Kulturgeschichte des 19. Jahrhunderts 9783666531187, 9783525531181


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Kulturgeschichte des 19. Jahrhunderts
 9783666531187, 9783525531181

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Anton Grabner-Haider / Klaus S. Davidowicz / Karl Prenner

Kulturgeschichte des 19. Jahrhunderts

Vandenhoeck & Ruprecht

Umschlagabbildung: Eröffnung des deutschen Parlaments in der Paulskirche zu Frankfurt a.M. Revolution 1848/49 Deutsche Nationalversammlung in der Paulskirche in Frankfurt a.M. Eröffnung am 18. Mai 1848 mit Heinrich von Gagern als Präsident. © akg-images AKG134858

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-525-53118-1 © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen/ Vandenhoeck & Ruprecht LLC, Bristol, CT, U.S.A. www.v-r.de Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Printed in Germany. Satz: Textpert Anne Seibt, Graz Druck und Bindung: Hubert & Co, Göttingen Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier.

Inhalt

Einleitung ................................................................................................................... 9 1. Wirtschaftliche und soziale Prozesse ............................................................... 11 Industrialisierung der Arbeitswelt .......................................................................... 12 Soziale Veränderungen und Lernprozesse ............................................................. 13 2. Dynamiken der philosophischen Ideen .......................................................... 19 Denklinien der idealistischen Philosophie ............................................................ 20 Theologische Denkmodelle ...................................................................................... 24 Sinngebung und Veränderung der Gesellschaft .................................................... 26 Denkkonzepte des Positivismus und des Naturalismus ....................................... 31 Dynamiken der Lebensphilosophie ........................................................................ 34 Konzepte der Pragmatischen Philosophie ............................................................. 37 3. Die großen Ideologien ........................................................................................ 41 Konzepte des Traditionalismus ............................................................................... 42 Modelle des Sozialismus ........................................................................................... 45 Leitideen der Romantik ............................................................................................ 46 Marxismus und Kommunismus .............................................................................. 51 Dynamiken des Nationalismus ................................................................................ 54 Entwicklungen des Antisemitismus ........................................................................ 57 Anfänge der Rassenlehre .......................................................................................... 60 Programme des Imperialismus ................................................................................ 62 4. Protestantische Lebenswelten ........................................................................... 65 Denklinien der Theologen ....................................................................................... 65 Die Kraft der Erweckungsbewegungen .................................................................. 68 Theologische Konzepte und Denkmodelle ............................................................ 70 Soziale und politische Entwicklungen .................................................................... 73 Kirchenpolitik im Deutschen Kaiserreich .............................................................. 78 England, Skandinavien, Nordamerika .................................................................... 79

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Inhalt

5. Katholische Lebenswelten .................................................................................. 85 Die Kirche zur Zeit Napoleons ................................................................................ 85 Neuorganisation der Seelsorge ................................................................................ 86 Kultur des Laienchristentums .................................................................................. 88 Lehren der Päpste und Bischöfe .............................................................................. 91 Lehren der Theologen ............................................................................................... 94 Südeuropa, Südamerika, Afrika .............................................................................. 97 6. Das östliche Christentum ................................................................................... 103 Missionarisches Bewusstsein der Orthodoxie ....................................................... 103 Geistige und politische Orientierung ..................................................................... 106 Religiöse Minderheiten im Zarenreich.................................................................... 107 Die russisch-orthodoxen Missionen........................................................................ 109 7. Politische Entwicklungen ................................................................................... 111 Die Napoleonische Zeit ............................................................................................ 111 Die neue Ordnung der Heiligen Allianz ................................................................ 113 Freiheitsbewegungen und restaurative Politik ...................................................... 116 Das Revolutionsjahr 1848 ........................................................................................ 118 Neue Bewegungen und Organisationen ................................................................. 121 Die nationalen Einigungen ...................................................................................... 122 Entwicklungen in Mittel- und Osteuropa .............................................................. 124 Konfliktlinien in West- und Mitteleuropa.............................................................. 126 Der nationale Imperialismus ................................................................................... 127 8. Naturwissenschaften und Technik ................................................................... 131 Allgemeine Erkenntnisse über die Natur ............................................................... 131 Entdeckungen der Physik und Chemie .................................................................. 132 Neue Erkenntnisse in der Medizin und Biologie .................................................. 135 Einsichten der Astronomie und Mathematik ........................................................ 137 9. Literatur und Dichtkunst ................................................................................... 141 Kognitive und emotionale Orientierungen ........................................................... 141 Themen der deutschen Literatur ............................................................................. 145 Themenkreise der romanischen Literatur............................................................... 146 England, Amerika, Skandinavien ............................................................................ 149 Russisch-slawische Literatur..................................................................................... 151 10. Baukunst, Malerei und Musik ......................................................................... 155 Die Malerei der Romantik ........................................................................................ 155 Realisten, Impressionisten und Symbolisten ......................................................... 156 Baukunst und Architektur ........................................................................................ 158 Musik und Tonkunst ................................................................................................. 161

Inhalt

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11. Jüdische Kulturwelten (Klaus S. Davidowicz) ............................................. 167 Deutschtum und Judentum ..................................................................................... 167 Reformjudentum ....................................................................................................... 172 Wissenschaft des Judentums .................................................................................... 176 Der „Wiener Ritus“ .................................................................................................... 180 Antisemitismus .......................................................................................................... 182 Zionismus ................................................................................................................... 187 Juden in den USA ...................................................................................................... 191 12. Islamische Kulturgeschichte (Karl Prenner) ................................................ 199 Das osmanische Reich .............................................................................................. 200 Indien unter britischer Herrschaft .......................................................................... 223 Der Iran unter der Herrschaft der Qadscharen ..................................................... 232 Kunst und Architektur .............................................................................................. 240 ANHANG Anmerkungen............................................................................................................. 243 Zeittabelle ................................................................................................................... 265 Weiterführende Literatur ........................................................................................ 269 Personenregister ....................................................................................................... 271

