyjs frühe Prosaentwürfe gelten, die zu der von ihm erdichteten Gattung der „Symphonien“ führen. Die rhythmische Organisation der „Symphonien“, das System ihrer Segmentierung, der Aufbau der Bildreihen und der Leitmotive sind von der ebenso aufmerksamen wie verzückten Lektüre des „Zarathustra“ inspiriert. Belyj selbst bezeichnete viele Jahre später mit einer gewissen Selbstherabwürdigung seine „Symphonien“ als kindliches Nachplappern der Prosa Nietzsches.12 Aber nicht einmal in den Jahren 1899–1901 ist Belyj ausschließlicher Anhänger des deutschen Denkers. Die Bezauberung, die von Nietzsche ausgeht, verbindet sich mit dem mächtigen Einfluss Vladimir Solov’ëvs. Indem er sich gleichzeitig auf beide stützt, versucht er, neue geistige Horizonte

11 12

Belyj 1912, S. 57. Wieder in: Belyj 2020a, S. 718–739. Belyj 1934, S. 297. Vgl. Silard 1973, S. 289–313.

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zu erschließen13; indem er Nietzsche und Solov’ëv folgt, versucht er seine unbestimmten Vorahnungen von einer Neugestaltung der Welt und einer zukunftsmystischen „Synthese“ zum Ausdruck zu bringen. Belyj übernimmt Nietzsche keineswegs vollständig, vor allem verwirft er dessen antichristliches Pathos, den Immoralismus und Antidemokratismus und deutet Nietzsches Übermenschen im Geist der christlichen Eschatologie um. Belyj ehrt in Nietzsche in erster Linie einen „Wahnsinnigen“ als Seher und Verkünder eines neuen Lebens und neuen Weltempfindens: Nietzsches Wahnsinn deutet er als hellsichtige, „prophetische“ Verrückung und als die Fähigkeit, die dem alltäglichen Blick unzugänglichen „geheimen“ Weltprozesse zu durchdringen. Diese Betrachtungsweise schlägt in eine Art Mythologisierung Nietzsches um. Dieser nimmt für Belyj gleichsam den „neuen Menschen“ und die Umrisse der Zukunft vorweg, erscheint ihm als christusähnliche Gestalt, deren Lebensende er der Kreuzigung gleichstellt. Dass das Mysterium von Golgatha sich für Belyj in symbolischer Form in Nietzsches Schicksal wiederholt, ist ein Gedanke, der sich klar im Schlußbild seines philosophischlyrischen Essays „Sfinks“ [Sphinx] von 1905 ausdrückt. Die Sphinxgestalten, in Belyjs Mythopoetik Symbole der geistigen Zerstörung und der Fesselung oder Entstellung menschlicher Schöpfungsakte, kreuzigen Nietzsche. Und es kam die Schar der Sphinxgestalten – (sie alle in glänzenden Harnischen) –, um mit Vogelschnäbeln Deinen zarten Körper zu zerreißen. Freue dich, Herr, freue dich! Die Löwentatzen der einen zogen für dich den Purpurmantel herbei. In den erhobenen Pranken einer anderen brannte die Dornenkrone in eisigem Glanz. Die glänzenden Ketten klirrten von melodischem Silber bei einer dritten (Ketten, die für dich bereitet wurden), als sie sie mit ihrem Schnabel schüttelte. Abgezehrt, abgemagert hieltest du dich würdevoll […]. Dann schlugen sie Pfähle in den Boden und richteten das Kreuz auf. Weich drangen die Pflöcke in Deinen Körper, als die Sphinx den Herrn kreuzigte, das Zimmer mit lustigen Dithyramben erfüllend. – Die vierte Stunde. Du hängst, emporgezogen im eigenen Hause; die Nägel drücken dich an den Balken. Zwei Tränen (Tautropfen) gefrieren auf dem spitzen Antlitz, das in Qual zurückgebeugt ist. Du siehst, wie um den Schreibtisch der schreckliche Rat der Ältesten sich niedergelassen hat. Die Sphinxgestalten zwitschern wie Vögel und tragen auf dem Papier die blutigen Zeichen deiner Martern ein. Du kennst „dies“, Zarathustra – der Sturmwind des Zorns hat

13

Belyj schreibt in seinen Erinnerungen: „In den neunziger Jahren geht die Kontemplation in eine fieberhafte Suche über; Schopenhauer ist demoliert, mit Hilfe Nietzsches stütze ich mich auf mich selbst. Mit Hilfe Hartmanns und Vl. Solov’ëvs bin ich einem geistigen Problem ganz nahegerückt: ich versuche in meinem Herzen zwei Pole (Solov’ëv und Nietzsche) zu vereinen.“ (Belyj 1997, S. 33)

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„Das Land der Genies“: Deutschland, gesehen von Andrej Belyj plötzlich deine Züge durchwühlt, du reckst dein Haupt vom Kreuz empor, dein Haupt mit dem breit gesträubten Schnurrbart!14

Am Schluss eines anderen Essays mit dem Titel Phönix [Phönix] (1906), einer Art Antwort auf Sphinx, wird in ähnlicher Weise das Geheimnis der Auferstehung – der Rückkehr Nietzsches – dargestellt: Und in der Dämmerung des dritten Tages wird sich das Grabmal weit auftun. Und er tritt zu uns als Auferstandener […]. Berauscht vom Wein der Morgenröte, legt er uns seine vom Licht goldenen, ganz reinen Morgenhände auf. Und so gehen wir fröhlich auseinander und bringen die Nachricht dar, daß das ersehnte Geheimnis entdeckt und der Phönix Nietzsche von den Toten auferstanden ist.15

Eine noch kompliziertere und sublimere Ebene der Mythologisierung Nietzsches findet sich in Belyjs unvollendetem Poem „Ditja-Solnce“ [KindSonne] (1905). Dessen Text hat sich nicht erhalten; über seinen Inhalt weiß man jedoch aus Erzählungen Belyjs und aus Urteilen seiner Freunde, denen er sein Werk vorlas.16 Die christlich-eschatologischen Linien kreuzen sich in dem grotesken mythopoetischen Sujet dieses Poems mit der Bildwelt und Topik des Zarathustra. Die gesamte Handlung ist in der Welt der germanischen Kultur angesiedelt und mit Wiederholungen von Motiven gesättigt, die auf die deutsche Romantik zurückgehen. Belyj teilt über das Poem Kind-Sonne mit: Das Sujet ist eine Kosmogonie in Anlehnung an Jean Paul Richter, die umschlägt in eine Farce über eine Schweizer Kleinstadt, deren Einwohner eine Parodie auf den Kampf der Sonnenkräfte gegen unterirdische Tiefen aufführen; ein Professor Nietzsche ist eingebaut, der angestrengt darauf hinarbeitet, einen gewissen Leutnant Trompeter zu veranlassen, dem Laboranten Flinte Hörner aufzusetzen, um aus der Verbindung der Frau des Laboranten mit Trompeter ein Kind hervorgehen zu lassen, aus dem Nietzsche einen Übermenschen machen 14 15 16

Belyj 1905, S. 49. Wieder in: Belyj 2020a, S. 113–132. Belyj 1994a, Bd. 2, S. 148. Zuerst in: Vesy 1906, Nr. 7, S. 29. Belyj nahm den Aufsatz in sein Buch „Arabeski“ [Arabesken] (Moskau 1911) auf. „Die beiden Gesänge des Poems Kind-Sonne umfassen mehr als 2000 Verse (reimlose Jamben mit wechselnder Zahl der Versfüße); das Poem sollte aus drei Gesängen bestehen; der dritte Gesang wurde nicht geschrieben.“ (Andrej Belyj: Spisok propavšich ili uničtožennych avtorom rukopisej [Verzeichnis der verlorengegangenen oder vom Autor vernichteten Handschriften]. Zit. nach Belyj 1990a, S. 450.) – Nach den unverӧffentlichten Erinnerungen  Ė.  K.  Medtners handelte es sich um „ein sowohl in formaler als auch in inhaltlicher Hinsicht seltsames Werk. Weder Prosa noch Lyrik, weder Ironie noch Panegyrik, weder Philosophie noch Roman. Mit einem Wort: das Romantischste, was Belyj je geschrieben hat.“ (Ebenda, S. 451.)

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will; der rotbärtige Urahne des Geschlechts der Flinte steigt jedoch aus der Tiefe der Erde herauf und kämpft gegen Nietzsche. Als das Kind herangewachsen ist, verdingt der Urahne sich unerkannt, nachdem er das Fell abgestreift, sich die Haare gestutzt und eine Brille aufgesetzt hat, als Erzieher und entführt das Kind in die Berge, um es nach seiner Weise in den Berghöhlen umzuerziehen; der Scherz wird dadurch verwickelter, daß Mendeleev in die Handlung einbezogen wird, der in den Sommerferien in die Schweiz reist. Der erste Gesang heißt ‚Mysterium‘, der zweite ist eine Farce in der Umgebung von Basel; Fortsetzung folgt.17

Die „Fortsetzung“ dieses auf einer Travestie beruhenden Sujets, so wird ferner mitgeteilt, sollte in der Form einer Farce erfolgen, und der deutsch gefärbten „Mythologie“ blieb nichts anderes übrig, als sich unter den aus Russland eingetroffenen unwiderlegbaren Beweisen der „Realität“ zu verflüchtigen. (Dabei werden weithin bekannte Personen und Umstände in die Handlung einbezogen, was den intimen, „häuslichen“ Charakter der aufgeführten Geschichte unterstreicht: so z. B. der bekannte Chemiker Dmitrij I. Mendeleev, der Schwiegervater Bloks; das Gut der Familie Mendeleev Boblovo bei Moskau usw.) Des Scherzes wegen erweist sich das Mütterchen des Kindes, Madame Flinte, im dritten und vierten Gesang als illegitime Tochter Mendeleevs; ihre Mutter ist eine Bäuerin aus dem Dorf Boblovo; ihr Vater, der dem Rhythmus der Materie lauschte, ist das Chaos; sie selbst ist ‚des dunklen Chaos lichte Tochter‘18. Der große Chemiker dreht dem Professor Nietzsche eine Nase und eröffnet ihm, daß sein Enkel nicht die Frucht der Liebe seiner Tochter zu dem Leutnant ist, sondern zu einem zufällig hergereisten Gärtner; die Kinder des Gärtners sind keine Übermenschen.19

Sein apologetisches Verhältnis zu Nietzsche bekundete Belyj in den Jahren nach 1900 mehrfach öffentlich. Im Januar 1908 hielt er in Petersburg einen Vortrag über Nietzsche und die Vorboten der Gegenwart, dessen Grundgedanken er in dem Aufsatz Fridrich Nicše [Friedrich Nietzsche] darlegte.20 Darin nimmt er alles in allem die wichtigsten Aspekte des früheren mythologisierenden Bildes wieder auf: Nietzsche sei kein Philosoph und Dichter, sondern ein Entdecker des „neuen Menschen“; er sei der Prophet des „lebendigen Lebens“, der große Lehrer, eine Erscheinung, die Christus mit den „Rhadschiogen“ Indiens 17 18 19 20

Ebenda, S. 22. Schlusszeile des Gedichts von Vladimir Solov’ëv Na Sajme zimoj [Auf dem Saimaa im Winter; 1894]. Belyj 1990a, S. 23. Erstdruck in: Vesy 1908, Nr. 7, S. 45–50; Nr. 8. S. 55–65; Nr. 9, S. 30–39. Wieder in: Belyj 1994a, Bd. 2, S. 60–90.

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(soll heißen: das Christentum mit der Theosophie) verbinde; Nietzsche sei auf seinem Golgatha, dem Golgatha des Individualismus, gekreuzigt worden; er sei der Schöpfer eines Neuen Testaments, der große „Symbolist“. Zarathustra als neues Evangelium: dieses und andere Themen werden im Aufsatz Friedrich Nietzsche zum Abschluß gebracht, obwohl auch in Belyjs späteren Werken der Einfluss Nietzsches insgesamt deutlich zutage tritt.21 2.

Erkenntnistheoretische Wandlungen

Wenn Belyj über Nietzsche als „Lebensphilosoph“ spricht, betont er stets voller Sympathie den irrationalen, den unbewußt schöpferischen Aspekt seines Weltempfindens: „Die Wahrheit besteht keineswegs in der Genauigkeit, sie besteht im Wert“, heißt es in seinem Nietzsche-Aufsatz. „Wir sind lebendig, weil wir das Leben ganzheitlich verstehen und nicht infolge eines methodologischen Schrankes mit Hunderten von Trennwänden […]. Nur im Schaffen liegt das Leben, nicht aber im Nachdenken über das Leben.“22 Gleichzeitig strebt Belyj aber auch nach „exakter“ Erkenntnis. Es ist kein Zufall, dass er sich in der Philosophie sein Leben lang gleichsam zwischen dem „klassischen“, „apollinischen“ Erbe (Goethe) und dem modernen „Dionysiertum“ (in erster Linie durch Nietzsche vertreten) „geteilt“ hat. „Seit seiner Jugend“, so Fëdor Stepun, „erklingen in Belyjs Seele die Befehle der exakten Wissenschaft und der Stimme, die in irgendwelche Abgründe des Chaos hinunterlockt, gleichermaßen stark.“23 Belyjs religiös-mystisches, in seiner Tiefenschicht „theurgisches“ Bewusstsein tritt immer wieder auf der rationalen Ebene zutage, strebt in den Bereich der Beziehungen von Ursache und Wirkung und zielt auf die Ausarbeitung einer „Methodologie“ und anderer theoretischer Voraussetzungen. Belyj versuchte, seine „Metaphysik“ „auf wissenschaftliche Weise“ zu begründen. Er sprach wiederholt von der „Pluralität“ seiner inneren Welt, von der Existenz verschiedenartiger und unterschiedlich orientierter, mitunter gegensätzlicher Neigungen, die er in der theoretischen „Plattform“ des Symbolismus zur Synthese bringen wollte, an der er beharrlich baute. Dieser Symbolismus verband für ihn „Erkenntnistheorie“ und „Kultur“, Methodologie und Intuition, „Erkenntnis“ und „Schöpfertum“.

21 22 23

Vgl. z. B. Gerigk 1980, S. 356–373. Zit. nach Belyj 1994b, S. 187. Stepun 1962, S. 167.

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Eine neue Etappe auf Belyjs Weg der Aneignung deutscher Literatur und Philosophie beginnt ungefähr 1902/1903, als er mit Ėmilij Medtner, einem leidenschaftlichen und überzeugten Germanophilen, in nähere Verbindung tritt. In seinen Erinnerungen heißt es: Durch Medtner vertieft sich mein Verhältnis zur Musik, er illustriert seine Gedanken mit Hilfe seines Bruders, eines Pianisten (und später bekannten Komponisten)24, der eine Reihe von Sonaten Beethovens und Schumanns vorträgt. Medtner läßt erstmals mein von Schopenhauer geprägtes Verhältnis zu Kant ins Wanken geraten und richtet meine Aufmerksamkeit ganz und gar auf Kant; er entdeckt mir erstmals ein wenig den wahren Goethe; somit verdanke ich ihm meine Annäherung an Beethoven, an Goethe und Kant […].25

Nachdem Belyj sich bald nach 1900 Kant zugewandt hat (die ersten Vorstellungen von dessen Philosophie hatte er allerdings schon früher gewonnen), liest er die Kritik der reinen Vernunft und andere Kant-Abhandlungen26; etwa seit Herbst 1904 studiert er „die Vertreter der Kantschen Tendenzen“27 in der zeitgenössischen Philosophie, das heißt die Neukantianer Rickert und Cohen, Natorp und Cassirer, Windelband und Lask. Allen diesen Namen begegnet man ständig in seinen autobiographischen Schriften, Erinnerungen und Briefen, öfter noch aber in seinen eigenen theoretischen Arbeiten.28 Was zieht Belyj an der neukantianischen Schule an? Es ist wohl vor allem das Thema der Erkenntnistheorie, die es nach Belyjs Auffassung erlaubt, die transzendentale Welt zu verstehen und seine Sicht des Symbolismus zu begründen. Kants „Kritizismus“ und den wahren „universalen“ Symbolismus versteht er als zwei notwendige Elemente eines „Leben schaffenden“ Prozesses: „Symbolismus ohne Kritizismus und Kritizismus ohne Symbolismus würden die Welt einseitig umfassen; durchschreiten wir die Prismen des Symbolismus und des Kritizismus, werden wir klug wie die Schlangen und sanft wie die Tauben.“29 Der neukantianische Kategorienapparat (vor allem Rickerts Lehre) hilft Belyj, den für ihn zentralen („letzten“) Begriff des Symbols zu verstehen; 24 25 26 27 28

29

Gemeint ist Nikolaj Karlovič Medtner (1879–1951), Komponist und Pianist. Belyj 2016, S. 81. Diese Studien haben teilweise Niederschlag gefunden in Belyjs Aufsatz Kriticizm i simvolizm. Po povodu stoletija so dnja smerti Kanta [Kritizismus und Symbolismus. Zu Kants hundertstem Todestag]. In: Vesy 1904, Nr. 2, S. 1–13. Belyj 1990a, S. 187. Vgl. die Aufsätze Kritizismus und Symbolismus, 1904, Die Emblematik des Sinns [Ėmblematika smysla], 1909. Vgl. ferner seine kleinen Schriften wie z. B. die Rezensionen zu neuen russischen Übersetzungen von Werken Windelbands und Rickerts in der Zeitschrift „Vesy“ (1905); wieder in: Belyj 2020a, S. 135–136. Belyj 1910, S. 20.

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er interpretiert ihn als Ausdruck der Bewusstseinszustände des schöpferischen Künstlers.30 Belyjs Interpretation Kants und der Neukantianer zeichnet sich insgesamt jedoch durch eine gewisse Ambiguität aus: Auf der einen Seite tendiert er zum Agnostizismus, das heißt zur Idee der Nichterkennbarkeit des übersinnlichen Seins, auf der anderen Seite gibt er sich nicht zufrieden mit der Grundtendenz des Kantschen „transzendentalen Idealismus“, das heißt mit der Unterwerfung des auf Erfahrung begründeten naturwissenschaftlichen Wissens unter den Glauben. Die „reine Logik“ und die empirische Welt bilden wie stets bei Belyj eine Dissonanz zum jenseits der Empirie Existierenden. Diese Ambiguität ist die Ursache für die widersprüchliche Bewertung Kants und der Neukantianer in seinen Schriften. „Das wirkliche Verhältnis zu Kant“, schreibt er in seinen Erinnerungen, „bildete eine kalte Verehrung für einen Gegner, den man kennen musste, um mit ihm fertig zu werden.“31 In diesem Zusammenhang weist Belyj darauf hin, dass er Rickert und Cohen studiert habe, um „sie mit ihrer eigenen Waffe zu schlagen“32. Dieser Antagonismus schlägt sich in der Gestalt des Nikolaj Apollonovič Ableuchov im Roman Petersburg nieder, in dessen Zimmer eine Kant-Büste steht. Der Held liest Hermann Cohens Logik der reinen Erkenntnis, er „verschlingt“ Sigwart33 usw. Als sich um 1905 in Russland die revolutionäre Lage zuspitzt, beginnt Belyj sich auch mit soziologischen Studien auseinanderzusetzen. Er liest vorwiegend Kautsky, Bebel, Marx, Mehring, Sombart, Stammler und Eltzbacher, also vor allem deutsche Sozialdemokraten; ferner studiert er Bücher, „die konkret zeigen, worin die Wissenschaftlichkeit des Sozialismus besteht“ (S. 451).34 Im Übrigen ist der „Sozialismus“, den Belyj sucht (damals machte er sich auch mit Marx’ Kapital und Franz Mehrings Geschichte der deutschen Sozialdemokratie vertraut), bei allem Radikalismus einzelner Urteile nicht mehr als eine 30 31 32 33 34

Vgl. ausführlicher Kazin 1971, S. 71–75; Nižeborskij 1978, S. 182–195; Filippov 1978, S. 310–316; Siglari 1986, S. 75–85; West 1991, S. 87–135. Siehe auch Zink 1998. Belyj 1990a, S. 185. Ebenda. Christoph Sigwart (1830–1904), Philosoph, Logiker, Neukantianer; Professor der Philosophie in Tübingen. Franz Mehring (1846–1919), Publizist und Parteihistoriker, seit 1891 Mitglied des linken Flügels der SPD, schloss sich im Ersten Weltkrieg dem Spartakusbund an; Werner Sombart (1863–1941), Nationalökonom und Soziologe, Historiker und Theoretiker des Kapitalismus, ursprünglich stark von Marx beeinflusst, später dessen entschiedener Gegner; Rudolf Stamm 1er (1856–1938), Jurist und Neokantianer, sein Buch „Wirtschaft und Recht nach der materialistischen Weltauffassung“ (1896) wurde 1978 nachgedruckt; Paul Eltzbacher (1868–1928), Jurist, erregte mit seiner wissenschaftlichen Studie Der Anarchismus (1900) Aufsehen, später einer der „Propheten des Nationalbolschewismus“.

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originelle „Synthese“, eine Art „Sozialsymbolismus“, der einen revolutionären Anarchismus mit dem „Aufbau einer Religion“ verbindet. Belyjs Neigung zum systematisierenden theoretischen Denken wird teilweise dadurch vertieft, dass er sich im Herbst 1904 erneut an der Moskauer Universität immatrikuliert – diesmal an der Historisch-Philologischen Fakultät. Dabei steht für ihn die Beschäftigung mit Philosophie und Logik im Vordergrund: Er nimmt an Sergej N. Trubeckojs Seminar über Platon und an Lev M. Lopatins Seminar über Leibniz’ Monadenlehre teil. Eine wichtige Rolle spielt auch seine Bekanntschaft mit dem jungen Philosophen Boris A. Focht (1875–1946), einem Schüler Cohens (im Grunde war es eben Focht, der Belyjs Interesse am Neukantianismus weckte). Indes ist Belyjs zweites Studium nicht von Dauer. 1905 bricht er seine Studien ab, und im September  1906 reicht er wegen seiner bevorstehenden Auslandsreise ein offizielles Gesuch um Exmatrikulation ein. 3.

Münchner Impressionen

Belyj war bereits 1896 erstmals im Ausland gewesen. (Damals hatte er mit seiner Mutter Deutschland, Frankreich und die Schweiz besucht.) Zu einer unmittelbaren und reflektierten Bekanntschaft mit Deutschland kam es aber erst im Herbst 1906, als er einige Wochen in München verbrachte. Die Eindrücke, die er von seinem Aufenthalt in der bayerischen Hauptstadt gewann, hielt er in seinen späteren Memoirenwerken sowie in einer Reihe von Skizzen fest, die nach 1906 in russischen Zeitschriften erschienen.35 Die Reise ins Ausland war für Andrej Belyj in gewissem Sinne eine Flucht. Seine unerwiderte Liebe zu Ljubov’ Blok, der Frau des Dichters, und seine fehlgeschlagenen Versuche, ihr Leben mit dem seinigen zu verbinden, verursachten eine extreme Nervenanspannung, die ihn an den Rand der psychischen Zerrüttung brachte. Belyj nahm in dieser Situation die Einladung eines Freundes, des Malers Vasilij V. Vladimirov, an, der zu dieser Zeit an der Münchener Kunstakademie studierte. Nach dem monatelangen unsteten Leben zwischen Moskau und Petersburg in den Jahren 1905/06 kommt die bayerische Hauptstadt Belyj wie die wahre Verkörperung von Gemütlichkeit, Ruhe und Erholung vor. Mit andächtiger Aufmerksamkeit betrachtet er die Stadt, versucht ihren Charakter zu verstehen und eine gewisse Einheit und Harmonie in der Mannigfaltigkeit der Eindrücke zu entdecken. In seinem Aufsatz München [Mjunchen] schreibt er: 35

Belyj 1997, S. 243 f.; Belyj 1990a, S. 94–127.

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„Das Land der Genies“: Deutschland, gesehen von Andrej Belyj Auf seltsame Weise hat sich hier die Gotik mit der Romantik der Moderne [Hervorhebung im Original] verbunden, die sich bald aufschwingt in einem Türmchen, das in den Himmel eingeschnitten ist, bald in einem Basrelief, bald in der Gestalt eines Ritters, der den Drachen tötet. Die Münchner lieben es, ihre Stadt mit Säulen, Bogen und Wasserspielen zu verschönen: Hier sind Stiere, die Wasser speien, da spuckt ein gutmütiger Marmorfaun fortwährend Strahlen auf einen kleinen Jungen, dort sickern in einem stillen Bassin herabfallende Tropfen über das Grün. Die Stile sind hier harmonisch vermischt: Es gibt Gebäude, die an die Tempel des alten Griechenlands erinnern, wie z. B. das Gebäude, in dem die Münchner Sezession ihren Sitz hat, oder wie z.В. die Villa Stuck. Und die für eine Stadt alltäglichen Gebäude stören überhaupt nicht den eigentümlich gemischten Stil der öffentlichen Bauten. Und wie gut sind die alten Winkel Münchens mit den engen Straßen, mit den Laternen, die in die Wände eingelassen sind, mit den hohen Ziegeldächern, wenn der Mond die Wolken durchschneidet und die Stadt mit seinem stürmischen Licht übergießt! […] Die patriarchalische Seele des Bayern verträgt sich leicht mit der künstlerischen Bohème aus aller Welt, die die Straßen Münchens mit den Klängen vieler Dialekte erfüllt.36

Die Freude am Leben in dieser Stadt wird durch das Kunsterlebnis verstärkt. Während seiner Besuche in der Alten Pinakothek entdeckt er Dürer, Cranach und Grünewald: Dürer schaute mich von den Wänden der Pinakothek mit den zauberischen Gesichtern der Heiligen und Apostel böse und drohend an. Damals stürzte mit erschreckender Gewalt die alte deutsche Kunst auf mich ein. Man mußte in Gedanken versinken.37

Belyj wird mit den neuesten Arbeiten der deutschen Sezessionisten bekannt, die für ihn in seiner Jugend so wichtig gewesen waren; er versucht den Zusammenhang zwischen Geschichte und Gegenwart zu erfassen, zwischen den Denkmälern der Vergangenheit und dem bayerischen Alltagsleben, das wiederum durch das Prisma der eigenen romantischen Phantasien wahrgenommen wird: Man beginnt gegenüber dem schwerfälligen, groben Bayern Hochachtung zu empfinden, der aus dem Äußeren der Stadt ein Kunstwerk gemacht hat, und aus ihrem inneren Leben den kulturellen Puls ganz Deutschlands. Der schwerfällige Bayer ist im Grunde ein Zauberwesen aus dem Wald. Vielleicht ruht in jedem hier unbewußt ein Teil der Seele Dürers. Dürer ist die Zukunft Deutschlands; und zu dieser Zukunft haben uns Böcklin und Schwind, Klinger und 36 37

Zit. nach Belyj 1994a, S. 329 f. München wurde zuerst unter dem Titel „Pis’mo iz Mjunchena“ [Brief aus München] in der Moskauer Zeitschrift Zolotoe runo [Das goldene Vlies] 1906, Nr. 11–12, veröffentlicht und dann in Arabeski (wie Anm. 15) aufgenommen. Belyj 1994a, S. 334.

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Stuck aufgerufen, die die unerforschten Weiten in der deutschen Seele entdeckt haben. Ich bin überzeugt, daß in jedem Deutschen ein wenig Genie steckt, wenn er Bier trinkt und seine Pfeife raucht; es fehlen ihm nur die Worte, um von seiner Seele zu sprechen.38

In München wird Andrej Belyj Stammgast der Künstlerkneipe „Simplicissimus“, wo er mit vielen Berühmtheiten – Schriftstellern, Artisten und Künstlern – zusammentrifft. In einem zweiten Aufsatz mit dem Titel Mjunchen večerom [München am Abend] schenkt er dem berühmten Café besondere Aufmerksamkeit: Das ‚Simplicissimus‘ ist der Sammelpunkt der Münchner Künstlerbohème. Eine winzige Kneipe, aber selbst wenn ganz München hierher kommt, die kluge Kathie Kobus, die vierzigjährige Wirtin mit ihren schwarzen, pfiffigen und zugleich strengen Augen, wird ganz München an den zwei Dutzend Tischen unterbringen: sie plaziert einen – und es wird nicht eng […]. Wedekind beugte sich finster mit seiner stämmigen Silhouette, blau verhüllt, über den Wein, finster umherblickend mit seinen starren Eulenaugen. Sie würden ihn für einen Provinzschauspieler halten, nicht wahr? Ich selbst habe erst in der Folge in diesem wenig interessanten glattrasierten Mann den hochbegabten Dramatiker erkannt. Dort in einer Ecke, schau an!, sitzt eine Gruppe Polen […]. Der bewegliche, verdrehte Schalom Asch39 mit einer Rose im Rockaufschlag. Irgendwo deklamiert weiterhin der Berliner Dichter und Humorist Mühsam zusammen mit Scharf40 seine Gedichte und zerrt an seinem roten Bart.41

Ebenso farbenreich schildert Belyj das Café „Leopold“: die vielfältigen kleinen Szenen der Muße der Münchner mit ihrem unveränderlichen „Zubehör“, dem berühmten Münchener Bier. Nach dem Wirrwarr und den eigenen Aufregungen in Russland scheint dem Autor hier das Leben in allem ausgeglichen, harmonisch und wohlgeregelt: Das stille München, das fröhliche München. Die stille, die fröhliche Nacht, hell erleuchtet vom Mond und dem Schwatzen der Springbrunnen. Wie angenehm ist es einzuschlummern, in dieses leichte Leben einzugehen und sich zumindest 38 39 40

41

Ebenda, S. 334 f. Schalom Asch (1880–1957), jiddischer Prosaschriftsteller und Dramatiker, wurde im polnischen Kutno geboren. „Ein nicht unbekannter Dichter“ (Anmerkung von Belyj). Erich Mühsam (1878–1934) war Mitarbeiter unter anderem an der satirischen Zeitschrift „Simplicissimus“, später Herausgeber des revolutionären Literaturblatts „Kain“; er vertrat einen anarchistischen Kommunismus. Ludwig Scharf (1864–1938 oder 1939), Schriftsteller, Publizist und Kunstwissenschaftler. In: Kievskie vesti [Kiever Nachrichten], Nr. 165 vom 22. Juni 1908, S. 3. Wieder in: Belyj 2020a, S. 337–340.

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„Das Land der Genies“: Deutschland, gesehen von Andrej Belyj für einen Monat hier von den Sorgen zu erholen. Sie werden ruhiger; es scheint Ihnen, daß Sie dumm werden; aber warum geht hier Ihre Arbeit leicht und fruchtbringend von der Hand? Tagsüber Arbeit, nachts der Blumenstrauß aus Cafés. Welches Café auch immer, jedes ist eine Blume; hier der Duft der Reseda, dort der Duft der Orchidee, da der ländliche Hahnenfuß. Sie beginnen die Münchner Bohème mit ihrem Umherziehen zu verstehen; sie amüsiert sich, aber sie lernt auch. Und wir? – wie wenig amüsieren wir uns und wie wenig lernen wir.42

Belyj, der reale Erscheinungen stets als symbolische Chiffren verstand (d. h. als Zeichen und Vorausdeutungen, in denen höhere metaphysische Prinzipien hervortreten), erkennt im Alltagsleben der bayerischen Hauptstadt, in ihrer Geschichte und ihren Kunstdenkmälern das Bild der gesamten deutschen und damit auch westeuropäischen Kultur. München ist für ihn gleichsam der Mittelpunkt vielverheißender Erwartungen; in dieser Stadt eröffnet sich dem Schriftsteller das ganze Antlitz der „deutschen Seele“. Pathetisch beschließt er seine Skizzen in Brief aus München: Nein, wie der lebendige Strom vom leichten Staub der Fontänen nicht zerstört wird, so wird auch München nicht wie ein Nebel auseinanderstieben. Ich glaube an München: ich glaube, daß durch die leichte Fröhlichkeit, durch die strahlenden Aquarellfarben hier die wunderbaren Fernen zu klingen anfangen werden. Die Tiefe lebt hier, und wenn man an die Tiefe der deutschen Seele glaubt, wird der Himmel aufs Neue lächeln, werden die Augen der unbekannten Passanten aufs Neue leuchten, werden die Fontänenstrahlen noch lieblicher steigen, und in tiefer Musik wird München der Seele singen und erleuchtet sein von den Weiten des Lebens und der Welt.43

4.

Umkehr zur Anthroposophie

Die Eindrücke, die Belyj 1906 während seines Deutschlandaufenthalts empfangen hat, tauchen als „Reminiszenz“ in den Werken der folgenden Jahre auf, vor allem weil das beherrschende Thema „Russland und der Westen“ immer mehr in den Vordergrund seines Denkens rückt. Man erinnere sich nur an die sprechenden Namen mancher Gestalten seines Erzählwerks, z. B. an den Baron Todrabe-Graaben, den wichtigsten Adepten des „Westlertums“ in seinem Roman Serebrjannyj golub’ [Die silberne Taube] (1909), oder an das

42 43

Ebenda. Belyj 1994a, S. 335.

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ironische Spiel mit Wurzelelementen deutscher Wörter in Petersburg (Soja Fleisch und Baron Ommau-Obergau44). Im Roman Die silberne Taube taucht ein weiterer „Westler“ auf: Schmidt, der auf dem Land lebt und seine freie Zeit mit der Lektüre „philosophischer Bücher“ verbringt. Vor allem liest er theosophische und okkultistische Schriften und eröffnet Dar’jal’skij, der Hauptfigur des Romans, den „leuchtenden Pfad zum geheimen Wissen“45. Die Figur des Schmidt enthält ein autobiographisches Element: Belyjs Interesse an „geheimem Wissen“ nimmt gerade in den Jahren 1908/09 zu, als er an dem Roman arbeitet. Dieses Interesse wird durch verschiedene Umstände befördert: In Russland sind nach solchem „Wissen“ vor allem Anhänger des Symbolismus auf der Suche; Belyj steht zu dieser Zeit mit Anna Minclova (1866–1910?) in Verbindung, die sich vom Kreis der westeuropäischen „Esoteriker“ angezogen fühlte und mit Rudolf Steiner persönlich bekannt war46; eine Rolle spielt ferner Belyjs Enttäuschung über die fehlgeschlagenen Versuche in dem auch ihm vertrauten literarischen Milieu Petersburgs (z. B. im „Turm“ Vjaceslav Ivanovs oder bei den Merežkovskijs), den „Individualismus“ und die „Sobornost’“47 sowie das Revolutionäre und das Religiös-Mystische geistig zur Synthese zu bringen. Im Brief vom 1./14. Mai 1912 an Aleksandr Blok bezeichnet Belyj das Jahr 1909 als Jahr einer geistigen Wende: Seit 1909, als ich erfuhr, wie nahe die Linie Steiners von all dem verläuft, was für mich Licht auf dem Weg geworden ist, wandte ich mich ihm mit tiefer Verehrung zu […]. Ich wußte bereits, daß von allen Stimmen, die in Europa erschallen und die auch für uns eingefangen werden sollten, die einzige und wichtigste Stimme die Steiners ist.48

In der autobiographischen Skizze Počemu ja stal simvolistom  … [Warum ich Symbolist geworden bin …] betont Belyj ebenfalls, dass die „inneren Motive“

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Ein Name, der aller Wahrscheinlichkeit nach mit dem bayerischen Ortsnamen „Oberammergau“ zusammenhängt. Vgl. ausführlicher Dolgopolov 1976, S. 350 f. Belyj 1990b, Bd. 2, S. 523. Zu Anna R. Minclova vgl. ausführlicher Belyj 1990a, S. 316–322; ferner Bogomolov 1999, S. 23–110. „Sobornost’“: ein in der russischen Kulturgeschichte weit verbreiteter, schwer zu übersetzender Begriff, der die spezifisch russische religiöse „Gemeinschaft“ bezeichnet; wird manchmal mit „Synodalität“ wiedergegeben. Belyj, Blok, 2001, S. 453. Das Licht auf dem Weg ist ein in der Theosophie weithin bekanntes Buch der Engländerin Mabel Collins (eigentl. Canningdale Cook, 1851–1927); 1905 erschien es in russischer Übersetzung (Svet na puti) und mit Anmerkungen von E. Pisareva.

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seiner Annäherung an Steiner „durch den Charakter meiner Suche nach dem Weg seit 1909 bestimmt waren“: […] jemand, der schon 1907 seinen Nietzsche-Aufsatz mit einem Besant-Zitat über das ‚höhere Bewußtsein‘ beendet hatte und fünf Jahre lang beharrlich angestrengt Literatur zu diesen Themen bedacht und gelesen hatte, mußte einfach 1912 in den Reihen derjenigen erscheinen, die sich um Steiner gruppiert hatten. Keinerlei Zickzackbewegung gab es auf diesem Weg.49

Belyjs Begegnung mit der Anthroposophie, die seinen Lebensweg bis zum Tod maßgeblich beeinflusste, seine persönliche Bekanntschaft mit Steiner, seine Reisen durch die Länder Westeuropas hinter dem „Doktor“ her, seine langjährigen schwankenden Beziehungen zu ihm, seine Mitwirkung in der Russischen Anthroposophischen Gesellschaft – all das hat sich ausführlich aus unterschiedlicher Perspektive in den Memoirenwerken des russischen Schriftstellers niedergeschlagen, vor allem in den „Erinnerungen an Steiner“ (1926– 1929)50 sowie in den Aufzeichnungen, die unter dem Titel Material k biografii (intimnyj) [Intimes Material zur Biographie] bekannt sind.51 Belyj lernte Steiner am 7. Mai (neuen Stils) 1912 in Köln kennen.52 In den Erinnerungen der Künstlerin Asja Turgeneva (1890–1966), Belyjs erster Frau, die zu einer überzeugten Anthroposophin wurde, heißt es, die Kölner Begegnung habe mit einem Schlag bei ihnen beiden das Gefühl hervorgerufen, dass dieser Mann (Steiner) ihnen überaus nahe stehe und dass er von absoluter Schlichtheit, Aufmerksamkeit und Menschlichkeit sei. „Wie sich der Kölner Dom inmitten der Stadt erhebt, so überragte er Menschen unseres Niveaus.“53 Steiner lädt das Ehepaar nach München ein, wohin sie Anfang Juli 49

50 51

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53

Belyj 1994b, S. 460. Die deutsche Übersetzung von Sigrun Bielfeldt zitiert nach: A. B.: Ich, ein Symbolist. Eine Selbstbiographie. Frankfurt a. M. 1987, S.  125. Zum Aufsatz Friedrich Nietzsche vgl. Anm. 20. Die englische Schriftstellerin Annie Besant (1847–1933) war seit 1907 Präsidentin der Internationalen Theosophischen Gesellschaft. Vgl. Belyj 1982. In deutscher Übersetzung: Verwandeln des Lebens. Erinnerungen an Rudolf Steiner. 3. Aufl. Basel 1990. Vgl. Malmstad 1988/89/90, Bd.  6, S.  337–448, Bd.  8, S.  409–471, Bd.  9, S.  409–488. In deutscher Übersetzung: Geheime Aufzeichnungen Erinnerungen an das Leben im Umkreis Rudolf Steiners (1911–1915). Aus dem Russischen übersetzt und hg. von Christoph Hellmundt. [Dornach] 1992. Ausführlich hat Belyj über seine erste Begegnung mit Steiner und seinen psychischen Zustand davor in seinen Briefen an Aleksandr Blok vom 1./ 14. Mai und 19. Mai/1. Juni 1912 sowie in seinen Erinnerungen berichtet: Belyj 1923a. Neuauflage mit Kommentaren (und unter Hinzufügung des Kapitels „Basel–Fitznau–Stuttgart–Berlin“) von M. L. Spivak: Belyj 2000, S. 636–685. Turgeneva 1968, S. 243. Ausführlicher vgl. Turgenieff 1973.

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reisen, um den „Doktor“ zu treffen, der dort im August eine Vortragsreihe zum Thema Von der Initiation – von Ewigkeit und Augenblick – von Geisteslicht und Lebensdunkel hält. Im Anschluß reist Belyj Steiner nach Basel nach, wo dieser Das Markus-Evangelium liest. Dann fährt er nach Deutschland zurück und folgt Steiner von einer Stadt in die andere (Stuttgart – Degerloch – München – Nürnberg – Berlin – Köln – Berlin); im Dezember 1912 hört er Steiners Vorträge abermals in Köln. Im März 1913 kehrt er als neubekehrter Anthroposoph, als „Eingeweihter“, nach Russland zurück. Die folgenden Jahre sind überwiegend von anthroposophischen Studien geprägt. Im Mai/Juni 1913 hört Belyj Steiners Vortragsreihe Die okkulten Grundlagen der Bhagavadgita in Helsingfors, im August in München den Zyklus Die Geheimnisse der Schwelle, im September und Oktober in Norwegen (nahe Kristiania) den über Das fünfte Evangelium, im Dezember 1913 in Leipzig Christus und die geistige Welt, im Januar 1914 in Berlin Der menschliche und der kosmische Gedanke. Das gesamte Jahr 1914 verbringt er in engster Nähe des „Doktors“. Gleichzeitig (seit Februar 1914) schließen sich Belyj und seine Frau der Gruppe der Anthroposophen an, die unter der Führung Steiners mit dem Bau des Goetheanums, des Tempels der Anthroposophen in Dornach, beginnen. Belyj wird einer der rührigsten der in Dornach versammelten Russen. Am Bau des Goetheanums arbeitet er als Holzschnitzer mit, beschäftigt sich mit Eurhythmie und hält Vorträge.54 Damals, ungefähr Ende 1914, geht Belyj daran, eine polemische Replik auf das im selben Jahr erschienene Buch Ėmilij  K.  Medtners, noch kurz zuvor sein Freund und Weggefährte, zu verfassen, dessen Gedanken über Goethe (so der Titel des Buchs) kritisch gegen Steiner gerichtet waren.55 Seinen Aufenthalt in der Schweizer Siedlung, wo er bis Mitte 1916 bleibt, hat er sehr ausführlich (monatlich) in seinem Intimen Material zur Biographie beschrieben.56 Es konnte nicht ausbleiben, dass die Begeisterung für die Anthroposophie und die Persönlichkeit Steiners sowie die Zugehörigkeit zum Kreis seiner

54

55 56

Im Dezember 1915 und Januar 1916 hielt Belyj einen Zyklus von Vorträgen unter dem Titel Kant i Štejner v svete sovremennych teoretiko-poznavatel’nych problem [Kant und Steiner unter dem Aspekt der modernen Erkenntnisfragen], der für die Russen in Dornach bestimmt war. Diese Vorträge liegen Belyjs Buch О smysle poznanija [Über den Sinn der Erkenntnis; Petersburg 1922] zugrunde. Belyj 1917 (tatsächlich ist das Buch im November 1916 erschienen). Vgl. die Neuausgabe (Belyj 2000). Vgl. Anm.  51. Nach der Vernichtung des ersten Goetheanums durch einen Brand in der Nacht auf den 1. Januar 1923 schreibt Belyj eine Art von „Nekrolog“: Gëteanum [Goetheanum]. In: Dni (Berlin), Nr. 100 vom 27. Februar 1923.

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Anhänger in den Jahren 1913–1916 in Belyjs epischen (Petersburg, Kotik Letaev57) und lyrischen Werken ihren Niederschlag fand. Die meisten seiner Gedichte, die anthroposophische Anklänge verraten, wurden 1918 geschrieben (in dieser Zeit arbeitete Belyj begeistert in der Moskauer Abteilung der Russischen Anthroposophischen Gesellschaft). Eines dieser Gedichte (Antroposofam [An die Anthroposophen]) war Margarita Sabašnikova (1882–1973) gewidmet, einer ergebenen Schülerin und Nachfolgerin Steiners seit 1905. Drei andere, Antroposofii [An die Anthroposophie] betitelte Gedichte waren eine Art poetische Hymne oder Panegyrik: „In Deinen Augen glänzen: Wasser, Festland: / Ich springe in sie: / Aus deinen Augen leuchte ich hinein in die Seelen, / Wie ein stiller Vers.“58 Von anthroposophischer Symbolik ist auch eine Reihe weiterer Gedichte gesättigt, so etwa Karma (dieses Gedicht ist der Anthroposophin Nadežda A. Grigorova gewidmet, der Frau Boris P. Grigorovs, der die Moskauer Anthroposophische Gesellschaft leitete), Körper [Tela], An die Heimat [Rodine] u. a. Zu diesem Komplex sind auch Verse zu rechnen, die 1914 in Dornach-Arlesheim geschrieben wurden und seine angespannte seelische Verfassung plastisch erkennen lassen (Geist [Duch], Inspiration [Inspiracija], Erinnerung [Vospominanie], Kelch der Zeiten [Čaša vremёn] u. a.). Steinersche, aber auch rein biographische Motive, die auf die Erlebnisse der Jahre 1912–1916 zurückgehen, begegnen noch wiederholt in späteren lyrischen Werken.59 5.

Mystische Begegnung: Belyj und Christian Morgenstern

Während seines vierjährigen Aufenthalts in der Umgebung des „Doktors“ machte Belyj die Bekanntschaft zahlreicher Steiner-Anhänger, unter ihnen Marie von Sievers, Steiners Helferin und seit 1914 seine Frau, Michael Bauer, Carl Unger, Sophie Stinde und andere.60 In seinen Erinnerungen an Steiner, 57

58 59

60

„Der ganze Roman Petersburg ist von Anthroposophie durchdrungen“, erklärte Belyj in der Skizze Warum ich Symbolist geworden bin … (vgl. Anm.  49). Was den Roman Kotik Letaev (1915/1916) betrifft, so wurde er nach Aussage Belyjs „als Ergebnis der Erfahrung eines Anthroposophen“ geschrieben. Belyj 1994b, S. 469. V Tvoich glazach blistajut: vody, suši: / Brosajus’ v nich: / Iz glaz tvoich ja prosijaju v duši, / Kak tichij stich. Belyj 1923b, S. 467. Vgl. z. B. das Gedicht Probuždenie [Erwachen] (1921): „Und wieder tragen mich die Flügel / Ins einst erfaßte / Dornach! / Und dort, / In den türkisfarbenen Ländern / In den nicht wärmenden Lichtern, – / ist Dornach [I snova nesut menja kryl’ja / V kogda-to postignutyj / Dornach! / I – tam, / V birjuzejuščich zemljach / V negrejuščich svetočach, – / Dornach!]“. Ebenda, S. 477 f. Belyj widmete Michael Bauer (1871–1929) ein exaltiertes Gedicht, das erstmals in seinem Gedichtband Korolevna i rycari [Die Königstochter und die Ritter] (1919) erschien: „Deine

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im Kapitel Rudolf Steiners Schüler, hat Belyj eindrucksvolle Porträts einiger Personen entworfen. Unter den zahlreichen Episoden, die über Belyjs Zusammentreffen mit deutschen und schweizerischen Steinerianern berichten, verdient seine Begegnung mit Christian Morgenstern (1871–1914) besondere Beachtung. Der durch seine Galgenlieder (1905) weit bekannte Dichter war seit 1909 überzeugter Anhänger Steiners. Belyj traf mit ihm Anfang 1914 in Leipzig zusammen, wo Steiner seine Vortragsreihe Christus und die geistige Welt hielt. Im Intimen Material schreibt Belyj am 31. Dezember 1913: […] nach dem Vortrag las M[arija] Ja[kovlevna] von Sievers Morgensterns Gedichte, die mich tief beeindruckten; der damals schon kranke Morgenstern saß in den hinteren Reihen, der Doktor stieg vom Katheder, ging durch den ganzen Saal zu Morgenstern und küßte ihn herzlich. Mir schien aus irgendeinem Grunde, daß Morgenstern und ich durch irgend etwas miteinander und mit dem Schicksal der geistigen Bewegung verbunden seien, die zu den Geheimnissen der II. Wiederkunft führte. Ein oder zwei Tage später wurden wir einander vorgestellt: Morgenstern betrachtete mich mit seinen unbeschreiblichen Augen, lächelte und sagte: „Ich bin so froh.“ Das Sprechen fiel ihm bereits schwer: er – keuchte.61

Diese flüchtige und scheinbar rein formelle Bekanntschaft wurde von Belyj als ein Ereignis von außergewöhnlicher Bedeutung wahrgenommen: Ich erinnere mich an die hohe Freude, mit Morgenstern persönlich bekannt geworden zu sein (ich weiß nicht mehr, wer uns einander vorstellte); er erstrahlte vor mir in einem Lächeln, zeigte dabei aber auf seine Kehle (er konnte bereits nicht mehr sprechen) […]. Ich fühlte: es gab keine Trennwand; zwei innere Welten blickten einander fast ohne äußere Hüllen an (davon bin ich bis heute überzeugt); ich weiß nicht, was Morgenstern in mir erblickte; das aber, was von ihm auf mich überging, ähnelte einem heißen, leuchtenden Wind, der gleich einem Umhang die Seele für einen Augenblick wie in ein Zelt einhüllte. […] Die Kraft der Christus-Energie ging wie ein Wind durch mich, ‚mein Hirn und meine Bestandteile‘ hindurch. Und als der Doktor später eben über diese Kraft in Morgenstern zu sprechen anfing, die uns allen ‚ein unsichtbarer Gehilfe‘ nach dem Tode werde, da erstaunte ich nicht und erinnerte mich jener Minute, da ich vor ihm stand, seine Hand in der meinen hielt und nicht ihm in die Augen, sondern in den Abgrund des Himmels schaute.62

61 62

Rede – prophetische Explosionen […] Meister Eckhart unseres Jahrhunderts [Reč’ tvoja – proročeskie vzryvy […] Mejster Ėkchart našego stoletija]“ usw. Zit. nach: Belyj 1923b, S. 405. Vgl. auch Spivak 1995, S. 44–68. Malmstad 1988/89/90, Bd. 6, S. 365. Belyj 1982, S. 172.

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Man darf vermuten, dass auch Morgenstern diese Begegnung nicht für einen Zufall hielt. Als Belyj in späteren Jahren Kontakt mit der Witwe des deutschen Dichters aufnahm, erfuhr er von ihr, dass in Morgensterns Tagebuch eine Eintragung stand, die sich noch auf die Zeit vor dessen Hinwendung zur Anthroposophie bezog. In seinen Erinnerungen hielt Belyj fest: Die ersten Charakteristiken meiner Person als Dichter, die durch Deutschland huschten (in den Zeitschriften ‚für Wenige‘), interessierten Morgenstern, und er notierte, daß er gern näher mit meiner künstlerischen Tätigkeit bekannt werden würde.63

Die Begegnung zwischen dem russischen und dem deutschen Dichter wird auch in der Morgenstern-Biographie von Michael Bauer erwähnt, die dessen Witwe nach seinem Tod abschloss. Bauer schreibt: In Leipzig hatte er [Morgenstern] eine kurze ergreifende Begegnung mit dem jungen genialen russischen Dichter Andrej Biely (Boris Bugaieff): Sie reichten sich stumm ihre Hände und hielten sie fest umschlossen. Aus beider Augen leuchtete innere Seelenwärme von Menschenbruder zu Menschenbruder; doch tauschten sie keinerlei Worte aus. Dem einen fehlte die Kraft, seine Stimme noch hörbar zu durchtönen; dem anderen, Jüngeren, dessen empfängliche Seele ihre tiefe Ergriffenheit kaum bezwang, fehlte vor innerer Bewegung das deutsche Wort.64

Die Begegnung mit Morgenstern erwies sich für Belyj als „Zeichen“ eines geschichtlichen Umbruchmoments und einer geistigen Grenze, die in den Tagen der Leipziger Vortragstätigkeit Steiners bestimmt wurde. Sie bezeichnete den Übergang in eine Epoche gewaltiger sozialer Erschütterungen: des Ersten Weltkriegs und der russischen Revolution. Belyj brachte selbst die „krisenhafte“ Tonalität seines damaligen Weltempfindens mit den Ereignissen des Jahres 1914 in Verbindung. Gerade zu jenem Zeitpunkt (am 3. Januar 1914), am Grab Nietzsches „Abschied von der Vergangenheit nehmend“, empfand er nach eigener Aussage zum ersten Mal, dass die Geschichte beendet ist; beendet sind ihre verständlichen Zeiten; wir sind in das Unverständliche hinübergewachsen und stehen am Rande kolossaler politischer und kosmischer Umwälzungen, die in den dreißiger Jahren durch Christi Wiederkunft vollendet werden sollen. Christi Wiederkunft hat im individuellen Bewußtsein einzelner Menschen (und in meinem Bewußtsein) bereits begonnen.65 63 64 65

Ebenda. Bauer 1954, S. 226. Malmstad 1988/89/90, Bd. 6, S. 368.

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In diesem Kontext gewann Morgensterns Person für Belyj providentiellen Sinn: In der Begegnung mit dem Todkranken (Morgenstern starb am 31. März 1914) sah der Dichter ein Vorzeichen künftiger Veränderungen; die Gestalt des deutschen Dichters interpretierte er, dabei die Ähnlichkeit von Morgensterns Schicksals mit dem eigenen empfindend, als Beispiel für den lebenslänglichen „Dienst“ (im religiösen Sinne des Wortes). Auch den Namen Morgenstern deutete er symbolisch, und vermutlich steht er auch hinter dem Titel des Buchs Zvezda [Stern], das Belyjs oben zum Teil bereits erwähnte Gedichte der anthroposophischen Phase (1914–1918) enthält. In diesen Sammelband nahm Belyj auch zwei Gedichte des Jahres 1918 auf, die Morgenstern gewidmet sind; das eine eröffnet den Band, das andere schließt ihn ab. Im ersten Gedicht An Christian Morgenstern, den älteren Bruder in der Anthroposophie66 wird die Gestalt des sterbenden Dichters als „Hilfe für die Zukunft“ und als ein „Vorzeichen für die Zukunft“ verstanden, wobei Belyj an die Ereignisse des Weltkriegs denkt.67 Thema des zweiten Gedichts, An Christian Morgenstern, den Autor des Gedichts ‚Wir fanden einen Pfad‘68, ist die segensreiche Vereinigung der metaphysischen Grundlagen und Lebensprinzipien des Ostens und des Westens, eines der Leitmotive in Belyjs Werk. Die erwünschte Verbindung wird symbolisch durch die Begegnung der beiden Dichter-„Doppelgänger“ bezeichnet: От Ницше – Ты, от Соловьева – Я. Мы в Штейнере перекрестились оба …  Von Nietzsche her – Du, von Solov’ëv – Ich. In Steiner haben wir uns beide überkreuzt …

Dem Spiel mit dem Vornamen und dem Familiennamen Morgensterns („durch eine frohe Botschaft wird er in die Welten des Geistes erhoben; so hat man seinen Tod wahrgenommen; über ihm erhob sich der Morgenstern, und Christian Morgenstern wurde zum ‚Christen Morgen Stern’ […]“69) stellt Belyj das Wortspiel mit seinem eigenen Pseudonym zur Seite. Das „Programm“Gedicht schließt mit einem effektvollen Bild, wobei der für Belyj „heilige“ Gedanke des Zusammenflusses von Osten und Westen, von russischem und deutschem Geist in der Anthroposophie anklingt: 66 67

68 69

Christianu Morgenšternu. Staršemu bratu v Antroposofii. Belyj 1922a, S. 5 f. Das Manuskript dieses Gedichts hat Belyj mit „Vignetten“ verziert. Unter ihnen befinden sich ein stilisiertes Porträt Morgensterns und eine Zeichnung, die die Begegnung Morgensterns und Belyjs in interstellaren Sphären darstellt (Handschriftenabteilung des Gor’kij-Instituts für Weltliteratur, Moskau. F. 11, Op. 1. Nr. 40). Christianu Morgenšternu. Avtoru ‚Wir fanden einen Pfad‘. Belyj 1982, S. 170.

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„Das Land der Genies“: Deutschland, gesehen von Andrej Belyj От Ницше – Ты, от Соловьева – Я. Отныне будем в космосе безмерном: Ты первозванным светом бытия, Я белым „Христианом Моргенштерном“. Von Nietzsche her – Du, von Solov’ëv – Ich. Von nun an werden wir beide im unermeßlichen Kosmos sein: Du als das erstberufne Licht des Seins, Ich – als der weiße70 „Christian Morgenstern“.71

6.

Rudolf Steiner – der „Erwecker der Schlummernden“

Wodurch nahm die Anthroposophie Steiners Andrej Belyj und so viele andere hochkultivierte Russen dieser Zeit gefangen? Die komplexen und ständigen Veränderungen unterworfene geistige Welt Belyjs macht die Beantwortung dieser Frage nicht leicht. Jedenfalls gibt es mehrere Ursachen. Eine, die auf der Hand liegt, ist die Persönlichkeit Steiners, seine „hellseherische“ Erscheinung und seine Vergeistigung, sein rhetorisches Talent und seine Fähigkeit, Menschen zu überzeugen und mitzureißen. Nicht nur Belyj, sondern auch viele andere russische Anhänger Steiners haben ihn eher emotional als intellektuell wahrgenommen, eher allegorisch als im buchstäblichen Sinne beschrieben. „Das ist Musik, ein Symbol“, rief Margarita Sabašnikova aus, als sie am 27. September 1905 Maksimilian Vološin von einem Vortrag Steiners in Berlin berichtete.72 Ähnlich empfand bisweilen auch Belyj, der Steiners Vorlesungen begeistert und als ganzheitlichen Komplex, als eine Art „Mysterium“ aufnahm. „Wir alle stehen noch ganz unter dem Eindruck der Leipziger Vorlesung, die mitzuschreiben ebenfalls unmöglich war“, berichtet Belyj an Sabašnikova im Januar 1914 in einem Brief aus Berlin. „Es ereignete sich plötzlich ein Mysterium (ich glaube, dies geschah allen Anwesenden): allgemeine Freude ergriff alle  … Bei mir war das besonders der Fall (ich liebe die Vergangenheit): der Doktor hat die Vergangenheit aus der Zukunft zurückgewonnen […]. Kommen Sie hierher – wir werden alles erzählen, was wir erzählen können: und wir können wenig erzählen: man müßte von dem Wandern der Seele durch die Welten erzählen, weil es kein Vortrag war, der Doktor hat uns wie Kinder durch Welten geführt.“73

70 71 72 73

‚Belyj‘ heißt ‚weiß‘ (A. d. Ü.). Belyj 1922a, S. 70. – Vgl. Lavrov 1976, S. 466–472. Zit. nach Azadovskij 1998, S. 153. Handschriftenabteilung des Instituts für russische Literatur (Puškinskij Dom) der Russischen Akademie der Wissenschaften. F. 562, Op. 5. Nr. 55.

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In seinen zahlreichen biographischen Zeugnissen über Steiner versucht Belyj ständig, dessen Erscheinung – sein Gesicht, seine Gesten, seine Eigenart – einzufangen und zu bewahren. All dies hat sich seinem Gedächtnis tief eingeprägt, wie aus den Erinnerungen hervorgeht. „In seinem [Steiners] Gesicht springt ein Gesicht auf; daraus schaut ein zweites Gesicht hervor, um seinerseits ein drittes freizugeben“, schreibt er an Blok am 1. (14.) Mai 1912.74 Der Beschreibung des Gesichts des „teuren Lehrers“ sind auch einige Abschnitte im ersten Band der Zapiski čudaka [Aufzeichnungen eines Sonderlings] (1922) gewidmet, der aus der Rückschau die Geschichte seiner Beziehung zu Asja Turgeneva vor dem Hintergrund ihrer gemeinsamen Steiner-Faszination der Jahre 1913–1916 vergegenwärtigt. Dieses Gesicht drückt Ströme von Entzückungen des Leidens aus; seine Augen sind Brillanten, zwei Tränen, die nicht auf Sie, sondern von Ihnen weg in die eigene Tiefe gerichtet sind; vom Leiden der Welt erleuchtet, schaut Rudolf Steiner Sie an […]. In dieses Gesicht sind die Geheimnisse der letzten Schicksale und letzten Kulturen eingeschrieben […].75

Belyj selbst hat wiederholt bekannt, dass Steiner mehr durch sein geistiges Antlitz als durch seine Rede oder seine Überzeugung auf ihn gewirkt habe. „Doktor Steiner und M.  Ja. Sievers sind meine Lehrer: nicht durch Worte, sondern durch Gesten“, schreibt er.76 Unter diesem Gesichtspunkt ist auch Belyjs Behauptung zu betrachten, dass seine Erinnerungen an Steiner „nicht geschrieben werden könnten“: „Doktor Steiner begann eben dann in den Herzen zu sprechen, wenn alle Worte erschöpft waren.“77 Der starke Einfluss der Persönlichkeit des „Doktors“ war jedoch nicht der einzige Grund, der Belyj veranlasste, sich Hals über Kopf in die Anthroposophie zu stürzen. Die Annahme dieser Lehre war für ihn, wie bereits angedeutet, in erster Linie das Resultat seiner komplexen inneren Entwicklung der vorhergegangenen Jahre, die Fortsetzung seines „Symbolismus“, eine Synthese, nach der er seit seinen frühen Jahren gestrebt hatte. Belyj hat sich Steiner sozusagen auf gewundenen Wegen über Vladimir Solov’ëv, Schopenhauer, Nietzsche, Kant und den Neukantianismus angenähert; dabei hatte jede dieser Stationen ihre eigene Berechtigung. Wie stark alle diese Strömungen jedoch auf Belyj gewirkt haben mögen, keine gewährte ihm jene Endgültigkeit und Universalität, die Steiners System anbot. „Ich konnte nicht uneingeschränkt JA sagen zu 74 75 76 77

Belyj, Blok 2001, S. 299. Belyj 1922b, Bd. 1, S. 58 f. Malmstad 1988/89/90, Bd. 6, S. 358. Belyj 1982, S. 6. Hervorhebung im Original.

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irgendeiner der Strömungen, die dahin drängten, sich konkret zu gestalten“, berichtet Belyj über seine Suche in der Zeit vor der Begegnung mit Steiner, „ich habe jahrelang in einem quälenden Zustand darauf gewartet, mir über meinen Weg klarzuwerden, und ich konnte meinen Gedanken in meinem Willen nicht konkret ausführen.“78 Steiner dagegen, der es verstand, in seinen Vorträgen (natürlich in eklektischer Weise) die Ergebnisse der modernen Wissenschaft und das alte „okkulte Wissen“ (so Belyjs Formel), den Rationalismus und die Mystik, „Kosmos“ und „Chaos“, Bewusstes und Irrationales, Philosophie und Mythos, Weisheit und Glauben, Sophia und Christus zu verbinden (Belyj bezeichnet in einem Gedicht die Anthroposophie als „Christosophie“79) – Steiner also erhob den Anspruch auf eine eigenständige und allumfassende Weltanschauung. Im Gegensatz zu vielen anderen Theosophen war Steiner ein hochgebildeter und geisteswissenschaftlich belesener Mann, der in den Kulturen vieler Epochen zu Hause war. Er konnte frei über Osiris und Christus, Platon und Spinoza, Kopernikus und Raffael, Jakob Böhme und Goethe, Nietzsche und Novalis und auch über Lev Tolstoj und Vladimir Solov’ëv sprechen. „Er war alles für alle, damit einige Menschen für das Verständnis der Kultur als Ganzes erwachten“, betont Belyj.80 Zudem versuchte Steiner, nicht nur eine neue Glaubenslehre (eine Art „Fünftes Evangelium“), sondern auch eine neue esoterische Bruderschaft mit allen Attributen des praktischen Lebens (Medizin, Landwirtschaft usw.) und der Ausübung eines Kultes (Tempel, Musik, Malerei, Rezitation, Eurhythmie usw.) zu begründen. Steiners reformatorische Lehre kam in Russland zu Beginn des Jahrhunderts zweifellos den Bedürfnissen derjenigen entgegen, die nach einem „neuen religiösen Bewusstsein“ suchten. Er verstand es, dem mystischen Gefühl und den dunklen religiösen Hoffnungen Konturen zu geben, sie mit Inhalt und einem angestrebten „Sinn“ zu erfüllen und den geistigen Durst nach einem „Weg“ zu stillen. Durch die anthroposophische Arbeit schien es möglich, das Leben tatsächlich umzugestalten, wovon insbesondere die „jüngeren“ russischen Symbolisten wie Blok und Belyj träumten. So wurde der „Doktor“ für Belyj zu einer Art Apostel, einem Heiligen, zum Träger und Schöpfer einer neuen geistigen Kultur, zum „Erwecker der Schlummernden“ usw. Hierin liegt die zentrale und tief verborgene Quelle der engen Anlehnung Belyjs an Steiner. Nicht zufällig schrieb er, die Begegnung mit Steiner habe ihm den Weg zu Liebe und Freiheit gewiesen.81 78 79 80 81

Ebenda, S. 7. Belyj 1922a, S. 69. Belyj 1982, S. 24. Ebenda, S. 4 f.

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Schließlich wurde Belyj ebenso wie andere Anhänger Steiners auch durch das christliche Element in der Anthroposophie angezogen. Die Fragen nach dem „lebendigen“ Gott, nach Christus und dem Antichristen, nach der Apokalypse, dem wiederkommenden Christus usw., die unter den russischen Symbolisten häufig lebhaft diskutiert wurden, hatten sich bereits für den jungen Belyj in aller Schärfe („mystisch“) gestellt. Steiner berührte und erörterte alle diese Fragen, wobei er in seiner Auffassung der Rolle Christi in entschiedenem Gegensatz zur Internationalen Theosophischen Gesellschaft stand. Daher dachten einige der enthusiastischen Anhänger Steiners, ihr Lehrer sei „Vorbote“ und bereite dem kommenden Christus den Weg. Unter dieser Perspektive der Wiederkehr des Herrn betrachtete auch Belyj Steiner, dessen Vorträge in Skandinavien im Herbst 1913 (über das „Fünfte Evangelium“ und anderes) ihn besonders durch die Übereinstimmungen der „Vorausempfindungen“ beeindruckten: Seit Kristiania lebe ich ausschließlich von einem: die Wiederkehr Christi rückt heran: auf seine Wiederkunft muß man sich vorbereiten; wir treten in die Periode gigantischer Krisen; Europa rast in den Abgrund; alles, was nicht durch Christi Führung erleuchtet ist, wird vernichtet werden; die Menschen ahnen nicht, welches Barbarentum, welche Verwilderung uns erwarten. Diese Gedanken sind das Leitmotiv der Vorlesungen Steiners in Kopenhagen82; aber diese Noten sind auch mein Leitmotiv; seit Kristiania erklang für mich die Note der Wiederkehr Christi […], jetzt sind mir erstmals die apokalyptischen Erlebnisse meiner Jugendjahre 1898, der Eindruck von einem Gespräch mit Vlad. Solov’ëv im Jahre 1900 und meine Erkenntnisse aus dem Sommer 1902, daß die Wiederkehr Christi bevorstehe, deutlich klar geworden. Ich bin tief erregt; alle mystischen Erlebnisse meines Lebens sind jetzt zur Synthese gelangt; ich habe die Mystik der Jugendjahre gefunden; aber diese Mystik in mir ist jetzt keine Mystik mehr, keine Ekstase, sondern – wahre Führung; […] wir sind nicht einfach Anthroposophen, wir sind Christen; Christus führt uns unmittelbar zum Licht; die Rolle des Doktors ist gewaltig; er ist derjenige, der in den Seelen die Wiederkehr Christi vorbereitet; seine Verbindung mit Christus ist eine besondere Verbindung; die neue Erscheinung des Doktors blendet …83

7.

Neue Begegnungen und Erfahrungen: Berlin 1921–1923

Das ehrfurchtsvolle Verhältnis zu Steiner bewahrte Belyj bis ans Ende seiner Tage, wie seine Erinnerungsschriften belegen, an denen er in der zweiten Hälfte 82 83

Gemeint ist Steiners Vorlesung Der Impuls Christi im zeitlichen Wesen und seine Herrschaft im Menschen in Kopenhagen am 14./15. Oktober 1913. Malmstad 1988/89/90, Bd. 6, S. 358. Eine eingehende Interpretation der Ursachen und des inneren Sinns seines Anschlusses an die Anthroposophie gibt Belyj u. a. in einem langen Brief an S. M. Solov’ëv. In: Spivak 1999, S. 399–432.

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der zwanziger Jahre arbeitete. Was jedoch seine persönlichen Beziehungen zu Steiner betrifft, die nach seiner Heimkehr im Jahr 1916 abgebrochen waren, so wurden sie zwischen 1921 und 1923, als Belyj sich erneut in Deutschland aufhielt, einer besonders harten Bewährungsprobe unterzogen. Der Bruch mit Asja Turgeneva, die in Dornach geblieben war (ihretwegen fuhr Belyj im Grunde auch ins Ausland), hatte ihn tief erschüttert. Seine Eifersucht und Enttäuschung übertrug er nun auf die Anthroposophen und die Anthroposophie. „Die Anthroposophie hat mir Asja genommen“, schreibt er in einem Brief an Ivanov-Razumnik vom 12. März 1922.84 Belyjs schwere innere Krise schlug in Berlin in öffentliche Exzesse, unmäßige Zechgelage, Veitstänze in Berliner Cafés, hysterische und chaotische Beichten um, die von den Zeitgenossen in ihren Erinnerungen erwähnt werden. Hatte München im Jahr 1906 für Belyj eine Art Oase, einen Erholungsort dargestellt, so verwandelte sich Berlin 1921/22 für ihn in eine Bühne, auf der er in artistischem Selbstvergessen das Drama der inneren Auflösung und Selbstzerstörung aufführte. Vladislav  F.  Chodasevič, der seinen Landsmann zu dieser Zeit genau beobachtete, teilt mit, dass Belyj, abgesehen von persönlichen Motiven, auch der Wunsch nach Deutschland geführt hatte, „seinen Anthroposophenbrüdern und ihrem Führer […] von den schweren geistigen Entbindungen, die Russland erlebte, und den Leiden des millionenfachen Volkes zu erzählen. Er betrachtete es als seine Mission, Steiner die Augen in Hinblick auf Russland zu öffnen, und sich selbst als Botschafter Russlands bei der Anthroposophie (so drückte er sich aus).“85 Asja Turgeneva, Steiner und Marie von Sievers, die über Belyjs Unausgeglichenheit und Exzentrizität gut unterrichtet waren, mieden in dieser Zeit sichtlich den Verkehr mit ihm. Hierzu schreibt Chodasevič: Dornach beschloß, Belyjs Mission zu ignorieren, und Steiner selbst wich einer Begegnung sichtlich aus (wofür es wiederum nicht nur politische Gründe gab). Endlich erblickte Belyj ihn in Berlin auf irgendeiner Versammlung. Er flog auf ihn zu und vernahm die prononciert alltägliche, in väterlich-herablassendem Ton hervorgebrachte Frage: Na, wie geht’s? Belyj begriff, daß es nichts gab, worüber man sprechen konnte, und antwortete in verächtlicher Wut: 84

85

Belyj, Ivanov-Razumnik 1998, S.  241. Vgl. die Präzisierung in Belyjs Brief an die Mutter vom 6. März 1923: „Nicht, daß Asja mich verlassen hätte (unsere Beziehungen sind gleichwohl hervorragend), vielmehr hat die Anthroposophie sie völlig fanatisch gemacht. Sie hat keine Zeit, an sich selbst oder an mich zu denken, sie kann an nichts anderes denken als daran, der Sache des Doktors zu dienen […].“ Erstpublikation dieses Briefes zitiert nach Malmstad 1989, S. 460. Chodasevič 1976, S. 87 f.

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„Schwierigkeiten mit dem Wohnungsamt!“86 Vielleicht begann er seit diesem Tag zu trinken.87

Über die letzte Begegnung zwischen Belyj und Steiner ist wenig bekannt: Sie fand am 30. März 1923 in Stuttgart statt, wohin Belyj gemeinsam mit der Anthroposophin Klavdija  N.  Vasil’eva gefahren war (sie wurde später seine zweite Frau), um einer „Unterrichtswoche“ an der dortigen Waldorfschule beizuwohnen. Die Begegnung mit Steiner war offenbar versöhnlich und anregend, so dass Belyj den „Doktor“ in Deutschland und später auch in Russland zu verteidigen und zu lobpreisen versuchte.88 Asja Turgeneva schreibt in ihren Erinnerungen: Nach dem Gespräch mit Steiner in Stuttgart sagte Bugaev meiner Schwester, daß das, was ihm der Doktor zum Abschied gegeben hatte, ihm für sein ganzes Leben eine Hilfe sein werde.89

Weder die Zusammenstöße mit den Anthroposophen und ihrem Oberhaupt noch seine geistigen Qualen hinderten Belyj, der sich im Übrigen schnell in der deutschen Hauptstadt einlebte (Berlin war in diesen Jahren eines der Zentren der russischen Kultur), Betrachtungen zum Thema Anthroposophie und Russland [Antroposofija i Rossija] anzustellen.90 Auch auf seine schriftstellerische und verlegerische Arbeit sowie seine Tätigkeit in russischen Klubs und Organisationen während der Jahre 1921–1923 hatten diese Lebensumstände keinen allzu großen Einfluss (in Berlin waren damals Abteilungen der „Freien Philosophischen Assoziation“, des „Hauses der Künste“ und anderer Institutionen eröffnet worden). Von Belyjs zahlreichen Äußerungen zu literarischen und gesellschaftlichen Anlässen verdienen zwei Grußadressen 86 87 88 89

90

Kursiv im Original deutsch. Ebenda, S. 88. Vgl. z. B. Belyj 1923c. Wieder in: Belyj 2020b, S. 557–566. In: Turgeneva 1968, S.  238. Aus der umfangreichen Literatur zum Thema „Andrej Belyj und die Anthroposophie“ können wir hier nur drei Werke anführen, die wichtiges Faktenmaterial und bedeutende Analysen enthalten. Frédéric Kozlik: L’influence de l’anthroposophie sur l’oeuvre d’Andréi Biéli. Frankfurt a. M. 1981; Andrej Belyj und Rudolf Steiner. Briefe und Dokumente (= Beiträge zur Rudolf Steiner Gesamtausgabe, Nr. 89–90). Dornach 1985; Andrej Belyj. Symbolismus. Anthroposophie. Ein Weg. Texte – Bilder – Daten. Hg., eingeleitet sowie mit Anmerkungen und einer Biographie versehen von Taja Gut. Dornach 1997. Ein wichtiger Aufsatz mit diesem Titel wurde in der Zeitschrift „Die Drei“ (1922, Juli– August) abgedruckt, die von dem anthroposophischen Verlag „Der kommende Tag“ (Stuttgart) herausgegeben wurde. Vgl. ausführlicher: Majdel’, Bezrodnyj 1994. Abgedruckt in: Belyj 2020b, S. 478–493.

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an bedeutende deutsche Schriftsteller des 20. Jahrhunderts besonders hervorgehoben zu werden. Die eine war an Thomas Mann, die andere an Gerhart Hauptmann gerichtet. Thomas Mann gehörte nicht zu den Autoren, für die sich Belyj begeistern konnte.91 Als Thomas Mann jedoch im März 1922 – zu dieser Zeit hielt er in Berlin Vorträge – eine Einladung der Berliner Abteilung des „Hauses der Künste“ annahm, auf einer Benefizveranstaltung für hungernde russische Autoren in Petrograd aus unveröffentlichten Werken zu lesen, beteiligte sich Andrej Belyj intensiv an der Vorbereitung dieses Abends. Thomas Manns Lesung fand am 20. März 1922 im „Logenhaus“ in der Kleiststraße 20 statt. Im ersten Teil des Programms hielt Mann einen Vortrag über das Thema Goethe und Tolstoj, anschließend las er aus der Novelle Das Eisenbahnunglück (1906). Belyj trat mit einem Grußwort in deutscher Sprache auf, in dem er Thomas Mann in erregten Worten für seine Bereitschaft dankte, den Hungernden in Russland zu helfen: Heute sind Sie als grosser deutscher Schriftsteller uns zur Hilfe gekommen, heute hat uns eine gemeinsame Tat vereinigt. Mögen doch solche Augenblicke individueller Begegnung, individuellen Aneinandertretens [Zusammentretens] Deutschlands und Russlands sich öfter und öfter wiederholen, auf das [sic!] im Namen des ewig menschlichen Leides und der ewig menschlichen Freude von Herz zu Herz, sich Fäden wahrer brüderlicher Liebe und Zusammengehörigkeit spinnen können.92

Anders als für Thomas Mann hat sich Belyj für Gerhart Hauptmann schon in seiner frühen Jugend interessiert. Seine Bekanntschaft mit Hauptmann reicht in die Zeit der Jahrhundertwende zurück, als dessen Stücke (Michael Kramer, Einsame Menschen u. a.) mit gewaltigem Erfolg im Moskauer Künstlertheater aufgeführt wurden. Nachdem Belyj im Herbst 1897 Hauptmanns Drama Die versunkene Glocke (1896) gelesen hatte, träumte er davon, das Stück selbst zu inszenieren.93 Im selben Jahr schreibt er ein Drama in zwei Akten, das von Ibsen, Maeterlinck und Hauptmanns Hanneles Himmelfahrt beeinflusst 91

92 93

Vgl. Belyjs Buch Odna iz obitelej carstva tenej [Eine der Heimstätten des Schattenreichs] (Leningrad 1924), das seine Eindrücke vom Deutschlandaufenthalt 1921–1923 wiedergibt: „Mann, Kellermann, Bonselt [! recte Bonsels. Anm. d. Übers.] und Mehring [gemeint ist Gustav Meyrink] begeistern mich nicht besonders“ (S. 43). Azadovskij, Lavrov 1978, S. 150. Wieder in: Belyj 2020b, S. 456. Den deutschen Text der Rede hat John Malmstad veröffentlicht in seinem Beitrag: Malmstad 1989, S. 466. Belyj 2016, S.  45. Vgl. auch eine Notiz im Tagebuch des jungen Belyj zu Hauptmanns „Michael Kramer, dem genialsten unter den genialen Stücken“. Zit. nach Lavrov 1980, S. 129 f.

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war.94 In seinem Buch Na rubeže dvuch stoletij [An der Grenze zweier Jahrhunderte] schreibt Belyj, er habe bereits auf dem Gymnasium, als er sich für Ibsen begeisterte („eine Bombe explodierte in mir“), auch Hauptmann und Sudermann gelesen. „Bedenken Sie, was ich gleichzeitig bewältigte: Ibsen, Hauptmann, Sudermann, den gesamten Dostoevskij, den gesamten Turgenev, Gončarov, Goethes Faust, Hegels Ästhetik, eine Reihe von Dichtern […]“ (S. 319). An anderer Stelle bezeichnet er Wagner, Dostoevskij, Ibsen, Hauptmann und Maeterlinck (in dieser Reihenfolge) als seine „so sehr geliebten Halbgötter“ (S. 434); dies bezieht sich auf die Zeit vor dem Herbst 1899, das heißt vor seiner „wahnsinnigen Begeisterung“ für Nietzsche. Es ist verständlich, dass im Herbst 1922, als Gerhart Hauptmanns  60. Geburtstag überall gefeiert wurde, auch Belyj es für notwendig erachtete, sich zu diesem Anlass zu äußern. Im Namen russischer Schriftsteller „aller Richtungen“ verfasste er eine Grußadresse, die dem Jubilar allem Anschein nach auch zugesandt wurde.95 Am 15. November 1922 nahm Belyj zusammen mit anderen russischen Schriftstellern an einem Festakt für Hauptmann teil. Am folgenden Tag verfasste er anlässlich des Jubiläums einen Artikel, in dem er die Bedeutung des deutschen Dramatikers für die russische Kultur eindrucksvoll und exakt bestimmte. Darin heißt es: Unserer Generation, der Generation der 900er Jahre, steht er [Hauptmann] besonders nahe: mit ihm verbinden sich unsere Jugend, unsere Kämpfe für Freiheit und Unabhängigkeit der Kunst: mit ihm haben wir unsere Hoffnungen verknüpft; zusammen mit Ibsen und Nietzsche hat er uns als Banner gedient. Sein Schaffen war für uns, die jungen Symbolisten, die sich ihren Weg unter Spott und allgemeinem Unverständnis erkämpften, für uns war sein Schaffen eine schlagende Sturmglocke, die aus einer neuen Welt erschallte; alles Eindrucksvolle, Intensive, Individuelle verbanden wir mit den exemplarischen Werken Nietzsches, Ibsens und Hauptmanns.96

Der Artikel enthält außerdem ein mit warmer Anteilnahme entworfenes Porträt Hauptmanns, den Belyj am Abend des 15. November aufmerksam beobachtet hatte: Hauptmann ist nicht nur ein großer Künstler, er ist auch ein großer Menschenfreund unserer Zeit; die ganze Skala seiner Bilder spricht milde von Liebe, Mitleid, Mitempfinden; ihm, dem Großen, ist der einfache Mensch, der kleine Mensch verständlich. In ihm erblicken wir eine schöne Persönlichkeit, die mit 94 95 96

Vgl. den „autobiographischen“ Brief Belyjs an Ivanov-Razumnik vom 1.–3. März 1927. In: Belyj, Ivanov-Razumnik 1998, S. 487. Dni. 1922. Nr. 15 vom 15. November. S. 4. Wieder in: Belyj 2020b, S. 515. Belyj 1922c, S. 11. Wieder in: Belyj 2020b, S. 516–518.

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„Das Land der Genies“: Deutschland, gesehen von Andrej Belyj Würde die Last der schweren Jahre unserer Ära getragen hat. Sein Gesicht mit den großen traurigen Augen, seine edle, hohe Stirn, die ganze Haltung dessen, der gestern unter seinen Verehrern umherschritt, drückte den Grundzug seines Werkes aus: die Verbindung der Kraft eines sehr großen Mannes mit der Weichheit eines großen Liebenden.97

Im Übrigen ist es zu keiner dauerhaften Bekanntschaft Belyjs mit deutschen Schriftstellern gekommen. Die vielfältigen Beschäftigungen und persönlichen Verbindungen, in deren Strudel Belyj in Berlin geriet, standen in Widerspruch zur wachsenden Entfremdung von der Stadt und bestärkten ihn in seinem Entschluss, nicht in Deutschland zu bleiben. In einem seiner Aufsätze vom Dezember 1922 heißt es: Ach, ich habe begriffen, wie unnötig meine jetzigen Auftritte in Berlin sind. Kulturarbeit ist unter den gegebenen Bedingungen hier für mich kaum möglich […]. Hier in Berlin fühle ich mich häufig fremd, unverstanden, unnötig …98

Im Oktober 1923 kehrt Belyj nach Sowjetrussland zurück.99 8.

Vorahnungen der deutschen Katastrophe

Am deutlichsten hat Andrej Belyj seinem negativen Verhältnis zu Berlin und dessen Einwohnern in seinem Buch Odna iz obitelej carstva tenej [Im Reich der Schatten] (1924) Ausdruck verliehen, an dem er sofort nach der Rückkehr aus Deutschland zu arbeiten begann. Das Berlin der Nachkriegszeit symbolisiert für ihn jetzt die moderne Zivilisation, die im Gegensatz zur Kultur steht und das menschliche Leben in eine scheinhafte, mechanische und von geistigen Impulsen entfremdete Existenz verwandelt; erneut muss Berlin als Gegenpol zu München herhalten, das Belyj 1906 als Inbegriff eines organischen und ganzheitlichen Lebens, als Ergebnis der gesamten geistigen Entwicklung Deutschlands und als anschauliches Symbol der europäischen Kultur erschienen war. (Dieser Symbolbegriff, so wie Belyj ihn verstand, blieb für ihn immer der vorherrschende.) Die Begegnung mit Berlin erlebt er als tiefste geistige Krise, hervorgerufen vor allem durch den Zusammenbruch der Kultur in dem einstmals geliebten „Land der Genies“. Dabei erweitert sich das Bild Berlins unverhältnismäßig in seinem Bewusstsein, es verliert seine realen 97 98 99

Ebenda. Belyj 1923d, S. 213. Wieder in: Belyj 2020b, S. 539–556. Zu Belyjs Aufenthalt in Berlin 1921–1923 vgl. Beyer 1990.

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Züge und wird zu einem wahrhaft chaotischen „Schattenreich“, zum Bild einer phantasmagorischen, trügerischen Stadt (ein ähnliches Bild hatte Belyj zehn Jahre zuvor von Petersburg in seinem gleichnamigen Roman entworfen): O, entsetzlichste, graue, erlöschende Stadt. Und es scheint, als hätten die dahinflitzenden Bürger mitten im Tohuwabohu eines aufs äußerste hektischen und sinnlosen Lebens ihr eigenes Licht verschlafen; und die Hektik auf den Straßen, die durch die mustergültige Kelle des grünen Polizisten in ein geregeltes Fahrwasser gelenkt wird, das Vorbeiflitzen der Straßenbahnen, die stehenden Autos (denn wer kann jetzt schon Auto fahren), das Geschrei der Zeitungsverkäufer ‚BZ, Morgenpost‘, das ist der mustergültig geregelte übliche Wirrwarr absoluten Blödsinns; und es scheint, als würde das Leben, das einen umfängt, mitsamt den braunen Gebäuden, Himmel darüber, Bürgersteig, Straßenbahn in einigen Monaten organisiert auf den Grund absinken, musikalisch begleitet vom dumpf dröhnenden Foxtrott, der wild tönenden Jazzband, deren Klänge aus der nächstliegenden Café-Tanzbar schrill kreischend herüberfliegen. […] Und da erheben sich für mich die Fragen: sollten sich etwa die direkten Erben der großen deutschen Kultur, das heißt die Erben deutscher Musik, Poesie, Gedanken, Wissenschaft, jetzt davon losgesagt haben und sich in ihrer Begeisterung nicht von den Stimmen Fichtes, Hegels, Goethes, Beethovens leiten lassen, sondern vom Lockruf des Foxtrotts? Und ist, was die Menschheit lockt, etwa gar nicht das Licht des Künftigen, sondern die ferne wilde Vergangenheit nach dem Bild und Ebenbild der Negertrommel? Und ich, der ich sehr lange in den Traditionen von Deutschlands Kultur erzogen wurde, mußte in den Monaten meines Deutschlandaufenthaltes mehr als ein Mal zu meiner höchsten Verwunderung bestätigt finden, daß es die große Kultur im Alltag des Deutschen, den ich traf, anscheinend gar nicht gibt und daß wir Russen daher nicht das neue Wort der Kultur in Deutschland lernen können, sondern uns nur die Errungenschaften aus Deutschlands jüngster Vergangenheit zu übernehmen bleiben, nämlich: Technik und Wissenschaft.100

Die scharfen kritischen Ausfälle Belyjs gegen das „bürgerliche“ Deutschland Mitte der zwanziger Jahre mochten als eine Art Tribut an die sowjetische Ideologie erscheinen – um so mehr, als am Schluss des Buchs prosowjetische Töne anklingen: Das unerschütterliche, in die Zukunft strebende Moskau steht dem untergehenden, „im Abstieg begriffenen“ Berlin gegenüber. In Wirklichkeit aber waren die Sympathien und die geistigen Neigungen Belyjs nicht so sehr von den Forderungen des Staates diktiert, sondern verdankten vielmehr der Klarheit und Schärfe seiner eigenen Beobachtungen und Erlebnisse während der Berliner Zeit. Belyj hatte Westeuropa gut im Gedächtnis behalten, wie es sich ihm 1906/07 und erneut 1912–1914 während seiner ausgiebigen Besuche 100 Belyj 1924, S. 8 f.; hier zit. nach der deutschen Übersetzung Im Reich der Schatten (wie Anm. 5), S. 10 ff.

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in verschiedenen Ländern und Städten darbot. Er konnte die Veränderung des Stils und der Qualität des europäischen Lebens nach den Katastrophen und Kataklysmen der Jahre 1914 bis 1919 ziemlich genau einschätzen, und es wuchs in ihm die Ahnung, dass die erschreckenden Merkmale des neuen Europa, die er in aller Schärfe wahrgenommen hatte, die Keime einer gefährlichen und verhängnisvollen Entwicklung bargen. In seinem Buch unterscheidet er aus der Ferne bereits „den Feuerschein vom Zusammenbruch Europas“, erfaßt „das Raunen von etwas, das sich bei den nächsten Schritten als Gebrüll des Tieres erweist“, und verkündet die Ankunft des „barbarischen Dionysos“, den Nietzsche vorausgeahnt hatte: „Der ‚barbarische Dionysos‘ erhebt schon sein Kannibalen-Beil unter der zerrissenen Decke des bürgerlichen Europa; er erfaßt nicht nur Paris; er ist in Berlin; seine Anwesenheit verändert die Atmosphäre selbst in der Luft. Ich war sieben Jahre nicht in Berlin, und binnen dieser sieben Jahre ist Berlin braun, zum .Mulatten’ geworden; vulkanische Kräfte haben die Erdschichten der Gipfel des kulturellen Lebens bewegt und die Niederungen des Kleinbürgertums verschüttet; und um zu wirklich neuen, frischen Lebenswassern vorzustoßen, muß man herabsteigen; durch die geschlossene Dunstschicht hindurchgehen direkt zu den Quellen der revolutionären Energie. Eine ganze Reihe von Monaten habe ich in einem superbürgerlichen Viertel von Berlin gewohnt.101 Bei Frühlingsanfang spürte ich, ich kann dieses Leben nicht länger ertragen, das hilflos auf den Grund herabgleitet, doch mit solch tödlicher Langsamkeit, daß es eine Wohltat für das Leben Berlins wäre, wenn eines schönen Tages die Gebäude plötzlich einstürzten, die Wasserleitung zerstört wäre, die Elektrizität erlöschte und die Bewohner endlich verstünden, daß der Tod eingetreten ist (eine Revolution ist ja in diesem Viertel unmöglich). Es ist unmöglich, in der Atmosphäre allgemeiner Zersetzung zu leben, bei Menschenansammlungen an den Wechselstuben, die wie Pharaonenschlangen wachsen, bei den trommelnden Klängen des Foxtrott mit der refrainartigen Begleitung dazu: ‚Der Dollar steht hoch!‘102

Sogar die zeitgenössischen Schriftsteller, Denker und Komponisten in Deutschland verhalten sich, nach Meinung Belyjs, gleichgültig gegen die „unvergängliche“ Kultur und interessieren sich eher für die Zivilisation des Augenblicks. Er beobachtet den Verfall des klassischen Erbes: Das Neue im Hauptstrom der kulturellen Bestrebungen Deutschlands ist so neu nicht; das Traditionelle aber ist verwässert –

101 Gemeint ist Charlottenburg. 102 Belyj 1924, S. 62–63; hier zit. nach der deutschen Übersetzung Im Reich der Schatten (wie Anm. 5), S. 70 f. Der letzte Satz (kursiv) im Original Deutsch.

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oder den Triumph des Barbarentums unter der Maske der künstlerischen Avantgarde: Im Dadaismus und Expressionismus hebt sich die moderne sterbende Kultur des bürgerlichen Deutschland sichtlich selbst auf, denn Exotik und Orient treten dort mit unmittelbarer Kraft ans Tageslicht […]; so etwas wie ein symbolischer Neger dringt im Dadaismus genauso an die Oberfläche des bürgerlichen Europa wie im Faschismus; und im Faschismus nicht mehr als im Foxtrott, als in den Klängen der ‚Jazzband‘.103

Der Faschismus, hier in einer Reihe mit anderen für Belyj abstoßenden Erscheinungen des zeitgenössischen Europas erwähnt, rückte bereits vor der Machtübernahme der Nazis in sein Blickfeld. In seinem Essay O sebe kаk pisatele [Über mich selbst als Schriftsteller] aus dem Jahre 1933 spricht er von der Idee eines Romans mit dem Titel Deutschland. (Den Plan hatte er bereits im Herbst 1931 dem Leningrader „Schriftstellerverlag“ vorgelegt.) In diesem Essay heißt es: Die Fabel schilderte die Verschwörung der Faschisten und die Verfolgung eines revolutionär gestimmten Intellektuellen durch die Faschisten; mit Faschisten bin ich selbst nie zusammengetroffen; die Fabel ist ein vages Leitmotiv, das mir aus der Luft des Berliner Lebens im Jahre 1922 erstanden ist. Hätte ich den Roman im vergangenen Jahr geschrieben, hätten die Leser gezetert: „Eine Parodie auf Deutschland, eine Verleumdung der Wirklichkeit!“ Ach, die schrecklichen Ereignisse der vergangenen Wochen104 haben gezeigt, wie wahr meine Phantastik ist.105

1931 wollte Belyj zweifellos für eine gewisse Zeit die Erinnerung an die „Luft des Berliner Lebens“ wiedererwecken. Davon zeugt sein zu Lebzeiten nicht veröffentlichtes Gedicht Berlin, das er im selben Jahr in Kučino bei Moskau schrieb und das als Echo seiner apokalyptischen Berlin-Erlebnisse in den Jahren 1922/23 verstanden werden kann.106 Was seinen Deutschland-Roman anbetrifft, so ist ein ausführlicher Plan erhalten geblieben, der das Datum des 1. Oktober 1931 trägt. Er enthält eine Übersicht zum Sujet des geplanten Werkes und in allgemeinen Zügen die Grundidee:

103 Belyj 1924, S. 42 ff.; hier zit. nach der deutschen Übersetzung Im Reich der Schatten (wie Anm. 5), S. S. 46 f. 104 Wahrscheinlich hatte Belyj den Reichstagsbrand vom 27. Februar 1933 und die im Anschluss daran in ganz Deutschland einsetzenden Repressionen der Nazis im Auge. 105 Belyj 1988, S. 24. 106 Erstmals veröffentlicht in: Belyj 1966, S. 485 ff.

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„Das Land der Genies“: Deutschland, gesehen von Andrej Belyj Der Roman Deutschland soll das Leben im nach dem Krieg zerschmetterten Deutschland zeigen und ein Bild der Verwirrung des Spießers geben, der zwischen dem Hammer der Revolution und dem Amboß des Faschismus eingeklemmt ist. Durch das vom Hunger zerrissene Land treiben sich internationale Abenteurer, Agenten der Entente und Spekulanten aller Couleur herum […]. Dieses Bild von ‚Deutschlands Untergang‘ ersteht vor dem geistigen Auge eines deutschen Intellektuellen, der durch seine ganze Vergangenheit mit den jüngsten „ruhmreichen“ Traditionen der deutschen Kultur verbunden ist und nun begreift, daß es mit ihnen ein Ende hat. Die Einsicht des Helden in die Unvereinbarkeit von früherer Vorstellung und gegenwärtiger Wirklichkeit zieht ihn in den Abgrund des Verfalls und der moralischen Verelendung. Die Aufgabe des Autors ist es, „zwei“ Deutsche in einem „dritten“ Deutschen zu zeigen; der eine Deutsche ist der Deutsche aus der Zeit Goethes, der Europa den Kulturauftrag gab; der zweite Deutsche ist derjenige der Bismarckzeit: er ist entweder ein Pangermane, für den die Welt die Arena der Offenbarung des Deutschen und nichts anderes ist, oder ein Kapitalist, der sich der Märkte des Ostens bemächtigen und ökonomisch Russland erobern will, wozu er sich der „hohen Kultur“ Deutschlands zu Beginn des 19. Jahrhunderts bedient als süßes Betäubungsmittel für Unterdrückte; oder er ist ein Gelehrter, ein von sich selbst überzeugter pedantischer Krämer, der die Horizonte der Wissenschaft unter dem Blickwinkel des Kleinbürgers bemißt. Die Aufgabe des Autors besteht darin, die Verwandlung dieser beiden Deutschen in ‚den Deutschen‘ zu zeigen, der in dem dritten Deutschen zutage tritt; durch das Visier des „Methodologen und Pangermanen“, das vor dem wahren Gesicht heruntergelassen ist, scheint die Grimasse eines Wahnsinnigen hindurch, da die bürgerliche Nüchternheit des Deutschen in einem chaotischen Anarchismus wurzelte, der die Form einer verborgenen psychischen Erkrankung angenommen hat: durch den „Idealismus“ der guten Vergangenheit schaut ein prinzipienloses Abenteurertum hindurch, und in den Wahnsinnsanfällen zeigt sich das instinktive Bemühen, die Linie der internationalen Räuber zu verwirklichen. Den Kampf dieser beiden dekadenten Deutschen im Selbstbewußtsein des Romanhelden auf dem Hintergrund des grellen, in sich selbst widersprüchlichen Lebens des nachrevolutionären Deutschland aufzudecken, in dem bereits das Alltagsleben ertränkt ist, in dem das Abenteuer Phantastik ist und die Phantastik nur das raubgierige Abenteuer der Wirklichkeit – diesen Deutschen zu enthüllen ist die zweite Aufgabe des Autors. Der Autor verbindet hier in der Fabel ein psychologisches mit einem sozialen Thema und einem Abenteuersujet. Der geplante Roman scheint dem Autor gleichermaßen ein Bild des sozialen Lebens, die Verknüpfung von Abenteuern und das Drama eines Bewußtseins zu bieten, das sich bereits nicht mehr auf den Willen seiner Klasse stützen kann und gezwungen ist, zum Werkzeug internationaler Abenteurer zu werden.107

Diesem vorläufigen „Plan“ nach zu urteilen, hatte Belyj die Absicht, in seinem Werk das Panorama des Alltags und des sozialpolitischen Lebens 107 Grečiškin, Lavrov 1974, S. 199.

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in Deutschland nach dem Frieden von Versailles durch das Prisma des sich trübenden Bewusstseins der Hauptfigur, des Schriftstellers Erast, zu geben, der in den Kampf feindlicher politischer Gruppierungen hineingezogen wird. Das von Belyj angedeutete „Abenteuersujet“ zeigt bestimmte Analogien zu den Fabelschemata seiner vorausgegangenen Romane Die silberne Taube, Petersburg, Moskau, Masken: z. B. die Gefangennahme des Helden durch verhängnisvolle destruktive Kräfte, die Motive der Provokation, der Geheimorganisationen usw. In diesem Fall aber weisen die fast unwahrscheinlichen Peripetien aufgrund der realen Geschehnisse in Deutschland eine große Nähe zur konkreten historischen Wirklichkeit auf. Natürlich gewann Belyjs Absicht, zu Beginn der dreißiger Jahre einen antifaschistischen Roman zu schreiben, der in gewissem Sinne Bilanz ziehen und sich dem „klassischen“ und dem zeitgenössischen Deutschland gleichermaßen zuwenden sollte, durch die allgemeine Entwicklung der Lage zunehmend an Aktualität. Es war Belyj jedoch nicht beschieden, die Arbeit auch nur anzufangen: Er musste zunächst die beiden bereits begonnenen voluminösen Arbeiten Masterstvo Gogolja [Gogol’s Meisterschaft] sowie den dritten Band der Erinnerungen Meždu dvuch revoljucij [Zwischen zwei Revolutionen] zu Ende bringen. Der Schriftsteller starb am 8. Januar 1934, noch bevor diese beiden Werke erschienen waren. 

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Zwei Türme – zwei Mythen (Stefan George und Vjačeslav Ivanov)

И в кельях башенных отстоянные яды Преображают плоть и претворяют кровь… In Türmen ausgegorene Gifte Verwandeln Fleisch, verhexen Blut. Vjačeslav Ivanov. Subtile virus caelitum (1904)1

Die Namen von Vjačeslav Ivanov (1866–1949) und Stefan George (1868–1933) wurden mehr als einmal in Beziehung gesetzt: Viele Zeitgenossen bezeichneten Ivanov als den „russischen George“. Der russische und der deutsche Dichter sind einander jedoch niemals einander begegnet. Es findet sich kein Artikel, kein Essay, den Ivanov dem Anführer der deutschen Symbolisten gewidmet hätte, und auch in seinen eigenen Werken lassen sich keine sichtbaren Berührungspunkte mit der geistigen Welt Georges entdecken. Als der amerikanische Literaturwissenschaftler Michael Wachtel auf die Ähnlichkeit der beiden Dichtern hinweist, hebt er hervor, dass diese „Ähnlichkeit“ eher als „zufällige Parallelität“ zu sehen sei, und es „keine Gründe gibt, um auf Ivanovs nähere Bekanntschaft mit dem Werk von George zu schließen“2. Ohne die Meinung des amerikanischen Kollegen infrage zu stellen, werden hier eine Reihe von konkreten Fakten und Beobachtungen vorgelegt, die an die erwähnte „Ähnlichkeit“ anknüpfen, zumal diese nicht zu bezweifeln ist. Der Name Stefan Georges kam um die Jahrhundertwende nach Russland. Bereits 1899–1890 interessierte sich ein Moskauer Sammler, der später bekannte Kunstkritiker P. D. Ėttinger, für Georges Werke und ihre Ausgaben sowie für dessen Zeitschrift Blätter für die Kunst (1892–1919).3 Regelmäßig erschien der * Erstveröffentlichung in: Bašnja Vjačeslava Ivanova i kul’tura Serebrjanogo veka. SPb., 2006. S.  53–73. Wieder in: Konstantin Azadovskij. Sjužety i sud’by: Nemecko-russkie otraženija [Themen und Schicksale: Deutsch-russische Spiegelungen]. Moskva, 2019. S. 80–109. 1 Das subtile himmlische Gift (lat.). Ivanov 1974, S. 286. 2 Wachtel 1994, S. 16–17. 3 Das Werk von George und die Gestaltung seiner Bücher werden z. B.  im  Briefwechsel zwischen P. D. Ėttinger und dem bekannten deutschen Kunsthistoriker B. von Zur Westen besprochen (siehe seine Briefe an Ėttinger vom 9. u. 17. Febr., 11. März 1900 u. a – Wissenschaftliches Archiv des Staatlichen A. S. Puschkin-Museums für bildende Künste (Moskau). F. 29. Op. 10. Nr. 3174, 3777, 3188 u. a.).

© Brill Fink, 2022 | doi:10.30965/9783846766767_008

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Zwei Türme – zwei Mythen

Name Georges in der russischen Presse jedoch erst später, auf den Seiten der Moskauer Zeitschrift Vesy [Die Waage; 1904–1909]. Brjusov, der ideologische Leiter dieser Zeitschrift, hatte keinen Zweifel daran, dass George die größte Figur in der neuen deutschen Dichtung sei. In dieser Auffassung wurde er von Maximilian Schick, dem Berliner Korrespondenten der Vesy, unterstützt, der seit 1903 in Briefen und Gesprächen immer wieder gegenüber Brjusov seine Bewunderung für George zum Ausdruck brachte.4 Es ist kein Zufall, dass bereits das erste Heft der Vesy eine Rezension von Georges Tage und Taten (1903) enthielt.5 Georges Name kam auf den Seiten der Vesy auch weiterhin vor.6 Vjačeslav Ivanov sollte alle diese Rezensionen und Erwähnungen gut kennen, da er 1904–1905 ein aktiver Mitarbeiter und Verbündeter der Vesy war (und erst in den folgenden Jahren zu ihrem ideologischen Gegner wurde). Wann und wo Ivanov zum ersten Mal den Namen Georges hörte und dessen Texte kennenlernte, ist kaum festzustellen. Die Erwähnung Georges und seines frühen lyrischen Zyklus’ Algabal (1892)7 in dem programmatischen Artikel Krizis individualizma [Die Krise des Individualismus; 1905] zeugt von Ivanovs Kenntnis Georges. Es besteht zumindest kein Zweifel daran, dass seit dem Frühjahr 1906, als Hans Guenther (1886–1973)8, ein junger deutscher Dichter aus dem Baltikum, an den Ufern der Neva erschien, die Persönlichkeit und das Werk von George zum Thema lebhafter Gespräche und Diskussionen im Kreis des „Turms“ geworden sind. Als Guenther im März 1906 in St. Petersburg ankam, traf er sich noch am selben Tag mit Blok, dem er zusammen mit seinen eigenen auch Gedichte von George vorlas (die Blok nicht gefielen).9 Zur gleichen Zeit lernte Guenther auch Vjačeslav Ivanov kennen. Es ist nicht bekannt, ob er auch ihm gleich am ersten Abend Georges Gedichte vorlas, später jedoch, als er den „Turm“ (Ivanov’s Wohnung, Tavričeskaja, 35) besuchte, rezitierte er George mehrmals und in großen Mengen. Die Rolle von Guenther als Gesandter Stefan Georges 4 Siehe: Azadovskij 1990, S. 119–120. 5 Vesy. 1904. Nr.  1. S.  68. Signiert mit P.  Hinter diesem Kryptonym verbarg sich höchstwahrscheinlich Ju. K. Baltrušajtis. A. L. Sobolev nennt Brjusov als Verfasser dieser Rezension (siehe: Sobolev 2003, S. 12). 6 Der kommentierte Index des Inhalts von Vesy, zusammengestellt von A. L. Sobolev (siehe: Anm. 5), enthält mehr als 30 Erwähnungen des Namens George. 7 Das Bild von Algabal in Georges Frühwerk wurde von der Figur des Heliogabalus inspiriert, des legendären römischen Kaisers des 3. Jahrhunderts, der aus Syrien stammte und der Hohepriester des syrischen Sonnengottes Elagabal (von dem er seinen Namen erhielt) war. 8 Ab etwa 1908 begann Hans Guenther mit einem ‚klangvolleren‘ Namen seine Werke zu unterschreiben: Johannes von Guenther. 9 „Dann sprach ich noch Verse von Stefan George, aber sie gefielen Block nicht“ (Guenther 1969. S. 112).

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in Russland wurde von Aleksej Remizov bestätigt, der sich viele Jahre später erinnerte: Guenther kam aus München direkt von Stefan George […]. Und es gab keinen literarischen Abend und kein Treffen mit Schriftstellern, auf dem Guenther nicht auftrat: Und in dem, wie er sich zu lesen anschickte und wie er vortrug, sahen alle in ihm Stefan George selbst. Diesen Eindruck hatten alle, die sich im Taurischen „Turm“ von Vjačeslav Ivanov versammelten – angefangen von den ersten Gedichten, die von Guenther vorgetragen und in ganz St. Petersburg verbreitet wurden.10

Der Memoirist mag übertrieben haben, weil es gerade er, Remizov, war, der damals das Gerücht verbreitete, Guenther sei Stefan George selbst (und Guenther spielte angeblich mit). Und schon in der Schule von F. K. Sologub auf der Vasil’evskij Insel trat Guenther auch ohne meine Aufforderung als Stefan George auf. L. Šestov, der zu dieser Zeit aus der Schweiz kam […] und leidenschaftlich allen meinen Fabeln Vertrauen schenkte, glaubte auch an Stefan George und war nur davon überrascht, dass der berühmte deutsche Dichter so gut Russisch konnte.11

Nachdem Guenther in den 1930er Jahren diese Erinnerungen von Remizov gelesen hatte, war er besonders darüber empört, dass er laut Remizov sich nicht nur für George ausgab, sondern angeblich auch im Namen des deutschen Dichters Geld borgte. Remizov schreibt: … ihm wurde kein Vorschuss verweigert: Stefan Georges Name allein bewirkte es, dass man ihm vertraute. Und was erstaunlich ist: Es waren nur wenige, die diesen großen Namen damals in Russland kannten, und auch selbst in München waren es nicht viele. Hier wirkte die Überzeugungskraft, mit der dies ausgesprochen wurde: S t e f a n G e o r g e .12

Derselbe Remizov fand jedoch einfache, gar nicht spöttische Worte, um Guenthers Bedeutung im literarischen Leben von Petersburg in der Zeit von 1906–1914 zu umreißen: Was war Guenthers Mission? Das habe ich mich erst später gefragt. Und wenn ich darüber nachdenke, komme ich zu der Antwort, dass es in Guenthers Erscheinung ‚etwas Tieferes‘ gab als meine eigene unschuldige ‚Unart‘. Guenther erschien in St. Petersburg, damit dem ‚Durchschnittsleser‘ und dessen Lust 10 11 12

Remizov 1981, S. 194. Ebenda, S. 194–195. Ebenda, S. 196.

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Zwei Türme – zwei Mythen nach ‚Verständlichem‘ und ‚Zugänglichem‘, mithin dem ästhetisch Wertlosen zum Trotz der Name Stefan Georges in russischer Sprache erklang und in die russische Literatur einging – ein deutscher Name neben den Namen von Baudelaire, Rimbaud, Mallarmé.13

In seinen Erinnerungen Ein Leben im Ostwind, die viele Jahre später geschrieben wurden, bezeugte Guenther, dass er in St. Petersburg bei Zusammenkünften und in Salons, meistens im Ivanov-Turm, das Werk von Stefan George und anderen deutschen Dichtern, z. B. Hofmannsthals (in seiner Jugend ein GeorgeAnhänger), propagiert habe. Wichtiger ist jedoch etwas anderes: Wollte man Guenther glauben, hätte er von seinem ersten Besuch bei Ivanov an in diesem den ‚russischen George‘ erkannt: „Es gab hier eine gewisse Parallele zu Stefan George, was ihn mir gleich sympathisch gemacht hatte. Das Priesterliche seiner Dichtung, das Hieratische wirkte doppelt überzeugend, weil es nicht künstlich war, sondern seinem Innern entsprang“.14 Und ein paar Seiten weiter: Wenn ich bei Iwanow war, musste ich häufig an Stefan George denken. Denn Iwanow verkörperte für mich gewissermaßen die Idee des Dichterischen. Das bewirkte schon sein pathetischer, etwas in die Höhe kippender geistiger Vortrag, der ein wenig an ein Rezitativ gemahnte. In Iwanow, der in vielem so unrussisch sein konnte, sah ich entzückt und geblendet das Spektrum Europas.15

In St. Petersburg las Guenther nicht nur Georges Gedichte vor, sondern erzählte auch bereitwillig über ihn. Es muss präzisiert werden, dass Guenther, als er Anfang 1906 in St. Petersburg eintraf, nicht direkt aus München kam, wie Remizov behauptete, sondern aus seiner Heimat Mitava (Kurland), jedoch nach einem langen Aufenthalt in München. Wenn es bei Remizov heißt: „Direkt von Stefan George“, so ist auch dies falsch. George lebte zu jener Zeit hauptsächlich in Berlin, wo sich auch der Verlag von Georg Bondi, in dem Georges Werke und die Zeitschrift Blätter für die Kunst veröffentlicht wurden, befand. Guenther konnte George selbst nicht kennenlernen – der ‚Meister‘ lebte zurückgezogen, fast unzugänglich; ihm zu begegnen, war nicht einfach. Doch gelang es Guenther, sich dem Kreis der George-Bewunderer in MünchenSchwabing anzunähern und den Geist von Georges Poesie derart zu verinnerlichen, dass er zu der Zeit, als er die bayrische Landeshauptstadt verließ, die Hälfte des Buches Das Jahr der Seele sowie viele andere Gedichte auswendig kannte (seinen eigenen Worten zufolge).16 13 14 15 16

Ebenda, S. 199. Zu Guenthers ‚Mission‘ in Russland siehe auch: Thieme 1991. Guenther, 1969. S. 120. Ebenda, S. 346. Ebenda, S. 125.

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Über den Inhalt der Gespräche und Begegnungen im „Turm“ von März bis April 1906 kann nur aus Mutmaßungen geschlossen werden. Aber es besteht kein Zweifel: Guenther ist es gelungen, sich Vjačeslav Ivanov gewogen zu machen, der sowohl die Gedichte des jungen Georgianers als auch dessen begeisterte Äußerungen über die neuere deutsche Dichtung positiv aufnahm. Nachdem Ivanov den 1906 in Mitava herausgegebenen Gedichtband Schatten und Helle von Guenther geschenkt bekommen hatte, reagierte er darauf mit einer wohlwollenden Notiz in Vesy. „In diesem Gedichtheft,“ schrieb Ivanov, „sehen wir Spuren einer guten Schule, er verheißt eine lyrische Kraft, die sich in dem angehenden Dichter zu entfalten beginnt“.17 „Die gute Schule“ meint wohl diejenige von Stefan George, weil sie die einzige Schule war, die der junge deutsche Dichter zu jener Zeit bereits durchgemacht haben konnte. Guenther hat es zweifellos geschafft, im „Turm“ das Interesse an George zu wecken. Dies wird durch Ivanovs einzigen bekannten Versuch bestätigt, Verse des deutschen Dichters zu übersetzen. Das vermutlich 1906 übertragene Gedicht Der Herr der Insel wurde im Band Korabli [Schiffe; Moskau, 1907] veröffentlicht. Ivanov (oder Guenther, der es Ivanov zur Übersetzung anbot) hatte es dem ersten Teil von Georges früher Gedichtsammlung Die Bücher der Hirtenund Preisgedichte, der Sagen und Sänge und der hängenden Gärten (1895) entnommen; der Titel dieses Bandes kombiniert die Titel der drei Zyklen, aus denen er besteht.18 Der Herr der Insel ist ein Gedicht über einen Märchenvogel, ein halbgöttliches mysteriöses Wesen, das auf einer unbekannten Insel einsame Zuflucht sucht und freiwillig zugrunde geht, sobald sich Menschen, Boten einer fremden Welt, der Insel nähern.19 Das ist eine poetische Allegorie, eine Parabel in der Art Nietzsches, die an den Heiligen Hain und Die Toteninsel von Böcklin erinnert, aber auch eine entfernte Ähnlichkeit mit Viktor Vasnecovs Vögeln „Sirin“ und „Alkonost“, dem Vogel der Freude und dem Vogel der Traurigkeit aufweist, die zu Beginn des Jahrhunderts in russischen symbolistischen und dem Symbolismus nahestehenden Kreisen bewundert wurden. Auf jeden Fall hat Vjačeslav Ivanov dieses Gedicht nicht von ungefähr gewählt. Vermutlich

17 18

19

Vesy. 1906. Nr. 7. S. 72. Signiert – W. I. Anscheinend wurde die Ausgabe von 1899 benutzt, da die erste Ausgabe (1895) ein Privatdruck war und nicht verkauft werden durfte. George veröffentlichte seine frühen Bücher auf eigene Kosten, oft in wenigen Exemplaren, erst später erschien eine Veröffentlichung, die für einen größeren Kreis bestimmt war. Neben Ivanovs Übersetzung gibt es noch andere Versübersetzungen dieses Gedichts ins Russische: K. Azadovskij, N. Gučinskaja, N. Kan, V. Ėl’sner.

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ließ er sich vom Thema der „Insel“ inspirieren, das in der Poetik des Symbolismus und des Jugendstils einen besonderen Platz einnahm.20 Es ist davon auszugehen, dass Guenther Ivanov nicht nur die Gedichte seines Idols vortrug, sondern ihm auch vom Kreis um die Blätter für die Kunst, von Georges Gefährten und Jüngern erzählte. In München traf Guenther u. a. Karl Wolfskehl (1869–1948), einen der engsten Mitarbeiter Georges; später näherte er sich in Berlin einem anderen (dann schon ehemaligen) Georgianer, Karl Vollmöller (1848–1922), dem er seinen Neuen russischen Parnass widmete – eine Anthologie russischer Dichter (einschließlich Vjačeslav Ivanovs) in deutschen Übersetzungen. Vollmöllers Name stand 1910 auf der Liste der deutschen Mitarbeiter der Zeitschrift Apollon, die seit Herbst 1909 in St. Petersburg erschien. Als aktiver Mitarbeiter dieser Petersburger Zeitschrift, der hauptsächlich für die ‚deutsche Abteilung‘ zuständig war, wandte sich Guenther auf der Suche nach Autoren an eine Reihe von Schriftstellern in Deutschland, darunter auch Stefan George (erfolglos: der ‚Meister‘ antwortete nicht auf Guenthers Brief21). Trotzdem ist der Name Georges in fast jedem von Guenther veröffentlichten Artikel präsent, vor allem in seinen Notizen zur deutschen Literatur, die kontinuierlich in Apollon publiziert wurden. Bereits im ersten Übersichtsartikel dieses Titels erwähnte Guenther George, „diesen größten Dichter unserer gleitenden Zeit“. „George ist dermaßen unverwechselbar“, schrieb Guenther, „dass kein anderer Name ihn richtig kennzeichnen kann. Er ist der einzige Ewige in dieser glorreichen Schar, die als ‚George-Kreis‘ bezeichnet wird“.22 Nachdem Guenther den russischen Lesern George vorgestellt hatte, hielt er es für notwendig, auch einen russischen Dichter zu benennen, der mit ihm im Einklang stehe. „Und wenn wir vergleichen,“ lesen wir weiter im selben Artikel, „dann hat er [George] vielleicht Ähnlichkeit mit Vjačeslav Ivanov, aber nur im Sinne einer priesterlichen, leidenschaftlichen Wahrnehmung und Erfahrung von Phänomenen“.23 (Der gleiche Gedanke über das priesterliche, hieratische Prinzip, das beide Dichter auszeichne, wurde von Guenther viele Jahre später in seinen Erinnerungen wiederholt.) Guenther nutzte jede Gelegenheit, um zu betonen, „wessen Name jetzt das Alpha und Omega der deutschen Kunst“ sei;24 er schrieb über die Sammlung ausgewählter Artikel aus der Zeitschrift Blätter für die Kunst der Jahre 1904–1909 20 21 22 23 24

Später, als Ivanov Byron übersetzte, wählte er das Gedicht Die Insel; genauso ist auch eines der Gedichte von Ivanov selbst betitelt (Inseln, 1915). Siehe dazu im Detail: Azadovskij, Lavrov 1996. Apollon. 1909. Nr. 3 (Dezember). S. 4 (Abschnitt „Chronik“). Ebenda. Aus Guenthers Rezension neuer deutscher Bücher (ebenda 1910. Nr.  7 [April]. S.  12 [„Chronik“]).

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(Berlin, 1909);25 rezensierte in Apollon neue Bücher von George selbst und dessen Übersetzungen (zum Beispiel der Sonette Shakespeares);26 sprach über Georges Gefolge (Friedrich Wolters, Friedrich Gundolf, Ludwig Derleth, Karl Wolfskehl). Zu Beginn des Jahres 1911 veröffentlichte Guenther in zwei Heften von Apollon einen langen Aufsatz über George.27 Aus einigen Passagen dieses Artikels lässt sich Guenthers Dialog mit Vjačeslav Ivanov heraushören, möglicherweise ein Echo der Gespräche und Auseinandersetzungen, die im „Turm“ stattfanden.28 Eine leichte, unterschwellige Polemik zwischen Guenther und Ivanov entstand insbesondere im Zusammenhang mit Novalis, dessen Werk sich Ivanov bekanntlich kurz nach dem Tod seiner Frau  L.  D.  Zinov’eva-Annibal (1906) zuwandte. Als Ivanov von Novalis eingenommen wurde, konnte er nicht umhin, auch Interesse am literarischen Schicksal dieses deutschen Dichters zu zeigen, dessen Name gerade von der Neuromantik wieder aufgegriffen worden war; es waren George, teilweise Hofmannsthal und die Zeitschrift Blätter für die Kunst, die eine wichtige Rolle bei dieser Wiederbelebung von Novalis spielten. In einer seiner Rezensionen in Apollon schrieb Guenther begeistert über den Kritiker, Essayisten, Herausgeber und Übersetzer Franz Blei (1871–1942), der keinen direkten Bezug zum George-Kreis hatte, aber mit Guenther sympathisierte und ihn in seinen Münchner Zeitschriften veröffentlichte. Guenther schrieb ihm das Verdienst zu, dass er in den 1890er Jahren „als erster auf Novalis verwiesen hatte und erst dann kluge Leute auftauchten, die Novalis 25 26 27

28

Ebenda, S. 11. Ebenda, Nr. 8 (Mai – Juni). S. 7–8, in der Chronik. Guenther 1911a; Guenther 1911b. Der Artikel wurde von Guenther in deutscher Sprache verfasst; russische Übersetzung von K. M. Žichareva. Guenther nannte seinen Artikel später eine „Monographie“ und unter dieser Definition erschien sie auch in späteren Werkverzeichnissen. Er hatte tatsächlich vor, ein George-Buch zu veröffentlichen: „Ich arbeite derzeit an einer großen und umfassenden Monographie über George“, schrieb Guenther und versprach am Schluss seines Artikels: „[…] Die Monographie erscheint spätestens in einem Jahr in Deutschland; es wäre wünschenswert, die russische Öffentlichkeit damit in Übersetzung vertraut zu machen“ (ebenda, S. 63). In Bezug auf die russische Ausgabe nahm Guenther Korrespondenz mit Ė. K. Medtner und dem Verleger A. M. Kožebatkin auf. „Guenther schlägt vor, eine Monographie über George zu veröffentlichen (kritisch und mit einer Studie zur Rhythmik nach meiner Methode), Kožebatkin wird Ihnen seinen Brief schicken“, schrieb Medtner am 15./28. August 1910 an Andrej Belyj (Belyj, Metner 2017b, S.  19, 21). Die „Monographie“ ist jedoch weder in russischer noch in deutscher Sprache erschienen. Einen der Sonderdrucke seines Artikels in Apollon sandte der Autor an George selbst mit der Widmung: „Es gereicht mir zu besonderem Stolz in diesem Aufsatz zum ersten Mal in Russland von dem vornehmsten Dichter europäischer Gegenwart gehandelt zu haben“. Joh. von Guenther. In: George-Archiv der Bibliothek des Landes Württemberg (Stuttgart).

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entdeckten und so taten, als hätten sie Blei überhaupt nicht gekannt. Ah, diese klugen Leute! Wenn nur einer von ihnen so wunderbar schreiben könnte wie Blei!“29 Guenthers Ironie zielte offensichtlich auf deutsche Autoren (natürlich nicht auf George) – genauso deutete diese Worte auch Ivanov selbst, der zu jener Zeit die Lyra von Novalis vorbereitete. In einem Brief an S. K. Makovskij vom 2. Februar 1910 hielt es Ivanov jedoch für notwendig, über den Angriff von Guenther zu sprechen und seine eigene Position zu klären.30 Guenthers Rezension erschien im Januar 1910. Und im April, als Ivanov seine Nachdichtungen von Novalis’ Hymnen an die Nacht veröffentlichte, begann er seine Einleitung mit dem folgenden Satz: Es ist erfreulich zu sehen, dass die Initiative der literarischen Sphäre, die um den großen Meister der modernen deutschen Poesie, Stefan George, als um ihren zentralen Himmelskörper kreist, die Aufmerksamkeit der Zeitgenossen auf den Lyriker Novalis gelenkt hat.31

Vielleicht versuchte Ivanov mit diesen Worten, Guenther erneut zu „korrigieren“. Der Satz, dass es gerade der Kreis um Stefan George war, „der in Novalis zum ersten Mal einen der größten deutschen Lyriker erkannte“, findet sich auch in Ivanovs Artikel O Novalise [Über Novalis; 1913].32 Die dreibändige, von Stefan George und Karl Wolfskehl zusammengestellte sowie mit einem Vorwort und Kommentar versehene Anthologie Deutsche Dichtung war eine der Quellen, die Ivanov zweifellos für die Arbeit an der Lyra von Novalis verwendete. Der erste Band dieser Anthologie war Jean Paul (Richter) gewidmet, der zweite Goethe, der dritte hieß Das Jahrhundert Goethes und vereinte unter einem Einband zwölf deutsche Dichter des 19. Jahrhunderts (von denen einer Novalis war). Dieses Buch befand sich in Ivanovs Bibliothek.33 In seinem Brief an Ivanov vom 26. November 1909 aus Mitava bat Guenther, ihm für mehrere Wochen die Deutsche Dichtung zu leihen – „mit

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Guenther 1910, S. 44 (in der „Chronik“). Bezüglich dieser Episode siehe den Kommentar von N. A. Bogomolov und O. A. Kuznecova zur Korrespondenz von V. I. Ivanov und S. K. Makovskij (Novoe literaturnoe obozrenie, 1994. Nr. 10. S. 155). Apollon. 1910. Nr.  7. S.  46 (Abschnitt „Literarischer Almanach“). Ivanovs NovalisÜbersetzungen sowie seine Artikel über den deutschen Dichter sind in dem Buch: Lira Novalisa. V pereloženii Vjačeslava Ivanova [Die Lyra von Novalis in Nachdichtungen von Vjačeslav Ivanov] Tomsk, 1997 zusammengefasst. Erstmals: Ivanov 1987, S. 252–277. Obatnin 2002, S. 287, 321 (Abschnitt VII – „Bücher mit Autorenwidmungen“; wessen und welche Art von Widmung diese Ausgabe enthält, wird nicht präzisiert).

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Rückgabe“34 (es ist nicht bekannt, ob Ivanov Guenthers Bitte erfüllte). Der Wert dieses Exemplars war umso größer, als es sich eben um den Privatdruck handelte, den Ivanov in seiner Bibliothek hatte, während die Veröffentlichung derselben Bände für das breite Publikum erst 1910 einsetzte (worauf Guenther in Apollon35 hinwies). Es besteht kein Zweifel: 1909–1911 gelang es Guenther, den Namen des Führers der deutschen Symbolisten unter den russischen Dichtern der Moderne zu etablieren: sowohl im Kreis des „Turms“ als auch im Kreis von Apollon (dem ersten Teil von Guenthers Artikel waren Versübersetzungen von George durch S. K. Makovskij, S. Ė. Radlov, V. A. Čudovskij und V. Ju. Ėl’sner vorangestellt36). Auch Brjusov, dessen literarische Stellung in jenen Jahren teilweise mit der des George-Kreises vergleichbar war, zeigte Interesse an George; er versuchte offenbar, mit ihm in Korrespondenz zu treten.37 George wurde jedoch nicht nur im neoklassizistischen Kreis, der dem Akmeismus des Apollon nahestand und sich hauptsächlich für die französische Kultur interessierte, hochgeschätzt, sondern auch im Umkreis von Musaget mit seiner ausgeprägten Orientierung an der germanischen Philosophie und den religiösen und mystischen Wurzeln des europäischen Symbolismus. Ė. K. Medtner, der Initiator dieses Moskauer Verlages und sein ideologischer Inspirator, war ein begeisterter Leser Georges.38 Lange vor der Entstehung des Musaget schrieb Ėllis (L. L. Kobylinskij), damals ein leidenschaftlicher Bewunderer Georges,39 an Ė.  K.  Medtner: „… Sie sind verpflichtet, in Russland eine künstlerische Zeitschrift und ein ästhetisches Zentrum in der Art der Bruderschaft von St. George zu schaffen“.40 34 35 36

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39 40

Handschriftenabteilung der Russischen Staatsbibliothek Moskau (im Weiteren: NIOR RGB). Bestand 109. Kart. 17. Nr. 42. Bl. 5. (Original deutsch). Apollon. 1910. Nr. 8 (Mai–Juni). S. 7–8. Ebenda, 1911. Nr. 3. S. 41–45. Nachdruck neben den anderen Übersetzungen aus George ins Russische in: S. George. Ausgewählte Gedichte, ukrainisch und in anderen vorzüglich slawischen Sprachen. Hg. von E. G. Kostetzky, O. Zujewskyj. Stuttgart, 1968–1971. Bd. 1; 1973 [1975]. Bd. 2. Der zweite Band dieser Ausgabe enthält den Abschnitt „Stefan George in der Beurteilung der sowjetischen Literaturwissenschaft“ (S. 456–467). NIOR RGB. Bestand  386. Kart.  73. Nr.  27 (Entwurf eines Briefes, vermutlich an Stefan George gerichtet; Datum: 8. Dezember 1910). Ende 1904 schrieb Medtner an Andrej Belyj (aus Berlin), nachdem er sich mit Georges Gedichten im Sammelband Der Teppich des Lebens (1899) vertraut gemacht hatte: „… ich habe nicht alles verstanden, was ich aber verstanden habe, ist faszinierend in Form und Gedanken. Wie stark die Welle religiöser Bestrebungen alle sensiblen Menschen in Europa erfasst hat!“ (Belyj, Metner 2017a, S. 478). In dem Artikel O suščnosti simvolizma [Über das Wesen des Symbolismus] nannte Ėllis George „den größten Dichter unserer Tage“ und seine Schule „kriegerisch und herrlich“ (Ėllis 1910, S. 38). Siehe auch: Ėllis 1914, S. 8 f. Zit. nach: Lavrov 1984, S. 192.

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In den frühen 1910er Jahren kam der Name Georges ständig in der Korres­ pondenz der ‚Musagetiten‘ vor: Man diskutierte etwa die Frage der Veröffentlichung eines Artikels von Guenther über George in einem der (gescheiterten) Sammelbände von Musaget. Ivanov, der ein aktiver Teilnehmer an den „Musaget“-Projekten war, verwies in dem Abschnitt eines Briefes an Ė. K. Medtner vom 3. Juli 1912, der „Über die Sprache von Musaget und seine Etikette“ überschrieben war, auf die Autorität Georges. In der Ansicht, Medtner solle zu keinerlei redaktionellen Restriktionen greifen, schrieb Ivanov: Wenn Musaget ein künstlerisches Organ wäre und Stefan George wie bei den ‚Blättern für die Kunst‘ an der Spitze stünde, dann dürfte Musaget die Ansprüche seiner Musaget-Phrase auf alles bis hin zur Interpunktion und Rechtschreibung hochschrauben.41

George und seine Zeitschrift mit ihrer besonderen Zeichensetzung und Rechtschreibung, die der deutsche Dichter gebraucht hatte, dienten Ivanov in diesem Zusammenhang als Vorbild für Publikationen von einer uneingeschränkter Gestaltungsfreiheit. Man sieht, dass Ivanovs Meinung über Stefan George, die sich in den 1900er Jahren insbesondere dank Guenthers herausgebildet hatte, insgesamt ziemlich hoch war (jedoch nicht ohne Vorbehalte). Dies zeigt ein Tagebucheintrag eines weiteren Zeitgenossen und Bekannten Ivanovs – Friedrich (Fëdor Fëdorovič) Fiedlers (1859–1917), eines Petersburger Sammlers und Übersetzers russischer Dichter ins Deutsche. Nachdem Fiedler am 30. März 1910 Ivanov, der ihn durch seine Erscheinung an Theodor Mommsen erinnerte und deutsch mit ihm sprach, begegnet war, notierte er (an ebendiesem Tag) in sein Tagebuch: Wie hübsch der Mann deutsch spricht und sogar schreibt und sogar in Versen […] Hält ungemein hoch Stefan George, nicht so sehr als Dichter als vielmehr als ‚Meister‘ (des Worts).42

Liest man diesen Eintrag von Fiedler genau, kann man in ihm eine semantische Besonderheit ausmachen: Ivanov stellt den ‚Dichter‘ George dem ‚Meister des Worts‘ entgegen. Wenn man ins deutsche Original schaut, sieht man, dass das Wort „‚Meister‘“ von Fiedler in Anführungszeichen gesetzt wurde, während die zweite Komponente „(des Worts)“ in Klammern steht und möglicherweise erst später zur Klarstellung oder Dekodierung hinzugefügt worden ist. Es scheint, dass Ivanov es folgendermaßen gesagt haben könnte: Ich schätze George 41 42

Sapov 1994, S. 343. Fiedler 1996, S. 409.

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wirklich hoch, aber mehr als ‚Meister‘ denn als ‚Dichter‘. Dieser Satz kann auf zweierlei Weise gelesen werden: entweder ‚Meister‘ im Sinne von ‚Meister der Form‘ (im Gegensatz zum Dichter des ‚inneren Inhalts‘ – das war es höchstwahrscheinlich, was Ivanov zum Ausdruck bringen wollte); oder ‚Meister‘ im Sinne von ‚le maître‘. Wahrscheinlich verstand Fiedler Ivanov nicht ganz und versuchte, den Sinn seiner Worte zu präzisieren. George geriet erneut 1912 in Ivanovs Blickfeld, diesmal im Zusammenhang mit der Übersetzung seiner Tragödie Tantalus ins Deutsche, die 1908–1912 von dem Dichter und Übersetzer Henry von Heiseler (1875–1928) angefertigt wurde. Von Heiseler, der in Russland geborene und russischer Staatsbürger war, lebte längere Zeit in München und war eng mit dem Kreis der Blätter für die Kunst verbunden, insbesondere mit Karl Wolfskehl (Guenther, der Heiseler später kennenlernte, erinnerte sich daran, wie er 1913 Gast in dessen Haus bei München war, ebenso wie auch Wolfskehl und Hofmannsthal43). Auch George selbst kam gelegentlich bei von Heiseler vorbei; er und seine Mitstreiter veranstalteten in Heiselers Münchner Wohnung gesellige Abende.44 Ol’ga Deschartes zitiert in ihren Kommentaren zu Tantalus eine Aussage von Bernt, dem Sohn Henry von Heiselers, über die erste Begegnung seines Vaters mit Ivanov in St. Petersburg: Sie wurden sofort Freunde. Heiseler begann den ‚Turm‘ zu frequentieren. Während seines langen Aufenthalts in S[ankt-]P[eters]b[urg] trug er maßgeblich zur inneren Annäherung von V[jačeslav] I[vanov] an Stefan George bei. Vor allem rührte und erregte er V[jačeslav] I[vanov] mit der Mitteilung, dass er George den Tantalus gezeigt habe und dass George in dem Autor der Tragödie, sogar anhand der Übersetzung, einen ‚großen Meister des Wortes‘ und in der Hauptsache seinen Gleichgesinnten erkannt habe: in der ehrfürchtigen Beziehung zur schöpferischen Kraft der Sprache. Heiseler rezitierte oft Georges Gedichte aus dem Gedächtnis und gab dabei dessen rhythmisches Skandieren und die Intonation wieder. ‚Henry‘ sagte nachdrücklich, dass sich die beiden Dichter bei der nächsten Reise V[jačeslav] I[vanov]s ins Ausland treffen müssen. Ein solches Treffen sollte jedoch nie stattfinden.45

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44 45

Guenther 1969, S. 455–456. Erstmals erschienen Guenthers Erinnerungen an Henry von Heiseler kurz nach dessen Tod (siehe: Heiseler 1929). Nach dem Tod von Heiselers veröffentlichte auch Wolfskehl, in dem Guenther eine gewisse Ähnlichkeit mit Vjačeslav Ivanov erkannte (siehe: Guenther 1969, S. 456), seine Erinnerungen (1930). Besonders berühmt war ein Kostümfest in der Münchner Wohnung von Heiselers am 14. Februar 1904 (George trat als Dante, Wolfskehl als Homer auf). Siehe dazu: Zeller 1968, S. 178–179. Ivanov 1974, S. 680.

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Diese Aufzeichnung, die möglicherweise nicht nur die Erinnerungen des Sohnes von Heiselers spiegelt, sondern auch die von Ivanov selbst (aus der römischen Zeit), erfordert dennoch Korrekturen, die Michael Wachtel vorgenommen hat, indem er eine Reihe bisher unbekannter Dokumente in den wissenschaftlichen Umlauf brachte. Eines davon ist ein Brief von Heiselers an Ivanov vom 2. November 1912 (aus Deutschland nach Italien). Der Übersetzer des Tantalus informierte Ivanov darüber, dass er seine Übersetzung mehreren „wertvollen“ Personen vorgelesen habe, darunter Karl Wolfskehl, der von Ivanovs Tragödie tief beeindruckt gewesen sei. „Wolfskehl müssten Sie unbedingt kennenlernen“, heißt es in diesem Brief, „er ist einer der lebendigsten und innerlich reichsten Menschen, die es heute gibt“.46 Wie zu sehen ist, geht es nicht um George selbst, sondern um Wolfskehl, der die Münchner Redaktionsleitung der Blätter für die Kunst repräsentierte. Natürlich kann nicht ausgeschlossen werden, dass von Heiseler seine Übersetzung später auch George selbst vortrug. Wie dem auch sei, erschien dieser Text Ivanovs nicht in Georges Zeitschrift. Von Heiseler bot Tantalus auch Anton Kippenberg, dem Direktor und Inhaber des renommierten Leipziger Insel-Verlags, an. In seinem Begleitbrief schrieb von Heiseler unter anderem, dass Ivanov einer der besten russischen Dichter der Gegenwart sei und dass er in Russland „ungefähr die ähnliche Stellung einnimmt, wie George in Deutschland“.47 Diese Idee wiederholte von Heiseler in einem weiteren Brief an Kippenberg und fügte hinzu, dass Ivanov „umfassender und nicht nur in der Lyrik ein Führer“ sei. „Auf dem Gebiet der klassischen Philologie ist er Autorität. Literarisch kommen neben ihm nur Valerius Brjussoff (entfernt Hofmannsthal entsprechend) und Andrei Belyj (dessen Eigenart nicht einmal die entfernteste Parallele duldet) in Betracht“.48 Von Heiselers Einschätzung gleicht den Urteilen Guenthers. Im Gegensatz zu letztem kannte von Heiseler George jedoch persönlich und nahe, darüber hinaus genoss er das Wohlwollen des Meisters. Es besteht kein Zweifel, dass von Heiseler bei seinen Besuchen des „Turms“ Ivanov viel über George erzählte (wie im Kreis von George über Ivanov). Letztlich war von Heiseler in noch größerem Maße als Guenther Bindeglied zwischen dem russischen und dem deutschen Dichter.49 Laut Ol’ga Deschartes verkehrte Ivanov im Exil mit von Heiseler nicht, ja, kannte nicht einmal dessen Adresse.50 In den 1930er Jahren nahm er jedoch 46 47 48 49 50

Zit. nach: Ivanov 1995, S. 221. (Der Brieftext im Original auf Deutsch). Heiseler 1969, S. 71. Ebenda, S. 71–72. Sommer 1987. Zu Henry von Heiseler als Übersetzer siehe: Poljakov, Sippl 1999; Poljakov, Sippl 2000. Ivanov 1971, S. 681.

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eine Korrespondenz mit Bernt von Heiseler auf, der die Werke seines Vaters edierte und ein Buch über ihn verfasste, und lernte diesen später auch persönlich kennen. Alle diese Veröffentlichungen von und über von Heiseler gingen Ivanov zu. In der von Michael Wachtel51 veröffentlichten Korrespondenz zwischen Bernt von Heiseler und Ivanov taucht jedoch der Name Georges nicht auf. Bernt von Heiseler veröffentlichte 1933 in München das Buch seines Vaters über Stefan George und 1936 erschien in Lübeck sein eigenes Buch eben dieses Titels: Stefan George. Ob Ivanov diese beiden Bücher in Händen hatte, ist nicht bekannt. In Ivanovs Bibliothek, die in seiner römischen Wohnung bewahrt wird, fehlen diese Ausgaben jedenfalls.52 Es ist auffallend, dass jedes Mal, wenn ein deutschsprachiger oder ein mit Deutschland eng verbundener Literat, sei es Johannes von Guenther, Henry von Heiseler oder Friedrich Fiedler, mit Vjačeslav Ivanov in näheren Kontakt trat, mit ihm deutsch oder über deutsche Literatur sprach, unveränderlich der Name Georges fiel. Sobald Bernt von Heiseler oder Ol’ga Deschartes auf die Übersetzung des Tantalus hinwiesen, wurde der Name Wolfskehls (der in Russland fast unbekannt war) durch den Namen Georges selbst ersetzt. Und noch mehr: das Attribut „russischer George“ ging eine feste Verbindung mit dem Namen Vjačeslav Ivanov ein, wurde zu einem seiner Kennzeichen, das lange im Gedächtnis seiner Zeitgenossen erhalten blieb.53 Beide Dichter wurden ständig einander gegenüber- und einander gleichgestellt, sie wurden als gleichwertige, ja, als verwandte Figuren wahrgenommen. Ist eine solche Einschätzung begründet? Inwieweit kann man von einer ‚Ähnlichkeit‘ zwischen Georg und Ivanov sprechen (es geht um eine innere Ähnlichkeit54)? Welcher Art Nähe besteht zwischen den beiden Dichtern? 51 52 53

54

Ivanov 1995, S. 218–254. Mitgeteilt von A. B. Šiškin. Fügen wir den obigen Beweisen noch einen weiteren hinzu. Ė.  K.  Medtner, der im November 1930 in der Schweizer Neuen Zürcher Zeitung einen Artikel über Ivanovs Die russische Idee (Tübingen, 1930) veröffentlichte, schrieb Ivanov am 5. Dezember 1930: „Dass ich es geschafft habe, die N. Z. Z. dazu zu bringen, zwei Feuilletons über eine kleine Broschüre zu drucken, zeigt, inwieweit die Redaktion den russischen ‚Stefan George‘ gelten lässt“ (zit. nach: Ivanov 1995, S. 118–119). Vergleicht man die derzeit sehr reichhaltige Erinnerungsliteratur, die sowohl Stefan George als auch Vjačeslav Ivanov gewidmet ist, kann man ebenso merkwürdige Zeichen einer äußeren Ähnlichkeit feststellen, zu denen beispielsweise die für beide Dichter charakteristische ‚Alterslosigkeit‘, die Unbestimmtheit ihrer Erscheinung, deren Veränderlichkeit und Flüchtigkeit zählen. „Vjačeslav Ivanovs Alter war unbestimmbar“, betonte Fedor Stepun. „Einerseits gab es bereits in den Jahren unserer häufigen Treffen etwas an ihm, das ihn älter erscheinen ließ (Maître, Maestro), andererseits etwas erstaunlich Jugendliches“ (Stepun 1998, S. 121–122). Der Künstler L. Thormaehlen, einer von Georges Bekannten, der erstmals 1909 mit ihm zusammentraf, schrieb in seinen

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In dieser Hinsicht muss vor allem betont werden, dass Stefan George und Vjačeslav Ivanov über eine gemeinsame kulturelle Grundlage, gemeinsame Wurzeln und eine gemeinsame literarische Genese verfügten: den westeuropäischen (hauptsächlich französischen) Symbolismus und die deutsche Neuromantik. Beide wurden von der raffinierten Plastizität des französischen Parnass beeinflusst;55 beide waren von der Dichtung Baudelaires (den sowohl George als auch Vjačeslav Ivanov übersetzten) begeistert, ebenso von Verlaine und Mallarmé (die George übersetzte); beide waren von Nietzsche zutiefst beeindrückt, der damals die Gemüter beherrschte; beide waren auch von den religiös-mystischen Bestrebungen des westeuropäischen Symbolismus des Fin de siècle eingenommen. Diese Epoche zeichnete sich insbesondere dadurch aus, dass sie – unter Berufung auf die Antike und das Mittelalter – in Westeuropa eine Kultur von geheimen, hermetisch geschlossenen Kreisen (‚Orden‘) gleichgesinnter Eingeweihter (‚Auserwählter‘), die durch esoterisches Wissen mit der zentralen Figur eines ‚Grossmagiers‘ vereint waren, schuf oder wiederbelebte. Dergestalt war in Frankreich der Mallarmé-Kreis (es darf auch an Sar Péladan mit seinem okkult-mystischen Salon de la Rose-Croix erinnert werden). In Deutschland entstand zu Beginn des 20. Jahrhunderts ein esoterischer theosophischer Kreis mit Rudolf Steiner an der Spitze. Einen solchen Kreis stellten auch die Verehrer Georges dar, die Autoren und Mitwirkenden der Blätter für die Kunst, die sich in den 1890er Jahren zusammengeschlossen hatten. In Russland entsprach diesem Typus von Vereinigung – aus der Vielzahl an verschiedenartigen Gesellschaften, Gruppierungen und Sekten, die zu Beginn des 20. Jahrhunderts entstanden – am ehesten der „Turm“ von Vjačeslav Ivanov, „das Laboratorium der elitären Kultur von Petersburg“ (in der Definition von D. E. Maksimov).56 In diesem Petersburger „Laboratorium“ bildeten auch die „subtilsten himmlischen Gifte“ den Bodensatz, der die russische Kulturelite nährte. Die spirituellen Mahlzeiten und Feste in dem Turm stellten Anklänge an die Versammlungen des George-Kreises dar. Die Petersburger ‚Orgiasten‘ und die deutschen Georgianer ähnelten einander. Das dionysische Mysterium der „Mitkreuzigung“, das E. P. Ivanov in seinem Brief an Blok vom 9./10. Mai 1905 ausführlich beschrieb,57 der Kreis der St. Petersburger „Hafiziten“ (1906), die Platon-Symposien, die Vorstellungen des „Turm“-Theaters von 1910, ganz

55 56 57

Erinnerungen: „Man täuscht sich fortwährend über sein Alter. Er kann jung, elastisch und frisch wie ein Jüngling und auch uralt aussehen, manchmal auch wie eine Frau“ (Thormaehlen 1962, S. 19). Koreckaja 1996. Maksimov 1975, S. 233. Iljunina 1989.

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zu schweigen von der allgemeinen ‚okkulten‘ Atmosphäre, in der Ivanov 1907– 1909 verweilte (unter dem Einfluss von A. R. Minclova, die eine RosenkreuzerBruderschaft in Russland aufzubauen versuchte)58 – dies alles korrelierte auf die eine oder andere Weise mit den ‚Spielen‘ und ‚Lesungen‘ der GeorgeJünger und der Aura dieses Kreises. George ließ sich wie Ivanov von der Antike inspirieren, insbesondere von Platon.59 Bei den Treffen seines Kreises erhielt jeder einen eigenen – meist poetischen – Namen: Dante, Homer … (so wie es oft auch im Petersburger „Turm“ der Fall war). Die Teilnehmer bekränzten ihre Köpfe, legten Tuniken und Chitone an (im Alltag trug George in der Regel einen strengen schwarzen Anzug, ähnlich einer Soutane), arrangierten Maskenspiele usw. Aber das Hauptsächliche, das die ‚zwei Türme‘ einander klar annäherte, war die Figur des Meisters selbst, des Bewahrers uralter Geheimnisse, des Dieners der Schönheit, des Magiers und Oberpriesters, der ein besonderes ‚sakrales‘ Wissen besaß. Dichter und Theurg, Mystagoge, Initiator geheimnisvoller Rituale, Teilnehmer orgiastischer ‚Séancen‘, die im Lichte der Gestalt des geflügelten Eros standen – in all diesen Facetten kam der vielgestaltige Vjačeslav Ivanov jedenfalls mit George in Berührung. Beide, wenn auch jeder auf seine Weise, verkörperten den Typus eines Dichterpriesters, für den Kunst einen religiösen Dienst bedeutete. Dieser ‚Typus‘ entsprach ihren Vorstellungen von der Rolle und Bestimmung des wahren Dichters.60 Nicht zufällig betonten sowohl Guenther als auch andere Zeitgenossen das ‚Hieratische‘ an Ivanov. Georgij Adamovič schrieb, dass Ivanov nach seiner Ankunft in Russland „in den poetischen Kreisen fast sofort die Position der höchsten Autorität, des Führers und Richters, vielleicht sogar eines Hohepriesters, einnahm“.61 Das ist keine Übertreibung. Ivanov war der einzige russische Dichter des Silbernen Zeitalters, der tatsächlich als ‚Opferpriester‘ oder ‚Gottesdiener‘ bezeichnet werden kann und auf den Definitionen wie ‚majestätisch‘, ‚großartig‘, „königlich“ oder „herrisch“ zutreffen (die letzten zwei Epitheta sind in dem berühmten Gedicht von Blok aus dem Jahr 1912 zu finden62). Ein ebensolcher, autokratischer Führer‘ war in Deutschland Stefan George. An der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert genoss er – selbstverständlich nur unter seinen Anhängern – unbestreitbare Autorität. Er war von ihm ergebenen Jüngern umgeben, die in ihm den Gebieter sahen und sich ihm unterwarfen. Die Anrede, die sich unter den Jüngern für den 58 59 60 61 62

Bogomolov 1999, S.  311–334 (Kapitel „Aus dem okkulten Leben des ‚Turms‘  von Vjač. Ivanov“). Zum Platon-Kult im George-Kreis („Georgianische Platonolatrie“) siehe: Majackij 2012. Davidson 2002. Adamovič 1996, S. 92. Das Gedicht An Vjačeslav Ivanov (Blok 1997, S. 100).

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Lehrer eingebürgert hatte, war das Wort „Meister“. Bekannt ist der Satz von Friedrich Gundolf: „Ich tauge nur dazu, dem Meister die Schnürsenkel aufzumachen“.63 Als sich Johannes von Guenther in den Jahren 1906–1907 in Briefen an Ivanov wandte, nannte er ihn ebenfalls „Meister“. Das Spektrum des Verhaltens der Neophyten gegenüber dem Lehrer (der Russen gegenüber Ivanov, der Deutschen gegenüber George) reichte von Ehrfurcht über Anbetung bis hin zur Selbsterniedrigung. Außerdem sollte nicht unerwähnt bleiben, dass George wie Ivanov „ein Virtuose in dem Beherrschen von Menschenseelen“ war.64 Er verstand es, Schüler und Adepten anzuziehen und zu bezaubern. Zwei Meister, beide charismatische Führer einer symbolistischen Schule, – sind somit als Figuren vergleichbar. Von einer Ähnlichkeit zwischen beiden kann dennoch nur mit aller gebotenen Vorsicht gesprochen werden. Desgleichen sind die beiden ‚Türme‘, der deutsche und der russische, nur bedingt einander gleichzustellen. Die Georgianer bildeten eine Art Ordensgemeinschaft; ihre Versammlungen waren geschlossen, ‚geheim‘, echt klösterlich (außerdem ließ George keine Frauen zu den Versammlungen zu), während der Zugang zum Ivanov-Turm – trotz seines Elitarismus – in keiner Weise beschränkt war. Es war keine ‚Initiation‘ zur Teilnahme an den ‚MittwochAbenden‘ und sonstigen ‚Turmtreffen‘ erforderlich. Die Belebtheit, die Offenheit und Meinungsfreiheit, die den Erinnerungen der Zeitgenossen zufolge in dem Haus an der Taurischen Straße vorherrschten, widerspricht fast dem autoritären Geist der georgianischen Versammlungen, wo alles durch den Willen und das Wort des ‚Meisters‘ bestimmt wurde. „Die Zusammenkünfte des George-Kreises bei Wolfskehl“, berichtete Guenther, „lassen sich keinesfalls mit den Mittwoch-Abenden vergleichen; denn in München gab es ja nur ihn, den Meister, und sein offenbarendes Wort; keine Dispute und noch weniger Kritik“.65 Die Übereinstimmung zwischen Ivanov und George ist von besonderer Art. Zu suchen ist sie im Bereich der esoterischen Mythenbildung, des symbolistischen literarischen Lebens und der spirituellen Atmosphäre, die ausgesprochene Gegensätze in sich vereinte: raffinierte Literarizität und theatralische Maskerade, intellektuellen Umgang und orgiastische Ekstase. Darüber hinaus sind der russische und der deutsche Dichter hinsichtlich des Einflusses, den jeweils auf die Entwicklung des ‚modernen Geistes‘ ausübten, vergleichbar. Beide trugen, wie es S. S. Averincev einmal ausdrückte, zur

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Zit. nach: Schonauer 1960, S. 94. Berdjaevs Worte über V. Ivanov: Berdjaev 1989, S. 178. Guenther 1969, S. 211.

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„Selbstbestimmung einer ganzen kulturellen Epoche“ bei,66 die neue Werte und ein neues ästhetisches Bewusstsein zu etablieren vermochte. Was die Poesie betrifft, so sind auch hier eine Reihe von Entsprechungen offensichtlich: der Appell an den Hellenismus und die Kultur des römischen Niedergangs, das dionysische Thema, die alexandrinische (d. h. ‚herbstliche‘) Wahrnehmung des Lebens und der Kultur, die Versuche, eine besondere prophetisch überhöhte und manchmal mysteriöse hieratische Sprache zu schaffen („Ich habe durch eine mystiche Schӧnheit / Unter dem Gewand der Nacht einen leuchtenden Vers verborgen“67). Ebenso wie Ivanov poetisierte George vor allem im Frühwerk die Antike, beschrieb hellenische Rituale und dithyrambische Tänze, nahm gerne zur Stilisierung Zuflucht: Becher am boden Lose geschmeide Frauen dirnen Schlanke schenken Müde sich senken Ledig die Lende Busen und hüfte Um die Stirnen Der Kränze rest Schläfernder broden Weinkönig scheide! Aller ende Ende das fest!

Kenner der russischen Poesie würden – nicht unbegründet – annehmen, dass diese ‚dionysischen‘ Verse von Vjačeslav Ivanov stammen. In Wirklichkeit aber sind sie von Stefan George (Algabal).68 Es gibt auch noch andere Beispiele für die literarische Affinität zwischen den beiden Dichtern. Nicht zufällig bezeichnete Michail  Kuzmin, als er sich an den „Turm“ erinnerte, Vjačeslav Ivanov als „einen Originaldichter im Stil der Münchner Schule (St.[efan] George, Klinger, Nietzsche) …“.69 66 67

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Averincev 2002, S. 11. Aus dem Sonett Javnaja tajna [Ein offenes Geheimnis, 1917] (Ivanov 1979, S. 561). Vjačeslav Ivanov und George vergleichend, betonte Guenther (in einer seiner Übersetzung von Ivanovs Gedichten vorangestellten Notiz) eine für die beiden Dichter gemeinsame „Art des Umgangs mit Sprache“ (Guenther 1912. S. 39). George 1987, Band II: Hymnen, Pilgerfahrten, Algabal. Algabal, S. 68. Kuzmin 1998, S. 66 (die „Münchner Schule“, zu der angeblich Nietzsche, George und der Künstler Max Klinger gehörten, ist eine klare Täuschung des Autors). Als regelmäßiger Besucher oder Bewohner des Turms war Kuzmin in den Jahren 1906–1911 (unter dem Einfluss von Guenther, möglicherweise von Ivanov selbst) einer der russischen Bewunderer

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Wenn man die Literaturgeschichte des vergangenen Jahrhunderts aus heutiger Perspektive betrachtet, muss man freilich zugeben, dass die Spur, die George in der deutschen Literatur des 20. Jahrhunderts hinterließ, ungleich tiefer ist als der Einfluss Vjačeslav Ivanovs, des brillanten Meisters des künstlerischen Wortes und weisen Erziehers junger Dichter, der desungeachtet keine eigene ‚poetische Schule‘ schuf. Trotz der überfüllten ‚Turm‘-‚Symposien‘ (besonders in den Jahren 1905–1906)70 kann man nur von einem kleinen ‚Kreis‘ von Ivanov-Schülern und -Anhängern sprechen, während die Persönlichkeit und Dichtung Georges – ungeachtet der Enge und Exklusivität seines ‚Kreises‘ – in ganz Deutschland Resonanz fanden und zu Imitationen seines Stils führten. Neben dem Ästhetizismus, Nietzscheanismus und ausgeprägten Individualismus zeichnete sich der westeuropäische Symbolismus, wie oben erwähnt, noch durch eine andere (gegenläufige) Tendenz aus: eine religiös-mystische. Ivanov schrieb über diese Tendenz verständnisvoll in seinem „Exkurs“ über Verlaine und Huysmans (1907), die eine „große Tat der Dekadenz“ vollbrachten und erfolglos versuchten, die religiöse Idee zu beherrschen („Beide suchten Zuflucht im Schoß der Kirche“71). Stefan George stellte keine Ausnahme dar: Bereits in den 1890er Jahren tauchte seine Dichtung in eine Atmosphäre religiös-betender Kontemplation ein; Poesie wurde für den deutschen Dichter eine Art Ritus, Anbetung eines unbekannten Gottes (nicht Dionysos’, aber dennoch einer heidnischen Gottheit). Die vom Ästhetizismus geprägte, in dekorativ-dekadentem Geist gehaltene Erhöhung des Kaisers Algabal, der sich an dem Blut seiner Untertanen berauscht, wurde in der Dichtung Georges durch den Kult eines geistigen Führers ersetzt. George war ein Sänger des Übermenschen, der den Kult des ‚Helden‘ in der deutschen Dichtung durchsetzte. Sein Held ist ein Krieger und Prophet, Anführer und Seher, der von wenigen ‚Mitstreitern‘ umgeben ist. Georges Gedichten ist ein prophetisches, ‚priesterliches‘ Pathos eigen, sie sind feierlich und erhaben. Seine makellos reine poetische Sprache ist sakral gefärbt; manchmal klingt sie geheimnisvoll und rätselhaft. Georges Schaffen entwickelte sich, dabei seine grundlegenden äußeren Merkmale bewahrend, von der Verehrung der Schönheit und dem Prinzip des ‚l’art pour l’art‘ zum religiösen Lebensschaffen –  von Algabal,

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Stefan Georges. In einem Brief an V. V. Ruslov vom 15./28. November 1907 gab Kuzmin zu, dass ihm die meisten „neuen Deutschen“ mit Ausnahme von Hofmannsthal, Stefan George und ihrer Schule fremd seien (siehe: Bogomolov 1995, S. 203). Siehe im Detail: Šiškin 1998, S. 273–352. Ivanov 1974, S. 564–565.

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der auf französische Vorbilder zurückging, zum Gedichtband Das neue Reich (1928), der vom religiös-nationalen Geist geprägt war. Die geistige Entwicklung Vjačeslav Ivanovs vollzog sich – rein äußerlich – in einer ähnlichen Richtung. Seinem Autobiographischen Brief zufolge widmete er sich bereits in Athen (1902–1903) dem Studium der Religion des Dionysos, das durch „ein beharrliches inneres Bedürfnis“ ausgelöst worden war, „Nietzsche auf dem Gebiet des religiösen Bewusstseins zu überwinden“.72 Innerlich aber bewegte sich Ivanov in die von George entgegengesetzte Richtung. Nietzscheanismus und eine vom Zarathustra-Pathos genährte Kunst erschienen Ivanov als der äußerste Punkt der modernen geistigen Entwicklung und gleichzeitig als Anfang des Niedergangs.73 Von größter Bedeutung wurde für ihn vor dem Hintergrund der russischen Ereignisse von 1904–1907 das Problem der Überwindung des Individualismus. In einer Reihe von Texten aus dieser Zeit entwickelte er den Gedanken eines ‚Wendepunkts‘, der sich angeblich im russischen Geistesleben abzeichnete, von „einer noch dunklen Wende zum Pol der Konziliarität“ (sobornost‘).74 Im Wesentlichen griff Ivanov den slavophilen Mythos vom ‚Gottträger-Volk‘ auf, deutete ihn aber auf eine neue (‚dionysische‘) Weise. Was ihm vorschwebte, war die Wiederherstellung der vermeintlich verlorenen organischen Verbindung zwischen dem Sänger und der Menge, zwischen der „heiligen Sprache der Priester und Magier“ und der allgemeinen Sprache des Volkes;75 Ivanov postulierte einen neuen Künstlertypus, dem „die Schlüssel zu den letzten Geheimnissen der Volksseele“ anvertraut seien.76 Als Ivanov 1906 die ziselierten und kunstfertigen Strophen Georges hörte, die Guenther darbot, und die Kunst des deutschen Dichters würdigte, konnte er ihn doch nicht vollständig und bedingungslos bewundern. Neben dem „Symbolisten und Dekadenten Baudelaire“77 verkörperte auch der Ästhet George für Ivanov den Anfang des Niedergangs („eine intime Kunst der Überfeinerten“), dem das „Pathos des mystischen Strebens“78 fremd und der weit 72 73

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Ebenda, S. 21. Vgl. in Ivanovs Artikel Krizis individualizma [Die Krise des Individualismus] (1905): „Zarathustra! Ist es nicht die Nietzscheanische Prophezeiung des Übermenschen, in der der Individualismus seine transzendentalen Höhen erreicht und sich sozusagen ein hieratisches Kleid religiöser Unbedingtheit angelegt hat? […] Genau unsere Tiefe und unsere Verfeinerung scheinen Symptome der Erschöpfung des Individualismus zu sein“ (Ivanov 1971, S. 836). Ebenda. Ivanov 1974, S. 593. Ivanov 1971, S. 714. Ivanov 1974, S. 548. Ebenda, S. 553.

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entfernt von jener „wahren Realität“ war, zu der Ivanov in seinen Artikeln aus den 1900er Jahren (und später) aufrief. Es ist kein Zufall, dass Ivanov in dem programmatischen Artikel Die Krise des Individualismus (1905) seine These von der Erschöpfung des Ich-Prinzips der modernen „Seele“, die sich „dem Pol der Konziliarität“ zugewandt habe, nicht nur mit dem lyrischen Ich Baudelaires, sondern auch mit dem Beispiel des Algabal von George begründete: Es ließ der Appetit auf Besitz und Herrschaft nach. Wir sind immer noch despotisch; aber dieser Atavismus der alten Tyrannen, ob groß oder klein, verbirgt sich in uns vor uns selbst und negiert sich durch seine Entartung und Zersplitterung. Wir taugen kaum sogar zu Neros; vielleicht bestenfalls zu Elagabals, falschen Priestern einer falschen Sonne, um in hasserfüllten Wonnen zu schmachten wie dieser Held Baudelaires, der an seine ‚Präexistenz‘ (la vie antérieure) erinnert,79 oder wie der ‚Kaiser‘ Stefan Georges. Und wenn es unter uns willensstarke und wahre Tyrannen gibt, muss ihnen das Zeichen und das Bild des ‚Großinquisitors‘ eingeprägt werden; dieser ist aber kein Geist des Individualismus mehr, sondern einer der konziliaren Solidarität.80

Ivanovs Streben nach ‚sobornost‘ wurde in der Zeit der Ersten Russischen Revolution mit demokratischem Inhalt angereichert. Man erinnere sich an seine Überlegungen über die Versöhnung des Dichters und des Pöbels in einer großen, das ganze Volk vereinigenden Kunst, über die Hinwendung der modernen Kunst zur Volksseele. „Das Schicksal der Kultur“, proklamierte Ivanov, „ist das Schicksal der Freude des Volkes“.81 George hätte sich von solchen Aussagen entsetzt zurückgezogen: Die Idee einer Versöhnung zwischen Dichter und Pöbel wäre ihm blasphemisch erschienen. Bei seinem Suchen nach einer Synthese zwischen dem ‚Einzigen‘ und der ‚Menge‘ blieb er bis zum Ende ein Aristokrat. Der „Bund“, den er in seinem am Vorabend des Ersten Weltkriegs veröffentlichten Gedichtband Der Stern des Bundes82 proklamierte, stellte eine Art mystischer Gemeinschaft von „Auserwählten“ dar. George behielt bis zuletzt Eigenschaften wie Distanziertheit, Raffinesse und Selbstvertiefung bei, also genau jene Eigenschaften, die Ivanov als Hauptmerkmale des entarteten Individualismus betrachtete. So gesehen befand sich der deutsche Dichter eher mit dem älteren russischen Symbolismus in Einklang. Nicht zufällig verglichen Guenther und 79 80 81 82

Dies bezieht sich auf Baudelaires Sonett Pre-Existenz, das von Ivanov (1905) für das Buch Cor ardens (ebenda, S. 347) übersetzt wurde. Ivanov 1971, S. 838. Ivanov 1979, S. 69. Der Sammelband wurde erstmals 1913 in zehn Exemplaren veröffentlicht; 1914 wurde eine für die ‚Öffentlichkeit‘ bestimmte Auflage gedruckt.

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von Heiseler George nicht nur mit Ivanov, sondern auch mit Brjusov. Man kann sich George wegen seines Engagements für die ‚neue Kunst‘ und ‚das Prinzip des Individualismus‘ gut als Verbündeten oder sogar Mitarbeiter der Vesy vorstellen; Zeitschriften und Almanache wie Die Fackeln, Die Horen und Das Goldene Vlies wären ihm jedoch innerlich fremd. Es hat seine Logik, dass keiner der russischen Symbolisten der jüngeren Generation von George hingerissen war. Guenther eröffnete seinen Artikel Eine Bilanz der neuen deutschen Literatur mit dem bekümmerten Ausruf, dass „es in Russland fast niemanden gibt, der Stefan George zumindest einigermaßen kennt, ganz zu schweigen von den Zielen und Bemühungen seines Kreises, die in den ‚Blättern‘ dargestellt worden sind; in Russland gibt es fast niemanden, der versteht, dass mit der Person dieses Dichters der europäischen Literatur ein Talent geschenkt worden ist, das Jahrhunderten sein Siegel aufdrücken wird“.83 Und das ist verständlich. In Russland, das vom Krieg und später von den revolutionären Wirren heimgesucht wurde, wirkte dieser deutsche Dichter, der majestätischarrogante und einsame Bewohner seiner anderen unzugänglichen geistigen Zuflucht, der Herrscher einer kleinen poetischen Insel im stürmischen Ozean der Geschichte, fast anachronistisch. Um die Hermetik seines deutschen ‚Turms‘ zu überwinden, trat George in den 1910er Jahren als Herold eines neuen, durch die Bemühungen der vom ‚Willen zur Macht‘ besessenen ‚Führer‘ zu errichtenden Königreichs auf. Diese Führer, prophezeite George beispielsweise in dem Gedichtband Drei Gesänge (1921), werden in Deutschland erscheinen. In einem der Gesänge mit dem Titel Der Dichter in Zeiten der Wirren spricht er von der Mission des Dichters, die Jugend als Erbauer des zukünftigen Königreichs zu erziehen. Dieser germanische Mythos, den George schuf, unterschied sich grundlegend von dem Ideal, das Ivanov auf russischem Boden durchzusetzen versuchte. Dem individualistisch-einsamen Führer und Sieger Georges stand das Volkskollektiv gegenüber, das sich in Ivanovs dionysischem ‚Rundtanz‘ zusammenschließen soll. Kein Wunder, dass einige von Georges Schülern und Anhängern als Vorboten des deutschen Faschismus gelten (Ludwig Klages, Ernst Bertram). Der ‚Meister‘ selbst benahm sich, wie gewöhnlich, sowohl während des Ersten Weltkriegs als auch später, unabhängig und unerreichbar, ‚außerhalb der Politik‘. Der Massen- und öffentliche Charakter der Ereignisse, ihre ‚Sinnlosigkeit‘ und ‚Vulgarität‘ schreckten George ab: Manifestationen des ‚Pöbels‘ waren für ihn inakzeptabel. Der „Heilige Krieg“, über den er in einem Gedicht schrieb,84 hatte aus seiner Sicht nichts mit dem weltweiten Massaker zu tun, 83 84

Apollon. 1912. Nr. 9. S. 34 (Abschnitt „Chronik“). Aus dem Gedicht Ihr baut verbrechende an maas und grenze … (George 1914, S. 25).

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das am 1. August 1914 begann. Dieser Krieg war für George nicht Ausdruck der Größe der Nation, sondern vielmehr ihrer Ohnmacht und Schande, schließlich verband er seine Hoffnungen nicht mit dem zeitgenössischen, sondern mit einem mystisch ‚verborgenen‘ Deutschland. Ebenso wenig nahm George die Ideologie des Nationalsozialismus an und lehnte entschieden die Ehrenbezeugungen ab, mit denen ihn die zukünftigen Führer des Dritten Reiches zu überschütten versuchten. Ab 1931 zog er sich endgültig in die Schweiz (Minusio bei Locarno) zurück. Es ist bezeichnend, dass sich auch der russische Dichter, der noch 1905 die ‚konziliare‘ (d.  h. ‚kollektive‘) Seele des Volkes prophezeit hatte, kategorisch von seinem Ideal abwandte, sobald sich in Russland nach 1917 tatsächlich die ‚Volksmacht‘ durchsetzte. Der Mythos von der nationalen ‚Seele‘ brach im Lauf der Geschichte unerbittlich zusammen und der mythenschöpfende Dichter selbst, der in den Ansturm der Ereignisse hineingeraten war, bekannte eindrucksvoll den Zusammenbruch seiner Illusionen: „… Und die Menge irrt verzweifelt / In drei Dünsten: Frieden, Sättigung und Freiheit. // Und dein Idol ist entweiht, Macht des Volkes, – / […] Und die purpurroten Füße des Rächers / Treten uns und ahnden: Es gibt keinen Ausweg!“85 Nachdem Ivanov 1924 Russland verlassen hatte und 1926 zum Katholizismus konvertiert war, entfernte er sich mit den Jahren immer weiter von jenem ‚dekadenten’ Individualismus, den er mit den Namen von Baudelaire, Mallarmé, George und anderen in Verbindung gebracht hat. Im Exil verkehrte Ivanov mit so bedeutenden Vertretern der deutschen Kultur wie Ernst Curtius und Herbert Steiner (beide George-Anhänger), in der Korrespondenz mit ihnen erwähnte er Stefan George jedoch fast gar nicht; gleiches gilt für seine Briefe an Bernt von Heiseler. Doch erlosch Ivanovs Interesse an dem einst hochgeschätzten ‚Meister‘ nicht völlig. Wie aus einem Brief des Essayisten Friedrich Fuchs (1890–1948), der zu jener Zeit Redakteur der Münchner Zeitschrift Hochland (1903–1941) war, an Ivanov hervorgeht, wurde diesem der umfangreiche Artikel (der bis heute nicht an Bedeutung eingebüßt hat) George und seine Apotheose durch den Kreis86 von Karl Muth, dem Gründer von Hochland, zugesandt. Es handelte sich dabei um eine der vielen Reaktionen auf den Tod des Dichters im Dezember 1933. Ivanov war jedoch seinerseits darum bemüht, die Aufmerksamkeit der Redaktion auf ein neues italienisches Werk über George aus der

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Aus dem Sonett Die letzte Klage des siebzehnten Jahres! … (Datum des Gedichts: 31. Dezember 1917) (Ivanov 1987, S. 74). Muth 1934.

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Feder von Professor Alessandro Pellegrini87 zu lenken, dem Literaturkritiker und Germanisten, mit dem Ivanov in den 1930er Jahren gut bekannt war.88 Ivanovs wohlbegründete Auffassung, George sei ein Ästhet und Individua­ list, änderte sich auch in den 1930er Jahren nicht, ebenso wenig seine Skepsis gegenüber dem ‚Meister des Wortes‘. Vielleicht spielten konfessionelle Nuancen eine zusätzliche Rolle: Ivanov, der sich von der Religion des Dionysos abwandte, wusste, dass der Dichter George, der mit den Jahren zwar seine Leidenschaft für die Antike überwand, dennoch nicht von seinen ‚heidnischen‘ Vorlieben lassen konnte. Ivanovs kritische Bemerkung über George in dem Artikel „Symbolismus“ (1936) kann als eine Art Fazit betrachtet werden. Als er von einem „subjektivistischen Symbolismus“, der sich in Frankreich siegreich behauptet habe, sprach, nannte er mehrere Schriftsteller außerhalb Frankreichs, denen der französische Symbolismus „den spezifischen Stempel eines dekadenten Ästhetizismus“ aufgedrückt habe. Ivanov zufolge gehörten zu diesen in Deutschland Stefan George und Rilke, die „nicht von Goethe und Novalis ausgingen, sondern von Baudelaire und seiner Sekte“.89 Im Russland des 20. Jahrhunderts fand George keine Bewunderer und Anhänger. Als Sänger einer heldenhaften Persönlichkeit und Hasser der ‚Menge‘ entsprach er weder den gesellschaftlichen Bestrebungen des jungen russischen Symbolismus noch der seit 1917 triumphierenden kollektivistischen Ideologie. Auch im heutigen Russland ist George wenig bekannt. Es ist nichtsdestoweniger zu beachten, dass der einzige große russische Dichter des 20. Jahrhunderts, der unbestreitbare Ähnlichkeit mit seinem deutschen Dichterbruder aufwies, kein anderer war als Vjačeslav Ivanov. 

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Aus dem Russischen übersetzt von Aleksej Žerebin

Das Buch von Alessandro Pellegrini (1897–1985) entstand 1934 – zum ersten Jahrestag von Georges Tod. Es besteht kein Zweifel, dass Pellegrini (der Initiator des Ivanov-Heftes der Mailänder Zeitschrift ‚Il Convegno‘, die Anfang 1934 erschien) mit Ivanov einige Seiten seines Aufsatzes über George besprach. Dieses Werk wurde im Dezember 1934 als eine separate Ausgabe in Mailand veröffentlicht (Auflage von 10 Exemplaren, nicht im Verkauf). Ein Jahr später erschien Pellegrinis Buch in deutscher Übersetzung (Berlin 1935). Siehe: Wachtel 2002, S. 90 (Brief vom 19. Juli 1934). Ivanov 1974, S. 666. Dieselbe Auffassung vom Symbolismus (insbesondere von Mallarmé als Vertreter eines ‚subjektivistischen Symbolismus‘) wird Ivanov in der zweiten Hälfte der 1940er Jahre gegen den englischen Wissenschaftler Cecil Maurice Bowra (1898–1971), Autor von The Heritage of Symbolism (1943; deutsche Übersetzung 1947), der später zur Veröffentlichung von Ivanovs Gedichtband Svet večernij [Abendlicht (1962)] beitrug, verteidigen. Für  S.  M.  Bowra (der Stefan George übersetzte und über diesen schrieb) war das ästhetische Element des Symbolismus wichtig, Ivanov hob das religiöse hervor. Siehe: Davidson 2003.