Einleitung Anton Grabner-Haider

Das 19. Jahrhundert hat eine starke wissenschaftliche, technische und politische Dynamik entwickelt, die Lebenswelt der meisten Menschen in Europa hat sich tiefgreifend verändert. Es wurden neue Verkehrsmittel (Eisenbahn) entwickelt und gebaut, es entstanden in kurzer Zeit große Industrieanlagen mit Heeren von Arbeitern. Die medizinische Forschung verbesserte die Lebensbedingungen der meisten Zeitgenossen. Gleichzeitig hat die militärische Rüstung unvorstellbare Zerstörungskräfte entwickelt, deren Wirkung die politisch Tätigen gar nicht verstehen konnten. Es entstanden neue Formen der Weltdeutung, wirksame politische Ideologien und veränderte moralische Orientierungen. Dieses Buch vertritt mit Absicht eine sehr breite Vorstellung von „Kultur“, weil es sich dem Interkulturellen Dialog verpflichtet weiß. Denn mit einem engen Verständnis von Kultur könnte dieser Dialog mit China, Indien, Japan, dem Islam oder Afrika gar nicht geführt werden. Deswegen versucht das Buch, einen konzentrierten Überblick über wichtige Lebensbereiche der Kultur zu geben: über wirtschaftliche und soziale Prozesse, über Denkmodelle und philosophische Weltdeutungen, über Erkenntnisse der Naturwissenschaften, im Besonderen der Physik, der Chemie, der Medizin und der Biologie, über die Entstehung und Entwicklung der großen Ideologien und der politischen Konzepte, über protestantische und katholische Lebenswelten und über die Kultur des östlichen Christentums. Religion wird dabei als Teilbereich der Kultur gesehen. Als Rahmenbedingungen des gesellschaftlichen Lebens werden die großen politischen Veränderungen nachgezeichnet. Dabei kommt ganz Europa in das Blickfeld mit seinen Bezügen zu Nordund zu Südamerika. Umfassend dargestellt werden auch die kulturellen und politischen Entwicklungen in den islamischen Ländern und die Kultur und Lebenswelt des Judentums in diesem Zeitabschnitt. Geistesgeschichtlich gesehen rangen in diesem Jahrhundert zwei gegensätzliche Kräfte und Strebungen miteinander. Die einen geistigen und politischen Kräfte wollten die Ziele und Erkenntnisse der europäischen Aufklärung maßvoll weiter entwickeln und voll entfalten. Daher wollten sie mehr Liberalität im Denken, in der Wirtschaft, in der Politik, in der Gesellschaft und im persönlichen Leben. Doch die anderen Kräfte hatten große Ängste vor den zerstörenden Potentialen der Französischen Revolution und folglich vor jeder gewaltsamen politischen Veränderung.

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Einleitung

Sie wollten daher mit allen Mitteln die aristokratische, autoritäre und repressive Ordnung im Staat und in der Gesellschaft aufrechterhalten. Am Ende des Jahrhunderts gerieten viele Länder in einen irrationalen Nationalismus, den sie mit imperialistischen Zielen verbanden. Die Vertreter der Religion unterstützten sie dabei, denn die Theologen sprachen von einem besonderen Auftrag der „göttlichen Vorsehung“ für die einzelnen Völker. Gleichzeitig wuchs in vielen Schichten die Angst vor den wirtschaftlich und geistig emanzipierten Juden, die jetzt fast alle Berufe ausüben durften. Es war auch die Angst vor der erwarteten politischen Gleichberechtigung der besitzlosen Bevölkerung und der Frauen. Zu dieser Zeit gab es noch in keinem Land ein Wahlrecht für Frauen, denn patriarchale Netzwerke und Männervereine wussten dies zu verhindern. Die meisten politisch Tätigen, aber auch die Philosophen und Theologen haben gar nicht erkannt, wie gefährlich ihre nationalistischen und imperialistischen Denkkonzepte waren. Denn fast alle geistigen und moralischen Vorarbeiten für die politischen Katastrophen im 20. Jahrhundert haben 30 bis 40 Jahre vor diesen begonnen. Die rationale Aufklärung und das kritische Denken sind in vielen Teilen Europas im 19. Jahrhundert schwer behindert und niedergedrückt worden, nur die Naturwissenschaften und die Technik konnten sich frei entwickeln. Daher gelang es den Kulturwissenschaften nicht, die potentiellen Zerstörungskräfte der Technik und der militärischen Hochrüstung ins Bewusstsein der Zeitgenossen zu heben und politisch zu zähmen. Die irrationale Angst vor den Kräften der Zerstörung wurde aber von sensiblen Zeitgenossen als „Dekadenz“ der alten Ordnungen beschrieben. Aus der großen zeitlichen Distanz können wir heute viele Entwicklungen und Dynamiken ohne emotionale Erregung und ohne nationale Vorurteile analysieren und betrachten. Vor allem, wir können aus erkannten kulturellen und politischen Fehlentwicklungen für heutige Zeitsituationen lernen, nicht ähnliche Fehlentscheidungen in neuen Zeitsituationen zu treffen. Die kritische Philosophie befähigt uns nämlich nachhaltig zu einem kritischen und realistischen Blick auf eine lange Epoche. In der Interkulturellen Philosophie sehen wir diese Zeitepoche Europas auch aus dem Blickfeld von Denkern aus China, Japan, Indien, dem Islam und aus Afrika. Denn viele Lernprozesse der europäischen Kultur müssen heute erst mühsam in anderen Kulturräumen der Welt gemacht und nachgeholt werden. Diese Einsicht macht den nachhaltigen Austausch der interkulturellen Erfahrungen dringlich, denn die Entwicklungen Europas im 19.Jh. sind heute in vielen Regionen der Erde noch immer aktuell und virulent. Graz, Sommer 2015

Anton Grabner-Haider

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Wirtschaftliche und soziale Prozesse

Die Lebenswelt des 19. Jh. wurde stark von den Erkenntnissen der Naturwissenschaften, der Physik, der Chemie, der Medizin, der Biologie und der angewandten Technik geprägt. Durch den Bau und den Einsatz von leistungsfähigen Maschinen veränderte sich für viele Menschen die Welt der Arbeit. Vor allem in den Städten entwickelten sich Handwerksbetriebe zu „Manufakturen“ weiter, später wurden daraus hoch effiziente „Industrien“. Durch den Einsatz von Maschinen wurde die Arbeitsleistung der Menschen enorm gesteigert, so konnten in kurzer Zeit große Massen an Gütern des täglichen Lebens erzeugt werden. Gleichzeitig wurden die Handelswege ausgebaut und die Handelsorganisationen international vernetzt. Am Anfang des Jh. erfolgte der Transport noch mit Pferdewagen und mit kleinen Schiffen, doch ab 1840 wurden über große Entfernungen Eisenbahnen gebaut und große Handelsschiffe aus Stahl konstruiert. Es wurden überschüssige industrielle Waren erzeugt, die auf neuen Märkten abgesetzt werden mussten. Auch die Rüstungsindustrie für große Kriege war maßgebend an den technischen Entwicklungen beteiligt. So waren die Kriege Napoleons ein starker Motor für die Konstruktion neuer Waffensysteme. Auf die politischen Umwälzungen durch diese Kriege folgte in der Zeit der politischen „Restauration“ eine längere Epoche der technischen und der wirtschaftlichen Entwicklung; manche sprechen von einer „industriellen Revolution“ in dieser Zeit. Dadurch wurden die Lebensbedingungen vieler Menschen stark verändert, vor allem in den Städten und größeren Märkten, aber kaum in den bäuerlichen Regionen. Doch große Teile der ländlichen Bevölkerung zogen in die Städte, um dort niedrig bezahlte Arbeit zu finden. Aber auch Teile der städtischen Handwerker und Lohnarbeiter suchten in den entstehenden Manufakturen und Industrien bessere Arbeit. Wir haben es kurzzeitig mit zwei Gruppen von Industriearbeitern zu tun, nämlich mit einer ländlichen Arbeiterschaft und mit einer bereits städtischen Bevölkerung. Eine Zeitlang waren diese in Konkurrenz miteinander, doch durch das große Angebot an Arbeitern blieb das Lohnniveau sehr niedrig und die Arbeitszeiten waren lang. So begann mit der industriellen Revolution auch eine gewisse „Verelendung“ von arbeitenden Menschen, wie es später Karl Marx formulierte.1

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Wirtschaftliche und soziale Prozesse

Industrialisierung der Arbeitswelt Die arbeitenden Menschen hatten auch vor der industriellen Revolution in den Städten und in den ländlichen Regionen auf einem niedrigen Niveau gelebt, aber sie waren nicht zusammengeballt zu großen Massen. Viele lebten fortan in engen, feuchten und ungesunden Wohnungen, ihre Kleidung war aus rauen Stoffen und ihre Ernährung war mangelhaft und entbehrungsreich. Doch mit der Gründung großer Fabriken und der regionalen Industrialisierung kam es zu einer Konzentration des Elends der Arbeiter. In der Nähe der Fabriken und an den Rändern der Städte wurden mangelhafte Wohnungen geschaffen, oft einfache Hütten aus Holz und Mauerwerk mit wenig Heizungsmöglichkeiten. Viele Menschen lebten dort zusammengepfercht auf engem Raum, die Hygiene war auf einem niedrigen Niveau. Das Wasser wurde aus Brunnen geholt, es gab kaum Wasserleitungen aus Holzrohren. Die Fäkaliengruben waren nahe bei den Wohnungen, sie wurden nicht regelmäßig entleert. Folglich gab es in den frühen Arbeitersiedlungen viele Infektionskrankheiten, das Durchschnittsalter der Menschen war niedrig, die Kindersterblichkeit hoch. Auch einfache medizinische Versorgung war kaum leistbar. Die frühen Unternehmer und Fabrikeigentümer zahlten ihren Arbeitern nur geringen Lohn, um hohe wirtschaftliche Gewinne zu erzielen. Arbeiten mussten Männer und Frauen und Kinder, um überleben zu können. Die Löhne reichten kaum für Kleidung, meist nur für die Nahrung, aber oft gab es Hunger und Unterernährung. Die Familien mussten möglichst viele Kinder haben und großziehen (Proletarier), um im Alter eine gewisse Versorgung zu haben. Die tägliche Arbeitszeit dauerte meist 14 bis 16 Stunden, je nach den jahreszeitlichen Lichtverhältnissen. Die Beleuchtung der Arbeitsräume war vor der Elektrifizierung ungenügend und oft feuergefährlich, sie geschah durch Petroleumlampen, Kerzen und Kienspäne. Es gab keine finanzielle Absicherung bei Arbeitsunfällen, bei Verletzungen oder Krankheiten, oft war die Arbeit an den Maschinen riskant und gefährlich. In manchen Industriestädten hatte sich die Einwohnerzahl in kurzer Zeit verdoppelt oder verdreifacht. Wegen der mangelnden Hygiene und Ernährung gab es viele Seuchen und ansteckende Krankheiten, vor allem die Tuberkulose war weit verbreitet.2 Durch die Industrialisierung zuerst in England und dann in den anderen Ländern Europas ging die ländliche Bevölkerung zurück. Denn viele Landarbeiter auf den Gütern der Adeligen und der Großgrundbesitzer, aber auch Kleinbauern mit wenig Erträgen strebten zu den Fabriken und in die Städte. Dadurch verödeten ländliche Regionen, viele Felder wurden nicht mehr bewirtschaftet. Daher drohte in manchen Städten oft eine Unterversorgung mit Nahrungsmitteln bzw. es kam zu Hungersnöten. In dieser Situation hatte der anglikanische Pfarrer und Ökonom Thomas Malthus (gest. 1834) ausgerechnet, dass die Erzeugung der Nahrungsmittel nur in der arithmetischen Progression zunehme, während die Bevölkerung in der geometrischen Progression wachse. Folglich müsse die Zahl der Kinder eingeschränkt werden, wenn es nicht zu großen Hungersnöten kommen sollte. In der Folgezeit lehnten die Anhänger des strengen Malthusianismus die staatliche Sozialfürsorge für die Armen ab, weil sie nur die hohe Fertilität und Kinderzahl fördere.3