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Reinhold von Walter zwischen Blok und Rilke Der Dichter und Übersetzer Reinhold (vollständiger Name: Reinhold KonradWoldemar)1 von Walter (1882–1965), Pastorensohn, gebürtiger Petersburger, der Russland 1918 verlassen musste, wurde durch seine zahlreichen Übersetzungen russischer Autoren ins Deutsche berühmt.2 Unter den glänzenden Namen des Silbernen Zeitalters war Reinhold von Walter allerdings eher eine weniger markante Figur. Sein bescheidener, aber unumstrittener Stellenwert in der Geschichte der russisch-deutschen kulturellen „Widerspiegelungen“ des 20. Jahrhunderts verblasst und verliert sich im Schatten von Johannes von Guenther (1886–1973)3, seines deutlich erfolgreicheren Zeitgenossen (anfangs Mitstreiters, später Rivalen), dem es gelang, sich in den literarischkünstlerischen Kreisen Petersburgs in der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg zu bewegen4 und darüber schillernde Erinnerungen5 zu verfassen. Die Aufmerksamkeit der Literaturhistoriker in Bezug auf die Persönlichkeit und den Nachlass von Walters wurde in den letzten Jahren dank der Beiträge * Erstverӧffentlichung in: Skreščenija sudeb. Literarische und kulturelle Beziehungen zwischen Russland und dem Westen. A Festschrift for Fedor  B.  Poljakov. Edited by Lazar Fleishman, Stefan Michael Newerkla and Michael Wachtel. Berlin, 2019. S. 117–136 (= Stanford Slavic Studies. Vol. 49). 1 In offiziellen russischen Quellen wurde Reinhold von Walter als Rejngol’d Rejngol’dovič bezeichnet, im Kreise von Bekannten und Freunden nannte man ihn Roman Romanovič. 2 Die glaubwürdigsten und vollständigsten Angaben zur Person  R.  von  Walters sind dem nachstehend genannten Artikel zu entnehmen: Sippl 1999, S.  76–79. Siehe auch: Raabe 1991; Nemcy Rossii. Ėnciklopedija. Tom  1. A–I (Moskva: Ėrn, 1999). S.  312–313 (Beitrag von A. Engel-Braunschmidt). 3 „Johannes von Guenther“: ein Künstlername, den Guenther seit 1908 führte; sein eigentlicher Name ist Hans Guenther (siehe auch die folgende Anmerkung). 4 Zeitgenossen bevorzugten indes beim Vergleich von Guenther und Walter öfter den Letzteren: „Sie dürfte womöglich die Nachricht interessieren“, schrieb z. B.  Alexander  Eliasberg an Brjusov am 2. Januar 1909 (aus München), „dass Herr Guenther München verließ, nachdem seine Beteiligung an einer Reihe anstößiger und sogar krimineller Handlungen aufgedeckt wurde […] Hinzu kam, dass er – wie sich herausgestellt hatte – kein ‚von‘ ist, und diesen Titel sich eigenmächtig verlieh. Der Buchverleger von Weber hat, selbstverständlich, sämtliche Kontakte zu ihm abgebrochen; die russischen Übersetzungen werden von nun an in diesem Verlag durch Herrn Walter gemacht, der in jeder Hinsicht das genaue Gegenteil zu Herrn Guenther darstellt: er wird – so es mir scheint – Ihren ‚Feurigen Engel‘ übersetzen; er ist ein in höchstem Maße begabter, hervorragender Übersetzer“. – Moskau, Handschriftenabteilung der Russischen Staatsbibliothek (im Folgenden: NIOR RGB). Bestand 386. Kart. 109. Nr. 41. Bl. 13–13v; erwähnt wird hier Hans von Weber (1872–1924), ein Münchner Buchverleger und Mäzen. 5 Guenther 1973.

© Brill Fink, 2022 | doi:10.30965/9783846766767_009

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und Aktivitäten von Fёdor B. Poljakov wiederbelebt, dem es unter anderem gelungen ist, wertvolle Dokumente und Unterlagen, darunter Autographe dritter Personen, welche in der Familie von Walters erhalten geblieben sind, zu entdecken und zu edieren.6 Diese verstreuten Widmungen bzw. Notizen helfen bei der Rekonstruktion des Lebenslaufes v. Walters, eines Dichters und Übersetzers, der mit vielen herausragenden Kulturakteuren sowohl in Russland, als auch in Deutschland zusammentraf. Zu den russischen Bekanntschaften v. Walters zählen u. a. Aleksandr Blok, Valerij Brjusov, Vjačeslav Ivanov, Michail Kuzmin, Fëdor Sologub, Ėllis, zu den deutschen u. a. Ernst Barlach und Rainer Maria Rilke. Mit Rilkes Schaffen machte v. Walter (damals Student an der Universität Jurjew / heute Universität Tartu, Estland) sein damaliger Freund Hans Guenther (um 1906) bekannt. „Ich las Walter Verse vor“, erinnert sich Guenther. „Am meisten begeisterte uns damals Rilkes gerade in zweiter Auflage erschienenes Buch der Bilder7, das wir bald auswendig wußten“.8 An dieser Stelle sei ergänzt, dass Guenther in seinen literarischen Vorlieben Rilke bald „verriet“; zu seinem Lieblingsdichter wurde (und verblieb es über lange Zeit hinweg) Stefan George, dessen Werk er an den Künstlerabenden im sogenannten „Turm“ Vjačeslav Ivanovs und im Kreise der Petersburger und Moskauer Modernisten propagiert hat.9 Walter hingegen, der keinerlei Interesse an dem „Ästheten“ George10 hatte, bevorzugte vielmehr den Verfasser des „Stundenbuches“. Davon zeugt auch der nachstehend veröffentlichte Brief. Eine weitere literarische Leitfigur stellte für v. Walter Aleksandr Blok dar; ihre persönliche Bekanntschaft fand Ende 1906 statt, auch dank und über Guenther.11 Beide begeisterten sich damals für die Verse von der schönen Dame und waren bereit, dieses Buch komplett zu übersetzen.12 „Wir beide mit Walter hegen solche Pläne in Bezug auf Sie“, teilte Guenther Blok am 3. Februar 1907 aus Mitau mit, „Die Verse von der schönen Dame werden alle komplett übersetzt und separat veröffentlicht. Ein Buchverleger hat sich auch 6 7 8 9 10 11 12

Poljakov 2009; Poljakov 2010; Poljakov 2011. Gemeint ist: Rilke 1906. Der Band ist im Dezember 1906 erschienen (Erstausgabe: 1902). Guenther 1973, S. 159. 1910 veröffentlichte Guenther in der Petersburger Zeitschrift „Apollon“ einen Essay über Stefan George, den er in der Folge als separate Ausgabe drucken wollte, doch gelang es ihm nicht, dieses Vorhaben umzusetzen. Vgl. oben, S. 199–200. Am  20.04.1913 hielt von Walter einen Vortrag mit dem Titel Über Stefan George in der Petersburger Dichter-Gesellschaft, vgl. Pjast 1997, S. 346. Vgl. Guenther 1973, S. 159. In seinem Brief an Blok vom 19. Januar 1910 erinnert sich von Walter, dass er bei Blok „zwei-drei Tage“ verbrachte. Vgl. Dudkin 1993, S. 306. Ebd. S. 300.

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finden lassen“.13 Die sich in dieser Zeitspanne (Ende 1906 bis Anfang 1907) abzeichnende Kooperation der beiden jungen deutschen Dichter mit Blok schien äußerst fruchtbar werden zu können. Man vereinbarte sogar, dass Blok das von Guenther und von Walter gemeinsam verfasste Theaterstück Der Adler aus dem Deutschen übersetzen sollte.14 Doch keiner dieser Pläne wurde umgesetzt – offensichtlich infolge des in München entbrannten Streites zwischen von Walter und Guenther, der die beide jungen Männer für immer auseinanderführte.15 (Im Weiteren kommunizierten beide unabhängig voneinander mit Blok.) Die „liebevolle“ Einstellung zu Blok, die von Walter über viele Jahre hinweg gehegt hat, wird durch folgende Worte aus seinem Brief vom 19. Januar 1910 ausdrucksvoll bekräftigt: Ihre Gedichte haben mich immer und überall begleitet: ich liebe sie so sehr, dass es äußerst ungeschickt ausfallen würde, falls ich versucht hätte, in russischen Worten diese Liebe zu erklären: und mehr – es scheint, die Liebe ist an sich als eine seelische Kraft und als Verlangen oberhalb jeglicher Verlangen überhaupt unerklärbar.

Weiter im selben Brief bekennt von Walter „die Freude“, welche Bloks Verse „immer wieder seinem Herzen geben“.16 Von 1907 bis 1909 lebte von Walter in München, studierte Kunstgeschichte und Germanistik an der Ludwig-Maximilians-Universität17 und versuchte sich in der literarischen Welt Deutschlands zu behaupten. Er schrieb Gedichte und Prosa, übersetzte Gedichte von Blok; einige davon wurden in renommierten

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Ebd. Die Übersetzung dieses Theaterstückes vertraute Blok V. P. Verigina an; siehe ihre Briefe an Blok vom 9. März und 4. Mai 1907: Moskau, Staatliches Literatur- und Kunstarchiv Russlands (RGALI). Bestand 55. Op. 1. Nr. 190. Bl. 5–6 und 9–10. Will man Guenther Glauben schenken, so bestand einer der Gründe dieses Streites in der Frage nach dem Übersetzungsrecht für die Märchen von Sologub – siehe: Guenther 1973, S.  186–187. Genau dieselben Streitigkeiten entstanden damals zwischen Guenther und Alexander Eliasberg (Aleksandr Ėliasberg) (in Bezug auf die Übersetzungen der Werke von Brjusov (ebenda, S. 187–188). Vgl. Anm. 4. Zit. nach: Dudkin 1993, S.  307. Der Brief ist auf Russisch geschrieben worden, einer Sprache, die von Walter – laut eigenem Bekunden – bei Weitem nicht perfekt beherrschte. Immatrikuliert am 18. April  1907; exmatrikuliert im Januar-Februar 1909: Das Zentrale Historische Staatsarchiv St. Petersburg (nachstehend – CGIA SPb). Bestand 306. Op. 2, Nr. 14. Bl. 9–10.

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deutschen Zeitschriften wie Hyperion (München)18 und Morgen (Berlin)19, in denen neben anderen anerkannten Autoren in diesen Jahren (1907–1909) auch Rilkes Gedichte erschienen, veröffentlicht. Diese Publikationen von Walters machten, neben den etwas früher erschienenen Übersetzungen von Guenther, Bloks Gedichte in Deutschland bekannt. Im Januar 1910 schickte von Walter, bereits aus Tomsk, seine Übersetzungen an Blok, die den Dichter jedoch offensichtlich enttäuschten, wovon er seinen Übersetzer in einem nicht erhaltenen Brief vom 19. Februar 1911 in Kenntnis setzte.20 „Vergessen Sie bitte, dass meine Übersetzungen Ihrer Gedichte nichts taugen …“, antwortete darauf von Walter am 22. Oktober 1911.21 Als er in München lebte, konnte von Walter Rilke, der sich in der bayerischen Landeshauptstadt lediglich auf der Durchreise aufhielt, schwerlich begegnen. Ungeachtet dessen wandte sich v. Walter, geleitet von seinem Wunsch, direkten Kontakt mit Rilke aufzunehmen, im Herbst 1907 schriftlich an ihn: Er erzählte über sich, schickte seine Gedichte zum Gutachten und teilte offensichtlich die Zweifel an seiner eigenen dichterischen Berufung mit. Der Text dieses ersten Briefes von Walters an Rilke ist unbekannt, doch das Antwortschreiben des deutschen Dichters vom 21. Oktober 1907 (aus Paris) sowie der nachstehend veröffentlichte Brief von Walters vom 13. April  1913 verdeutlichen dessen Hauptinhalt. Indem Rilke hervorhebt, dass aus den Arbeiten der frühen Jahre „nichts zu erfahren und zu deuten“ sei22, geht er in seinem Brief auf einzelne, für ihn bedeutsame Momente, die Kunst und das Wesen der Schaffenskraft betreffen (z. B. das Thema der Einsamkeit), ein.23 Derartige „Belehrungen“ an junge Dichter waren für Rilke kennzeichnend: Er benutzte gerne fremde, an ihn gesandte Briefe, um im Antwortschreiben seine intimen Überlegungen darüber, was ihn selbst zutiefst bewegte, zum Ausdruck zu bringen. Ein bekanntes Beispiel dafür sind Rilkes Briefe an einen jungen Dichter (Franz Xavier Kappus), verfasst in den Jahren 1903–1904; an bestimmten Stellen sind Parallelen zu dem Brief an von Walter erkennbar: „Was not tut, ist doch nur dieses: Einsamkeit, große innere Einsamkeit“, 18 19 20 21 22 23

Hyperion. Eine Zweimonatsschrift, 1908, H. 6, S. 143–144 (die Gedichte „Der Spuck“ und „Ich erwache – und Nebel liegt auf dem Feld …“). Morgen. Wochenschrift für deutsche Kultur, 1908, Nr. 47, 20. November, S. 1559–1960 (die Gedichte „Am Ufer – an dem blühenden – sangen die Gesänge  …“ und „Verödet und stumm sind die Hallen …“). Auf der ersten Seite des Briefes v. Walters vom 19. Januar 1910 steht ein mit Rotstift gemachter Vermerk von Blok: „Antwort am 19. II. entsandt“; vgl. Blok 1979, S. 146. Zit. nach: Dudkin 1993, S. 308. Erstmals erschienen in: Der Gral. Monatsschrift für Dichtung und Leben, 1929, H.  5 (Februar), S. 398–399. Siehe Anm. 26 und 27.

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schreibt Rilke an Kappus am 23. Dezember 1903. „In-sich-Gehen und stundenlang niemandem begegnen, – das muß man erreichen können“.24 Auf den Brief Rilkes vom 21. Oktober 1907 antwortete v. Walter nicht; genauer gesagt, beantwortete er ihn erst fünfundeinhalb Jahre später. In seinem Brief vom 11. April  1913 (aus St. Petersburg) erklärte v. Walter die Gründe seines langen Schweigens und berichtete außerdem über die Ereignisse seines Lebens in den vergangenen Jahren. Als wertvolle biographische Quelle veröffentlichen wir diesen Brief v. Walters nachstehend vollständig: St. Petersburg, 11. April 1913 Grodnenskij per № 16. – 3 Mag es Ihnen sonderbar erscheinen, verehrter Herr Rilke, dass man Ihnen nach 6 Jahren auf einen Brief antwortet, den Sie wohl längst vergessen haben werden, – wie mich, den Briefschreiber, – der Sie damals dazu bewog, ihm am 21. Oktober 1907 eine ausführlichere Beantwortung zu schicken! Es ist so, dass mich Ihr Brief durch ein fast abenteuerliches, entzücktes und unglückliches (darum fast glückliches) Leben – wie ein guter Freund begleitet hat, ein Brief, den ich nicht begriff, als ich ihn erhielt, ein Brief, den ich jetzt zu begreifen beginne. Ein sonderbarer Instinkt sagt es mir, dass ich an einem Wendepunkt in meinem Leben stehe, – bin jetzt 30 Jahre alt, – und da ich kaum einen Tag zu nennen weiss, an dem mir Ihre Gedichte nicht lieb und bedeutsam in mein Erleben greifend erschienen wären, so darf ich hoffen, dass es willkommen sein wird, wenn ich Ihre Zeit für Augenblicke in Anspruch nehme. Was könnte ich Ihnen sagen? Nichts – was Sie nicht längst wüssten, weil Sie alles wissen in dem EINEN: der uralte Turm25 … Ich will dort anknüpfen, wo ich vor 6 Jahren aufhörte. Damals kam ich voll törichter Wünsche, voll verwegener Hoffnungen nach München, bildete mir ein – ich hätte das Zeug zum grossen Dichter, hoch über der Welt, und ich schrieb Ihnen, um Sie von meinen Qualitäten zu überzeugen, schrieb, dass ich Dichter sein wolle, und was Sie davon hielten; schickte Ihnen auch etliche Gedichte, die wohl unqualificierbar waren, denn heute erscheinen sie mir so, obwohl ich nicht mal genau weiss, was ich Ihnen damals zur Begutachtung sandte. Sie antworteten mir in feiner Weise, es wäre gleichgültig, was man als sehr junger Mensch schriebe, ebenso wie es fast gleichgültig wäre, was man sonst unternähme. Man dürfe alles tun, wenn man es im Bewusstsein fest habe, dass man so handeln müsse. Und dann: die Kunst wäre eine Sache des Gewissens, dies – der einzige Maßstab, eine feine Wage, deren äusserste Beweglichkeit alles entschiede.26 Mehr wollten Sie damals nicht sagen, 24 25

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Zitiert nach der Ausgabe: Rilke 1929. S. 32. Ein Motiv, das auf Rilkes Gedicht Ich lebe mein Leben in wachsenden Ringen verweist. (1899, das zweite Gedicht aus dem Buch vom mönchischen Leben): Ich kreise um Gott, um den uralten Turm, / und ich kreise jahrtausendelang; / und ich weiß noch nicht: bin ich Falke, ein Sturm / oder ein großer Gesang. „Es ist gleichgültig“, schrieb Rilke an v. Walter am 21. Oktober 1907, „was man als sehr junger Mensch schreibt, ebenso wie es fast gleichgültig ist, was man sonst unternimmt. […] Man darf alles tun; dies allein entspricht der ganzen Breite, die das Leben hat. […] Es ist mir

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Reinhold von Walter zwischen Blok und Rilke nur das noch: ich möge die Einsamkeit ernst nehmen, denn wir wären alle wirklich unendlich allein, jeder, und unerreichbar bis auf sehr seltene Ausnahmen.27 – Sehen Sie, das begriff ich damals nicht; ich war ein wenig verstimmt, dass Sie meine Verse en bagatelle28 genommen hatten, und dachte, Sie redeten mit mir, wie man mit einem grossen Jungen redet. Das war nun recht kindisch – halten Sie es mir zu gut: es sind 6 Jahre darüber hingegangen, – und ich wusste nicht, wohin mich das Leben werfen würde. Nun kam eine Geschichte, die sich immer wiederholt und die man liebt, weil sie aus dem Himmel kommt: die Geschichte mit der Höchstgeliebten. Die lebte nun in Sibirien, in Tomsk, und obgleich ich verheiratet war29, zögerte ich nicht, meinen kleinen Hausstand von München ans andre Ende der Welt zu verlegen, nach Tomsk.30 Dort war ich zwei Jahre, der

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später oft eingefallen, wie sehr die Kunst eine Sache des Gewissens ist. Nichts braucht man so sehr in künstlerischer Arbeit wie das Gewissen: es ist der einzige Maßstab. […] Darum ist es sehr wichtig, in jenen frühen Jahren das Gewissen nicht zu mißbrauchen, nicht hart zu werden an der Stelle, auf der es liegt. Es muß leicht bleiben bei allem; man darf es ebensowenig fühlen wie irgend ein inneres, unserem Willen entzogenes Organ. Den leisesten Druck aber, der von ihm ausgeht, muß man beachten, sonst verliert die Waage, auf die man später jedes zu schreibende Vers-Wort wird prüfen müssen, ihre äußerste Beweglichkeit“. In: Der Gral. Monatsschrift für Dichtung und Leben, 1929, H. 5 (Februar), S. 399. „Ich weiß kaum mehr zu sagen“, schrieb Rilke am Ende seines Briefes, „als dies in jedem Fall Gültige. Vielleicht noch den Rat, die Einsamkeit ernst zu nehmen, und wenn immer sie kommt, als Gutes zu empfinden. Daß andere sie nicht erleichtern, liegt weniger an ihrer Teilnahmlosigkeit und Verschlossenheit, als vielmehr daran: daß wir wirklich unendlich allein sind, jeder, und unerreichbar bis auf sehr seltene Ausnahmen“. (Ebd.) Wie eine Kleinigkeit, nicht ernst (franz.). Am 30. November 1906 heiratete Reinhold von Walter Elsbeth (Elizaveta) Konstantinovna Bauman (1884–1933); aus dieser Ehe entsprangen zwei Kinder: Sohn Ulrich (1908–1932) und Tochter Klara (1909–1940er Jahre). Diese Ehe wurde amtlich am 21. Mai 1914 per Beschluss des St. Petersburger Evangelisch-Lutherischen Konsistoriums aufgelöst – „mit dem Verbot für ihn, Herrn von Walter, in einen neuen Ehestand zu treten“ (CGIA SPb. Fonds 176. Op. 2. Nr. 116. Bl. 4). Trotzdem heiratete v. Walter später (in Deutschland) zum zweiten Mal (Edith von Walter; 1899–1944); Sohn Christoph, geb. 1923, ist laut Bericht von С. Sippl (op. cit, S. 79) in der sowjetischen Kriegsgefangenschaft gestorben. Die erste Ehe löste sich, unter anderem, auch deswegen auf, weil die Ehegattin v. Walters eine Beziehung mit dessen Freund A. D. Skaldin einging, der dann zu ihrem zweiten Mann wurde. Vgl. Car’kova 2004, S. 12. In seinem Brief an Blok vom 19. Januar 1910 erklärt v. Walter seinen Umzug von München nach Tomsk viel prosaischer: „In München begann sich alles zum Besseren zu wenden“, schrieb Walter, „und dann passierte das, was ich schon immer befürchtete – die Wehrpflicht rannte auf mich zu. Mir blieben nur zwei Möglichkeiten: entweder für zwei Jahre als Soldat in den Militärdienst einzutreten oder fünf Jahre lang als Deutschlehrer zu arbeiten. Ich konnte nur das Zweite wählen, weil bei uns Kinder geboren waren: ein Knabe und dann ein Mädchen, wo sollte ich hin mit ihnen? – Ich suchte nach einer geeigneten Stelle, man hat mir dann diese Stelle in Tomsk angeboten“ – Zit. nach: Dudkin 1993, S. 307.

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Beschäftigung nach Lehrer für Deutsch an einer Kommerzschule31, dem Herzen nach ein Tor in der Liebe. Bis sie starb. Ich habe sie nie genommen. Sie bedeutete mir eine eigentümliche reizende Welt, in der ich gelebt habe, ich kann es nicht sagen seit wann. Sie war meine grosse Erfindung. Ich habe sie irgendwo in den Wolken gesehn – vielleicht. Meine Frau nannte sie die Wolkendame. Das ist schon so. Ich habe sie in den Wolken gedacht, ich habe sie geformt, ich habe sie erlebt. Da stand sie nun vor mir: ein ungewöhnliches Gleichnis. Es erschütterte mich. Ich fühle wohl, dass es keine Worte dafür gibt. Ich habe meine „Idee“ in ihr verborgen. So tief ich konnte. Der Sinn meines Lebens lag in ihr. Vielleicht ist es ganz sinnlos. War fromm vor ihr wie ein Knabe. Sie hat mir das Rätsel der Frömmigkeit gelöst. Und dann war sie tot. Einige Katastrophen, die in mein häusliches Leben griffen und daran rüttelten, brachten mich auf den Gedanken, dass das gewaltige Drängen nach dem Unendlichen den Menschen weit über das Niveau des Durchschnittlichen erhebt und dass wir das Unwahrscheinliche brauchen, um daran glauben zu können. Und mir schien, scheint es auch heute noch, dass die Begierde, sich reflektiert, sich gespiegelt und reflektiert zu sehn, wie eine schwere Vorstellung über unserer unmönchlichen Einsamkeit liegt.32 Wo gäbe es objective Werte! Man hat sie nur in dem Glauben der andern an sich, am edelsten doch in der Kunst. Wir, nur wir sind uns selber Problem! In weiten Linien, in trüben Verirrungen vielleicht, kreist ein jeder um seine Geheimnisse. Sie liegen wie von Mauern umschlossen. Und da ist der Übergang zu dem Glauben nicht fern, dass es das schwerste Schicksal wäre, das ein Mensch haben kann (wenn es im Grossen kommt): nach etwas ewig suchen zu müssen, was man doch besitzt, für dessen Besitz man aber nicht das Auge hat, weil es ein andres Antlitz zeigt, wenn es erreicht ist, als wenn es vor uns schwebt – fern, phantastisch. Selbst Parzival ahnt es sein Leben lang nicht und kommt auch zum Schluss nicht zu der Erkenntnis, dass der heilige Graal eben das „äusserlich“ ist, was er selbst von Anbeginn „innerlich“ in sich trägt.33 – (So schrieb mir kürzlich ein guter Freund34, und ich darf es ohne Kühnheit wagen, mir seine Worte anzueignen.) – Dann kam ich nach Petersburg, bin auch hier Gymnasiallehrer für Deutsch an einer deutschen Schule35, muss es aus etlichen Gründen äusserer Natur noch 31

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Im Sommer 1909 bekam von Walter die Stelle eines Vollzeitdozenten für Deutsch und deutsche Handelskorrespondenz an der Ersten Sibirischen Thronfolger-AleksejHandelsschule in Tomsk (Pervoe Sibirskoe kommerčeskoe učilišče imeni cesareviča Alekseja). Kommerzschulen lagen im Zuständigkeitsbereich des Handels- und Industrieministeriums). Eine Anspielung auf den 1. Teil von Rilkes Stundenbuch (s. Anmerkung 40). Parzival: Held des westeuropäischen Ritterromans in Gedichtform aus dem 12.–13. Jh., der nach dem heiligen Gral sucht (Chrétien de Troyes, Wolfram von Eschenbach u. a.). Die Gestalt des „suchenden“ Parzival wurde in der Epoche des Symbolismus berühmt dank Richard Wagners Theatermysterium (1882). Wahrscheinlich A. D. Skaldin. 1911 wurde von Walter nach Petersburg versetzt, wo er als Deutschlehrer an diversen Bildungseinrichtungen tätig war (1911–1913 in der Schule bei der Ev.-luth. St. Anna-Kirche; ab 1914 an der privaten Handelsschule für Männer des Pastors I. A. Masing, 1916–1917 an der Tenišev-Lehranstalt).

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Reinhold von Walter zwischen Blok und Rilke ein Jahr lang sein und werde dann nach Paris, Wien oder München gehn.36 Das noch alles im Unbestimmten. Ich schicke Ihnen ein Heft Sonette, die wohl an jene sibirische Frau gerichtet sind, diesmal nicht zur Begutachtung, – denn sie sind jeder Kritik fern, vielleicht auch unter aller Kritik, – schicke sie Ihnen als Commata oder Verhüllung zu jenen Ausführungen meines Briefes, die auf diese Frau Bezug nehmen. Schicke Sie Ihnen nicht zu mindest in herzlicher, warmer Verehrung und als schwachen Dank für das Viele, was Sie – ohne es zu wissen – mir gegeben haben. – Ich möchte diesen Brief mit einem Sonett schliessen, das kürzlich gedichtet wurde, und ich möchte bitten, mir zu erlauben, es Ihnen zu widmen: Die kleine bäuerliche Öl-Ikone – Ich kaufte sie in einem Lumpenladen. „Gebt her“. – „Für dreissig Groschen, Euer Gnaden“ … Für dreissig Groschen bet’ ich nun zum Sohne. Der sitzt – ein steifes Kindlein – wie zum Hohne, So hässlich und so rund in den geraden Und dürren Armen der Marie; die laden Dort einen Knieenden zum Gnadenthrone. Der ruft in Seelenangst: „Wer schlug die Wunden?“ „Sein Kreuzestod war Deiner Sünden Sold!“ Das hat er Freude unversehns empfunden Ganz überstrahlt von diesem Gnadengold. Ich wollt’ mein ganzes Leben hinvergeuden – Dem frommen Glanz so unversehner Freuden … 

(vom 14. Dezember 1912)37

Damit wäre ich mit meiner Epistel am Ende. Braucht es der Versicherung, dass mir ein jedes Wort von Ihnen von lieber, werter Bedeutung sein wird? Ich bin der Ihre in ganz aufrichtiger Ergebenheit  Reinhold von Walter. NB. Da ich gelegentlich die Bücherbesprechungen in der St. Petersburger Zeitung führe, ist die Frage wohl am Platz, ob es Ihnen erwünscht käme, wenn 36

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Diese Pläne von Walters konnten nicht in vollem Umfang umgesetzt werden; 1913 aber gelang es ihm offensichtlich Deutschland zu besuchen. Während dieser Reise soll auch die „Leipziger Begegnung“ mit Rilke stattgefunden haben, die dieser in seinem Brief an von Walter vom 4. Juni 1921 erwähnt, vgl. Der Gral. Monatsschrift für Dichtung und Leben, 1929, H. 5 (Februar) S. 399–400. Es ist anzunehmen, dass diese Begegnung zwischen dem 21. und 26. Juli 1913 stattgefunden hat (Rilke hielt sich in diesen Tagen in Leipzig auf) und dass auch E. K. Walter in dieser Zeit Rilke kennenlernte, die, wie ihr ehemaliger Mann während des Verhörs am 6. Februar 1933 anzeigte, Stefan George und Rilke „persönlich kannte“, vgl. Skaldin 2004, S. 432. Veröffentlicht unter dem Titel Freude in: Walter 1922, S.  11. Eine Widmung an Rilke ist nicht vorhanden.

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ich ein Essay über Ihre Werke in diesem Blatt drucken liesse?38 Sollte Ihnen das wünschenswert scheinen, müsste ich allerdings um die Zusendung Ihrer Werke bitten, denn leider war ich nicht in der Lage, mir alles anschaffen zu können. Ich besitze in meiner Bibliothek: 1) Das Buch der Bilder – zweite Ausgabe39 2) Das Stunden-Buch (1905)40 3) Die Weise von Liebe und Tod … (Insel-Bücherei №1)41  D O42

Dieses im Ton einer Beichte verfasste Schreiben v. Walters erinnert an seinen langen und genauso „persönlichen“ Brief an Blok vom 19. Januar 1910 (aus Tomsk). Beide Briefe stellen den Versuch dar, die Beziehung nach einer langen Pause wiederherzustellen und gleichen einander in mancherlei Hinsicht (inhaltlich wie auch strukturell): Jeder Brief beinhaltet eine Liebeserklärung an die Dichtung des Empfängers; in jedem Brief wird über das Leben v. Walters in Tomsk und seine Familienumstände usw. berichtet. Im Brief v. Walters an Blok fehlt allerdings das ihm gewidmete Gedicht, aber dieser „Mangel“ wird knapp drei Jahre später wiedergutgemacht: bei der Übersendung seiner in Leipzig gedruckten Sammlung von Sonetten mit dem etwas verschnörkelten Titel Neun Sonette und ein Epilog im Sapphischen geschrieben: 1909–191243 schrieb v. Walter eine Widmung an Blok in Form eines Sonettes,44 das mit dem 22. Dezember 1912 datiert ist; dreiundeinhalb Monate später folgt der Brief (mit dem darin enthaltenem Sonett) an Rilke.

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Es gibt keine Hinweise über eine Zusammenarbeit v. Walters mit der St. Petersburger Zeitung. Diese Zeitung veröffentlichte in der Tat Rezensionen (mindestens einmal pro Woche) auf Bücher russischer und deutscher Autoren, der Name Reinhold von Walter ist unter den Rezensenten in der Zeit 1913–1914 nicht zu finden (am häufigsten taucht auf den Seiten dieser Zeitung der Name eines anderen „Russendeutschen“ – Arthur Luther – auf). Ein Teil der Rezensionen allerdings wurde anonym oder unter Pseudonymen gedruckt. Siehe Anmerkung 7. Damit ist die erste Ausgabe gemeint: Rilke 1905. Gemeint ist folgende Ausgabe: Rilke 1912. Herausgegeben als erste Nummer in der InselBücherei. Die erste Ausgabe der Weise von Liebe und Tod erfolgte 1906 im Axel Juncker Verlag. Handschriftenabteilung des Schweizerischen Literaturarchivs (Bern). Rilke MS A 340. Im Epilog steht ein Gedicht mit dem Titel „An Helikonide“. Womöglich verschlüsselte v. Walter im Namen einer der Musen, die laut dem Mythos auf dem Berg Helikon verweilten, seine Geliebte aus Tomsk. Im Brief an V. I. Ivanov vom 4. Dezember 1913 erwähnt Skaldin die Helikonide, die Walter angeblich „zurückwies“. NIOR RGB. Bestand  109. Kart. 34. Nr. 37. Bl. 11. Der deutsche Text wurde (fehlerhaft) veröffentlicht in: Biblioteka A. A. Bloka. Opisanie. Kn. 3.[Bibliothek von Alexander Blok. Beschreibung. Band 3] (Leningrad, 1986), S. 159.

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Viel wichtiger aber ist ein anderer Unterschied. Im Brief v. Walters an Blok fehlt gänzlich jenes Motiv, dass die Tonart und Stimmung seines Schreibens an Rilke bestimmt: die Erzählung über die „Allerhöchste Geliebte“, die ihn angeblich zum Umzug von München nach Sibirien bewog. Diese Schilderung stellt den inhaltlichen Kern des Briefes dar. Die Gestalt der Wolkendame – in der Art, wie sie bei Walter beschrieben wird – entspricht durchaus dem Geist der romantischen Tradition, die in den Anfang des 19. Jahrhunderts (Novalis) zurückreicht und natürlich an die Ritterromane des Mittelalters anknüpft. Das Verweilen der Geliebten „in einem anderen Ende der Welt“, ihre Unschuld und Unversehrtheit (die sogen. „weiße Ehe“), der frühe Tod, selbstloser Dienst an ihrer Gestalt und ihrem Andenken („das Gebot des Dienstes an der Unbegreiflichen“45) – all das sind Charakterzüge der „höfischen“ Dichtung mit ihrem Kult der „Herzensdame“, die in der früheren Lyrik Bloks (durch das Prisma der Philosophie Vladimir Solov’ëvs) ihren Ausdruck fand. Da uns die Texte sämtlicher Originalwerke von Walters aus dieser Zeit nicht vorliegen, fällt es schwer zu beurteilen, in welchem Maße darin die religiöse Erotik der Verse von der Schönen Dame ihren Widerhall fand. Doch die begeisterte Einschätzung von Vjačeslav Ivanov, der mit der Poesie v. Walters der 1910er Jahre vertraut war, lässt darauf schließen, dass der deutsche Dichter und Übersetzer damals innerlich zu den „Adepten“ und „Dienern“ des Eros (in einer religiös-mystischen und gehobenen romantischen Deutung) neigte. Ivanov, der über v. Walter durch ausführliche Schilderungen seines damaligen Vertrauten A. D. Skaldin wusste, äußerte während seines Aufenthaltes im Ausland (ab Juni 1912) ein gewisses Interesse an der Person des deutschen Dichters und den Einzelheiten seines Familiendramas (umso mehr, weil Skaldin als dritter Beteiligter in dieses Drama involviert war). Der Briefwechsel Ivanovs mit Skaldin enthält mehrere Verweise und Erwähnungen betreffs v. Walter: „Walter betrübt mich …“, teilt Skaldin z. B. am 6./19.Oktober 1912 Ivanov mit. „Er ist ein extremer Neurastheniker und ich hingegen ein offensichtlich unzureichend erfahrener Arzt“.46 – „Ich denke oft an Walter“, erwidert Ivanov in seinem Brief an Skaldin am 10/23. Oktober 1912. „Ich weiß aber von nichts. Ich möchte Kontakte zu ihm knüpfen. Falls Sie meine Meinung wissen möchten, berichten Sie mir ausführlich über alles“.47 Wie „ausführlich“ Skaldin über seinen Freund und Rivalen Ende 1912 berichtete, bleibt ungewiss, aber wahrscheinlich schickte er genau um diese Zeit v. Walters deutsche Gedichte 45 46 47

Aus dem Gedicht von Blok Bezmolvnyj prizrak v teremu … (1902; Zyklus Religio). NIOR RGB. Bestand 109. Kart. 34. Nr. 38. Bl. 58. Iz perepiski V. I. Ivanova s A. D. Skaldinym. Hg. von M. Wachtel. In: Minuvšee. Istoričeskij al’manach. 10 (Paris, 1990), S. 132–133.

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(bzw. empfahl er v. Walter diese zu verschicken) an Ivanov, die bei dem „großen Meister“ eine aufrichtige Begeisterung auslösten. „Mit gänzlicher Teilnahme“, antwortete Ivanov v. Walter (Brief aus Rom vom 10./23.Januar 1913), lese ich nach und nach diese gewichtvollen Zeilen, quälend reich an darin eingeschlossener Erfahrung – einer komplizierten Erfahrung, die überfeinert bis zum Leiden und glückselig ausgelitten ist. Ich lese diese Zeilen mit einem Gefühl der bitteren Bewunderung gegenüber dieser umherirrenden und besessenen Seele […]. Dunkel sind sie, diese Zeilen, wie die Granatäpfel dunkel sind; genauso dunkel wie der schwarze, unvermengte Wein der traurigen, die Seele beglückenden und gefährlichen Mysterien. Ich liebe ihre verbale Glut, deren plötzliche Kälte und verlorenen Blick, deren πάϑος48. Sie sollen unbedingt nach Klarheit und subordinierenden Formen gieren. Sie finden diese in der Kunst (in der Erotik der Form!) und natürlich appellieren diese aus dem Leben heraus (hüten Sie sich vor der Versuchung der Rache!) … Ich möchte ein Gespräch mit Ihnen führen, ein geheimes und mitternächtliches – über Sie und über den Eros –, ein Gespräch, an das sich die Gesprächspartner danach nicht mehr erinnern. Wir sind aber getrennt. Glauben Sie, mit meiner Seele bin ich bei Ihnen.49

Ivanov nahm jene verborgen-intimen und schmerzhaften Momente, die v. Walter bald in seinem Brief an Rilke ansprechen sollte, sehr fein wahr: das Erlebnis des „Weiblichen“ als des Göttlichen („über Siе und über den Eros“), geistiges Leiden, verursacht durch die Unmöglichkeit, das „Äußere“ und das „Innere“ auszusöhnen, die angestrengte Suche nach dem Ideal (dem Gral) usw. Von diesem Standpunkt aus sollte man auch das bewerten, was v. Walter Rilke über seine geheimnisvolle Geliebte aus Tomsk berichtete. Ob sich hinter dieser „Offenbarung“ v. Walters eine reale Frauengestalt verbarg oder diese als Frucht der poetischen Inspiration entstanden ist (wobei zu beachten ist, dass ein Vorbild für die Wolkendame durchaus möglich war), steht nicht fest. Diese „Beichte“ v. Walters ist jedoch symptomatisch; darin lassen sich vor allem die für die Epoche des Symbolismus spezifischen Bestrebungen des „Žiznetvorčestvo“ erkennen: der Versuch, die persönliche poetische Erfahrung in Daseinsformen bzw. Daseinsmodelle zu transformieren. Eine derartige Wahrnehmung der Welt ist stets durch einen tragischen Dualismus gekennzeichnet: Die künstlerische Kreativität und der Alltag, die Kunst und das Leben streben nach einer 48 49

Pathos (griech.) NIOR RGB. Bestand 109. Kart. 10. Nr. 28, Bl. 3–4 (Entwurf des Briefes, in zwei Varianten erhalten geblieben). Im Archiv von Vjačeslav Ivanov gibt es auch ein Korrekturexemplar der Broschüre von Walters „Glossen zum Zweiten Faust“, veröffentlicht in St. Petersburg im Herbst 1913. – NIOR RGB. Bestand 109. Kart. 42. Nr. 22.

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harmonischen Einheit, geraten aber – da sie von vornherein entgegengesetzt sind – miteinander in einen scharfen Konflikt, der sich besonders schmerzhaft auf dem Gebiet der religiös-erotischen Erlebnisse manifestiert. Mit diesem spirituellen Zustand, der eine klassische Verkörperung in der Dichtung Bloks erlebte, waren sowohl Vjačeslav Ivanov als auch – in gewissem Maße – Rilke vertraut. Es ist kein Zufall, dass diese drei Dichter, die in ihrem romantischen Ursprung so nahe beieinander standen, sich empathisch gegenüber v. Walter und dessen Dichtung verhielten; sie sahen (oder fühlten) in ihm eine „verwandte Seele“. Ende 1913, als die Beziehungen zwischen v. Walter und seiner Frau extrem angespannt waren, schickte Skaldin einige Dokumente an Ivanov, welche die Verschärfung der Situation schildern sollten: den in der Nacht vom 21. zum 22. November 1913 an ihn (Skaldin) geschriebenen Zettel v. Walters; zwei Briefe an E.  K. v.  Walter und L.  A. Nedobrovo (Gattin von N.  V.  Nedobrovo); das eigene vertraulich-intime Schreiben vom 4. Dezember 191350. Es ist offensichtlich, dass mit dem Wirrwarr dieser Liebesgeschichte neben Ivanov und Skaldin auch weitere Personen (N. V. Nedobrovo, L. A. Nedobrovo, Ju.N. Verchovskij, M.  A.  Kuzmin, der v. Walter in April  1913 kennenlernte51) vertraut gemacht wurden und dass sämtliche Umstände und Schattierungen dieses „Liebesdreiecks“ in den literarischen Kreisen St. Petersburgs lebhaft diskutiert und miterlebt wurden (und natürlich auch Blok bekannt waren). In dem Brief an Rilke, der vor dem Hintergrund der verblassenden „irdischen“ (und der nicht gelungenen „himmlischen“) Ehe v. Walters entstanden ist, lassen sich vage Spuren und Echos dieser Ereignisse erkennen (z. B. Verweise auf die „Katastrophen“, die das „Familienleben“ v. Walters heimgesucht und es „erschüttert“ haben52, und auf einige „innere Gründe“, infolge derer er „im Laufe des Jahres“ seine Tätigkeit als Lehrer fortsetzen musste). Der verwirrte und nervöse Brief von Walters ist durch Inkonhärenz und sogar – an manchen Stellen – durch inhaltliche Unklarheit gekennzeichnet, was offensichtlich die Mentalität des Autors (eines „Neurasthenikers“, so Skaldins Definition) widerspiegelt. Walter zeichnete sich in diesen Jahren zweifelsohne durch psychische Labilität und mannigfaltige „Nervenzusammenbrüche“ aus. Es ist kein Zufall, dass Vjačeslav Ivanov in Walters Gedichten „die Dunkelheit“ und eine „Gier nach Klarheit“ und an ihm selber eine „umherirrende“ und „besessene“ Seele 50 51 52

Ebd. Bestand 109. Kart. 34. Nr. 37. Bl. 9–17. Siehe den Tagebucheintrag vom 6. April  1913. – Kuzmin 2005, S.  402 (das Treffen von Kuzmin und von Walter fand offensichtlich im Café Brodjačaja sobaka [Streuender Hund] statt). Es ist wahrscheinlich, dass von Walter damit auch den Tod seines Vaters meinte (1909).

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feststellte. „Man kann ihn nie ganz entschlüsseln“, schrieb Skaldin über v. Walter. „Es scheint, alles in seiner Seele ist stimmig, eine Erleuchtung tritt bald ein – und plötzlich bricht alles zusammen.“53 Es entsteht der Eindruck, dass v. Walter, indem er sich mit einem offenen Brief an sein Idol wendet, nicht zuletzt auch versucht, sich selbst zu begreifen („Wir, einzig und allein wir selbst, stellen ein Problem für uns dar! In langen und vagen Herumirrungen kreist jeder um seine eigenen Geheimnisse herum“). Anfang 1913 mag v. Walter wahrscheinlich ein Bedürfnis nach einem solchen Brief verspürt haben. Und natürlich galt zu dieser Zeit Rilke als Einziger, dem er seine „Beichte“ ablegen und über sein inneres Unwohlsein berichten konnte. Den Brief sandte von Walter nach Leipzig an den Insel-Verlag, geschickt mit der Bitte (auf dem Briefumschlag): „um Zusendung an Herrn Rainer Maria Rilke“, was auch erledigt wurde, weil auf der Rückseite des Briefumschlages die Anschrift Rilkes in Paris angegeben ist. Darauf folgte kein Antwortschreiben; zumindest ist in der Veröffentlichung der Zeitschrift „Der Gral“, an die Walter 1929 drei andere Briefe Rilkes an ihn übergab, kein Antwortschreiben vorhanden. Die weiteren Beziehungen zwischen v. Walter und Rilke entwickelten sich wiederum „im Zeichen Bloks“. Anfang 1921 veröffentlichte v. Walter das Gedicht Skythen und das Poem Die Zwölf in eigener Übersetzung (in einem Band)54 sowie ein Buch ausgewählter Gedichte Bloks55 (darin wurden dreizehn Übersetzungen, davon sieben aus dem Zyklus Verse von der schönen Dame aufgenommen). Eingeleitet wird der Band durch ein Vorwort des Übersetzers. Wie die Skythen Bloks basiert es gänzlich auf der Gegenüberstellung „wir“ (also die „Skythen“, „Asiaten“) und „ihr“ (der Westen, die zivilisierte Welt). Seine „Erwägungen“ zu den „Skythen“ bezeichnete v. Walter als „einen Versuch gewissermaßen seismographischer Verzeichnung geheimer und bedrohlicher Dinge, die sich aus der Perspektive des Gedichtes ergeben“56. Nachstehend führen wir einige Auszüge aus dem (in einer emotionalen, expressionistischen Art verfassten) Vorwort von Walters an: Gegenüberstellung zweier Welten, deren eine ihres Wesens Inkarnation bereits erfahren hat, während die andere leidenschaftlich darum ringt. Je nach dem Verhalten des Abendlandes, je nach der Bereitschaft alte und erstarrte, obwohl ehrwürdige Formen zu sprengen, um neuen geistigen Gehalt aufzunehmen, wird

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Brief an Ivanov vom 4. Dezember 1913: NIOR RGB. Bestand 109. Kart. 34, Nr. 37. Bl. 11. Block 1921b. Block 1921a. Block 1921b, S. 9.

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Reinhold von Walter zwischen Blok und Rilke die Frage zu lösen sein, ob das sogenannte Ende des sogenannten Weltkrieges – Krieg oder Frieden bringen wird. […] Das sagen wir: der Dinge organischer Zusammenhang, der stürmende Puls ist euch verleidet; das Natürliche – Ihr verdaut es nicht mehr; Ihr überschätzt euch selber. Das Leben ist euch zur Passage geworden. […] Ihr habt aufgehört, vulkanisch zu sein, und das Tempo der Geschichte – Ihr gebt es nicht mehr an. Durch tadellose Haltung vermeint Ihr den Mangel an heiligem Feuer zu ersetzen. Eure Freiheit habt Ihr kondensiert. Geld und Maschine ist euch zur kondensierten Freiheit geworden. […] Wir entfalten eine gesteigerte Aktivität, an die zu glauben Ihr die Kraft nicht mehr habt […] Eurer kühlen berechenden Sentimentalität, wir setzen ihr die Leidenschaft unsrer Bewegung entgegen. Ihr sagt, wir wären unbeständig, wankelmütig. Wir aber sind der Fühler des nämlichen Weltgeistes, der überallhin tastend wie eine ungeheuere Fledermaus über dem Chaos der Monaden zittert, um die Kuppe des goldenen Berges zu finden, von dem aus sich die Wiedergeburt der Welt aus der chaotischen Wirrnis vornehmen liesse. […] Ihr habt für alles Methode und System. Ihr lebt dahin in Erwartung der Theorien. […] Lebt hin, Ihr im Westen, Ihr wippender Gang ist furchtbar. Die Schädel recken sich ungeheuer. Eure Welt zerreisst vor ihnen. Sie wird kreisrund und leer. […] Unter einem Menschenleben verstehen wir typischermaßen die berührende Historie unendlicher Irrung. Euer Geschick ist es, ohne Götter deren Advent in Euch finden wollen. Unsre Bewegungsart verlangt sich Gegensätze. Es ist eine Weise vom Sich-verlieren und Wiederfinden in steigendem Schwung. Je mehr wir uns verloren, desto leidenschaftlicher entdecken wir uns hernach. […]

Das Vorwort v. Walters endet mit dem Aufruf „Hinab zu den Müttern! Dort vollzieht sich die Fleischwerdung“.57 Mit Begeisterung las Rilke dieses Vorwort und das Begleitschreiben v. Walters. Alles, was in Bloks Skythen und im Vorwort von Walters gesagt wurde, entsprach durchaus seiner eigenen Vision von Russland, die sich bereits während seiner Russlandreisen (1899 und 1900) herausgebildet hatte, aber auch seinem Verständnis der revolutionären Ereignisse. Schon Anfang des Jahrhunderts, und noch in den 1920er Jahren war Rilke davon überzeugt, dass Russland, die patriarchale „Heilige Rus’“, von dem frommen Volk der Gottesträger besiedelt und „voll von Zukunft“ sei, während der „altersschwache“ Westen „Gott“ verloren habe und seine „Kultur“ der Vergangenheit angehörte. (Derartige Stimmungen, damals in Westeuropa weit verbreitet, hat Oswald Spengler im zweiten Band von Der Untergang des Abendlandes deutlich zum Ausdruck gebracht.) Der Brief Rilkes vom 6. April  1921 beginnt mit warmherzigen, freundschaftlichen Worten. Es stellt sich heraus, dass schon Anfang des Krieges in 57

Ebd., S. 11–19.

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Deutschland Gerüchte über das „Verschollensein“ von Walters kursierten, welches für Rilke allmählich „die Bedeutung des Verlustes“ angenommen habe. Diese Betroffenheit sei nunmehr einem Gefühl der frohen Sicherheit gewichen, dass von Walter am Leben sei und in Deutschland „unter uns“ wirkte. Im Weiteren heißt es: […] die beiden kleinen Bücher, die ich Ihnen verdanke, haben mich sehr ergriffen. Enthalten sie doch, gewissermaßen, die ersten wirklichen, zuverlässigen Nachrichten, die ich über Rußland empfange. Das herrliche Gedicht Die Skythen von Alexander Alexandrowitsch Block ist, obgleich 191758 geschrieben, noch jetzt und dauernd für eine solche Nachricht zu halten. Was Sie dazu schreiben in den zwölf kurzen Absätzen, ist vortrefflich, lieber Herr von W., ist das Eine, ist das Wesentliche. Sie können sich vorstellen, daß ich nicht so „falsch verliebt“ bin, um das Block’sche Gedicht oder durch Ihre Anmerkungen irgendwie überrascht zu sein: enthalten doch beide nur Zeugnisse für eine Tatsache, von der ich in allen diesen entsetzlichen Jahren gehofft habe, daß sie so und nicht anders auf jenem mir so gründlich geheiligten russischen Boden bestehen möge: Rußland hat eben, seiner tiefen Aufgabe und Begabung nach, als einziges Land das ganze unendliche Leid auf sich genommen und verwandelt sich in ihm. Welches das Ergebnis seines Überstehens auf dem Grund dieses Leids sein wird, ist unabsehlich, aber von diesem westlichen Sich-daran-vorbeidrücken wird es ganz und gar verschieden sein.59

Der Briefwechsel von Walters mit Rilke erreichte 1921 seinen Höhepunkt. Ende Mai schickte von Walter einige Bücher an Rilke, unter anderem sein expressionistisches Gedicht Der Kopf, das als Einzelausgabe (mit Holzschnitten von Ernst Barlach)60 erschienen war, und versehen mit folgender Inschrift: „Lieber und sehr verehrter Herr Rilke, nehmen Sie dieses sehr unvollkommene Gedicht zum Zeichen, daß ich mich Ihnen in dankbarer Verehrung nah verbunden fühle. Brl 31. Mai 1921. R. Walter“.61 Um Rilke zur Teilnahme an einer der russisch-deutschen Zeitschriften (die damals vom SkythenVerlag geplant waren62) zu gewinnen, sandte ihm von Walter außerdem zwei Bändchen, die in diesem Verlag63 soeben erschienen waren, und schrieb 58 59 60 61 62 63

Das genaue Datum die Niederschrift der „Skythen“ ist der 30. Januar 1918. Der Gral. Monatsschrift für Dichtung und Leben, 1929, H. 5 (Februar), S. 400. Siehe auch: Azadovskij 1991. Dasselbe auch in: Azadovskij 2011, S. 316–337. Walter 1919. Schweizerisches Literaturarchiv (Bern). Rilke E 207. Möglicherweise ist hier der „Vestnik vsech iskusstv“ [dt. „Bote aller Künste“] gemeint; geplant war, diese Ausgabe auf Russisch und Deutsch zu verlegen. Siehe zu diesem nicht verwirklichten Verlagsprojekt: Belyj 1998, S. 236. Iwanow 1921; Puschkin 1921. Über die Reaktion Rilkes auf den durch den „Skythen“-Verlag veröffentlichten Artikel Ivanovs siehe: Azadovskij 2006a.

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wahrscheinlich im April  1921 noch einen weiteren Brief (bis dato nicht ermittelt), in dem er nach eventuellen deutschen Autoren für die geplante Veröffentlichung fragt. Im Antwortschreiben vom 4. Juni 1921 willigt Rilke höflich in den Vorschlag der Zusammenarbeit ein („Sie kennen meine Beziehungen zu Rußland, ich habe keine, die mir innerlich wichtiger wäre …“), schränkt gleichzeitig seine Beteiligung auf eine nahe Zukunft ein und empfiehlt den „Skythen“ als Autoren Rudolf Kassner und Lou Andreas-Salomé.64 Somit wurde Reinhold von Walter – aufgrund von äußeren, von ihm unabhängigen Umständen – zu einem Bindeglied zwischen Blok und Rilke, der offensichtlich erst jetzt, 1921, als er die deutsche Übersetzung der Skythen las, in vollem Maße seine eigene „Konsonanz“ mit dem russischen zeitgenössischen Dichter erahnen konnte. Diese Vermittlerrolle von Walters erscheint in diesem Sinne als folgerichtig. Von Walter, der sich als Dichter unter dem gleichzeitigen Einfluss der Verse von der Schönen Dame und des Stundenbuches ausformte, war aufs Tiefste durch die Gestalt dieser „unbegreiflichen“ Rus’, die „im Geheimnis ruht“65, durchdrungen. Die religiös-mystische Wahrnehmung Russlands, der Kult des Weiblichen, die Idee des „Ewig-Weiblichen“ (welche Vjačeslav Ivanov einst als „eine lebensfähige Wurzel des neuen religiösen Bewusstseins“ bezeichnete66), die Spiritualisierung des Eros, das Gefühl der Teilhabe an der Weltseele – alle diese Merkmale, die Blok und Rilke geistig verwandt machten, waren auch Reinhold von Walter immanent.67 Seine Neigung zu Blok einerseits und zu Rilke andererseits trug letztendlich dazu bei, dass sich der Weg der beiden Dichter auf dem einen Feld der europäischen Kultur kreuzte. 

Aus dem Russischen übersetzt von Jurij Lileev

Literatur Azadovskij, Konstantin (1991): Rajner Maria Ril’ke i Aleksandr Blok (predvaritel’nye zametki) [Rainer Maria Rilke und Alexander Block (vorläufige Notizen)]. In: Russkaja literatura, Nr. 2, S. 144–156.

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Der Gral, Monatsschrift für Dichtung und Leben, 1929, H. 5 (Februar), S. 401–402. Aus dem Gedicht Bloks Ty i vo sne neobyčajna … (1906). Im Artikel Gëte na rubeže dvuch stoletij (1912) In: Ivanov 1986, S. 156. Reinhold von Walter sympathisierte offen mit dem „mystischen Hang“ der russischen Philosophie und übersetzte (dann in Deutschland) Werke von N. Berdjaev und L. Šestov. 1957 veröffentlichte er eine Anthologie des russischen Mystizismus: Walter 1957.

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Azadovskij, Konstantin (2006a): Vjačeslav Ivanov i Ril’ke: dva rakursa [Vjačeslav Ivanov und Rilke: Zwei Perspektiven]. In: Russkaja literatura, Nr. 3, S. 115–127. Azadovskij, Konstantin (2011): Ril’ke i Rossija. Stat’i i publikacii [Rilke und Russland. Beiträge und Publikationen]. Moskva. Belyj, Andrej; Ivanov-Razumnik (1998): Perepiska. Publikacija, vstupitel’naj statja i kommentarij A.  Lavrova i Dž. Mal’mstada [Briefwechsel. Publikation und Kommentar von A. V. Lavrov und J. Malmstad]. Sankt-Peterburg. Block, Alexander (1921a): Gedichte. Übertragen von Reinhold von Walter. Berlin. Block, Alexander (1921b): Skythen. Die Zwölf. Übertragen und eingeleitet von Reinhold von Walter. Berlin. Blok, Aleksandr (1979): Perepiska. Annotirovannyj katalog [Briefwechsel. Kommen­ tierter Katalog]. Hg. von V. N. Orlov. Vyp. 2. Pis’ma k Aleksandru Bloku [Briefe an Alexander Block]. Moskva. Car’kova, Tatjana S. (2004): „Nit’ blestjaščaja tonka“ [„Der glänzende Faden ist dünn“]. In: A. D. Skaldin. Stichi, Proza. Stat’i. Materialy k biografii [Gedichte, Prosa. Beiträge. Dokumente zur Biographie]. Sankt-Peterburg. Dudkin, Viktor V. (Hg.) (1993): Pis’ma I. von Gjuntera k Bloku [Briefe von J. von Guenther an Blok]. Novye materialy i issledovanija [Neue Dokumente und Forschungen]. Kniga 5 (= Literaturnoe nasledstvo [Das literarische Erbe]. Bd. 92). S. 289 -304. Guenther, Johannes von (1973): Ein Leben im Ostwind. Zwischen Petersburg und München. Erinnerungen. München. Ivanov, Vjačeslav (1986): Sobranie sočinenij [Gesammelte Werke]. [T.] IV. Bruxelles. Iwanow, W. (1921): Klüfte. Essays. Aus dem Russischen übertragen von Wolfgang E. von Groeger. Berlin. Kuzmin, Michail (2005): Dnevnik 1908–1915. Podgotovka teksta i kommentarii N. A. Bogomolova, S. V. Šumichina [Tagebuch 1908–1915. Hg. von N. A. Bogomolov und S. V. Šumichin]. Sankt-Peterburg. Pjast, Vladimir (1997): Vstreči. Sostavlenije, vstupitel’naja statja, podgotovka teksta i kommentarii R. Timenchika [Begegnungen. Hg. von Roman Timenchik]. Moskva. Puschkin, Alexander S. (1921): Mozart und Salieri. Aus dem Russischen übertragen von Reinhold von Walter. Berlin. Poljakov, Fëdor (2009): Avtografy simvolistskogo kruga v archive Rejngol’da fon Val’tera (I) [Autorgaphen des Symbolistenkreises im Archiv von Reinhold von Walter]. In: Na rubeže dvuch stoletij. Sbornik v čest’ Aleksandra Vasil’eviča Lavrova [An der Schwelle von zwei Jahrhunderten. Sammelband zu Ehren von Alexander Vasil’evič Lavrov]. Moskva, S. 574–582 Poljakov, Fëdor (2010): Russkij Berlin v archive Rejngol’da fon Wal’tera [Russischer Berlin im Archiv Reinhold von Walters]. In: Vademecum. K 65-letiju Lazarja Flejšmana. Moskva, 2010, S. 291–306.

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Reinhold von Walter zwischen Blok und Rilke

Poljakov, Fëdor (2011): Avtografy Michaila Kuzmina v al’bomach I.  fon  Gjuntera i R. fon Wal’tera [Autographen von Michail Kuzmin in den Alben von J. von Guenther und R. von Walter]. In: Paraboly. Studies in Russian Modernist Literature and Culture. In Honor of John E. Malmstad. Frankfurt am Main, 2011, pp. 123–151. Raabe, Paul (1991): Die Autoren und Bücher des literarischen Expressionismus. Handbuch in Zusammenarbeit mit Ingrid-Hannich-Bode. [2. Auflage]. Stuttgart, S. 505–507. Rilke, Rainer Maria (1905): Das Stundenbuch enthaltend die drei Bücher: Vom mönchischen Leben / Von der Pilgerschaft / Von der Armut und vom Tode. Leipzig. Rilke, Rainer Maria (1906): Das Buch der Bilder. Zweite sehr vermehrte Ausgabe. Berlin-Leipzig-Stuttgart. Rilke, Rainer Maria (1912): Die Weise von Liebe und Tod des Cornets Christoph Rilke. Leipzig. Rilke, Rainer Maria (1929): Briefe an einen jungen Dichter. Frankfurt am Main und Leipzig. Sippl, Carmen (1999): „Henry von Heiseler – Johannes von Guenther – Reinhold von Walter – Arthur Luther. Rückblicke auf einen Dialog der Puškin-Übersetzer“, in: Fedor B. Poljakov, Carmen Sippl (Hg.): A. S. Puškin im Übersetzungswerk Henry von Heiselers (1875–1928). Ein europäischer Wirkungsraum der Petersburger Kultur. München, S. 76–79. Skaldin, Aleksej D. (2004): Stichi, Proza. Stat’i. Materialy k biografii [Gedichte, Prosa. Beiträge. Dokumente zur Biographie]. Sankt-Peterburg. Walter, Reinhold von (1919): Der Kopf. Ein Gedicht. Mit  10 Holzschnitten von Ernst Barlach. Berlin. Walter, Reinhold von (1922): Gedichte. Berlin. Walter, Reinhold von (1957): Russische Mystik. Eine Anthologie. Düsseldorf.

Geschichten und Geheimnisse des „Alten Enthusiasten“

Akim Volynskij – Lou Andreas-Salomé – Rainer Maria Rilke

In der Vergangenheit hätte er ein Prophet gewesen sein können; in unserer Zeit war er ein Philosoph. Konstantin Fedin über Volynskij1

In letzter Zeit begegnet man dem Namen Akim Volynskijs in der Forschungsliteratur zu Lou Andreas-Salomé und Rainer Maria Rilke immer häufiger. Dies kommt nicht von ungefähr: Die kurzen Kontakte, der wiederholte Ideenaustausch und die direkte Zusammenarbeit, die im Jahre 1897 zwischen den dreien bestanden, waren nämlich für sie jeweils alles andere als zweitrangig. Der Literaturkritiker, Kunsthistoriker und -theoretiker Chaim Lejbovič (Akim L’vovič) Flekser (1861–1926), der sich selbst das Pseudonym Volynskij gegeben hat, war in der ersten Hälfte der 90er Jahre des 19. Jahrhunderts eine der bekanntesten und geachtetsten Persönlichkeiten der russischen Literaturszene. Seit 1891 veröffentlichte er als führender Kopf der St.  Petersburger Monatszeitschrift Severnyj vestnik [Nordischer Bote] Artikel gegen Belinskij, Černyševskij, Dobroljubov und Pisarev, die Idole der russischen ‚Intelligencija‘, gleich ob liberaler oder populistischer Prägung. Von idealistischen Positionen ausgehend, stellte Volynskij dem soziopolitisch orientierten ‚Journalismus‘ und dem ‚Naturalismus‘ gewisse ‚ewige‘ und abstrakte ‚Werte‘ (Schönheit, Religion u.  a.) gegenüber, wobei er den Begriff ‚Idealismus‘ jedoch weit fasste und recht willkürlich auslegte. Mit diesem Vorgehen zielte der Kritiker darauf ab, jede Art ‚Tendenz‘ von der Literatur fernzuhalten (ganz besonders die ‚staatsbürgerliche‘, also das politische Engagement). Die in dem Band Russkie kritiki [Russische Kritiker] (1896) gesammelten polemischen Artikel Volynskijs, die ihm den Ruf eines „Grundlagenzerstörers“ einbrachten, sind von dem Willen bestimmt, das philosophische und ästhetische Erbe der bekanntesten Vertreter

* Erstverӧffentlichung in: Etudes Germaniques. Avril-Juin 1998. Nr.  2 (Hommages à Claude David). P. 291–311. Wieder in: Korrespondenzen: Festschrift für J. W. Storck aus Anlaß seines 75. Geburtstages / Hg. von R. Schweikert in Zusammenarbeit mit S. Schmidt. St. Ingbert, 1999. S. 267–291 (= Mannheimer Studien zur Literatur- und Kulturwissenschaft; Bd. 20). 1 Fedin 1928, S. 29.

© Brill Fink, 2022 | doi:10.30965/9783846766767_010

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Geschichten und Geheimnisse des „Alten Enthusiasten“

demokratischer Traditionen im Russland des 19. Jahrhunderts kritisch zu hinterfragen. Der Severnyj vestnik war die erste russische Zeitschrift, in der seit Beginn der 1890er Jahre programmatisch sowohl Werke russischer wie westlicher Autoren veröffentlicht wurden, die um die Jahrhundertwende aktuelle neuromantische, individualistische und sonstige modernistische Tendenzen zum Ausdruck brachten. Ohne den Symbolisten geneigt zu sein (oder genauer: obwohl er sich selbst für den einzig ‚wahren‘ Symbolisten hielt), nahm Volynskij in seiner Zeitschrift bereitwillig alles auf, was ihm ‚modern‘ und ‚künstlerisch‘ erschien. So wurden dort einerseits Gedichte und Prosawerke von Merežkovskij und seiner Frau Zinaida Gippius, von Nikolaj Minskij, Konstantin Bal’mont, Fёdor Sologub veröffentlicht, also den russischen Symbolisten der ersten Generation, und andererseits Arbeiten von Ruskin, Maeterlinck, Wilde, Hamsun, D’Annunzio, Marija Baškirceva (Marie Bashkirtseff) und so weiter. Durch diese Beiträge wurde der Severnyj vestnik in den 1890er Jahren von der russischen Öffentlichkeit als eine Art ‚dekadente‘ Zeitschrift angesehen.2 Im Gegensatz zu den meisten Symbolisten war Volynskij jedoch kein leidenschaftlicher Verehrer Nietzsches, dessen Name in Russland ab 1894/95 bekannt zu werden begann. Dennoch interessierte sich Volynskij lebhaft für Nietzsches Persönlichkeit und Werk, was eine entscheidende Rolle für die Kontaktaufnahme der Zeitschriftenredaktion mit Lou Andreas-Salomé spielte. Dieser erste Kontakt fand im Frühjahr 1897 statt, als Lou Andreas-Salomé wieder einmal in St. Petersburg weilte, um Verwandte zu besuchen. Zu diesem Zeitpunkt waren bereits Teile ihres Buches Friedrich Nietzsche in seinen Werken ins Russische übersetzt worden und im Severnyj vestnik (1896, Hefte  3–5) erschienen. Diese Veröffentlichung erfolgte auf Anregung Akim Volynskijs, der kurze Zeit später einen eigenen Nietzsche-Artikel, Apollon und Dionysos, herausbrachte (1896, Heft 11). Die Auszüge aus dem deutschen Buch übersetzte Zinaida Vengerova, die dem Kreis der Petersburger Symbolisten (Merežkovskij, Z. N. Gippius, N. Minskij) nahestand und über die kulturellen Neuigkeiten in Westeuropa gut auf dem Laufenden war. Es ist also verständlich, dass Lou, als sie nach über zwei Jahren nach St. Petersburg zurückkehrte, die Redakteure und Autoren der Zeitschrift kennenlernen wollte, die ihr freundschaftliche Verbundenheit bezeugt hatten. So lernte sie die Schriftstellerin und Übersetzerin, 2 Zur Geschichte des Severnyj vestnik sowie zu seinem ideologischen Ideengeber, Volynskij, liegt eine große Zahl an Sekundärliteratur in russischer Sprache vor. Eine kurze Liste der wichtigsten Arbeiten findet sich in dem biographischen Lexikon (Bibliographie zum Artikel über Volynskij: Nikolaev 1992, S. 481).

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Herausgeberin und (seit 1891) Eigentümerin des Severnyj vestnik Ljubov’ Jakovlevna Gurevič (1866–1940) kennen, die aus ihrer Zeitschrift eine Plattform für die kritischen Entgegnungen Volynskijs gemacht hatte. Am 18./30. Mai 18973 schrieb Ljubov’ Gurevič in einem Brief an die Schriftstellerin L. N. Vil’kina, dass sie vor kurzem die Bekanntschaft von Lou Andreas-Salomé gemacht habe, „die etwa drei Wochen in Russland war, zu uns in die Redaktion kam und sich als eine charmante, kluge und feinsinnige Frau erwies.“4 Während der „drei Wochen“, die sie in St. Petersburg verbrachte (etwa von Mitte März bis Mitte April), bemühte sich Lou Andreas-Salomé, mit Mitgliedern der hauptstädtischen ‚Intelligencija‘ bekannt zu werden. Dreimal traf sie sich mit Fёdor Sologub, dem sie durch dessen Wiener Übersetzer Alex Brauner in einem Brief empfohlen worden war: Lou Andreas-Salomé, von der Sie sicher schon gehört haben“, schrieb Brauner im März 1897 an Sologub, „bricht in den nächsten Tagen nach St. Petersburg auf und wünscht, Ihre Bekanntschaft zu machen. […] Leider ist sie lediglich als eine Freundin Nietzsches bekannt. Selbst die Redaktion des Severnyj vestnik, der letztes Jahr eine Übersetzung ihres Nietzsche-Buches veröffentlichte, weiß nicht, dass sie Russin ist und zudem eine Schriftstellerin von sehr, sehr großem Talent. Die Redaktion hielt es nicht einmal für nötig, sich nach ihr zu erkundigen. Luiza Gustavovna Salomé ist eine absolut seltene Frau. Nicht, weil sie mich mit ihrer Freundschaft und ihrem Vertrauen beehrt. Ich habe nie eine reinere und hellere Natur, eine fröhlichere Person getroffen als diese Frau.5

Außerdem bemühte sich Lou Andreas-Salomé, Zinaida Vengerova kennenzulernen. Da diese jedoch nicht in St. Petersburg weilte, musste die deutsche Schriftstellerin mit Semёn Vengerov, deren Bruder und einem in Russland bekannten Bibliographen und Literaturhistoriker, vorlieb nehmen.6 Es ist auch ein Brief vom 16./28. April (offenbar dem Vortag ihrer Abreise aus St. Petersburg) überliefert, den Lou Andreas-Salomé an den Schriftsteller A. A. Lugovoj adressiert hat und in dem sie ihn unter Verweis auf Ljubov’ Gurevič bittet, noch am selben Tag empfangen zu werden.7 Eine Zusammenkunft mit Merežkovskij, der einst geradezu darauf brannte, die Bekanntschaft mit „Nietzsches 3 Alle Datumsangaben richten sich nach dem Gregorianischen Kalender. (In einigen Fällen werden zusätzlich die Daten des Julianischen Kalenders angegeben, der in Russland bis 1918 gebräuchlich war.) 4 Muratova 1978, S. 18. 5 Brauner 2020, S. 147. 6 Fiedler 1996, S. 229. 7 St. Petersburg, Handschriftenabteilung des Instituts für russische Literatur (Puschkin-Haus) der Russischen Akademie der Wissenschaften (weiter: RO IRLI). Bestand  A.  A.  Lugovoj Nr. 7315.

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Freundin“ zu machen, fand nicht statt. Stattdessen wurde die Begegnung mit Akim Volynskij zu einem zentralen Ereignis, dessen Folgen sich bald in Lous Biographie bemerkbar machen sollten.8 Volynskij gab dieses Ereignis in seinen Erinnerungen, die allerdings erst viel später verfasst wurden (1923), folgendermaßen wieder: Ich lernte diese Frau unter folgenden Umständen kennen. Der Name Nietzsche war damals weder in literarischen Zirkeln noch allgemein in gesellschaftlichen Kreisen bekannt. Ich geriet zufällig an Salomés Buch, das das Leben dieses Denkers nachzeichnete. Tief beeindruckt von der Persönlichkeit dieses hervorragenden Menschen, erteilte ich den Auftrag, das Buch für den Severnyj vestnik zu übersetzen. Über Nietzsche selbst wusste ich damals bereits einiges. […] Ich hatte den Zarathustra gelesen und Jenseits von Gut und Böse. Die anderen Werke Nietzsches, die in Deutschland gerade in einer Gesamtausgabe erschienen, ließ ich aus dem Ausland kommen und verschlang sie gierig. Über einige von ihnen konnte ich Besprechungen im Severnyj vestnik veröffentlichen. Leider wurde die Fortsetzung dieser Arbeit durch die damalige Zensur verhindert, die der Ansicht war, dass meine Schriften trotz ihres polemischen Tonfalls nichts anderes darstellten als eine maskierte Agitation gegen das Christentum. Etwa zu dieser Zeit überreichte man mir die Visitenkarte von Lou AndreasSalomé. Sie machte meine Bekanntschaft und zeigte deutliches Interesse an meinen Artikeln über Nietzsche. Vor mir stand eine echte Schriftstellerin, kultiviert, von europäischem Maß. Sie war vielseitig gebildet und verkörperte Klarheit, Gesundheit und Scharfsinn, Qualitäten, die ganz allgemein für begabte Frauen charakteristisch sind.

Im weiteren Verlauf dieser Erinnerungen findet sich auch ein Porträt Lou Andreas-Salomés: Volles Gesicht, fleischig, mit stark ausgeprägten Zügen. Ihre schweren Zöpfe waren zu einem Chignon9 gebunden. Augen und Stirn drückten Verstand und Charakter aus. Im Blick war das weiche Schimmern einer edlen, harmonischen Natur. Salomé zog ihren Balachon10 fast niemals aus, da sie sichtlich nicht in der Lage schien, ihren widerspenstigen Körper in ein Korsett zu pressen. Und mir dünkt, dass gerade dieser Zug körperlicher Freiheit und Wildheit auf den ständig kränkelnden Nietzsche, unter anderem, eine besondere Faszination ausübte. Irgendwann wird dies noch Gegenstand einer rückblickenden Untersuchung 8

9 10

Einige Einzelheiten der ersten Kontakte Lou Andreas-Salomés mit der Redaktion des Severnyj vestnik sind nachzulesen in: Čertkov 1975. Auf Seite 4 druckt Čertkov eine Mitteilung Lou Andreas-Salomés an Volynskij ab: „Ich bin morgen (Freitag) Abend von 8 Uhr an ganz frei – wollen Sie dann herkommen? Vielleicht können wir noch etwas unternehmen.“ Das Briefpapier (Hotel Dagmar, Sadovaja 9) lässt keinerlei Zweifel aufkommen: Das Dokument muss von März/April 1897 stammen. Chignon: ein im Nacken getragener Haarknoten (A. d. Ü.). Balachon: russ. Kittel (A. d. Ü.).

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sein, nämlich dann, wenn Lou Andreas-Salomé sich entschließen wird, ihr Archiv zu ihren Lebzeiten zu veröffentlichen oder postum veröffentlichen zu lassen […].11

Die Begegnung mit Volynskij machte auf Lou Andreas-Salomé einen so starken Eindruck, dass sie ihn einlud, sie in Wolfratshausen bei München zu besuchen, wo sie den Sommer zu verbringen gedachte. Am 14. Juni brach sie dorthin mit ihren alten und neuen Freunden auf (der Schriftstellerin und Reisenden Frieda von Bülow, dem Architekten August Endell und schließlich Rilke, der am 12. Mai in München Lous Bekanntschaft gemacht hatte). Volynskij, der am 10. Juni in München angekommen war, traf sie einen Tag nach ihrem Aufbruch wieder, am 15. Juni. Er blieb genau einen Monat bei Lou, bis zum 16. Juli, einschließlich einiger Tage, die sie zusammen in Kufstein verbrachten. Am Abend des 19. Juli langte Volynskij in Wien an,12 von wo aus er nach Kiev weiterreiste und sich schließlich zu seinen Eltern nach Žitomir begab. Im August 1897 kehrte er nach St. Petersburg zurück, nachdem er unterwegs noch Lev Tolstoj in Jasnaja Poljana besucht hatte (am 29. Juli/10. August).13 Er erzählte diesem von seinem Aufenthalt in Wolfratshausen, was offenbar bei Tolstoj lebhaftes Interesse auslöste. Volynskij, der während seiner Unterhaltung mit Tolstoj Notizen gemacht hatte, schrieb darüber: Tolstoj verweilte lange bei Details und stellte mir unzählige Fragen über Salomé und über Nietzsche. Wiederholt fragte er mich nach den Titeln der verschiedenen Werke Nietzsches und war erstaunt, dass sein [Tolstojs] Name in einigen Artikeln neben dem von Nietzsche genannt werde […].14

* 11

12

13 14

Der vollständige Text dieser Erinnerungen mit dem Titel Buket [Der Blumenstrauß] (1923) wurde von A. L. Evstigneeva in dem Sammelband Minuvšee. Istoričeskij al’manach. [Vergangenes. Historischer Almanach]. [Bd.] 17, Moskva/ Sankt-Peterburg 1995, S. 272–274 veröffentlicht. In deutscher Übersetzung erstmals durch K. Azadovskij zugänglich gemacht im Rahmen des internationalen Rilke-Kongresses in Prag (Herbst 1994). Vgl. Asadowski 1998, S. 107–108. Tschechische Übersetzung: Azadovskij 1996, S. 172–174. Im Weiteren wird Buket ohne Quellenangabe zitiert. Die Daten wurden aufgrund eines undatierten Briefes ermittelt, den Volynskij von Wien aus an seine Schwester, B. L. Pargamin, schickte (der Poststempel trägt das Datum: Wien, 20. 7. 97): „Ich bin gestern Abend hier angekommen […].“ (Moskau, Staatliches Literaturund Kunstarchiv Russlands [RGALI]). Bestand 95. Liste 1. Nr. 957. Blatt 60. Tolstaja 1978, S. 275. A.  Volynskij: Jasnaja Poljana (Auszug eines Privatbriefes), RGALI. Bestand  95. Liste  1. Nr. 18, Blatt 11).

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Der fünfwöchige Aufenthalt Volynskijs in Wolfratshausen diente nur einem einzigen Zweck, der sehr intensiven Zusammenarbeit mit Lou Andreas-Salomé, die sich für beide Seiten als sehr fruchtbar erwies: „Volynskij ist hier mit mir in einem schönen gebirgigen Ort bei München“, ließ sie Ljubov’ Gurevič in einem Brief vom 19. Juni wissen, „und wir wollen zusammen viel arbeiten, lesen und spazieren gehen. Gern würde ich hier noch viel freier und einsamer sein, um noch mehr Zeit mit ihm verbringen zu können. Seine Anwesenheit, für die ich ihm dankbar bin, hat großen Wert für mich.“15 Der Einfluss Volynskijs ist beispielsweise in dem langen Artikel Russische Dichtung und Kultur von Lou Andreas-Salomé zu spüren, den sie im Juli/ August  1897 schrieb, d. h. während des Aufenthalts Volynskijs in Deutschland und kurz danach. Sie untersuchte darin Werke einiger zeitgenössischer russischer Schriftsteller und Kritiker und unterstrich, wieviel sie Volynskijs Buch Russische Kritiker verdanke.16 Außerdem erwähnte sie noch Gurevič, die Zeitschrift Severnyj vestnik sowie eine ganze Reihe weiterer Autoren, die der Zeitschrift nahestanden (Merežkovskij, Sologub und andere). Zudem wurde ein Artikel von ihr über Leskov ganz offensichtlich durch Volynskij inspiriert,17 der diesem russischen Autor zu Beginn des Jahres 1897 im Severnyj vestnik (Hefte  1–5) eine Artikelserie gewidmet hatte, deren Buchausgabe er gerade betrieb (St. Petersburg 1898). Dies alles wurde von Lou Andreas-Salomé ebenfalls erwähnt. Ein weiteres Beispiel wäre ihr Artikel Die russische Philosophie und der semitische Geist,18 in dem sie eine Charakterisierung einiger Repräsentanten der russischen ‚Universitätsphilosophie‘ vornahm und betonte, ihre Sachkenntnisse „meinen persönlichen Gesprächen mit A. L. Volynskij, die ich mit ihm während meines letzten Aufenthaltes in Russland geführt habe“, zu verdanken. Der amerikanische Forscher Rudolph Binion listet folgende Pläne und Arbeiten von ihr auf, die zwischen Juni und September 1897 datiert und entweder „mit“ oder „für“ Volynskij (d. i. für den Severnyj vestnik) abgefasst

15 16 17

RO IRLI. Bestand Gurevič L. Ja. Nr. 19782. Andreas-Salomé 1897, hier Nr. 9, S. 874. Andreas-Salomé 1898a.

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worden sind: Die russische Legende (mit Volynskij),18 Artikel für Jasinskij (mit Volynskij),19 Deutsche Dramaturgie (für Volynskij)20 und einige andere.21 Zusammenfassend lässt sich sagen, dass das Frühjahr und der Sommer 1897 einen Wendepunkt in der Biographie der Schriftstellerin Lou Andreas-Salomé bedeuteten. Bis dahin hatte sie das ‚russische Thema‘ im eigentlichen Sinne noch gar nicht in Angriff genommen. Seither ließ sie in der Presse regelmäßig Artikel, Kritiken und Essays erscheinen, die russischen Autoren gewidmet waren. Mit dem Namen Volynskijs ist bis zu einem gewissen Grad auch der Problembereich des ‚Judaismus‘ in den Werken Lou Andreas-Salomés verbunden, dem sie zuvor schon den Artikel Jesus der Jude (1896) gewidmet hatte.22 In ihrem Aufsatz Die russische Philosophie und der semitische Geist versuchte sie, der Verwandtschaft und den Unterschieden zwischen russischem und jüdischem Bewusstsein nachzugehen. Sie sprach von der aktuellen Situation der Juden in Russland, von deren Zukunftsmöglichkeiten, von der Notwendigkeit, auch Lehrer jüdischer Abstammung an den russischen Universitäten unterrichten zu lassen (mit anderen Worten davon, den „metaphysischen“ Geist Russlands durch den „semitischen“ Intellekt zu befruchten) usw. Diese Ansichten wie auch ihre Informationen über den Stand der Philosophie an russischen Universitäten verdankte Lou Andreas-Salomé einzig und allein Volynskij, für den das Thema Christentum, Judentum und „Ariertum“ eines der „brennendsten“ war. Die Herbst-Hefte des Severnyj vestnik belegen, wie produktiv der Aufenthalt Volynskijs in Bayern und die Zusammenarbeit mit Lou Andreas-Salomé im Sommer 1897 auch für ihn gewesen waren. So erschien in der SeptemberAusgabe eine „Skizze nach der Natur“ unter dem Titel In einem Zugabteil. Handlungsort sowie Inhalt waren von den Eindrücken inspiriert, die Volynskij aus Bayern mitgenommen hatte. (Es handelte sich um eine Unterhaltung 18 19

20 21 22

Der Artikel konnte nicht eindeutig identifiziert werden. Es handelt sich dabei um den Schriftsteller Ieronim Ieronimovič Jasinskij (1850–1931), der unter anderen das Pseudonym Maksim Belinskij benutzte. Damals (und auch noch später) unterhielt Volynskij enge Beziehungen zu Jasinskij, sowohl persönliche wie auch auf literarischem Gebiet. „Ich hänge sehr an Ihnen“, bekannte ihm Volynskij in einem Brief vom 22. Februar 1897 (RO IRLI. Bestand 352. Op. 2. Nr. 696, Bl. 5v). Es geht hier offensichtlich um einen (vermutlich nicht zustande gekommenen) Artikel für die Petersburger Zeitung Birževye vedomosti [Das Bӧrsenblatt], in der Jasinskij seit Mitte der 1890er Jahre als Redakteur eine führende Rolle spielte. Offenbar handelt es sich um den Artikel Drama „Molodoj Germanii“: Gerchart Gauptman, Maks Gal’be, Georg Giršfel’d [Das Drama des ‚Jungen Deutschlands‘: Hauptmann, Halbe, Hirschfeld]. In: Severnyj vestnik (1898, Nr. 2, S. 53–69); vgl. dazu Anm. 45. Binion 1968, S. 569 und Anm. 46. Andreas-Salomé 1896.

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zwischen einem Russen und einem Deutschen in einem Zug zwischen Rosenheim und Kufstein.) Der Essay Bei Palkin, der im folgenden Heft veröffentlicht wurde, setzte diese literarische Skizze fort.23 In demselben Heft (Heft 10) erschien auch ein kurzes literarisches Werk, dessen gemeinsame Verfasser Volynskij und Lou Andreas-Salomé waren, eine „romantische Skizze“ unter dem Titel Amor, die eine deutliche Nähe zu der Skizze In einem Zugabteil aufwies.24 Dieser Artikel löste eine Kontroverse zwischen beiden Autoren aus.25 Außerdem erschien in diesem Heft (Heft 10) eine Erzählung Rainer Maria Rilkes, Alle in Einer, bei der es sich um seine erste Veröffentlichung in Russland und die erste Publikation dieses Werkes überhaupt handelte.26 Rilke war also nicht nur Zeuge, sondern nahm auch aktiv an den täglichen Unterhaltungen von Volynskij und Lou Andreas-Salomé teil. Die Rilke-Chronik belegt, dass Rilke während des gesamten Aufenthalts Volynskijs ebenfalls in Wolfratshausen war.27 Letzter wiederum konnte nicht umhin, die Verliebtheit des jungen Dichters wahrzunehmen, die förmlich in die Augen sprang. Unter dem Einfluss Lou Andreas-Salomés gingen mit dem Dichter in diesen Wochen einige Veränderungen vor: Er nahm den Namen Rainer an und änderte seine Handschrift. Bei den täglichen Unterhaltungen merkte er sich die Namen der Russen, die er vermutlich zuvor noch nicht gekannt hatte (Garšin, Leskov), und hörte Russisch (obwohl Lou sich in dieser Sprache nur unvollkommen ausdrückte). Er las nicht nur Lous Artikel, die, wie bereits ausgeführt, in all diesen Monaten einen Bezug zu Russland aufwiesen, sondern schrieb auch einige von ihnen ins Reine. Man kann mit Sicherheit sagen, dass die Annäherung Rilkes 23

24 25

26 27

Die erste Skizze  V kupė [In einem Zugabteil] erschien anonym, die zweite U Palkina [Bei Palkin] war mit A. Volynskij unterzeichnet. „Palkin“ ist der Name eines berühmten Restaurants in St.  Petersburg. Später hat Volynskij diese beiden „Skizzen“ in einen Sammelband seiner Artikel aufgenommen: Bor’ba za idealizm [Der Kampf für den Idealismus, 1900]; die erste Skizze unter dem Titel O Dostoevskom (V kupė) [Über Dostoevskij (In einem Zugabteil)], die zweite unter dem Titel Raskol’nikov. Die Skizze Amor hieß ursprünglich Unterwegs; vgl. Binion 1968, S. 566. Lou Andreas-Salomé hat Fiedler die Details dieser Geschichte am 11. Mai 1899 erzählt: „Ich [Fiedler] fragte sie, was es für eine Bewandtnis mit der Novelle Amor habe, die sie zusammen mit Flexer verfaßte. ‚Ach, das ist eine ziemlich unangenehme Geschichte! Während meines Hierseins hatten wir das Thema verabredet, und er schlug mir vor, es zu bearbeiten. Ich verwarf einige Details, die er vorschlug, und sagte, ich würde die Erzählung vielleicht schreiben. Und ich schrieb sie und schickte sie in den Severnyj vestnik, wo sie von Flexer übersetzt und mit jenen von mir abgelehnten Details erschien, und zwar mit Namensnennung beider Verfasser, was ich erst später erfuhr und was mich nicht wenig ärgerte. Zudem – zwei Verfasser einer solchen Nullität!‘“. (Fiedler 1996, S. 256.) Für genauere Informationen vgl. Asadowski 1986, S.  12 und S.  503. Russische Edition: Azadovskij 2003, S. 17. Schnack 1990, S. 60–61.