Wirtschaftliche und soziale Prozesse

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Soziale Veränderungen und Lernprozesse In dieser Zeit gab es nicht wenige Untergangspropheten, welche große Hungersnöte und ein Massensterben durch Seuchen voraussagten. Manche Theologen sahen darin die gereche „Strafe Gottes“ für die Hybris der Menschen und für die Erfindung der Maschinen. Doch die große Mehrheit der Wirtschaftstreibenden und auch der Wirtschaftstheoretiker sahen mit Adam Smith auch große Chancen für das Leben der Menschen durch die liberale Form der Marktwirtschaft. Denn durch die gesteigerte Produktion an Waren steige auch langsam der materielle Wohlstand (prosperity) aller sozialen Schichten an. Und der Hunger der Bevölkerung könne abgewendet werden durch eine effiziente Landwirtschaft mit neuen Düngemitteln (Stickstoff und Kalium) und durch die Importe von Lebensmitteln aus Ländern mit einer starken Landwirtschaft. Zu dieser Zeit gab es auch in England noch die Sklaverei und den Sklavenhandel mit Afrika. Doch 1807 beschloss das englische Parlament, den Sklavenhandel zu beenden (Abolition Act of Slavery), ab 1834 galt dieses Gesetz für das ganze Britische Empire. Die Vereinigten Staaten von Amerika haben den Sklavenhandel und die Sklaverei erst 1865 beendet, Brasilien erst 1888.4 Die von ihren Herren frei gewordenen Sklaven konnten sich fortan frei ihre Arbeit suchen, viele von ihnen drängten nun ebenfalls in die Industrie. Doch die Vertreter einer liberalen Wirtschaft (Liberalismus) sahen vor allem die positiven Chancen, die mit der Industrie und der freien Marktwirtschaft verbunden waren. Daher glaubten die Pioniere der Technik, der Maschinen und der Industrie an den möglichen Fortschritt in der Zivilisation und Kultur. Sie wollten die staatlichen und die rechtlichen Institutionen schaffen, um die neue soziale Situation auf vernünftige Weise zu regeln. In Europa wuchs die Bevölkerung von 1800 bis 1900 von ung. 187 Millionen auf etwa 401 Millionen. Der weltweite Anstieg der Bevölkerung in diesem Zeitraum wird von Statistikern von 906 Millionen auf 1608 Millionen geschätzt.5 Nun hängt die Zunahme der Bevölkerung vor allem mit den Erkenntnissen der Medizin, mit der besseren Nahrung und mit gesünderen Wohnverhältnissen zusammen. Die gesteigerte Erzeugung von Nahrungsmitteln ließ den Hunger in Europa rapide sinken. Durch die Erfindung der Dampfmaschine, der Dampfturbine und der Dampfschiffe wurden neue Formen der technischen Energie und der Transporte möglich. Die wichtigsten Rohstoffe waren zu dieser Zeit die Steinkohle, die Braunkohle und die Eisenerze, sie waren die Voraussetzung für die Erzeugung von Maschinen und von technischen Geräten. Auch die Baumwolle war ein wichtiger Rohstoff, um den zwischen den Ländern sogar Handelskriege geführt wurden. Die industrielle Verarbeitung von Baumwolle löste sogar eine zweite Welle des Wirtschaftswachstums aus. Durch neue Maschinen, veränderte Anbautechniken und durch künstlichen Dünger wurden auch die Erträge der Landwirtschaft deutlich gesteigert. Im letzten Drittel des Jahrhunderts nahmen aber die Importe an Getreide und Rohzucker aus Übersee nach Europa stark zu, damit war bereits deutlich ein „Welthandel“ ausgebildet worden. Damit konnte der wirtschaftliche Wohlstand breiter Schichten der Bevölkerung ansteigen, doch gleichzeitig nahmen die sozialen Spannungen und Konflikte zwischen den Reichen und der ärmeren Bevölkerung zu.

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Wirtschaftliche und soziale Prozesse

Die merkantilistische Wirtschaftspolitik des 18. Jh. war vor allem auf die nationale Vermögensbildung ausgerichtet, im 19. Jh. wurden die nationalen Grenzen in der Wirtschaft und im Handel langsam gesprengt. Die Feudalherrschaft wurde in kleinen Schritten durch die staatliche Bürokratie und durch das aufstrebende und freie Bürgertum ersetzt. Die Zünfte wurden weitgehend aufgelöst, damit gab es Gewerbefreiheit, die alten ständischen Ordnungen lösten sich auf. In der Industrie kamen neue Maschinen zum Einsatz, so ab 1786 die Dampfmaschine von James Watt, bald danach das Spinnrad mit mehreren Spindeln, die mit Wasserkraft betriebene Spinnmaschine, der mechanische Webstuhl und die Webmaschine ab 1803. In England waren Lanconshire und Yorkshire die frühen Zentren der Textilindustrie. Auch die Eisenverarbeitung wurde durch Maschinen hoch effizient, dafür musste viel Steinkohle gefördert werden. In England wurden die Bauern weitgehend von ihren Grundherren befreit, dieser Prozess erfolgte in Mittel- und Osteuropa erst viel später. Doch die Industrie konnte meist unkontrolliert wachsen, sodass es regelmäßig zu Absatzkrisen für die erzeugten Güter kommen musste: 1825/26; 1836/37; 1846/47; 1857 und 1866.6 Zu dieser Zeit schlossen sich die Fabrikarbeiter zu ersten Vereinen und Kampfgruppen zusammen, um bessere Bezahlungen und Arbeitsbedingungen zu erreichen. Oft kam es zu sozialen Unruhen und zu blutigen Zusammenstößen mit der Polizei, „Maschinenstürmer“ wollten den Einsatz von Maschinen aufhalten. Ab 1824 waren in England die Zusammenschlüsse von Arbeitern gesetzlich erlaubt, ab 1847 wurde dort die tägliche Arbeitszeit für Frauen und Jugendliche auf 10 Stunden begrenzt. Drei Jahre später galt diese Regelung auch schon für Männer. Doch die Arbeiter hatten zu dieser Zeit noch keine überregionalen Vereinigungen oder Gewerkschaften. Bei der Wahlrechtsreform von 1832 erhielten die Städte mehr Vertreter im Parlament, nicht aber die Kleinbürger und die Arbeiter. Daher schlossen sich diese beiden Gruppen zur Bewegung der „Chartisten“ (Magna Charta) zusammen, um mehr politische Rechte zu erstreiten. In dieser Zeit gelang es, den Lebensstandard der meisten Arbeiter zu heben. Nach der Wirtschaftskrise von 1857 erfolgte ein Aufschwung der Gewerkschaften, die sich nun überregional zusammenschlossen. Aus ihnen wurde später die politische Partei der Arbeiter (Labour Party). Die sozialen Entwicklungen in Kontinentaleuropa hinkten den politischen Lernprozessen in England stark nach, weil auf dem Kontinent die Hinterlassenschaften der Feudalzeit ungleich stärker waren. Die englischen Schiffe beherrschten zu dieser Zeit die Weltmeere und damit die Einfuhr von Rohstoffen aus fremden Kontinenten. Die gezielte Kolonialpolitik unterstützte die Industrialisierung und die Kapitalisierung der Wirtschaft. Mit der staatlichen Sozialgesetzgebung ab 1857 mischte sich die Politik stärker in das Geschehen der Wirtschaft ein. Der Freihandel löste nun die alten Schutzzölle ab, was zu einer starken Intensivierung der Wirtschaftsleistungen führte. Die Eisenbahnen wurden von privaten Gesellschaften finanziert, doch die Streckenführung wurde von der Politik mitbestimmt. Die Eisen- und Stahlindustrie, der Maschinenbau und die Metallverarbeitung verzeichneten hohe Wachstumsraten. Zu den staatlichen Rahmenbedingungen der Wirtschaft gehörten die Stabilität der

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Währung, das Gleichgewicht in den Staatsfinanzen und die großen Goldreserven. Aus den Kolonien kam viel Gold nach England, seit 1844 hatte die „Bank of England“ das Privileg der Ausgabe von Banknoten. Die staatliche Bürokratie passte sich sehr schnell den neuen Bedürfnissen der Wirtschaft an.7 Die wirtschaftliche Entwicklung in Frankreich war gegenüber England stark verzögert. Das hing auch mit den politischen Revolutionen von 1789, von 1830, von 1848 und von 1871 zusammen, in denen wirtschaftliche Neuordnungen nötig wurden. In Frankreich lebten noch viel mehr Menschen in der Landwirtschaft als in der Industrie, die meisten Bauern bewirtschafteten Kleinbetriebe und Pachtgüter, oft war ihre Überschuldung hoch. Das gemeinsame Feindbild der Bauern und der Industriearbeiter waren bald die Banken und die Börsen, aber auch die staatliche Bürokratie. Das Zweite Kaiserreich (1849 bis 1870) brachte einen wirtschaftlichen Aufschwung, die Eisenbahn wurde über das ganze Land ausgebaut, dadurch wurden weit entfernte Märkte erreichbar. Joseph Caillaux hatte als Minister eine Einkommensteuer eingeführt und die Finanzgesetze modernisiert. Ab 1860 wurden die Importzölle abgebaut, Frankreich öffnete sich dem internationalen Freihandel. In der Dritten Republik (ab 1871) gingen die industriellen Entwicklungen weiter, die Arbeiter schlossen sich zu nationalen und internationalen Arbeitervereinen zusammen. Im März 1871 erhob sich die Pariser „Kommune“ als Bürgerwehr gegen die aristokratische Bürokratie. Sie erreichte ein allgemeines Wahlrecht für Männer, die Wahl der Beamten, die Begrenzung der Beamtengehälter, die Absetzbarkeit von unfähigen Beamten, sowie die Trennung der Kirche von der Schule. Die Verwaltung sollte fortan von der gewählten Volksvertretung kontrolliert werden. Die Arbeiterbewegung aber spaltete sich in einen gemäßigten und einen radikalen Flügel, zu ihren neuen Feindbildern gehörten nun die Großbanken, sowie die „Finanz- und Börsenjuden“. Denn die Juden hatten in Frankreich fast alle Rechte und Pflichten im Staat erreicht, sie waren in den Banken und als Zeitungsherausgeber stark engagiert. Deswegen entstand in Teilen der Bevölkerung eine starke antisemitische bzw. antijüdische Stimmung.8 Auch die wirtschaftliche und soziale Entwicklung in den deutschen Ländern verlief zeitverzögert gegenüber England. Die vielen Kleinstaaten und die großen Staaten setzten in der Wirtschaft unterschiedliche Schwerpunkte. In den meisten süddeutschen Ländern wurden die Bauern von den Grundherren befreit, aber sie bewirtschafteten meist nur kleine Flächen. Viele Bauern waren überschuldet, deswegen wanderten viele nach Nordamerika aus. In Preußen erfolgte die Befreiung der Bauern ab 1810, nur in Ostpreußen blieben die großen Gutsbetriebe bestehen. Die Industrialisierung konzentrierte sich auf die Regionen, wo es Steinkohle und Eisen gab (Schlesien, Ruhrgebiet). Die Gewerbefreiheit wurde bald nach den Napoleonischen Kriegen erreicht. Ein starker Motor der wirtschaftlichen Entwicklung war der „Deutsche Zollverein“ ab 1834, der erstmals ein einheitliches Wirtschaftsgebiet und einen großen Markt für Güter schuf. Durch den Bau von Eisenbahnen ab 1840 erreichte die Industrie neue Dynamik, in 60 Jahren wurden 61.000 km Eisenbahn gebaut. An den Standorten der Schwerindustrie entstanden bald große Wirtschaftskonzerne.