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an Russland, die in der Folge eine so große Bedeutung für sein geistiges Leben spielen sollte, genau im Juni/Juli 1897 unter dem Einfluss Lous und der Mitarbeit Akim Volynskijs einsetzte. Die Reise nach Deutschland und Österreich blieb für Volynskij allerdings nicht auf seine Gespräche und die Zusammenarbeit mit Lou Andreas-Salomé beschränkt. Der russische Kritiker widmete sich auch seinem eigenen Werk, denn er arbeitete unablässig an seinem Buch über Leonardo da Vinci. Die Abfassung dieses Buches war auch der eigentliche Auslöser für seine Reise gewesen: „Für meine Arbeiten im Herbst und Winter musste ich die Museen von Berlin, Dresden und München besuchen, sonst gab es keine besonderen Gründe für meine Auslandsreise“, ließ er seine Schwester B. L. Pargamin um den 20. Juni von Wolfratshausen aus wissen.28 Und am 29. Juni schrieb er an sie: Ich war bereits in Berlin, in Dresden auch. Jetzt werde ich von München aus nach Wien gehen […]. Ich habe vor, über die Kunst der Renaissance zu schreiben, und ein Zweck meiner Reise nach Deutschland (nach dem Aufenthalt in Italien) ist, einige kleine Details ausfindig zu machen, die Bezug zu Leonardo da Vinci haben. Für eine Spezialuntersuchung genügt das mehr oder minder Bekannte allein nicht: Ich brauche sowohl bestimmte Charakteristika als auch Nuancen.29

Das Interesse Volynskijs an der Person Leonardo da Vincis hatte zu diesem Zeitpunkt schon eine lange Geschichte, die in hohem Maße die wechselhaften Beziehungen des Autors zu Dmitrij Merežkovskij und dessen Frau Zinaida Gippius spiegelt. Merežkovskij hatte 1895/96 begonnen, sich für dieses Thema zu interessieren und Materialien zu sammeln; im Frühjahr 1896 war er auf den Spuren des Malers durch Italien gereist. Das Ehepaar Merežkovskij wurde von Volynskij begleitet, der damals eng mit ihnen befreundet war und ihre Ideen teilte. Merežkovskij hoffte, dass sein neuer historischer Roman im Severnyj vestnik veröffentlicht werden würde. Im Frühjahr 1897 kam es aber zum Bruch zwischen Volynskij und den Merežkovskijs30 und so begann Volynskij, nach Merežkovskijs Vorbild eine eigene Studie über Leonardo da Vinci zu verfassen – ihm zum Trotz und, wie es scheint, aus einem gewissen ‚Rivalitätsgefühl‘ heraus. Volynskij gelang es, Merežkovskij etwas zuvorzukommen. Sein Buch wurde ab 1897 im Severnyj vestnik (Hefte 9–12) unter dem Titel Auf den Spuren Leonardo da Vincis als verstreute „Skizzen“ veröffentlicht. Der zweite Teil des Buches Leonardo da Vinci, sein Leben und seine wissenschaftlich-literarischen 28 29 30

RGALI. Bestand 95, Nr. 957, Bl. 54. Der Brief ist undatiert. Ebenda. Bl. 56–57. „Unsere Freundschaft mit Flekser (und mit seiner Revue) dauerte von 1894 bis Frühjahr 1897“, erinnerte sich Zinaida Gippius (Gippius-Merežkovskaja 1951, S. 72).

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Werke erschien 1898 ebenda (Hefte  1–4). Merežkovskij hingegen veröffentlichte 1897 lediglich einen kleinen Ausschnitt aus seinem Roman, dessen erste Kapitel erst 1899 erschienen. Die Erstausgaben beider Bücher kamen 1900 bzw. 1901 heraus.31 In der Folge ließ Merežkovskij, dessen Roman später in zahlreiche Sprachen übersetzt und auch in Russland häufig wiederaufgelegt wurde, seinen Leonardo da Vinci als zweiten Teil der Trilogie Christ und Antichrist ( Julian Apostata – Leonardo da Vinci – Peter der Große und sein Sohn Alexej) erscheinen. * Dem Inhalt nach ist die Arbeit Volynskijs eine religiöse und philosophische Abhandlung, die nicht nur die Zeit Leonardos behandelt, sondern auch die Gegenwart. Volynskij versuchte darin, seine Deutung des ‚Idealismus‘ mit Beweisen zu untermauern: mit der Religiosität, den christlichen Idealen, dem Fehlen ‚politischen Engagements‘ in der Kunst und so weiter. Im Grunde setzte er sich zum Ziel, das Ansehen der ‚dämonischen Kunst‘ zu festigen, die in seinem Buch von dem ‚spitzfindigsten aller Heiden‘, Leonardo da Vinci, repräsentiert wird, den er als den Urheber eines ‚dekadenten Individualismus‘ betrachtet.32 Im Vorwort zur Buchausgabe unterstrich Volynskij, dass er „eine sowohl psychologische wie auch literaturkritische Erklärung als Ausgangspunkt genommen [habe] und den gegenwärtigen Zeitgeist berücksichtige, der viele Gemeinsamkeiten mit dem der Renaissance“ aufweise.33 Das Buch ist in einem Stil geschrieben, den Volynskij selbst als ‚halbkünstlerisch‘ bezeichnete. Der gesamte erste Teil besteht aus Dialogen. „In den Gesprächen dreier Personen unterschiedlichen Alters, die eine leidenschaftliche Liebe zur Kunst verbindet, sollen – so war meine Absicht – die aktuellen Tendenzen der Geschichte aufscheinen“, erklärte Volynskij im Vorwort. Im Gegensatz dazu bietet der zweite Teil nur Kommentare des Autors zu den Zeichnungen und Bildern Leonardo da Vincis. Wer sind nun diese drei Hauptpersonen, die miteinander diskutieren? Zunächst gibt es den Erzähler selbst, also den Autor (es handelt sich um eine Ich-Erzählung). Dann ist da der ‚Alte Enthusiast‘, der (im Geist eines christlichen Weltbildes) „die inspirierte Schönheit predigt“ und der gleichzeitig „auf 31 32 33

Das Buch von Volynskij wurde 1909 gedruckt (Neuauflage: 1997). Die Buchausgabe ist mit der Publikation im Severnyj vestnik nicht identisch. Kuprianovskij 1978. Volynskij 1900, S. VII. In Folgendem wird dieses Vorwort ohne weitere Quellenangabe zitiert.

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der Suche nach einer solchen Schönheit [ist], ein teilnahmsloses und zugleich unerbittliches Gefühl der Göttlichkeit inmitten von Zweifeln und Unsicherheiten, die den modernen Geist beherrschen“. Volynskij lässt ihn seine eigenen Ideen über das Leben und die Kunst aussprechen. „Die wahre Essenz des Buches, das, worauf ich den meisten Wert lege,“ erklärte Volynskij in seinem Vorwort, „findet sich in den Äußerungen meines ‚Alten Enthusiasten‘. Wenn man seine Überlegungen, seine wesentlichen Prinzipien ablehnt, müsste man erkennen, dass das ganze Buch seines Sinns beraubt wäre.“ Und schließlich gibt es ‚den jungen Mann‘, den Schüler des ‚Alten Enthusiasten‘, der durch „den verzehrenden Wind gewisser intellektueller Bewegungen der Moderne“ den „heiligen und ewigen Werten“ entrissen worden ist. Der ‚Alte Enthusiast‘ führt den ‚jungen Mann‘ durch eine Galerie mit Renaissance-Kunstwerken, wobei er „bei jedem die charakteristische Eigenheit hervorhebt, ihre Seele und das, was mehr als je zuvor im Licht der gegenwärtigen Epoche klar wird“. In seinen Buket [Der Blumenstrauß] genannten Erinnerungen gab Volynskij einige der Umstände wieder, unter denen seine Arbeit an den Figuren des ‚Alten Enthusiasten‘ und des ‚jungen Mannes‘ vonstatten ging. Es scheint, dass Volynskij die „ersten Entwürfe“ zu seinem Buch über Leonardo da Vinci auf Lou Andreas-Salomés ‚Datscha‘ (in Wolfratshausen also) anfertigte: „Die Figur des ‚Alten Enthusiasten‘,“ liest man in seinen Erinnerungen, „wurde von mir in der Nähe der gastfreundlichen Villa entworfen, in der ich damals wohnte.“ Dort habe er auch, teilte Volynskij mit, die Bekanntschaft von Rilke gemacht, „eines Dichters, der später in der neueren deutschen Literatur so berühmt geworden ist“. Und er fügte hinzu, dass er für den ‚jungen Mann‘, den der ‚Alte Enthusiast‘ betreute, „das Äußere dieses Menschen“, das „so raffiniert, wie von Pinturi gezeichnet,“ gewesen sei, zum Modell genommen habe. Über die genauen Umstände der Bekanntschaft Volynskijs mit Rilke ist genauso wenig bekannt wie über ihre Gespräche in Wolfratshausen; es gibt auch keine Dokumente über ihre Begegnung und die Art ihrer Beziehung. Dennoch kann angenommen werden, dass Verbindungen zwischen ihnen bestanden haben, sogar sehr intensive. Das Interesse, das sie einander bezeugten, dürfte vor allem durch ihre Studien motiviert gewesen sein, die sie beide der italienischen Renaissance widmeten (zum Beispiel unter Zuhilfenahme der Arbeiten Jacob Burckhardts). Rilke, der zu jener Zeit Artikel über Kunst schrieb, hatte gerade im März 1897 Venedig besucht und bereitete sich auf einen längeren Italienaufenthalt vor (der dann im April/Mai 1898 stattfand). Der Dichter musste sich also für einen Besucher aus Russland interessieren, der Italien schon im Vorjahr bereist und bereits an einem Buch über Leonardo da Vinci zu schreiben begonnen hatte.

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Betrachten wir nun etwas genauer die Figur des „sehr naturverbundenen“ und „etwas kränklichen jungen Mannes“, dessen „feine Züge“ (mehr die innerlichen denn die äußerlichen) Volynskij an verschiedenen Stellen des Romans und in dessen Verlauf verknappt nachzeichnete. Die erste Begegnung des Ich-Erzählers mit dem „jungen Mann“ findet im Zimmer eines Bahnhofshotels statt: Ich gab ihm die Hand und spürte eine leicht fiebrige Kälte bei der Berührung seiner feinen und knochigen Hände. Ich hatte ein kränkliches Gesicht vor mir, mit feinen Konturen und großen Augen, deren Ausdruck träumerischer Traurigkeit mich sofort getroffen hatte. Er sah mich etwas schüchtern an, und es schien mir, als sei er von dem sichtlichen Interesse, das ich ihm entgegenbrachte, etwas erschreckt. Als ich mich von ihm weg auf die Tür zubewegte, hörte ich ihn einige Schritte in die gleiche Richtung machen und dann stehenbleiben. Als ich schließlich die Tür öffnete, sah ich noch einmal nur für einen Augenblick im Profil ein fast kindliches Gesicht, dessen blonde Haare seine Ohren verdeckten.

Einige Tage später nimmt der Erzähler an ihm erneut die gleichen Details wahr, als er ihn während eines Spazierganges am Ufer des Starnberger Sees beobachtet – das kränkliche Aussehen, die Schwäche, die Zerbrechlichkeit: Der Knabe saß dem Alten gegenüber und presste seine mageren Knie gegen ihn. Er sah das Gesicht des Alten mit seinen aufgeheiterten Augen an. […] Ich beobachtete ihn von der Seite: Seine nach hinten gekämmten Haaren ließen ein kleines Ohr von feiner Kontur sehen, eine zarte Haut, die an den Schläfen feine blaue Äderchen durchschimmern ließ. Seine knochigen Hände, die leicht auf den Knien lagen, wurden von den warmen Strahlen der Sonne gebadet. Von Zeit zu Zeit machte er kurze Bemerkungen über die Bäume und das farbige Schillern in ihren Blättern. Er errötete jedes Mal lebhaft, wenn die Waldvögel, aus den Büschen auffliegend, sich über unsere Köpfe erhoben. Die Worte, die er sprach, drückten keine Ideen aus, sondern bestimmte flüchtige Empfindungen, die dem plötzlichen Anbranden einer Welle an einem klaren und ruhigen Tag ähnelten. […] Ich dachte an ihn, ohne zu wagen, diesen unfassbaren Charakter mit Hilfe von Worten zu erfassen, diese strahlende Schönheit, die in diesem jungen, noch zarten und schwächlichen Körper wohnte. Wer weiß, ob nicht sein ganzes Leben eine Art Illusion war: Er reist durch Europa, bewundert Kunstwerke, doch niemals und nirgendwo kommt er mit der nichtigen Hektik des Alltags in Konflikt. Er nimmt nicht an den Stürmen des täglichen Lebens teil, und es war schmerzlich, sich auch nur vorzustellen, was aus dieser unschuldigen Schönheit werden würde, wenn die tiefgründenden Lebenskräfte ihn verführen und in ihrem Kielwasser fortreißen würden. In diesem Jungen schien es keine Energie zu geben, die einen Konflikt mit sich selbst aushalten könnte, was ja das Schwierigste ist, oder auch mit den Umständen und äußeren Kräften. Das war eine Seele ohne Dialektik. Rein und heiter wie Schalmeienklang im Gebirge, unfähig zu kämpfen, musste sie schmelzen und sich auflösen in dem Augenblick, da sie sich schweren Prüfungen gegenübersehen würde.

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Dann folgt die Beschreibung eines Gewitters, das Volynskij wirklich erlebt hat und das er jahrelang in Erinnerung bewahrte: „Die Gewitterszene,“ steht im Buket [Der Blumenstrauß], „wie sie auf den ersten Seiten meines Buches dargestellt ist, hat ein wirkliches Unwetter auf dem Starnberger See zum Vorbild, während dessen ich mich an Bord eines Dampfschiffes in der Gesellschaft von Lou Andreas-Salomé, der Baronesse von Bülow und Rainer Maria Rilke befand.“ Und auch hier taucht das schon bekannte Porträt des jungen Mannes auf: Ich stand neben dem jungen Manne und bewunderte die entfesselten Elemente […], und unwillkürlich bemerkte ich, dass sein Gesicht bei jedem Donnerschlag erzitterte und seine Augen sich bei jedem Blitz nervös schlossen. Er erschien mir hilflos, erdrückt von äußeren Kräften, die in seiner Seele kein Echo fanden und auch auf keinen Instinkt trafen, der ihnen entsprochen hätte. Als der Alte, der sich ihm näherte, ihn umfasste, indem er einen Arm um seine Schultern legte, erinnerte er mich an ein Vogeljunges, das von dem mitfühlenden Flügel eines erwachsenen Vogels beschützt wurde.

Dieses von Volynskij entworfene Porträt des jungen Rilke lässt einen an die Erinnerungen anderer Zeitgenossen denken, die bei dem Dichter die gleichen Züge entdeckten, die gleiche Unfähigkeit, sich der Wirklichkeit zu stellen: „Ganz versunken in seine schöpferischen Gedanken“, erinnerte sich z. B. seine russische Freundin Sof’ja Šill, schaute er auf die Welt, vertrauensselig wie ein Kind. Unwillkürlich tauchte der Gedanke auf – wie wird er die wirklichen, groben Schläge des Lebens ertragen, die selbst die Starken zu Boden werfen. Eben aus diesem Grunde mochte man vor ihm, wie vor einem Kinde, nicht vom bösen Antlitz des menschlichen Daseins sprechen. So ging er wohl ohne Arg an den wahren menschlichen Tragödien vorüber, nichts ahnend vom Verderben, von stummen Leiden.34

Der ‚junge Mann‘ konnte den „menschlichen Tragödien“ nicht ausweichen, im Gegensatz zu dem, was der Erzähler gewollt hatte. Der Verlust, der ihn mit sich reißt, geht von einer geheimnisvollen Frau aus, die alle Charakteristika des ‚neuen Dämonismus‘ aufweist. In Volynskijs Buch offenbart sich die Mona Lisa als Prototyp dieser Frau – die Gioconda, deren Geheimnis der Autor nicht anders entschlüsseln kann, als es als „geniale Hässlichkeit“ zu bezeichnen: „eine Frau ohne Temperament, ohne inneres Feuer, leer in ihren Gefühlen, ohne die Kraft, eine heroische Eroberung zu machen, unfähig selbst zu einem

34

Sof’ja N. Schill: Aus den „Erinnerungen“. Zitiert nach Asadowski 1986, S. 447.

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wahren Verbrechen“. Die dritte „Skizze“ des Buches, betitelt La Gioconda35, ist ausschließlich den Reflexionen der Hauptfiguren über die Frauentypen Leonardo da Vincis, über „die alte und die neue Schönheit“, über die „Unvollkommenheit“ des berühmten Porträts gewidmet. Die vom ‚Alten Enthusiasten‘ an Leonardo da Vinci gerichteten Vorwürfe zielen im Wesentlichen auf die „Gottvergessenheit“ des Künstlers: Religiöse Empfindung war ihm unzugänglich. […] Und Leonardo da Vinci ist für immer verloren für den Bereich der religiösen Kunst, die allein in der Lage ist, die großen Erschütterungen des menschlichen Lebens auszuhalten, eine wirkliche geistige Revolution hervorzurufen.

Der junge Mann dagegen sieht in der Gioconda „die wirkliche neue Schönheit“. Diese Gedanken waren in dem, wie sie der Erzähler erspürt, mit seinen „tiefen Stimmungen“ und unheilvollen „Einflüssen verbunden“: Urplötzlich dachte ich, dass der junge Mann sich auf seiner einsamen Reise wirklich von einem dieser Einflüsse hatte verführen lassen, die sich wie Epidemien ausbreiten […]. Und ich hatte Angst um ihn: mit seinen schwachen Nerven, untauglich zu beherztem Kampf, empfänglich, wie er für den Zauber der Poesie war, und angesichts der Passivität seines unheilvoll hochgespannten Willens, wie konnte dieser junge Mann, ohne über den weiten wissenschaftlichen Horizont zu verfügen, der den Menschen der Renaissance eigen war, den Zustand betäubender Hypnose ertragen, den dieser ansteckende Dämonismus ausgelöst und der begonnen hatte, sich der Seelen von Generationen des Europa von heute zu bemächtigen?

Der Erzähler versteht schließlich, was mit dem Schüler des ‚Alten Enthusiasten‘ geschehen ist, als er auf dem Tisch in dessen Zimmer eine Photographie entdeckt: Sie zeigte ihn in Begleitung einer jungen Frau. Ich konnte die Züge eines unregelmäßigen, aber feinen Gesichtes erkennen, halbgeschlossene, kurzsichtige Augen, Lippen mit sanften Konturen und die kokette wie provozierende Art, in der ihr Kopf gedreht war. Die Frau hielt eine große, weiße Orchidee in der Hand. Der junge Mann stützte sich mit einer Hand auf die Rückenlehne des Sessels, in dem sie saß.

Wie sollte man in dieser Beschreibung nicht das Porträt von Lou AndreasSalomé erkennen? Das Bild mit dem „kokett und provozierend gedrehten Kopf“, das im Mai 1897 im Münchner Atelier „Elvira“ aufgenommen worden 35

Kapitel 5 („Die dämonische Kunst“).

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war, ist wohlbekannt.36 Hinzu kommt, dass Volynskij im Juni 1897 gerade dieses Bild mit Widmung zum Geschenk erhielt.37 Was nun den jungen Mann angeht, der sich auf die Rückenlehne des Sessels stützt, entnahm Volynskij dieses Detail wohl einem Bild, das in Wolfratshausen aufgenommen worden ist und ihn selbst an der Seite von Lou und Rilke zeigt.38 Die Figur dieser Frau symbolisiert in der Darstellung Volynskijs alles, was in seinen Augen an der zeitgenössischen Kultur inakzeptabel war: sinnliche Dämonie, Gottvergessenheit, dekadenten Geist. Die Liebesgeschichte zwischen Rilke und Lou, die sich vor seinen Augen abspielte, wurde von ihm bewusst als geistige Hinrichtung eines „reinen“ jungen Mannes angesehen, als Fall „in einen Abgrund“, dem dieser nicht mehr zu entrinnen vermochte: „Mein Junge war verliebt“, zog Volynskij in einem Brief des ‚Alten Enthusiasten‘, der den ersten Teil des Buches abschließt, die Bilanz dieser ‚Geschichte‘: […] und wenn Menschen, die wie er eine zarte Seele ohne Falsch haben, sich einem Gefühl hingeben, kann man mit Gewissheit davon ausgehen, dass dieses Gefühl sich ihrer endgültig und für immer bemächtigt […]. Es ist diese besondere Liebe, die Besitz von ihm ergriffen hat, diese Liebe, die eher einer toxischen Krankheit ähnelt, diese Liebe, die, ohne tragische Erschütterungen zu provozieren, die Seele nach und nach zerfrisst, wie ein Wurm. Als ich die Werke Leonardo da Vincis analysierte, bemerkte ich mit einer außergewöhnlichen Aufwallung, was, so schien es mir, in seinen graphischen Arbeiten und seinen Farben dieses schreckliche Gift der inneren Verdoppelung und Auflösung enthält. Plötzlich und deutlich wie nie zuvor erschien er mir in seiner subtilen und versteckten, aber mächtigen Bösartigkeit. Die moderne Aufklärung hat uns, durch das enge Tor spezialisierter Forschungen, über die weite Bewegung der vergangenen Epochen erleuchtet. Ich habe die Züge der Mona Lisa in der Gestalt der jungen Frau wiedererkannt, die mir meinen einzigen Trost raubte. Vielleicht liebt sie meinen Jungen ja – ich weiß es nicht, doch sie hatte genug Kraft, sich diese gute und reine Seele völlig zu unterwerfen. […] Er gestand mir unter Tränen, in denen sich Trauer und Ekstase mischten, dass er geschworen hatte, nur für sie zu leben und mit ihr zu sterben, wenn die Stunde ihres Todes gekommen sei. Er hatte mit seinem halb kindlichen Idealismus auf die raffinierte und kokette Forderung einer Frau geantwortet, die ihn verhext hatte und selbst 36 37

38

„[…] Die bekannteste Aufnahme von Lou Andreas-Salomé […]“ (Ursula Welsch und Michaela Wiesner: Lou Andreas-Salomé. Vom „Lebensurgrund“ zur Psychoanalyse. München, Wien 1990, S. 135). Es befindet sich gegenwärtig im Museum des Instituts für russische Literatur (PuschkinHaus) der Russischen Akademie der Wissenschaften (St. Petersburg). Das Photo trägt die Unterschrift: „Liolia“ (wie Lou Andreas-Salomé in ihrem eng vertrauten Kreis genannt wurde). Vgl. dazu Schnack 1973, S.  72. Volynskij wird auf diesem Photo als „ein junger Russe“ bezeichnet. Rilke „stützt“ sich allerdings nicht auf die Rückenlehne, sondern steht neben der im Sessel sitzenden Lou und sieht sie an.

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Geschichten und Geheimnisse des „Alten Enthusiasten“ kränklich, ja sogar gefährlich krank war. Und natürlich hielt er sein Versprechen […]. Was für sie – deren Gefühle die Krankhaftigkeit und das Übel der gegenwärtigen Epoche ausdrückten – nur eine raffinierte und bösartige Laune war, musste für ihn zum intensivsten Ausdruck seiner angeborenen moralischen und ästhetischen Kräfte werden […]. Und ich habe den Jungen hierher, nach Berlin, gebracht; ich habe sie gesehen, ich habe mit ihr gesprochen, und ich habe diesen Charakter schließlich verstanden; diese Geisteshaltung, vollkommen verdorben durch die giftigen Ausdünstungen eines alles verzehrenden Dämonismus, der im tiefsitzenden krankhaften Zustand ihrer Person wurzelte. Und davon war ich um so mehr überzeugt, als mein Junge für eine neue und wagemutige Freiheit hielt, was nur die offensichtliche Zersetzung einer Seele ohne innere Schönheit, ohne Gesundheit, ohne diese zarte und menschliche Wahrheit ist. Welches Entsetzen! […] Mein Junge wird vermutlich mit ihr sterben, er wird sterben, weil seine Seele nicht zur Täuschung fähig ist, und sein reiner und unerfahrener Geist hat einen schwerwiegenden Fehler begangen, als er schändliche Raubgier mit dem Sieg der Kühnheit über den beschränkten Geist der kleinen Leute verwechselte.

Also: ein junger Mann, angezogen von den wahren moralischen und ästhetischen Prinzipien (die in der Figur des ‚Alten Enthusiasten‘ verkörpert werden), wird zum Opfer einer von den Giften der modernen Kultur verdorbenen Schülerin Nietzsches. Gesprächen über Nietzsche selbst gewährte Volynskij in seinem Buch nur einen bescheidenen Raum, doch auf der ideellen Ebene spielt Nietzsche eine extrem wichtige Rolle. Während seiner Begegnung mit Lou Andreas-Salomé interessierte sich Volynskij lebhaft für ihre Meinungen und Einschätzungen zu dem deutschen Philosophen: „Die Bekanntschaft mit Lou Andreas-Salomé“, behauptete er im Buket [Der Blumenstrauß], hat mir eine Fülle von wertvollen Einsichten in das ‚Phänomen Nietzsche‘ beschert. Ich erhielt die Möglichkeit, einige Briefe von Nietzsche an sie durchzulesen, alle durchdrungen von einer tiefen und heißen Liebe […]. Diese Liebe war nicht nur hoffnungslos, sondern auch unerträglich, denn sie loderte in eben den Jahren auf, als Nietzsche bereits in den Nebeln des Verrücktseins versank. Lou Andreas-Salomé erzählte mir viele Geschichten aus dem Leben Nietzsches, in denen sie ihn als einen Geistesgiganten schilderte, zugleich aber auch als einen einfachen und aufrichtigen Menschen. Er vertrug keine Polemik, keinen Streit, ja nicht einmal eine andere Meinung. Aber bei all seiner fanatischen Hingabe an seine Ideen unterwarf sich der Denker der geliebten Frau mit der Sanftmut eines Lammes.

Als Volynskij Wolfratshausen in Richtung Russland verließ, nahm er ein Bündel von Briefen Nietzsches an Lou Andreas-Salomé mit. Der Nachlass Volynskijs enthielt einige Kopien dieser Briefe, aus denen er ohne Nennung des Adressaten (also ohne Lou Andreas-Salomés Namen) Auszüge in seinem Aufsatz Chto

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takoe idealism? [Was ist Idealismus?] zitierte: „Vor einigen Jahren“, schrieb Volynskij, hatte ich Gelegenheit, eine kostbare Partie von Briefen kennenlernen zu dürfen, die Nietzsche an verschiedene Personen geschrieben hatte. Sie wurden mir in München von einem der Briefpartner des Philosophen überreicht, und als ich ihm gegenüber bemerkte, dass ein genaues psychologisches Studium dieser wertvollen Dokumente ziemlich viel Zeit beanspruchen würde, schlug er mir bereitwillig vor, dass ich sie mit nach St. Petersburg nehmen könne. Der außerordentlichen Liebenswürdigkeit dieses Menschen und seinen nicht weniger liebenswürdigen Erzählungen verdanke ich einige meiner Bemerkungen über den Charakter Nietzsches.39

Volynskij hat Lou die Briefe Nietzsches später wieder zurückgegeben, nachdem er Kopien von ihnen angefertigt hatte. Die Gespräche mit ihr wie auch die erwähnten Briefe haben sein Buch über Leonardo beeinflusst, dessen in einiger Hinsicht anti-nietzscheanische Tendenz Volynskijs damaligen Einstellungen entspricht, wenn auch seine Haltung gegenüber Nietzsche sehr komplex war. In seinen Augen stehen sich Leonardo da Vinci und Nietzsche sehr nahe, da sie zwei große ‚Dekadente‘ der alten wie der neuen Renaissance seien, genau wie Leonardos „Mona Lisa“ als Urbild von Lou Andreas-Salomé verstanden wird: „Während meiner Reisen durch Deutschland“, berichtet der Erzähler in der zweiten Skizze (Kapitel 4) des Leonardo-Buches, hatte ich Gelegenheit, die Bekanntschaft von Menschen zu machen, die ihn noch persönlich gekannt haben, und aufmerksam seine reichhaltige Korrespondenz mit zwei noch lebenden Schriftstellern zu lesen40 – diese Korrespondenz wurde noch nicht veröffentlicht. Ich habe über Nietzsche nachgedacht […]. Ich habe überzeugte Nietzscheaner kennengelernt, die jede Art von Einwand gegen das System des Meisters übel aufnahmen. Wenn man etwa mit Bedauern feststellt, dass die Krankheit die Entwicklung seiner intellektuellen Aktivität gehemmt hat, verwirrt das seine Jünger, die jede Erwähnung dieses Umstandes als Verbrechen ansehen. Da auch heute noch einige seiner Bekannten und derjenigen Menschen, die in persönlicher Beziehung zu ihm standen, am Leben sind, ist 39

40

In: Volynskij 1904, S. XLIX. Erhalten ist ein Entwurf zu diesem Aufsatz mit dem Datum: „Berlin, August 1904“ (RO IRLI. Bestand 673. Nr. 1). Die Bemerkungen über den Charakter Nietzsches sind eigentlich das Porträt, das Volynskij in seinem Artikel von Nietzsche entwarf: „Welch charmante Erscheinung, trotz all ihrer Unvollkommenheiten, trotz all der kränklichen Elemente! Es ist eine Art versöhnendes Opfer gegenüber der Zukunft, vor dem Übermenschen. Im Leben war Nietzsche sanft, diskret, leicht zum Mitleid gerührt. Seine Korrespondenz, ob veröffentlicht oder unveröffentlicht, von der ich einen Teil lesen durfte, ist voller dichterischen Schwungs, von einer traurigen Melodie, die das Herz der Leser beklommen macht.“ (S. XLIX) Gemeint sind hier offensichtlich L. Andreas-Salomé und der Philosoph Paul Rée.

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Geschichten und Geheimnisse des „Alten Enthusiasten“ es möglich, sein Bild von unerwünschten und überflüssigen Übertreibungen zu befreien, in dem einen oder anderen Sinn. Er war ein kränklicher, kurzsichtiger Mann, er hatte fein geschnittene Lippen, schmale und weichliche Finger und zarte, kleine Ohren. Er sprach mit einer sanften Stimme, doch seine bildhafte Sprache und das plötzliche Aufblitzen seines genialen Geistes hinterließen einen unauslöschlichen Eindruck. Es war schwierig, mit ihm zu debattieren. Da er leicht zu irritieren war und gelegentlich eine aggressive Intoleranz an den Tag legte, liebte Nietzsche es nicht, sich Einwänden gegenüberzusehen. Er hatte schon seit einiger Zeit geschrieben, ohne jedoch die geistigen Grundeinstellungen entdeckt zu haben, die später von seinem ganzen Wesen Besitz ergreifen sollten. Als endlich die ersten Züge seiner dämonischen Philosophie in ihm zu keimen begannen, sprach er seinen Freunden gegenüber von einem großen Geheimnis, dessen Bewahrer er sei. Ganz allgemein liebte er es, seine Worte und Handlungen mit dem Nimbus des Geheimnisvollen zu umgeben. Der Wahnsinn rückte mit großen Schritten voran, und Nietzsche erfand, die drohende Katastrophe vorausahnend, imaginäre Rechtfertigungen für seine Nervenkrankheit. Er sagte, dass dieser kranke Nietzsche, dieser reale Nietzsche nichts sei als ein Körnchen, das sich zersetzt, um einem neuen Wesen Leben zu geben, einem „Über-Nietzsche“. Dieser „Über-Nietzsche“ schälte sich aus den Nebeln seines geistigen Lebens. Sprach er von bestimmten Ideen, die später Eingang in den Zarathustra finden sollten, so gab er sich als Erzähler, der von seinen eigenen Träumen überrascht war. Er hatte seltsame, warnende Träume, die viel bedeutsamer waren als sein prosaisches Leben mit den Krankheiten und den Reisen in die Bäder-Städte. Eines Tages, gegen Ende seiner literarischen Produktivität, tanzte er auf einem freien Platz voller Menschen. Es schien ihm, als tanze hier der befreite „Über-Nietzsche“ […]. Ich habe seinen Geisteszustand dem Alten [dem ‚Alten Enthusiasten‘] dargelegt. Er wechselte in nur einem Augenblick die Gesichtsfarbe, blieb stehen und sagte mit zitternder Stimme: ‚Sprechen Sie mir nicht von Nietzsche. Er erschüttert mich, ich habe das Mysterium seines Wesens noch nicht völlig erhellt. Das ist die schmerzhafteste Frage der modernen Zivilisation‘.41

Der ‚Alte Enthusiast‘ – das alter ego Volynskijs – macht sich hier zum Sprachrohr der tiefsten Gedankengänge des Autors. Gegen Leonardo da Vinci als den Vater des modernen Nietzscheanismus gewendet, richteten sich diese Überlegungen Volynskijs vor allem gegen die Nietzsche-Anhänger seiner Zeit, in erster Linie gegen Merežkovskij, der damals die von Nietzsche übernommene Theorie einer ‚neuen Renaissance‘ vertrat. Das Buch Volynskijs wandte sich 41

Einzelne ins Deutsche übersetzte Fragmente aus Severnyj vestnik sind 2020 veröffentlicht worden (Ebneter, Curdin; Unglaub, Erich (2020): Akim Volynskij: Erkundungen zu Leonardo da Vinci. In: Rilke in Bremen. Prager Erzählungen. Im Auftrag der RilkeGesellschaft, Hg. Torsten Hoffmann, Jӧrg Paulus und Erich Unglaub. Gӧttingen, S. 217– 231 (= Blätter der Rilke-Gesellschaft. Bd. 35). Der Übersetzung folgt der Aufsatz: Curdin Ebneter, Erich Unglaub: Rainer Maria Rilke als Kunstfigur bei Akim Volynskij (1897). In: Ebenda, S. 236–251).

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zudem gegen die ‚Gottsuche‘, für die sich die Merežkovkijs begeisterten. Außerdem kann man annehmen, dass Volynskij in Lou Andreas-Salomé („kokett“ und „affektiert“) ein Naturell erkannte, das teilweise Zinaida Gippius ähnelte. Jedenfalls wurde Leonardo da Vinci als Polemik gegen die Dekadenz geschrieben, die der Kritiker vom Standpunkt der ‚klassischen Kultur‘ und des ‚christlichen Idealismus‘ aus entlarven wollte. Im Namen dieses seines ‚edlen‘ Zieles verschonte Volynskij weder Lou noch die anderen Bewohner des Hauses „Loufried“, die ihm beste Absichten bezeugt hatten und von denen er einen ganzen Monat lang gastfreundlich aufgenommen worden war. Das eher seltsame Verhalten Volynskijs kann natürlich nur verwirren. Was waren seine Beweggründe? Und was hat ihn dazu getrieben, Lou AndreasSalomé und ihre Beziehung zu Rilke so subjektiv und sogar grotesk darzustellen? Einerseits lagen solche ‚künstlerischen Verfahrensweisen‘ ganz allgemein in Volynskijs Art, der sowohl in der Literatur wie im Leben ohne Rücksicht auf die Umstände zum willkürlichen Urteilen neigte und immer bereit war, sich rasch mit anderen zu überwerfen. Der Kritiker Arkadij Gornfel’d nannte ihn einen „Menschen der Abstraktion, der unfähig war, den konkreten Aspekt der Dinge zu erfassen oder auch nur verstehen zu wollen, der nur gemäß seiner eigenen Vorstellung lebte, in der wie bei einer mechanischen Folgerung das Wesentliche aus sich selbst hervorging.“42 Es ist wohl möglich, dass Volynskij auch in diesem Fall ohne böse Absicht ganz einfach auf ihm zu jener Zeit nahestehende Personen zurückgegriffen und sie zu Prototypen seiner Protagonisten geformt hat. Andererseits lässt die Beziehung von Volynskij und Lou AndreasSalomé von Anfang an ein gewisses ‚Geheimnis‘ ahnen, das durch die unausgesprochenen Hintergedanken, die Buket [Der Blumenstrauß] birgt, verdichtet wird. Volynskij bemerkte beispielsweise, als er über den Frauentyp reflektierte, den Lou Andreas-Salomé repräsentiere, dass sie dazu neigte, aus den Diskussionen, die sie miteinander führten, siegreich hervorzugehen. Diese Frau darf man nicht zu überzeugen versuchen, sondern muss ihren Willen beugen, was allerdings eine erhebliche Mühe darstellt. Die Belagerung einer solchen Festung ist immer langwierig.

Eine endgültige Antwort auf die Frage nach der Art der Beziehung von Volynskij zu Lou Andreas-Salomé kann nicht gegeben werden; die Antwort muss im Bereich der Vermutungen bleiben und kann nur hypothetisch ausfallen. War es wirklich nötig, Lous „Willen zu beugen“ und „diese Festung zu belagern“? – Das ist schwer zu sagen. Erinnern wir uns nur daran, dass die Beziehung zwischen 42

Gornfel’d 1928, S. 35.

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Volynskij und Lou Andreas-Salomé in der Liebesbeziehung, die Volynskij damals schon einige Jahre mit Zinaida Gippius verband und die sich 1897 ihrem Ende zuneigte, als Folie eine Parallele hatte.43 Außerdem kann man nicht gänzlich ausschließen, dass Erwägungen anderer Art Volynskij beeinflusst haben könnten: War es eine seit Petersburg empfundene Anziehungskraft, die Lou auf ihn ausstrahlte? Oder war es ein ‚Gefühl‘, das nicht erwidert wurde? War es vielleicht Unwillen oder Eifersucht gegenüber einem jungen und glücklicheren Rivalen? Oder auch, was gleichfalls möglich wäre, das Verlangen, sich an einer wankelmütigen ‚Dekadentin‘ zu ‚rächen‘?44 * Die weitere Entwicklung der Beziehungen zwischen Volynskij und Lou Andreas-Salomé bestätigt, dass ein ebenso literarischer wie persönlicher Konflikt tatsächlich existierte. Ihre Zusammenarbeit setzte sich bis Ende 1897/ Anfang 1898 fort. Lou Andreas-Salomés Name findet sich in der Zusammenfassung von Heft 10 (1897), die die Namen der Autoren nennt, die voraussichtlich im folgenden Jahrgang des Severnyj vestnik (1898) mitarbeiten werden. Und wirklich erschienen Ende 1897 und in den ersten Nummern des Jahres 1898 einige ihrer Artikel in der Übersetzung  S.  Špil’bergs.45 Zwischen dem 11. und 17. November  1897 war Lou Andreas-Salomé noch damit beschäftigt, den Artikel Aus der Geschichte Gottes zu redigieren, der ebenfalls für Volynskij 43

Siehe Rabinowitz 1991. Siehe auch Evstignееva, Puškarëva 1993. (Der Artikel umfasst 99 Briefe von Gippius und deckt besonders die Jahre 1891–1897 ab; ein Brief ist aus dem Jahr 1916.) Volynskij ist auch Gippius’ berühmtes Gedicht „Ein einziges Mal schäumt die Welle …“ gewidmet, eines der Meisterwerke der lyrischen Dichtkunst Russlands. Dieser Text wurde zuerst, noch ohne Widmung, im Severnyj vestnik veröffentlicht (1896, Heft 12) und 1919 von Rilke ins Deutsche übersetzt („Liebe ist nur Eine  …“). Es findet sich im 7. Band der Sämtlichen Werke Rilkes, der die Übertragungen enthält (Frankfurt a. M. 1997). Kennzeichnend in diesem Kontext ist auch die Reaktion Lou Andreas-Salomés auf den Namen von Zinaida Gippius. Der Literaturforscher und Bibliograph Semën Vengerov, der sich mit Lou im Frühjahr 1897 in St. Petersburg traf, teilt mit: „Als ich ihr [= Lou Andreas-Salomé] erzählte, Mereschkowskij wünsche sehnlich ihre Bekanntschaft zu machen (er hatte mich dringend gebeten, diese zu vermitteln), erklärte sie sich sofort freudig bereit; als ich ihr jedoch sagte, seine Frau [= die Gattin von Merežkovskij] sei schön und werde von Männern umschwärmt, zuckte etwas in ihrem Gesicht und – sie fuhr, statt zu Mereschkowskij, nach Berlin.“ (Fiedler 1996, S. 229). 44 In den literarischen Kreisen der Hauptstadt sprach man offen von Volynskijs nachtragendem Charakter. Vgl. zum Beispiel das Urteil des Schriftstellers  A.  M.  Fedorov (1868–1949) von 1897: „[…] und er [= Volynskij] erwies sich als tückischer, rachsüchtiger Mensch.“ (Fiedler 1996, S. 226). 45 Andreas-Salomé 1897b; Andreas-Salomé 1898c; für weitere Titel siehe Anm. 20.

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bestimmt war (dieser Artikel wurde jedoch nicht veröffentlicht).46 Danach wurde Volynskij weder im Tagebuch noch in den Notizbüchern Lou AndreasSalomés mehr erwähnt. Offensichtlich war Folgendes geschehen: Nachdem Lou Andreas-Salomé in den Heften  11 und 12 des Jahrgangs 1897 Volynskijs Leonardo-„Skizzen“ gelesen hatte, erkannte sie die ‚Unverschämtheit‘ ihres russischen Freundes, der sie in seinem Buch in einem wenig wohlwollenden Licht erscheinen ließ. Man kann annehmen, dass gerade dies den Abbruch ihrer Beziehungen auslöste und nicht etwa ein Konflikt über die Erzählung Amor. Auf jeden Fall haben sich weder Lou Andreas-Salomé noch Rilke mit Volynskij getroffen, als sie im Mai 1899 St. Petersburg besuchten. (Das gilt auch für ihren zweiten Besuch in Russland im Jahre 1900.) Dennoch erkundigte sich Lou, wie man den Notizen Fiedlers für die Zeit zwischen dem 11. und 24. Mai 1899 entnehmen kann, nach Volynskijs Privatadresse (der Severnyj vestnik hatte sein Erscheinen bereits eingestellt). Fiedler entgegnete ihr, dass er die Adresse nicht kenne, da Volynskij „der bestgehaßte Mann im literarischen Petersburg“ sei. Darauf antwortete sie „eifrig protestierend“: „Wie alle bedeutenden Männer … Seine Russischen Kritiker habe ich mit hohem Genuß gelesen“.47 Die Tatsache, dass Lou Andreas-Salomé die Adresse Volynskijs im Frühjahr 1899 nicht kannte, beweist, dass ihr Briefkontakt zu diesem Zeitpunkt bereits abgebrochen war. Jahre später sprach Lou Andreas-Salomé, wenn sie sich an den Gast in Wolfratshausen erinnerte, bei dem sie im Sommer 1897 „Russisch-Unterricht“ genommen hatte, in einem gereizten und schneidenden Tonfall von ihm und vermied dabei die Nennung seines Namens – „unguten Andenkens“.48 Volynskij seinerseits sprach immer mit einer zurückhaltenden Achtung von Lou Andreas-Salomé. So bekannte er 1923, als er sich daran erinnerte, wie Anfang 1900 in der deutschen Presse Informationen über sein Buch verbreitet wurden, dass er „zwei deutschen Schriftstellern dabei sehr verbunden sei: dem Publizisten und Übersetzer Josef Melnik,49 der auch in den literarischen 46 47 48 49

Binion 1968, S. 567. Fiedler 1996, S. 256. Andreas-Salomé 1968, S. 114. Osip (Josef) Mel’nik, (1880–1931), war Journalist. Gegen Ende des ersten Jahrzehnts des 20. Jahrhunderts arbeitete er für eine Reihe deutscher Zeitungen und Verlage (insbesondere für das Berliner Tageblatt). Im Jahre 1908 gab er in Berlin die Zeitschrift Neuland heraus, die „der geistigen und wirtschaftlichen Kultur Rußlands“ gewidmet war. (Es erschienen nur drei Hefte.) Er übersetzte die Werke Volynskijs ins Deutsche, unter anderem auch den Leonardo da Vinci (1908–1909, für den Berliner Verlag Hans Bondi; das Buch wurde jedoch nie veröffentlicht). Die Beziehungen Volynskijs zu deutschen

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Kreisen St. Petersburgs bekannt war, und der berühmten Lou Andreas-Salomé, der Freundin und ersten Biographin Nietzsches“.50 Diese Versicherung Volynskijs macht ziemlich ratlos: Unter den Texten von Lou Andreas-Salomé gibt es, soweit bekannt, keinen einzigen, der sich mit Leonardo da Vinci beschäftigen würde; desgleichen gibt es keinerlei Beweise dafür, dass sie irgendwie zur Popularität des Buches in Deutschland beigetragen habe. 1923 entwickelte Volynskij die Idee zu einer Artikelserie über einige außergewöhnliche Frauen, die er im Laufe seines Lebens kennengelernt hatte. Bei dem Versuch, gewisse Ordnungskriterien für die Darstellung so vielschichtiger Frauengestalten zu formulieren, sprach er in dem ersten Essay über Lou Andreas-Salomé: Ich habe Frauen in Italien gesehen, ich habe ihre Bekanntschaft in Paris gemacht. Ich habe auch intime Freundinnen in Deutschland gehabt, wie zum Beispiel Lou Andreas-Salomé, Objekt der sinnlichen Leidenschaft Nietzsches und seine erste Biographin in Europa. Ich habe Frauen in London und in Konstantinopel gekannt.51

In diesem Zitat lässt das Wort „intim“ aufmerken. In einer der Varianten dieses Artikels sah sich Volynskij genötigt, es durch „wahr“ zu ersetzen.52 Der zweite Artikel handelte von Ljubov’ Gurevič, der dritte von Zinaida Gippius und der vierte von Ida Rubinštejn. Es ist wahrscheinlich, dass Volynskij die Absicht hatte, ein Buch unter dem Titel Russische Frauen vorzubereiten und zu veröffentlichen.53 Alle Frauen in diesen Artikeln von 1923 sind für Volynskij weniger Objekte seiner Erinnerung als Auslöser von Reflexionen. Er versuchte, in jeder von ihnen die „Druidin“ oder die „Liebelei“ zu entdecken, entweder den „proto-arischen“ oder den „neo-arischen“ Typ zu erkennen, die Unterschiede zwischen der russischen und der westeuropäischen Frau zu markieren und so weiter. Die Typologie siegte in diesen Essays über die persönlichen Erinnerungen oder Gefühle des Autors. Man muss allerdings unterstreichen, dass Volynskij keinerlei Abrechnung anstellte und seine Beziehungen mit denjenigen von ihnen, die ihm einige Zeit nahestanden, – wie etwa Ljubov’

50 51 52 53

Schriftstellern, Wissenschaftlern, Malern und Verlegern (Stefan Zweig, Johannes Schlaf, Otto Weininger, Efraim M. Lilien, Reinhard Piper und anderen) stellen ein eigenes Thema dar. Volynskij 1923, S. 11. Žisn’ iskusstva [Das Leben der Kunst], 1923, Nr. 46 vom 21. November 1923, S. 16–17. Vgl. Minuvšee. Istoričeskij al’manach [Vergangenes. Historischer Almanach]. [Bd.]  17, S. 243. Alle Essays der Serie Russische Frauen wurden von L. A. Evstigneeva in dem Almanach Minuvšee. Istoričeskij al’manach [Vergangenes. Historischer Almanach] veröffentlicht.

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Gurevič, Zinaida Gippius oder Ida Rubinštejn, die er sich sogar als Lebensgefährtin gewünscht hatte –, nicht auf der Ebene des Unausgesprochenen behandelte. Es ist also nur natürlich, dass die Ausführungen, die Lou AndreasSalomé betreffen, 1923 gelassen, lakonisch, ‚distanziert‘ erschienen. Als Literaturkritiker überlebte Volynskij seine Epoche. Nach dem Verschwinden des Severnyj vestnik ging er auf Distanz zum ‚Idealismus‘ und schrieb hauptsächlich über Theater und Ballett, hielt in verschiedenen Städten Vorlesungen (besonders über Dostoevskij) und erlangte darin nach und nach eine gewisse Berühmtheit: „Er war fremdartig, unfähig zu handeln und oft bemitleidenswert“, erinnerte sich Boris Ėjchenbaum an Volynskij, doch seine Rede verblüffte durch ihre schwer zu verstehende exotische Leidenschaftlichkeit, die die eines Juden aus dem Alten Testament war, der alle Zeitalter und Zivilisationen allein vermittels der völlig verkopften Leidenschaftlichkeit eines ‚ewigen Juden‘ durchquert hatte.54

Während seiner letzten Lebensjahre arbeitete Volynskij an einem Buch über Rembrandt. Ihm blieb jedoch nicht mehr die Zeit, es zu veröffentlichen. Dennoch ist er als „ein Mann vom großen Zorn“ (so nannte ihn die Schauspielerin Marija Savina), der die Demokraten und die falschen Symbolisten heftig bloßstellte, in die russische Literaturgeschichte eingegangen, wurde aber auch als Verfasser des Buches über Leonardo bekannt. Volynskij hinterließ bei seinem Tod eine beachtliche Menge von Archiv-Unterlagen, darunter auch die Briefe der „Russischen Frauen“, der Protagonistinnen seiner Essays von 1923: L.  Gurevič, Z.  Gippius, I.  Rubinštejn und anderer. Dennoch findet sich dort kein einziger Brief von Lou Andreas-Salomé55 oder auch nur eine Spur ihrer Zusammenarbeit und Kontakte im Jahre 1897. Wie kann man das erklären? Was hat Volynskij dazu bewogen, diese Dokumente zu verheimlichen (oder vielleicht zu vernichten)? Ob sie sich doch noch eines Tages finden werden? Darin liegt das letzte Rätsel, das der ‚Alte Enthusiast‘ uns hinterlassen hat, als habe er sich entschlossen, der Nachwelt gewisse Umstände und Einzelheiten seiner Beziehung zu Lou Andreas-Salomé nicht zu verraten. 

54 55

Aus dem Franzӧsischen übersetzt von Sabine Schmidt

Ėjchenbaum 1928, S. 45. Dass diese Briefe wirklich existierten, wird von Volynskij (im Buket) selbst bestätigt: „Ich möchte auf die Geschichte meiner Beziehungen und meines Briefwechsels mit dieser Schriftstellerin nicht näher eingehen.“

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Geschichten und Geheimnisse des „Alten Enthusiasten“

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Geschichten und Geheimnisse des „Alten Enthusiasten“

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Blick ins Chaos

Hermann Hesse über Dostoevskij und Russland

„Meine Bücher führen den Leser, wenn er willig ist, bis dahin, wo er hinter den Idealen und Moralen unserer Zeit das Chaos sieht.“  Hermann Hesse1

Angesichts der allgemeinen Begeisterung für Russland und die russische Literatur, die in Deutschland am Ende des neunzehnten und zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts herrschte, macht Hermann Hesse auf den ersten Blick den Eindruck eines unbeteiligten, allerdings durchaus informierten Beobachters. Der bekannte deutsche Schriftsteller und Humanist Hermann Hesse, der sich 1912 endgültig in der Schweiz niedergelassen hatte und 1924 die Schweizer Staatsbürgerschaft annahm, ist nie in Russland gewesen und hat auch keine besonderen Interessen für die revolutionären Umwälzungen in diesem Land bewiesen. Er hat auch nicht die maßlose Begeisterung für die russische Literatur oder Russland in seiner Gesamtheit an den Tag gelegt, der man bis heute im Westen begegnet. Unter seinen engen Freunden, Bekannten und Korrespondenten wird man kaum auf Russen oder aus Russland stammende Personen stoßen. Jedoch belegen Hesses Werke, seine Essays und Briefe, dass ihn das „russische Thema“ immer wieder beschäftigt hat und dass die russische Literatur, vor allem Dostoevskij, ihm nicht nur bekannt gewesen ist, sondern auch seine Aufmerksamkeit auf sich gezogen hat.

* Erstveröffentlichung in: Deutschland und die russische Revolution 1917–1924. Hg. von Gerd Koenen und Lew Kopelew. München 1998, S. 503–526 (= West-östliche Spiegelungen. Wuppertaler Projekt zur Erforschung der Geschichte deutsch-russischer Fremdenbilder unter der Leitung von Lew Kopelew. Reihe A, Bd. 5). Gekürzt in: Vsemirnoe slovo / Lettre internationale: Meždunarodnyj žurnal (SPb.), 1999, Nr. 12, S. 12–18). Wieder in: Germanija i russkaja revoljucija 1917–1924. Izdanie G. Kёnena i L. Kopeleva. Perevod s nemeckogo pod redakciei Ja. Drabkina. Moskva, 2007, S. 473–496. Wieder in: Konstantin Azadovskij: Sjužety i sud’by: Nemecko-russkie otraženija [Themen und Schicksale: Deutsch-russische Spiegelungen]. Moskva, 2019, S. 187–214. 1 Hesse 1979, S. 200 (Brief an einen unbekannten Adressaten vom 17. Oktober 1928).

© Brill Fink, 2022 | doi:10.30965/9783846766767_011

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1.

Frühe Bekanntschaft mit der russischen Literatur

Hesse war mit Russland durch Familienbande verknüpft: Seine Vorfahren väterlicherseits waren russische Untertanen gewesen.2 Bereits als junger Mensch wendet er sich der russischen Literatur zu. In den Briefen an die Eltern aus den Jahren 1891–1892 findet sich der Name Ivan Turgenevs; er ist der erste russische Schriftsteller, den Hesse zu dieser Zeit für sich entdeckt. Mit Interesse liest er Turgenevs Roman Rauch (oder Dunst in anderer Übersetzung), der ihm für lange Zeit im Gedächtnis bleiben wird. Die Werke der russischen Autoren, Ibsens, Zolas und anderer Schriftsteller betrachtet er im Geist dieser Zeit als Gegengewicht zur klassischen deutschen Literatur. 1895 bekennt er dem Freund Theodor Rümelin: „Ich bin bekehrt zum Glauben an das Schöne, an Goethe, Schiller, an die Antike, ich habe aufgehört, Ibsen und Turgenjew zu verehren.“3 Ebenfalls gegenüber Rümelin spricht er in einem der folgenden Briefe von seiner Enttäuschung angesichts der modernen „Realisten“ (Hesse meint Autoren wie Michael Conrad, Karl Bleibtreu, Hermann Sudermann und andere). Er wirft ihnen Mangel an „Farbenzauber“ vor, der seiner Meinung nach die „Klassiker“ Tizian, Rubens, Goethe und Uhland auszeichnet, und stellt ihnen die „modischen“ russischen Autoren zur Seite; vor allem erwähnt er Gogol’, von dem es im Übrigen heißt, „er könne gut schreiben“. Sein Verhältnis zu Turgenev ist widersprüchlich. Ich liebe diese modernen Slaven nicht, Turgenjew etwa ausgenommen, von dem ich acht bis zehn Bücher gelesen – seit Puschkin und Lermontoff haben die Russen nichts wirklich Großes mehr, nur pessimistisch-nihilistischen Naturalismus, der z. B. in Turgenjews Die neue Generation recht widerlich wird. Geschickt geschrieben ist Turgenjews Roman Väter und Söhne, das Buch, in dem das von Turg. geschaffene Wort „Nihilist“ zum I. mal vorkommt, weshalb Turg. „Der Vater der Nihilisten“ heißt. Eigentlich sollte der Roman ‚Weder Väter noch Söhne‘ heißen, es sind widerliche, wie auch großartig geschilderte Charaktere, besonders der Nihilist Basaroff ist eine keck entworfene Gestalt. Der Roman Dunst von Turgenjew hat mir am besten gefallen, ähnlich sind die Frühlingswogen, von T.’s kleineren Sachen gefielen mir fast nur Ein König Lear der Steppe und einige der Gedichte in Prosa. Turgenjew ist ein Schriftsteller, von dem ganz Europa weiß, an Bedeutung hoch über all unsern Dahn, Ebers, Eckstein und ähnl. stehend, trotz des grauen Grundes ein wohlwollender, edler Charakter. Er hat seine Studien des Volkslebens in Rußland selbst, seine Studien über die feine und feinste Welt in Petersburg, Baden-Baden, Paris etc. gemacht und [be] 2 „Ich bin aber der Sohn eines Balten, der bei meiner Geburt noch russischer Untertan war, der aber für sich und seine Familie vor 50 Jahren (kurz nach 1880) das Schweizer und Basler Bürgerrecht erwarb.“ (Hesse 1964, S. 153. Brief an den Verlag S. Fischer vom 9. Februar 1936.) Vgl. auch Hesses Brief an Peter Suhrkamp vom 17. Dezember 1941. In: Hesse 1982, S. 194. Hesse war von 1890 bis 1924 als deutscher (württembergischer) Untertan registriert. 3 Zit. nach: Hesse 1996, S. 450 (Brief vom 17. April 1895).

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schreibt stets Personen, Schicksale, Situationen, Stimmungen, Anschauungen, die er genau kennt und tief auffaßt. Für den Literaturforscher ist es wichtig, ihn zu kennen.4

Einen Monat später kommt er erneut auf die „slawische Richtung in unserer Literatur“ zu sprechen, die seiner Meinung nach „tiefer eingreifend, weltbedeutender, wichtiger, als die ganze romantische Schule“ ist. Skeptisch fällt sein Urteil über die zeitgenössischen Romanciers Freytag, Eckstein und andere aus; in diesem Zusammenhang stellt er ihnen erneut Turgenev gegenüber („ein Schriftsteller erster Größe“, „eine edle, erhabene Natur“) und kommt zu dem eindeutigen Schluß: „Ich stehe zur alten Partei gegen die neue“ (womit er die klassische und die naturalistische Schule meint).5 Es ist aufschlussreich, dass Hesse in diesem Brief versucht, Übereinstimmung und Differenz zwischen deutschem und romanischem, skandinavischem und slawischem Nationaltypus unter dem Gesichtspunkt ihrer literarischen Gestaltung zu formulieren. Zur „slavische[n] Eigenheit“ merkt Hesse an: [Sie] ist anziehend und fesselnd, und scheint zu künstlerischer Verwertung sehr geeignet. […] Aber dem Slaven fehlt der Glaube an seine Träume, an seine Sache, der Glaube vor allem an sich selbst. Der Meister Turgenjew hat meisterhalte Charaktere dieser Art in Neschdanoff, in Sanin etc. gezeichnet.6

In diese Zeit fällt auch Hesses Bekanntschaft mit Vladimir G. Korolenko, einem Schriftsteller, der damals in Deutschland weitaus weniger bekannt gewesen ist. In einem Briet an Ernst Kapff, einen seiner Lehrer am Cannstädter Gymnasium, heißt es: Russisches lese ich fast gar nimmer. Gogol stößt mich ab. Am besten gefielen mir, von dem, was ich nach Turgenjew gelesen, Korolenkos Sibirische Novellen, die ich zum Teil wirklich mit Genuß gelesen habe. Diese Russen haben im Grunde ein reiches Gemüt, sie lieben es, zu träumen und sich Ideale zu bilden, aber sie haben wenig Selbstachtung und glauben meist bald nimmer an die eigenen Ideale. Daher so oft ein Mitleid erregender, halb elegischer, halb ironischer Ton, den ich eben auch bei Korolenko fand. Durch die Sibirischen Novellen zieht sich ein leiser Klang wie Heimweh und Klage um verlorene Liebe, verlorenes Leben, dazu der Zauber des riesigen Waldes, der engen, warmen, schneeumgebenen Häuslichkeit und daneben das Wanderweh des greisen, traurigen Landstreichers.7

4 Ebenda, S. 462 (Brief Mitte Mai 1895). 5 Ebenda, S. 482 f. Siehe dazu: Stekvašov 1986, S. 60–71. 6 Hesse 1996, S. 481 f. (Neždanov und Sanin sind die Helden in Turgenevs Romanen Rauch und Neuland). 7 Ebenda, S. 490 (Brief vom 15. Juni 1895).

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Noch eingehender äußert sich der künftige Schriftsteller über Korolenko gegenüber Kapff im Brief vom 1. Oktober 1895: „Der einzige Russe, den ich noch aus Liebe lese.“ Nach der Lektüre der Erzählung In schlechter Gesellschaft erklärt Hesse weiter, er sei „ergriffen von der schlichten Poesie dieser kleinen Schöpfung“ und könne „nicht mit Worten“ ihren ganzen Zauber „bezeichnen“. Das ist kein Ibsen’scher mystisch-atavistischer Dunst, auch keine Turgenjew’sche Photographie, auch kein Gogol’sches Phantasiefeuerwerk –, und ich freue mich, unter dem lärmenden Haufen der modernen Slawen eine so sympathische Gestalt zu finden.8

Wie ein Resümee seiner frühen Bekanntschaft mit Russland klingt das Bekenntnis im Brief an die Eltern vom 8. Juni 1896, nachdem Hesse vom Tod Tausender von Menschen während der Krönungsfeierlichkeiten Nikolajs II. erfahren hatte: Das Moskauer Unglück hat mich sehr ergriffen. Seit ich Turgenjew und besonders Korolenko gelesen, habe ich für russisches Volkstum einige Vorliebe. Mir ist nie ein großes Unglück so nahe gegangen.9

All diese Äußerungen belegen, dass die russische Literatur in den neunziger Jahren einen nicht unwichtigen Platz im Bewusstsein des jungen Hesse eingenommen und seinen geistigen Reifungsprozess befördert hat. Es ist bemerkenswert, dass in seinen Briefen aus dieser Zeit die Namen Tolstoj und Dostoevskij fast völlig fehlen, die zu dieser Zeit im Westen, und vor allem in Deutschland, bereits außerordentlich populär gewesen sind.10 Daran erweist sich wahrscheinlich die Neigung des jungen Hesse zu den „Klassikern“ (Gottfried Keller), sein Mißtrauen gegenüber der zeitgenössischen deutschen Literatur und vor allem gegenüber den Naturalisten, für die Tolstoj und Dostoevskij bereits in den achtziger Jahren zu einer Art Banner geworden

8

9 10

Ebenda, S.  15. Hesse hat Korolenko lange seine Sympathie bewahrt. 1918 nahm er eine von Korolenkos Novellen in die von ihm zusammen mit Prof. Richard Woltereck herausgegebene Reihe „Bücherei für deutsche Kriegsgefangene“ (Band 17) auf. Vgl. Pfäfflin 1977, S. 265. Hesse 1996, S. 114. Dostoevskij wird z. B. bei der Aufzählung der Autoren, die zur „französisch-russischen Schule“ gehören, genannt, der nach Meinung des jungen Hesse ein „nihilistischer Pessimismus“ sowie eine „phantastische Mischung fremder Elemente, worunter allerlei buddhistischer Spuk“ eignen. In diesem Zusammenhang nennt er weiterhin Ibsen, Zola, Jonas  Lie und Jaroslav Vrchlický und fügt hinzu: „Turgenjew steht höher.“ Vgl. Brief an Ernst Kapff vom 15. Juni 1895. In: Ebenda, S. 491.

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waren. Einige Jahre später haben sich indes Hesses Urteile über die deutschen und die russischen Autoren gegenüber der frühen Jugend wesentlich geändert. 1896 erscheint Hesses erstes Werk (das Gedicht Die Madonna) in der Wiener Zeitschrift Das deutsche Dichterheim. 1898 folgt in Dresden die Gedichtsammlung Romantische Lieder, gleichzeitig bereitet er den Prosaband Die Stunde nach Mitternacht (Jena 1899) zum Druck vor. Hermann Hesse tritt in die deutsche Literatur ein. Als er im Herbst 1899 Tübingen verlässt, wo er drei Jahre als Buchhändler gearbeitet hat, betrachtet er sich als Berufsschriftsteller. Es folgen Jahre intensiver literarischer Arbeit (die beiden Novellen Peter Camenzind und Unterm Rad machen ihn weithin bekannt), 1904 heiratet er Maria Bernoulli, der erste Sohn wird geboren, Hesse begründet ein Heim in Gaienhofen, wo er bis 1912 lebt; in diese Zeit fallen die Italienreisen und die Bekanntschaft mit Jacob Burckhardt, Heinrich Wölfflin, Stefan Zweig und Thomas Mann. All dies erweckt den Eindruck eines ruhigen, äußerlich glücklichen Lebens fernab aller sozialen Erschütterungen, die andere Länder, wie z. B.  Russland, in den Jahren 1904–1906 erleben. Es hat den Anschein, als seien der russisch-japanische Krieg und die erste russische Revolution an ihm, der sich in seine intellektuelle und literarische Arbeit tief vergraben hat, vorbeigegangen. Gerade diese Jahre sind für Hesse jedoch eine Phase der intensiven religiössittlichen und philosophischen Suche gewesen, in deren Mittelpunkt die westeuropäische Zivilisation und das Schicksal des Menschen in der modernen Welt standen. Hesse ist von der Borniertheit der „rationalen“ und „egoistischen“ Gesellschaft, die ihn umgibt, unbefriedigt. Als Schriftsteller und Humanist war Hesse bestrebt, ein Gegengewicht zu Individualismus und „gesundem Menschenverstand“ zu finden, die in Westeuropa zur Herrschaft gelangt seien und einen einseitigen, deformierten Menschentypus hervorgebracht hätten. Diese Suche lässt ihn Asien und die „Weisheit“ des Ostens entdecken. Hesse begeistert sich für Konfuzius und Lao Tse; Ende 1911 unternimmt er eine Reise nach Indien, die ihren Niederschlag in einer Reihe von Büchern findet.11 Hesses Enthusiasmus für Indien war keineswegs eine besondere Erscheinung: Sie hatte ihre Vorläufer z.  B. bei  Friedrich Schlegel, Schopenhauer und Tolstoj. Hesse entwickelt ein festes dualistisches Weltbild, in 11

Hesse war mit Indien bis zu einem gewissen Maße über seine Eltern verbunden, die einige Jahre als Missionare in Indien gelebt hatten. „Von frühster Kindheit an“, erinnert sich Hesse, „war ich von außen her mit indischem Wesen vertraut, mein Großvater, meine Mutter und mein Vater waren alle drei lange in Indien gewesen, sprachen indische Sprachen […], in unsrem Haus waren viel indische Sachen, Kleider, Gewebe, Bilder etc. Unbewußt sog ich so viel Indisches ein. Besonders erinnere ich mich an schöne, lebhafte Erzählungen meiner Mutter […]“ In: Pfäfflin 1977, S. 123.

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dem neben den Oppositionen „Kultur“–„Instinkt“, „Geistigkeit“–„bourgeoiser Geist“, „Gut“–„Böse“, „Harmonie“–„Chaos“, „National“–„Allmenschlich“ auch die geographische Parallele „Westeuropa“–„Osten“ einen wichtigen Platz einnimmt. Das mystische Lebensverständnis des Buddhismus, das auf Frömmigkeit, Selbstverleugnung und Demut beruht. schien Hesse wie vielen anderen eine überzeugende Widerlegung der Prinzipien Westeuropas zu sein, die den „Individualisten“, den „faustischen“ oder, wie er später schreibt, „nietzscheanischen“ Typus leiten, der sich vor allem in Kampf und Handlung bestätigt. (Diese Auffassung vertrat vor allem Romain Rolland, der sich zu dieser Zeit für Lev Tolstojs Lehre begeisterte und eines seiner Bücher Gandhi widmete.)12 In diesen Jahren vertiefen sich Hesses Kenntnisse der russischen Literatur. In dem Jahrzehnt 1900–1910 beschränken sie sich keineswegs mehr auf Turgenev und Korolenko; in seinen Aufsätzen, Bemerkungen und Briefen begegnet man den Namen auch anderer russischer Klassiker; 1906 veröffentlicht er in der Neuen Zürcher Zeitung einen Überblick über Neuerscheinungen des InselVerlages. Seine besondere Aufmerksamkeit gilt Lermontovs Roman Ein Held unserer Zeit, und er beklagt, dass es „trotz der russischen Mode“ so wenig gute Übersetzungen russischer Klassiker, vor allem Puškins, Gogol’s und Turgenevs, auf dem deutschen Büchermarkt gebe.13 In der Folge kehrt der Rezensent Hesse immer wieder zur Qualität neuer Übersetzungen russischer Klassiker zurück. So bemerkt er in der Rezension Der deutsche Gontscharow, die im Dezember 1909 in der Neuen Zürcher Zeitung erscheint, voller Befriedigung, der deutsche Leser verfüge nunmehr über gute Übersetzungen Gogol’s und Gončarovs.14 Ebenso äußert er sich in dem Artikel Grosse Russen, der 1909 in der Münchener Zeitschrift März erscheint. Hier nennt er Gogol’, Tolstoj, Dostoevskij, Gor’kij und andere russische Autoren, deren Werke in Deutschland endlich durch neue Übersetzungen und größere Auflagen die ihnen gebührende Geltung erlangt hätten.15 Natürlich sind alle Autoren, die Hesse in diesen Artikeln erwähnt, ihm zu dieser Zeit gut bekannt gewesen.

12

13 14 15

Tolstojs Einfluss zeigte sich übrigens schon vor Hesses Indienreise, z. B. in seiner Neigung zum „südlichen, einfach-aufrichtigen, natürlichen, unstädtischen und unmodischen Leben”, in seiner „Flucht“ aus der Stadt in die patriarchalische Stille von Gaienhofen. „Die Gedanken und Ideale, die uns dabei führten“, schrieb Hesse, „waren ebenso verwandt mit denen Ruskins und Morris’, wie mit denen von Tolstoi.“ (Hesse 1987, S. 142). Wieder in Hesse 1988, S. 225. Ebenda, S. 410 f. Ebenda, S. 395 f.

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Bis 1914 entwickelte sich Hesses Werk ungeachtet der Tatsache, dass seine intensive geistige Suche ihre Wurzel in der Ablehnung der modernen bürgerlichen Lebensformen hatte, in relativ „üblicher“ Weise. Unter rein literarischem Aspekt tritt er einerseits als Nachfolger Goethes und der romantischen Tradition, andererseits als Erbe solcher Autoren wie Gottfried Keller, Wilhelm Raabe oder Theodor Storm hervor. Bei seiner Tätigkeit für Zeitschriften vermeidet er Erklärungen und Artikel zu gesellschaftlichen und politischen Themen und beschränkt sich auf die Rolle des Literaturkritikers (diese Seite seiner literarischen Tätigkeit hat Hesse stets als außerordentlich wichtig bezeichnet). Für viele Menschen verkörpert er in diesen Jahren den aristokratischen Typus des intellektuellen Schriftstellers, der sich vom „wirklichen“ Leben zurückgezogen hat. Das entsprach natürlich nur teilweise der Wahrheit. Einen Wendepunkt in seiner geistigen Biographie bedeutet der Erste Weltkrieg – Hesses gesellschaftliche und literarische Positionen änderten sich damit grundlegend. 2.

Wendung zum Pazifismus und nach Russland

Die blutigen Ereignisse in Europa erschütterten Hesse durch ihre Grausamkeit und „Absurdität“ und veranlassten ihn, seinen früheren relativ abgeschlossenen geistigen Raum zu verlassen. Die zentrale Frage, die er sich nach 1914 stellt, ist natürlich die nach „Krieg und Frieden“.16 Seit Kriegsbeginn tritt er als überzeugter Pazifist hervor, seine Haltung legt er im November  1914 in der einflussreichen Neuen Zürcher Zeitung dar. Hier veröffentlicht er den Artikel „О Freunde, nicht diese Töne“ gegen den Chauvinismus, (der Titel geht auf Beethoven zurück), in dem er die intellektuelle Elite angeht, die „nicht noch mehr das Fundament des künftigen Europa untergraben“ dürfe.17 (Gemeint sind vor allem diejenigen Intellektuellen, die „hurrapatriotische“ Stimmungen geschürt hatten.) Hesses antimilitaristische Haltung zeigt sich deutlich in dem Artikel „Kommt der Friede?“, den er in den letzten Tagen des Jahres 1917 schrieb. Die revolutionären Ereignisse in Russland haben die hier formulierten Anschauungen deutlich geprägt. Der Artikel ist eine Grußadresse an das russische Volk, das nach Hesses Meinung als erster unter den Kriegsgegnern 16 17

So lautet der Titel eines Aufsatzes aus dem Jahre 1918 (vgl. Hesse 1970, S. 30–33). Eben unter diesem Titel gab er 1946 seine Betrachtungen über Krieg und Politik seit dem Jahr 1914 heraus. Hesse 1970, S. 13.

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es fertiggebracht hatte, die Waffen niederzulegen und seinen Friedenswillen zu bekunden. Hesses Pazifismus und seine humanen Aufrufe zum Frieden in diesen Jahren waren primär durch seine religiös-ethischen Anschauungen in der Nachfolge Tolstojs, des Buddhismus und schlicht der christlichen Moral bedingt. Das Gebot „Du sollst nicht töten!“ ist ihm stets heilig gewesen. Die Revolutionen, die sich vor Hesses Augen ereigneten, konnten – zumindest anfänglich – ein bestimmtes Mitgefühl für diejenigen bei ihm hervorrufen, die gleichzeitig mit der Zerstörung der „bürgerlichen Gesellschaft“ die geistige Erneuerung des Menschen in der Zukunft verkündeten. Hesses Bekenntnis in einem Brief gegenüber Thomas Mann, er begrüße „mit aller Sympathie“ die Revolution von 1918 in Deutschland, ist bekannt; jedoch verzweifelte Hesse später an ihr.18 Hesses bedeutendste Äußerung zu gesellschaftlich-politischen Fragen in diesen Jahren war zweifellos die 1919 anonym erschienene Broschüre Zarathustras Wiederkehr, mit der er sich an die deutsche Jugend wandte. Umgetrieben vom Geist Nietzsches, den er bereits in den Jugendjahren als Reformator der Philosophie und „Propheten“ tief verehrt hatte, stellte Hesse nun in den Mittelpunkt seines Aufrufs den Begriff des „Schicksals“, der in vielerlei Hinsicht mit dem der „Notwendigkeit“, des irrationalen Fatums und zugleich mit dem kollektiven Unbewussten, mit der „urgründlichen“ Quelle des Mythos bzw. des Schaffens identisch ist. Das Wort „Chaos“ fällt in diesem Aufsatz nicht, es ist aber bereits erkennbar und steht gleichsam zwischen den Zeilen. Hesse ruft die deutsche Jugend auf, „der Stimme des Schicksals zu lauschen“, das heißt in tiefer Weise die dramatischen Ereignisse der Gegenwart zu durchleben, um hohe geistige Reife zu erlangen und Gott „in sich selbst“ zu finden. Nur auf diesem Wege, so Hesse, könne die deutsche Jugend den ihr entsprechenden Platz in einem künftigen Europa einnehmen.19 Natürlich darf man nicht übersehen, dass Hesse hier wie auch in anderen publizistischen Äußerungen dieser Zeit das Schwergewicht vom politischen auf den religiössittlichen Bereich verlagert: Die apokalyptische Vision findet hier ihren Ausdruck in den abstrakten Kategorien „Gut“ und „Böse“, „Licht“ und „Finsternis“ usw. Die europäischen Ereignisse gaben für Hesse den Anlass, Russland, das zu den Kriegsteilnehmern gehört hatte, und die russische Literatur mit anderen Augen zu betrachten. Ähnlich wie sich Hesse auf seinem geistigen Weg von Goethe zu Nietzsche bewegte, führte ihn – im Bereich der russischen Kultur – seine innere Entwicklung von Turgenev und Korolenko zu Tolstoj und 18 19

Hesse 1979, S. 303 (Brief von Anfang Dezember 1931). Hesse 1970, S. 59 f., 84 f.

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vor allem zu Dostoevskij. In seiner Rezension zu Karl Nötzels Buch Das heutige Rußland (1915) versucht Hesse zu bestimmen, was Russen und Westeuropäer unterscheidet. Er schreibt, Russland habe im Mittelalter nicht den Kampf des Christentums gegen die Antike gekannt, habe auch später, in der Renaissance, nicht „den erneuten Sieg der Antike“ erlebt und sich beträchtlich von Westeuropa entfernt. Daher habe Russland in der jüngsten Vergangenheit der Welt „ein[en] so mächtige[n] Strom von Seelenhaftigkeit, von altchristlicher Liebe, von kindlich unbeirrtem Erlösungsbedürfnis“ offenbaren können, „daß unsere europäische Literatur plötzlich eng und klein erschien vor dieser Flut von Seelendrang und innerlicher Unmittelbarkeit“.20 Nӧtzel’s Auslegungen folgend demonstriert Hesse den Unterschied zwischen dem russischen und dem westeuropäischen Menschen am Beispiel Lev Tolstojs, einer „in ihren Grundzügen typisch russischen“ Gestalt. Tolstoj besitzt nämlich nach Hesses Überzeugung die beiden Eigenschaften, die für den russischen Menschen so charakteristisch sind: ursprüngliche Unmittelbarkeit und antieuropäischen „Doktrinarismus“. „Wir lieben an ihm und verehren in ihm“, schreibt Hesse, „und wir kritisieren, ja hassen an ihm den modernrussischen Doktrinarismus, die maßlose Einseitigkeit, den wilden Fanatismus, die abergläubische Dogmensucht.“ Tolstojs Werke treiben nach Hesse dazu an, „den reinen, tiefen Schauer […], die Ehrfurcht vor dem großen Genie“ zu erfahren, während seine „dogmatisierende[n] Programmschriften“ bei jedem westlichen Menschen nur „Verwunderung und Bangigkeit, schließlich […] Ablehnung und Widerwillen“ hervorrufen.21 Hesses Ansichten, von Nötzel nicht zu sprechen, sind durchaus typisch für diese Zeit; in gewissem Sinne sind sie sogar banal. Die „russische Seele“, der uranfängliche Unterschied zwischen russischem und westeuropäischem Typus, der russische Mensch als intuitiv-sinnlicher oder fromm-religiöser Typus, als „Kind-Mensch“, das „geduldige“ russische Volk, dessen große Mission darin bestehe, einst dem ins Wanken geratenen Westen sein erleuchtetes geistiges Antlitz zu zeigen, die (scheinbare) Feindseligkeit der Russen gegenüber dem Westen usw. usf. – all solche Anschauungen hatten bereits am Ende des vergangenen Jahrhunderts weite Verbreitung innerhalb der westeuropäischen Intelligenz gefunden. Ein solches Russland suchten, an ein solches Russland glaubten seit Nietzsche viele westeuropäische und vor allem deutsche Denker und Künstler (Rilke, Ernst Barlach, Stefan Zweig, Thomas Mann). Bei der Verbreitung derartiger Vorstellungen spielten die Werke russischer Schriftsteller, 20 21

Hesse 1977a, S. 83 f. – Zu den Russlandbildern Karl Nötzels s. Kopelew 2000, S. 87–90; Danilevskij, Time 2010, S. 218–236. Hesse 1977a, S. 84.

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allen voran die Dostoevskijs und Tolstojs, eine nicht geringe, manchmal sogar die entscheidende Rolle. In literarischen Gestalten wie Fürst Myškin, dem Pilger Makar Dolgorukij, Platon Karataev, Alëša Karamazov und anderen sahen viele Westeuropäer originär russische Typen und eindrucksvolle Repräsentanten des „russischen Volkes“. Jeder, der Tolstoj, Dostoevskij und Gogol’ gelesen habe, erklärt Hesse, wisse sehr gut, was dieses ursprüngliche, „intuitive“ Russland sei, ohne das man sich das geistige Leben des modernen Menschen nicht mehr vorstellen könne. Wir sehen in diesen Werken mit Erschrecken und mit Jubel eine Seele fluten, neben der uns die unsrige wie alt und verkalkt erscheinen will, wir sehen den eigensten Bezirk der Dichtung, das tägliche Seelenleben aller Menschen, mit einer Innigkeit und Glut erfaßt und mit einer Kunst gestaltet, die nur aus quellender Liebe kommen konnte, aus einer Liebe, die in unserer eigenen neueren Kunst nirgends mehr so hell, so rein, so göttlich zu brennen schien wie in den Herzen dieser großen russischen Dichter.

Gerade mit dieser „ursprünglichen Liebe“, die Tolstoj und Dostoevskij nach Hesses Auffassung der „Welt der Methode und des Organisierten“ einzuflößen verstanden, verbindet er die Hoffnung auf eine geistige Erneuerung Europas nach dem Ersten Weltkrieg. Welche Wege wir dann einschlagen werden …, zu allem werden wir viel von der reinen, duldsamen selbstlosen Liebe brauchen, die seit hundert Jahren nirgends auf Erden mehr so hell und ergreifend zum Ausdruck gekommen ist wie in jenen mahnenden Stimmen russischer Dichter.22

Hesses Rezension zu Nötzels Buch weist deutliche Affinitäten zu seinem ersten Aufsatz über Dostoevskij auf, den er ungefähr zur gleichen Zeit schrieb und der dem Roman Der Jüngling gewidmet ist. (Hesse wurde zu diesem Aufsatz durch die Neuübersetzung des Romans angeregt, die im Verlag R. Piper in München erschienen war.)23 Im Schlußteil dieses Aufsatzes kommt Hesse erneut auf Russland zu sprechen, das vor seinem geistigen Auge als „das christliche, das duldende, selbstlose Land“ erscheint, in dem ein „naives“ Volk lebe, kurzum – ein Land, das die Mittlerrolle zwischen Westeuropa und der „Urmutter Asien“ spiele.24 Dostoevskijs Welt sei schrecklich, in ihr gebe es, so Hesse, keinen einzigen Lichtstreifen, aber dafür erleuchte sie die Sonne der Religion. Träger dieser Religion ist für Hesse der Pilger Makar: „er ist Volk, er 22 23 24

Ebenda, S. 85, 87. Hesse 1972, S. 315–320. Ebenda, S. 320.

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ist Rußland“, dies sei die russische Weisheit, „denn sie ruht nicht im Erkennen, sondern im Leben“.25 Wir Europäer, so Hesse weiter, müssten diesem „heimlichen, inneren“ Russland lauschen. Denn alles, was „europäisch“ an Russland sei, habe es vom Westen erhalten, und vieles werde Russland noch in der Zukunft erhalten. Andererseits heißt es: „In allem, was die passiven, die asiatischen, die augenblicklich in der Welt wenig geschätzten Tugenden betrifft, werden aber die Russen wieder unsere Lehrer sein, selbst bis in die praktische Politik hinein.“ Im Bereich der „seelischen Kultur“ seien die Europäer, schließt Hesse, immer Kinder geblieben, dank Russland würden sie sich aber mit der Zeit diesem „anderen Pol“ annähern können.26 3.

Der Krieg, die Revolution und der Blick ins Chaos

Je weiter der Krieg und die allgemeine Krise um sich griffen (die zudem noch durch die revolutionären Ereignisse in Russland und dann auch in Deutschland vertieft wurden), desto stärker wurde Hesse von pessimistischen Gedanken über das „Chaos“, das in der Welt herrsche, über das Ende oder den Untergang Europas, über den Zusammenbruch der Zivilisation ergriffen. Die Ideale des Humanismus ertranken in den Strömen von Blut, die Europa überfluteten. Ansichten dieser Art bestimmten in beträchtlichem Maße die beiden Aufsätze Hesses über Dostoevskij, die er im letzten Kriegsjahr schrieb: Die Brüder Karamasoff oder der Untergang Europas (Einfälle bei der Lektüre Dostojewskis) und Gedanken zu Dostojewskis ‚Idiot‘. Zusammen mit dem philosophischdidaktischen Dialog Gespräch über die Neutöner bildeten sie das Buch Blick ins Chaos, das 1920 in der Schweiz erschien – im letzten Jahr des Weltkrieges und am Vorabend des hundertsten Geburtstages des russischen Schriftstellers.27 Hesse hatte die drei Texte nach der Beendigung der Novelle Klingsors letzter Sommer und vor Beginn der Arbeit an dem Roman Siddhartha geschrieben. Mit beiden Werken stehen sie in enger Verwandtschaft. Im Unterschied zu dem Aufsatz aus dem Jahr 1915, in dem Hesse noch ein gewisses Interesse für die rein literarische Seite des Jüngling, für seine Komposition, die Sujettechnik und anderes bewiesen hatte, stellen die beiden 25 26 27

Ebenda, S. 319. Ebenda, S. 320. Hesse 1920. An diese Aufsätze schließt sich thematisch Hesses Rezension der Erin­ nerungen Ljubov’ Dostoevskajas (Dostojewski, geschildert von seiner Tochter) an, die 1919 in deutscher Übersetzung erschienen. (Vgl. Hesse 1972, S. 337 f.)