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Wirtschaftliche und soziale Prozesse

Die Bevölkerung des Deutschen Reichsgebietes von 1871 wuchs in 100 Jahren von 25 auf 65 Millionen. Durch die Industrialisierung entstanden viele Großstädte, am Ende des Jahrhunderts lebten nur noch 30% der Bevölkerung in ländlichen Regionen. Die Industriearbeiter kamen von den Handwerksbetrieben und von den Bauern, sie vereinigten sich zu verschiedenen Organisationen, zu Selbsthilfevereinen und zu Gewerkschaften. 1869 wurde vom Drechslermeister August Bebel die Sozialdemokratische Partei gegründet. Einige Jahre vorher war der Allgemeine Deutsche Arbeiterverein initiiert worden. Aber durch die Wirtschaftskrise von 1873 wurden die liberalen Kräfte in der Politik deutlich geschwächt, diese wandten sich in der Folgezeit den nationalistischen, den imperialistischen und auch den antisemitischen Bewegungen zu.9 Im Deutschen Reich begannen die staatlichen Sozialgesetze für Arbeiter unter dem Reichskanzler Otto von Bismarck ab 1883, sie hatten viele Forderungen der Arbeitervereine erfüllt. Dazu zählten die Versicherung der Arbeiter im Krankheitsfall und im Alter, höhere Reallöhne, ausreichende Ernährung, gesündere Wohnungen, medizinische Versorgung, der Zugang zur Bildung, die Sonntagsruhe und der Lohnschutz bei Firmenkonkurs. Damit wurde das Deutsche Reich für ganz Europa führend in der Sozialpolitik, gleichzeitig entwickelte es sich zum stärksten Industrieland. Durch die Eisenbahn und den Bau von großen Handelsschiffen fand das Deutsche Reich den Anschluss an den Welthandel, es hatte seine Absatzmärkte auf allen Kontinenten. Freilich wurde dieses wirtschaftliche Erstarken bei den Eliten der Gesellschaft bald mit imperialistischen Ideen verbunden. Der noch junge Nationalstaat suchte nach Kolonien in Afrika und nach neuer politischer Geltung in Europa und in der ganzen Welt. Viele technische Erfindungen wurden nicht nur zur Erzeugung von Gebrauchsgütern benutzt, sie spielten in der militärischen Rüstung eine große Rolle. Die Erfindung der Elektrizität, der Telegraphie und des Telefons beschleunigte die wirtschaftliche und die soziale Entwicklung. Ab 1885 wurden bereits Verbrennungsmotoren für Kraftwagen eingesetzt, zehn Jahre später begann damit eine neue Dynamik der industriellen Entwicklung. Der Politik war es gelungen, die Mehrheit der Arbeiter in den neuen Staat zu integrieren. Die meisten von ihnen waren stolz auf ihre Leistungen, sie wussten sich mit ihren Betrieben eng verbunden. Damit war eine politische Radikalisierung in den großen Arbeiterparteien (z.B. Sozialdemokratie) nicht mehr möglich. Auch die Unternehmer begannen, sich in großen Verbänden zusammenzuschließen, um ihre wirtschaftliche Effizienz zu erhöhen. Zu dieser Zeit mangelte es jedoch nicht an nationalistischen Ideologen, die lauthals verkündeten, das Deutsche Reich habe zu wenig „Lebensraum“, und außerdem habe es eine große „Sendung“ vor allem für Mittel- und Osteuropa.10 So entwickelten sich die Wirtschaft, die Wissenschaft und die Gesellschaft in den Ländern Europas in unterschiedlichen Geschwindigkeiten. In Westeuropa kamen die Prozesse der Modernisierung ohne große Abbrüche ziemlich schnell voran. In Mittel- und Südeuropa wurden die Entwicklungen stark gebremst, weil sich die aristokratischen Gesellschaften lange Zeit gegen tiefgreifende Veränderungen wehrten.