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Arbeiten aus dem Jahr 1919 Dostoevskij fast ausschließlich als „Propheten“, als „Wahrsager“ und „Hellseher“ vor. Dostoevskij „steht“ für Hesse „bereits jenseits“ der Kunst. Hesse bestreitet nicht, dass Dostoevskij ein großer Künstler ist, aber er ist „nur nebenher“ Künstler. In erster Linie ist er ein Prophet, der die historischen Schicksale der Menschheit entschlüsselt hat. Zwar sei er ein Kranker, fast ein Epileptiker gewesen, jedoch – ein Prophet („ein Prophet ist ein solcher Kranker, dem der gesunde, gute, wohltätige Sinn für die Selbsterhaltung, der Inbegriff aller bürgerlichen Tugenden, verloren gegangen ist“.28) Die Größe dieses „Kranken“ liege darin, dass er […] seine Gesichte nicht persönlich [deutet], der Alp, der ihn drückt, mahnt ihn nicht an persönliche Krankheit, an persönlichen Tod, sondern an den des Ganzen, als dessen Organ, als dessen Fühlhorn er lebt. Das kann eine Familie, eine Partei, ein Volk, es kann auch die ganze Menschheit sein.29

Das Wesentliche der beiden Aufsätze ist das Empfinden einer geistigen Katastrophe, die die westliche Welt ergriffen hat. Krieg und Revolution – Hesse hatte nicht nur die revolutionären Ereignisse in Russland, sondern auch in Deutschland, Österreich-Ungarn und anderen Ländern vor Augen – hatten Europa in Anarchie und Zerfall gestürzt. Das Ende der europäischen Zivilisation rückte heran. Eine neue Epoche war im Anmarsch, sie bedeutete den Triumph des Chaos, und ihr Prophet war nach Hesses Meinung der Autor des Idioten und der Brüder Karamasow. Über Dostoevskij als „Propheten des Chaos“ haben in diesen Jahren viele Autoren geschrieben. Der Dramatiker und Essayist Emil Lucka (1877–1941) führt diesen Gedanken in fast allen seinen Arbeiten über Dostoevskij an, die zu Beginn der 1920-er Jahre entstanden. So behauptet er z. B. in dem Artikel Dostojewski und der Sozialismus, Russland sei das Land des Chaos, und der russische Mensch und Dostoevskij seien chaotische Menschen.30 In seiner Monographie über Dostoevskij stellt Lucka sich erneut die Frage, was das „letzte Wesen“ sei – der westliche Individualismus oder das russische Chaos.31 Der Philosoph und Schriftsteller Hermann Graf Keyserling (1880–1946) betont beim Erscheinen der Dostoevskij-Ausgabe im Piper-Verlag: „Dostojewski ist das fruchtbare Chaos. Er ist der Gigant, in dem das neue Chaos zum ersten Mal überhaupt 28 29 30 31

Hesse 1920, S. 18 f. Ebenda, S. 19. „Denn der Russe und Dostojewski ist ein chaotischer Mensch. Ordnung, Organisation des Lebens nach einem verständig ausgesonnenen Plan dünken ihm feindlich und böse“ (Lucka 1922, S. 1251.) Lucka 1924, S. 59.

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Gestalt wird.“32 Auch Stefan Zweig, Autor des bekannten Dostoevskij-Essays (1921), in dem übrigens nicht das „Chaos“, sondern das blinde „Schicksal“ als Zentralbegriff auftritt, betonte, dass Dostoevskij „seine Menschen“ liebt, „solange sie leiden […], solange sie Chaos sind, das sich in Schicksal verwandeln will“.33 Von daher gesehen war Hesse, der seine Aufsätze in dem Band mit dem Titel Blick ins Chaos zusammenstellte, keineswegs originell. Komplizierter ist die Frage nach dem Verhältnis Hesses zu Spenglers Der Untergang des Abendlandes (Bd.  1–1918; Bd.  2–1922). In diesem Werk, das damals die allgemeine Aufmerksamkeit auf sich zog, behandelte Spengler ebenfalls das Thema Russland (im zweiten Band) – und zwar von einer Position aus, die für die Jahre 1914–1921 charakteristisch war. Verschiedene Autoren haben seinerzeit auf die Affinitäten Hesses zu Spengler hingewiesen, der den Untergang der westeuropäischen Kultur verkündete. Es unterliegt aber keinem Zweifel, dass Der Blick ins Chaos ganz unabhängig vom Untergang des Abendlandes entstanden war – inhaltlich wie zeitlich. Im Brief an Georg Reinhart vom 17. April  1923 behauptet Hesse, erst jetzt „mit Entzücken“ „die dicken Bände von Oswald Spengler“, „dies kluge und zum Teil geniale Buch“, gelesen zu haben, gleichwohl könne er „fast nirgends“ einzelnen Urteilen des Autors zustimmen.34 Es besteht kein Anlaß, Hesse nicht zu glauben: Offenkundig kann in diesem Fall nur von einer Parallelität der Auffassungen zweier Schriftsteller die Rede sein. Wie sieht Hesse das „Chaos“, das seiner Meinung nach „Organisation und Ordnung“ ablöst, auf denen die westliche Welt beruht? Das Chaos ist ein Komplex widersprüchlicher und einander ausschließender Prinzipien, ihre Einheit besteht in der Aufhebung aller Vorstellungen vom Leben, die Dauerhaftigkeit erlangt hatten (Hesse meint natürlich „Vorstellungen“ in ihrer westeuropäischen und bürgerlichen Form). Das Chaos ist die Ablösung aller politischen, staatlichen, moralischen, kulturellen und religiösen Prinzipien. „Chaotisch“ steht für Hesse in einer Reihe mit „asiatisch“, „barbarisch“, „gefährlich“ und „amoralisch“.35 All dies macht für ihn auch den Geist Dostoevskij aus, das russische oder das „karamasowsche“ Element, das nicht mit den Kategorien „Gut“ oder „Böse“ gemessen werden kann, da es sich hierbei um einen völlig anderen Typus menschlichen Bewußtseins handelt, der sich gegenüber dem europäischen Typus wesentlich unterscheidet. Es handelt sich dabei um

32 33 34 35

Zit. nach: Fülöp-Miller, Eckstein 1928, S. 622. Zweig 1920, S. 121. Zitiert nach Hesse 1977a, S. 394. Vgl. auch Hesses Brief an den Essayisten und Verleger Hermann Missenharter vom September 1920. In: Hesse 1973, S. 460. Hesse 1920, S. 9.

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eine dynamische Elementarkraft, die beliebige Widersprüche in sich vereinigt und auflöst, das heißt das Gute und das Böse, das Laster und die Tugend. Bei einem Karamasoff weiß man nie, womit er uns im nächsten Augenblick überraschen wird. Vielleicht mit einem Totschlag, vielleicht mit einem rührenden Loblied auf Gott. Es gibt unter ihnen Aleschas und Dmitris, Fjedors und Iwans. Sie sind ja, wie wir sahen, eben nicht durch Eigenschaften gekennzeichnet, sondern durch die Bereitschaft, jederzeit jede Eigenschaft annehmen zu können.36

Diese vier Brüder verkörpern alle zusammen für Hesse den „russischen Menschen“, dessen Musterbeispiel auf der anderen Seite für ihn Fürst Myškin darstellt, ein „magischer Mensch“, da für ihn die Fähigkeit kennzeichnend ist für einen Moment, für den Blitz eines Momentes alles sein, alles mitfühlen, alles mitleiden, alles verstehen und bejahen zu können, was in der Welt ist. Dort liegt der Kern seines Wesens.37

Es ist unschwer zu sehen, dass Hesse, vom Blickpunkt des „Chaos“ aus, die im Westen bereits seit Ende des neunzehnten Jahrhunderts verbreitete Legende von der „russischen Seele“ und der „weiten Natur des Russen“, die angeblich fähig seien, alle Widersprüche in sich zu vereinen, auf seine eigene Weise interpretiert. Die Karamazovs oder Fürst Myškin sind für Hesse nichts anderes als Erscheinungen des „Allmenschen“ (von dem bekanntlich schon Dostoevskij gesprochen hatte). Allerdings setzte Hesse ganz andere Akzente als Dostoevskij oder seine Adepten, die die „russische Seele“ verkündet hatten. Wichtig für Hesse ist nicht so sehr der Typus „Karamasow“ als vielmehr seine Aktualität für das zeitgenössische Europa; er betont nicht so sehr das „russische Chaos“ an sich (als Gegengewicht zur bürgerlichen „Ordnung“) als vielmehr Gegenwart und Zukunft der humanitären Kultur des Westens. Auffallend, dass Hesse in seinen Aufsätzen die Meinung vertritt, der russische chaotische Mensch, wie ihn Dostoevskij gestaltet habe, sei nicht nur eine spezifisch russische Erscheinung; hierin liegt Hesses Nähe zu den Expressionisten, die Dostoevskij und seine Helden in analoger Weise betrachtet haben. Es handle sich um eine universale Erscheinung, die sich unablässig ausbreite und ihren Einfluss auf den gesamten geistigen Raum Europas ausübe. Das Bemerkenswerte und Seltsame, das Wichtige und Verhängnisvolle ist ja nicht, daß irgendwo in Rußland in den fünfziger und sechziger Jahren ein 36 37

Ebenda, S. 9 f. Ebenda, S. 25.

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genialer Epileptiker solche Phantasien gehabt und solche Figuren gedichtet hat. Das Wichtige ist, daß diese Bücher seit drei Jahrzehnten mehr und mehr von der Jugend Europas als die wichtigsten und prophetischen empfunden werden.38

Einerseits betont Hesse die siegreiche Bewegung des „Chaos“ und dessen ungestümen Vormarsch auf die Zivilisation Westeuropas. In historischer Hinsicht sei das Chaos gesetzmäßig, für Europa sei der Weg durch das Chaos unvermeidlich. Diesen Gedanken hat Hesse mehrfach wiederholt. Er behauptet – wodurch er erneut in die Nähe der Expressionisten rückt –, der Mensch sei genötigt, diese notwendige Entwicklungsetappe zu durchlaufen und erst danach könne er innerlich ein neuer Mensch werden. Diesen Weg lehrt kein Programm uns finden, keine Revolution reißt uns die Tore dahin auf. Jeder geht ihn allein, jeder für sich. Jeder von uns wird, eine Stunde in seinem Leben, auf der Myschkinschen Grenze stehen müssen, wo die Wahrheiten aufhören und neue beginnen können.39

Und an anderer Stelle heißt es: Schon ist halb Europa, schon ist zumindest der halbe Osten Europas auf dem Wege zum Chaos, fährt betrunken in heiligem Wahn am Abgrund entlang und singt dazu, singt betrunken und hymnisch wie Dmitri Karamasoff sang.40

Inhalt und Stilistik dieser Worte lassen unwillkürlich an Nietzsche denken, den geistigen Ahnherren der „Lebensphilosophie“, die in diesen Jahren für Hesse bedeutend war. Das irrationale „Schicksal“ und die schöpferischen Naturkräfte, von denen in dem Essay Zarathustras Wiederkehr die Rede gewesen war, die völlig auf den Kopf gestellte und in Aufruhr gebrachte Welt Europas, der „chaotische“ russische Mensch Dostoevskijs und der antibürgerliche, „amoralische“ Mensch Nietzsches rücken zweifellos in Hesses Überlegungen nebeneinander. Andererseits begrüßt Hesse keineswegs dieses russische Chaos und besingt auch nicht das dortige, von ihm angekündigte, künftige Reich der Karamazovs. Das Chaos ist für Hesse nämlich nicht nur fruchtbar, sondern auch unheilvoll – und dies vor allem für die Kultur. Hesse ist gezwungen, einzugestehen: „Der Idiot, zu Ende gedacht, führt das Mutterrecht des Unbewußten ein, hebt die

38 39 40

Ebenda, S. 28. Ebenda, S. 29. Ebenda, S. 20.

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Kultur auf.“41 Der Weg, den Hesse dem Westen prophezeit, erscheint ihm eher notwendig als wünschenswert. Nicht als ob die Welt dieser Dichterfiguren ein Zukunftsbild im Sinn eines Ideals wäre – das wird niemand so empfinden. Nein, wir fühlen bei Myschkin und allen diesen Figuren nicht Vorbildlichkeit im Sinne von ‚So sollst du werden!‘, sondern Notwendigkeit im Sinne von ‚Durch dies müssen wir hindurch, dies ist unser Schicksal!‘42

Hier ist also von verhängnisvoller Unausweichlichkeit und keineswegs von einem wünschenswerten Ideal die Rede. Der westeuropäische Mensch muss das Chaos „durchleiden“. Dostoevskijs „Verbrecher, Hysteriker und Idioten“ bilden für Hesse eine notwendige Etappe auf dem Weg zur geistigen Selbsterneuerung Europas nach den furchtbaren Erschütterungen des Krieges. Hesse kommt es vor, als würden die entfesselten Instinkte und dunklen, irrationalen Kräfte über die Grundlagen der Kultur, der Sittlichkeit und „Ordnung“ die Oberhand gewinnen. Er war tief mit der Kultur der Vergangenheit verbunden, war Erbe und Verfechter der europäischen Traditionen der Aufklärung und versuchte daher innerlich dem „Chaos“ Widerstand zu leisten, andererseits konnte er nicht umhin zu sehen, dass die Ideale des Humanismus, die er so hochschätzte, während dieses unvergleichlich menschenverachtenden Krieges unterzugehen drohten. Im Grunde hat der Antagonismus von „Kultur“ und „Leben“, der in Hesses Essays so deutlich vor Augen tritt, immer den Kern, den „Nerv“ seiner Weltanschauung gebildet; er bestimmte auch Thematik, Orientierung und Struktur seiner literarischen Werke, die seine Philosophie fortsetzen und illustrieren. Hesses Hauptwerke Siddhartha, Narziß und Goldmund und Das Glasperlenspiel gründen auf der Ambivalenz und dem Widerstreit der Helden, die diese beiden Prinzipien verkörpern (Narziß-Goldmund, Knecht-Designori). Das Vernünftige und das Sinnliche, das Konstruktive und das Destruktive, das „Helle“ und das „Dunkle“ sind in seinem Werk als zwei unausweichliche, ein Ganzes bildende und einander ergänzende antagonistische Kategorien präsent. 4.

Der bleibende Einfluss Dostoevskijs

Der Gedanke, das Chaos könne triumphieren, hat Hesse bereits 1919 abge­ schreckt, als er sich Dostoevskij wie einem „Verbündeten“ zuwandte. Nicht 41 42

Ebenda, S. 27. Ebenda, S. 28.

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zufällig äußert Hesse in seinem Aufsatz Die Brüder Karamasoff die vorsichtige Vermutung und Hoffnung, „der ganze ‚Untergang Europas‘ [werde] sich ‚nur‘ innerlich abspielen, nur in den Seelen einer Generation, nur in der Umdeutung verbrauchter Symbole, in der Umwertung seelischer Werte“.43 Eben in diesem Sinne äußert sich Hesse gegenüber Gustav Gamper im Brief vom 14. Dezember 1919: Was ich Untergang nenne, sehe ich durchaus auch als Geburt. Der „Untergang Europas“ ist für mich ein Vorgang, den ich in mir selbst erlebe und den man vielleicht vergleichen kann mit dem Untergang der Antike: kein plötzlicher Zusammenbruch, sondern eine langsame, wachsende Umstellung in den Seelen der Menschen.44

Der Gedanke, Europa könne zugrunde gehen, erschreckte Hesse und entfremdete ihn selbstverständlich Dostoevskij. Dies kommt auch in einem sehr viel späteren Aufsatz über den russischen Schriftsteller (1925) zum Ausdruck. In diesen Jahren schwächt sich die Gefahr des von Russland ausgehenden „Chaos“ sichtlich ab – das Wort „Chaos“ erscheint nicht einmal mehr in diesem Aufsatz. Dennoch bleibt Dostoevskij, dessen Bild Hesse 1925 in weitaus ruhigeren Tönen zeichnet, für ihn wie einst sowohl anziehend als auch fremd, Dostoevskij ruft bei ihm gleichzeitig Entzücken und Abscheu hervor. Den russischen Schriftseller, diese „geliebte und schreckliche Gestalt“, heißt es jetzt über Dostoevskij, dürfe man nur in den seltenen Minuten lesen, „wenn wir elend sind, wenn wir bis zur Grenze unserer Leidensfähigkeit gelitten haben und das ganze Leben als eine einzige brennende, glühende Wunde empfinden, wenn wir Verzweiflung atmen und Tode der Hoffnungslosigkeit gestorben sind“. Nur so, schließt Hesse, können wir „den wunderbaren Sinn seiner erschreckenden und oft so höllischen Welt“ erfassen.45 Gleichwohl hat Dostoevskij – dies muss mit aller Bestimmtheit festgehalten werden – für Hesses geistige Entwicklung eine enorme Rolle gespielt. Um 1920 stellte Dostoevskij für ihn zweifellos die zentrale Gestalt in der russischen Literatur dar. Im Brief vom 16. April 1921 an Theo Wenger betont er, Dostoevskij stehe ihm jetzt näher als Tolstoj, „obwohl ich im Grunde Tolstoi für sehr deutsch halte und Dostoevskij daher wichtiger nehme, da er tatsächlich etwas bringt, was wir Westeuropäer vergessen hatten“.46 Der Einfluss Dostoevskij ist keineswegs auf die kritischen Arbeiten beschränkt, die Hesse ihm gewidmet 43 44 45 46

Ebenda, S. 16. Hesse 1973, S. 430. Hesse 1972, S. 305. Hesse 1973, S. 469.

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hat. Er reicht bedeutend tiefer und ist „verborgener“, als es auf den ersten Blick scheinen mag; er reicht tief in Hesses literarisches Werk hinein und bestimmt in vielerlei Hinsicht dessen Problematik. Wir wollen uns auf ein Beispiel beschränken. 1919 schreibt Hesse die Novelle Klein und Wagner. Zu dieser Zeit liest er immer wieder Dostoevskij. Im Mittelpunkt der Erzählung steht ein Bankbeamter, der von zu Hause weggeht, seine Stadt verlässt und seiner Umgebung entflieht. Der Grund für seine Flucht ist ein Mord, den er begangen zu haben meint und der ihn zwingt, sich zu verstecken. In Wirklichkeit hat er diesen Mord nicht begangen (was sich im Laufe der Erzählung herausstellt), vielmehr hat die Idee des Mordes von dem Helden Besitz ergriffen, und eben diese Idee veranlasst ihn, wegzulaufen und sich zu verbergen. Was er fürchtet, ist nicht die Vergeltung für sein Verbrechen, sondern für seine Fähigkeit, es einmal auszuführen. Er ist also kein wirklicher, sondern ein potenzieller Mörder, ein Mörder „in seiner Seele“, ein Mensch, der sein Doppelwesen erkennt. In jedem Menschen lebt nach Hesses Überzeugung ein „Tier“, ein „Mörder“, ein „Verbrecher“, und unter der äußerlichen, wohlgestalteten Hülle der „Kultur“ tobt häufig das „Chaos“. In einem Brief aus dem Herbst 1919 hat Hesse sehr ausführlich seinen Standpunkt dargelegt: Sie schreiben mir, daß Sie verstehen könnten, wie ein Mensch unter Umständen zum Mörder wird. Nun, gerade damit war auch ich, der ich ja kein Weiser, sondern ein sehr leidender und rastloser Mensch bin, diesen ganzen Sommer beschäftigt, mit dem Mörder nämlich, der auch in mir lebt, und habe versucht, ihn in eine gefährliche und kühne Dichtung zu bringen, vielleicht um ihn für eine Weile aus dem eigenen Herzen loszuwerden.47

Der Brief kommt einer Beichte nahe. Hesse schreibt weiter, dass er im Laufe einer langen Zeit „alles Dunkle und Wilde“ in sich „verschwieg“, dass er sich für Vorbilder wie Goethe und Gottfried Keller begeistert habe, dass er eine schöne und harmonische, aber „im Grund verlogene Welt“ aufgebaut habe, dass er Werke wie Peter Camenzind geschrieben habe, in denen „tausend Wahrheiten“ der „edlen Anständigkeit und Moral“ zum Opfer gebracht wurden und dass er schließlich als Mensch und als Künstler gezwungen gewesen sei, in „eine müde Resignation“ zu versinken. Wichtig an diesem Brief ist Hesses Bekenntnis, es sei ihm in den letzten Jahren gelungen, zu sich selbst zurückzukehren, nachdem er in sich selbst das entdeckt und erkannt habe, was er zuvor geleugnet und verschwiegen hatte – das Chaotische, Wilde, Triebhafte usw. „[Ich] glaube längst nicht mehr an Gutes und Böses“, erklärt Hesse, „sondern glaube, daß alles gut ist, auch das, was wir Verbrechen, Schmutz und Grauen heißen.“ Und 47

Ebenda, S. 422 (Brief an den Schweizer Schriftsteller Carl Seelig).

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er schließt mit den Worten: „Dostojewski hat das auch gewußt.“48 Später, im Dezember 1921, hat Hesse die Geschichte, die er in Klein und Wagner erzählt, als die „Geschichte des Philisters“ bezeichnet, den man aus seiner gewohnten Hülle „in die Sphäre des Unsicheren, ihm Fremden, Bösen, Gefährlichen hinüberreißt“, wo er „untergeht“. Diese Geschichte, heißt es bei Hesse, „ist ein Symptom der Zeit, ein Ausdruck für das Gefühl, vor dem Chaos zu stehen“.49 Die Frage des Einflusses Dostoevskijs auf Hesse stellt sich besonders deutlich im Roman Der Steppenwolf (1927). Der Held Harry Haller erfährt seine Läuterung und innere Freiheit erst, nachdem er die Versuchung des Bösen durchschritten hat, durch die qualvolle Selbsterkenntnis des „Finstern“ und des „Chaos“ in sich selbst. Nietzsche, der deutsche Expressionismus, die „Lebensphilosophie“ und Dostoevskij sind in diesem Roman miteinander verschmolzen. Der zentrale Gedanke des Romans liegt allerdings darin, dass die dunklen und chaotischen Kräfte, die sich in Haller auftun, letztlich überwunden werden. Um das „Chaos“ zu besiegen, muss es „durchlebt“ werden. Um die ihm auferlegte „Schuld“ zu „sühnen“, muss der Mensch sich als „Verbrecher“ erkennen. Auch in der Folge bleibt Dostoevskij ein Schriftsteller, der Hesses Aufmerksamkeit fesselt und seine literarischen Arbeiten beeinflusst. Nach 1920 beschäftigt sich Hesse allerdings lange Zeit nicht mit Dostoevskij. Im Juli 1940 schreibt er Rudolf Jakob Humm: Wir [das heißt Hesse und seine dritte Frau Ninon, geb. Ausländer, Anm. К. A.] haben Dostojewskis Dämonen gelesen, lesen jetzt Guardinis Buch über Dostojewski50, das ich allerdings schon kannte, und haben auch den Jüngling wieder zu lesen vor, von den großen Romanen von Dostojewski ist das der, den ich am längsten nicht mehr gelesen habe, mindestens 20 Jahre.51

Hesses Urteile über Dostoevskijs Werke und seine Rolle aus späteren Zeiten unterscheiden sich gewiss von den früheren Stellungnahmen und sind nicht mehr Bestandteil seiner eigenen philosophischen Konzeption.52 Als eine Art 48 49 50

51 52

Ebenda, S. 423 f. Hesse 1921/22, S. 420. Gemeint ist Romano Guardini: Der Mensch und der Glaube Versuche über die religiöse Existenz in Dostojewskis großen Romanen. Leipzig 1933. Den katholischen Philosophen und Schriftsteller Romano Guardini (1885–1968) hat Hesse sehr geschätzt. Er war der Meinung, Guardinis Buch sei „das einzige der vielen Bücher über Dostojewski, das im Mutterboden dieser gewaltigen und unheimlichen Dichtungen heimisch wird und das Grundgeheimnis ihres Wesens erfaßt hat“ (Hesse 1972, S. 509). Hesse, Humm 1977, S. 110 f. Die vorliegende Arbeit erhebt nicht den Anspruch, alle Aspekte der langjährigen Auseinandersetzung Hesses mit Dostoevskij zu verfolgen. Hierzu liegen mehrere Untersuchungen vor. Vgl. Riza-Zadė 1928; Erné 1947; Dudkin, Azadovskij 1973, S.  711–713;

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Resümee seiner langjährigen Beschäftigung mit Dostoevskij und anderen russischen Autoren ist seine Antwort auf eine Umfrage der Redaktion des russischen Almanachs Opyty [„Experimente“, erschienen in New York] zu betrachten. Hesse teilte folgendes mit (am 4. Januar 1954): Die Bekanntschaft mit der russischen Dichtung des neunzehnten Jahrhunderts war für den europäischen Westen ein großes Ereignis. Für meine Person begann sie mit Turgenjew. […] Heute sind meine Lieblinge in der russischen Dichtung Gogol, Tolstoi, Tschechow. Dostojewski, von dem ich sehr begeistert war, hat zwar mit den Karamasoffs bei mir standgehalten, mit der Mehrzahl der übrigen Werke aber nicht.53

Dass Hesse unter seinen „Lieblingen“ Čechov nennt, kann verwirren: Weder in seiner Jugend noch als reifer Mann hat der Schweizer Schriftsteller für Čechov besonderes Interesse bewiesen. Die Erklärung findet sich in einem seiner Briefe aus dieser Zeit. Hesse sagt, er sei mit Čechov Werk „viel später“ als mit anderen russischen Schriftstellern bekannt geworden (auf jeden Fall nach 1927, als er den Essay Eine Bibliothek der Weltliteratur schrieb, in dem Čechovs Name nicht erscheint) und dass von einem Einfluss Čechovs nicht die Rede sein könne. Dennoch, fügt Hesse hinzu, „verdanke ich ihm sehr viel, und er gehört, seit ich ihn kenne, zu meinen Lieblingen“. Besonders hebt er Krankenzimmer Nr. 6 und Die Steppe hervor.54 5.

Hesse über den Kommunismus, Lenin und die Sowjetunion

Auch nach 1920 hat Hesse nicht selten den Begriff „Chaos“ verwendet. Er bezeichnete für Hesse wie früher die geheimnisvolle, „magische“ Tiefe des Seins, in dem die ursprünglichen, vitalen Impulse gründen, die dem durchschnittlichen „Bourgeois“ unzugänglich sind. In einem Brief aus dem Jahre 1928, dem das Motto zu diesem Aufsatz entnommen ist, heißt es: Ich bin kein Führer, und will und darf keiner sein. Ich habe durch meine Schriften zuweilen jungen Lesern dazu gedient bis dahin zu kommen, wo das Chaos beginnt, das heißt wo sie allein und ohne helfende Konventionen dem

53 54

Pachmuss 1975; Berezina 1978; Fridlender 1985; Nekrasova 1988. Ganz besonders zeichnet sich in dieser Hinsicht die Dissertation von Vasa Mihailovich „Hermann Hesse and Russia“ (Ann Arbor, 1974) aus, deren viertes Kapitel das Thema „Dostojevskij und Hesse“ eingehend behandelt. Hesse 1986, S. 198. Ebenda, S. 232 f. (Brief an Gerhard Dick, April 1955).

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Rätsel des Lebens gegenüberstehen. Für die Meisten ist schon das eine Gefahr, und die Meisten kehren denn auch wieder um und suchen neue Anschlüsse und Bindungen. Die sehr Wenigen, die es treibt ins Chaos einzutreten und die Hölle unserer Zeit bewußt zu erleben, die tun es ohne ‚Führer‘.55

Die Ablehnung jedes „Führertums“, die Hesses Denken in den zwanziger und dreißiger Jahren auszeichnete, führte ihn folgerichtig auch zur Ablehnung des deutschen Faschismus. Hesse hat immer seine „apolitische Haltung“ betont und vertrat stets die Überzeugung, es gebe zwei Menschengeschichten: die politische und die geistige.56 Gleichwohl hat er aufmerksam die europäischen Verhältnisse verfolgt und sie ausführlich in seinen Aufsätzen und Briefen charakterisiert. Der Kult des Irrationalen, der Taumel über dem „Abgrund“, das Hinsteuern auf „Blut“ und „Boden“ haben ihn nicht täuschen können. Die scharfe Absage, die er dem deutschen Faschismus, dem Antisemitismus und Hitler mehrfach erteilt hat, ist zur Genüge bekannt. Widersprüchlich war hingegen Hesses Verhältnis zum Kommunismus, zum russischen Bolschewismus und zu den russischen Revolutionären. Hier zeigten sich einerseits Hesses Sympathien für den Sozialismus, genauer gesagt für die Ideale des Sozialismus in ihrer „reinen Form“ (über Marx und seine Theorie hat er sich durchgängig kritisch geäußert). In einem Brief an seinen Sohn Heiner vom Januar 1930 gestand Hesse, dass er, rein politisch gesehen, den Sozialismus für die „einzige anständige Gesinnung“ halte.57 Dass er selbst nicht Sozialist geworden ist, erklärte er folgendermaßen: Erstens seien „die geistigen Grundlagen des Sozialismus“ (so nannte Hesse hier den Marxismus!) „keineswegs ganz rein und einwandfrei“ und zweitens seien „die Sozialdemokraten in der ganzen Welt ihren besten Grundsätzen längst untreu geworden“.58 Gleichwohl hat sich Hesse bereits in Zarathustras Wiederkehr nicht ohne Sympathie über die Spartakisten geäußert (deren kommunistische „Rezepte“ er im Allgemeinen nicht gebilligt hat); Anfang der dreißiger Jahre neigte er sogar dem Standpunkt zu, dass „der marxistische Weg über den sterbenden Kapitalismus hinweg zur Befreiung des Proletariates der Weg der Zukunft ist“.59 55 56 57 58 59

Hesse 1979, S. 200. Vgl. Hesses Brief an Curt Pfeiffer vom 5. August 1958. In: Hesse 1964, S. 485. Hesse 1970, S. 94. Ebenda. Hesse 1993, S.  60. Ungeachtet dessen hat Hesse manchmal auch seine Divergenzen zwischen seiner Position und derjenigen der Kommunisten hervorgehoben. Der hier angesprochene „Glaube an die Rechtmäßigkeit des Kommunismus“ gehörte keineswegs zu Hesses unumstößlichen Überzeugungen.

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Blick ins Chaos: Hermann Hesse über Dostoevskij und Russland

In seinen Äußerungen über die Ereignisse in Russland war Hesse im Ganzen vorsichtig und zurückhaltend. Die unmenschliche Politik der Bolschewiki, die zum Tode so vieler Menschen sowie zum Niedergang der von Hesse so geschätzten „Kultur“ führte, rief fast niemals seinen Protest hervor, ebensowenig wie die Kollektivierung, die Zwangsarbeitslager oder die Schauprozesse in den dreißiger Jahren (zumindest soweit sich nach den erhalten gebliebenen und gedruckten Zeugnissen urteilen läßt). In dem bereits erwähnten Brief Hesses an Thomas Mann von Anfang Dezember 1931 heißt es nicht ohne Bedauern: Deutschland hat es versäumt, seine eigene Revolution zu machen und seine eigene Form zu finden. […] Seine Zukunft ist die Bolschewisierung, mir an sich gar nicht widerwärtig, aber sie bedeutet eben doch einen großen Verlust an einmaligen nationalen Möglichkeiten.60

Wahrscheinlich hat das 1917 erwachte und ausgebrochene „russische Chaos“ weiterhin in gewissem Umfang Hesses Anteilnahme geweckt. Wie andere westeuropäische Intellektuelle, z. B. Stefan Zweig und Romain Rolland, blieb Hesse lange im Bann „intelligenzlerischer“ Illusionen über Sowjetrussland und – was einigermaßen erstaunt – über Lenin. Nachdem Hesse 1932 das Buch des amerikanischen Publizisten Don Levine über Stalin gelesen hatte61, äußerte er sich wohlwollend darüber in einer Rezension. Als „besonders interessant“ hob er die Geschichte der Feindschaft zwischen Stalin und Trockij hervor: Wie bei allen Büchern über die jüngste russische Geschichte ergreift und bezaubert uns keine der Führergestalten, mit einziger Ausnahme Lenins, dessen Genie wirklich ein napoleonisches war.62

Ähnlich doppeldeutige und „vorsichtige“ Äußerungen über die Sowjetunion haben dazu beigetragen, dass die kommunistische Propaganda sich wiederholt auf Hesse berufen hat63; manche Kommunisten haben ihm sogar begeisterte Briefe geschrieben. Hesse war davon befremdet und hat unablässig betont, dass er außerhalb der Politik stehe und auf Stalin nicht mehr gebe als auf Truman.64 Während des Kalten Krieges hielt er sich aus allen 60 61 62 63 64

Hesse 1979, S. 303. Levine 1931. Hesse 1977b, S. 469. Vgl. Hermann Hesse warnt vor Antibolschewismus. In: Leipziger Volkszeitung vom 9. August 1951, S. 1; Caspar 1952, S. 4; Böttger 1952, S. 350–353; u. a. m. Hesse 1986, S.  90 und 123 (Briefe an Otto Heuschele vom 6. Dezember 1950 und an Arnold Zweig vom Juli 1951). Allgemein bekannt ist auch Hesses Äußerung (im Brief vom 10. August 1950 an Dr. G.): „Gandhi war mehr als sämtliche amerikanischen Präsidenten

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Auseinandersetzungen heraus und betonte immer wieder: „Ich verabscheue Gewalt und Lüge, im Osten wie im Westen.“65 Zusammenfassend wird man sagen können, dass die humanistischen und religiösen Grundlagen der Weltanschauung Hesses und das für ihn charakteristische Streben nach intellektueller Vervollkommnung, nach innerer „Ruhe“ und „Ordnung“ mit den Jahren nicht nur seine Neigung zum „Chaos“ abgeschwächt, sondern diese Neigung immer mehr unterdrückt haben. Jegliche Revolution, welche Losungen sie auch auf ihre Fahnen geschrieben mochte, schien dem reifen Hesse inakzeptabel. Hesse hatte die Erfahrungen Europas im zwanzigsten Jahrhundert reflektiert und das Prinzip des „liebenden Duldens“66 zu seinem Credo gemacht. Sein Kastalien, der utopische Staat in dem Roman Das Glasperlenspiel (1943), stellt eine gut organisierte, vernünftige und zivilisierte Gesellschaft fernab von allem Chaos und aller Anarchie dar. In einem Brief aus dem Jahre 1959 schreibt er: Ich bin ein indisch-christlich erzogener Einzelgänger, dem jedes Machenwollen von Weltgeschichte, jedes Ändernwollen der Welt durch Gewalt […] unsinnig und falsch erscheint. […] Daß ein Zar durch einen Stalin, einen Kadar, Chruschtschew, Ulbricht ersetzt wird, ist kein Gewinn, es ist ein Tausch, keiner Opfer wert. Und daß auch im Westen nichts gut geworden ist, wissen Sie ja auch. Auf Grund dieser Anschauungen sehe ich in allen Versuchen, die Welt gewaltsam zu verbessern, nur Irrtümer. Was durchaus aber nicht hindert, daß ich vor dem guten Willen und Glauben des idealistischen Mitgängers und Mitkämpfers Respekt habe.67

Die Werke und Urteile Hesses, der es dank seiner geschliffenen „Dialektik“ verstand, unterschiedliche Seiten und Nuancen auch des politischen Lebens zu sehen und darzustellen, haben auf die Zeitgenossen den Eindruck tiefer „Weisheit“ und eines „besonderen Wissens“ gemacht. Nachdem Hesse 1946 den Nobelpreis für Literatur erhalten hatte, wuchs seine internationale Popularität sehr schnell; auch in der ehemaligen Sowjetunion wurde er zu einem bekannten Autor.68 Vor allem die Nachkriegsgeneration in Amerika erklärte Hesse zu einer Art „Guru“, zu einem Lehrer des Lebens.

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des Jahrhunderts samt sämtlichen Vertretern und Schöpfern des Kommunismus von Marx bis Stalin.“ (Hesse 1977b, S. 812). Hesse 1964, S. 430 (Brief an G. H. vom November 1954). Vgl. Hesse 1946, S. 12. Hesse 1964, S. 498 (Brief an den Literaturhistoriker und Publizisten Alfred Kantorowicz). Zur Rezeption Hesses in der Sowjetunion vgl. den Aufsatz von Reso Karalaschvili in: Pfeifer 1977.

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Wie auch immer man heute die philosophischen und politischen Ansichten Hesses beurteilen mag – man wird einräumen müssen, dass viele von ihnen jenen „Kern der Wahrheit“ enthalten, der allein dem feinen und edlen Geist gegeben ist. Es erstaunt nicht, dass auch heute, am Ende des Jahrhunderts und Jahrtausends, viele Beobachtungen Hesses ihre Aktualität bewahrt haben, ja mitunter geradezu prophetisch klingen. Zur Bestätigung mag Hesses Antwort auf die Umfrage der italienischen Zeitschrift Successo vom Mai 1961 dienen: Einen Rückfall in die faschistische Massensuggestion, wenn auch nur für kurze Perioden, halte ich in mehreren Ländern, nicht nur Europas, für möglich. Je mehr die individuelle Persönlichkeit und die Familie in den modernen Staaten an Wertschätzung und Wirkungsmöglichkeit verliert und durch Kollektiv und Gleichschaltung ersetzt wird, desto größer die Gefahr.69



Aus dem Russischen übersetzt von Holger Siegel Literatur

Berezina, Ada  G. (1978): F.  M.  Dostoevskij v vosprijatii G.  Gesse [Dostoevskij in der Sicht  H.  Hesses]. In: Dostoevskij v zarubežnych literaturach [Dostoevskij in den Literaturen des Auslands]. Leningrad. S. 220–239. Böttger, Fritz (1952): Freund der Wahrheit – Kämpfer für den Frieden. In: Der Deutschunterricht. Nr. 5. S. 350–353. Caspar, Günter (1952): Hermann Hesse – Humanist und Freund des Friedens. In: Neues Deutschland vom 2. Juli, Nr. 153. Danilevskij, Rostislav Ju.; Time, Galina  A. (2010): „Russkaja ideja“ Karla Nëtzelja [„Russische Idee“ von Karl Nӧtzel]. In: Bagno, Vs.; Malikova, M. (Hg.): K istorii idej na Zapade: „Russkaja ideja“: Sbornik statej [Zur Ideengeschichte im Westen: „Russische Idee“: Sammelband]. Sankt-Peterburg. S. 218–236. Dudkin, Viktor; Azadovskij, Konstantin (1973): Dostoevskij v Germanii [Dostoevskij in Deutschland]. In: F. M. Dostoevskij. Materialy i issledovanija [Materialien und Untersuchungen]. Moskva (= Literaturnoe nasledstvo [Das literarische Erbe]. Bd. 86]). S. 650–740. Erné, Nino (1947): Ein Beitrag zum Thema „Hermann Hesse und Dostojewski“. Briefe eines jungen Europäers an seinen Freund. In: Deutsche Beiträge. Eine Zweimonatsschrift. H. 4. S. 345–353. Fridlender, Georgij (1985): Dostoevskij i mirovaja literatura [Dostoevskij und die Weltliteratur]. Leningrad. S. 348–354. 69

Hesse 1964, S. 536.

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Fülöp-Miller, René; Eckstein, Friedrich (Hg.) (1928): Die Urgestalt der Brüder Karamasoff. Dostojewskis Quellen. Entwürfe und Fragmente. Erläutert von W. Komarowitsch. Mit einer einleitenden Studie von Sigmund Freud. München. Hesse, Hermann (1920): Blick ins Chaos. Drei Aufsätze. Bern. Hesse, Hermann (1921/22): Besprechung des satirischen Romans von R.  Hülsenbeck „Doktor Billig am Ende“. In: Vivos voco. Zeitschrift für neues Deutschtum. Begründet von Hermann Hesse und Richard Woltereck. 2. H. 7 (Dezember). S. 420. Hesse, Hermann (1946): Ansprache in der ersten Stunde des Jahres 1946. In: H[ermann] H[esse]: Der Europäer. Berlin. S. 12. Hesse, Hermann (1964): Briefe. Erweiterte Ausgabe. Frankfurt а. M. Hesse, Hermann (1970): Politische Betrachtungen. Frankfurt а. M. Hesse, Hermann (1972): Ein Roman von Dostojewski. In: H. H.: Schriften zur Literatur. Band 2 (= Gesammelte Werke. Band 12), Frankfurt a. M. Hesse, Hermann (1973): Gesammelte Briefe. Band 1: 1895–1921. Frankfurt a. M. Hesse, Hermann (1977a): Über Tolstoi und Russland. In: Michels, Volker (Hg.): H. H.: Politik des Gewissens. Die politischen Schriften 1914–1932. Vorwort von Robert Jungk. Band 1. Frankfurt а. M. Hesse, Hermann (1977b): Politik des Gewissens. Band 2: Die politischen Schriften 1932– 1964, Frankfurt a. M. Hesse, Hermann (1979): Gesammelte Briefe. Band  2: 1922–1935. In Zusammenarbeit mit Heiner Hesse, hg. von Ursula und Volker Michels. Frankfurt a. M. Hesse, Hermann (1982): Gesammelte Briefe. Band 3: 1938–1948. Frankfurt а. M. Hesse, Hermann (1986): Gesammelte Briefe  4: 1949–1962. In Zusammenarbeit mit Heiner Hesse und Ursula Michels, hg. von Volker Michels. Frankfurt a. M. Hesse, Hermann (1987): Beim Einzug in ein neues Haus. In: Gesammelte Werke Bd. 10. Frankfurt a. M. Hesse, Hermann (1988): Die Welt im Buch. Leseerfahrungen, I. Rezensionen und Aufsätze aus den Jahren 1900–1910. Hg. von Volker Michels. Frankfurt a. M. Hesse, Hermann (1993): Brief an einen Kommunisten. In: H[ermann] H[esse]: Zarathustras Wiederkehr. Ein Wort an die deutsche Jugend und andere Denkschritte gegen den Radikalismus von rechts und links. Hg. von Volker Michels. Frankfurt a. M. S. 60. Hesse, Hermann (1996): Kindheit und Jugend vor Neunzehnhundert. Hermann Hesse in Briefen und Lebenszeugnissen. 1877–1895. Frankfurt а. M. Hesse, Hermann; Humm, R. J. (1977): Briefwechsel. Hg. von Ursula und Volker Michels. Frankfurt а. M. Kopelew, Lew (2000): Am Vorabend des großen Krieges. In: Keller, M. (Hg.), unter Mitarbeit von Korn, K.-H.: Russen und Russland aus deutscher Sicht. 19./20. Jahrhundert: Von der Bismarckzeit bis zum Ersten Weltkrieg. München (= West-ӧstliche Spiegelungen. Reihe A. Band 4).

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Levine, Isaac Don (1931): Stalin, der Mann von Stahl. Mellerau bei Dresden. Lucka, Emil (1922): Dostojewski und der Sozialismus. In: Das literarische Echo. Halbmonatsschrift für Literaturfreunde 24. H. 20. 15. Juli. S. 1231. Lucka, Emil (1924): Dostojewski. Stuttgart und Berlin. Nekrasova, Tatjana  E. (1988): Russkaja klassičeskaja literatura i tvorčestvo Gesse [Russische klassische Literatur und das Werk Hesses]. In: Russkie zarubežnye svjazi [Literarische Beziehungen Russlands zum Ausland]. Frunze. S. 73–81. Pachmuss, Temira (1975): Dostoevsky and Hermann Hesse: Analogies and Congruences. In: Orbis Litterarum: International Review of Literary Studies (Copenhagen). Vol. 30. S. 210–224. Pfäfflin, Friedrich (Hg.) (1977): Hermann Hesse 1877–1977. Stationen seines Lebens, des Werkes und seiner Wirkung. Gedenkausstellung zum 100. Geburtstag im SchillerNationalmuseum. Marbach am Neckar (Katalog). Marbach. Pfeifer, Martin (Hg.) (1977): Hermann Hesses weltweite Wirkung. Internationale Rezeptionsgeschichte. Frankfurt a. M. S. 127–154. Riza-Zadė, Fatima (1928): Epigony Dostoevskogo v Germanii [Die Epigonen Dostoevskijs in Deutschland]. In: Vestnik inostrannoj literatury [Bote der ausländischen Literatur]. H. 11. S. 139–140. Stekvašov, Evgenij A. (1986): I. S. Turgenev i G. Gesse [I. S. Turgenev und H. Hesse]. In: I.  S.  Turgenev. Problemy mirovozzrenija i tvorčestva: Mežvusovskij sbornik naučnych trudov [Probleme der Weltanschaung und des Schaffens: Wissenschaftliche Schriften. Hochschul-Sammelband]. Ėlista. S. 60–71. Zweig, Stefan (1920): Drei Meister. Balzac, Dickens, Dostojewski. Berlin (Frankfurt a. M. 1982).

Stefan Zweig in der UdSSR Ähnlich wie andere herausragende deutschsprachige Schriftsteller des 20. Jahr­hunderts – man denke an Gerhart Hauptmann, Thomas Mann oder Rainer Maria Rilke – war Stefan Zweig zu Lebzeiten geistig und schöpferisch eng mit Russland und der russischen Literatur verbunden. So schrieb er umfassende Essays über Fёdor Dostoevskij und Lev Tolstoj sowie einige Artikel über Maksim Gor’kij und andere. „Tolstoj ist für mich“, so Zweig im Jahre 1928, „ein großer Lehrer. Unsere Jugend dort, im Westen, ging in zwei Richtungen; sie war gespalten zwischen zwei Genies – Tolstoj und Dostoevskij. Dank dieser Schriftsteller ist Russland für uns ein wahrer Wegweiser für die zeitgenössische Kunst geworden“.1 Erwähnungen von Zweig sowie die Veröffentlichungen seiner einzelnen Werke, die in Russland am Anfang des 20. Jahrhunderts erschienen, waren im Großen und Ganzen episodenhaft.2 Der erste bedeutende Schriftsteller, der Zweig Anerkennung zollte, war V. Ja. Brjusov; vom Namen des österreichischen Schriftstellers hörte dieser im Jahr 1903 vom Literaten Maximilian Schick, der dem Moskauer Symbolistenkreis nahestand.3 Berichte über den jungen Wiener Dichter, der auch ein Übersetzer von Verhaeren war, konnten an Brjusov, der schon in den 1890er Jahren von den Gedichten des belgischen Dichters fasziniert war und sie ins Russische übersetzte, nicht spurlos vorbeigehen. Im Jahr 1904, nachdem er die Herausgeberschaft des symbolistischen Journals Vesy übernommen hatte, platzierte Brjusov in einer Ausgabe der Vesy eine kurze Inhaltsangabe zum Artikel Zweigs über Verhaeren in der Berliner Wochenzeitschrift Das literarische Echo.4 In derselben Zeitschrift erschien 1907 eine Rezension Viktor Gofmans zu Zweigs Gedichtband Die frühen Kränze (1906).5 Der Name Zweigs wurde zudem in * Erstveröffentlichung in: Instituty kul’tury Leningrada na perelome ot 1920-ch k 1930-m godam. [Kulturinstitutionen Leningrads im Umbruch von den 1920-er zu den 1930-er Jahren]. [2011] http://pushkinskijdom.ru/wp-content/uploads/2018/03/Azadovsky_Instituty-2011. pdf. Wieder in: Konstantin Azadovskij. Sjužety i sud’by: Nemecko-russkie otraženija [Themen und Schicksale: Deutsch-russische Spiegelungen]. Moskva, 2019. S. 215–240. 1 Čitatel’ i pisatel’. Nr. 37 vom 15. September 1928, S. 7. 2 Eines von Zweigs Gedichten wurden in der Petersburger Zeitschrift Niva (vgl. Cvejg 1906) veröffentlicht und war zeitgleich die erste Publikation von Zweig in russischer Sprache. Die erste separate Ausgabe erschien 1912, vgl. Cvejg 1912. Vgl. auch Žitomirskaja 1976, S. 70, 77; Nymphius 1996, S. 32ff., 224. 3 Vgl. Azadovskij 2019, S. 154f. 4 Vgl. Vesy. 1904. Nr. 4, S. 75; Die Signatur ‚L.‘ ist eines von Brjusovs Pseudonymen. 5 Vgl. ebenda, 1907. Nr. 9, S. 89f.

© Brill Fink, 2022 | doi:10.30965/9783846766767_012

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Übersichtsartikeln und Rezensionen zur zeitgenössischen deutschen Literatur erwähnt.6 Die Publikationen in Vesy stellen den eigentlichen Anfang der Geschichte des ‚russischen Zweigs‘ dar. Die Zeitschrift Vesy wurde Ende 1909 eingestellt; ab Herbst 1910 leitete Brjusov die literaturkritische Abteilung der Zeitschrift Russkaja mysl’. Zu den ausländischen Autoren, die Brjusov für die Zeitschrift Russkaja mysl’ zu gewinnen suchte, gehörte unter anderen auch Stefan Zweig. „Ich hatte vor kurzem die Gelegenheit“, so Brjusov am 24. November 1910 an Pëtr B. Struve, den Herausgeber der Zeitschrift, „an Stefan Zweig, einen nicht unbedeutenden deutschen Schriftteller, zu schreiben. Ich schlug ihm vor, dass er über die deutsche Literatur für die Zeitschrift Russkaja Mysl’ schreibe.“7 Zweig lehnte dies jedoch ab, „mit der Begründung, dass er Journalismus nicht möge“ (aus dem Brief Brjusovs an Pëtr B. Struve, 9. Januar 1911).8 Ein Vermittler in der Brieffreundschaft Zweigs und Brjusovs war Emil Verhaeren, mit dem Brjusov ab 1906 korrespondierte; Zweigs Name wird in ihren Briefen ständig im Zusammenhang mit der Übersetzung von Verhaerens Drama Hélène de Sparta ins Deutsche und Russische9 und mit Zweigs Arbeit über Verhaeren erwähnt. Es besteht kein Zweifel, dass Verhaeren Brjusov von Zweig an ihrem ersten Treffen im belgischen Le Caillou-qui-bique bei Honelles im Oktober 1908 erzählte; genau so hat Verhaeren zum Briefwechsel zwischen Zweig und Brjusov beigetragen. „Ich habe viel mit Zweig über Sie gesprochen, als er mich vor zwei Wochen besuchte“, so Verhaeren an Brjusov am 26. August / 8. September 1910, „wären Sie nur hier gewesen!“10 Diesen Brief schrieb Verhaeren, wie aus dem Inhalt hervorgeht, als er die letzte Ausgabe der Zeitschrift Russkaja Mysl’ in der Hand hielt, in welcher Brjusovs Artikel Novye knigi Ėmilja Vercharna [„Émile Verhaerens neue Bücher“] abgedruckt wurde.11 6 7 8 9

10 11

Vgl. auch Ljuter 1905, S. 62–67; Gofman 1908, S. 127f. Brjusov 1960, S. 305. Ebd. S. 306. Zweig übertrug das Drama ins Deutsche, Brjusov ins Russische (eine separate Ausgabe erschien 1909 im Verlag Skorpion). Bei der Veröffentlichung von Hélène de Sparta im Jahre 1912 – Brjusovs Übersetzung wurde zuvor nach Verhaerens Manuskript angefertigt – hat Verhaeren seinem Buch folgende Widmung vorangestellt: „À mes amis Stephan Zweig et Valère Brussov qui traduisirent en allemand et en russe cette tragédie lyrique“ [An meine Freunde Stefan Zweig und Valerij Brjusov, die Übersetzer dieser lyrischen Tragödie ins Deutsche und ins Russische] (Verhaeren 1912, S. 7). Brjusov 1976, S. 603. Russkaja mysl’. 1910. Nr. 8, S. 15ff.; Brjusovs Artikel – der vierte im Zyklus „Literaturnaja žizn’ vo Francii“ [„Literarisches Leben in Frankreich“] – enthielt eine Rezension zu Büchern Verhaerens, die 1909–1910 erschienen waren, sowie zu Monographien über ihn,

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Der Briefwechsel zwischen Brjusov und Zweig zwischen 1910 und 1914 ist nicht vollständig erhalten. Derzeit sind nur ein Brief Zweigs an Brjusov – sofern man die zwei Briefe, die er zusammen mit Verhaeren12 schrieb, nicht mitzählt – vom 12. Juli 1911 aus Wien13 und vier Briefe Brjusovs an Zweig bekannt.14 Freilich war Zweig Thema vieler Gespräche zwischen Brjusov und Verhaeren, als Letzterer im November  1913 Moskau und St. Petersburg besuchte. In der Postkarte, die Verhaeren zusammen mit Zweig am 26. März 1914 an Brjusov schrieb, vermerkte Zweig im Besonderen: „Verhaeren erzählt von den Wundern seines Russlandaufenthaltes, er ist förmlich begeistert. Bald schicke ich Ihnen mein Buch über Dostoevskij,15 ich hoffe, dass es Sie interessieren wird“.16 Dies war der letzte Brief, den Brjusov von dem österreichischen Schriftsteller erhalten sollte. * Ungeachtet der Veröffentlichungen in den Zeitschriften Vesy und Russkaja mysl’ blieb der Name Zweigs in Russland bis zum Anfang der 1920er Jahre beinahe unbekannt. Als Wendepunkt kann man die Jahre 1923 und 1924 betrachten, als der Petrograder Verlag Atenej zwei Werke Zweigs veröffentlichte – die schnell und weitflächig vergriffen waren17 – und der Gosizdat [Staatliche Verlagsanstalt] das Theaterstück Legenda odnoj žizni. P’esa v trëch dejstvijach [im Original: „Legende eines Lebens. Ein Kammerspiel in drei Aufzügen“],18 sowie das Buch über Romain Rolland19 publizierte. In denselben Jahren begannen der Briefwechsel und die Freundschaft zwischen Stefan Zweig und Maksim Gor’kij. Seine echte, ‚ganzrussländische‘ Bekanntheit erlangte Zweig allerdings erst, als seine Werke vom Verlag Vremja abgedruckt wurden.

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darunter die Übersetzung von Zweig ins Französische: Émile Verhaeren. Sa vie, son œuvre [Emile Verhaeren. Sein Leben, sein Werk] (1910). Brjusov 1976, S. 610, 621. Azadovskij 1994, S. 270–275. Štejnberg 1994, S. 261. Zweig wandte sich 1912 erstmals Dostoevskij zu – im Gedicht Der Märtyrer. Dostojewski, 22. Dezember 1849 (vgl. Zweig 1912) –, aber seine Arbeit wurde durch den Krieg unterbrochen und zog sich über mehrere Jahre hin. Das Buch über Dostoevskij, über das Zweig Brjusov im März 1914 informierte, wurde erst 1920 fertiggestellt und veröffentlicht; vgl. Zweig 1920. Brjusov 1976, S. 621. Cvejg 1923a und 1924 Cvejg 1923b. Cvejg 1923c.

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Dieser Verlag (oder ‚Gesellschaft‘) – der auf genossenschaftlichen Prinzipien basierte – wurde bereits 1922 gegründet, nahm jedoch seine Tätigkeit offiziell am 1. März 1923 auf. Die Gründer des Verlags waren I. V. Vol’fson und G. P. Blok, ehemalige Mitarbeiter im Verlag Z. I. Gržebins. Vol’fson blieb lange Zeit Vorsitzender des Vorstands.20 Die Publikationen des Verlags Vremja waren anfangs alles andere als homogen; mit der Zeit jedoch fand der Verlag seine eigene Schiene und spezialisierte sich auf die Veröffentlichung von populärwissenschaftlicher und ausländischer Belletristik. Obschon er in den ersten Jahren seines Bestehens noch recht bescheiden war, erweiterte der Verlag Vremja bald sein Tätigkeitsfeld. Anfangs zählte der Verlag 10 Mitglieder, doch bis 1931 stieg deren Zahl auf 23 an.21 Das Produktionsvolumen des Verlags schwankte ständig und variierte von Jahr zu Jahr. Die größte Anzahl an Titeln wurde im Zeitraum von 1925–1926 veröffentlicht – davon 68 im Jahr 1925 und 70 im Jahr 1926. In den darauffolgenden Jahren ging die Zahl der Titel stark zurück – was vor allem auf Probleme mit dem Papier zurückzuführen ist. So verzeichnete man für die Jahre 1932–1934 jeweils 18, 19 und 14 Ausgaben. Im Sommer 1934 stellte der Verlag Vremja seine Tätigkeit schließlich ein.22 Bei der Veröffentlichung der Werke ausländischer Autoren – darunter gelegentlich auch zufällige und zweitrangige Namen – legte der Verlag Vremja großen Wert auf die künstlerische Seite der Übersetzungen aus Fremdsprachen ins Russische. Für den Verlag arbeiteten angesehene Dichter und Übersetzer, z. B. V. A. Zorgenfrej, M. A. Kuzmin, M. L. Lozinskij, O. Ė. Mandel’štam und A.  A.  Frankovskij. In der Redaktion und im Lektorat waren außerdem 20

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Il’ja Vladimirovič Vol’fson (1882–1950) war ein Verlagsunternehmer. Er wurde in Vitebsk in einer Großfamilie geboren, studierte in Leipzig, in den Jahren 1911–1912 war er Herausgeber des Petersburger Presseverzeichnisses Gazetnyj mir. Kurz vor der Oktoberrevolution arbeitete er in der Redaktion der Zeitung Reč’. Von 1919 bis 1922 war er Leiter der Petrograder Filiale des Verlags von Z. I. Gržebin. Im Jahr 1922 leitete er die Verlagsgenossenschaft Vremja, die er organisierte und deren Mehrheitsaktionär er bis 1930 blieb. Anfang 1930 wurde er verhaftet und nach Artikel  58 und Artikel  169 des Strafgesetzbuches (in der Fassung von 1926) zu drei Jahren Haft verurteilt – er arbeitete am Bau des Weißmeerkanals. Im März 1935 wurde er entlassen und erst im Mai 1989 rehabilitiert. Seit Mitte der 1930er Jahre und bis zu seinem Lebensende arbeitete er im Verlag Chimija – zuerst in Moskau, dann in der Leningrader Filiale, in der er als Leiter der Produktionsabteilung tätig war. Nach Aussagen von Personen, die Vol’fson persönlich kannten, war er ein vielseitiger, gebildeter, überaus intelligenter, milder und sympathischer Mann; gleichzeitig zeichnete er sich durch seine Zielstrebigkeit und Hartnäckigkeit aus, aber auch durch seine Fähigkeit, jede Aufgabe zu Ende zu bringen. Vgl. RO IRLI. Bestand 42. Nr. 1. Blatt 1; darin befinden sich Informationen zur Geschichte und zur weiteren Tätigkeit des Verlags, zusammengestellt zur Vorlage an den Presseausschuss und an andere Behörden, 1929–1934). Vgl. auch Malikova 2014, S. 129–331; Šomrakova 1968, S. 199–214.

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G. P. Blok, V. A. Desnickij, B. M. Ėjchenbaum und S. F. Ol’denburg tätig. Der Großteil dieser Autoren gehörte zu den Mitgliedern der ‚Genossenschaft‘. Ab 1931 bildete der Verlag einen Redaktionsrat, für den A. V. Lunačarskij als Vorsitzender gewählt wurde. Wenn man über die Übersetzungskultur der UdSSR und die hohe Professionalität spricht, die auf diesem Gebiet im Laufe der Jahre erreicht wurde, kommt man nicht umhin, auch die Tätigkeit des Verlags ‚Vremja‘ zu erwähnen: „Der Verlag macht den Eindruck einer sehr ernsten und kulturträchtigen Angelegenheit“, so Gor’kij in seinem Brief an I. V. Vol’fson am 26. Februar 1926.23 Im Jahr 1925 veröffentlichte der Verlag eine Novellensammlung Zweigs mit dem Titel Žgučaja tajna. Pervye pereživanija [im Original: Brennendes Geheimnis. Erstes Erlebnis. Vier Geschichten aus dem Kinderland] in der Übersetzung von P. S. Bernštejn und A. I. Kartužanskaja, herausgegeben von G. P. Fedotov. Dem folgte eine Neuauflage von Amok [im Original: Der Amokläufer], der zuerst im Verlag Atenej im Jahr 1923 erschienen war. Beide Ausgaben wurden, genau wie die vorherigen, ohne die Zustimmung des Autors veröffentlicht; so war es noch im vorrevolutionären Russland, das sich nicht dem internationalen Übereinkommen anschloss, gang und gäbe. Zweigs Appell an den Verlag ‚Vremja‘ – der erste Brief Zweigs an den Verlag wird auf den 30. Dezember 1925 datiert – ging eine Korrespondenz mit dem Leipziger Verlag ‚Insel‘ voraus, der seit 1904 die Werke des Schriftstellers herausgab. Im Juni 1925 äußerte sich Zweig in einem seiner Briefe an Fritz Adolf Hünich24 besorgt über ‚Raubkopien‘ seiner Werke in Russland. Hünich, der damals in ständiger Korrespondenz mit dem Moskauer Kunsthistoriker, Sammler und Bibliophilen P. D. Ėttinger (1866–1948) stand, schrieb diesbezüglich direkt an seinen Korrespondenten: Mein sehr verehrter Herr Ettinger! Heute habe ich eine Bitte an Sie. Herr Dr. Stefan Zweig schreibt mir, daß er von verschiedenen Seiten gehört habe, einige seiner Bücher seien in Rußland sehr lebendig. Auch er habe von Georg Brandes erfahren, daß ein Buch von ihm sehr verbreitet sei. Es scheint nun, daß das eine oder andere Buch von ihm ins Russische übersetzt worden ist, wovon der Dichter freilich keine Ahnung hat. Er wüßte deshalb gern, ob seine Vermutung zutrifft, und ich bitte Sie, in der, wie mir gesagt wurde, wieder erscheinenden und Ihnen gewiß zugänglichen

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Gor’kij 1964, S. 29. Fritz Adolf Hünich (1885–1964) war ein Germanist, Dichter, Bibliograf und langjähriger Mitarbeiter im Verlag ‚Insel‘ – seit 1913. Er schrieb einige bibliografische Arbeiten, u. a. zu Rainer Maria Rilke (1919 und 1935) und Stefan Zweig (1931).

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Stefan Zweig in der UdSSR Bibliographie25 nachzusehen, welche Werke Stefan Zweigs ins Russische übertragen sind. Mit den schönsten Grüßen Ihr ergebener F. Hünich26

Ėttinger kam der Bitte Hünichs nach. Er gab ihm nicht nur die nötigen Auskünfte, sondern schickte auch zwei Bücher Zweigs in russischer Übersetzung nach Leipzig – welche Bücher es genau waren, darüber lässt sich nur spekulieren; offenbar jedoch befand sich darunter ein Exemplar von Zweigs Novellensammlung Žgučaja tajna. Pervye pereživanija, erschienen im Verlag Vremja. Zudem äußerte Ėttinger seine Bereitschaft, dessen Buch über Romain Rolland aus dem Jahr 192327 zu schicken. Am 17. Juli 1925 schrieb Hünich an Ėttinger: Lieber und verehrter Herr Ettinger! Vielen Dank für Ihren Brief vom 9. ds Mts. Und die Mitteilung, daß auch Zweigs Buch über Romain Rolland ins Russische übersetzt ist. Es wäre wirklich außerordentlich liebenswürdig von Ihnen, wenn Sie sich im Interesse von Herrn Dr. Zweig um ein Exemplar bemühen würden. Vielleicht machen Sie ihm selbst mit dessen Zusendung eine Freude; seine Adresse kennen Sie ja. Die beiden früher gesandten Übertragungen sind nunmehr in seinen Händen.28

Es besteht kein Zweifel, dass Ėttinger auch dieser Bitte nachkam und Zweig zusätzlich noch die russische Übersetzung seiner Novelle Der Amokläufer schickte, die zuerst 1923 im Verlag ‚Atenej‘ erschien und im Dezember 1925 im Verlag ‚Vremja‘ neu aufgelegt wurde. So kam es zu einer direkten Korrespondenz zwischen Ėttinger und Zweig. Es ist kein Zufall, dass Zweigs erster Brief an den Verlag ‚Vremja‘ mit einer Erwähnung Ėttingers beginnt: Herr Paul Ettinger war so außerordentlich freundlich, mir ein Exemplar der neuen Auflage von Amok, die bei Ihnen erschienen ist, zu besorgen und die Mitteilung zu machen, dass Sie eventuell ein neues Buch von mir vor dem Erscheinen in Deutschland übernehmen wollten. Nun werde ich in etwa drei Monaten den dritten Kreis meiner Novellen unter dem Titel Verwirrung der Gefühle herausgeben und bin gerne bereit Ihnen zwei Monate vor dem Erscheinen das ganze Material zur Verfügung zu stellen und würde mich freuen, wenn Sie davon eine Ausgabe machen würden.29 25 26 27 28 29

Offenbar bezieht sich Hünich auf die „Knižnaja letopis’“ [Bücherchronik]. Azadovskij 1999, S. 48. Cvejg 1923c. Azadovskij 1999, S. 48. Azadovskij 1977; vgl. auch Koreneva 2011, 265.

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Die Nachricht, dass seine Bücher in Russland übersetzt und gedruckt wurden, obschon ohne sein Wissen,30 löste bei Zweig keine Wut aus, sondern – im Gegenteil – aufrichtige Freude: Aufgewachsen mit Bewunderung für die russische Klassik, träumte Zweig schon früh davon, seine Bücher in Russland veröffentlichen zu können, und hoffte, dass sie von den russischen Lesern anerkannt würden. „Mich hat zutiefst gefreut“, so Zweig im Vorwort zur ersten russischen Ausgabe seiner gesammelten Werke, „daß meine Bücher, mir vorauseilend, in das Land gelangt sind, das zu sehen und mir geistig verwandt zu machen ich schon viele Jahre bestrebt bin.“31 Der Briefwechsel zwischen Ėttinger und Zweig in der zweiten Hälfte des Jahres 1925 legte den Grundstein für eine langjährige Korrespondenz und eine enge Zusammenarbeit zwischen dem österreichischen Schriftsteller und dem sowjetischen Verlag, woraus unter anderem die mehrbändige Sammlung der Werke Zweigs hervorging – die erste in der Sowjetunion. * Seinen Brief vom 30. Dezember 1925 schickte Zweig fälschlicherweise nach Moskau und nicht nach Leningrad, wo sich der Verlag eigentlich befand; der Brief ging beim Empfänger erst Mitte Jänner 1926 ein. Ab Frühling 1926 stand der Verlag ‚Vremja‘ im regelmäßigen Briefwechsel mit Zweig, der die Initiative des russischen Verlags nicht nur auf jegliche Art unterstützte, sondern sie sogar anregte: Er erklärte sich bereit, die Manuskripte seiner neuen Werke dem Verlag vorzulegen, bevor diese überhaupt in Deutschland erschienen waren. Zudem lehnte er etwa sein Autorenhonorar ab bzw. reduzierte seine Forderungen auf ein Minimum. Im März 1926 schickte Zweig Manuskripte seiner Novellen Vierundzwanzig Stunden aus dem Leben einer Frau und Verwirrung der Gefühle nach Leningrad; im Herbst desselben Jahres erschienen sie unter einem Einband – auf dem Titelblatt ist das Jahr 1927 vermerkt. Im Mai 1926 bot Zweig dem Verlag das 1917 veröffentliche dramatische Gedicht Jeremias an sowie ein Stück des englischen Bühnenautors Ben Johnson, das von Zweig für das Theater umgeschrieben, aber noch in keinem deutschen Verlag veröffentlicht war.32 Ermutigt durch die 30

31 32

1925 erschien im Moskauer Verlag Solnce [Die Sonne] ein weiteres Buch von Zweig – Glaza ubitogo [‚Die Augen eines Ermordeten‘, vgl. Cvejg 1925; im Original Die Augen des ewigen Bruders – eine Legende], ins Russische von L. N. Vsevolodskaja; später wurde der Titel dieser Legende treffender ins Russische übersetzt, nämlich Glaza izvečnogo brata [gleich dem Original], vgl. Cvejg 1963a. Cvejg 1927, S. 11. Die Rede ist von Ben Jonsons berühmtem Stück Volpone.

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Zusammenarbeit mit Zweig und durch die Erfolge seiner Bücher in Russland, fasste der Verlag Vremja im Herbst 1926 den kühnen Entschluss, eine mehrbändige Sammlung von Zweigs Werken in Angriff zu nehmen. Zweig ging mit Freude auf den Vorschlag des Verlags ein. In einem Brief vom 8. November 1926 teilte Zweig I. V. Vol’fson seine Gedanken über die geplante Publikation mit, gab dem Verlag das Recht, seine Hauptwerke in russischer Sprache zu drucken, und empfahl als Autor des einleitenden Artikels seinen Freund und österreichischen Kritiker Richard Specht (1870–1932). Der Wunsch des Verlags, die Zusammenarbeit mit Zweig auszubauen, wurde gewissermaßen durch die begeisterten Äußerungen von Maksim Gor’kij angeregt, der Zweigs großes literarisches Talent erkannte. „Beide Bücher von Zweig sind interessant, er ist ein ernstzunehmender Schriftsteller und recht eigenartig“, schrieb Gor’kij am 17. Juli 1926 an I. V. Vol’fson.33 Ein paar Monate später, nachdem Gor’kij die Novellensammlung Smjatenie čuvstv [im Original: Verwirrung der Gefühle] gelesen hatte, schrieb dieser: „[…] Stefan Zweigs Buch ist wahre Kunst. Die Verwirrung der Gefühle ist ein klassisch, wunderschön gemachtes Werk.“34 Aus diesem Grund informierte Vol’fson – nachdem Zweigs Brief am 8. November 1926 bei ihm eintraf – Gor’kij sofort über das neue Verlagsprojekt. „Wir haben mit Zweigs Einverständnis beschlossen, eine Sammlung seiner Werke zu veröffentlichen. Die Biographie, auf Zweigs Anweisung hin, wird im Ausland vom Literaturkritiker Specht geschrieben“, so Vol’fson an Gor’kij am 8. Dezember 1926. „Deshalb bitte ich Sie, Aleksej Maksimovič, um Folgendes: Da Zweig in Russland noch wenig bekannt ist, schreiben Sie doch bitte wenigstens ein kurzes Vorwort oder eine Einleitung zu den Gesammelten Werken, wo Sie dem russischen Leser ein paar Worte zu Zweig sagen“.35 Am darauffolgenden Tag, den 9. Dezember 1926, schickte der Verlag einen Brief an Zweig, in dem u. a. stand: Von unserem Freunde Maxim Gorki, der Ihrem Buche „Verwirrung der Gefühle“ außerordentliches Lob spendet und Ihr Talent im höchsten Masse schätzt, erhielten wir gleichfalls betreffs Ihrer Werke einen Brief. Da er bei uns sehr populär ist, wenden wir uns auch gleichzeitig an ihn mit der Bitte, ein Vorwort für die Gesamtausgabe zu verfassen, vielleicht würden Sie es für annehmbar finden, sich unserem Vorschlag anzuschließen und ein paar Worte hinsichtlich dessen

33 34 35

Gor’kij 1964, S. 31 Ebd. S. 35. Ebd. S. 36f.

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an ihn zu richten, wofür wir Ihnen im Voraus unseren Dank aussprechen.36 Maxim Gorki kennt unseren Verlag und die bei uns erschienen [sic!] Bücher.37

Gor’kij ging bereitwillig auf Vol’fsons Anfrage ein und schickte ihm bald das von ihm verfasste Vorwort.38 Im Frühling 1927 wurde der erste Band der Gesammelten Werke Zweigs veröffentlicht. In den Verlagskatalogen von ‚Vremja‘ wurde diese Ausgabe als „die einzige in russischer Sprache erschienene, mit Genehmigung des Verfassers, sowie mit den Vorwörtern Gor’kijs und des Verfassers, die eigens für die russische Ausgabe geschrieben wurden, mit einem kritisch-bibliographischen Abriss Richard Spechts (Wien) und einer Abbildung des Verfassers, die für den Verlag ‚Vremja‘ von Franz Maserel [sic! d.i. Frans Masereel] (Paris) angefertigt wurde“, beworben. Zweigs gesammelte Werke wurden über mehrere Jahre hinweg veröffentlicht – die letzten Bände erschienen 1932. Einige Bände wurden – aufgrund der großen Nachfrage der Leserschaft – zweimal oder noch öfter aufgelegt. Diese zwölf Bände enthielten die Hauptwerke Zweigs, die er bis zu diesem Zeitpunkt geschrieben hatte; eine Ausnahme bildeten seine Dramen und Gedichte – diese wurden vom Verlag ‚Vremja‘ nämlich gar nicht publiziert. Mit der Veröffentlichung seiner gesammelten Werke in russischer Sprache trat der österreichische Schriftsteller ab 1927 noch näher an Russland heran. Zu dieser Zeit hatte Zweig, wie seine Briefe an den Verlag ‚Vremja‘ zum Teil belegen, ein reges Interesse an den ‚revolutionären Umgestaltungen‘ in der Sowjetunion und bemühte sich stets, seine Loyalität der UdSSR gegenüber zu betonen. Seine Haltung zum ‚neuen Russland‘ wurde im Herbst 1928 deutlich, als der Schriftsteller anlässlich des 100. Geburtstags Lev Tolstojs Moskau besuchte und nach seiner Rückkehr nach Österreich eine Reihe von Aufsätzen veröffentlichte, die später in einer Broschüre mit dem Titel Reise nach Rußland erschienen.39 * Der Entscheidung der sowjetischen Behörden, Zweig nach Moskau einzuladen, ging eine intensive Korrespondenz zwischen Ol’ga Kameneva – der 36 37 38 39

In den veröffentlichten Briefen von Zweig an Gor’kij dieser Zeit wird das Vorwort nicht erwähnt. Koreneva 2011, S. 299f. Vgl. auch Gor’kij 1964, S. 38. Vgl. Zweig 1928a (einige Auszüge wurden Ende 1928 in anderen deutschen Zeitungen veröffentlicht). Im selben Jahr erschien Zweigs Reise nach Rußland in Wien als separate Ausgabe, vgl. Zweig 1928b. Für Übersetzungen ins Russische, vgl. Cvejg 1928a und Cvejg 1993a.

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damaligen Leiterin der Allunionsgesellschaft für kulturelle Verbindung mit dem Ausland, dem Volkskommissariat für auswärtige Angelegenheiten und anderen Behörden voraus. Erst zwölf Tage vor den Feierlichkeiten erhielt Zweig eine offizielle Einladung von der sowjetischen Botschaft in Österreich. Ähnliche Einladungen wurden an Franz Werfel und Hugo von Hofmannsthal geschickt – beide lehnten allerdings ab, und zwar mit der Begründung, dass die Zeit nicht reichte, sich auf die Reise vorzubereiten.40 Zweig kam am 10. September 1928 in Moskau an.41 Noch im Zug gab er der jungen Schriftstellerin N. Kal’ma ein Interview. „Eine überaus starke Neugierde zieht mich nach Russland“, so Zweig. „Bald werde ich eigens nach Russland zurückkehren, um jene Heimat zu studieren, die Tolstoj und Dostoevskij geboren hat.“42 In Moskau erwartete Zweig ein Begrüßungsschreiben des Verlags ‚Vremja‘: „Nur wenige Jahre sind verflossen“, heißt es im Schreiben, „seitdem der russische Leser sich mit Ihren Werken vertraut gemacht . Aber in dieser kurzen Spanne Zeit ist es Ihnen gelungen, mit unglaublicher Geschwindigkeit auf russischem Boden festen Fuß zu fassen, Ruhm und Popularität zu erwerben und in den weitesten Schichten der Bevölkerung Liebe und Verehrung zu erwecken.“43 Am selben Abend besuchte Zweig eine Galaveranstaltung im Bol’šojTheater. A. V. Lunačarskij und P. N. Sakulin hielten die einführenden Reden. Ihnen folgten ausländische Gäste, die zu den Tolstoj-Feierlichkeiten eingeladen waren (darunter Bernhard Kellermann, Ettore Lo Gatto u.  a.); sie sprachen darüber, welch großen Einfluss Tolstoj auf ihre Länder habe. Auch Zweig hielt eine kurze Rede (sie wurde von Professor Evgenij M. Braudo übersetzt): Es hat Jahrhunderte gedauert, bis sich Westeuropa für die russische Sprache und Literatur interessiert hat. Der Westen betrachtete Russland als ein Land, von dem es nichts zu lernen gab. Erst in jüngster Zeit haben sie begonnen, im russischen Volk eine Quelle für kulturelle Werte zu finden. Einer der Faktoren, die zu dieser Veränderung beitragen, ist das Werk Tolstojs.44

„Nun, vorbereitet hatte ich nichts“, schrieb Zweig seiner Frau Friderike am nächsten Tag, „aber nach kurzem Überlegen entschloß ich mich, frei zu 40 41 42 43 44

Diese auf Archivalien basierenden Informationen präsentiert die österreichische Forscherin Julia Köstenberger; vgl. Köstenberger 2013, S. 261–274. Vgl. Izvestija. Nr. 211 vom 11. September 1928, S. 4. Kal’ma 1928, S. 8 Koreneva 2011, 361. Izvestija. Nr. 212 vom 12. September 1928, S. 5.

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sprechen – […] Wunderbar dieses herrliche Publikum! Bei uns wäre solches gespanntes Zuhören unmöglich.“45 Zweig erwähnte in diesem Brief nicht, dass im Foyer des Bol’šoj-Theaters am Abend des 10. September sein Buch über Tolstoj, das gerade in Leningrad beim Verlag Krasnaja gazeta im Umfang von 25 000 Exemplaren erschienen war, zum Verkauf stand.46 Am  11. September besuchte Zweig das Museum der Schönen Künste, in dem eine Lev Tolstoj gewidmete Ausstellung eröffnet wurde. „Nach dem Ende der Besichtigung der Ausstellung besuchte das Jubiläumskomitee zusammen mit den ausländischen Gästen das Lev-Tolstoj-Museum und sein Haus in Chamovniki“, berichtete man in der Zeitung Izvestija.47 Spät am Abend, nach dem Konzert, fuhr Zweig zusammen mit einer Gruppe von Teilnehmern der Tolstoj-Feierlichkeiten nach Tula. Am Morgen, nach einer Übernachtung in einem Hotel, kamen die Gäste in Jasnaja Poljana an. Dort wurden sie von Aleksandra  L.  Tolstaja, der jüngsten Tochter des Schriftstellers, empfangen; A.  L.  Tolstaja war damals Leiterin des Museums in Jasnaja Poljana (im Jahr 1929 verließ sie die Sowjetunion). S. A. Tolstaja-Esenina, Lev Tolstojs Enkelin, mit der sich der österreichische Schriftsteller damals anfreundete und später noch korrespondierte,48 begleitete die Gruppe als Reiseführerin.49 Möglicherweise lernte Zweig auf dieser Reise auch ihre Mutter, Ol’ga Konstantinovna Tolstaja, geb. Dietrichs, kennen. Mit ihr, wie auch mit Aleksandra L. Tolstaja, stand Zweig anschließend auch im Briefwechsel. Der Tag des 12. Septembers, den Zweig in Jasnaja Poljana verbrachte, blieb ihm für immer in Erinnerung. Besonders fasziniert war er vom Grab Tolstojs. „Denn nichts Großartigeres“, so Zweig, „nichts Ergreifenderes habe ich in Rußland gesehen als Tolstois Grab“.50 Mit genau denselben Worten beginnt sein Aufsatz „Das schönste Grab der Welt“.51 Die darauffolgenden Tage in Moskau waren gefüllt mit Veranstaltungen und Treffen. Am 13. September organisierte die Allunionsgesellschaft für kulturelle Verbindung mit dem Ausland einen festlichen Empfang im Grand Hotel Moskau – heutiges Hotel Moskva –, in dem die ausländischen Gäste während der Festlichkeiten wohnten. Unter den Anwesenden befand sich auch Stefan 45 46 47 48 49 50 51

Zweig 1978, S. 197. Vgl. Cvejg 1928b. Izvestija. Nr. 212 vom 12. September 1928, S. 5. Vgl. Azadovskij 1999, S. 50–54; vgl. auch Filippov-Čechov 2016 für weitere Materialien zum Thema ‚Zweig und Tolstoj‘. Vgl. Zweig F. 1948, S. 184. Zweig 1965, S. 304f. Wiederholt in russischer Übersetzung erschienen. Vgl. Cvejg 1963b und Cvejg 1993b.

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Zweig.52 Am selben Tag traf sich Zweig abends mit Go’rkij, der sich damals in Moskau aufhielt – das zweite und zugleich letzte Treffen mit Gor’kij sollte im Januar 1930 in Sorrent stattfinden. Zu den neuen Bekanntschaften Zweigs gehörten u. a. P. D. Ėttinger sowie der Schriftsteller Vladimir Lidin.53 Besonders hervorzuheben ist der georgische Schriftsteller Grigol Robakidze (1880–1962), der hauptsächlich aus dem Grund nach Moskau kam, um Zweig zu treffen – ihre Korrespondenz begann im Jahr 1927, als Robakidze sich im Namen des Georgischen Schriftstellerverbands auf Dienstreise nach Deutschland befand. Im Jahr 1928 erschien in Deutschland Robakidzes Roman Das Schlangenhemd mit einem Vorwort Zweigs.54 Nach Zweigs Abreise aus Moskau veröffentlichte Robakidze in der georgischen Zeitschrift Mnatobi den Artikel „Die Tage Tolstojs“ [im Original: „Tolstois dgeeba“] – eine ausführliche Geschichte über seine Treffen mit dem österreichischen Schriftsteller in Moskau. Laut Robakidze kannte und schätzte Zweig die Werke von Andrej Belyj und sprach auch über Pil’njak und Fadeev.55 Am 14. September schrieb Zweig ein kurzes Vorwort zur russischen Ausgabe seines Buches über Tolstoj, welches im Verlag ‚Vremja‘ erscheinen sollte. Am selben Tag traf er sich mit S. M. Ėjzenštejn.56 Den Abend des 14. Septembers verbrachte Zweig im Gercen-Haus (später Central’nyj dom literatorov), wo er sich mit einer Gruppe sowjetischer Schriftsteller unterhielt – darunter Vsevolod Ivanov, Boris Pil’njak und Abram Ėfros. Zweig war auch in der Tret’jakov-Galerie und im Moskauer Künstlertheater, wo er sich am Abend des 15. Septembers ein Theaterstück nach Ivanovs Bronepoezd 14–69 [„Panzerzug 14–69“] ansah und besonders die schauspielerische Leistung Kačalovs bewunderte. Nach der Vorstellung im Moskauer Kunsttheater reiste Zweig am selben Abend nach Leningrad, wo er nur einen Tag verbrachte. Er besuchte den Verlag ‚Vremja‘,57 traf sich persönlich mit I. V. Vol’fson und dessen Familie – Zweigs Briefe an den Verlag ‚Vremja‘ im Zeitraum von 1928 bis 1930 bezeugen, dass Zweig und Vol’fson ein freundschaftliches Verhältnis hatten. Darüber hinaus 52 53 54 55 56 57

Vgl. Izvestija. Nr. 214 vom 14. September 1928, S. 3. Zweig und Lidin trafen sich später in Hamburg. Vgl. Lidin 1942, S.  234–237; Lidin 1961, S. 347–363. Robakidze 1932. Robakidze 1928 Nr. 9–10, S. 207–215; ich danke T. L. Nikol’skaja, die mich auf den Artikel von Robakidze hinwies und mir eine Zusammenfassung auf Russisch zur Verfügung stellte. In den Archiven S. M. Ėjzenštejns befinden sich Auszüge aus einem Gespräch mit Zweig: Moskau, Staatliches Literatur- und Kunstarchiv Russlands (RGALI). F. 1923. Op. 1. Nr. 973. Zu ihrer Bekanntschaft vgl. Ėjzenštejn 1964, S. 415–422. Unter den Briefen Zweigs an den Verlag Vremja findet sich eine Quittung vom 16. September 1928 für einen Teil des Honorars (vgl. RO IRLI. Bestand 42. Nr. 184. Bl. 41).

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besuchte Zweig die Eremitage und am Abend das Staatliche Akademische Opern- und Ballettheater (heute Mariinskij-Theater). Zutiefst beeindruckt war Zweig von Marina Semënova, über die er, wie Robakidze berichtet, die ganze Zeit sagte: „Ein Genie, ein Genie …“. In seinem Essay Reise nach Rußland widmete Zweig zwei Kapitel Leningrad – „Ausflug nach Leningrad“ und „Schatzkammer der Eremitage“. In den Sälen der Eremitage überkam ihn ein „Herzriß“, denn er „fühlt[e] […] die weltweite Spannung zwischen Reich und Arm“, als er „zwischen der irrwitzigen, und gotteslästerlichen Verschwendung der Zaren und jener abgründigen, fast teuflischen Armut der moskowitischen Hungerdörfer“ schlenderte; Zweig erkennt, dass „nirgends […] das Organische der russischen Revolution besser als in den Schatzkammern und Prunkpalästen der Zaren, in Zarskoje Selo und im Winterpalast“ verstanden werden kann.58 Bei seiner Abreise aus Leningrad sagte Zweig: „Jetzt kenne ich den Weg nach Russland. Und ich werde mehr als einmal zurückkommen, dorthin, wo ich so warm und herzlich empfangen wurde“.59 Über seine Absicht, „bei der ersten Gelegenheit in die Sowjetunion zurückzukommen, um das sowjetische Leben näher kennenzulernen und ein Buch darüber zu schreiben“, sprach Zweig am nächsten Tag, den 17. September, als er aus Moskau abreiste.60 Am 9. November schrieb er an Abram Ėfros: „[N]ichts kann mein Verlangen, einmal näher Eure Welt kennen zu lernen, besser ausdrücken, als die Tatsache, dass ich bereits wegen einer grossen Reise nach Russland (Kaukasus, Tiflis) mit ausländischen Zeitungen verhandle, damit ich mit meiner Frau einmal drei Monate von einem Ende bis zum anderen Russland kennen lernen kann“.61 Zweigs Wunsch, die Sowjetunion noch einmal zu besuchen, war überaus innig und sollte ihn bis 1933 nicht verlassen: „Es wird Sie vielleicht interessieren, dass ich für zwei Monate nach Russland kommen werde, zusammen mit meinem Freund, dem berühmten belgischen Künstler Frans Masereel“, so Zweig am 17. Juli 1931, „wir wollen gemeinsam ein Buch mit seinen Zeichnungen machen, das in allen Sprachen veröffentlicht wird und – Sie kennen unseren Standpunkt – ganz anders sein wird als das Gebräu der minderbemittelten Journalisten, voller Lügen und Hass – ein dokumentarisches Buch“.62 Die Reiseroute umfasst in

58 59 60 61 62

Zweig 2010, 189. Krasnaja gazeta. Nr. 256 vom 16. September 1928, S. 1. Izvestija. Nr. 218 vom 19. September, S. 3. Moskau, Handschriftenabteilung der Russischen Staatsbibliothek (NIOR RGB). Bestand 589. Op. 10. Nr. 18. Bl. 1. Brief an A.V. Lunačarskij in: Lunačarskaja 1966, S. 289 (Übersetzt aus dem Französischen von P. O.), Hervorhebung im Original; vgl. auch Azadovskij 1977, S. 248f. und 251f.

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diesem Brief schon eine Fahrt „nach Turkestan und zur Grenze Chinas“.63 Doch all diese Pläne sollten nicht in Erfüllung gehen. * Es stellt sich unweigerlich die Frage, inwieweit Zweig von dem in der UdSSR unternommenen ‚sozialen Großexperiment‘ überzeugt war und ob er wirklich an die von der sowjetischen Propaganda lautstark verkündeten ‚Siege‘ und ‚Erfolge‘ glaubte. Sollten wir Zweigs prosowjetische, ‚antibourgeoise‘ Äußerungen während seiner kurzen Aufenthalte in Moskau und Leningrad64 und später – in öffentlichen Reden und Briefen an sowjetische Kulturschaffende – nicht eher als einen Tribut an die Höflichkeit eines westeuropäischen Schriftstellers gegenüber jenem Land betrachten, mit dem er seit langem sympathisierte? Zweig kehrte am 19. September 1928 nach Salzburg zurück. Seine Eindrücke und Gedanken, die er während seiner Reise sammelte, teilte er sofort mit Romain Rolland, seinem langjährigen, engen Freund. Es besteht kein Zweifel, dass genau der Brief an Rolland vom 21. September  1928 die Gedanken und Stimmungen widerspiegelt, die er nach seiner Reise nach Moskau hegte. In der Annahme, dass nichts in der Welt derzeit so viel Interesse errege wie Sowjetrussland, hielt Zweig seine ambivalenten Gedanken zur UdSSR fest: Man steht dort vor einer ungeheuren Leistung, und nur, wenn man an Ort und Stelle die gigantische Prunkmasse der Zarenpalais und die unermeßliche Armut einer russischen Dorfhütte gesehen, vermag man zu ermessen, daß hier eine Spannweite existierte mitten im 20. Jahrhundert, wie sie in Europa längst nicht mehr kennt, und begreift, daß dieser Strang zerreißen mußte. Dieser sinnliche Eindruck von der Notwendigkeit der russischen Revolution und ihrer bolschewistischen Form überwältigt. Man kann nicht anders als ein „Ja“ und „Selbstverständlich“ sagen. Dem Volke ist ein Ungeheures gewonnen geworden – freilich muß unser Instinkt sofort hinblicken, wer die Verlierenden sind (nebst der ausgerotteten Klasse des Adels und des Kaiserhauses) gerade die Menschen, die uns am nächsten stehen, die Geistigen, die Freien, die Unabhängigen. Was diese Leute gerade jetzt in der letzten Zeit der Höchstspannung (es schwebt eine schwere wirtschaftliche Gefahr über Sowjet-Rußland) erlitten haben, war beispiellos, und daß sie es überdauerten, nur eben aus der russischen 63 64

Lunačarskaja 1966, S. 289. „Wenn Sie wüssten, wie sie hier über Russland lügen! Bei der Abreise wurde ich von den panischen Warnungen meiner Freunde und Bekannten umgarnt, als ginge es um eine Reise ins China des 17. Jahrhunderts oder nach Afrika zu den Kannibalen. Aber was ich gesehen und gehört habe, hat selbst meine kühnsten Träume übertroffen“ (Krasnaja gazeta. Nr. 256 vom 16. September 1928, S. 1).

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Leidensfähigkeit zu ermessen und zu erklären. […] Dennoch aber glaube ich, wäre es ein Fehler, der russischen Revolution jetzt in den Rücken zu fallen.65

Über die Geduld des russischen Volkes, das zur Selbstaufopferung und Demut neigt, reflektierte Zweig auch in anderen Briefen – es ist deutlich erkennbar, dass dieses Thema für ihn äußerst wichtig war. Das sieht man auch an dem Brief vom 3. Oktober 1928 an Rolland: Freilich, der Terror ist nicht zu beschönigen, wahrscheinlich nur ist er der historischen Struktur Rußlands gemäß, denn – wie ich schon ausführte – die Russen leiden nicht in demselben Maße unter der Einschränkung der staatsbürgerlichen Rechte wie wir. Auch ist natürlich die Proportion eine andere, wenn 200 000 Intellektuelle oder 500 000 benachteiligt sind zum unleugbaren Vorteile von 140 Millionen, denen doch und trotz allem durch diese russische Revolution ein Zuwachs von Menschenwürde gegeben worden ist. Im ganzen also: wir tun unbewußt unrecht, wenn wir unsere Maßstäbe von Freiheit an Rußland anlegen und zu viel auf einmal verlangen. […] Rußland ist vielleicht das einzige Volk, das heute um einer Idee willen noch geduldig alle Opfer auf sich nimmt.66

Leider muss man feststellen, dass Zweig in den 1920er Jahren größtenteils von einer Vision der UdSSR mitgerissen wurde, die einem Teil der westlichen Intelligenz zu eigen war, die mit der klassischen russischen Literatur aufgewachsen war und Russland schon aus diesem Grund innig liebte,67 jedoch – manchmal tief und dauerhaft – unter den Einfluss der kommunistischen Versuchung geriet. An der Wende der 1920er zu den 1930er Jahren wurde Zweig zu einer politischen Figur, die wegen ihrer Sympathien für die Sowjetunion bekannt war. Zweigs Name wurde ständig von der sowjetischen Propaganda verwendet, zumal er – ein ehrlicher und durchaus ‚engagierter‘ Schriftsteller – es unter anderem als seine Pflicht ansah, an öffentlichen Aktionen teilzunehmen, keinerlei Interviews ablehnte sowie Sammelbriefe – in der Regel von Moskau initiiert – schrieb und unterzeichnete. Im Jahr 1930 beantwortete Zweig zusammen mit Johannes  R.  Becher, Kurt Tucholsky, Jean-Richard Bloch und anderen Schriftstellern einen Fragebogen, der vom Internationalen Büro für revolutionäre Literatur zusammengestellt wurde; darauf war die folgende, eindeutig provokative Frage zu lesen: „Wie würden Sie sich im Falle eines Krieges gegen die UdSSR verhalten?“68 65 66 67 68

Rolland & Zweig 1987, 296ff. Ebd. S. 305f. Zweig F. 1946, S. 184. Moskauer Rundschau. Nr. 25 vom 22. Juni 1930, S. 1f.

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Im Jahr 1931 veröffentlichte Zweig in einer Ausgabe der Internationalen Assoziation revolutionärer Schriftsteller [russ. Meždunarodnaja organizacija revoljucionnych pisatelej (MORP)] vom 1. August 1931 einen Artikel mit dem Titel „Zum Jahrestag des unnötigsten aller Kriege“.69 Wenige Jahre später publizierte Zweig in der Sowjetunion seine Glosse zu Karl Marx, und zwar anlässlich seines 50. Todestages.70 Von allen zeitgenössischen russischen Schriftstellern hob Zweig immer wieder Maksim Gor’kij hervor; im Jahr 1931 erschienen Gor’kijs Erzählungen [im Original: Rasskazy] mit Zweigs Vorwort in Leipzig.71 Zweig, wie auch andere westliche Schriftsteller mit ‚linker‘ Gesinnung, wurden von sowjetischen Schriftstellern mit politischen Appellen umworben.72 Obschon sie ihn für seine „idealistischen“ Standpunkte kritisierte, drängte die sowjetische Presse ihren Lesern zur gleichen Zeit das Bild Zweigs als „antifaschistischen Schriftsteller“ und „Verbündeten“ auf. „Ich wie auch andere sowjetische Schriftsteller bin es gewohnt, Sie unter den Freunden der kämpferischen Erbauer des Sozialismus zu sehen“, rief zum Beispiel Kornelij Zelinskij aus, „wie weit sind Sie bereit, diesen Weg zu gehen? Das ist die Frage, die nicht nur mich persönlich betrifft, sondern auch Tausende ihrer Leser; all jene, die Ihnen folgen und auf Ihre Stimme hören“.73 Zweig fand es überflüssig, direkt auf diese Frage zu antworten, behielt jedoch – für eine lange Zeit – seine sympathisierende und allgemein ‚prosowjetische‘ Haltung bei. Natürlich passte Zweig nicht alles, was damals in der Sowjetunion geschah; vieles störte ihn und ärgerte ihn sogar. Seine Zweifel an der UdSSR wuchsen in den 1930er Jahren: Ereignisse wie die Moskauer Prozesse von 1936–1938 oder die Repressionen gegenüber Autoren, die er persönlich kannte – wie z. B. Boris Pil’njak –, konnte er nicht so leicht hinnehmen. Aber auch in diesen Fällen 69 70 71 72

73

Literatura mirovoj revolucii. 1932 Nr.  4, S. 13f.; vgl. auch Sčerbina 1969, S.  353–356; dort befinden sich u. a. Materialien zur Geschichte des Verlags und der Briefwechsel zwischen Zweig und Béla Illés, dem Sekretär der MORP. Internacional’naja literatura. 1933 Nr. 2, S. 159. Andere westeuropäische Autoren, die ihre Haltung zu Marx zum Ausdruck brachten, waren u. a. Jakob Wassermann, Hugo Huppert, Georg Lukács, Klaus Mann, Alfred Edward Housman und Paul Éluard. In einem Brief an Willi Bredel vom 26. Juli 1936 vermerkte Lion Feuchtwanger: „Dieser einleitende Essai von Stefan Zweig gehört zum Besten, was über Gorki gesagt wurde“ (Ščerbina 1969, S. 204). „In den Tagen, in denen die kapitalistische Welt von diesem schwarzen, schändlichen Fieber ergriffen wird“, heißt es in einer Ansprache, „sind wir sicher, dass Sie Ihre tapferen Stimmen des Widerstands und des aktiven Kampfes vereinen gegen die Gefahr eines neuen, noch nie dagewesenen Krieges, die in den heuchlerischen Erklärungen des Völkerbundes zur Friedfertigkeit liegt.“ (Literaturnaja gazeta. Nr. 8 vom 17. Februar 1932, S. 1). Den Text unterschrieben Vs. Ivanov, L. Leonov, V. Lidin, Ju. Oleša und A. Fadeev. Zelinskij 1932, S. 2. Auslöser für Zelinskijs Brief war Zweigs Buch über Romain Rolland, vgl. Cvejg 1932b.

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fand er – seinen Briefen an Romain Rolland nach zu urteilen – die richtigen Worte, mit denen er den von Russland eingeschlagenen Weg zu rechtfertigen versuchte: die Emanzipation des ‚großen russischen Volkes‘, der Aufbau einer ‚neuen Welt‘, die historische Notwenigkeit der bolschewistischen Revolution und so weiter. Jedoch brachte Zweig in einem Brief an Rolland vom 5. Dezember 1936 seine Befürchtung zum Ausdruck, dass sich in Russland ein Stalinkult entwickelt, und bemerkte sogleich: „… diese neue Religion des „Stalin [h]a sempre ragione“ [Stalin hat immer recht] fängt an, den Bolschewismus zu verfälschen wie die katholische Religion das Frühchristentum“.74 Zweigs Unbehagen gegenüber Stalin verschärft sich im Jahr 1937. In einem Brief an Rolland vom 1. Mai 1937 vergleicht Zweig – unter dem Eindruck der Gerichtsverfahren gegen das sog. trotzkistische Zentrum – Stalin mit Hitler und Mussolini.75 Ebenso wenig verschloss Zweig seine Augen vor der Lage der sowjetischen Intellektuellen. In seinem Brief an Rolland vom 21. September 1928 erwähnte er ausdrücklich die ‚enorme Belastung‘, in der sich die Intellektuellen in der Sowjetunion befänden, die ein ‚freies, unabhängiges und geistiges Leben führten‘. Zweigs Meinung basierte nicht zuletzt auf seinen persönlichen Gesprächen mit sowjetischen Intellektuellen im September 1928; mit einigen stand er daraufhin in einer freundschaftlichen Korrespondenz – z.  B. mit P. Kogan, V. Lidin, N. Nikitin oder K. Fedin – und versuchte zu helfen, als einige von ihnen sich im Ausland befanden. Zur gleichen Zeit kommunizierte und korrespondierte Zweig mit emigrierten Schriftstellern, darunter O.  Dymov, M.  Osorgin und L.  Šestov. Ein eigenes Kapitel der Biographie Zweigs ist die Freundschaft mit Grigol Robakidze, der schließlich im Frühjahr 1931 die Sowjetunion verließ. Zweig nahm unmittelbar und tatkräftig teil am literarischen und persönlichen Schicksal des georgischen Autors. Ihr Austausch brach 1934 schlagartig ab.76 In Moskau war man sich darüber im Klaren, dass Zweig – ideologisch und erst recht politisch – kein völlig zuverlässiger Verbündeter war. Die Äußerungen über Zweig aus den sowjetischen 1930er Jahren sind voller Klagen über Zweigs ‚Pazifismus‘ und ‚Inkonsequenz‘, über seine ‚intellektuellen‘ Stimmungen, seinen ‚romantischen Kampf mit Windmühlen‘ und so weiter. Auch die einleitenden Artikel zu den einzelnen Bänden der russischsprachigen Gesammelten Werke, die – neben M.  Gor’kij – von V.  A.  Desnickij und A.  V.  Lunačarskij verfasst wurden, sind nicht frei von Kritik; letzterer schätzte Zweig jedoch sehr. So stellt er im Vorwort zum 10. Band der Gesammelten Werke Zweigs ironisch 74 75 76

Rolland & Zweig 1987, S. 641. Ebd. S. 653. Nikol’skaja 2004, S. 128–137; vgl. auch Azadovskij 2004, 145–158.

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eine „außerordentliche Beredsamkeit“ des österreichischen Schriftstellers fest, findet aber gleichzeitig in dessen Prosa „bildhafte Ausdrücke, die nur so vor Brillanz und Farbenpracht sprühen“.77 Aus der Sicht der offiziellen sowjetischen Ideologie der 1930er Jahre blieb Zweig ein zeitweiliger ‚Mitläufer‘, der weit davon entfernt war, die kommunisti­ sche Ideologie, die ‚revolutionäre Gewalt‘ oder die bolschewistischen Methoden des Kampfs um die Macht anzuerkennen. In dieser Hinsicht unterschied er sich deutlich von vielen anderen westlichen Schriftstellern und vor allem von seinem Freund Rolland, der fest an die ‚Erfolge‘ und ‚Errungenschaften‘ des Sowjetlandes sowie an das von der sowjetischen Propaganda geschaffene Bild des ‚Führers‘ glaubte. Es ist kein Zufall, dass Lunačarskij und Zelinskij die beiden unverblümt miteinander verglichen. „In dem Maße“, so Lunačarskij, „in dem Romain Rolland einen entscheidenden Schritt in Richtung Konvergenz mit der Weltanschauung des Kommunismus getan hat, ist zwischen ihm und Zweig eine ganz beträchtliche Distanz entstanden.“ Lunačarskij schloss mit dem Ausruf: „Schwach, Mister Zweig, schwach! Ganz und gar nicht wie ihr Freund Romain Rolland!“78 Ähnlich äußerte sich auch Zelinskij, der Zweig zwar als ‚wahren Künstler‘ anerkannte, ihm aber vorwarf, Rolland verzerrt interpretiert zu haben.79 Durch die in der Moskauer Presse abgedruckten polemischen, mitunter auch harschen Kritiken ließ sich Zweig nicht abschrecken oder auch nur in Verlegenheit bringen. Er sagte weiterhin das, was er dachte, und blieb ‚er selbst‘ – ein naiver und kurzsichtiger Idealist, der entschlossen war, die zynische Natur des sowjetischen Regimes zu übersehen oder die Berichte der westlichen Presse über die UdSSR nicht zu beachten. Ein anschauliches Beispiel ist Zweigs Brief an Rolland vom 27. März 1936: In Wien hat man einen Appell / „Russenhilfe 1936“ / für die Juden in Rußland publiziert, in dem es heißt, „die gegenwärtige Regierung nimmt den Juden in Rußland jede Lebensmöglichkeit“80 (ein Land, das einen Juden als Außen-

77 78 79 80

Lunačarskij in: Cvejg 1932a, S. 8. Lunačarskij 1931, S. 2. Zelinskij 1932, S. 2. Es ist nicht genau bekannt, was den Wiener Appell ausgelöst hat. Es besteht jedoch kein Zweifel, dass diese Tatsachen nicht weit hergeholt waren: Der Antisemitismus auf staatlicher Ebene begann in der UdSSR bereits in der zweiten Hälfte der 1930er Jahre. „Der Kurs der Stalinschen Führung zur Wiederbelebung des imperialen Chauvinismus, die konsequente Zerstörung des internationalistischen Geistes und des lenistischen Kaders innerhalb der Partei, gekrönt von der offiziell gepredigten Versöhnung mit der NaziIdeologie in der internationalen ‚Arena‘ und dem brutalen Durchgreifen gegen die Gegner

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minister hat81), und liebenswürdigerweise hat man meinen Namen den Unterzeichnern hinzugefügt. Ich habe sofort an Lidin in Moskau geschrieben und ihn gebeten, in den russischen Zeitungen ein Dementi zu veröffentlichen; ich hoffe, er hat es getan. Aber welche Schamlosigkeit!82

Zweig hielt seine Illusionen über die Sowjetunion bis zum Ausbruch des Zweiten Weltkriegs aufrecht. Im November 1937 schickte er an die Auslandskommission des sowjetischen Schriftstellerverbandes eine Gratulation zum 20. Jahrestag des Oktoberumsturzes. Im Bericht der Auslandskommission aus der zweiten Hälfte des Jahres 1937 findet sich eine Passage aus Zweigs Brief, darüber, dass „in hundert oder vielleicht in 50 Jahren die Entstehung der Sowjetunion als das wichtigste Ereignis jener Zeit angesehen wird“.83 Erst der Hitler-Stalin-Pakt im August  1939 und die folgenden politischen und militärischen Ereignisse erschütterten Zweigs Glauben an die historische Mission der Sowjetunion. Vielleicht sollte man hier die Wurzeln von Zweigs innerer Tragödie suchen. Er war ein aufrichtiger, aber politisch naiver Schriftsteller, der die ‚bürgerliche‘ Moderne nicht akzeptierte und einen Ausweg zum einen im verschwindenden kulturellen Raum des Vorkriegseuropas – der Welt von Gestern – suchte, zum anderen in der Welt der ‚hellen Zukunft‘, deren Verkörperung für ihn die Sowjetunion von damals war. Zweig quälte sich mit dem Zusammenbruch seiner Illusionen eines ‚Intelligenzlers‘, was ihn im Februar 1942 zu dem letzten unumkehrbaren Schritt veranlasst haben muss. 

Aus dem Russischen von Patrick Oberstolz Literatur

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81 82 83

dieser Ideologie im Innern, führte schließlich zum Übergang zu einer stillschweigenden Politik des staatlichen Antisemitismus“ (Kostyrčenko 2001, S. 196). Das Volkskommissariat für Auswärtige Angelegenheiten der UdSSR wurde damals von M. M. Litvinov geleitet. Rolland & Zweig 1987, S. 625; Zweigs Dementi erschien in der sowjetischen Presse nicht. RGALI. F. 631. Op. 14. Nr. 418. Bl. 18 und 21.

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Ein Russe in Deutschland: die Odyssee des ‚Professors‘ Matankin Konstantin Asadowski, Gabriel Superfin 1.

Ein deutscher Schriftsteller und ein russischer Chauffeur

1929 erschien im Leipziger H. Haessel Verlag ein Buch unter dem Titel Auto halt! Aufzeichnungen eines Berliner Chauffeurs. Der Verfasser des Buches, ein russischer Emigrant, der sich hinter dem Pseudonym ‚Alexander Kareno‘ verbarg, beschrieb Szenen aus dem Berliner Leben der späten Zwanzigerjahre, die sich ihm als Taxichauffeur in der deutschen Hauptstadt dargeboten hatten. Das Buch, im Original auf Russisch verfasst, war dem Andenken Hermann Sudermanns gewidmet, eines bekannten deutschen Romanciers und Dramaturgen, der am 21.11.1928 verstorben war; übersetzt und lektoriert hatte das Buch Arthur Luther (1867–1955).1 Auf dieses Buch und das ihm vorangestellte „Vorwort des Übersetzers“ lenkt Karl Schlögel in der Monographie Berlin, Ostbahnhof Europas2 sein Augenmerk. Er hebt (im Kapitel „Stadtwahrnehmung: Nabokov und die Taxifahrer“) die genaue Beobachtung des Berliner Lebens durch den Verfasser hervor und zitiert zu diesem Zweck einen Ausschnitt aus dem Vorwort. Wir hingegen führen hier den ungekürzten Text an: * Erstveröffentlichung in: Bogomolov 2011, S. 8–38. Deutsche Übersetzung in: Geschichte der Germanistik. Historische Zeitschrift für die Philologien. 2019. Doppelheft 55/56. S. 97–127. Wieder in: Konstantin Azadovskij. Sjužetu i sud’by: Nemecko-russkie otraženija [Themen und Schicksale: Deutsch-russische Spiegelungen]. Moskva, 2019. S. 241–283. Die Autoren drücken den Personen und Organisationen, die sie in ihrer jahrelangen Arbeit unterstützt haben, ihren aufrichtigen Dank aus: Ol’ga Blinkina (Moskau), Sergej Borodin (Rostov am Don), Marie-Luise Bott (Berlin), Horst Büscher † (Berlin), Marina Dmitrieva-Einhorn (Leipzig), Johanna Renate Döring-Smirnov (München), Aleksej Fedjachin † (Moskau), Suzanne Frank-Kilner (München), Jacob Fruchtmann (Bremen), Karina Garsztecka (Bremen), Vladimir Jakubovič † (Moskau), Evgenij Kazakov (Bremen), Ilja Kukuj (München), Igor Petrov (München), Marina Sorokina (Moskau), Elena Strukova (Moskau), Roman Timenčik (Jerusalem) sowie den Mitarbeitern der Abteilung Heimatforschung der Öffentlichen Staatlichen Bibliothek des Dongebiets (Rostov am Don), dem Bundesarchiv der BRD, dem Politischen Archiv des Auswärtigen Amtes der BRD, den Städtischen Friedhöfen München u. a. 1 Braun 1955, S. 240; Harer 2004, S. 159–168. 2 Schlögel 1998; russ. Übersetzung: Šlëgel’ 2004.

© Brill Fink, 2022 | doi:10.30965/9783846766767_013

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Ein Russe in Deutschland Ein Teil der hier zusammengefaßten Skizzen erschien im Frühling 1929 in der Berliner Zeitung Rul’ in russischer Sprache. Für die Buchausgabe wurden sie gründlich überarbeitet und vor allem stark ergänzt. Die scharfe Beobachtungsgabe ihres Verfassers, die schlichte Sachlichkeit seiner Darstellung macht diese Aufzeichnungen eines Chauffeurs zu einem wertvollen Beitrag zur Sittengeschichte der modernen Großstadt. Es wird vielen Lesern des Buches ebenso gehen wie seinem Verfasser, dessen Leben bis dahin friedlich zwischen Studierstube, Bibliothek und Hörsaal verflossen war, und der sich, nachdem er Chauffeur geworden, plötzlich in eine ganz neue Welt versetzt sah, eine Welt der krassesten Realitäten, eine Welt, die ihm zwar oft zeigte, daß der Mensch besser ist als sein Ruf, ihn aber noch öfter die Bestie im Menschen, die Hohlheit und Seelenlosigkeit unserer ‚Zivilisation‘, das Problematische unseres sogenannten ‚Fortschritts‘ erkennen ließ. Daß er in dieser Welt sich zu behaupten wußte, ist das Positive dieses an trüben Bildern so reichen Buches, macht es zum ‚menschlichen Dokument‘. Unter dem Decknamen Alexander Kareno verbirgt sich ein russischer Universitätsprofessor, der 1921 vor der allgewaltigen Tscheka über die Grenze geflüchtet war und 1922 nach Berlin kam, wo er bereits vor dem Kriege wissenschaftlich gearbeitet hatte. Den Entwurf zu einer großen Untersuchung über deutsch-russische literarische Beziehungen hatte der Flüchtling mitgenommen und diese Arbeit beschäftigte ihn in den ersten Jahren vollauf. Seinen Unterhalt verdiente er sich durch Privatunterricht und als Lehrer an dem von Emigranten gegründeten russischen Gymnasium. Dann kam die Inflation und die Stabilisierung, die Mehrzahl der russischen Emigranten siedelte nach Paris über, Kareno wurde durch seine wissenschaftliche Arbeit in Berlin festgehalten, aber der Kampf ums Dasein gestaltete sich für ihn immer schwieriger: Das Gymnasium musste einen Teil seines Lehrpersonals abbauen, auf dem Gebiet des Privatunterrichts überwog das Angebot die Nachfrage immer mehr – und so wurde Kareno 1926 Chauffeur, setzte aber seine wissenschaftlichen Studien daneben unermüdlich fort. Sehr bald fing er an, seine Erlebnisse und Eindrücke in der „neuen Welt“ niederzuschreiben. Aus flüchtigen Notizen, die zwei dicke Hefte füllten und von denen kaum die Hälfte verwertet wurde, sind die Skizzen entstanden, die hier dem deutschen Leser geboten werden. „Ich schrieb sie alle im Auto, mit Bleistift auf schlechtes Papier“, berichtet der Verfasser, „und sie enthalten nichts, was ich nicht selbst beobachtet, erlebt oder unmittelbar von Berufsgenossen gehört hätte. Der erste, der sich lebhafter für sie interessierte, war Hermann Sudermann. Wie ich ihn kennenlernte, wie er sich meiner annahm, habe ich in meinem Buche erzählt. Sein Tod traf mich sehr hart. Immerhin hatte er mich noch an seinen Freund Carl Rosner3 empfehlen können, dem ich mich aufs tiefste verpflichtet fühle. Durch seine Vermittlung konnte ich Beziehungen zu deutschen Schriftstellern und Gelehrten, zur Presse und zur Verlegerwelt anknüpfen. Und so kann ich vielleicht hoffen, vom Auto loszukommen und mich wieder ganz meiner Wissenschaft widmen zu dürfen.“ Vielleicht trägt der Erfolg dieser Aufzeichnungen ebenfalls dazu bei.4

3 Karl Peter Rosner (1873–1951), Prosaschriftsteller und Herausgeber, leitete von 1919 bis 1934 die Berliner Filiale des Cotta-Verlags und war enger Freund Sudermanns. 4 Kareno 1929, S. 7 f.

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Ein Russe in Deutschland

* Karl Schlögel erwähnt nicht nur die Veröffentlichung von Karenos Buch in der Berliner Tageszeitung ‚Rul” (und stützt sich dabei offenbar auf den Text des oben zitierten Vorworts), sondern vermerkt auch, dass „Hermann Sudermanns Empfehlung und das positive Urteil von Carl Rosner und Arthur Luther […] die Publikationen möglich gemacht (hatten)“.5 Diese Mitteilung erfordert einen erläuternden Kommentar. Die Veröffentlichung in der Zeitung ‚Rul” unter dem Titel Aufzeichnungen eines Chauffeurs. (Ein menschliches Dokument) begann am 7. April und wurde bis zum 12. Mai 1929 fortgesetzt. Im Laufe von etwas über einem Monat erschienen achtzehn Fragmente; als Verfasser eines jeden von ihnen wurde Alexander Karenov angegeben. Einige Monate später, als er die deutsche Übersetzung seines Buches zum Druck vorbereitete, änderte der Autor die Schreibung seines Pseudonyms in das dem europäischen Auge geläufigere „Kareno“.6 Wissenschaftler, die sich mit der Geschichte der russisch-deutschen literarischen Beziehungen befassen, dürfte die Erwähnung Hermann Sudermanns in Arthur Luthers Vorwort – natürlich mit den Worten des Verfassers der Aufzeichnungen – sofort aufmerksam werden lassen. Wo und auf welche Weise kam es dazu, dass sich die Wege des höchst bekannten deutschen Roman- und Bühnenautors und des russischen Emigranten, eines brotlosen Germanisten, der in der Emigration zum Taxifahrer geworden war, kreuzten? Und schließlich: Wer war dieser rätselhafte Karenov-Kareno? Die Antwort auf die erste Frage lässt sich im abschließenden Kapitel der Aufzeichnungen finden, unter der Überschrift Prominente Fahrgäste. Dichter und Chauffeur. Auch dieses Kapitel zitieren wir hier vollständig:

5 Schlögel 1998, S. 161. 6 Ivar Kareno, Protagonist in Knut Hamsuns Dramentrilogie (An des Reiches Pforten, 1895; Spiel des Lebens, 1896; Abendröte, 1898) verkörpert den stolzen, unabhängigen Gelehrten, den einsamen Wahrheitssucher, der gegen die Welt antritt. Diese Gestalt war im Russland des frühen 20. Jahrhunderts, dank der Inszenierung von Hamsuns Stücken im Moskauer Künstlertheater, in denen V. I. Kačalov im Laufe vieler Jahre (1909–1941; 1934 fand die dreihundertste Vorstellung statt) mit unverändertem Erfolg die Hauptrolle spielte, äußerst populär. Die Rolle des Kareno spielten (im Stück Spiel des Lebens, russ. Titel Drama žizni) auch K. S. Stanislavskij (1907) und V. Ė. Mejerchol’d (1908). Vgl. I. L. Korčevnikova, Golos žizni. Hamsun na scene Chudožestvennogo teatra, in: www.norge.ru/ hamsun_cdl_korchevnikova. Das Moskauer Künstlertheater hatte Hamsuns Stück während seiner Gastspiele in Warschau (1912) und Rostov (1919), wo sich zu jener Zeit auch Matankin aufhielt (s. u.), in seinem Repertoire. Das Pseudonym Kareno ist in der russischen Presse der 1900er und 1910er Jahre wiederholt zu finden (s. Masanov 1957, S. 54).

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Ein Russe in Deutschland Ich hatte einen Fahrgast nach einer Villa im Grunewald7 gebracht. Zufällig fiel mein Blick auf das Schild am Eingang. Ich las: „Sudermann“. „Wohnt hier der berühmte Schriftsteller?“ „Jawohl. Ich will ja zu ihm.“ „In Rußland war er sehr beliebt. Seine Dramen wurden auf allen Bühnen gespielt.8 Wollen Sie ihm einen Gruß bestellen?“ „Von wem?“ „Von einem unbekannten russischen Literaturfreund“.9 Zwei Tage später las ich im Anzeigenteil der Zeitung: „Hermann Sudermann dankt dem unbekannten russischen Chauffeur für seinen Gruß.“10 Monate vergingen. An einem heißen Julimittag trat ein großer, schlanker alter Herr im Grunewald an mein Auto heran und sagte mit ausgesuchter Höflichkeit: „Zum litauischen Konsulat, bitte.“ Ich brachte ihn hin.

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Stadtteil im Westen Berlins, wo zu Beginn des 20. Jahrhunderts zahlreiche vermögende Leute, ‚Berühmtheiten‘ o. Ä., Villen errichten ließen. Sudermann lebte seit 1916 in der Bettinastraße 3. Heute ist an diesem Haus eine Gedenktafel mit dem Namen des Schriftstellers angebracht. 8 S. hierzu: Rodina 2004. 9 Jener Fahrgast zur Villa Sudermanns in Grunewald war der Schriftsteller Carl Bulcke (1875–1936), den der russische Emigrant am selben Tag in einer anderen Angelegenheit aufgesucht hatte. Dieses Zusammenfallen erschien Bulcke so ergreifend, dass er es für nötig hielt, es publik zu machen. Nachfolgend ein Auszug aus der entsprechenden Zeitungsnotiz (Bulcke 1927): Gleich darauf halten wir vor dem Hause Bettinastraße 3. Ich zahle meine Rechnung. „Schönes Haus. Alles hell. Verzeihung, wer wohnt hier?“  Noch vor zwei Stunden hatte ich zu Hause den Besuch eines Germanisten gehabt, eines Menschen mit rundem Gesicht und Brille. Ich sehe mir erst jetzt das Gesicht des Chauffeurs an. Der Chauffeur sieht dem Germanisten zum Verwechseln ähnlich. Ähnlich auch in der netten Art, wie er bei seiner Frage die rechte Pfote mit gewickeltem Unterarm hebt, als eine Geste des Nitschewo und der Entschuldigung. Teckelhunde, Germanisten und Menschen, wir haben so vieles gemeinsam. „Hier wohnt Sudermann.“  Der Chauffeur bedenkt sich, bevor er antwortet. „Es hat doch ein jeder Tag sein Gutes“, sagt er.  „Als Sie vorher kamen, am Steinplatz, hatte ich zwei Stunden keine Fuhre gehabt. Ich war wieder mal drauf und dran, den Beruf aufzugeben. Sudermann, das meiste von ihm habe ich gesehen. Also da wohnt er. Und nun gehn Sie gleich in das helle Haus hinein und geben ihm die Hand, und Sie sind vielleicht sein Freund. Das ist eine ganz komische Sache. Und ich sitze hier und fahre.“ Gleich wird er sagen, denke ich, er sei nämlich eigentlich Germanist. Aber er sagt ganz rasch, ganz rasch: „Sagen Sie ihm einen Gruß von einem, der Sie gefahren hat.“  Und knattert davon wie gehetzt.  Herr Chauffeur mit dem Germanistengesicht, der Gruß wurde ausgerichtet. Er verbreitete Freude. 10 In der Berliner Presse von Ende November  1927 konnte diese Anzeige nicht gefunden werden.

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„Warten Sie hier. Ich fahre noch weiter.“ Als er wieder im Wagen saß, kamen wir ins Gespräch. „Was waren Sie früher? Haben Sie sich an diese Lebensweise halbwegs gewöhnt oder fällt es Ihnen sehr schwer? Hoffen Sie noch in Ihre Heimat zurückkehren zu können? Ich würde Sie gern noch einmal sehen. Geben Sie mir Ihre Karte. Ich reise morgen nach Litauen …11 Nach einem Monat bin ich wieder in Berlin und dann rufe ich Sie an. Mein Name ist Sudermann.“ Nach einem Monat wurde ich wirklich angerufen. „Ich bin heute von der Reise zurück. Ich erwarte Sie um sieben Uhr abends.“ Die schlossartige Villa versank in dichtem Grün, als wollte sie sich vor allem menschlichen Treiben verstecken. Im Erdgeschoß fiel mir ein eigenartiger runder Tisch auf, und ich hatte die Unvorsichtigkeit zu bemerken: „Im Wittumspalais in Weimar steht genauso ein Tisch, an dem Anna Amalia mit Goethe, Wieland, Herder und Schiller zu sitzen pflegte.“ Der Hausherr sah mich vorwurfsvoll an. Ein Dichter mag nicht gern als Nachahmer gelten, begriff ich sofort. Aber nun konnte ich den Lapsus nicht mehr gutmachen. Wir gingen ins Arbeitszimmer im ersten Stock. Überall Teppiche, Statuen und Bücher, Bücher ohne Zahl. Aus dem Fenster eine schöne Fernsicht. Und dann kamen wir ins Plaudern. Das Gespräch wurde immer lebhafter. Wir redeten von meinem Schicksal, von Rußland, von Literatur, Politik und merkten nicht, wie die Zeit verging. Da fuhr mein Wirt endlich auf. „Ich müßte ja schon längst bei Ludwig Fulda12 sein! Aber ich habe wirklich nicht gedacht, daß es schon so spät ist!“ Im Vestibül, als ich den linken weißen Handschuh angezogen und meine Mappe unter den Arm genommen hatte, sagte er freundlich lächelnd zu mir: „So möchte ich Sie immer sehen und nicht am Steuer. Na, ich will jedenfalls alles versuchen.“ Wir verabschiedeten uns bis zum Herbst. Sudermann reiste auf sein Landgut13 und von da nach Stuttgart wegen der Drucklegung seines neuen Romans Purzelchen.14 Wir schrieben uns sehr oft. Und dann meldeten plötzlich die Zeitungen: „Hermann Sudermann schwer erkrankt.“ Auch aus dem Sanatorium erhielt ich durch die Sekretärin und die Ärzte immer wieder Briefe von ihm, und immer wieder sprach er mir Mut zu und tröstete mich. Ja, noch auf dem Sterbebette diktierte er mir einen letzten Gruß,

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Sudermann war gebürtig in Ostpreußen (Matzicken, heute Macikai), in der Nähe von Memel (1924–1939 und heute: Rajon Šiluté, Ujezd Klaipeda, Litauen). Eines seiner bekanntesten Werke ist ‚Litauische Geschichten‘ (1917), russ. Ausgabe: Klaipeda, 2007. Ludwig Fulda (1862–1939) war Bühnenautor, Prosaschriftsteller, Essayist, Dichter und Übersetzer. Er unterlag in den 1930er Jahren (aufgrund seiner jüdischen Abstammung) der Verfolgung seitens der Nazis und beendete sein Leben durch Suizid. Über seine Freundschaft mit Sudermann s. Dauer 1998, S. 40–44. Gemeint ist Sudermanns Gut Blankensee im Land Brandenburg, südlich von Berlin, das der Schriftsteller 1902 erworben hatte. Der Roman war Sudermanns letztes Werk. Vgl. Sudermann 1928.

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Ein Russe in Deutschland wünschte mir eine glückliche Zukunft und versicherte, daß er seinen Freunden auftragen werde, für mich zu sorgen. Es war ein kalter, regnerischer Novembertag, als man ihn zur letzten Ruhe bestattete. Die Friedhofskapelle15 war gedrängt voll, und draußen standen noch Scharen frierender, durchnäßter Menschen, die alle gekommen waren, dem Dichter das Geleit zu geben. „Sie sind erschüttert … Uns trifft es auch hart. Wir tragen einen bedeutenden Menschen und einen seltenen Freund zu Grabe“, sagte mir ein Schriftsteller. Ich begrabe aber noch meinen Traum von einem besseren Leben, der nun nicht in Erfüllung gehen wird, denn nur er konnte mir bei seinem Einfluß und seinen Beziehungen dazu verhelfen. Am nächsten Tage besuchte ich das Grab wieder und fand dort nur zwei alte Damen, die den Dichter ihrer Jugend noch einmal besuchen wollten. Und heute ist es ganz still und einsam um das Grab geworden. Hin und wieder nur kommt ein russischer Chauffeur zu ihm, schmückt es mit Blumen und kniet lange in stummem Gebet vor dem verlassenen Hügel. Der Friedhofswächter beobachtet ihn von ferne und schüttelt den Kopf. Er weiß nicht, was das bedeuten soll. Wie käme er auch dazu? Ruhe sanft, Meister!16

* Die zweite Frage nach dem Pseudonym des Autors lässt sich dank des erhal­te­nen Sudermann-Archivs, unter anderem dank seiner Tagebücher und Korrespon­ denzen, beantworten. Zudem bestätigen Archiv- und Pressematerialien, dass alles, wovon in „Rul“ berichtet und was in die Aufzeichnungen übernommen worden war, der Wirklichkeit entsprach: Der berühmte Schriftsteller, der in seiner Jugend Not und Entbehrungen durchgemacht hatte und aus eigener Erfah­rung genau wusste, was es heißt, ‚sich in der Literatur durchzuschlagen‘, nahm lebhaften Anteil am Schicksal des ihm unbekannten russischen Emigranten. Als Ausgangspunkt unserer Nachforschungen diente die Erwähnung einer Reise Sudermanns nach Litauen. Sudermann erholte sich dort zum letzten Mal im Juni 1928. Im Folgenden ein Eintrag aus seinem Tagebuch vom 7. Juni 1928: Von Ullstein17 nichts. Früh fort. Zum Rathhaus Paß besorgen. Zum litauisch[en] Konsulat, von dem, des Wartens müde, wieder weggehe, und zu Ullstein. Mein 15 16

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Sudermann wurde auf dem Berliner Friedhof Halensee im Stadtteil Grunewald beigesetzt. Kareno 1929, S.  178–180. Eine abweichende, möglicherweise vom Verfasser selbst angefertigte deutsche Übersetzung dieses (in der Zeitung „Rul“ auf Russisch erschienenen) Textes findet sich unter dem Namen Professor Dr. Alexander Matankin im ‚GreifAlmanach 1930‘, (Stuttgart und Berlin [1929]. S. 135–137). Der Ullstein Verlag, 1877 von Leopold Ullstein (1826–1899) gegründet, gab in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts eine Reihe einflussreicher Zeitungen und anderer Periodika heraus.

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Chauffeur, Professor Dr. Matankin (Joachimsthaler Str. 25, Bismarck 43518) hat großes Werk fertig über ‚Russische Literatur im Spiegel deutscher Kritik‘.19

Professor Alexander Matankin … Im Juni und Juli 1928 erwähnt Sudermann diesen Namen in seinem Tagebuch mehrmals. Sudermann war am 9. Juni 1928 nach Litauen gereist und kehrte zwei Wochen später, am 23. Juni, nach Berlin zurück. Am 26. Juni schreibt er in sein Tagebuch: Prof. Matankin bei mir. – Jammer um diese zu Grunde gehende Existenz! Muss helfen. – Gibt mir Buch über „Chauffeurs“. Leihe ihm 100 Mark, damit er es zu Ende übersetzen lassen kann. Dann um 8 zu Fuldas, wo seit Monaten nicht gewesen bin. Herzlich wie je. – Lese ihnen nach Tisch die ersten beiden Kapitel von Purzelchen vor und erntete vollen Erfolg. „Sehr übermütig“, sagt Ludwig.20

Am 14. Juli 1928 übersendet Matankin sein Manuskript an Sudermann, dazu ein Begleitschreiben folgenden Inhalts: Hochverehrter Herr Doktor Sudermann!21 Verzeihen Sie bitte, dass ich Sie mit vorliegendem Schreiben belästige. Der zweite Teil der Memoiren ist beendet. Während der Arbeit habe ich diesen Text bedeutend verkürzt. Statt der zuerst in Aussicht genommenen 20–25 Kapitel sind nur 17 stehengeblieben. Mein Übersetzer hat mir geraten, die Kapitel: ‚Athenische Nächte‘, ‚Die Sirene in der Wanne‘, ‚Liebe im Auto‘, ‚Liebesfahrten‘ u.a.m. auszulassen, weil diese im großen und ganzen doch wenig zum Druck geeignet erscheinen.

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„Bismarck“ war eine Telefonvermittlungsstelle Berlins. 435 ist die Telefonnummer, unter welcher der Taxifahrer Matankin in der Pension in der Joachimsthaler Straße, wo er zu jener Zeit wohnte, erreichbar war. Die Pensionswirtin war Betty Samter. Deutsches Literaturarchiv Marbach, Cotta-Archiv (Archivgut der ‚Stuttgarter Zeitung‘). Verweise auf Materialien dieses Archivs werden in diesem Aufsatz im Weiteren nicht gesondert gegeben. Über die Geschichte von Sudermanns Tagebüchern, die er von 1885–1928 geführt hatte, berichtet Karl Rosner, als er 1937 seinen letzten Besuch bei dem sterbenden Schriftsteller im Berliner Sanatorium Fürstenberg beschreibt: „Neben dem Bette steht ein großes sehr verschlossenes Paket: die Tagebücher seines Lebens. Bände um Bände sind darin vereint. Er hat sie mit sich aus dem Hause in Grunewald genommen und bittet mich, sie für den Fall, dass ihn das Schicksal abberufen sollte, dem Cotta’schen Archiv zuzuführen. Nach 30 Jahren erst soll das Paket geöffnet werden, keiner soll vorher wissen, was er sich da Tag um Tag von seiner Seele schrieb. Und nur das letzte dieser Bücher will er noch bei sich behalten.“ (Rosner 1937, S. 14). Über diesen Abend bei Fulda mit Lesung der ersten beiden Kapitel des Purzelchen vgl. Fulda 1988, S. 542–544, 546 f. Auf allen Briefen, die Matankin an Sudermann geschickt hat, befindet sich links oben ein Stempel: „Prof. Dr. A. Matankin. Berlin W 15, Joachimsthaler Straße 25/26“.

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Ein Russe in Deutschland Zwei Drittel der ganzen Arbeit habe ich auf der Straße geschrieben, an meinem Steuer. Das übrige spät abends. Kurz: ich habe mich nie konzentrieren können und war fast immer durch meine Tätigkeit als Chauffeur stark übermüdet. Damit lassen sich vielleicht manche stilistische und andere Fehler, die doch wohl unterlaufen sind, erklären. Was aber den Inhalt anbelangt, so ist dieser unbedingt frisch, originell und aus dem Leben selber gegriffen. Ich habe den Wunsch, diese Memoiren auf dreifache Art zu verwerten: 1. Als Feuilleton für irgendeine Zeitung. 2. Sie als Material an eine Filmgesellschaft zu verkaufen. 3. mit Hilfe eines Verlages ein Buch herauszugeben. Der Zeitung räume ich das Recht ein, den Text zu verändern, bzw. Streichungen vorzunehmen. Der Filmgesellschaft erlaube ich, einen Film ganz nach ihrem Belieben zu drehen. Was das Buch anbetrifft, so könnte der Titel vielleicht geändert werden: beispielsweise: „Ich, der Chauffeur“. Das sind alles natürlich nur Wünsche. Letzten Endes überlasse ich Ihnen das alles und bitte Sie, mit meinem Manuskript ganz nach ihrem Belieben verfahren zu wollen. Ich bitte Sie um die große Liebenswürdigkeit, mir Nachricht zu geben, wann ich Sie sprechen und Ihnen das Manuskript übergeben könnte. Mit vorzüglicher Hochachtung Ihr sehr ergebener und unendlich dankbarer A. Matankin

Das Manuskript wurde Sudermann offenbar an einem der nächsten Tage überstellt. „Matankin muss betreut werden“, vermerkt Sudermann in seinem Tagebuch am 18. Juli. Sein Eintrag vom 19. Juli („In Prof. Matankins Chauffeur-Manuskript gelesen“) zeugt davon, dass ein beträchtlicher Teil der Aufzeichnungen bis Mitte 1928 bereits ins Deutsche übersetzt worden ist (Sudermann konnte kein Russisch), doch von wem – Arthur Luther oder Matankin selbst – ist unklar. Wie entwickeln sich die Dinge weiter? Nachdem er das Manuskript gelesen hat, schreibt Sudermann einen Brief an Matankin. Der Text des Briefes ist unbekannt, auf seinen Inhalt aber lässt sich aus dem Antwortbrief vom 26. Juli 1928 schließen: Hochverehrter Herr Sudermann! Ihren freundlichen Brief habe ich erhalten. Herzlichen Dank für Ihre warme Anteilnahme und Ihr Interesse an meine [sic!] Person. Ich bin mit Ihnen vollkommen einverstanden, dass einige Stellen in den ‚Mem.‘ zu krass sind. Doch solches ist nicht mein Fehler, sondern hängt mit den Tatsachen zusammen: ich habe nicht erfunden, sondern das Leben so abgezeichnet wie es ist. Deshalb habe ich auch aus dem II Teil der ‚Mem.‘, der an und für sich pikanter ist, vieles davon ausgelassen, was eher in eine intime Unterhaltung gehört, als druckreif ist.

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Ich bin natürlich mit Enderungen [sic!] oder Kürzungen einverstanden, weil für sich diese ‚Mem.‘ nur ein Mittel zum Zweck bedeuten. Wenn ich dank dieser ‚Mem.‘ meine wissenschaftliche Arbeit herausbringen könnte (Die russische Literatur im Lichte deutscher Kritik), an der ich mehr als vier Jahre gearbeitet habe, so würde ich mich für vollkommen belohnt halten. Das Erscheinen meiner großen Arbeit würde mir, vielleicht, eine [sic!] Name in der deutschen wissenschaftlichen Welt machen und damit könnte mir der Weg in die Zukunft geebnet werden. Gerne möchte ich daran glauben. Gestern habe ich an Sie den II Teil der ‚Mem.‘ abgeschickt. Es würde mich sehr freuen, wenn auch dieser Teil Ihren Beifall finden sollte. Ihre autoritative Meinung ist für mich äusserst wertvoll. Noch einmal sage ich Ihnen wircklich [sic!] meinen allerherzlichsten Dank und zeichne als Ihr sehr ergebener A. Matankin

Sudermann reagiert unverzüglich auf dieses Schreiben (in seinem Tagebucheintrag vom 27. Juli heißt es: „Abends Brief an Ch[auffeur] M[atankin]“). Was der Professor auf diesen Brief antwortet, ist nicht bekannt. Im August ruht ihr Austausch eine Zeitlang. Anfang September, als Sudermann im Begriff ist, nach Stuttgart zu reisen (in Verlagsgeschäften), schreibt er erneut an Matankin; dieser erwidert am 9. September mit folgendem Brief: Sehr verehrter Herr Sudermann! Ihr liebenswürdiges Schreiben habe ich erhalten. Verbindlichen Dank für Ihr Gedenken, Ihre Aufmerksamkeit und die Bereitwilligkeit mir zu helfen. Ich hoffe, dass dank Ihrer schriftstellerischen Autorität der Verleger für mein Manuskript vorteilhafte Verwendung finden wird. In der letzten Zeit bin ich bemüht den bibliographischen Teil meiner wissenschaftlichen Arbeit mit der Maschine schreiben zu lassen. Wenn es gestattet ist, würde ich Sie bitten Ihr Augenmerk auf die Arbeit zu richten: schon aus ihr werden Sie sich ihrer Wichtigkeit und der ausserordentlichen Mühe [sic!] die für die Arbeit verwand [sic!] worden ist, überzeugen. Mit großer Spannung erwarte ich das Erscheinen Ihres neuen Romans.22 Von ganze Herzen [sic!] wünsche ich dem Werke denselben Erfolg bei Leser und Kritik, denen Sie beim ‚Tollen Professor‘23 verzeichnen konnten [sic!]. Am Steuer des Wagens sitzend habe ich mich an der Aufnahme erfreut, die sie in einem schattigen Garten vor einen [sic!] antiken Pavillon darstellt. Dank den [sic!] Himmel, dass der Kelch von Molièr [sic!] und Schiller24 an ihnen vorübergegangen ist!

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Gemeint ist Purzelchen. H. Sudermanns ‚Der tolle Professor: Ein Roman aus der Bismarckzeit‘ erschien 1926 (Berlin – Stuttgart); erste russische Übersetzung erfolgte 1927 in Leningrad. Gemeint sind Armut und Elend, die den beiden Dichtern zuteilwurden.

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Ein Russe in Deutschland Mit vorzüglicher Hochachtung und den besten Grüßen verbleibe ich Ihr stets sehr ergebener A. Matankin

Der in dem Brief erwähnte Herausgeber war Karl Rosner. Offenbar hatte Sudermann, bevor er Anfang September aus Berlin zuerst auf sein Gut Blankensee und dann nach Stuttgart und Nürnberg fuhr, seinen engen Freund gebeten, Anteil am literarischen Schicksal des „russischen Professors“ zu nehmen. Der Schriftsteller selbst dagegen traf, soweit man das beurteilen kann, Matankin nicht wieder. Als er von der Reise zurückkehrte, verspürte er ein starkes Unwohlsein, von dem er sich nicht wieder erholen sollte (seine Tagebucheintragungen brechen nach dem 1. und 2. Oktober 1928 ab). Zwar setzte Sudermann, schenkt man Matankins Worten Glauben, weiter „über die Sekretärin und die Ärzte“ den Schriftverkehr mit ihm fort und schaffte es sogar noch, für ihn ein „letztes ‚Verzeiht mir‘“ zu diktieren, Nachweise dafür wurden im Sudermann-Archiv jedoch nicht gefunden. Um den 20. Oktober herum richtete Rosner an Matankin (Adresse: Berlin, Joachimsthaler Straße 25, Pension Samter) folgenden Brief: Sehr geehrter Herr Professor! Ich bedauere es sehr, dass ich Sie gestern nicht gleich empfangen konnte, aber ich war durch wichtige Gespräche festgehalten. Herr Sudermann hat mir viel von Ihnen gesprochen und auch Einblick in Ihre Manuskripte gegeben. Selbstverständlich bin ich gern bereit, Sie zu beraten. Ich möchte Ihnen vorschlagen, Freitag am 26. ds. M. um 10 Uhr in meinem Büro zu sein; sollten Ihnen dieser Tag und diese Stunden nicht passen, so bitte ich um Ihre Nachricht. Unter Umständen könnten wir dann die Zusammenkunft auch auf Sonnabend um 10 Uhr verschieben. Mit den besten Empfehlungen Ihr sehr ergebener [Datum und Unterschrift fehlen]

Matankins Antwort bestand aus zwei kurzen Zeilen, in denen er die Bereitschaft bestätigte, sich mit Rosner zu treffen (Wieder hieß es im Briefkopf: „Prof. Dr. Matankin“ usw.). Über den Inhalt des Gesprächs der beiden ist nichts bekannt. Doch zeugt die Tatsache, dass die Aufzeichnungen ein Jahr später nicht im prestigeträchtigen Cotta-Verlag, sondern in einem bescheidenen Leipziger Verlag erschienen, davon, dass sich Sudermanns baldiger Tod auf traurige Weise auf Matankins Schicksal ausgewirkt hatte. Die Hoffnung, dass die Berliner Presse- und Verlagswelt, der Rosner ihn näherbringen wollte, ihn unterstützen würde, hatte sich offenbar nicht erfüllt. Nachdem er seinen wichtigsten Protektor verloren hatte, konnte sich Matankin in der deutschen Welt weder als Germanist noch als Literat etablieren.

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Nichtsdestoweniger bemühte sich Rosner, soweit es ihm möglich war, Matankin zu unterstützen. Bald nach Sudermanns Tod stellte er Matankin in dem von ihm redigierten ‚Greif-Almanach‘ Seiten für eine Skizze zum Gedenken Sudermanns zur Verfügung. Matankin ging auf Rosners Angebot ein und berichtete zum dritten Mal über seine Beziehung zu dem verstorbenen Schriftsteller, diesmal allerdings unter seinem wirklichen Namen: Professor Dr. Alexander Matankin.25 Dieser Beitrag wiederholt im Großen und Ganzen den in ‚Rul” und in der Leipziger Publikation veröffentlichten Text, allerdings mit einigen ergänzenden Details und in einer anderen Übersetzung. 2.

Vom Privatdozenten zum Nationalsozialisten

Was ist nun über die wahre Biographie des russischen ‚Professors‘ bekannt, der sich umständehalber als Taxifahrer in Berlin wiederfand? Aleksandr Viktorovič Matankin wurde am 13. August 1889 in einer kinderreichen Bauernfamilie in Pogost geboren, einem Dorf im Amt Belkovo des Landkreises (Uezd) Kovrov im Gouvernement Vladimir. Er ging auf die geistliche Schule in Vladimir, die er im Frühjahr 1905 beendete; im August desselben Jahres trat er in das theologische Seminar in Vladimir ein, das er bis zum Juni 1909 besuchte und wo er unter anderem alte Sprachen (Latein und Griechisch) sowie als neue Sprache Deutsch studierte (in letzterer waren seine Lernerfolge laut einem offiziellen Zeugnis „sehr gut“).26 1909 beginnt Matankin sein Studium an der Historisch-Philologischen Fakultät (slawisch-russische Abteilung) der Kaiserlichen Universität Warschau,27 das 25 26

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Vgl. Kareno 1929, S. 135–137. Die Mehrheit der Angaben, die Matankins Lebenslauf bis Mitte 1921 und seinen Aufenthalt an der Warschauer Universität (später: Universität des Dongebiets, russ. Donskoj universitet) betreffen, stammen aus den entsprechenden Archivbeständen der Kaiserlichen Universität Warschau im Staatlichen Archiv der Stadt Warschau (Archivum Państwowe m. st. Warszawy. Zespół 214) und aus der Personalakte Matankins im Staatlichen Archiv des Dongebiets (Gosudarstvennyj archiv Rostovskoj oblasti). Bestand R–46. Op. 1. Nr. 65; Op. 3. Nr. 482. Verweise auf diese Quellen werden im Folgenden nicht gesondert erwähnt. Alfavitnyj spisok studentov i postoronnich slušatelej Imperatorskogo Varšavskogo universiteta za 1909–1910 (Alphabetisches Verzeichnis der Studenten und Gasthörer an der Kaiserlichen Universität Warschau 1909–1910), Warschau 1910, S. 12. Vermerkt werden muss auch, dass die Warschauer Universität Ende 1905 geschlossen und 1908 wieder eröffnet wurde, wobei die neuen Auswahlverfahren der Studenten besonders vorteilhafte Bedingungen für ehemalige Seminaristen boten. Vgl. Ivanov 1997, S. 30: „Die Studentenschaft sollte künftig vorwiegend russisch sein. Um dieses Ziel zu erreichen, beschloss man, Absolventen der geistlich-orthodoxen Seminare nach Warschau zu holen“.

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er 1913 abschließt. Von den Professoren und Dozenten der Fakultät, deren Vorlesungen der Student Matankin hört, sind einige (damals oder in der Folgezeit) bekannte Namen zu erwähnen: A. D. Grigor’ev, A. M. Evlachov, I. I. Zamotin, V. A. Francev. Matankins persönlicher Mentor ist Professor Zamotin (in den 1910er Jahren Dekan der Fakultät), der dem begabten Studenten offenbar wohlgesonnen ist. In seiner Einschätzung eines Aufsatzes des Studenten Matankin zur allgemeinen Thematik „Die russische Journalistik der vierziger Jahre in ihren Haupttendenzen“28 im Studienjahr 1911–1912 unterstreicht Zamotin, dass „der Autor seine Aufgabe breit gefasst und sich zum Ziel gesetzt hat […], sowohl die gesellschaftlichen als auch die literarischen Tendenzen der Vierzigerjahre aufzudecken. Im Rahmen dieses umfassenden Ansatzes ist es ihm gelungen, wenn nicht alles, so doch vieles darzulegen“.29 Trotz einer Reihe ernsthafter Mängel, die er in seiner ausführlichen Einschätzung benennt, bestätigt Zamotin, dass Matankins Aufsatz „in einigen Punkten herkömmliche studentische Arbeiten – sowohl Abschlussarbeiten als auch Arbeiten, die zur Prämierung eingereicht werden, – übertreffe“, und empfiehlt, den Verfasser mit einer ehrenvollen Erwähnung30 auszuzeichnen, was dann auch geschieht. So ist es nicht verwunderlich, dass Matankin nach Absolvierung des „gesamten wissenschaftlichen Studienganges“ der akademische Grad eines Kandidaten der Wissenschaften31 verliehen wird (am 5. Juni 1913) und dass er 28

Die Arbeit wurde eingereicht unter dem Leitsatz „Journale sind auf die schnellere Findung der Wahrheit ausgerichtet […] Der Zeitgenosse“ und bestand aus einem 238 Seiten langen Manuskript im Format lithografisch vervielfältigter Vorlesungen, vgl. Kratkij otčjet o sostojanii i dejatel’nosti Imperatorskogo Varšavskogo universiteta za 1911– 1912 akademičeskij god, Warschau 1912, S. 138. 29 Ebenda. 30 Ebenda, S. 142. 31 Russ. kanditat nauk, entspricht dem deutschen Doktorgrad. Erhalten geblieben ist ein Antrag der Historisch-Philologischen Fakultät an den Rat der Warschauer Universität vom 5. Juni 1913 auf Verleihung des Kandidatengrades (Doktorgrades) an Aleksandr Matankin und Aleksandr Voznesenskij: „Ob utverždenii v stepeni kandidata Voznesenskogo Aleksandra i Matankina Aleksandra kak polučivšich početnyj otzyv za predstavlenie imi v 1911/1912 učebnom godu sočinenija“ (Gosudarstvennyj archiv Rostovskoi oblasti. F. 527. Op. 1. Nr. 89. Bl. 532). Matankin war ab dem 28. Oktober 1913 als Professuranwärter verzeichnet. Aleksandr Nikolaevitč Voznesenskij (1888–1966), Kommilitone Matankins an der Warschauer (später: Rostover) Universität, war ebenfalls Schüler Zamotins. Von Beginn der 1920er Jahre an Professor an der Belorussischen Universität Minsk (wohin auch Zamotin gegangen war), später an der Moskauer A. S. Bubnov-Hochschule für Pädagogik. Im Februar 1934 des „russischen Nationalismus“ angeklagt und (in der Strafsache der sog. Russisch-Nationalen Partei, auch Slawistenprozess) zu Haft verurteilt. 1939 entlassen, ließ er sich in Kazan’ nieder. An der dortigen Universität übte er während des Kriegs die Pflichten des Dekans der Historisch-Philologischen Fakultät aus. 1964 rehabilitiert; vgl.

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an der Warschauer Universität beim Lehrstuhl für russische und altkirchenslawische Sprache und Geschichte der russischen Literatur verbleibt, um sich („ohne Zuerkennung eines Stipendiums“) auf die Berufung zum Professor vorzubereiten. Das Spezialgebiet, das der hoffnungsvolle Philologe für sich als Hauptgebiet wählt, ist die russische Literaturgeschichte. Sein gemeinsam mit I. I. Zamotin, unter dessen Anleitung Matankin in den darauffolgenden Jahren auch vorwiegend tätig ist, erarbeiteter Studienplan sieht sowohl Reisen nach Petersburg und Moskau („für das Primärquellenstudium in Bibliotheken“) wie auch Auslandsaufenthalte32 vor. In den ersten Jahren allerdings sind die Ergebnisse seiner Arbeit wenig zufriedenstellend, was mehrfach zur Missbilligung seitens der Professoren (einschließlich Zamotins) wie auch des Wissenschaftlichen Komitees des Ministeriums für Volksaufklärung führt. Erklärbar ist das möglicherweise dadurch, dass der an der Universität verbliebene Magistrant,33 der keinerlei Einkünfte hatte und kein Stipendium erhielt, gezwungen war, seinen Lebensunterhalt durch Unterricht (Privatstunden) zu verdienen. In seinem Empfehlungsschreiben vom 6. Oktober 1916 (in dem es darum geht, die Vorbereitungsfrist für Matankins Magisterprüfung zu verlängern) betont Zamotin, dass „Matankin in den zwei Jahren, in denen er ohne jegliches Stipendium das Vorbereitungsprogramm für die Berufung zum Professor absolvierte, seinen bescheidenen Lebensunterhalt selbst verdienen musste“. Im Juli 1915 – für Matankin offensichtlich ein schicksalhaftes Jahr – wurde die Warschauer Universität aufgrund der Gefahr der Einnahme Warschaus durch deutsche Truppen kurzfristig nach Moskau evakuiert. Im Herbst fiel der Beschluss über ihren neuen Standort: Rostov am Don. In den folgenden zwei Jahren erfolgten Umzug und Neuformierung der Universität, die in dieser Zeit

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F. D. Ašnin, V. M. Alpatov, Delo slavistov: 30-e gody, Moskau 1994. Weitere Dokumente über die Verfolgung Voznesenskijs zu sowjetischer Zeit befinden sich auf der Website des Nationalen Museums der Republik Tatarstan: http://museum.tatar.ru/museum/ natsionalnyy_muzey/univer/sor/sovvoz.htm. Aus den bis heute vorliegenden Dokumenten kann angenommen werden, dass Matankin 1913 mehrere Monate in Berlin verbrachte, wenn auch nicht in den Mauern der Berliner Universität. So wird in einem Fragebogen aus den 1930er Jahren angegeben, dass Matankin 1913 „in Berlin studierte“ (Reichsministerium für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung. Hochschullehrerkartei // Bundesarchiv. Bestand R 4901, Nr. 13271). Die Aussage „Als ich vor dem Krieg an der Pariser Sorbonne studierte […]“ (Kareno 1929, S. 89) muss wohl als eher literarische Freiheit gewertet werden. Im vorrevolutionären Russland entsprach der Begriff Magistrant (dt. Magistrand) in etwa dem Doktoranden. In diese Übersetzung wird das russische Magistrant übernommen, das dem deutschen Magistrand nicht voll entspricht, d. Ü.

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ihren alten Namen beibehielt, und erst im Juli 1917 wurde auf ihrer Basis in Rostow die Universität des Dongebiets (Donskoj universitet) gegründet. Mit der Universität verlässt auch der ‚Professorenstipendiat‘ Matankin Warschau. Den Materialien seiner persönlichen Akte zufolge verbringt er die Jahre 1915–1917 überwiegend in Moskau. Im Herbst 1915 gelingt es ihm, ein Stipendium in Höhe von 750 Rubeln pro Jahr „aus dem Sonderfond der Universität“ zu erwirken. Im Oktober 1916 wird Matankins Stipendium, wie auch sein Aufenthalt als Magistrant an der Warschauer Universität, um ein weiteres Jahr bis zum 28. Oktober 1917 verlängert. Womit sich Matankin in Moskau im Laufe dieser zweieinhalb Jahre beschäftigt und ob er tatsächlich einen Großteil seiner Zeit der wissenschaftlichen Arbeit widmet, ist unbekannt. Aller Wahrscheinlichkeit nach verdient er weiterhin mit Privatstunden hinzu; so unterrichtet er 1917 zum Beispiel am privaten Mädchengymnasium (für Minderbegüterte) der Fürstin  E.  V.  Engalyčeva.34 Auch ist es nicht gelungen, Details über seine gesellschaftlichen Aktivitäten in jenem stürmischen Abschnitt der russischen Geschichte herauszufinden, doch besteht kein Zweifel, dass Matankin sich nicht von der Politik fernhielt. Indirekte Bestätigung findet dies in einer A. A. Manujlov, einem der Führer der Konstitutionell-Demokratischen Partei (Kadettenpartei) und Minister für Volksaufklärung in der ersten provisorischen Regierung, gewidmeten Broschüre.35 Über persönliche Beziehungen zwischen Matankin und Manujlov ist nichts bekannt, doch ist eine solche Vermutung durchaus zulässig, vor allem wenn man berücksichtigt, dass Manujlov im Sommer 1917 eine Fahrt nach Rostov unternahm. 1917 nimmt Matankin Verbindung mit der Redaktion des Moskauer „Blatts für Politik, Gesellschaft und Literatur“ ‚Svoboda‘ auf, das von Mai 1917 bis Mai 1918 erschien. Redakteur dieses „Organs für unabhängiges Denken“ war N. Ja. Abramovič, sein wichtigster Autor M. P. Arcybašev. Wiederholt veröffentlicht auch der Publizist Matankin im Blatt Analysen der aktuellen gesellschaftlichen Situation Russlands und tangiert unter anderem Themen wie die Rolle der Intelligenz in der russischen Revolution, Revolution und Kultur, religiöse, ästhetische und kulturell-aufklärerische Anforderungen des modernen Lebens u. a. Einige seiner Aufsätze lassen die wahren Ansichten ihres Verfassers als überzeugter russischer „Patriot“36 klar erkennen. Besonders zu erwähnen ist 34 35 36

Vgl. das Verzeichnis: Vsja Moskva na 1917 god. Matankin 1917, Publikation der Partei für Volksfreiheit (der KonstitutionellDemokratischen Partei). „Wo bleiben denn unser Nationalstolz und die Liebe zu unserer Heimat?“, rief Matankin in einem seiner Artikel aus, und weiter: „Auch in der Literatur, die für gewöhnlich die Grundzüge eines Volkes widerspiegelt, finden wir kaum Beispiele der Zuwendung und

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an dieser Stelle sein Artikel „Wer sind ‚sie‘?“, der durchdrungen ist von Mitgefühl gegenüber Persönlichkeiten der russischen Befreiungsbewegung unterschiedlichster Überzeugungen (von Kropotkin und Plechanov bis hin zu Breško-Breškovskaja und Maria Spiridonova) und von Hass gegenüber den Bolschewiki, die der Autor in eine Reihe mit „Kriminellen im Durchgangsgefängnis“, „Deserteuren“, „Feiglingen und Vaterlandsverrätern“ stellt und die er als „Hooligans“, „Pogromhelden“, „Provokateure“ usw. bezeichnet.37 Im September  1917 richtet Matankin von Moskau aus ein Gesuch an den Rektor der Universität des Dongebiets, in dem er den Tod seines Vaters mitteilt, wodurch er für den Unterhalt seiner Mutter (geb. Archipova), seiner drei Schwestern und des Bruders sorgen müsse, und bittet um die Erhöhung seines Stipendiums von 750 auf 1200 Rubel. Das Gesuch wurde von Zamotin unterstützt, ihm wurde stattgegeben und Matankins „Anwärterschaft“ an der Universität wurde um ein weiteres halbes Jahr, bis zum 28. April 1918, verlängert. Auf diese Weise benötigt Matankin zur Vorbereitung auf die Berufung als Professor insgesamt etwa fünf Jahre. Ob, wo und wann es ihm 1918 gelang, seine Magisterprüfung abzulegen, darüber gibt seine persönliche Akte keine Auskunft. Wie auch immer: Die beiden Probevorlesungen, die nötig waren, um den Titel eines Privatdozenten endgültig zu bestätigen, fanden nicht statt. Die erste Vorlesung („Der Dramatiker I. S. Turgenev“) war für den 5. März 1919 festgesetzt, jedoch hielt Matankin sie nicht: Seiner eigenhändig verfassten Erklärung vom 3. März 1919 zufolge musste er Rostov unverzüglich „als Wehrpflichtiger“ verlassen. Wann und bei welcher Armee der Magistrant seine Wehrpflicht ableistete, konnten wir nicht ermitteln. (Von Mai 1918 bis Januar 1920 war Rostov ein wichtiger Stützpunkt der Freiwilligenarmee.) Auf jeden Fall wurde Matankin im Verlauf fast des gesamten Jahres 1919 als „Dozent“ und „Magistrant“ geführt. Sollte es Matankin tatsächlich doch gelungen sein, Probevorlesungen zu halten, so fanden diese erst im Herbst 1919 statt. Die noch erhaltenen Unterlagen sind diesbezüglich sehr widersprüchlich. So wurde auf einer Beratung der Historisch-Philologischen Fakultät der Universität des Dongebiets am 30. Oktober 1919 über Matankins Antrag vom 27. Oktober auf

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Liebe zur Heimat […] Die Schulen widmen allem Westeuropäischen wesentlich mehr Zeit und Aufmerksamkeit als dem Russischen. Dasselbe Bild bietet sich auf allen anderen Gebieten. […] Die Tatsache, dass uns der Nationalstolz fehlt, ist nicht zu ändern. Und dafür werden wir letztlich lange und schwer bezahlen müssen.“ (Matankin 1918a, S. 2). Svoboda Nr. 9, 3.(16.) Juni 1917, S. 2, s. die Liste von Opfern der „hässlichen“ Revolution in Matankins Artikel Die Revolution und die Kultur: „Die begnadeten – noch vorrevolutionären – politischen Persönlichkeiten, wie z. B.  Kropotkin, Plechanov, Miljukov, Rodičev hat sie [d. h. die bolschewistische Revolution] in den Untergrund getrieben […]“ (Svoboda Nr. 39, 26. Februar (11. März) 1918, S. 4).

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die Haltung der Probevorlesung zum Thema „Der Dramatiker I. S. Turgenev“38 beraten. Wie jedoch ein anderes Dokument bezeugt, hatte er angeblich bereits am 26. Oktober 1919 die zweite Probevorlesung zum Thema „Literaturhistorische Aufgaben der Erforschung des Schaffens von Puškin“ gehalten. Den Dienst als Privatdozent anzutreten, gelingt ihm übrigens im Jahr 1919 nicht mehr. In einem Schreiben an das Komitee der Universität des Dongebiets erklärt er am 8. April 1920: Im November und Dezember 1919 war ich am Flecktyphus erkrankt (ich lag in der Universitätsklinik von Professor Ignatovskij).39 Aufgrund meiner angegriffenen Gesundheit wollte ich die Weihnachtsferien in Mineral’nye Vody verbringen. Da ich aber vom Amt für Volksaufklärung des Kubangebietes zu einem Gespräch bezüglich der Übernahme eines Lehrstuhls am Polytechnischen Institut des Kubangebietes eingeladen war, musste ich auf den Weg dorthin noch in die Stadt Jekaterinodar. Die schnelle Entfaltung der Kriegsereignisse40 verhinderte die Gründung des neuen Lehrstuhls für Gesellschaftskunde, die zu unterrichten man mich eingeladen hatte; aus dem gleichen Grunde konnte ich weder meinen Kurort erreichen noch rechtzeitig nach Rostow zurückkehren. In Jekaterinodar hielt ich als Dozent auf Zeit Vorlesungen am Institut für Lehrerbildung. Unter Berücksichtigung dieser Ereignisse ersuche ich das Komitee, mich als umständehalber unschuldig Verspäteten in die Liste der Lebensmittelberechtigten aufzunehmen.

Auffällig ist, dass Matankin sich in seinem Antrag an das Komitee der DonUniversität nicht Privatdozent nennt, sondern Dozent. Doch ist dies nicht verwunderlich: In Rostov hatte sich die Sowjetmacht etabliert, und der Titel eines Privatdozenten war per Dekret des Rates der Volkskommissare noch im Oktober 1918 abgeschafft worden.41

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Gosudarstvennyj archiv Rostovskoj oblasti. Bestand 527. Op. 1. Nr. 358. Bl. 171v. Aleksandr Iosifovič Ignatovskij (1875–1955), Therapeut, fachgebietsübergreifender Spezialist, u. a. für Infektionskrankheiten; Professor der Universitäten in Odessa (1908– 1911), Warschau/Rostov (1911–1920?), Belgrad (1922–1941) und Skopje (1947–?). Die von Matankin erwähnten „Ereignisse“ sind offenbar die Einnahme von Rostov im Januar 1920 durch die Erste Reiterarmee und die Einnahme von Krasnodar durch die Rote Armee am 17. März 1920. Laut dem Dekret „Einige Änderungen in der Besetzung und Organisation der staatlichen wissenschaftlichen Einrichtungen und Hochschulen der Russischen Republik“ wurde der Titel des Privatdozenten abgeschafft. Personen, die diesen Titel mindestens drei Jahre lang geführt hatten, wurden mit Wirkung vom 1. Oktober 1918 als Professoren an entsprechende Lehrstühle versetzt. Privatdozenten, die dieser Bedingung nicht genügten, erhielten den Titel eines Hochschullehrers.

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Ungeachtet dessen tritt Matankin im April  1920 seine Stelle an der Historisch-Philologischen Fakultät der Universität des Dongebiets an. Am 3. April  1920 hält er die Einführungsvorlesung für den Kurs „Geschichte des russischen Theaters“.42 Matankins Lehrtätigkeit an der Don-Universität fällt zum überwiegenden Teil auf die ersten Monate des Jahres 1921. Er liest über die Geschichte der russischen Journalistik, führt Seminare zur Geschichte der alten und neuen russischen Literatur durch usw. Außerdem wird im Bericht zur Situation und den Aktivitäten der historisch-philologischen Fakultät der Universität des Dongebiets im ersten Trimester des Studienjahres 1920–1921 erwähnt, dass der Dozent Matankin eine Reihe von Essays zur Geschichte der russischen Literatur des 19. Jahrhunderts zum Druck vorbereitet habe (von denen, soweit bekannt, nicht einer veröffentlicht wurde). Erwähnt wird auch eine zusätzliche Tätigkeit Matankins: der Unterricht an der Berufsschule Nummer 4. Die Lehrtätigkeit Matankins in Rostov wurde, wie zu vermuten ist, durch seine häufigen Fahrten in andere südliche Städte unterbrochen. So beantragte die Rostower Universität am 25. Juni 1920 bei der Abteilung für Volksbildung des Dongebiets eine Dienstreise Matankins nach Baku und Tiflis „zum Studium einiger Fragen zur Geschichte der russischen Literatur“. Ob diese Dienstreise stattgefunden hat, ist unklar. Am 17. August 1920 wendet sich Matankin an den Rektor der Universität des Dongebiets mit einem Schreiben, in dem er sich auf eine Empfehlung der medizinischen Auswahlkommission der Abteilung für Gesundheitswesen des Dongebiets beruft und um eine anderthalb- bis zweimonatige Freistellung bittet, um in Kislovodsk eine Heilkur anzutreten. Die Materialien der persönlichen Akte Matankins ergeben im Ganzen ein ziemlich verworrenes Bild sowohl seiner wissenschaftlich-pädagogischen Karriere als auch seiner Reisen im Süden Russlands von 1919 bis 1921. Eines lässt sich jedoch mit Sicherheit sagen: ‚Professor‘ war Matankin nie. Auch seine ‚Privatdozentur‘ ist anzuzweifeln: Auf jeden Fall hat Matankin nie ein Dokument erhalten, das diesen Titel bestätigt.43 Genauer gesagt: Er kam im Wirbel der Ereignisse 1919–1920 nicht dazu, diesen Titel zu erwerben. Nichtsdestoweniger gelingt es Matankin im September (?) 1921, eine offizielle Bescheinigung zu erlangen, in der er als „Privatdozent“ erwähnt 42

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Ein Rundschreiben zu der bevorstehenden Vorlesung war vom Dekan  A.  M.  Evlachov an den Vorsitzenden des Exekutivkomitees der Don-Universität geschickt und dann an alle Fakultäten versandt worden. In diesem Dokument wird Matankin als Privatdozent genannt. In der Chronik der Universität ist unter Juli/August 1921 unter den „im Sommer zu wissenschaftlichen Forschungsreisen“ aus Rostov Gesandten der Hochschullehrer Matankin erwähnt (s.: Puškarenko, Tocenko 2003, S. 76).

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wird. Er wendet sich in einem Schreiben mit der Bitte an den Dekan der historisch-philologischen Fakultät, ihm eine Bescheinigung „zur Vorlage an der Pädagogischen Hochschule des Dongebiets“ darüber auszustellen, dass er „1919–1920 Privatdozent an der Universität des Dongebiets und später Hochschullehrer an derselben Universität war“. In der Akte befindet sich ein Entwurf dieses an Matankin ausgehändigten und vom Sekretär N. N. Sretenskij44 unterzeichneten Dokuments. Es entsteht jedoch der Eindruck, dass Matankin 1921 eine derartige Bescheinigung keineswegs für die Bewerbung an der Pädagogischen Hochschule des Dongebiets benötigte. Nachdem er den Titel „Privatdozent“ und (nach dem Abzug der Weißen Armee) die Möglichkeit, als Professor einen Lehrstuhl in Ekaterinodar zu belegen, eingebüßt hatte, fühlte sich Matankin offenbar zutiefst enttäuscht und verletzt. Was seine politischen Ansichten betrifft, so gibt es keinen Zweifel, dass er zu den wütenden Gegnern des bolschewistischen Regimes gehörte. Der russische „Patriotismus“, der schon zu jener Zeit merklich seine Gesamtposition prägte, ließ sich in keiner Weise mit der Ideologie der neuen Machthaber vereinbaren, die „die Diktatur des Proletariats“, den „Internationalismus“ und sonstige Parolen verkündeten. Diese (und möglicherweise noch andere) Umstände gaben letztendlich den Anstoß zu einem entscheidenden Schritt – der Flucht aus Sowjetrussland. (Informationen über irgendwelche Repressionen oder Verfolgung staatlicherseits 1920–1922 in Bezug auf Matankin konnten nicht gefunden werden, wobei Zamotin, sein Mentor, 1922 von der Tscheka des Dongebiets verhaftet wurde, vorgeblich wegen Zugehörigkeit zu Denikins „Informationsagentur“; in den 1930er Jahren wird der NKVD Zamotin – zu der Zeit Professor an der Belorussischen Universität in Minsk – einen Vorfall aus den Jahren 1918–1919 vorwerfen: Bei einem Auftritt in Rostov habe Zamotin die Bolschewiki angeblich „Kulturzerstörer“ genannt.).45 44

Nikolaj Nikolaevič Sretenskij (1889–1942) war Literaturwissenschaftler und Philosophiehistoriker, Absolvent der Kazaner Universität, ab 1916 in Rostov am Don. Er lehrte auch an der Pädagogischen Hochschule des Dongebiets und war dort viele Jahre der Lehrstuhlinhaber für westeuropäische Literaturen. 45 L. Rublëvskaja, V. Skalaban, Doska s černogo choda. Štrichi k portretu akademika Ivana Zamotina: In: L. Rublevskaja, V. Skalaban: Vremja i bremja archivov i imėn: Očerki. Ėsse. P’esa. [Zeit und Last der Archive und der Namen. Aufsätze. Essays. Drama]. Minsk 2009, S. 49–57. 1934 wurde Zamotin in der Strafsache der ‚Russisch-Nationalen Partei‘ (‚Slavistenprozess‘) vernommen und schließlich 1938 als „Mitglied einer kontr­ revolutionären nationalistischen Spionageorganisation innerhalb der Akademie der Wissenschaften der BSSR“ verhaftet. Er wurde am 5. August  1939 zu acht Jahren Haft

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Vom weiteren Geschehen zeugt ein Antrag Matankins an die deutsche Abteilung des Amerikanischen Fonds zur Unterstützung russischer Literaten und Wissenschaftler46 (Antragsdatum: 3. August 1922): Am 20. September 1921 überschritt ich illegal die sowjetisch-polnische Grenze. Als ich in Warschau ankam, besaß ich zwei Paar Wäsche und 256 polnische Mark. In Warschau war ich für die Zeitung ‚Za Svobodu‘47 tätig, hielt vor studierenden Emigranten Vorlesungen über neue russische Literatur, unterrichtete am russischen Gymnasium48 und hatte das Amt des Sekretärs der Russischen Akademischen Gruppe inne. Das bedeutete, für Essen und Kleidung acht Monate lang täglich 12–13 Stunden zu arbeiten. Am  6. Juli 1922 kam ich mit viertausend Deutschen Mark in der Tasche nach Berlin. Dieses Geld habe ich für die Fahrt, zeitweilige Unterbringung und Lebensmittel verbraucht. Jetzt stehe ich völlig mittellos da. In der Hoffnung auf Schutz und die Möglichkeit, meine Arbeiten zu veröffentlichen, bitte ich den Fond um eine Anleihe von zwei- bis dreitausend Mark, die ich, sobald ich es ermöglichen kann, im Ganzen oder in Raten zurückzahlen werde. Prof[essor] A. Matankin49

Matankins Antrag wurde teilweise stattgegeben: Er erhielt eintausend Mark; Ende August wendet er sich mit derselben Bitte an denselben Fond: „In Anbetracht dessen, dass sich meine materielle Situation bisher noch nicht verbessert hat“, schreibt Matankin, „bitte ich das Komitee, mir weitere ein- bis zweitausend Mark zu gewähren. Ich benötige die erbetene Summe vor allem, um zum Monatsersten die Miete für mein Zimmer zu zahlen“.50 Am 28. August erhält der Bittsteller weitere eintausend Mark. Die an das Berliner Komitee für Hilfe an Schriftsteller und Wissenschaftler gerichteten Gesuche des „Professors der Universität des Dongebiets“ werden nach zwei Jahren wieder erneuert. Am 3. Juni 1924 bittet er um ein Darlehen von 75 Dollar, die, wie er schreibt, „ich äußerst dringend […] zum Leben und

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verurteilt und kam in die KomiASSR, wo er in der Invalidenbrigade eines Lagers arbeitete. Laut amtlichem Zeugnis starb er im Mai 1942. Er wurde 1956 rehabilitiert. Ab Herbst 1922 ‚Berliner Komitee zur Unterstützung russischer Literaten und Wissenschaftler‘. Unter dem Namen Matankin haben wir in den Ausgaben dieser russischen Warschauer Zeitung Ende 1921 und 1922 keinerlei Publikationen gefunden; möglicherweise hatte er ein Pseudonym benutzt. In einer ausführlichen Untersuchung, die den Schulen der russischen Emigration in Deutschland, Polen und der Tschechoslowakei vor dem Zweiten Weltkrieg gewidmet ist, wird Matankin nicht erwähnt (Mchitarjan 2006, S. 187–255 u. Bibliogr.). Moskau, Staatliches Literatur- und Kunstarchiv Russlands (RGALI). Bestand 1570. Op. 1. Nr. 37. Bl. 291. Ebenda, Bl. 292.

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vor allem zur Verbesserung meiner stark angegriffenen Gesundheit benötige“.51 Seit sieben Jahren, ergänzt Matankin, habe er „weder die Möglichkeit gehabt, mich zu erholen, noch, irgendwo eine Heilkur in Anspruch zu nehmen“. Dem Antrag war ein Attest des Beauftragten des Russischen Roten Kreuzes beigefügt, welches beglaubigte, dass Matankin eine grippale Lungenentzündung überstanden habe, infolge derer er an akuter Blutarmut leide und „eines Sommerurlaubs (vorzugsweise an der See) bei guter Ernährung“ bedürfe.52 Wie bestreitet Matankin in Berlin seinen Lebensunterhalt? In seinem Antrag vom 3. Juni 1924 teilt er mit, er habe sich in den letzten zwei Jahren „seinen bescheidenen Lebensunterhalt“ mit Privatstunden verdient, die zum jetzigen Zeitpunkt nicht mehr stattfanden. „Derzeit habe ich nur“, teilt Matankin mit, eine „einzige Verdienstquelle – zwanzig (20) Mark im Monat für den Lektürenunterricht russischer Literatur in der 7. Klasse des Gymnasiums beim Akademischen Verein“. Tatsächlich: Fürs Erste gelingt es ihm, eine Anstellung an der Russischen Höheren Schule in Berlin zu bekommen, einem 1922 von Professor Avgust Kaminka beim Russischen Akademischen Verein (dessen Vorsitzender Kaminka war) gegründeten Gymnasium.53 Nachdem er sich in Berlin niedergelassen hat und offenbar die Hoffnung auf Fortsetzung seiner akademischen Karriere nicht aufgeben will, versucht Matankin, sich ein für ihn neues (und aus Sicht seiner damaligen Situation sehr aktuelles) wissenschaftliches Thema zu eigen zu machen: die russische Literatur in Deutschland. Anfänglich beabsichtigte er offenbar, eine Dissertation zu schreiben, zumal er bereits zu seiner Zeit als Magistrant in Russland ein gewisses Interesse für russisch-deutsche literarische „Reflexionen“ bewiesen hatte.54 In seinem Vorwort zum Buch AUTO HALT! teilte Arthur Luther mit: „Den Entwurf zu einer großen Untersuchung über deutsch-russische 51 52 53 54

Ebenda. Ebenda. Vaškau 2002, S. 82 f. Zum Berliner russischen Gymnasium s. Mchitarjan 2006, S. 84, 91–93 u. Bibliographie.; Volkmann 1966, S. 126–128. Erhalten geblieben ist ein Bericht über die Arbeit des „bei der Kaiserlichen Warschauer Universität verbleibenden Alexander Matankin“ im ersten Semester des Studienjahres 1913/1914. Dieser Bericht besteht aus drei Abschnitten. Der erste Abschnitt mit dem Titel ‚Russkaja narodnaja slovesnost‘ („Die russische Volksdichtung“) endet mit einer beeindruckenden Liste der zur Thematik gelesenen Arbeiten. Der zweite ist ein Abriss der deutschen Kritik russischer Literatur (Varnhagen von Enses Arbeit über Puškin, Alexander von Reinholdts umfassende Geschichte der Russischen Literatur, Brandes’ Essay über Gor’kij, Monografien über Turgenev, Tolstoj u. a.). Der dritte Teil konstatiert nur eine von Matankin verfasste „kritische Analyse“ der zu jener Zeit (1911 und 1913) veröffentlichten Tagebücher  N.  I.  Turgenevs. „Dem vorliegenden Bericht“, teilt Matankin zum Abschluss mit, „füge ich Konspekte aller von mir gelesenen Arbeiten bei“.