Wirtschaftliche und soziale Prozesse

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In Osteuropa wurden die Entwicklungen von repressiven Formen der Herrschaft und von den Lehren der orthodoxen Kirchen stark behindert.11 So verliefen die wirtschaftlichen und sozialen Entwicklungen in den Ländern Europas in unterschiedlicher Weise und mit verschiedener Geschwindigkeit. Die treibenden Kräfte dieser Entwicklungen waren zuerst in Westeuropa, vor allem in England, in Frankreich und in Holland. Sie sprangen von dort bald auf die Länder Mitteleuropas und Nordeuropas über. Viel langsamer kamen diese Prozesse in Süd­ europa voran (Italien, Spanien, Portugal und Griechenland). Und stark zeitversetzt verliefen diese Prozesse in Osteuropa, in Russland und in den Ländern des Balkans. Freilich hingen diese Entwicklungen immer mit den unterschiedlichen politischen Gegebenheiten zusammen. Es waren vor allem die neuen Erkenntnisse der Naturwissenschaften und damit zusammenhängend die neuen Erfindungen und Entdeckungen in der Technik, die zu tiefgreifenden Veränderungen der Gesellschaften führten. Viele Menschen zogen von ländlichen und bäuerlichen Regionen in die schnell anwachsenden Städte und Großstädte, um dort bezahlte Arbeit zu finden. In dieser Zeitepoche kam es zur Beendigung des Sklavenhandels und zur Aufhebung der Sklaverei, später zur Befreiung der unfreien Bauern von ihren adeligen Grundherren. Die politischen Gewichte verlagerten sich von den Adeligen und vom höheren Klerus hin zum aufstrebenden Besitz-Bürgertum, erst später zu den besitzlosen Arbeitern und Kleinbauern.12 Wir sehen große soziale Unterschiede zwischen den Bevölkerungsgruppen, die nur geringfügig vermindert werden konnten. Politisch rangen aristokratisch und autoritär regierte Staaten mit konstitutionellen Monarchien und mit parlamentarischen Demokratien. Die Bevölkerung nahm in allen Ländern stark zu, auch dank der Erkenntnisse der modernen Medizin, durch verbesserte Wohnbedingungen und durch gesündere Ernährung. Doch in vielen Regionen Europas gab es in diesem Jh. noch bittere Armut und Hungersnöte, viele Menschen mussten aus Europa nach Nord- und nach Südamerika auswandern, um überleben zu können. Die politischen Entwicklungen verliefen unterschiedlich, es gab Kriege und Revolutionen, doch es gab auch längere Zeiten der friedlichen Entwicklung und der politischen und der wirtschaftlichen Stabilität. Diese sozialen und wirtschaftlichen Prozesse sollen nun im Kontext von Ideen und von Ideologien, von Wissenschaft und Kultur, von Religion und Weltdeutung näher beleuchtet werden.13

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Dynamiken der philosophischen Ideen

In der Philosophie des 19. Jh. wurden viele Denkimpulse der rationalen Aufklärung vor allem in den angelsächsischen Ländern weitergedacht und fortgeführt. Doch in Mittel- und Osteuropa fand eine große Abkehr von den Ideen und Zielvorgaben der kritischen Vernunft statt. Durch den Schock der Französischen Revolution und die Eroberungskriege Napoleons verbreiteten sich dort wieder massiv die geistigen Kräfte des Traditionalismus, des emotionalen Denkens und der Gegenaufklärung. Gewiss spiegelte die Schulphilosophie an den Universitäten immer auch das politische System der einzelnen Länder. In den angelsächsischen Ländern gab es in Ansätzen bereits demokratische Staatsformen, in Frankreich und Holland wurde intensiv darum gerungen. Doch in Preußen, in Österreich und in Russland war die „Heilige Allianz“ der konservativen Kräfte über mehrere Generationen hin kulturbestimmend. Dort waren das freie und das kritische Denken durch strenge Zensur nachhaltig eingeschränkt. Die Aufklärung hatte nicht die Zeit gehabt, sich unter den gebildeten Schichten nachhaltig und bleibend zu verbreiten. In Mittel- und Osteuropa verordnete die restaurative Politik an den staatlichen Universitäten ein konservatives Denken. In den katholischen Ländern wurde wieder auf die neuscholastische Philosophie des Thomas von Aquin zurückgegriffen, welche die von Gott eingesetzte Herrschaft jederzeit rechtfertigte. Viele der gebildeten Zeitgenossen glaubten zu Beginn des 19. Jh. noch an den stetigen Fortschritt des Wissens, der Wirtschaft und der Politik, der Gesellschaft und der Kultur. So hatte der Franzose Antoine de Condorcet (gest. 1794) bereits 1790 einen „Entwurf einer historischen Darstellung des Fortschritts des menschlichen Geistes“ veröffentlicht.1 Darin drückte er die starke Überzeugung aus, dass die menschliche Gesellschaft durch vermehrtes Wissen auch zu mehr Lebensglück für alle Menschen führen werde. Zu Beginn der Revolution hatte er einen Katalog der allgemeinen „Menschenrechte“ (droits de l´homme) veröffentlicht, welcher die Grundlage einer staatlichen Verfassung (constitution) sein sollte. Zu diesen allgemeinen Rechten zählte er die persönliche Freiheit aller männlichen Bürger, die Gleichheit der Bürger vor dem Gesetz, die Sicherheit des Lebens, das Recht auf Eigentum und das Recht auf Widerstand gegen eine ungerechte Regierung. Jeder Bürger sollte seine berufliche Tätigkeit entsprechend seiner Begabung frei ausüben können.2

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Dynamiken der philosophischen Ideen