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literarische Beziehungen hatte der Flüchtling mitgenommen.“ Diese Aussage erscheint übertrieben und beruht offenbar auf Erzählungen Matankins selbst.55 Er hatte natürlich keine „große Untersuchung“ vorzuweisen, auch nicht als „Entwurf“. Immerhin bestätigt eine Reihe von Publikationen, die 1923–1927 in der Emigrantenpresse erschienen,56 die Glaubwürdigkeit seiner komparatistischen Studien, die er mit der Zeit offenbar zu einer umfangreichen Arbeit zusammenzustellen hoffte. Auf diese Arbeit setzte Matankin besondere Hoffnung: Im Falle der Veröffentlichung könnte ihm eine solche Arbeit seiner Berechnung nach „einen Namen in Deutschlands Literaturwelt machen“ und seinen zutiefst ungewissen gesellschaftlichen Status festigen (vgl. Matankins Brief an Sudermann vom 26. Juli 1928). Matankins Wirken in der Emigrantenpresse beschränkt sich in jener Zeit nicht auf Aufsätze über die Aufnahme russischer Schriftsteller durch die deutsche Kritik. Der ‚Professor‘ nimmt gern auch andere Themen in Angriff. So 55

So versicherte Matankin in einem Brief an das Nietzsche-Archiv (in dem er um Auskunft bittet, aus welcher Arbeit Nietzsches dessen berühmtes Urteil über Dostojevskij stammt), dass er gegenwärtig an der großen Monographie „Die deutsche Kritik über russische Literatur“ arbeite (Goethe- und Schiller-Archiv in Weimar, Bestand 72, BW 3441). Dieselbe Arbeit wird auch in Matankins Personalfragebogen erwähnt, welcher dem Bericht zur Schulsituation des ‚Russischen Gymnasiums‘ (s. Anm. 54) vom 23. April 1923 beigefügt ist, in: Bundesarchiv, Bestand R 4901, Nr. 6585 (Perepiska o russkich školach v Berline, 1920er Jahre–1934, Blatt 128 f.). 56 Die erste dieser Publikationen war ein Rezensionsartikel mit dem Titel Russkaja literatura pered sudom nemeckoj kritiki [Die russische Literatur im Urteil deutscher Kritik], Golos Rossii, Berlin 1922, Nr. 1073, 1. Oktober, S.  6 f.; eine Reaktion auf die kurz zuvor erschienenen Bücher von E.  Friedrichs, Russische Literaturgeschichte, Gotha 1921, und A. Eliasberg, Russische Literaturgeschichte in Einzelporträts, München 1922. Ernst Friedrichs (1856–1930), Literaturprofessor (Lichterfelde, Berlin), Verfasser eines Lehrbuchs für Russisch u.  a.; Aleksander Samojlovič Eliasberg (1978–1924), Übersetzer russischer Literatur ins Deutsche und deutscher ins Russische; Verfasser von Artikeln und Essays über die deutsche Literatur; Autor mehrerer Bücher über russische Kunst u. a. Bemerkenswert ist, dass Matankin nach Eliasbergs Tod einen ihm gewidmeten Nachruf veröffentlichte (Rul’. Nr. 1126. 17. August 1924. S. 4); über eine persönliche Bekanntschaft Matankins mit Eliasberg ist nichts bekannt. Weitere uns bekannte Arbeiten Matankins zur Rezeption russischer Literatur in Deutschland: Matankin 1924a; Matankin 1924b; Matankin 1924c. Der erstgenannte Artikel widerspiegelt einen Vortrag Matankins auf einem Gedenkabend für Griboedov, den die Gesellschaft der Bühnenkünstler organisiert hatte und der in den Räumen des Berliner künstlerisch-literarischen Kreises in der Fasanenstraße 78 stattfand (s. Rul’. Nr. 1071. 14. Juni 1924. S. 6; dieselbe Ankündigung in Nr. 1073 vom 17. Juni, S. 4). Von Interesse ist auch eine Notiz über das Buch Molière in Rußland des französischen Wissenschaftlers Jules Patouillet (1862–1942), das 1924 (in der Übersetzung von K.  Pamfilova und der Redaktion von G. L. Lozinskij) im Berliner russischen Verlag Petropolis erschienen war (s. Matankin 1924d).

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zum Beispiel erscheint Ende 1922 im „Novaja russkaja kniga“, einem Blatt für Literatur und Bibliographie, seine Rezension neuer, in Petrograd erschienener Bücher.57 1924 versucht er sich auf dem Feld der Journalistik: Er veröffentlicht in der russischen Berliner Zeitung „Vremja“ mehrere Reiseberichte.58 Doch tragen alle diese Publikationen episodischen Charakter. * Und nochmals zur Frage, ob unser Protagonist sich zu Recht als „Professor“ vorstellte. In dem erhalten gebliebenen Personalbogen Matankins aus dem Jahr 1923, der aufgrund seiner Lehrtätigkeit an der Berliner Schule erstellt wurde, steht (nach seinen eigenen Angaben natürlich), dass er 1920 eine Stelle als Professor an der Universität und an der Pädagogischen Hochschule des Dongebiets innehatte; zudem wird mitgeteilt, dass er an der Höheren Mädchenschule [Vysšie ženskije kursy] in Rostov, an der Schauspielschule [dramatičeskaja studija] Rostov und davor am Polytechnischen Institut in Moskau unterrichtet sowie Vorlesungen zur Geschichte des russischen Theaters an der Moskauer Aleksandrov-Realschule gehalten habe.59 In welchem Maße all diese Angaben der Wahrheit entsprechen, bleibt unbestimmt. Zweifel am Wahrheitsgehalt der Angaben, die dieses offizielle Dokument enthält, tauchen auch aufgrund der Liste wissenschaftlicher Arbeiten Matankins auf. Als publizierte wissenschaftliche Arbeiten werden unter anderem genannt: Die Journalistik der Vierzigerjahre des 19. Jahrhunderts in ihren Grundtendenzen; I.  S.  Turgenevs  Liebe zum Volk; Die russischen Komödien des 18. Jahrhunderts; Literaturhistorische Aufgaben bei der Erforschung des Schaffens von A. Puschkin; Der Klassizismus des 17. und 18. Jahrhunderts; I. A. Krylov. Als unveröffentlichte Manuskripte existierten laut Matankin 1) eine I. A. Krylov gewidmete Monographie; 2) eine Sammlung von Essays zur neuesten russischen Literatur; und 3) eine deutsche Bibliografie der russischen Literatur. Eine Arbeit (Dostoevskij als Publizist) sei angeblich zum Druck angenommen; eine zweibändige Monographie (Die russische Literatur in europäischer Wertung. Eine deutsche Kritik)

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Novaja russkaja kniga. Nr.  10. 1922. S.  21–33 (Rezensionen zu folgenden Publikationen: V.  Peretc, Kratkij očerk metodologii istorii russkoj literatury [Kurze methodologische Skizze der Geschichte der russischen Literatur], Petrograd 1922; V.  Istrin, Očerk istorii drevnerusskoj literatury domoskovskogo perioda (11–13 vv.) [Skizze der Geschichte altrussischer Literatur der Vormoskauer Periode (11.-13.Jhrs)], Petrograd 1922; Sobolevskij, drug Puškina. So stat’ëj V. I. Saitova, Sankt-Peterburg 1922). Matankin 1924e; Matankin 1924f; Matankin 1924g. Bundesarchiv, Bestand R. 4901, Nr. 6585. Bl. 128 f.

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sei in Vorbereitung.60 Zieht man in Betracht, dass der Professuranwärter der Warschauer Universität bis 1915–1916 noch keine einzige im Druck erschienene Arbeit vorzuweisen hatte, so könnte eine derartige Produktivität – innerhalb eines Jahrzehnts! – nur fassungsloses Entzücken auslösen. Leider ist es den Autoren der vorliegenden Arbeit nicht gelungen, auch nur Spuren wenigstens einer der erwähnten wissenschaftlichen Publikationen aufzuspüren. Der akademische Titel, der akademische Grad, die aufgelisteten Arbeiten – das alles muss wohl als Lügengespinst angesehen werden. Natürlich befand sich Matankin, wie viele russische Emigranten, damals in einer schwierigen Lage, doch im Unterschied zu den meisten von ihnen schreckte er offenbar nicht vor Betrug und noch nicht einmal vor Fälschungen zurück. Mitte 1926 muss Matankin sich vom ‚russischen Gymnasium‘ verabschieden: Vermutlich wurde er gemeinsam mit dem Direktor der Schule, Nikolaj Vasil’evič Jakovlev (Jakowleff; 3.12.1883 Kronstadt –? Latvia?) und anderen Lehrern aufgrund der allgemeinen Wirtschaftskrise entlassen.61 Matankin findet sich auf der Straße wieder und bemüht sich um die Stelle eines Lehrers an einer Berliner Lehreinrichtung. Es kann angenommen werden, dass ein Zusammenhang zwischen seinen Bewerbungen jener Zeit und der erhalten gebliebenen Anfrage aus Deutschland besteht, die der Berliner Justitiar Max Fuchs im August 1926 an die Universität des Dongebiets (zu jener Zeit Nordkaukasische Staatliche Universität) richtet, mit der Bitte um Auskunft, ob ein gewisser Aleksandr Matankin, der jetzt etwa 36 Jahre alt ist, tatsächlich Professor für Geschichte und Literatur gewesen sei. In der offiziellen Antwort der Universitätskanzlei wird mitgeteilt, dass Matankin „nur die Stelle eines Privatdozenten für Literaturgeschichte, aber nicht die eines Professors innehatte“. Gut eineinhalb Jahre später wird eine analoge Anfrage vom Volkskommissariat für Auswärtige Angelegenheiten an die Kanzlei der Nordkaukasischen Universität gehen (die Antwort wird ebenso lauten wie schon 1926). Wodurch das Interesse der Rechtsabteilung des Volkskommissariats für Auswärtige Angelegenheiten an Matankin 1928 hervorgerufen wurde, ist unklar. Genau zur selben Zeit, d. h. 1926 (vgl. Arthur Luthers Vorwort), wird Aleksandr Matankin zum Chauffeur eines Berliner Taxis. Er verbringt mehrere Jahre hinter dem Lenkrad des Automobils62 und genau in jenen Jahren (1926– 1928) schreibt er seine Aufzeichnungen.

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Ebenda. Ebenda, Bl. 153 f. In seinem im Greif-Almanach zum Jahreswechsel 1929–1930 veröffentlichten Text zum Gedächtnis Sudermanns ist Matankin als Autor und Ich-Erzähler der Chauffeur.

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* Ein Wechsel im Schicksal des Emigranten Matankin deutet sich Ende der 1920er Jahre an und spiegelt die allgemeine Situation in Deutschland wider, vor allem das Anwachsen der politischen Aktivität und des Einflusses der deutschen Nationalsozialisten. Hitlers Machtantritt bringt einen Teil der russischen Emigrantenszene zum Brodeln; deren kämpferisch gestimmte und nationalistisch orientierte Kreise verspüren, fasziniert von der Idee eines (selbstverständlich vom Bolschewismus befreiten) ‚Großrussischen Reiches‘, in jenem Augenblick eine Art ‚Seelenverwandtschaft‘ mit der in Deutschland nach 1932 herrschenden offiziellen Ideologie. „Der Faschismus hat grundlegenden Einfluss auf die russische Emigrantenszene Ende der 1920er/ Anfang der 1930er Jahre“, bezeugt Walter Laqueur.63 Unter aktiven Verfechtern der „Nationalen Idee“ findet sich auch Aleksandr Matankin. Nach den Misserfolgen auf den Gebieten der Lehrtätigkeit, der Literatur und Journalistik verstärkt er zu Beginn der Dreißigerjahre sein politisches Engagement (unter seine nationalsozialistische Broschüre – s. u. – setzt er „programmatisch“ das Datum ihrer Niederschrift: „Berlin, 1931“). Neben zahlreichen nationalistischen Gruppen verschiedener Couleur, die von russischen Emigranten in Berlin zwischen 1930 und 1938 gegründet werden (die Berliner Gruppe des ‚Bundes der Jungrussen‘, der ‚Nationale Arbeitsbund der neuen Generation‘, die ‚Russische Nationale Befreiungsbewegung‘, die ‚Russische Nationale und Soziale Bewegung‘, der ‚Verein für Russische Kulturpolitische Studien‘, der ‚Verein zur gegenseitigen Unterstützung der ehemaligen Offiziere der russischen Armee und Flotte‘ u. a.), entstand auch (vermutlich zu Beginn des Jahres 1934) die ‚Gesellschaft zur Selbsthilfe russischnationaler Emigranten‘, mit Matankin an der Spitze. In einer Berliner Zeitung, die Ende 1934 einen Übersichtsartikel über die russische Emigration veröffentlichte, wurde diese ‚Gesellschaft‘ als Matankin-Gruppe bezeichnet.64 Helfer 63

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Vgl. Laqueur 1994, S. 119. Unter den jüngsten Arbeiten, die sich mit dem russischen Faschismus beschäftigen, muss insbesondere die Magisterarbeit von D. Jdanoff erwähnt werden: Russische Faschisten. Der nationalsozialistische Flügel der russischen Emigration im Dritten Reich, Digitale Osteuropa-Bibliothek: Geschichte  3, 2003, https://epub.ub.unimuenchen.de/548/1/jdanoff-faschisten.pdf. Germania. Zeitung für das deutsche Volk. Nr. 272, 2. Oktober 1934. S. [5]. In diesem Artikel, der in der russischen Berliner Zeitung Novoe Slovo (Nr. 9. 15. Oktober 1934. S. 8) annotiert wurde, werden auch die „Mel’skij-Gruppe“ (die Gruppe um A.  V.  Meller-Zakomel’skij, der in den 1920er Jahren den Vertretern des Eurasismus nahestand) und die ‚Moskauer Nationale Bewegung‘ (eine Gruppe, die am 15. Juli 1934 ein Programmprojekt veröffentlichte, das in demselben Artikel genau beschrieben wird; der Publikationsort wird nicht mitgeteilt) erwähnt.

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und rechte Hand Matankins war S. N. Ivanov.65 Die ‚Gesellschaft‘ versammelte sich in der Regel im Restaurant ‚Hefter‘ am Wittenbergplatz, um über aktuelle Probleme zu diskutieren, u. a. über ‚Die russische Revolution und ihre Folgen“ (29. August  1934), „Judentum, Christentum und wir“ (25. November  1934), „Deutsch-russische Freundschaft“ (21. November  1934), „Was lehnen wir ab, wofür kämpfen wir?“ (13. Dezember 1934).66 Der Hauptreferent auf diesen Versammlungen war in der Regel Aleksander Matankin. Desgleichen veranstaltete die ‚Gesellschaft‘ literarische Abende, Weihnachtsbälle o. Ä. Nebenbei gesagt spielte nach der Meinung eines gut informierten Zeitgenossen und Autors die „Gruppierung um A. V. Matankin […]“ innerhalb der russischen Emigrantenschaft nur eine „ephemere Rolle“.67 Von der ideologischen Ausrichtung Matankins und seiner Gesinnungsgenossen kann man sich aufgrund der Informationsbroschüre 20 Punkte ein Bild machen, die er unter seinem wirklichen Namen in Berlin 1935 auf Russisch und auf Deutsch herausgab.68 Sie war ein Manifest des 65

66

67 68

Sergej Nikitič Ivanov (1900, SPb–1950, USA?), Berliner Ingenieur; 1936 Führer der Berliner Abteilung der All-Russischen Faschistischen Organisation (A.  A.  Vonsjackijs); Ivanov war während des Zweiten Weltkriegs (im Rang eines Chorunžij [Fähnrichs, v. Ü.], später eines Majors) an der Bildung von Einheiten beteiligt, die sich der ROA (der Russischen Befreiungsarmee) anschlossen, s. A. V. Okorokov, Fašizm i russkaja ėmigracija (1920–1945 gg.), Moskau 2002, S. 166; K. M. Aleksandrov, Oficerskij korpus armii general-lejtenanta A.  A.  Vlasova 1944–1945. Biografičeskij spravočnik, 2 izd. ispr. i dop. Moskau 2009 (lt. Personenregister). Vgl. Schlögel, Kucher 1999 (s. Personenregister und Organisationsverzeichnis: http:// russkij-berlin.org/Chronik-1934.html). Weitere Auftritte Matankins 1934: Vortrag „Friedrich der Große und Russland“ (17. September 1934); Vortrag „General-Feldmarschall von Moltke und Russland“ (21. November 1934); Vortrag „Was lehnen wir ab?“ (13. Dezember 1934), ebenda, S. 458 f. Die Versammlungen wurden 1935 weitergeführt. So trat Matankin am 4. und 25. März 1935 im Restaurant Hefter vor seinen Gesinnungsgenossen (d. h. auf einer Versammlung der ‚Gesellschaft  …‘) mit dem Vortrag „Juden in Russland“ auf (ebenda, S. 461 f. bzw.: http://russkij-berlin.org/Chronik-1935.html). Baur 1998, S. 228. Wir geben hier das Titelblatt der in Frakturschrift gedruckten deutschsprachigen (im Vergleich zur russischsprachigen erweiterten) Ausgabe wieder: Matankin 1935. Hinweis auf der letzten Seite: Berlin-Halensee, Karlsruher Str. 7a, bei S. Ivanoff; auf dem hinteren Vorsatzblatt steht: „Leiter der Organisation Prof. A.  Matankin. Berlin, Leibnizstrasse, 35“. Diese Broschüre konnte in der UdSSR nicht unbemerkt bleiben. „Ein gewisser Matankin hat 24 [sic!, möglicherweise entstanden aufgrund des Datums der Veröffentlichung von Hitlers 25 Punkten – dem 24. Februar 1920 – v. V.] programmatische Punkte herausgebracht, unter anderem die Forderung, den Versailler Vertrag zu beseitigen“ (zit. aus einem herausgerissenen, mit Maschine geschriebenen Blatt Papier, zweite Jahreshälfte 1936, ohne Über- und Unterschrift, das im Historischen Archiv des Instituts für Osteuropa in Bremen aufbewahrt wird (Bestand 190 (M. S. Zorkij). Bl. 2). In dem Papier werden u. a. erwähnt: N. E. Markov, Fürst N. V. Masal’skij, A. V. Meller-Zakomel’skij, der

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Nationalsozialismus auf der Grundlage von Hitlers  25 Punkte-Programm von 1920, das der russische „Professor“, wie er selbst bekannte, übersetzt und auf die Bedingungen der russischen Wirklichkeit übertragen hatte. Die 20 Punkte wurden von panegyrischen Ergüssen an Hitlers Adresse begleitet: Hitler sei „die Verkörperung des Weltgewissens und die Rettung der arischen Völker“, Hitler sei „die Verwirklichung des Christentums auf Erden“ und der „Tod des Bolschewismus“; Hitler sei „das Grab des gesamten Nachlasses der französischen Revolution, d. h. des Parlamentarismus, des Liberalismus, des Demokratismus“, Hitlers Lehre sei „die stärkste Waffe in unserem Kampf“ usw. Führen wir einige der 20 Punkte an: 1. Zusammenschluss aller Großen unter der Führung des großen Russlands. 2. Nichtanerkennung des Versailler Vertrages und der durch ihn verursachten Verluste an russischem Reichsgebiet. 3. Russe kann nur sein, wer seinem Blute nach russisch ist. Russischer Staatsbürger kann nur sein, wer einem Volk oder Stamm angehört, das oder der vor 1914 bereits als Einheit auf russischem Gebiet lebte. Daher können Deutsche wohl russische Staatsbürger sein; Juden jedoch weder Russen noch russische Staatsbürger. 4. Alle nichtrussischen Staatsbürger müssen sofort zum Verlassen Russlands gezwungen werden. […] 17. Die gesamte Presse in Russland unterliegt der Staatskontrolle. Alle mittelbaren und unmittelbaren Mitarbeiter der russischen Presse müssen russische Staatsbürger sein. Eine Mitarbeit von nichtrussischen Staatsbürgern in der Presse und eine Finanzierung der Presse durch solche wird verboten. […] 19. Der Staat wird durch eine starke Zentralgewalt regiert.69 Militärschriftsteller  K.  V.  Sacharov und andere rechtsradikale und profaschistisch aufgelegte russische Emigranten). Wer der Verfasser dieses Textes ist, ob er je veröffentlicht wurde, und wo genau, konnte nicht festgestellt werden. Mark Solomonovič Zorkij (eig. Lipšic; 1901–1941) war Historiker, Professor an der Moskauer Staatlichen Universität. Er hatte von 1938–1941 den Lehrstuhl für neuere Geschichte inne. Autor von Arbeiten zur Geschichte Deutschlands im 19. und 20. Jahrhundert; in den 1920er Jahren aktiver Komsomolfunktionär. 69 Matankin 1935. In der deutschsprachigen Ausgabe heißt es auf S.  17 „wird verboten“, in der russischsprachigen stattdessen „karajetcja smertnoj kazn’ju“ (dt. „wird mit dem Tode bestraft“). In der überarbeiteten russischsprachigen Fassung von 1938 wird dieser Punkt entsprechend der deutschsprachigen geändert und lautet „Zapreščeno i karajetsja zakonom“ (dt. „wird verboten und durch das Gesetz geahndet“) (s. Anm. 78–80).

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Das Studium der klassischen, humanistischen russischen Literatur hat dem Absolventen der Warschauer Universität offensichtlich nicht zum Nutzen gereicht. Die Alltagsnot, seine nationalistischen Bestrebungen und höchstwahrscheinlich auch die Komplexe eines Verlierers (unbefriedigter Ehrgeiz u. a.) bringen den Emigranten Matankin dazu, eine ‚schicksalsträchtige‘ Wahl zu treffen: Er wird ‚russischer Nazi‘. * Mit Bestimmtheit wendet sich Matankins Situation Ende der 1920er Jahre zum Besseren: 1928 erhält er eine Anstellung beim Sprachendienst des Auswärtigen Amtes (als Referent – Lektor und Übersetzer – russischer und/ oder polnischer Pressetexte).70 Zudem arbeitet er (offenbar auf vertraglicher Basis) auch für andere Organisationen. Das biographische Handbuch des Auswärtigen Dienstes erwähnt eine ganze Reihe von Ministerien, mit denen Matankin in den 1930er Jahren auf die eine oder andere Weise in Verbindung stand: das Reichswehrministerium, das Reichsluftfahrtministerium (nicht vor 1933), die Kriegsakademie, die Reichskriegsschule Potsdam (nicht vor 1935), die Pionierschule I der Wehrmacht in Berlin-Karlshorst (nicht vor 1936), der Fliegerhorst Jüterbog nahe Berlin (Mitte der 1930er Jahre), die Militärärztliche Akademie (nicht vor 1934)71 und eine Volkshochschule in Berlin.72 In Matankins offiziellem Lebenslauf wird außerdem das Kommandantenhaus Berlin genannt, wo er von 1932 an unterrichtet. Zur selben Zeit tritt er am Berliner Gymnasium ‚Zum Grauen Kloster‘ eine Stelle an, ein Jahr später wird er Dozent an der Berliner Volkshochschule. Von 1934 an unterrichtet er an der Technischen Hochschule Berlin.73 Hauptsächlich aber arbeitet Matankin in den 1930er Jahren ganz offensichtlich im Auswärtigen Amt. Ein Ergebnis 70

71 72 73

Keiper, Kröger 2008, S. 203; Politisches Archiv des Auswärtigen Amtes Berlin, Akte B 100, 1339_Matynkin, Alexander, Bl. 6. Zur Situation in der „russischen Abteilung“, wie auch zur Art der „Lektorat“ genannten Arbeit 1928–1933 im deutschen Auswärtigen Amt (Vergleich der Referatsübersichten, Übersetzung von Artikeln und Mitteilungen der ausländischen Presse über die UdSSR u. ä.) s. Sütterlin 1994, S. 77–79, 150 f. Über den Fremdsprachenunterricht an dieser Akademie s. Fischer 1985, S. 37. Ebenda. In den Jahrbüchern der Technischen Hochschule (s. Technische Hochschule Berlin, Personal- und Vorlesungsverzeichnis, Berlin, 1934/1935–1944/1945) steht Matankin im Verzeichnis der „Lektoren“ (vorletzte Stufe des Lehrpersonals; sie leiten i. d. R. sprachpraktische  Seminare); er unterrichtete Polnisch, ab April  1939 auch Russisch. Vor Matankin hatte Reinhold Jul’jevič von der Osten-Sacken (1871–1937) an der Technischen Hochschule Russisch und russische Kulturkunde gelehrt. Über die Berliner Technische Hochschule zu jener Zeit: Schröder 1979, S. 99 f.; Heiber 1994, S. 26–35.

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seiner dienstlichen Tätigkeit in jenen Jahren ist wohl das von ihm zusammengestellte polnisch-deutsche und deutsch-polnische Franckhs Militär-Wörterbuch für Wehrmacht und Wehrtechnik.74 Demselben Fragebogen ist zu entnehmen, dass er eine Zeitlang (zwischen der zweiten Jahreshälfte 1932 und Anfang 1934) Mitglied der Sturmabteilung der NSDAP (SA) war. Es ist nicht ganz klar, ob da wirklich von der SA oder von irgendeiner „Kampfgruppe“ die Rede ist.75 Zu einem ‚vollwertigen‘ SAMitglied aber wurde Matankin nie, was wahrscheinlich daran lag, dass ihm die deutsche Staatsbürgerschaft fehlte. Genau dieser Umstand war offenbar das einzige Hindernis, das Matankins Karriere in Nazi-Deutschland beeinträchtigte, obwohl er bemüht war (zum Beispiel im bereits zitierten Lebenslauf), sich als „reiner Arier“ darzustellen. Die ‚Matankin-Gruppe‘ hört in der zweiten Hälfte der 1930er Jahre auf zu existieren, ihr Kopf aber tritt weiterhin als Theoretiker des russischen Nationalsozialismus auf. 1938 gibt er auf eigene Rechnung eine weitere Broschüre auf Russisch heraus: Über die Gestaltung eines künftigen Russlands, im Grunde genommen eine erweiterte Fassung der 20 Punkte, gedruckt in der privaten Druckerei des Nikolai v. Schwabe.76 Matankin streicht die Lobpreisungen Hitlers, überträgt in diese Publikation alle Grundthesen seiner ersten Broschüre, erweitert sie um Kommentare, überarbeitet teilweise die Formulierungen und ergänzt weitere Abschnitte: „Nationalsozialismus und Liberalismus“, „Nationalsozialismus und Marxismus“, „Nationalsozialismus 74 75

Matankin 1938a. Möglicherweise gehörte Matankin zu dem russischen SA-Trupp, der sich im SA-Lokal Brandenburgische Str. 69 zu versammeln pflegte (s. [o.N.] Čto govorit ROND?, in: Novoe Slovo, Nr. 1, 21. Mai 1933, S. 3; ebd.: die Fotografie der russischen ‚Sturmgruppe‘, eines SATrupps unter der Führung von A. P. Svetosarov (Poelchau) bei einer Maidemonstration). Den SA-Stürmern widmet Matankin mehrere Zeilen in der Broschüre von 1938 (s. Anm. 78), wo er vom „höchsten Ausdruck der Selbstlosigkeit“ usw. spricht. Andrej Svetosarov (Svetozarov) war Deckname von Heinrich Poelchau (23.3.1902, SPb.–nicht vor 1943), s. den biographischen Abriss über Poelchau und seine Familie in: labas.livejournal.com/1008384.html. Labas: Blog des Münchener Ingenieurs und Erforschers historischer Quellen der zweiten (Kriegs-) Emigration (1941–1945) aus der UdSSR Igor Petrov). ROND: Russische Nationale Befreiungsbewegung: pronazistische Organisation, die im März 1933 also gleich nach Hitlers Machtantritt gegründet und von den deutschen Machthabern im September 1933 verboten wurde. 76 Nikolaj Adol’fovič Švabe (Nikolai Schwabe; 1897–1944). Eine kurze biographische Notiz über Schwabe bis 1921 s. In: Volkov 2002, S.  529. Schwabes Lebensdaten stammen aus der Datenbank  E.  Amburgers: http://88.217.241.77/amburger/index.php?id=77225. In seiner Druckerei wurden von Schwabe auch die Publikationen der Russ. Nationalen und Sozialen Bewegung (von Meller-Zakomel’skij u. a.) gedruckt. 1938 gab er die Broschüre von N. E. Markov Das Gesicht Israels heraus.

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und Bolschewismus“, „Die nationalsozialistischen Grundlagen Russlands“, „Das Wesen des Nationalsozialismus“, „Das Programm des Nationalsozialismus und Russland“ (in diesen Abschnitt gingen die 20 Punkte ein), „Die Prinzipien der russischen Nationalsozialisten“, „Die Aufgaben der russischen Nationalsozialisten“. „Die Russen sollten den Nationalsozialismus in besonderem Maße verinnerlichen und seine wichtigsten Grundlagen begreifen, um sie künftig beim Aufbau eines Staates auf neuer Basis anzuwenden“, verkündet Matankin.77 Zu den „evidenten und realen Aufgaben“ der russischen Nationalsozialisten, so Matankin, gehöre „die Schaffung eines angesehenen, kompetenten nationalen Zentrums der russischen Emigration“ sowie die „Entwicklung freundschaftlicher Beziehungen zwischen der russischen und der deutschen Nation“.78 Jeder russische Emigrant, der sein Vaterland wahrhaft liebe, sei verpflichtet, so Matankin, den Weg der Bekämpfung des Bolschewismus zu beschreiten. „Wer sich Emigrant nennt, hat sich damit zum Feind des jüdischen Bolschewismus und zum aktiven politischen Kämpfer für seine Heimat und sein Volk erklärt: Ansonsten ist er kein Emigrant, sondern ein feiger Flüchtling.“79 Es braucht wohl nicht erwähnt zu werden, dass Matankins Appelle in russischen Emigrantenkreisen keinen Widerhall fanden;80 es gelang ihm nicht, zum Ideologen des russischen Faschismus zu werden, im Unterschied zu anderen aus Russland Eingereisten, die eine erkennbare Rolle im politischen und ideologischen Leben des Deutschlands der 1930er Jahre spielten (V. V. Biskupskij, G. V. Švarc-Bostunič, N. E. Markov u. a.).81 Die gesamte Vorkriegs- und fast die ganze Kriegszeit über lebt Matankin in Berlin. 1932 mietet er ein geräumiges möbliertes Zimmer in einem Haus in der Leibnizstraße 35, in der Wohnung der Witwe des Arztes Georg Hesselbarth,

77 78

79 80

81

Matankin 1938b, S. 24 (gesamter Text in alter Rechtschreibung). Ebenda, S. 29. Der Gedanke einer ‚Union‘ von Russen und Deutschen beschließt auch die gesamte Broschüre: „Die Wege der russischen und deutschen Nationalisten vereinigen sich heute, da sie einen gemeinsamen Feind haben und an derselben Front kämpfen. […] Und deshalb: der vereinte brüderliche russisch-deutsche Kampf gegen die gemeinsamen Feinde lebe hoch!“ (S. 32). Ebenda, kursiv Gedrucktes entspricht Sperrdruck im Original. Auf der Umschlagseite von Über die Gestaltung eines künftigen Russlands wird auf ein Büchlein desselben Verfassers hingewiesen: Unsere Prinzipien und Aufgaben. Alle unsere Bemühungen, diese Publikation aufzuspüren, waren vergeblich; ihre Kurzversion ist jedoch in der deutschen Ausgabe der 20 Punkte dargelegt. Vgl. im Detail Stephan 1992, S.  44–49; Janov 1999, S.  338–350; Kiselëv 1999, S.  303–336; Williams 1972, S.  332–352. Zum Kräfteverhältnis innerhalb der rechten russischen Emigrantenszene s. v. a. Čistjakov 2006, S. 406–422.

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der ein Jahr zuvor verstorben war.82 Im August 1939 geht er die Ehe mit deren Tochter Katharina Hesselbarth (1896–1969) ein, der Mutter zweier heranwachsender Söhne. Im Sommer 1940 erhält er (offenbar dank seiner Ehe mit einer Deutschen) die deutsche Staatsbürgerschaft und wird nun endlich Mitglied der NSDAP.83 Etwa ab Ende 1943 ändert unser Protagonist seinen Namen: aus Matánkin wird Mátynkin. Es ist schwer zu sagen, inwiefern dies ein bewusster Schritt war – nicht auszuschließen ist zum Beispiel ein behördlicher Fehler, der dann von einem Dokument ins nächste wanderte. Im Übrigen wehrte sich Matankin nicht gegen die neue Schreibweise seines Namens, der so in stärkerem Maße die germanische Aussprache widerspiegelt. (Die Betonung der ersten Silbe reduziert den Vokal der zweiten und lässt sie dem russischen ‚y‘ ähnlicher klingen.) Die auffälligste Lücke in Matankins Lebenslauf betrifft seine berufliche Tätigkeit während der Kriegsjahre. War es ihm gelungen, nach Russland zu kommen, und wenn ja – wann und in welcher Funktion? Dieser besonders wichtige Abschnitt seiner Biographie bleibt leider ein weißer Fleck. Wir tendieren zu der Annahme, dass Matankin Berlin nicht verließ. Im Dezember wurde er vom Wehrbezirkskommando zur Musterung einberufen und – entsprechend seiner Altersstufe – als arbeitstauglich („Tauglichkeitsgrad a[rbeits]v[erwendungsfähig]“) und wehrdiensttauglich (in der Kategorie „Landsturm II C“) eingestuft.84 Die Perspektive, in den aktiven Wehrdienst versetzt zu werden, war offenbar überaus unerwünscht (von ihm selbst, aber auch von der gesamten Abteilung), was den damaligen Leiter des Sprachendienstes Paul Gautier veranlasste, am 18. Dezember 1943 folgendes Schreiben an die entsprechende Abteilung seines Ministeriums zu richten:

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84

Dies teilte im Dezember 2010 Horst Büscher (*1927, später Journalist) mit, der jüngere Sohn von Katharina Matankin-Hesselbarth aus der ersten Ehe. Keiper, Kröger 2008, S.  203. Matankins Meldekarte wurde im deutschen Bundesarchiv ausfindig gemacht; die Nummer der Mitgliedskarte war 8157943, Datum der Antragstellung:  3. Mai 1940, Datum des Parteieintritts:  1. Juli 1940. Berufliche Tätigkeit: Hochschullehrer. Ebendort befindet sich auch Matankins Mitgliedskarte des NSDoB (Nationalsozialistischer Deutscher Dozentenbund, Reichsfachschaft im NS-Lehrerbund); Familienstand: ledig; Beruf: Lektor; Datum des Eintritts in den NSDoB ist nicht angegeben. Der National-sozialistische Deutsche Dozentenbund gehörte zu den Strukturen der NSDAP, er wurde 1935 gegründet, um den Einfluss der Nationalsozialisten auf die Hochschulen zu festigen. Politisches Archiv des Auswärtigen Amtes, Bestand 100, Nr. 1339, Matynkin Alexander, S. 13 (Behelfs Musterungsausweis, begl. Abschrift v. 7. Juni 1949).

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Herr Professor Matynkin hat mir mitgeteilt, dass er eine Aufforderung zur Musterung erhalten hat. Herr Professor Matynkin ist Obmann der russischen Sprachgruppe des Sprachendienstes. Er übt Referententätigkeit aus und befindet sich somit in einer Schlüsselstellung für diese Sprache. Herr Prof. Matynkin ist im Sprachendienst unentbehrlich. Ich bitte ergebenst, seine Uk-Stellung beantragen zu wollen.85

* Im Februar 1945 wurde Matankin mit einem Teil von Ribbentrops Auswärtigem Amt nach Mainburg in Niederbayern verlegt, wo sich eine der Filialen des Sprachendienstes befand. Nach seiner Ankunft im Februar 194586 leitet er noch einige Monate lang die „Russischgruppe“. Hier in Mainburg erlebte er das Ende des Krieges und den Zusammenbruch des NS-Regimes. Wie er und seine Familie die schwere Zeit von 1945 bis 1947 überstanden, konnte nicht geklärt werden. Bekannt aber ist, dass es Matankin nicht gelang, der Entnazifizierung zu entgehen: Gegen ihn wurde Klage erhoben, dass er 1940–1945 Mitglied der NSDAP, 1938–1945 des NS-Dozentenbundes und zudem im Laufe von 6 Wochen „Kandidat“ der SA gewesen war. Die Sühne für diese ‚Taten‘ fiel allerdings mild aus. Die Spruchkammer, die nach 1945 den Grad der Beteiligung deutscher Staatsbürger am Nationalsozialismus feststellte, ordnete Matankin als „Mitläufer“ ein und verurteilte ihn zu einer Geldsühne von 250 RM zuzüglich 600 RM Gerichtskosten (Bescheid vom 24. Februar 1948).87 In jene Zeit fällt auch der erste Versuch Matankins, seinen sozialen Status wiederherzustellen. Im Januar 1948 wendet er sich in einem Schreiben an den Dekan der Philosophischen Fakultät der Universität Mainz und teilt ihm seinen Wunsch nach einer „Dozentur oder einem Lektorat“ am Lehrstuhl für slawische Sprachen mit (d. h. die Stelle eines Dozenten oder Hochschullehrers, der praktische Seminare leitet). Matankin schrieb, dass er Russisch und Polnisch „in Wort und Schrift“ beherrsche und Russland und Polen „wissenschaftlich wie auch persönlich“ kenne. „Zuletzt“, ergänzte er, „habe ich diese beiden Sprachen an der Technischen Hochschule zu Berlin doziert, wo ich jahrelang das Ost-Europäische Seminar leitete“.88 Interessanterweise stellt 85 86

87 88

Ebenda, S. 14 (Schreiben an das Ref. R-Uk z. H. von Herrn Konsulatsleiter Maliga, begl. Abschrift v. 7. Juni 1949). Ebenda, S.  10. (Abschrift des Schreibens des Leiters des Sprachendienstes vom 6. April 1945 über die Verlagerung Matankins von Berlin nach Mainburg mit der Bitte „an alle Behörden und militärischen Dienststellen“, ihm „nötigenfalls Schutz und Hilfe zu gewähren“). Ebenda, S. 15. Universitätsarchiv Mainz, Bestand 13, Nr. 3–33.

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sich Matankin in diesem Gesuch nicht als ‚Professor‘ vor, sondern lediglich als Dr. phil. Der Versuch blieb erfolglos: Das Fehlen des Nachweises einer Professur sowie wissenschaftlicher Arbeiten erwiesen sich in diesem Fall als unüberwindbares Hindernis. „Aus Ihrem Schreiben“, heißt es in der Antwort des Dekans der Philosophischen Fakultät an Matankin vom 13. Januar 1948, „geht nicht hervor, ob Sie bereits habilitiert sind oder die Absicht haben, sich zu habilitieren“.89 Der Bewerber wurde gebeten, seinen Lebenslauf, eine Liste seiner Veröffentlichungen sowie einen Bericht über seine Lehrtätigkeit an der Technischen Hochschule Berlin zuzusenden, doch er beschränkte sich auf die Zusendung seines Curriculum Vitae, in dem er nicht versäumte zu erwähnen, dass er 1921 „Professor an der Universität Rostow a/Don und am Pädagogischen Institut“ war. „Mein Studium im Auslande und akademische Titel“, teilt er weiter mit, „sind vom Kultusministerium Berlin anerkannt“.90 Wahrscheinlich in dem Wunsch, verlässlichere Informationen über den ihm unbekannten Matankin zu erhalten, schickte der Dekan der philosophischen Fakultät über das Institut für Orientforschung bei der Akademie der Wissenschaften eine Anfrage an den Rektor der Technischen Hochschule Berlin. In der Antwort des Rektors vom 12. April 1948 hieß es: Sie haben eine Anfrage über Herrn Dr. A. Matankin (nicht Matynkin) an mich gerichtet. Die Nachforschungen haben durch die falsche Schreibweise länger als erwartet gedauert. Herr Matankin kam etwa 1919 nach Berlin und wurde dann später Lektor für Russisch und Polnisch an der Technischen Hochschule. Die ganzen Akten über Herrn Matankin sind durch Kriegshandlungen in Verlust geraten. Die Herren, die ihn kannten, beurteilen seine Kenntnisse, Fähigkeiten und seine menschlichen Eigenschaften recht günstig.91

Im August  1949, gleich nach seinem 60. Geburtstag, stellte Matankin bei der Landesversicherungsanstalt den Antrag, ihm als ehemaligen Staatsbediensteten eine Rente zu gewähren. Dem Antrag wurde stattgegeben, und ab 1950 erhielt Matankin monatlich ein bescheidenes Ruhegeld in Höhe von 111,70 DM. Dies reichte eindeutig nicht für ein gesichertes Leben, und so wandte sich Matankin mit der Bitte um Wiederverwendung in seiner früheren Dienststellung im Auswärtigen Amt an das Landratsamt Mainburg und tat am Rande seine Bereitschaft kund, „als Dozent oder an der Universität“ tätig zu werden.92 89 90 91 92

Ebenda. Ebenda. Ebenda. Ebenda.

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Im September 1951 stellte er seinen Antrag erneut – im Zusammenhang mit dem im Mai 1951 bekanntgemachten neuen Gesetz (Anlage zu Artikel 131 des Grundgesetzes), welches unter anderem ermöglichte, frühere Mitglieder der Nationalsozialistischen Partei einzustellen. Der Antrag wurde jedoch – aus formalen Gründen – abgelehnt. Laut Einwohnermeldeamt lebte Matankin bis 1959 in Mainburg. Immer wieder hielt er sich auch in München auf, wohin er im Herbst 1959 endgültig seinen Wohnsitz verlegte und wo er das letzte Jahrzehnt seines Lebens verbrachte. Was er in dieser Zeit tat, mit wem er Umgang pflegte, ob er sich weiterhin mit deutsch-russischen Beziehungen befasste, Erinnerungen zu Papier brachte usw., all das muss noch geklärt werden. Bekannt ist nur ein kleines, aber kennzeichnendes Faktum: Am 31. Oktober 1954 von 18.05 Uhr bis 18.15 Uhr trat „Professor Matankin“ [wiederum als ‚Professor‘!] mit einem Beitrag unter dem Titel Der Hort des Militarismus in der Sendung ‚Aktuelle Berichte SDR‘ (Süddeutscher Rundfunk) auf.93 Alexander Matankin starb in München am 23. Dezember 1969. Man setzte ihn in einem Grab mit seiner Ehefrau auf dem Grünwalder Friedhof bei;94 die Grabstelle wurde 2005 eingeebnet. Weitere, nicht weniger aufschlussreiche biographische Einzelheiten werden vielleicht mit der Zeit an das Tageslicht kommen … Doch schon das, was wir herausfinden konnten, macht nachdenklich über die ‚Odyssee‘ dieses zweifellos begabten und ehrgeizigen Philologen, den sein verschlungener Lebensweg an die Seite der deutschen Nationalsozialisten geführt hatte. Die Wirrungen seiner Biographie stehen nicht nur für das Drama eines russischen Emigranten, der seinen Platz in der fremden Wirklichkeit nicht zu finden vermochte, sondern spiegeln ebenso jene Katastrophe, welche in den 1920er und 1930er Jahren viele unserer Landsleute erfasste, die sich wie Matankin vom Virus des Nationalismus und von der Ideologie der Schwarzen Hundert anstecken ließen: Um sich gegen das bolschewistische Übel zu behaupten, wechselten sie bewusst auf die Seite eines anderen verbrecherischen Regimes und wurden zu dessen Helfershelfern. 

93 94

Aus dem Russischen übersetzt von Christine Hengevoss

Vgl. Philipps 2004, S. 391. In den Unterlagen der Friedhofsverwaltung ist er registriert als Martynkin.

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Heinrich Böll und die sowjetischen „Dissidenten“ Der Name Heinrich Böll begegnete sowjetischen Lesern erstmals im Jahr des XX. Parteitags der KPdSU (1956) – vorerst nur in Form kurzer Erzählungen. Doch schon bald bemühten sich die „dicken“ sowjetischen Zeitschriften und nach ihnen die Verlage (erst zögerlich, dann immer entschlossener) darum, die Geschichten und Romane Bölls (Und sagte kein einziges Wort, Wo warst du, Adam?, Haus ohne Hüter, Billard um halb zehn) zu publizieren. In der zweiten Hälfte der 1950er Jahre gehörte Böll in der UdSSR zu den bekanntesten und am meisten gelesenen westlichen – und, was besonders wichtig ist – westdeutschen Autoren.1 Nach dem Zweiten Weltkrieg wurden in der UdSSR hauptsächlich die Werke ostdeutscher Autoren übersetzt; unter ihnen waren große Namen wie Anna Seghers, Hans Fallada, Bertolt Brecht und Johannes  R.  Becher. Heinrich Böll wurde in diesen Reihen wie ein Autor „aus einer anderen Welt“ wahrgenommen, der noch dazu einer jungen Generation angehörte, die durch den Krieg geprägt worden war. Seine Stimme klang anders als die der übrigen Autoren. Welchen Themen sich Böll auch zuwandte, er schrieb letztendlich immer über Gewissen und Freiheit, Barmherzigkeit, Mitleid und Leidensfähigkeit. Das deutsche Thema und die jüngere deutsche Geschichte wurden in seinen Werken in anderem, in „menschlichem“ Licht beleuchtet. Und genau * Erstveröffentlichung in: Literatura i ideologija. Vek dvadcatyj. [Literatur uund Ideologie. Das zwanzigste Jahrhundert]. Moskva, 2016. S.  160–173 (Naučnaja serija „Literatura. Vek dvadcatyj“; Vyp. 3). Wieder (in russischer Sprache mit deutscher Übersetzung) in: Razgovory na rasstojanii. Genrich Bёll i Lev Kopelev. Ferngespräche. Heinrich Böll und Lew Kopelew. [Im Rahmen der thematischen Ausstellung im Goethe-Institut, Sankt-Petersburg, SeptemberOktober 2018]. SPb, 2018. S. 41–48; 50–57). Wieder in: Konstantin Azadovskij. Sjužety i sud’by: Nemecko-russkie otraženija [Themen und Schicksale: Deutsch-russische Spiegelungen]. Moskva, 2019. S. 284–301. 1 Die erste Übersetzung eines Böll-Textes ins Russische (die Kurzgeschichte „Mein teures Bein“) erschien 1952 in einer Moskauer Monatsschrift namens „V zaščitu mira“ [Verteidigung des Friedens] (Nr. 10, S. 48–50) und wurde kaum beachtet (als Autor wurde dort Heinrich „Boll“ angegeben). Hiernach trat eine vierjährige Publikationspause ein. 1956 wurden Erzählungen Bölls in den Zeitschriften „Novyj mir“ [„Die neue Welt“] und „Inostrannaja literatura“ [„Literatur des Auslands“] veröffentlicht, 1957 erschien (in russischer Übersetzung) sein Roman Und sagte kein einziges Wort. Als Vorwort für diese Ausgabe diente der Artikel Der Schriftsteller sucht und fragt von L. Kopelev, der in der Moskauer Zeitschrift „Sovetskaja literatura“ [„Sowjetliteratur“] (1957. Nr. 3) abgedruckt worden war. Eine Bibliographie der russischen Übersetzungen von Bölls Werken sowie der Publikationen über ihn findet sich hier: P. Bruhn, H. Glade: Heinrich Böll in der Sowjetunion 1952–1979. Einführung in die sowjetische Böll-Rezeption und Bibliographie der in der UdSSR in russischer Sprache erschienenen Schriften von und über Heinrich Böll. Berlin 1980.

© Brill Fink, 2022 | doi:10.30965/9783846766767_014

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das verhalf ihm zu kolossalem Erfolg in einer Sowjetunion, die noch kaum wieder zu sich gekommen war nach der blutigen stalinistischen Diktatur. Heute kann man rückblickend sagen: Die Werke Bölls, die in der UdSSR in enormen Auflagen erschienen, wurden im Kontext des Chruščëvschen Tauwetters zu einem der markantesten literarischen Ereignisse jener Epoche, die voller begeisterter (sich leider nicht erfüllender) Hoffnungen war und nur etwa acht Jahre andauerte – bis zur Amtsenthebung Chruščëvs im Oktober 1964. Die Begegnung eines Millionenpublikums sowjetischer Leser mit den Werken Bölls wurde als eine Neuentdeckung Deutschlands wahrgenommen. Böll besuchte Moskau erstmals im Herbst 1962 als Angehöriger einer Delegation deutscher Schriftsteller, die auf Einladung des Schriftstellerverbands angereist war, und seine Begegnung mit dem sowjetischen Russland (mit Aufenthalt in Moskau und Reisen nach Leningrad und Tiflis) verlief vorrangig in offiziellen Bahnen. Die Aufspaltung der schriftstellerischen Intelligenz in „Andersdenkende“ und „Funktionäre“ zeichnete sich zu dieser Zeit auch noch nicht so deutlich ab wie in der zweiten Hälfte der 1960er Jahre. Böll bekam die Möglichkeit zum Austausch mit Menschen, die schon einige Jahre später eher nicht zu offiziellen Treffen mit einer Delegation aus der BRD eingeladen worden wären. Unter ihnen waren, unter anderen, auch Lev Kopelev, der bereits zuvor über Böll geschrieben hatte,2 und seine Frau Raisa Orlova. Mit diesem Treffen nahm für die Kopelevs und für die Familie Böll eine enge, langjährige Freundschaft und Korrespondenz ihren Anfang. Neben den Kopelevs traf Böll in der Zeit seines ersten Aufenthalts in Moskau und Leningrad nicht wenige Menschen, mit denen er in der Folge eng und lange befreundet war (Übersetzer, Literaturkritiker und Germanisten). Sie alle suchten aufrichtig Bölls Nähe: Er übte nicht nur als bekannter Schriftsteller und Deutscher, der den Krieg miterlebt hatte, sondern auch als Mensch „von dort drüben“, von der anderen Seite des Eisernen Vorhangs, Anziehungskraft auf sie aus. „Du bedeutest sehr viel für uns als Schriftsteller und Mensch […]“,3 schrieb ihm Kopelev am 2. Dezember 1963. Dieses Interesse beruhte auf Gegenseitigkeit. Die sowjetische Intelligenz strebte den Austausch mit Böll an, und Böll seinerseits hatte größtes Interesse daran. Unzufrieden mit der geistigen Situation in der ihn umgebenden westlichen Welt, hoffte Böll in Russland, dem Land Dostoevskijs und Tolstojs, eine Antwort auf jene Fragen zu finden, die ihn tief bewegten: Wie ist diese „Neue Welt“, die auf den Prinzipien sozialer Gerechtigkeit fußen soll, wirklich? Der Autor wollte die westliche Realität, der er kritisch gegenüberstand, mit jener 2 Kopelew 1960; Kopelew 1962. 3 Böll, Kopelew 2011, S. 54 (weiter: Briefwechsel).

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Neuen Welt konfrontieren, die auf dem Territorium des einstigen Russlands entstanden war, und seine Schlussfolgerungen daraus ziehen: Was sind das für Menschen, die diese sowjetische Welt bevölkern, was sind ihre moralischen Besonderheiten und Eigenschaften, und ist es angemessen, mit dieser Welt die Hoffnung auf eine geistige Erneuerung der Menschheit zu verbinden? Man muss sagen, dass sich Heinrich Böll in dieser Hinsicht nicht stark von anderen westeuropäischen Autoren des 20. Jahrhunderts unterschied, die durch die klassische russische Literatur des 19. Jahrhunderts geprägt worden waren und gerade in Russland (dem patriarchalischen und später auch dem sowjetischen) ein überzeugendes Gegengewicht zur „verfaulenden“ und „dahinschwindenden“ Zivilisation des Westens suchten (Rainer Maria Rilke, Stefan Zweig, Romain Rolland u. a.). Nach 1962 reiste Böll noch sechs weitere Male in die UdSSR (1965, 1966, 1970, 1972, 1975 und 1979) – und zwar eben nicht als Tourist und bekannter Schriftsteller, sondern als Mensch, der sich um ein Verständnis dessen bemühte, was „im Sozialismus“ vor sich ging. Böll nahm intensiven Einblick in das Leben der Menschen und des Landes, wobei er versuchte, dieses nicht durch das Fenster eines Touristenbusses zu betrachten, sondern durch die Augen der Menschen, mit denen er in Verbindung stand. Die Treffen mit den Freunden in Russland wurden mit der Zeit für ihn unverzichtbar und, wie man sich vorstellen kann, zu einem inneren, unentbehrlichen Teil seiner Existenz. Der Kreis seiner Bekannten vergrößerte sich stetig – so sehr, dass der Autor bei Besuchen in Moskau beinahe seine gesamte Zeit für Gespräche mit alten und neuen Freunden aufwandte (in dieser Hinsicht ist Böll mit keinem einzigen anderen westeuropäischen oder amerikanischen Schriftsteller dieser Zeit vergleichbar). Zu den Literaturschaffenden, Philologen und Germanisten, die des Deutschen mächtig waren und Böll im Original lasen, seine Werke übersetzten oder über ihn schrieben (Konstantin Bogatyrëv, Evgenija Kaceva, Tamara Motylëva, Rita Rajt-Kovalëva, Pavel Toper, Sof’ja Fridljand, Il’ja Fradkin, Ljudmila Čërnaja, u.  a.) kamen auch Menschen anderer Berufsgruppen hinzu: Künstler (Boris Birger, Valentin Poljakov, Alek Rapoport), Schauspieler (vor allem Gennadij Bortnikov, der in der Rolle des Hans Schnier im Stück Ansichten eines Clowns im Mossovet-Theater geglänzt hatte) u.  a. Unter den sowjetischen Schriftstellern, mit denen sich Heinrich Böll traf (teils über Jahre hinweg), finden sich Konstantin Paustovskij und Michail Dudin, Boris Sluckij und David Samojlov, Evgenij Evtušenko und Andrej Voznesenskij, Bella Achmadulina und Vasilij Aksënov, Bulat Okudžava und Fazil’ Iskander, Viktor Nekrasov und Vladimir Vojnovič (der Austausch Bölls mit den beiden letztgenannten setzte sich auch nach deren Ausreise aus der UdSSR fort). 1972 lernt Böll Evgenija Ginzburg und Nadežda Mandel’štam kennen, deren Erinnerungen zu dieser Zeit bereits im

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Westen erschienen waren (für Ginzburgs Buch Gratwanderung verfasste Böll das Vorwort). Das Interesse Bölls an der sowjetischen Literatur seiner Zeit, seine Versuche, einige sowjetischen Autoren zu unterstützen (beispielsweise Jurij Trifonov, den er 1974 für den Nobelpreis nominierte4) oder ihnen die Aufmerksamkeit des deutschen Lesepublikums zu verschaffen,5 ist ein unverzichtbarer und wichtiger Teil seiner Publizistik der 1970er bis 1980er Jahre. Und doch bleibt die zentrale Figur unter Bölls Moskauer Bekannten unverändert Lew Kopelev.6 Durch ihn trat Böll in Kontakt mit jenem engen Kreis, den man zu Recht als russische kulturelle Elite dieser Zeit bezeichnen kann und der zweifellos von einem mehr oder weniger ausgeprägten „Dissidententum“7 geprägt war. Viele Menschen aus diesem Kreis wurden in der Folge zu engen Freunden und Briefpartnern des deutschen Autors: Der Künstler Boris Birger8, der Übersetzer Konstantin Bogatyrëv, die Gastgeberin des Moskauer „Dissidenten“-„Salons“ Mischka (Wilhelmine) Slavuckaja und andere – sie alle lernten Böll durch die Vermittlung der Kopelevs kennen.9 Doch die bemerkenswerteste Figur in diesem Kreis war damals unzweifelhaft Aleksandr Solženicyn. Die Beziehung zwischen Böll und Solženicyn begann 1963 – zu der Zeit, als der Roman Ein Tag im Leben des Iwan Denissowitsch gerade für die Veröffentlichung vorbereitet wurde und Kopelev, der die beiden Autoren miteinander bekannt machte, Solženicyn aufrichtig seinen Freund nannte. In der 4 Nachdem er Trifonovs Roman Ungeduld (Berlin 1975) in deutscher Übersetzung gelesen hatte, reagierte Böll mit der Rezension „Die Zeit des Zögerns“, die in der Hamburger Wochenzeitung „Die Zeit“ (1975. Nr. 34, 15 August. S. 33) veröffentlicht wurde. 5 Hierzu zählt beispielsweise Vasilij Grossman, dessen Roman Žizn’ i sud’ba [„Leben und Schicksal“] in Deutschland erstmalig von E.  Ėtkind und S.  Markiš herausgegeben wurde (München – Hamburg 1984) und den Böll als „großartige[s] Werk“ bezeichnete (siehe: Bëll 1996, S. 615–624). Seinen Essay zum Buch Grossmans nannte Böll Die Fähigkeit zu trauern. Dies ist auch der Titel einer Sammlung seiner Schriften und Reden aus den Jahren 1984–1985 (Göttingen 1986). 6 Eine ausführliche Beschreibung der Begegnung und Freundschaft Bölls und Kopelevs findet sich in: Kopelev, Orlova 1987. 7 „Mit den Dissidenten war es damals wie mit den Pilzen“, erinnert sich die Übersetzerin L. Čërnaja spöttisch, „man hatte keine Ahnung, welcher von denen essbar und welcher giftig ist“ (Čërnaja 2015, S. 376). 8 Birger und seinem Werk widmet Böll später einen Artikel, der als Einführung eines Ausstellungskatalogs mit Arbeiten des Künstlers gedruckt wurde (1975). „Die Bilder Boris Birgers“, schrieb Böll, „habe ich erstmals vor zwölf Jahren in einem winzigen und schummrigen Atelier am Rande Moskaus gesehen […]. Später sah ich seine Portraits, vor allem das großartige Portrait Nadeschda Mandelstams; ich bin sicher, dass dieses Portrait in die Geschichte der sowjetischen Malerei eingehen wird“ (Siehe hierzu: Kiselëv, Šumjackij 2009, S. 170). 9 Diese Aufzählung lässt sich fortsetzen: L.  A.  Zonina, eine Französisch-Übersetzerin und Bekannte von Jean-Paul Sartre; Vjač.Vs. Ivanov, der bekannte Linguist, Philologe und Kulturologe; der Hispanist L. S. Ospovat u. a.

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Folge widmet Böll Solženicyn – anlässlich des Erscheinens seines Buches in Deutschland10 – einige Essays und Rezensionen. Der Name Solženicyn ist ein beständiges Element in Bölls Briefwechsel mit Kopelev, wobei dieser in der Regel nicht direkt genannt wurde: Er wird mit „A. S.“ abgekürzt beziehungsweise durch die Andeutungen „unser Freund“ oder – nach dem Februar 1974 – metaphorisch beschrieben (beispielsweise „Dein Gast“). Die geistige Entwicklung Solženicyns, sein innerer Weg und entsprechend auch seine zunehmende Distanz zu Lev Kopelev sind ein wichtiges Thema des russischen Gesellschaftsdiskurses im 20. Jahrhunderts. Historiker (und zwar nicht nur Literaturhistoriker) werden sich den unterschiedlichen Seiten dieser „Freundschaft/Feindschaft“ wohl noch mehr als einmal zuwenden. Interessant ist, dass Böll im Zuge der anschwellenden Polemik (bereits in den 1980er Jahren) den Standpunkt Kopelevs nicht uneingeschränkt teilte: Im russischen Nationalismus Solženicyns sah Böll eine geläufige „Rechtmäßigkeit“. Die Ausweisung Solženicyns aus der UdSSR am 13. Februar 1974, sein Eintreffen am Flughafen Frankfurt und seine ersten Tage im Westen, die er im Hause Bölls bei Köln (in Langenbroich in der Eifel) verbrachte, – dies alles gehӧrt zu bedeutenden und wohlbekannten Ereignissen jener Zeit, die einen „Gipfelpunkt“ der Beziehungen russischer und deutscher Schrifststeller darstellen und gleichzeitig als ein Symbol der Annäherung der russischen und deutschen Kultur über die Köpfe jedweder „Regierungen“ und „Ideologien“ hinweg zu betrachten sind. Neben Solženicyn war Anna Achmatova eine herausragende Figur jener Zeit. Die tragischen Umstände, in denen sie sich im Laufe der 1930-er Jahre und besonders nach 1946 befand, waren dem deutschen Autor, der sie am 17. August  1965 in Komarovo besuchte, allem Anschein nach gut bekannt. Lev und Raisa Kopelev sowie der Leningrader Philologe und Germanist Vladimir Admoni, ein alter und enger Bekannte Achmatovas – Böll hatte ihn 1962 während eines Empfangs der deutschen Delegation im Leningrader Haus des Schriftstellers kennengelernt – begleiteten Böll, seine Frau und ihre Söhne auf dieser Fahrt. Professor Admoni zeichnete sich unter den Wissenschaftlern seiner Generation durch Gelehrtheit, Distinktion sowie durch seinen „Europäismus“ aus. So ist es nicht verwunderlich, dass Böll unmittelbar nach der

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Alexander Solschenizyn: Ein Tag im Leben des Iwan Denissowitsch. Erzählung [Dt. von Wilhelm Löser, Theodor Friedrich]. Berlin 1963; Alexander Solschenizyn: Ein Tag im Leben des Iwan Denissowitsch. [Aus d. Russ. übers. von Max Hayward u. Ronald Hingley. Einf. von Max Hayward u. Leopold Labedz. Dt. Bearb. von Gerda Kurz u. Siglinde Summerer]. München, Zürich.

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Bekanntschaft mit Admoni Interesse und Sympathie für diesen an den Tag legte. Das Treffen in Komarovo blieb das einzige, doch es war dem deutschen Autor lange in Erinnerung. „Ich denke oft an unsere gemeinsame Fahrt zu Anna Achmatowa, dieser großartigen Frau“,11 schrieb Böll an Vladimir Admoni (Brief vom 15. September 1965). In der Folge tauschten Böll und Admoni regelmäßig Briefe aus, die in ihrer Gesamtheit eine wichtige Ergänzung zum Briefwechsel zwischen Böll und Kopelev darstellen. In einigen von ihnen berichtet Böll offen von Ereignissen in seinem Leben und teilt seine Ansichten über das gegenwärtige Leben in Deutschland mit ihm, wobei einige seiner Aussagen durchaus bemerkenswert sind. „Es ist eben manches auch hier nicht nur unerfreulich, sondern gefährlich: besonders der demagogisierte Zustand von Berlin. Die Deutschen wollen nicht begreifen, dass sie einen Eroberungskrieg verloren und einen Völkermord begangen haben, und sie haben keine Einsicht in und kein Gefühl für die Unerbittlichkeiten der Geschichte (haben beides nie gehabt). Nicht sehr erfreulich ist auch, was an „junger“ Literatur hier in diesem Jahr erscheint und erschienen ist: das meiste ist „full of sex“, von einem Sex, den ich abgestanden und provinziell finde und, was schlimmer ist, voller Gewalt und Grausamkeit. Manchmal fürchte ich, dass die sadistische Komponente, die die Konzentrationslager ja gehabt haben, in unsere Literatur übergegangen ist […]“.12

Dies und vieles andere, worüber Böll schrieb, stieß bei Admoni auf lebhafte Resonanz und Verständnis. Seinem Artikel zu Bölls Roman Ansichten eines Clowns gab Admoni den Titel Aus der Perspektive der menschlichen Seele [„S pozicij čelovečeskoj duši“] (die Redaktion strich aber das Wort „Seele“, und der Beitrag erschien unter der Überschrift „Aus der Perspektive der Menschlichkeit“ [„S pozicij čelovečnosti“]13). 11 12 13

Bëll 1999, S. 63. Ebenda, S. 64. Novyj mir. 1964. Nr. 12. S. 245–249. „Ich schrieb für die Zeitschrift „Novyj mir“ einen Artikel über Bölls Roman Ansichten eines Clowns, – berichtet Admoni in seinen Erinerungen. – Denn dieses Buch schien mir unter all seinen Büchern das Hauptwerk zu sein. Und uns, unserem eigenen Dasein sehr nahe. Denn in diesem Roman wird – wenn auch in grotesker, paradoxer Form – jene Position des Menschen des 20. Jahrhunderts dargestellt, die wir selbst, Tamara [gemeint ist T.  Sil’man, Anm. d. Verf.] und ich, für sich einmal gewählt hatten und die wir in unserem beschwerlichen Leben einnehmen wollten. Es ist die Position eines Menschen, für den die Stimme des Gewissens wichtiger ist als alles andere im Leben. Möge auch die innere Kraft unserer Seele mit der Erfüllung eines auferlegten Rituals offizieller Daseinsformen einhergehen, und möge unsere Freiheit ein Geheimnis

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Neben Admoni war Böll auch mit einem anderen Leningrader Philologen bekannt und befreundet – dem Übersetzer und Literaturwissenschaftler Efim Ėtkind. Dessen persönliche Bekanntschaft mit Böll geht auf das Jahr 1965 zurück. Zu dieser Zeit stand Ėtkind in enger Verbindung mit Solženicyn und unterstützte diesen bei der Fertigstellung und der Verbreitung des Archipel Gulag. 1974 wurde Ėtkind aus dem sowjetischen Schriftstellerverband ausgeschlossen und – unter Druck der Behörden – zur Emigration gezwungen (genau wie Solženicyn und Lev Kopelev wollte Ėtkind nicht ausreisen und rief die sowjetischen Juden öffentlich dazu auf, die UdSSR nicht zu verlassen). Später beschrieb Ėtkind die Ereignisse jener Zeit, wie auch seine stoische Haltung bezüglich der „Ausreisen“, in seinen in Deutschland unter dem Titel Unblutige Hinrichtung. Warum ich die Sowjetunion verlassen musste bekannten Erinnerungen (erschienen 1978). Efim Ėtkind war es ebenfalls, der Böll mit dem jungen Leningrader Poeten Iosif Brodskij bekannt machte (1964 trat Ėtkind neben Admoni vor Gericht als „öffentlicher“ Verteidiger Brodskijs auf). Es ist erstaunlich: Obwohl Bӧll die russische Sprache nicht beherrschte, konnte er Brodskij als Dichter sofort richtig schätzen; er spürte dessen Bedeutung und künstlerisches Potenzial. Böll bot Brodskij an, bei dem Fernsehfilm „Der Dichter und seine Stadt: F.  M.  Dostoevskij und Petersburg“ mitzuwirken, dessen Drehbuch er (gemeinsam mit Erich Kock14) geschrieben hatte. Die Beteiligung des bislang in Russland fast unbekannten Brodskij an diesem Film ist bemerkenswert. Es war im Grunde genommen Brodskijs erster Auftritt vor einer Filmkamera (und dazu noch einer „westlichen“), und alles, was er dort ganz begeistert äußerte, ist als ein wichtiges und authentisches Zeugnis seiner damaligen Stimmung und Ansichten zu betrachten. Es ist eine Fotografie überliefert, die von Ėtkinds Frau Ekaterina Zvorykina aufgenommen wurde: Böll, Ėtkind und Brodskij, zu dritt in der Wohnung Ėtkinds. Das Foto wurde im Februar 1972 gemacht. Nur wenige Monate später verließ Brodskij das Land. Die Vertreibung von Menschen aus ihrem Heimatland wurde in den 1970er Jahren zu einer üblichen Form des Umgangs mit Dissidenten. Iosif Brodskij ist der erste in dieser Reihe (1972); auf ihn folgen Solženicyn (1974), Ėtkind (1974) und dann Lev Kopelev (1980; mit demselben Erlass verloren Vasilij Aksënov und Vladimir Vojnovič ihre sowjetische Staatsbürgerschaft). Sie alle sind

14

sein, während der Held Bölls seinen Protest nach außen trägt. Einerlei – hier fand sich eine wahre, wenn auch verborgene Ähnlichkeit.“ (Sil’man, Admoni 1993, S. 409). Orlova 1966.

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nun im Westen, sind Freunde oder Bekannte Heinrich Bölls, die (außer wohl Brodskij) weiterhin eine enge Verbindung zu ihm unterhalten. Auf diese Weise fand sich Heinrich Böll – vor allem dank Lev Kopelev – im Epizentrum des sowjetischen Dissidententums der 1960er und 1970er Jahre wieder. Und man kann sagen, dass er zu einem aktiven Mitstreiter der russischen Befreiungsbewegung in der „Ära der Stagnation“ wurde. Böll war über alles, was in diesen Jahren in Moskau vor sich ging, gut informiert: In den Briefen Kopelews an ihn werden Andrej Amal’rik, Jurij Galanskov, Aleksandr Ginzburg, Natal’ja Gorbanevskaja, Generalmajor Pëtr Grigorenko, Julij Daniel’, Anatolij Marčenko, Andrej Sinjavskij, Pëtr Jakir sowie ukrainische Gewissensgefangene (Ivan Dzjuba, Valentin Moroz, Evgenij Sverstjuk, Ivan Svetličnyj, Vasyl’ Stus) und weitere erwähnt. Berichte über ihre Lage drangen bis in den Westen und in die westliche Presse vor – und das nicht zuletzt dank der Briefe Kopelevs, die nicht nur Angaben über Verhaftungen, Durchsuchungen und Gerichtsprozesse der einzelnen Betroffenen beinhalteten, sondern auch viele Einschätzungen, Ratschläge und Empfehlungen, die Böll wertvoll waren. Böll war 1972 zum Präsidenten des Internationalen  P.E.N.-Clubs gewählt worden, und als sich im Sommer 1973 die Frage nach der Aufnahme sowjetischer Autoren stellte (seinerzeit eine der Formen, diese Autoren zu unterstützen), ließ Kopelev Böll wissen, wie man seiner Meinung nach handeln sollte. Bitte, bitte sehr dich und all die Herren vom PEN, die uns hier tatkräftig helfen wollen, beschleunigt die Aufnahme in nationale PEN-Klubs vor allem der bedrohten Literaten (Maximow, Galitsch, Lukasch15, Kotschur16, Nekrassow, Korshawin). NB Damit es objektiv ist, sollten auch neutrale Personen dabei sein, Wosnessenskij, Simonow, Schaginjan, Grigorij [Georgij. – Anm. d. A.] Markow; vergesst auch nicht die zeitweilig weniger (anscheinend) Bedrohten (Alex. Solschenizyn, Lidija Tschukowskaja, Okudschawa, auch ich) – uns kann [es] jetzt nach der Konvention17 vielleicht wieder schwerer werden. Aber vor allem, bitte laßt nicht nach in den allermöglichsten öffentlichen und (vertraulich)lobbyistischen Einsätzen für die Verhafteten – für Grigorenko, Amalrik, Bukowski, Dsjuba, Switlischnyj und andere. Bitte erkläre es allen drüben: heute besteht eine wahre Möglichkeit – wie noch nie zuvor!!! – [auf] die hiesigen Behörden von drüben durch freundschaftlichen, aber nicht nachlassenden Druck effektiv einzuwirken. Es sollen sich nur womöglich mehr „Prominente“ daran beteiligen, 15 16 17

Mykola (Nikolaj Alekseevič) Lukaš (1919–1988), ukrainischer Übersetzer, Literaturwissenschaftler, Bürgerrechtler Grigorij Porfir’evič Kočur (1908–1994), ukrainischer Dichter, Übersetzer, Literaturwissenschaftler, Bürgerrechtler Gemeint ist der Beitritt der UdSSR zum Urheberrechtsabkommen im Juni 1973, was unter sowjetischen Bedingungen zur Verstärkung einer staatlichen Kontrolle über das geschriebene Wort beitrug.

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Politiker, Industrielle, Künstler, Journalisten, Literaten, Wissenschaftler  … und sie sollen sich Mühe geben, es nicht bei einmaligen Kundgebungen zu lassen, sondern immer wieder, immer wieder nachdrücklich darüber sprechen, schreiben, bitten, verlangen, kollegial empfehlen – Großzügigkeit, Toleranz, Humanität und ähnliches sind ja beste Grundlagen für geschäftliches Vertrauen, zeugen von Stärke, Zuverlässigkeit, Integrität usw.18

Und Heinrich Böll nahm sich die Bitten seines Moskauer Freundes, ganz ohne Zweifel, zu Herzen und reagierte darauf. Mehr als einmal unterzeichnete er Briefe und Anträge, die an Regierende der UdSSR gerichtet waren, bat um die Freilassung politischer Gefangener oder um die Milderung ihrer Haftbedingungen. Ebenso muss das aufmerksame Interesse Bölls gegenüber allem, was damals in der russischen Emigration vor sich ging, betont werden – insbesondere in Paris, im Kontext der Diskussionen und ideellen Kämpfe dieses so vielschichtigen Umfelds. Böll schien es, als ob die sowjetischen Dissidenten in ihren Wertungen voreingenommen waren: Sie erklärten, dass sich der Westen jener Bedrohung, die die Sowjetunion darstelle, in nicht ausreichender Form entgegenstelle, fassten den westlichen Pluralismus als Weichlichkeit oder „Sorglosigkeit“ auf und verhielten sich spinnefeind gegenüber „Sozialisten“ und „Linken“ (mit denen Böll selbst indes sympathisierte). Der deutsche Schriftsteller polemisierte mit Vladimir Bukovskij19 und Naum Koržavin20 und kritisierte die Position Vladimir Maksimovs und seine Zeitschrift „Kontinent“, die von der finanziellen Unterstützung des „rechten“ Axel Springer profitierte. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass in der Geschichte des freien Denkens und der intellektuellen Gegenwehr, wie sie in unserem Land in den 1960er bis 1980er Jahren existierte, der Name Heinrich Böll einen besonderen, ja einen exklusiven Platz einnimmt. Der Blick auf die „Dissidenten“-Verbindungen Bölls wäre unvollständig ohne die Nennung Konstantin Bogatyrëvs, eines Übersetzers deutscher Lyrik und ehemaligen Gulag-Häftlings. Beide lernten einander im Herbst 1966 in Moskau kennen, tauschten Briefe aus und trafen sich jedes Mal, wenn Böll nach Moskau 18 19

20

Briefwechsel, S. 231. 1983 reagierte Böll auf das Buch Bukovskijs Dieser stechende Schmerz der Freiheit (Stuttgart, 1983) mit dem polemischen Artikel Über Wladimir Bukowski (Bëll 1996, S.  606–615). In russischer Sprache wurde dieses Buch unter dem Titel Pis’ma russkogo putešestvennika [Briefe eines russischen Reisenden] herausgegeben (Erstauflage: New York 1981; zweite Auflage.: Moskva, 1990; dritte Auflage: Sankt Petersburg 2008). Der Artikel Za čej ščët? [„Auf wessen Kosten?“] von N. Koržavin erschien in der Münchener russischsprachigen Zeitschrift „Strana i mir“ (1984. Nr. 1. S. 45–59). Ebenfalls dort (S. 60–64) wurde auch die Antwort Bölls mit Kommentaren von Kronid Ljubarskij publiziert: Stena, kotoraja ne dolžna nas razdeljat’ [Die Mauer, die uns nicht trennen sollte] (S. 64–70).

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kam. Und es war Bogatyrëv, der Böll mit A.  D.  Sacharov21 bekannt machte; dessen Schicksal beunruhigte den deutschen Schriftsteller, und mehr als einmal setzte er sich unterstützend für das verfolgte Akademiemitglied ein.22 Das Treffen (bei dem über eine Reihe von Fragen eine Diskussion entstand) zog „einen gemeinsamen Appell zur Unterstützung von Vladimir Bukovski, aller politischen Gefangenen und Insassen von psychiatrischen Haftanstalten, insbesondere der Kranken und Frauen“23 nach sich. In seinen Erinnerungen nennt A. D. Sacharov Böll einen „bemerkenswerten Menschen“.24 Konstantin Bogatyrëv verstarb im Juni 1976 nach einem Schlag auf den Kopf, der ihm im Treppenaufgang seines Moskauer Hauses vor seiner Wohnungstür versetzt worden war. Weder die Vollstrecker noch die Auftraggeber dieses Verbrechens sind bis zum heutigen Tag bekannt, wobei sich im gesellschaftlichen Bewusstsein die Meinung festigte, dass es sich um eine Art „Einschüchterungsaktion“ seitens des KGB gehandelt haben müsse. So dachte wahrscheinlich auch Heinrich Böll. Der gewaltsame Tod Bogatyrëvs bewegte Böll, der auf dieses Ereignis mit einem mitfühlenden und eindringlichen Artikel reagierte, zutiefst. Er gehörte zu unseren besten Freunden in Moskau. Er war der geborene Dissident, einer der ersten, die ich kennenlernte; er war es von Natur aus, aus Instinkt – lange bevor das Dissidententum als Bewegung bekannt wurde […]“25

21 22

23 24 25

In seinen Memoiren erinnert sich Andrej Sacharov daran, wie K. Bogatyrëv und B. Birger ihn im Sommer 1975 auf der Datscha besuchten – begleitet von H. Böll und seiner Frau (Sacharov 1996, S. 595). Heinrich Böll ist Autor des Vorworts zur deutschen Ausgabe des sogenannten „Sacharovskij Sbornik“ [Sacharow-Sammelband], der 1981 (zum 60-jährigen Jubiläum Sacharovs) von Aleksandr Babënyšev und anderen Moskauer Bürgerrechtlern zusammengestellt wurde (Für Sacharow 1981). Die erste russische Ausgabe erschien im Samisdat; die zweite, eine ergänzte und 1991 durch den Verlag „Kniga“ vorbereitete Version, wurde nicht fertiggestellt (der Verlag musste schließen); die dritte wurde 2011 publiziert. Sacharov 1996, S. 596. Ebenda. Frankfurter Allgemeine Zeitung. 1976. Nr. 160, 23. Juli. S. 25. Auf Bölls Artikel folgte eine Protestreaktion von sowjetischer Seite – unterschrieben von Jurij Verčenko, dem Sekretär des sowjetischen Schriftstellerverbands, – welche ebenfalls in der F.A.Z. abgedruckt wurde (1976. Nr.  201. 9. September. S.  17). Diese wiederum zog einige Tage später den ironischen Kommentar eines der Herausgeber der Zeitung, Johann Georg Reißmüller, nach sich (Nr. 205. 13. September). „In Erinnerung an Bogatyrjow“ hieß auch die schriftliche Stellungnahme Bölls, die durch das rowdyhafte Handeln der sowjetischen Behörden gegenüber Sacharov und seiner Familie ausgelöst wurde (erstmals in: Die Zeit. 1979. Nr. 7. 2. Februar. S. 1 unter dem Titel: Stoppt die „Bande“. Ein Aufruf).

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Mit diesen Worten berührt Böll einen Aspekt des russisch-sowjetischen gesellschaftlichen Lebens, ein Thema bewegter und immer noch nicht gänzlich verhallter Diskussionen: Dissident oder nicht Dissident? Wen kann man zu dieser Gruppe zählen? Eine französische Wissenschaftlerin, die dieser Frage nachgegangen ist, macht einen deutlichen Unterschied zwischen „Andersdenkenden“, „Küchenrevolutionären“ und „Dissidenten“ – Menschen, die „den Mut haben, hinaus auf den Platz zu gehen“. „In den siebziger und achtziger Jahren“, heißt es in ihrem Buch, „gibt es Millionen von Menschen in der UdSSR, die „anders denken“ als die Machthabenden und die – manche in größerem, manche in kleinerem Umfang – Zweifel, Misstrauen und sogar Feindseligkeit nähren gegenüber dem, was die Regierung predigt und fordert. Doch nur ein paar Dutzend von ihnen werden zu Dissidenten: diejenigen, die den Mut aufbringen, öffentlich die Rechte und Freiheiten einzufordern, die sowjetischen Bürgern zustehen – wie es in den Gesetzen und der Verfassung des Landes geschrieben steht und ihnen auch in Worten versichert wird. Was auch immer für Gespräche in der poststalinistischen Epoche „in der Küche“ geführt wurden, kaum jemand trat offen „auf dem Platz“ für seine Ansichten ein – und seither hat sich die Gegenüberstellung von „Küche“ und „Platz“ sprachlich verfestigt“.26 Dieser Sinnunterschied hat sich bis zum heutigen Tag erhalten. So stellt der Historiker Jakov Gordin in seinem Interview für die „Novaja gazeta“ entschieden beide Begriffe einander gegenüber: „Ich war kein Dissident, ich war anti-sowjetisch“.27 Kann man also Konstantin Bogatyrëv, Iosif Brodskij, Efim Ėtkind und Lev Kopelev als „Dissidenten“ bezeichnen? Oder Vladimir Vojnovič, Vladimir Kornilov und Boris Birger, die Freunde und Bekannten Bölls? Schließlich waren sie alle überzeugte Gegner des sowjetischen Regimes, kritisierten es offen und bisweilen öffentlich, unterzeichneten unterschiedliche „Protestbriefe“ und hielten sich nicht an die „Spielregeln“, die ihnen das System aufoktroyierte (die Lektüre verbotener Literatur, „von oben“ nicht sanktionierte Treffen mit Ausländern usw.). Zu dieser Zeit stand die Definition nicht fest, da niemand der Genannten einer Partei oder Gruppe angehörte, sich einer gesellschaftlichen Bewegung anschloss oder einer „Untergrundtätigkeit“ nachging. Die Kritik des sowjetischen Systems war nicht ihr alleiniges Ziel oder ihre Hauptaufgabe; sie schrieben Prosa oder Lyrik, übersetzten, waren künstlerisch kreativ. Wohl kaum hätte sich jemand von ihnen mit dem Begriff „Dissident“ einverstanden erklärt. Lev Kopelev protestierte heftig, als man ihn einen „Dissidenten“ nannte; in seinen Briefen an Böll setzte er dieses Wort bisweilen in 26 27

Vaissié 2015, S. 11. Novaja gazeta (St. Petersburger Ausgabe). 2015. Nr. 94. 21. Dezember. S. 23.

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Anführungszeichen. Das ist wenig verwunderlich: Zu dieser Zeit zeichnete sich ein erheblicher Teil der kritisch denkenden sowjetischen Intelligenz durch eine ähnliche Haltung aus. Der Begriff des „Dissidententums“ wurde in der UdSSR zum Synonym für freies Denken. Menschen, die ihr Nichteinverständnis mit dem Vorgehen der Behörden offen artikulierten, wurden von jeher in Russland als „Freimaurer“, „Rebellen“, „Nestbeschmutzer“, „Verräter“ und Vertreter einer „fünften Kolonne“ angesehen; somit wurden sie gegen ihren eigenen Willen zu „Dissidenten“.28 Natürlich dachte man sich in den offiziellen sowjetischen Instanzen nicht allzu sehr in diese Definitionen hinein; alle oben genannten Schriftsteller oder Künstler, die zu den Bekannten und Freunden Bölls zählten, wurden von den Machthabenden undifferenziert entweder als „Dissidenten“ oder als „böswillige Antisowjets“ bezeichnet. So verwundert es nicht, dass Heinrich Böll bei jedem seiner Besuche in der UdSSR aufmerksam operativ beobachtet wurde („Beobachtung von außen“). Es wurden dann schriftliche Berichte abgefasst, die von der Auslandskommission des Schriftstellerverbands „nach oben“ gingen – ins Zentralkomitee. Mitte der 1990er Jahre wurden in der russischen Presse Dokumente publik gemacht, die im „Zentrum für die Aufbewahrung und Erforschung von Dokumenten der Neueren Zeitgeschichte“ aufgefunden worden waren. Es handelt sich um ausgesprochen wichtiges biographisches Material, um eine Art „Chronik“ der Begegnungen und Beziehungen Heinrich Bölls, eine Historie seiner Kontakte mit der sowjetischen Intelligenz. Diesen Berichten lässt sich beispielsweise entnehmen, dass im Sommer 1965 Böll, der mit seiner Frau und zwei Söhnen in die UdSSR gekommen war, von „L. Z. Kopelev und seiner Frau  R.  D.  Orlova, von Ljudmila Čërnaja und ihrem Mann Daniil Mel’nikov, von Il’ja Fradkin, Efim Ėtkind sowie Michail Dudin, den Böll bei seinem vorangegangenen Aufenthalt in der Sowjetunion kennengelernt hatte“ in deren Wohnungen empfangen wurde. Und im Zusammenhang mit Bölls Besuch im Februar/März 1972 wurde (im entsprechenden Bericht) unterstrichen, dass „der erfolgreichen Durchführung der Arbeit mit Heinrich Böll in vielem das unverantwortliche Verhalten des Verbandsmitglieds  L.  Kopelevs entgegen steht, welcher ihm sein eigenes Programm aufzwang und ohne Benachrichtigung des Schriftstellerverbands eine Vielzahl von Treffen Bölls organisierte“ (genannt werden unter anderen die Namen Evgenija Ginzburg, Nadežda Mandel’štam und Boris Birger).29 28 29

„Dissident wider Willen“ – so betitelte die Schweizer Schriftstellerin Ilma Rakusa ihren Nachruf auf Ėtkind (Die Zeit. 1999. Nr. 49. 2. Dezember. S. 48). Zemljanoj 1995, S. 9.

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Die in Böll investierte „Erziehungsarbeit“ führte allerdings nicht zu den erhofften Ergebnissen: Der Schriftsteller hing eindeutig „scharfmacherischen Antisowjets“ an. Dies zeigte sich endgültig 1974, als Böll Solženicyn in seinem Haus bei Köln aufnahm. Zwar flog Böll ein Jahr später wieder nach Moskau, doch der Stil der ins ZK geschickten Berichte lässt bereits keinen Zweifel mehr daran, dass die Machthaber in ihm nun einen Feind, wenn nicht gar einen Spion sahen. „Sucht vorrangig Begegnungen mit Leuten wie L. Kopelev, A. Sacharov und ihresgleichen, die gegenüber unserem Land feindliche Positionen einnehmen“, teilte V. M. Ozerov, Sekretär der Leitung des Schriftstellerverbands der UdSSR, „aus Gründen der Information“ mit. Er war es auch, der auf den Umstand hinwies, dass Böll bei seiner Rückkehr in die BRD einen von ihm und Sacharov unterschriebenen Brief an die Regierung der Sowjetunion mit der Bitte um die Freilassung aller politischen Gefangenen publiziert hatte. Den Ausdruck „politische Gefangene“ setzt der Verbandssekretär in Anführungszeichen, und er gibt die folgende Empfehlung: „Für alle sowjetischen Organisationen wäre es zweckdienlich, derzeitig in den Beziehungen zu Böll Kälte zu zeigen und sich kritisch gegen sein nicht freundschaftliches Verhalten auszusprechen; darauf hinzuweisen, dass der einzig richtige Weg für ihn in der Ablehnung einer Zusammenarbeit mit den Antisowjets besteht, die einen Schatten auf den Namen des Schriftstellers und Humanisten wirft.“30 Allerdings hörte der „Schriftsteller und Humanist“ nicht sonderlich auf die Empfehlungen der Beamten des Literaturbetriebs, und – dafür gebührt ihm Respekt – er bändelte nie mit dem „offiziellen Moskau“ an. Letztendlich wurde Böll, wie bekannt, für mehr als zehn Jahre vollständig vom sowjetischen Lesepublikum ferngehalten: Man hörte auf, ihn zu übersetzen, zu veröffentlichen, im Theater zu inszenieren, und schließlich wurde ihm die Einreise in die Sowjetunion verweigert. In diesen Jahren mit ihm Kontakt zu halten, bedeutete, das System herauszufordern. Dazu entschlossen sich nur sehr wenige. Man muss noch einen Skandal erwähnen, der 1973 um die Publikation von Bölls Roman Gruppenbild mit Dame in der Zeitschrift „Novyj mir“ (Nr.  2–6) entbrannte. Am Romantext wurden Kürzungen vorgenommen, sie betrafen erotische Passagen und derbe Schimpfwörter, außerdem wurden Passagen gestrichen, in denen es um sowjetische Kriegsgefangene ging, auch Szenen, die Aktionen der Roten Armee in Ostpreußen schilderten, usw.31 Bölls Freunde (Кopelev, Bogatyrëv) machten die Übersetzerin des Romans, L.  Čërnaja, für 30 31

Ebenda. Siehe ebenso: Zemljanoj 2005. Glade, Bogatyrëv 1975.

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die Entstellung des Textes verantwortlich (obwohl diese fraglos nicht nach eigenem Willen handelte). „Man kann die Übersetzerin verstehen“, erinnerte sich Evgenija Kaceva und fügte hinzu, „dass die sowjetische Zensur dort (d. h. im Roman Bölls, Anm. d. Verf.) auch etwas vorfand, woran sie Anstoß nehmen konnte“.32 Konstantin Bogatyrëv, der das Original mit der Übersetzung verglichen hatte, machte Böll auf die Vielzahl der Eingriffe in dessen Text aufmerksam, „und der tolerante Böll, dem es gewöhnlich nicht an Nachsicht mangelte, geriet dermaßen außer sich, dass er verbieten ließ, die Übersetzung als Einzelausgabe erscheinen zu lassen …“33 Das sorgte für Aufsehen in der westdeutschen Presse, und gleich schloss sich ein anderer Skandal an, im Zusammenhang mit der Ausweisung Solženicyns. Die öffentliche Meinung (Germanisten, Verlagsmitarbeiter, literarische Kreise und deren Umgebung) ging hart mit der Übersetzerin ins Gericht, die die Entstellung des Textes geduldet hatte. „Ich fühlte mich zu Unrecht in den Schmutz gezogen, verleumdet, unglücklich,“ erinnert sich L.  Čërnaja. „Und es gab niemanden, der für mich eintrat. Alle taten so, als ob es die Zensur nicht gäbe, sondern eben einfach nur gewissenlose Übersetzer. Und sie hackten unablässig auf mir herum“.34 Heinrich Böll starb im Juli 1985. Einige Tage vor seinem Tod erschien in der „Literaturnaja gazeta“ (mit Kürzungen) der Brief an meine Söhne.35 Böll erfuhr noch von dieser Veröffentlichung, und trotz seines Unmutes über die von der Zensur vorgenommenen Kürzungen wird er sich wahrscheinlich über diese eingetretene Wende gefreut haben. Dass aber dieses Ereignis kein Zufall war, und dass 1985 ein „Wendejahr“ für die gesamte neuere Geschichte werden würde, das konnte Heinrich Böll nicht einmal erahnen. Die Geschichte der wechselseitigen Beziehungen zwischen Böll und seinen Freunden und Bekannten in Moskau, Leningrad und Tiflis hätte es längst verdient, in einem Band mit dem Titel Heinrich Böll und Russland dargestellt zu werden. Die Vielzahl der Dokumente (Briefe, Telegramme, Fotografien, Zeitungsausschnitte) in einer einzigen Ausgabe zu versammeln würde die Möglichkeit eröffnen, Heinrich Böll in der ganzen Vielfalt seiner persönlichen Verbindungen mit einem engen, aber bemerkenswerten Kreis der Moskauer und Petersburger kulturellen Elite zu sehen. Der deutsche Schriftsteller erscheint in dieser Rückschau als engagierter Mitwirkender des literarischen und des gesellschaftlichen wie politischen Lebens jener Zeit. Als Dissident im Geiste, 32 33 34 35

Kaceva 2002, S. 159. Ebenda. Čërnaja 2015, S. 479. Böll 1985.

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der er in seiner Heimat war,36 fühlte Heinrich Böll, ein Autor mit „lebendigem, wachsamem Gewissen“,37 eine innere Verbundenheit mit diesem Kreis und verstand sich selbst – natürlich bis zu einem gewissen Grad – als sowjetischer Dissident und, somit, als echter Vertreter der russischen Intelligenzia. 

Aus dem Russischen übersetzt von Anna Brixa Literatur

Bakshi, Natalia (2020): Genrich Bëll’ v krugu sovetskich dissidentov: Na puti k podpisaniju Moskovskogo dogovora [Heinrich Bӧll im Kreise der sowjetischen Dissidenten: Auf dem Wege zur Unterzeichnung des Moskauer Vertrags]. In: Novyj filologičeskij vestnik. Nr. 3 (54). S. 295–300. Bëll’, Genrich (1999): Pis’ma k V. G. Admoni [Briefe an V. Admoni] (1963–1980). Einleitung, Übersetzung und Anmerkungen von К. Azadovskij. In: Vsemirnoе slovo (= Lettre Internationale. Russische Ausgabe). Sankt-Peterburg. Nr. 12. S. 60–67. Bëll’, Genrich (1996): Sobranie sotschienij [Gesammelte Werke]. Bd. 5. Мoskau. Bëll, Genrich (1985): „Pis’mo k moim synov’jam ili četyre velosipeda“ [Brief an meine Söhne oder Vier Fahrräder]. In: Literaturnaja gazeta. Nr.  27, 3. Juli. S.  15 (Übers. E. Kaceva). Böll, Heinrich; Kopelew, Lew (2011): Heinrich Böll – Lew Kopelew. Briefwechsel. Mit einem Essay von Karl Schlögel. Hg. von Elsbeth Zylla. Göttingen. Čërnaja, Ludmila (2015): Kosoj dožd’ [Schräger Regen]. Мoskau. Für Sacharow (1981): Texte aus Russland zum 60. Geburtstag am 21. Mai 1981. Hg. von Alexander Babjonyschew und Lew Kopelew. Mit einem Vorwort von H. Bӧll. München. Glade Henry, Bogatyrev, Konstantin (1975): The Soviet Version of Heinrich Böll’s „Gruppenbild mit Dame“: The Translator as Censor. In: University of Dayton Review. February 12th. S. 51–56. Kaceva, Evgenija (2002): Moi ličnyj voennyj trofej. Povest’ o žisni [Meine persönliche Kriegstrophäe. Eine Lebensgeschichte]. Мoskau. Kiselëv, Michail; Šumjackij, Boris (2009): Sam sebe Birger [Birger für sich selbst]. Мoskau. Kopelev, Lev (1962): Vo imja sovesti [Im Namen des Gewissens]. In: Kultura i žizn’ [Kultur und Leben] (Moskva). Nr. 6. S. 27–28. 36 37

Zu Bӧlls katholisch-christlichem „Dissidententum“ und seiner geistigen Stellung in Deutschland der 1960-er und 1970-er Jahre vgl. Bakshi 2020. Kopelev 1962, S. 28.

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Kopelev, Lev (1960): Genrich Bëll’ iščet i sprašivaet [Heinrich Böll sucht und fragt]. In: Kopelev, L.: Serdce vsegda sleva [Das Herz ist immer links]. Мoskau. S. 411–427. Kopelev, Lev; Orlova, Raisa (1987): My žili v Moskve [Wir lebten in Moskau]. 1956–1980. Ann Arbor. (Мoskva 1989). Orlova, Raisa (1966): Genrich Bëll’ – Putešestvie v Peterburg Dostoevskogo [Heinrich Böll – Reise in das Petersburg Dostoevkijs]. In: Sovetskij ėkran. Nr. 23. S. 20–21. Sacharov, Andrej (1996): Vospominanija [Erinnerungen]. Bd.1. Мoskva. Sacharovskij Sbornik (2011): Moskva. Sil’man, Tamara; Admoni, Vladimir (1993): My vspominaem [Wir erinnern uns]. Roman. Sankt-Peterburg. Vaissié Cécile (2015): Za našu i vašu svobodu! Dissidentskoe dviženie v Rossii [Für unsere und eure Freiheit! Die Dissidenten-Bewegung in Russland]. Мoskva. Zemljanoj, Sergej N. (1995): „Gruppovoj portret s literatorom. Iz istorii častnych poezdok Genricha Bëllja v SSSR“ [Gruppenbild mit einem Literaten. Zur Geschichte der Privatreisen Heinrich Bölls in die UdSSR]. In: Segodnja. Nr. 71, 18. April. Zemljanoj, Sergej N. (2005): „Celesoobrazno projavljat’ cholodnost’.“ Genrich Bëll’ pod nadzorom sovetskich pisatelej [„Es wäre zweckdienlich, Kälte zu zeigen“. Heinrich Böll unter der Aufsicht sowjetischer Schriftsteller]. In: Političeskij žurnal (Moskva). Nr. 23 (74), 27. Juni. S. 78–81.

Verzeichnis der Erstveröffentlichungen „Manchmal ist es unerträglich …“. Briefe aus dem Blockadewinter Erstverӧffentlichung (in russischer Sprache) in: Zvezda (St. Petersburg). 2020. Nr.  1. S.  152–176. Dasselbe (in deutscher Sprache): https://drb-ja.com/wpcontent/uploads/2020/04/1_asadowski-deu.pdf. Abgedruckt mit Genehmigung der Leiterin des Deutsch-Russischen Begegnungszentrums (St. Petersburg) Arina Nemkova. Berufsverbot für einen ‚Kosmopoliten‘. Viktor Žirmunskij in den Jahren 1948/49 Erstverӧffentlichung in: Bertleff, John, Svetozarova 2018, Bd. 2: Analysen und Quellen. Mit Beiträgen von Konstantin Azadovskij und Dietmar Neutatz sowie einem Repertorium zur Sammlung Viktor Žirmunskij (Deutsches Volksliedarchiv Leningrad), S.  145–162. Wieder in: Geschichte der Germanistik. Historische Zeitschrift für die Philologien. Hg. von Christoph Kӧnig und Anna Kinder in Verbindung mit Michel Espagne u. a. 2018. Doppelheft 53–54. S. 124–142. Abgedruckt mit Genehmigung des Herausgebers Christoph König und des Wallstein Verlags (Göttingen). Blok und Grillparzer Erstveröffentlichung in: Rossija i Zapad: Iz istorii literaturnych otnošenij. Leningrad, 1973, S. 304–319. Wieder in: Konstantin Azadovskij. Sjužety i sud’by: nemecko-russkije otraženija [Themen und Schicksale: Deutsch-russische Spiegelungen]. Moskva, 2019. S. 9–44. Schellings russische Gesprächspartner Erstveröffentlichung in: Deutsche und Deutschland aus russischer Sicht. 19. Jahrhundert: Von der Jahrhunderwende bis zu den Reformen Alexanders II. Hg. von Dagmar Herrmann und Alexander  L.  Ospovat unter Mitarb. von Karl-Heinz Korn. München, 1998, S.  750–774. (= West-östliche Spiegelungen. Wuppertaler Projekt zur Erforschung der Geschichte deutsch-russischer Fremdenbilder unter der Leitung von Lew Kopelew. Reihe B, Bd.  3). Wieder (in russischer Sprache) in: Konstantin Azadovskij: Sjužety i sud’by: Nemeckorusskie otraženija [Themen und Schicksale: Deutsch-russische Spiegelungen]. Moskva, 2019, S. 45–79. Abgedruckt mit Genehmigung des Wilhelm Fink Verlags (Paderborn).

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Verzeichnis der Erstveröffentlichungen

Russen im Nietzsche-Archiv Erstveröffentlichung in: Fridrich Nicše i filosofija v Rossii: Sbornik statej / Hg. von N.  V.  Motrošilova, Ju.V.  Sineokaja. SPb., 1999. S.  109–129. Wieder in: Konstantin Azadovskij. Sjužety i sud’by: Nemecko-russkie otraženija [Themen und Schicksale: Deutsch-russische Spiegelungen]. Moskva, 2019. S. 110–139. „Das Land der Genies“: Deutschland, gesehen von Andrej Belyj (Gemeinsam mit Aleksandr Lavrov) Erstverӧffentlichung in: Deutsche und Deutschland aus russischer Sicht. 19./20. Jahrhundert: von den Reformen Alexanders II. bis zum Ersten Weltkrieg. Hg. von Dagmar Herrmann. Redaktionelle Bearbeitung Mechthild Keller, Maria Klassen und Karl-Heinz Korn. München, 2006. S.  753–791 (= West-östliche Spiegelungen. Wuppertaler Projekt zur Erforschung der Geschichte deutschrussischer Fremdenbilder unter der Leitung von Lew Kopelew †. Weitergeführt von Karl Eimermacher. Reihe B Band 4). Abgedruckt mit Genehmigung des Wilhelm Fink Verlags (Paderborn). Zwei Türme – zwei Mythen (Stefan George und Vjačeslav Ivanov) Erstveröffentlichung in: Bašnja Vjačeslava Ivanova i kul’tura Serebrjanogo veka. SPb., 2006. S. 53–73. Wieder in: Konstantin Azadovskij. Sjužety i sud’by: Nemecko-russkie otraženija [Themen und Schicksale: Deutsch-russische Spiegelungen]. Moskva, 2019. S. 80–109. Reinhold von Walter zwischen Rilke und Blok Erstverӧffentlichung in: Skreščenija sudeb [Schicksalskreuzungen]. Litera­ rische und kulturelle Beziehungen zwischen Russland und dem Westen. A Festschrift for Fedor  B.  Poljakov. Edited by Lazar Fleishman, Stefan Michael Newerkla and Michael Wachtel. Berlin, 2019. S.  117–136 (=Stanford Slavic Studies. Vol. 49). Übersetzung der Erstveröffentlichung, mit Genehmigung des Peter Lang Verlags (Berlin) und Herrn Gregor von Walter. Geschichten und Geheimnisse des „Alten Enthusiasten“. Akim Volynskij – Lou Andreas-Salomé – Rainer Maria Rilke Erstverӧffentlichung in: Études Germaniques. Avril-Juin 1998. Nr. 2 (Hommages à Claude David). P.  291–311. Wieder in: Korrespondenzen: Festschrift für J.  W.  Storck aus Anlaß seines 75. Geburtstages / Hg. von R.  Schweikert in Zusammenarbeit mit S. Schmidt. St. Ingbert, 1999. S. 267–291. Abgedruckt mit Genehmigung des Herausgebers Rudi Schweikert und des Röhrig Universitätsverlags (St. Ingbert).

Verzeichnis der Erstveröffentlichungen

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Blick ins Chaos: Hermann Hesse über Dostoevskij und Russland Erstveröffentlichung in: Deutschland und die russische Revolution 1917– 1924. Hg. von Gerd Koenen und Lew Kopelew. München, 1998. S.  503–526 (= West-östliche Spiegelungen. Wuppertaler Projekt zur Erforschung der Geschichte deutsch-russischer Fremdenbilder unter der Leitung von Lew Kopelew. Reihe A, Bd. 5). Gekürzt (in russischer Sprache) in: Vsemirnoe slovo / Lettre internationale: Meždunarodnyj žurnal (SPb.), 1999, Nr.  12, S.  12–18). Wieder in: Germanija i russkaja revoljucija 1917–1924. Izdanie  G. Kёnena i L. Kopeleva. Perevod s nemeckogo pod redakciei Ja. Drabkina. Moskva, 2007, S.  473–496. Wieder in: Konstantin Azadovskij: Sjužety i sud’by: Nemeckorusskie otraženija [Themen und Schicksale: Deutsch-russische Spiegelungen]. Moskva, 2019, S. 187–214. Abgedruckt mit Genehmigung des Wilhelm Fink Verlags (Paderborn). Stefan Zweig in der UdSSR Erstveröffentlichung in: Instituty kul’tury Leningrada na perelome ot 1920-ch k 1930-m godam. [Kulturinstitutionen Leningrads im Umbruch von den 1920-er zu den 1930-er Jahren]. [2011] http://pushkinskijdom.ru/wp-content/ uploads/2018/03/Azadovsky_Instituty-2011.pdf. Wieder in: Konstantin Aza­ dovskij. Sjužety i sud’by: Nemecko-russkie otraženija [Themen und Schicksale: Deutsch-russische Spiegelungen]. Moskva, 2019. S. 215–240. Ein Russe in Deutschland: die Odyssee des ‚Professors‘ Matankin (Gemeinsam mit Gabriel Superfin) Erstveröffentlichung in: Bogomolov 2011, S.  8–38. Deutsche Übersetzung in: Geschichte der Germanistik. Historische Zeitschrift für die Philologien. 2019. Doppelheft  55/56. S. 97–127. Wieder (in russischer Sprache) in: Konstantin Azadovskij. Sjužetu i sud’by: Nemecko-russkie otraženija [Themen und Schicksale: Deutsch-russische Spiegelungen]. Moskva, 2019. S. 241–283. Abgedruckt mit Genehmigung des Herausgebers Christoph König und des Wallstein Verlags (Göttingen). Heinrich Böll und die sowjetischen „Dissidenten“ Erstveröffentlichung in: Literatura i ideologija. Vek dvadcatyj. [Literatur und Ideologie. Das zwanzigste Jahrhundert]. Moskva, 2016. S.  160–173 (Naučnaja serija „Literatura. Vek dvadcatyj“; Vyp. 3). Wieder (in russischer Sprache mit deutscher Übersetzung) in: Razgovory na rasstojanii. Genrich Bёll i Lev Kopelev. Ferngespräche. Heinrich Böll und Lew Kopelew. [Im Rahmen der thematischen Ausstellung im Goethe-Institut, Sankt-Petersburg, September-Oktober 2018].

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Verzeichnis der Erstveröffentlichungen

SPb, 2018. S.  41–48; 50–57). Wieder (in russischer Sprache) in: Konstantin Azadovskij. Sjužety i sud’by: Nemecko-russkie otraženija [Themen und Schicksale: Deutsch-russische Spiegelungen]. Moskva, 2019. S. 284–301. Abgedruckt mit Genehmigung des Goethe-Instituts St. Petersburg.

Namenregister Abramov, Fёdor A. 40, 44, 52 Abramovič, Nikolaj Ja. 328 Achmadulina, Bella (Isabella) A. 353 Achmatova (eig. Gorenko), Anna A.  XIII–XVI, XVIIIf., 355f. Adamovič, Ales’ M. 31 Adamovič, Georgij V. 207, 216 Admoni, Vladimir G. XI, 355–357, 365f. Ajchenval’d, Julij I. 68, 84 Ajzenštok, Ieremija Ja. 30 Aksakov, Konstantin S. 117 Aksakov, Sergej T. 56, 84, 118 Aksënov, Vasilij P. 353, 357 Alad’in, Egor V. 85 Aleksandrov, Kirill M. 339 Aleksandrov, Viktor A. s. Krylov, Viktor A. Aleksandrova, Natalija I. 84 Alekseev, Michail P. 7, 25f., 35, 37f., 48, 190, 216 Alekseeva (geb. Zeitz), Nina V. 7 Aleksej Nikolaevič, Thronfolger 227 Aleksic, Branko 135, 146 Alpatov, Vladimir M. 327 Al’tšuller, Anatolij Ja. 87 Amal’rik, Andrej A. 358 Amburger, Erik 342 Andreas-Salomé, Louise (Lou) 127, 135, 146, 149, 236, 239–247, 249, 251–255, 257–262, 368 Andreev, Leonid N. 72 Andreev, Nikolaj P. 5, 17, 21, 28 Andreeva, Marija F. 143, 145 Andreevskij, Sergej A. 128 Anna Amalia von BraunschweigWolfenbüttel, Herzogin 124, 319 Arabažin, Konstantin I. 70 Arbenin (eig. Gil’debrandt), Nikolaj F.  60–62, 86 Arcybašev, Michail P. 328 Arsen’eva, Margarita G. IX, 52 Arževitinov, Ivan S. 106 Asadowski (Azadovskij), Konstantin M.  IX, XIII–XIX, 33, 42, 44, 52, 55, 84, 91,

102f., 118f., 121, 130, 145f., 151, 174, 180, 187, 193f., 197f., 216f., 235–237, 243, 246, 251, 262f., 265, 283, 288, 291, 293, 296, 301, 303, 307, 309f., 315, 351, 365, 367–370 Ašnin, Fëdor D. 327 Astachova, Anna M. 12, 20 Astvazaturova-Žirmunskaja, Vera V. 46 Asch, Schalom 165 Averincev, Sergej S. 208f., 216 Azadovskaja (geb. Brun), Lidija V. XII, 1–9, 11–13, 17, 19f., 22–25, 27–32 Azadovskaja, Svetlana I. XI Azadovskaja (geb. Tejman), Vera N. 4, 7 Azadovskij, Konstantin M. s. Asadowski, Konstantin M. Azadovskij, Mark K. XIVf., 1–6, 8f., 11–14, 16f., 20–23, 25, 27, 30f., 35–37, 39–42, 44f., 48 Baader, Franz Benedikt von 96, 103, 105, 109f., 112, 116, 119 Babënyšev, Aleksandr P. 360 Bäcker, Iris IX Bagno, Vsevolod E. 288 Bakshi, Natalija A. IX, 365 Bakunin, Michail A. 114, 119 Balachonov, Viktor E. 40 Bal’mont, Konstantin D. 240 Baltrušaitis, Jurgis K. 194 Baluchatyj, Sergej D. 25 Baranovskij, Nikolaj A. 72f. Barlach, Ernst 222, 235, 238, 273 Barsukov, Nikolaj P. 94, 107, 119 Barta, Peter I. 191 Bartenev, Pëtr I. 98, 101, 119f. Basinskij, Pavel V. 143, 146 Baškirceva, Marija K. 240 Batiščeva, Tat’jana S. 74, 84 Baudelaire, Charles 196, 206, 211f., 214f. Bauer, Michael 170, 172, 187 Bauman, Elizaveta K. s. Walter, E. K. von Baur, Johannes 339, 348

* Erstellt von Aleksei Chekh, Thomas Mikula und Vivienne Schmid

372 Bebel, Ferdinand August 162 Becher, Johannes R. 305, 351 Beethoven, Ludwig van 152, 161, 183, 271 Beketova, Marija A. 66, 68f., 83f. Beleckij, Aleksandr I. 36, 80 Belinskij, Maksim (eig. Jasinskij, Ieronim I.)  245 Belinskij, Vissarion G. 58f., 84, 239 Belobratov, Aleksandr V. 310 Belov, Sergej V. 73, 84 Belyj, Andrej (eig. Bugaev, Boris N.) 6, 62, 151–191, 199, 201, 204, 216, 235, 237, 302, 368 Benois (Benua), Aleksandr N. XVI, 63–72, 84f., 87 Berdjaev, Nikolaj A. 208, 216, 236 Berdnikov, Georgij P. 40, 42, 45 Berezina, Ada G. 284, 288 Berg, Leo 127, 149 Berggol’c, Ol’ga F. 31 Berkov, Pavel N. 53 Berkovič (geb. Pelichova), Valentina A. 32 Berkovskij, Naum Ja. XV, 3, 92, 119 Bernoulli, Maria 269 Bernštejn, Polina S. 295, 311 Bertleff, Ingrid 33, 52, 367 Bertram, Ernst 138, 213 Besant (eig. Wood), Annie 168 Bethge, Hans 311 Beyer, Thomas 182, 189 Bezrodnyj, Michail V. XV, XVII–XIX, 179, 190 Bielfeldt, Sigrun 168 Binion, Rudolph 244–246, 259, 262 Bird, Robert XIX Birger, Boris G. 353f., 360–362, 365 Biskupskij, Vasilij V. 343 Bismarck, Otto von, Fürst 186, 289, 321 Blavatskaja (geb. von Hahn), Elena P. 153 Blei, Franz 199f. Bleibtreu, Karl August 266 Blinkina, Ol’ga E. 315 Bloch, Jean-Richard 305 Blok, Aleksandr A. 55, 61–70, 72–89, 124, 147, 151, 159, 167f., 175f., 188f., 194, 206f., 216, 218, 221–224, 226, 229f., 232–234, 236f., 367f. Blok, Georgij P. 294f. Blok, Ljubov’ D. 163

Namenregister Böcklin, Arnold 164, 197 Bodenstedt, Friedrich von 114f., 119, 140 Bogatyrëv, Konstantin P. XII, 353f., 359–361, 363–365 Bogomolov, Nikolaj A. XIX, 167, 189, 200, 207, 210, 216, 237, 315, 348, 369 Bogorov, Evgenij (Ansel’m) L. 5 Böhme, Jakob 176 Boisserée, Melchior 103f. Boisserée, Sulpiz 110, 119 Böll (geb. Czech), Annemarie 360, 362 Böll, Heinrich 93, 351–366, 369 Bondi, Georg 196 Bonsels, Waldemar 180 Borodin, Sergej V. 315 Bortnikov, Gennadij L. 353 Bott, Marie-Luise 315 Böttger, Fritz 286, 288 Bouterwek, Friedrich August 103 Bowra, Cecil Maurice 215f. Brandes, Georg 136, 141f., 295, 334 Braudo, Evgenij M. 131, 146, 300 Braun, Maximilian 315, 348 Brauner, Alexander 241, 262 Brecht, Bertolt 351 Bredel, Willi 306 Breško-Breškovskaja, Ekaterina K. 329 Brixa, Anna IX, 365 Brjusov, Valerij Ja. 194, 201, 213, 221–223, 291–293, 310, 312 Brodskij, Iosif A. XI, XIV, XVI, 357f., 361 Brokgauz (Brockhaus), Friedrich A. 149 Bronnyj, M. s. Superfin, Gabriėl’ G. Bruhn, Peter 351 Brun (geb. Sergeeva), Lidija N. 3 Brun, Vladimir K. 28 Bubnov, Andrej S. 326 Bugaev, Boris N. s. Belyj, Andrej Bugaev, Nikolaj V. 153 Bukovskij, Vladimir K. 359 Bulcke, Carl 318, 348 Bülow, Frieda, Freiin von 243, 251 Bunin, Nikolaj N. 311 Burckhardt, Jacob 249, 269 Bursov, Boris I. 40 Büscher, Horst 315, 344 Byron, George Gordon Noel, Lord 36, 44, 92, 198

373

Namenregister Čaadaev, Pëtr Ja. 95–97, 100, 102, 104f., 107f., 116 Car’kova, Tat’jana S. 226, 237 Caspar, Günter 129, 286, 288 Cassirer, Ernst 161 Čavčanidze, Džul’etta L. 74, 85 Čechov, Anton P. 284, 349 Čerkaz’janova, Irina V. 13 Čërnaja, Ljudmila B. 353f., 362–365 Černyševskij, Nikolaj G. 239 Čertkov, Leonid N. 74, 85, 242, 262 Chekh, Aleksei IX, 371 Chervet, Henri 313 Chin (Chin-Gol’dovskaja), Rašel’ M. 141, 149 Chodasevič, Vladislav F. 73, 178, 189 Chodotov, Nikolaj N. 72, 85 Chomjakov, Aleksej S. 95, 117, 119 Chopin, Frédéric 152 Chruščëv, Nikita S. 352 Cilevič, Leonid M. 37 Čistjakov, Kirill A. 343, 348 Čistov, Kirill V. 11, 33, 52 Čistov, Vasilij V. 11 Čistova, Bella E. 11 Čižova, Elena S. XVI, XVIII Cohen, Hermann 161–163 Collins Mabel (eig. Minna), verh. Keningale Cook 167 Conrad, Michael Georg 266 Corneille, Pierre 58 Cornelius, Peter von 103, 110 Cotta, Johann Friedrich 316, 321, 324 Cousin, Victor 98 Cranach, Lucas 123, 164 Čudovskij, Valer’jan A. 201 Cukerman (Zuckermann), S. 140, 146 Čukovskaja, Lidija K. 358 Čukovskij, Kornej I. (eig. Kornejčukov, Nikolaj V.) 7 Čukovskij, Nikolaj K. 7 Čulkov, Georgij I. 76 Čulkova (geb. Petrova, verh. Stepanova), Nadežda G. 76 Curtius, Ernst Robert 214 Czechowski, Heinz 80

Danilevskij, Rostislav Ju. 273, 288 Dante Alighieri 203, 207 Dauer, Holger 319, 348 Davidson, Pamela 207, 215–217 Davydov, Ivan I. 92f. Deeg, Lothar IX, 32 Dehmel, Richard 123 Dement’ev, Aleksandr G. 37–39, 52f., 311 Demetz, Peter 262 Denikin, Anton I. 332 Derkač, Samuil S. 43 Derleth, Ludwig Benjamin 199 Deschartes, Ol’ga (Šor / Schor, Ol’ga A.) 203–205 Desnickij, Vasilij A. 295, 307 Dick, Gerhard 284 Dinesman, Tatjana G. 310 D’jakonov (Stavrogin), Aleksandr A. 63, 71, 85 Dmitrieva-Einhorn, Marina E. 315 Dobroljubov, Nikolaj A. 239 Dobužinskij, Mstislav V. 63–65 Dolgopolov, Leonid K. 73, 167, 189 Domnin, Nikita A. 47 Don Levine, Isaac 286, 290 Döring-Smirnov, Johanna Renate 315 Dostoevskaja, Ljubov’ F. 275 Dostoevskij, Fëdor M. 95, 125, 132, 136, 138, 141f., 151, 181, 246, 261, 265, 268, 270, 273–284, 288, 290f., 293, 300, 336, 352, 357, 369 Drabkin, Jakov S. 265, 369 Druzin, Valerij P. 39, 53 Družinin, Pëtr A. XIIf., XVII, XIX, 31, 33, 53 Dubnova, Evgenija Ja. 66, 85 Dudin, Michail A. 353, 362 Dudkin, Viktor V. 222–224, 226, 237, 283, 288 Dumas, Alexandre 58 Dürer, Albrecht 164 Dymov, Osip (eig. Perel’man, Iosif I.) 307 Dymšic, Aleksandr L. 30 Dyrenkova, Nadežda P. 12 Dzjuba, Ivan M. 358

D’Annunzio, Gabriele 240 Dahn, Felix 266 Daniėl’, Julij M. 358

Ebers, Georg 266 Ebneter, Curdin 256 Eckhart s. Meister Eckhart

374 Eckstein, Ernst 266f. Eckstein, Friedrich 277, 289 Efron, Il’ja A. 127, 149 Ėfros, Abram M. 302f. Ėfros, Nikolaj E. 71 Egolin, Aleksandr M. 30 Egorov, Boris F. 33, 37, 52 Egorova, A. P. 143, 146 Eichendorff, Joseph von 152 Eichhorn, Karl Friedrich 103, 114 Eimermacher, Karl 151, 368 Ėjchenbaum, Boris M. 25, 37, 39–45, 48, 261f., 295 Ėjzenštejn, Sergej M. 302, 311 Elagabal (Eliogabal, Heliogabalus), röm. Kaiser 194, 212 Elagin, Nikolaj A. 93, 119 Elagina (geb. Juškova, verh. Kireevskaja), Avdot’ja P. 100f., 114 Ėliasberg, Aleksandr S. (Eliasberg, Alexander) 221, 223, 335 El’jaševič (geb. Filipenko), Ekaterina M. 6 El’jaševič, Aleksandr B. 5f. Ėl’konin-Johansson, Irina B. 42 Ėllis (eig. Kobylinskij, Lev L.) 201, 217, 222 Ėl’sner, Vladimir Ju. 197, 201 Eltzbacher, Paul 162 Éluard, Paul 306 Endell, August 243 Engalyčeva, E. V., Fürstin 328 Engel-Braunschmidt, Annelore 221 Ermolova, Marija N. 60, 62 Erné, Nino 283, 288 Ernst, Paul 138 Eschenbach, Wolfram von 227 Espagne, Michel 33, 367 Ėtkind, Efim G. XIf., XV, XVII–XIX, 40, 44, 53, 354, 357, 361f. Ėttinger, Pavel D. 193, 295–297, 302 Ėval’d, Zinaida V. 9, 18, 22 Evgen’ev-Maksimov, Vladislav E. 25 Evlachov, Aleksandr M. 326, 331 Evreinov, Nikolaj N. 63 Evstigneeva, Lidija A. 243, 260, 262 Evtušenko, Evgenij A. 353 Fadeev, Aleksandr A. 29, 35f., 41, 53, 302, 306 Falev, Ivan A. 22 Fallada, Hans 351

Namenregister Faraday, Michael 102 Fedin, Konstantin A. 239, 262, 307 Fedjachin, Aleksej A. 315 Fëdorov, Aleksandr M. 258 Fedoseev, Pëtr N. 30 Fedotov, Georgij P. 295 Feoktistov, Evgenij M. 92, 119 Feona, Aleksej N. 68–70 Fet, Afanasij A. (eig. Šenšin) 154 Feuchtwanger, Lion 306 Feuerbach, Ludwig 117 Fichte, Johann Gottlieb 94, 96, 183 Fidler, Fëdor F. s. Fiedler, Friedrich Fiedler, Friedrich (Fidler, Fëdor F.) 121, 127, 146, 202f., 205, 217, 241, 246, 258f., 263 Filippov, Leonid I. 162, 189 Filippov, Michail M. 139f., 146 Filippov-Čechov, Aleksandr O. 301, 311 Filosofov, Dmitrij V. 124 Fischer, Hubert 341, 348 Fischer, Samuel 266 Fleishman, Lazar’ S. IX, XIX, 221, 310, 368 Flekser, Chaim L. s. Volynskij, Akim L. Focht, Boris A. 163 Fomičëv, Sergej A. 55, 86 Förster-Nietzsche, Elisabeth 122–126, 128–142, 145–148 Fradkin, Il’ja M. 353, 362 Francev, Vladimir A. 326 Frank-Kilner, Suzanne 315 Frankovskij, Adrian A. 294 Frejdenberg, Ol’ga M. 2, 10f., 19 Freud, Sigmund 289 Freytag, Gustav 267 Fridlender, Georgij M. 284, 288 Fridljand, Sof’ja L. 353 Friedenthal, Richard 313 Friedrich II. von Hohenzollern (d. Große) Friedrich Wilhelm IV. von Hohenzollern 114 Friedrich, Theodor 355 Friedrichs, Ernst 335 Friš, Sergej Ė. 19 Fruchtmann, Jacob 315 Fuchs, Friedrich 214 Fuchs, Max 337 Fülöp-Miller, René (eig. Philipp René Maria Müller) 277, 289 Fulda, Ludwig 319, 321, 348

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Namenregister Gagarin, Grigorij I., Fürst 110 Gagarin, Ivan S., Fürst 107, 120 Gajek, Bernhard 348 Galanskov, Jurij T. 358 Galič, Aleksandr A. (eig. Ginzburg) 358 Gamper, Gustav 281 Gandhi, Mahatma 270, 286 Gans, Eduard 115 Garšin, Vsevolod M. 246 Garsztecka, Karina 315 Gautier, Paul 344 Genin, Lazar’ E. 45, 53 Genkel’, German G. 310 George, Stefan XVf., 193–215, 217–219, 222, 228, 368 Gerasimov, Jurij K. 75, 86 Gercen (Herzen), Aleksandr I. 92, 119 Gerigk, Horst-Jürgen 160, 190 Gersdorff, Carl von, Freiherr 140 Geršenzon, Michail O. 98, 100, 119 Gerštejn, Ėmma G. 8 Gil’debrandt, Nikolaj F. s. Arbenin, Nikolaj F. Gillel’son, Maksim I. (Maksimov, M.) 104, 120 Ginzburg, Aleksandr I. 358 Ginzburg, Evgenija S. 353f., 362 Ginzburg, Lidija Ja. 2 Gippius, Evgenij V. 9, 18 Gippius, Vasilij V. 21f., 24 Gippius (Merežkovskaja), Zinaida N.  127f., 240, 247, 257f., 260–263 Glade, Henry 351, 363, 365 Glovackij, Leonard M. 5 Goebel, Ulrich 191 Goethe, Johann Wolfgang von 36, 121f., 126, 130, 140, 147, 152, 160f., 169, 176, 180f., 183, 186, 188f., 200, 215, 219, 266, 271f., 282, 319 Gofman, Viktor V. 291f., 311 Gogol’, Nikolaj V. 21, 151, 156, 187f., 266, 268, 270, 274 Gol’dovskij, Onisim B. 141 Golicyn, Michail M., Fürst 114 Gollerbach, Ėrich F. 68, 86 Goluchowski, Joseph (Józef) 96 Golz, Jochen 125 Gončarov, Ivan A. 181, 270 Gorbanevskaja, Natal’ja E. 358 Gordin, Jakov A. XI, XV, XVII, XIX, 361 Gorfinkel’, Daniil M. 310f.

Gor’kij, Maksim (eig. Peškov, Aleksej M.) 3, 73, 129, 142–148, 270, 291, 293, 295, 298f., 302, 306f., 311, 334 Gornfel’d, Arkadij G. 257, 263, 310 Gorodeckij, Sergej M. 70, 76 Görres, Johann Joseph von 94, 102, 109–111 Gorškov, Nikolaj P. 7 Gospodarëv, Filipp P. 12 Goya y Lucentes, Francisco José de 19 Granin (eig. German), Daniil A. 31 Granovskij, Timofej N. 59, 86, 115 Grečiškin, Sergej S. 85, 186, 190 Griboedov, Aleksandr S. 55, 86, 89, 335, 349 Grigorenko, Pëtr G. 358 Grigorov, Boris P. 170 Grigorova, Nadežda A. 170 Grigor’ev, Aleksandr D. 326 Grigor’ev, Apollon A. 95 Grillparzer, Franz 55–63, 65–74, 76–79, 81–89, 367 Grimm, Jacob und Wilhelm XIVf. Grossman, Vasilij S. (eig. Iosif S.) 354 Gruber, Roman I. 24 Grünewald, Matthias 164 Gržebin, Zinovij I. 294 Guardini, Romano 283 Gučinskaja, Nina O. 197 Gudzij, Nikolaj K. 23 Guenther, Johannes von (eig. Günther, Hans)  194–205, 207–209, 211–213, 217, 219, 221–224, 237f. Gukovskij, Grigorij A. 14, 25, 37, 39–42, 44f., 48 Gulyga, Arsenij V. 93, 95, 106, 119 Gumilëv, Nikolaj S. 73 Gundolf, Friedrich 199, 208 Gurevič, Ljubov’ Ja. 59, 68, 241, 244, 260f. Gurfinkel’, Roza N. 25 Gut, Taja 179 Haass, Friedrich Joseph 93 Haessel, Hermann 315 Halbe, Max 245 Hamsun, Knut 240, 317 Harer, Klaus 315, 348 Hartmann, Eduard von 155, 157 Hasenkamp, Günther IX Hauptmann, Gerhart 123, 129, 180f., 189, 245, 291

376 Hayward, Max 355 Hebbel, Friedrich 57, 88 Heeren, Arnold 96, 105 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 103, 105, 114–117, 153, 181, 183 Heiber, Helmut 341, 348 Heier, Edmund 56, 86 Heine, Heinrich 82, 152 Heine, Maximilian 93 Heiseler, Bernt von 214, 217 Heiseler, Henry von 203–205, 213, 217f., 238 Hellmundt, Christoph 168 Hengevoss, Christine IX, 347 Herder, Johann Gottfried von 319 Herrmann, Dagmar 91, 151, 367f. Herzen s. Gercen, Aleksandr I. Hesse (geb. Ausländer), Ninon 283 Hesse, Heiner 285, 289 Hesse, Hermann (Sinclair, Emil) 265–290, 369 Hesselbarth, Georg 343 Hesselbarth, Katharina s. MatankinHesselbarth, Katharina Heuschele, Otto Hirschfeld, Ludwig 286 Hingley, Ronald 355 Hitler, Adolf 122, 142, 285, 307, 309, 338–340, 342 Høffding, Harald 155 Hoffmann, David Marc 125, 147 Hoffmann, Ernst Theodor Amadeus 82 Hoffmann, Torsten 256 Hofmann, Ludwig von 126 Hofmannsthal, Hugo von 66f., 86, 123, 144, 147, 196, 199, 203f., 210, 300 Hofmiller, Josef 147 Homer 203, 207 Housman, Alfred Edward 306 Houwald, Ernst von, Graf 83 Huelsenbeck, Richard 289 Hugo, Victor Marie 58f. Hultsch, Anne IX, 145 Humm, Rudolf Jakob 283, 289 Hünich, Fritz Adolf 295f. Huppert, Hugo 306 Huysmans, Joris-Karl 210 Ibsen, Henrik 125, 147f., 180f., 266, 268 Ignatovskij, Aleksandr I. 330 Iljunina, Ljudmila A. 206, 217

Namenregister Illés, Béla 306 Iskander, Fazil’ A. 353 Istrin, Vasilij M. 336 Ivančenko, Prokofij L. 50 Ivanov, Anatolij E. 325, 348 Ivanov, Evgenij P. 76, 206 Ivanov, Ivan 60, 86 Ivanov, Sergej N. 339 Ivanov, Vjačeslav I. XVI, 167, 193–219, 222, 229–233, 235–237, 368 Ivanov, Vjačeslav Vs. 354 Ivanov, Vsevolod V. 306 Ivanova, Evgenija V. 74, 86f. Ivanov-Razumnik (eig. Ivanov, Razumnik V.)  154, 178, 181, 189, 237 Izmajlov, Aleksandr A. 70 Jablonovskij, Sergej s. Potresov, Sergej V. Jakir, Pëtr I. 358 Jakovlev, Nikolaj V. 337 Jakubovič, Vladimir I. 315 Janov, Aleksandr L. 343, 348 Janz, Curt Paul 131, 147 Jarnevskij, Iosif Z. 11 Jarov, Sergej V. 15, 31 Jasinskij, Ieronim I. s. Belinskij, Maksim Jdanoff, Denis 338 Jean Paul (eig. Richter, Johann Paul) 158, 200 John, Eckhard 33, 52 Jonson, Benjamin 297 Jungk, Robert 289 Junggren, Magnus s. Ljunggren, Magnus Kačalov (eig. Šverubovič), Vasilij I. 302, 317 Kaceva, Evgenija A. 353, 364f. Kádár, János 287 Kagan, Judif’ M. (Pseud. Nevel’skij, K.) 2, 11, 19 Kal’ma, N. (eig. Kal’manok, Anna I.) 300, 311 Kameneva (geb. Bronštejn), Ol’ga D. 299 Kamenskij, Zachar A. 93 Kaminka, Avgust I. 334 Kan, Nina (eig. Kaniščeva, Nina N.) 197 Kant, Immanuel 94, 98, 151, 153, 156, 161f., 169, 175, 189, 191 Kantorowicz, Alfred 287 Kapff, Ernst 267f. Kappus, Franz Xaver 224f.

Namenregister Karalaschvili, Reso 287 Karatygin, Vasilij A. 56 Kareno (Karenov), Aleksandr s. Matankin, Aleksandr V. Karpov, Evtichij P. 85 Kartužanskaja, A. I. 295 Kasack, Wolfgang XII, XIX Kassner, Rudolf 236 Katenin, Pavel A. 55 Katerli, Nina S. XII, XIX Katkov, Michail N. 114 Kautsky, Karl 162 Kazakov, Evgenij А. 315 Kazin, Aleksandr L. 162, 190 Keiper, Gerhard 341, 344, 348 Keller, Gottfried 132, 268, 271, 282 Keller, Mechthild 151, 289, 368 Kellermann, Bernhard 180, 300 Kessler, Harry, Graf 123, 126, 144f., 147 Ketlinskaja, Vera K. 27, 29f. Keyserling, Hermann Alexander von, Graf  276 Kinder, Anna 33, 367 Kipnis, Leonid M. 82, 87 Kippenberg, Anton 204 Kireevskij, Ivan V. 94f., 101, 113f., 116, 118f. Kireevskij, Pëtr V. 94f., 98, 100f., 114 Kirpotin, Valerij Ja. 36, 53 Kiselëv, Aleksandr F. 343, 348 Kiselëv, Michail F. 354, 365 Klages, Ludwig 213 Klassen, Maria IX, 118, 151, 368 Kleist, Heinrich von 57, 82 Klinger, Max 164, 209 Kljuev, Nikolaj А. XV Knjazev, Georgij A. 10 Kobus, Kathie (Katharina) 165 Kobylinskij, Lev L. s. Ėllis Kock, Erich 357 Kočur, Grigorij (Hryhorij) P. 358 Koegel, Fritz 147 Koenen, Gerd 265, 369 Kogan, Pavel D. 307 Köhler, Friedrich 138 Koljupanov, Nil P. 117, 119 Kollontaj (geb. Domontovič), Aleksandra M.  140 Kolobaeva, Lidija A. 143, 147 Kolubovskij, Igor’ Ja. 93

377 Kolumbus, Christoph 91 Komarov, A. M. 49 Komarovič, Vasilij L. (Komarowitsch, W.)  21f., 289 Komelina, Natal’ja G. 12, 20 Komissarževskaja, Vera F. 61–63, 68–72, 75f., 79, 85, 87, 89 Komissarževskij, Fëdor F. 62–67, 71f., 76, 79, 82f., 85, 87 Konfuzius 269 König, Christoph 367, 369 König, Heinrich Josef 110, 112 Kopelev, Lev Z. (Kopelew, Lew) XI, 265, 351f., 354–358, 361–363, 365f., 369 Kopernikus, Nikolaus 176 Koplan, Boris I. 14 Korčevnikova, Irina L. 317 Koreckaja, Inna V. 206, 217 Koreneva, Marina Ju. 97, 119, 126, 147, 296, 299f., 311 Korn, Karl-Heinz 91, 151, 289, 367f. Kornilov, Aleksandr A. 114, 119 Kornilov, Vladimir N. 361 Korolenko, Vladimir G. 267f., 270, 272 Koržavin (eig. Mandel’), Naum M. 359 Košelëv, Aleksandr I. 94f., 117, 119f. Köstenberger, Julia 300, 311 Kostetzky, Eaghor G. 201 Kostyrčenko, Gennadij B. 309, 311 Kotel’nikov, Vladimir A. 119 Kotrelëv, Nikolaj V. 76, 87 Kožebatkin, Aleksandr M. 199 Kozlik, Frédéric C. 179 Koz’min, Nikolaj K. 22 Kravčenko, Ivan I. 22 Krejd, Vadim (eig. Krejdenkov, Vadim P.)  216 Kröger, Martin 341, 344, 348 Kropotkin, Pëtr A., Fürst 329 Krupjanskaja, Vera Ju. 8f., 11, 17f., 20 Krupskaja, Nadežda K. 5 Krylov, Ivan A. 336 Krylov, Viktor A. (Aleksandrov, Viktor) 60, 84 Kucher, Katharina 339, 350 Kugel’, Aleksandr (Avraam) R. 61, 68f. Kühn, Paul 123, 147 Kukuj, Il’ja S. 315 Kukulevič, Anatolij M. 11, 13, 22

378 Kuprijanovskij, Pavel V. 73, 87 Kurz, Gerda 355 Kuzmin, Michail A. 68f., 72, 87, 209f., 216, 218, 222, 232, 237f., 294 Kuznecova, O’ga A. 200 Labedz, Leopold 355 Lange, Friedrich Albert 155 Lao Tse 269 Lapidus, Alla Ja. XVII, XIX Laqueur, Walter (Zeev) 338, 348 Lask, Emil 161 Lavrov, Aleksandr V. IX, XII, XV, XIX, 85, 151, 174, 180, 186–190, 198, 201, 216, 218, 237, 368 Lebedev, Nikolaj S. 40, 44, 52 Lebedev-Poljanskij (eig. Lebedev), Pavel I. (Poljanskij, Valerian) 26 Leibniz, Gottfried Wilhelm 153, 163 Lenin (eig. Ul’janov), Vladimir I. (Pseud. Il’in, N.) 5, 129, 139, 149, 284, 286 Leonardo da Vinci 247–249, 252f., 255–257, 259–261, 263 Leonov, Leonid M. 306 Lermontov, Michail Ju. 12, 45, 270 Leskov, Nikolaj S. 244, 246 Leupold, Gabriele 152 Levin, Jurij D. 53 Lichačëv, Dmitrij S. 26f. Lichačëv, Vladimir S. 310 Lichačëva (geb. Makarova), Zinaida A. 26 Lichtenštejn, Isanna E. 81, 87 Lidin (eig. Gomberg), Vladimir G. 302, 306f., 309, 312 Lie, Jonas 268 Lileev, Jurij S. IX, 236 Lilien, Ephraim Moses 260 Liliencron, Detlev (eig. Friedrich Adolf Axel) von, Freiherr 123 Lisjutkina, Larisa L. 350 Litvinov, Maksim M. (eig. Wallach, M.-G.)  309 Ljubarskij, Kronid A. 359 Ljunggren, Magnus 126, 147 Lo Gatto, Ettore 300 Loder, Justus Christian von 99 Löser, Wilhelm 355 Lopatin, Lev M. 163

Namenregister Lošakova, Galina A. 74, 87 Losev (Loseff, eig. Lifšic), Lev V. XIV, XIX Lozanova, Aleksandra N. 9, 12 Lozinskij, Grigorij L. 335 Lozinskij, Michail L. 294 Lucka, Emil 276, 290 Ludwig I., König von Bayern 97 Lugovoj (eig. Tichonov), Aleksej A. 241 Lukács, György (Georg) Bernát 306 Lukaš, Nikolaj A. (Mykola O.) 358 Lunačarskaja, Irina A. 303f., 312 Lunačarskij, Anatolij V. 295, 300, 303, 307f., 312 Lur’e, Solomon Ja. 14 Luther, Arthur 229, 238, 292, 312, 315, 317, 322, 334, 337, 348 L’vova, Galina M. 11 Macintyre, Ben 122, 147 Maeterlinck, Maurice 180f., 240 Magnickij, Michail L. 92, 119 Magomedova, Dina M. 65f., 87 Majackij, Michail A. 207, 218 Majkov, Vladimir V. 22 Makarov, Arsenij A. 143, 147 Makovskij, Sergej K. 200f. Maksimov, Dmitrij E. 206, 218 Maksimov, M. s. Gillel’son, Maksim I. Maksimov, Vladimir E. (eig. Samsonov, Lev A.) 358f. Maliga (Konsulatsleiter) 345 Malikova, Marija Ė. 288, 294, 312 Malkina, Ekaterina R. 27, 74, 80, 88 Mallarmé, Stéphane 196, 206, 214f. Malmstad, John 168, 171f., 175, 177f., 180, 187–190, 216, 237f. Malzahn, Melanie IX Mandel’štam, Isaj B. 310 Mandel’štam (geb. Chazina), Nadežda Ja.  353, 362 Mandel’štam, Osip Ė. 294 Mann, Jurij V. 115, 120 Mann, Klaus 306 Mann, Thomas 123, 180, 187, 269, 272f., 286, 291 Mansfel’d, Dmitrij A. fon 60, 88 Manujlov, Aleksandr A. 328, 349 Marčenko, Anatolij T. 358

Namenregister Markiš, Simon (Šimon) P. 354 Markov, Georgij M. 358 Markov, Nikolaj E. 339, 342f. Markovič (geb. Vasilevskaja), Rozalija M.  310 Marx, Karl 139, 162, 285, 287, 306 Masal’skij, Nikolaj V., Fürst 339 Masanov, Ivan F. 317, 349 Masereel, Frans 299, 303 Masing (Mazing), Ivan A. 227 Mašinskij, Sеmën I. 84 Matankin, Aleksandr V. (Pseud. Kareno, Aleksandr) 315–317, 320–349, 369 Matankin-Hesselbarth, Katharina 344 Matič (geb. Pavlova), Ol’ga 81, 88 Maydell, Renata von 190 Mchitarjan (Mčitar’jan), Irina 333f., 349 Medtner (Metner), Ėmilij K. 126, 147, 151, 158, 161, 169, 189, 199, 201f., 205, 216 Medtner (Metner), Nikolaj K. 161 Medvedev, Pavel N. 262f. Medvedeva-Tomaševskaja (geb. Blinova), Irina N. 29 Mehring, Franz 57, 88, 162, 180 Meister Eckhart 171 Mejerchol’d, Vsevolod Ė. 63, 76, 317 Meller-Zakomel’skij, Aleksandr V., Baron  338f., 342 Mel’nik, Osip (Iosif) S. 259 Mel’gunov, Nikolaj A. 94f., 110–113, 120 Mel’nikov, Daniil (eig. Melamid, Daniil E.) 362 Mendeleev, Dmitrij I. 159 Merežkovskaja, Zinaida N. s. Gippius, Zinaida N. Merežkovskij, Dmitrij S. 125, 127f., 147, 167, 240f., 244, 247f., 256, 258, 263 Metner s. Medtner Metternich, Klemens Wenzel Lothar von, Fürst 59, 77, 79 Meyrink, Gustav 180 Mgebrov (Mgebrišvili), Aleksandr A. 68 Michajlov, Michail M. 22 Michajlova, Anna N. 310 Michajlovskij, Boris V. 143, 147 Michel, Sascha 313 Michels, Ursula 289 Michels, Volker 289

379 Mierau, Fritz 80, 88 Mihailovich, Vasa D. 284 Mikula, Thomas IX, 371 Miljukov, Pavel N. 329 Minc, Zara G. 124, 147 Minclova, Anna R. 167, 207 Minskij (eig. Vilenkin), Nikolaj M. 127f., 147, 240 Mirimov, Lev M. 311 Mirza-Avakjan, Mirra L. 81, 88 Missenharter, Hermann 277 Močalov, Pavel S. 56 Mokul’skij, Stefan S. 25, 38, 48 Molière (eig. Jean-Baptiste Poquelin) 335, 349 Møller, Peter Ulf 142 Moltke, Helmuth von, Graf 339 Mommsen, Theodor 202 Morev, Gleb A. 218 Morgenstern, Christian 170–174, 187, 190 Morgenstern, Margareta 187 Morisse, Paul 313 Moritz, Verena 311 Moroz, Valentin Ja. 358 Morozov, Aleksandr A. 6 Morris, William 270 Mostovskaja, Natalija N. 134, 147f. Motrošilova, Nelli V. 121, 368 Motylëva, Tamara L. 353 Mudrov, Matvej Ja. 93 Mühsam, Erich 165 Müllner, Adolph 56–58, 83 Munch, Edvard 123 Muratova, Ksenija D. 241, 263, 309 Mussolini, Benito 122, 307 Muth, Karl 214, 218 Nabokov, Vladimir V. 315 Nadeždin, Nikolaj I. 95 Nadeždin, N. 124, 148 Napoléon I. Bonaparte 92, 286 Natorp, Paul 161 Naumov, Evgenij I. 40, 43 Neander, August 117 Nečeporuk, Evgenij I. 65, 72, 74, 88 Necker, Moritz 67, 86 Nedobrovo (geb. Ol’china), Ljubov’ A. 232 Nedobrovo, Nikolaj V. 80, 232

380 Nekrasov, Viktor P. 353 Nekrasova, Tat’jana E. 284, 290 Nemkova, Arina A. 367 Nero Claudius Caesar Augustus Germanicus  212 Nerval, Gérard de (eig. Labrunie, Gérard)  23 Nesselrode, Karl Robert von, Graf 96 Neutatz, Dietmar 33, 367 Nevel’skij, K. s. Kagan, Judif’ M. Neverov, Januarij M. 115 Newerkla, Stefan Michael 221, 368 Niebuhr, Barthold 96 Niethammer, Friedrich Immanuel 104 Nietzsche, Friedrich XVf., 121–151, 155–160, 168, 172–176, 181, 184, 190f., 197, 206, 209–211, 240–243, 254–256, 260, 262, 272f., 279, 283, 335, 368 Nikiforov, Aleksandr I. 5 Nikitenko, Aleksandr V. 91f., 120 Nikitin, Ivan S. 349 Nikitin, Nikolaj N. 307 Nikitina, Nina S. 134, 148 Nikolaj II, Kaiser von Russland 268 Nikol’skaja, Tat’jana L. 302, 307, 312 Nikon (Patriarch) 113 Nižeborskij, Aleksej K. 162, 190 Nötzel, Karl 273f. Novalis (eig. Georg Friedrich Philipp von Hardenberg, Freiherr) 176, 199f., 215, 219, 230 Novikov, Nikolaj V. 11f. Nusinov, Isaak M. 36 Nymphius, Christian 291, 312 Obatnin, Gennadij V. 200, 218 Oberstolz, Patrick IX, 309 Obodovskij, Platon G. 55–58, 72, 89 Odoevskij, Vladimir F., Fürst 91, 93f., 97, 109, 115–117, 120 Oehler, Adalbert 138 Oehler, Max 131, 138, 141, 148 Oehler, Richard 138 Ogarëv, Nikolaj P. 92 Oken, Lorenz 94 Okorokov, Aleksandr V. 339 Okudžava, Bulat Š. 353 Oleša, Jurij K. 306

Namenregister Ol’denburg, Sergej F. 295 Opitz, Theodor 131 Orlik, Emil 144 Orlov, Aleksandr S. 36 Orlov, Vladimir N. 25, 237 Orlova-Kopeleva (geb. Liberzon), Raisa D.  352, 354, 357, 362, 366 Osorgin (eig. Il’in), Michail A. 307 Ospovat, Aleksandr L. 91, 102f., 119, 367 Ospovat, Lev S. 354 Osten-Sacken, Reinhold Ju. von der, Baron  341 Ostmann, Lea Katharina 313 Ostwald, Wilhelm 153, 155 Overbeck, Franz 132 Ozereсkij, Nikolaj I. 28 Ozerov, Vitalij M. 363 Pachmuss, Temira 284, 290 Pamfilova, Ksenija A. 335 Paperno, Irina A. 2 Pargamin, Berta L. 243, 247 Pasqually, Martinez de 116 Pasternak, Boris L. XVI, XIX Pasternak, Leonid O. 144 Patouillet, Jules 335 Paulus, Jörg 256 Paustovskij, Konstantin G. 353 Pavlov, Michail G. 57, 93 Pavlova, Margarita M. 262 Pavlova, Nina S. 74, 88 Pavlova, Tat’jana V. 188f., 216 Pavlovič, Evgenija A. 4 Pavlovič, Nadežda A. 81, 88 Péladan, Sar (eig. Péladan, Joseph-Aimé)  206 Pellegrini, Alessandro 215 Peretc, Vladimir N. 336 Persky, Serge (Perskij, Sergej M.) 125 Petrov, Igor’ R. 315, 342 Petrova, Mira G. 143, 148 Pfäfflin, Friedrich 268f., 290 Pfeifer, Martin 287, 290 Pfeiffer, Curt 285 Pfeiffer, Ernst 135, 148 Philipps, Sören 347, 349 Piksanov, Nikolaj K. 10, 27 Piksanova, Valentina A. 10

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Namenregister Pil’njak (eig. Wogau), Boris A. 302, 306 Piper, Reinhard 260, 274, 276 Pisarev, Dmitrij I. 239 Pisareva, Elena F. 167 Pjast (eig. Pestovskij), Vladimir A. 222, 237 Platon 101, 163, 176, 206f., 218 Plechanov, Georgij V. 139, 329 Plotkin, Lev A. 37 Pniower, Otto 86 Poelchau, Heinrich (Svetozarov, Andrej P.) 342 Pogodin, Michail P. 93–96, 107–109, 111f., 119 Polevoj, Nikolaj A. 95 Polivanov, Konstantin M. 310 Polivanov, Lev I. 153 Poljakov, Fëdor B. IX, XI, XIX, 204, 218, 221f., 237f., 368 Poljakov, Valentin V. 353 Polujachtova, Inna K. 143, 148 Potapova, Galina E. 55, 88f. Potresov, Sergej V. (Jablonovskij, S.) 71 Poyntner, Erich 74, 89 Prokof’ev, Michail A. 50, 52 Propp, Vladimir Ja. 37 Protasova, N. A. 40 Protopopov, Nikolaj P. 58 Prozor, Mavrikij Ė., Graf 125f., 148 Puškarenko, Aleksandr A. 331, 349 Puškarëva, Natal’ja L. 258, 262 Puškin, Aleksandr S. XIII–XV, 44f., 85, 96f., 104, 109, 120, 131, 135, 138, 140, 146, 149, 218, 238, 270, 330, 334, 336 Pypin, Aleksandr N. 117, 120 Raabe, Paul 221, 238 Raabe, Wilhelm 271 Rabinowitz, Stanley J. 258, 263 Racine, Jean Baptiste 58 Radlov, Sergej Ė. 201 Raffael (eig. Sanzio da Urbino, Raffaello)  176 Rajt-Kovalëva, Rita (eig. Raisa) Ja. 353 Rakusa, Ilma 152, 362 Rapoport, Alek (Aleksandr) 353 Raumer, Friedrich von 96 Raupach, Ernst 58 Ravdin, Boris A. 143, 149 Redina, Antonina I. 40, 42

Rée, Paul 135, 148, 255 Reinhardt, Max (eig. Goldmann, Maximilian) 144 Reinhart, Georg 277 Reinhold, Alexander von 334 Reißmüller, Johann Georg 360 Remizov, Aleksej M. 64, 195f., 218 Rembrandt van Rijn 261 Rezvych, Pëtr V. 106, 120 Ribbentrop, Joachim von 345 Rickert, Heinrich 161f. Riehl, Alois 127, 148 Riftin, Aleksandr P. 25 Rilke, Rainer Maria XVf., XIX, 215, 221f., 224–239, 243, 246, 249, 251, 253, 256–259, 262f., 273, 291, 295, 353, 368 Rimbaud, Arthur 196 Riza-Zadė, Fatima 283, 290 Robakidze, Grigol 302f., 307, 310, 312 Rodičev, Fëdor I. 329 Rodina, Galina I. 318, 349 Rolland, Romain 270, 286, 293, 296, 304–312, 353 Rosner, Karl Peter 316f., 321, 324f., 350 Rovda, Kirill I. 64, 89 Rožalin, Nikolaj M. 94, 98, 100–102, 120 Rubens, Peter Paul 266 Rubinštejn, Ida L. 260f. Rublëvskaja, Ljudmila I. 332 Rudnickij, Konstantin L. 62–66, 77, 89 Rümelin, Theodor 266 Rusakova, Alla A. 6 Rusanova (geb. Brun), Iraida V. 6 Ruskin, John 240, 270 Ruslov, Vladimir V. 210 Rusov, Nikolaj N. 63 Rybakova, Julija P. 71, 89 Sabašnikov, Michail V. 72f., 84 Sabašnikov, Sergej V. 84 Sabašnikova, Margarita V. 170, 174 Sacharov, Andrej D. 360, 363, 366 Sacharov, Konstantin V. 340 Sacharov, Vsevolod I. 116, 120 Šachmatov, Aleksej A. 14 Šaginjan, Mariėtta S. 358 Saint-Martin, Louis Claude de 116 Saitov, Vladimir I. 336

382 Sakulin, Pavel N. 97, 109, 116f., 120, 300 Salomé, Luisa G. von s. Andreas-Salomé, Lou Samojlov (eig. Kaufman), David S. 353 Šamraj, Dmitrij D. 6 Samter, Betty 321 Sandrock, Adele Caroline 60 Sapov, Vadim V. 202, 218 Šapovalova, Galina G. 44 Sartre, Jean-Paul 354 Savanovič, Dmitrij D. 22 Savina, Marija G. 261 Sažin, Valerij N. 188 Ščerba, Lev V. 10 Ščerbina, Vladimir R. 306, 312 Scharf, Ludwig 165 Schelling, Friedrich Wilhelm von 91–120 Schelling (verh. Eichhorn), Julie 114 Schelling (verh. Zech), Karoline 106 Schelling (geb. Gotter), Pauline 102 Schenk, Eduard von 58 Scherl, August 125 Schick (Šik), Maksimilian Ja. 194, 216, 291 Schill (Šil’), Sof’ja N. 251 Schiller, Friedrich von 57, 121f., 127, 130, 140, 266, 319, 323 Schlaf, Johannes 260 Schlechta, Karl 149 Schlegel, Friedrich 269 Schlögel, Karl 152, 315, 317, 339, 350, 365 Schmid, Vivienne IX, 371 Schmidt, Sabine IX, 239, 261, 368 Schnack, Ingeborg 246, 253, 263 Schonauer, Franz 208, 218, Schopenhauer, Arthur 151, 153–155, 157, 161, 175, 269 Schor, Ol’ga A. s. Deschartes, Ol’ga Schreyvogel, Joseph 67f. Schröder, Ingeborg 80 Schröder, Wilhelm H. 341, 350 Schubert, Gotthilf Heinrich 102–104 Schumann, Robert 152, 161 Schwabe, Nikolai (von) s. Švabe, Nikolaj A. Schwanthaler, Ludwig Michael von 110 Schweichel, Robert 88 Schwind, Moritz von 164 Seelig, Carl 282 Seghers, Anna (eig. Reiling, Netty) 351 Semënova, Marina T. 303 Serbinovič, Konstantin S. 109

Namenregister Šestov (eig. Švarcman), Lev I. 195, 236, 307 Ševelenko, Irina D. 310 Ševyrëv, Stepan P. 93–95, 98, 101, 110, 112f. Shakespeare, William 25, 58, 84, 199 Siegel, Holger IX, 187, 288 Sievers, Marie von s. Steiner, Marie Sigal, Nina A. s. Žirmunskaja, Nina A. Siglari, Angela Dioletta 162, 190 Sigwart, Christoph von 162 Sil’man, Tamara I. 356f., 366 Šilovskaja, Ėmilija L. 69f. Simonov, Konstantin (eig. Kirill) M. 358 Sinclair, Emil s. Hesse, Hermann Sineokaja, Julija V. 121, 368 Sinjavskij, Andrej D. XIII, 358 Sippl, Carmen IX, 204, 218, 221, 226, 238 Širjaeva, Pelageja G. 31 Šiškin, Andrej B. 205, 210, 218 Šišmarëv, Vladimir F. 10, 35f., 53 Sitkoveckaja, Majja M. 141, 149 Skalaban, Vitalij V. 332 Skaldin, Aleksej D. 226–230, 232f., 237f. Šklovskij, Viktor B. 41 Slavuckaja, Vil’gel’mina G. 354 Šlosberg (eig. Merkel’), Ėsfir’ B. 6 Sluckij, Boris A. 353 Smirdin, Aleksandr F. 58 Smirnov, Aleksandr A. 25, 38, 48 Sobolev, Aleksandr L. 194, 218 Sobolevskij, Sergej A. 336 Sojmonov, Aleksej D. 12 Sokolov, Jurij M. 17, 21 Sologub, Fëdor (eig. Teternikov, Fëdor K.)  127, 195, 222f., 240f., 244, 262 Solov’ëv, Evgenij A. 60 Solov’ëv, Vladimir S. 151, 156f., 159, 173–177, 230 Solženicyn, Aleksandr I. 354f., 357, 363f. Sombart, Werner 162 Somov, Konstantin A. 61–63 Šomrakova, Inga A. 294, 312 Sorokina, Marina Ju. 315 Specht, Richard 298f. Spengler, Oswald 234, 277 Špil’berg (geb. Averbuch, in zweiter Ehe Val’dek), Sof’ja K. 258 Spinoza, Baruch de 176 Spiridonova, Marija A. 329 Spivak, Monika L. 168, 171, 177, 188, 190f.

Namenregister Spižarskaja, Nadežda V. 40 Springer, Axel 359 Sretenskij, Nikolaj N. 332 Stalin (eig. Džugašvili), Iosif V. XVI, 8, 21, 23, 25f., 33, 46, 48f., 51, 286f., 290, 307–309, 311 Stammler, Rudolf 162 Stanislavskij (eig. Alekseev), Konstantin S.  65, 317 Stankevič, Nikolaj V. 95, 115, 120 Stavrogin, Aleksandr A. s. D’jakonov, Aleksandr A. Stephan, John (Stefan, Džon) 343, 350 Steffens, Henrik 92 Steiner, Herbert 214 Steiner (geb. von Sievers), Marie 170 Steiner, Rudolf 125, 147, 151, 167–179, 187f., 191, 206, 214 Štejnberg, Aaron Z. 293, 312 Stekvašov, Evgenij A. 267, 290 Stepanova, Taisija Ė. 27 Stepun, Fëdor A. 160, 191, 205, 218 Stifter, Adalbert 87 Stinde, Sophie 170 Storck, Joachim Wolfgang 239, 262, 368 Storm, Theodor 271 Strukova, Elena N. 315 Struve, Pëtr B. 292, 310 Stuck, Franz von 164f. Stus, Vasil’ 358 Sudermann, Hermann 181, 266, 315–325, 335, 337, 349f. Suhrkamp, Peter 266 Sukennikov, Michail A. 129–131, 133, 135f., 138–142, 146, 149 Šumjackij, Boris B. 354, 365 Summerer, Siglinde 355 Superfin, Gabriėl’ G. (Pseud. Bronnyj, M.) IX, 85, 315, 369 Sütterlin, Ingmar 341, 350 Suvorova, Ksenija N. 87 Švabe (Schwabe), Nikolaj A. 342 Švarc-Bostunič, Grigorij V. 343 Sverstjuk, Ėvgen O. 358 Svetličnyj, Ivan A. 358 Svetozarov, Andrej P. s. Poelchau, Heinrich Svetozarova, Natalia D. 33, 52, 367 Svirskij, Grigorij C. XVII, XIX Szilárd (geb. Ajzatulina), Léna 156, 190

383 Tempest, Richard 107, 120 Tenišev, Vjačeslav N., Fürst 227 Thiel, Ernest 123 Thiele, Eckhard 80 Thieme, Eberhardt 196, 219 Thierbach, Erhart 148 Thompson, Regina B. 83, 89 Thormaehlen, Ludwig 205f., 219 Tilliette, Xavier 96, 99, 110–112, 120 Time, Galina A. 273, 288 Timenčik, Roman D. 74, 89, 315 Titov, Vladimir P. 93f., 109 Tizian (eig. Vecellio, Tiziano) 266 Tjutčev, Fëdor I. 22, 95, 97f., 100, 103, 107, 110, 119 Tocenko, Lidija T. 331, 349 Tolstaja, Aleksandra L., Gräfin 301 Tolstaja (geb. Diterichs), Ol’ga K., Gräfin 301 Tolstaja (geb. Bers), Sof’ja A., Gräfin 243, 263 Tolstaja-Esenina, Sof’ja A. 301 Tolstoj, Lev N., Graf XIII, 45, 125, 141, 176, 180, 268–270, 272–274, 281, 291, 299–302, 311f., 334, 352 Tomaševskaja, Irina N. s. MedvedevaTomaševskaja, Irina N. Tomaševskaja, Zoja B. 29f. Tomaševskij, Boris V. 29f. Tomaševskij, Nikolaj B. 29 Toper, Pavel M. 353 Toporov, Vladimir N. XIII, XIX Trifonov, Jurij V. 354 Trockij (eig. Bronštejn), Lev D. 129, 286 Tronskaja (Trockaja; geb. Gurfinkel’), Marija L. 25 Tronskij (Trockij), Iosif M. 25 Troyes, Chrétien de 227 Trubeckoj, Sergej N., Fürst 163 Truman, Harry S. 286 Tucholsky, Kurt 305 Turgenev, Aleksandr I. 95–97, 100, 102–106, 108f., 117–120 Turgenev, Ivan S. 117f. 120, 130, 132–136, 138, 140–142, 147–149, 181, 266f., 270, 272, 290, 329f., 334, 336 Turgenev, Nikolaj I. 97, 104, 334 Turgenev, Sergej I. 95 Turgeneva, Anna A. (Asja) 168, 175, 178f., 191

384 Uhland, Ludwig 82, 151f., 266 Ulbricht, Walter 287 Ullstein, Leopold 320 Umanec, Sergej I. 61 Unger, Carl 170 Ungern-Sternberg, Wolfgang von 348 Unglaub, Erich Johann 256 Ustinov, Andrej B. 310 Uvarov, Sergej S., Graf 112 Vacuro, Vadim Ė. 55, 89, 96, 120 Vaihinger, Hans 138 Vaissié, Cécile 361, 366 Vallentin, Richard 144 Vanovskaja, Tat’jana V. 45 Varnhagen von Ense, Karl August 59, 110, 334 Vasilevskij, Lev M. 68 Vasil’eva, Klavdija N. 179 Vaškau, Nina Ė. 334, 350 Vasnecov, Viktor M. 197 Veit, Birgit 152 Velde, Henry van de 123, 126, 144f. Vellanskij, Daniil M. 92f. Venevitinov, Dmitrij V. 94 Vengerov, Semën A. 127f., 143, 241, 258 Vengerova, Zinaida A. 127–129, 149, 240f. Verčenko, Jurij N. 360 Verchovskij, Jurij N. 69, 232 Verhaeren, Émile 291–293, 310, 312f. Verigina, Valentina P. 223 Verlaine, Paul 206, 210 Veselovskij, Aleksandr N. 35–39, 41, 44, 48, 53 Vetkin, S. 311 Viardot-García, Pauline 130, 133f., 146, 149 Viel’gorskij, Michail Ju., Graf 97, 115 Vil’kina, Ljudmila N. 128, 241 Vinogradov, Viktor V. 46, 48, 51 Vladimirov, Vasilij V. 163 Vlasov, Andrej A. 339 Vojnovič, Vladimir N. 353, 357, 361 Vol’fson, Il’ja V. 294f., 298f., 302 Vol’kenštejn, Vladimir M. 74, 89 Volkmann, Hans-Erich 334, 350 Volkov, Nikolaj D. 69, 89 Volkov, Sergej V. 342, 350 Vollmöller, Karl 198

Namenregister Volodina, Ol’ga K. 11–13, 22 Vološin (eig. Kirienko-Vološin), Maksimilian A. 174 Volynskij, Akim L. (eig. Flekser, Chaim L.) XVI, 239–251, 253–263, 368 Vonsjackij, Anastasij A. 339 Voznesenskij, Aleksandr N. 326f. Voznesenskij, Andrej A. 37, 353 Vrchlický, Jaroslav 268 Vsevolodskaja, L. N. 297, 310 Wachtel, Michael 193, 204f., 215, 217, 219, 221, 230, 368 Wagner, Cosima 134, 149 Wagner, Richard 132–134, 141f., 181, 227, 282 Walter, Christoph von 226 Walter, Edith von 226 Walter (geb. Bauman), Elizaveta (Elsbeth) K. von 226, 228, 232 Walter, Gregor von 368 Walter, Klara von 226 Walter, Reinhold von 221–238, 368 Walter, Ulrich von 226 Wassermann, Jakob 127, 306 Weber, Hans von 221 Wedekind, Frank 165 Weininger, Otto 260 Welsch, Ursula 253 Wenger, Theodor (Théo) 281 Werder, Karl Friedrich 115 Werfel, Franz 300 Werner, Zacharias 56–59, 83 West, James 162, 191 Wichelhaus, Esther 313 Wiebeking, Carl Friedrich von 95f. Wieland, Christoph Martin 319 Wiesner, Hanne IX, 83 Wiesner-Bangard, Michaela 253 Wilde, Oscar 240 Williams, Robert Chadwell 343, 350 Windelband, Wilhelm 161 Winckelmann, Johann Joachim 102 Wollkopf, Roswitha 125 Wölfflin, Heinrich 269 Wolfskehl, Karl 198–200, 203–204, 208 Woltereck, Richard 268, 289 Wolters, Friedrich Wilhelm 199 Wundt, Wilhelm 153

Namenregister Žabotinskij, Vladimir (Zeev) E. 142f., 149 Zamotin, Ivan I. 326f., 329, 332 Zapadov, Aleksandr V. 40 Zarifov, Chodi T. 38, 41 Zasulič, Vera I. 140 Ždanov, Andrej A. 34 Zelinskij, Faddej F. (Zieliński, Tadeusz) 73 Zelinskij, Kornelij L. 306, 308, 312 Željabužskij, Aleksej L. 71f. Zemljanoj, Sergej N. 362f., 366 Žerebin, Aleksej I. IX, 215 Žichareva, Ksenija M. 199 Žigač, Kuz’ma F. 47, 49f. Zimmermann, Hans Dieter 262 Zink, Andrea 162, 191 Zinov’eva-Annibal, Lidija D. 199 Žirmunskaja, Aleksandra V. 46 Žirmunskaja (geb. Sigal), Nina A. 42 Žirmunskaja, Vera V. s. AstvazaturovaŽirmunskaja, Vera V.

385 Žirmunskij, Viktor M. XI, 6, 14, 25, 27, 33, 35–48, 50–53, 367 Žitomirskaja, Zinaida V. 291, 312 Zola, Émile 266, 268 Zonina, Lenina A. 354 Zonov, Arkadij P. 68, 72 Zorgenfrej (Sorgenfrei), Vil’gel’m A. 74, 85f., 294 Zorkij (eig. Lipšic), Mark S. 339f. Zur Westen, Walter von 193 Zuckermann, S. s. Cukerman, S. Zujewskyj, Oleh 201 Žukovskij, Vasilij A. 99, 105, 109, 114 Zverev, Aleksej M. 88 Zvorykina, Ekaterina F. 357 Zweig, Arnold 286 Zweig, Friderike Maria 300f., 305, 313 Zweig, Stefan XVI, 260, 269, 273, 277, 286, 290–293, 295–313, 353, 369 Zylla, Elsbeth 365

Publikationsreihe Die „Schriftenreihe des Instituts für russisch-deutsche Literatur- und Kulturbeziehungen an der RGGU Moskau“ erscheint teils im Moskauer Verlag „Stimmen der slavischen Kultur“, teils im Verlag Brill | Fink. Band 1: Dirk Kemper, Iris Bäcker (Hg.): Deutsch-russische Germanistik. Ergebnisse, Perspektiven und Desiderate der Zusammenarbeit. Moskau: Jazyki slavjanskoj kul’tury 2008 Band 2: Кемпер Дирк. Гете и проблематика индивидуализма в макро­ эпоху модерна. Москва: Языки славянской культуры 2009 [Dirk Kemper: Goethe und die Individualitätsproblematik der Moderne. Übers. von Aleksej Žerebin. Moskau: Jazyki slavjanskoj kul’tury 2009] Band 3: Dirk Kemper, Aleksej Žerebin, Iris Bäcker (Hg.): Eigen- und fremdkulturelle Literaturwissenschaft. Paderborn: Wilhelm Fink 2010 Band 4: Dirk Kemper, Valerij Tjupa, Sergej Taškenov (Hg.): Die russische Schule der historischen Poetik. Paderborn: Wilhelm Fink 2013 Band 5: Бакши Наталия Александровна. В поисках чернильно-синей Швейцарии. Москва: Языки славянской культуры 2009 [Natalija Aleksandrovna Bakši (Bakshi): Auf der Suche nach der tintenblauen Schweiz. Moskau: Jazyki slavjanskoj kul’tury 2009] Band 6: Жеребин Алексей Иосифович. Абсолютная реальность. „Молодая Вена“ и русская литература. Москва: Языки славянской культуры 2009 [Aleksej Iosifovič Žerebin: Absolute Realität. Das „Junge Wien“ und die russische Literatur. Moskau: Jazyki slavjanskoj kul’tury 2009] Band 7: Dirk Kemper, Ekaterina Dmitrieva, Jurij Lileev (Hg.): Deutschsprachige Literatur im westeuropäischen und slavischen Barock. Paderborn: Wilhelm Fink 2012 Band 8: Natalia Bakshi, Dirk Kemper, Iris Bäcker (Hg.): Religiöse Thematiken in den deutschsprachigen Literaturen der Nachkriegszeit (1945– 1955). Paderborn: Wilhelm Fink 2013 Band 9: Бакши Наталия Александровна. Преодоление границ. Литература и теология в послевоенный период в Германии, Австрии и Швейцарии (1945–1955). Москва: Языки славянской культуры, 2013 [Natalija Aleksandrovna Bakši (Bakshi): Grenzüberschreitungen. Literatur und Theologie der Nachkriegszeit in

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Band 10: Band 11: Band 12: Band 13: Band 14: Band 15: Band 16: Band 17: Band 18:

Band 19:

Band 20: Band 21:

Publikationsreihe

Deutschland, Österreich und der Schweiz (1945–1955). Moskau: Jazyki slavjanskoj kul’tury, 2013] Sergej Taškenov, Dirk Kemper (Hg.) in Zusammenarbeit mit Vladimir Kantor: Visionen der Zukunft um 1900. Deutschland, Österreich, Schweiz. Paderborn: Wilhelm Fink 2014 Dirk Kemper (Hg.): Weltseitigkeit. Jörg-Ulrich Fechner zu Ehren. Paderborn: Wilhelm Fink 2014 Iris Bäcker: Der Akt des Lesens – neu gelesen. Zur Bestimmung des Wirkungspotentials von Literatur. Paderborn: Wilhelm Fink 2014 Sergej Taškenov (Hg.): Außerhalb der Norm. Zur Produktivität der Abweichung. Paderborn: Wilhelm Fink 2016 Sergej Taškenov: Thomas Bernhards Prosa. Krise der Sprache und des dialogischen Wortes. Paderborn: Wilhelm Fink 2019 Natalia Bakshi, Dirk Kemper, Monika Schmitz-Emans (Hg.): Komparatistik sprachhomogener Räume. Konzepte, Methoden, Fallstudien. Paderborn: Wilhelm Fink 2017 Dirk Kemper, Paweł Zajas, Natalia Bakshi (Hg.): Kulturtransfer und Verlagsarbeit. Suhrkamp und Osteuropa. Paderborn: Wilhelm Fink 2019 Dirk Kemper, Natalia Bakshi, Elisabeth Cheauré, Paweł Zajas (Hg.): Literatur und Auswärtige Kulturpolitik. Paderborn: Wilhelm Fink 2019 Юрген Леман: Русская литература в Германии. Восприятие русской литературы в художественном творчестве и литературной критике немецкоязычных писателей  с  XVIII  века до настоящего времени. Пер. Наталия Бакши, Алексей Жеребин. Москва: Издательский дом ЯСК, 2018 [Jürgen Lehmann: Russische Literatur in Deutschland. Die Wahrnehmung russischer Literatur in Literatur und Kritik deutscher Schriftsteller vom 18. Jahrhundert bis heute. Übers. von Natalija Bakshi und Aleksej Žerebin]. Клаус-Михаэль Богдаль. Европа изобретает цыган. История увлечения и презрения. Пер. Ирина Алексеева. Москва: Языки славянской культуры, 2018 [Klaus-Michael Bogdal: Europa erfindet die Zigeuner. Eine Geschichte von Faszination und Verachtung. Übers. Irina Alekseeva. Moskau: Jazyki slavjanskoj kul’tury, 2018] Dirk Kemper, Ulrich von Bülow, Jurij Lileev (Hg.): Kulturtransfer um 1900: Rilke und Russland. Paderborn: Wilhelm Fink, 2019 Paweł Zajas: Verlagspraxis und Kulturpolitik. Beiträge zur Soziologie des Literatursystems. Paderborn: Wilhelm Fink, 2019

Publikationsreihe

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Band 22: Natalia Bakshi, Georg Pfleiderer, Yvonne Pörzgen (Hg.): Ausstrahlung der Reformation. Ost-westliche Spurensuche. Paderborn: Wilhelm Fink 2020 Band 23: Jurij Lileev, Yvonne Pörzgen, Mario Zanucchi (Hg.): Europäische Avantgarden um 1900. Kontakt – Transfer – Transformation. Brill | Fink 2021 Band 24: Konstantin Asadowski: Russisch-deutsche Verflechtungen. Ausgewählte Beiträge zur Literatur- und Kulturgeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts. Herausgegeben von Fedor Poljakov und Natalia Bakshi. Brill | Fink 2022