In der Frage des privaten Eigentums bildeten sich zwei konträre Denklinien heraus. Für die liberalen Denker der Ökonomie (nach Adam Smith) war immer die Effizienz eines Wirtschaftssystems entscheidend. Deswegen sollte im aufgeklärten und vernünftigen Staat das freie Verfügungsrecht über das private Eigentum beibehalten und sogar verstärkt werden. Denn nur damit könnte die größte wirtschaftliche Effizienz im Staat erreicht werden, von der alle Bürger dann einen Nutzen haben. Doch für die sozialistischen Denker (Francois Babeuf, Gabriel de Mably) sollten in der Wirtschaft des Staates primär moralische Gesichtspunkte gelten. Die Wirtschaft sollte nicht den größten Nutzen des Einzelnen anstreben, sondern die „Versittlichung“ der Bürger zum Ziel haben. Für sie ging es um die moralische Sensibilität aller für die Armen und Schwächeren. Dabei beriefen sich beide Denklinien auf das alte scholastische „Naturrecht“. Für die einen gab es von der Natur her deutliche Unterschiede in der Begabung, in den praktischen Fähigkeiten und folglich auch im Erwerb und Besitz von Gütern. Für die Sozialisten war der Besitz von Gütern von der Natur her allen Menschen gemeinsam gegeben, nur so könnten sie ihre gleichen Rechte verwirklichen.3 Nun hatte die Französische Revolution bei vielen Intellektuellen und Gebildeten in Europa wegen ihrer Grausamkeit und der vielen Menschenopfer einen tiefen Schock und in der Folge dauerhafte Ängste ausgelöst. Schon 1790 hatte der Engländer Edmund Burke geschrieben, die gesellschaftliche Ordnung sei langsam gewachsen, sie verdiene daher Respekt und dürfe nicht mutwillig zerstört werden (Betrachtungen über die Französische Revolution). Ähnlich argumentierte der Franzose Joseph de Maistre in seinen „Betrachtungen über Frankreich“ (1794). Auch er war betroffen von der plötzlichen Auflösung der alten Ordnung. Die christliche Welt brauche wieder eine höchste moralische Autorität, das könne nur der Papst in Rom sein (Über den Papst, 1807).4 Der Graf Rene de Chateaubriand wollte nun auf den christlichen Moralwerten eine neue Gesellschaft und Kultur aufbauen (Geist des Christentums, 1802). Denn diese Moralwerte seien durch die Revolution nicht zerstört worden, sie müssten nur in unverfälschter Weise von neuem verwirklicht werden.5 An ein erneuertes Christentum dachte zu dieser Zeit auch der Sozialist Claude de Saint Simon, denn er wollte auf den christlichen Prinzipien des altruistischen Handelns eine neue und gerechte Gesellschaft aufbauen. Vor allem in Frankreich wurde also nach umfassenden moralischen und politischen Erneuerungen gesucht.6

Denklinien der idealistischen Philosophie Anders war die politische Situation in den deutschen Ländern und in Russland, dort wurde die Revolution vor allem als Bedrohung der eigenen Kultur gesehen. In der deutschen Schulphilosophie wirkten zwar die Lehren von Immanuel Kant noch längere Zeit nach, doch sie wurden stark modifiziert. Viele Philosophen wandten sich aber sehr schnell vom kritischen Denken der Aufklärung ab, sie suchten ihre

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Orientierung wieder bei alten Denkmodellen, vor allem in der Metaphysik Platons. Auch die Theologie Martin Luthers wirkte nun stark in die Schulphilosophie hinein. So hatte Johann Gottlieb Fichte (gest. 1814) zuerst lutherische Theologie studiert, bevor er sich mit Fragen der Philosophie befasste. In der Folge wollte er den Gott der Bibel mit der unveränderlichen moralischen Weltordnung gleichsetzen. Mit seinen „Reden an die deutsche Nation“ (1808) wollte er die deutsche Kultur auch politisch stärken, denn die deutsche Sprache sei eine Ursprache der Menschheit. Er wollte die sittliche und die politische Freiheit verbinden, die er Autonomie nannte. Aber um autonom handeln zu können, müssen sich die Menschen an festen Ideen orientieren. Nun verdanke die deutsche Philosophie ihre innere Kraft der Ursprünglichkeit der deutschen Sprache, sie öffne sich dem Übersinnlichen und dem Metaphysischen. Doch damit habe sie einen Auftrag für die ganze Menschheit zu erfüllen. Sie gehe nämlich fest von einem göttlichen Leben aus und glaube an ein absolut „Ursprüngliches“ in jedem Menschen.7 Gleichzeitig radikalisierte J.G. Fichte die These von I. Kant, dass alle unsere Erfahrungsinhalte von den erkennenden Subjekten abhängig sind. Folglich kam er zur Überzeugung, dass alle Gegenstände unserer Erfahrung ausschließlich von unserem „Ich“ abhängen. Der Grund unserer Erfahrung liege immer in der Tätigkeit des menschlichen Geistes, das menschliche Ich sei immer das erste Prinzip einer Theorie der Erfahrung. Nun setze das denkende Ich zuerst sich selbst, danach setze es in einem zweiten Denkschritt das Nicht-Ich. Und in einem dritten Schritt strebe es zur Aufhebung der beiden ersten Setzungen bzw. Gegensetzungen. Mit dieser Wissenschaft über die Erfahrung wollte J.G. Fichte die menschliche Erkenntnis begründen. In seiner späteren Wissenschaftslehre bezog sich J.G. Fichte direkt auf das „Absolute“, das in jedem Menschen als unendlicher Wille wirksam sei. Daher sei jedes menschliche Wissen abhängig vom ewigen Willen des göttlichen Weltschöpfers, denn die ganze Wirklichkeit sei auf dieses Absolute (Gottheit) bezogen. Damit hatte J.G. Fichte die Schulphilosophie wieder mit der lutherischen Theologie verbunden, denn er übersetzte nun die christliche Glaubenslehre wieder in die idealistische Philosophie Platons. Daraus folgerte er, alles Sein sei ein Wissen, doch das Absolute könne nicht mehr in der begrifflichen Sprache und im rationalen Denken dargestellt werden. Dieses Absolute und Ewige sei nur in der unmittelbaren „Anschauung“ zu erfassen. Dieses Denkmodell erinnert stark an die Sprache der neuplatonischen und der christlichen Mystiker. Denn J.G. Fichte war davon überzeugt, die Philosophie müsse auf die absolute Einheit des Anfangs blicken, damit sie in den vielen Einzelwissenschaften die naturalistische und die materialistische Sichtweise abwehren könne.8 Die menschliche Freiheit bzw. Autonomie bestehe in der Unabhängigkeit von der Natur. Deswegen führe uns eine hedonistische und eudaimonistische Moral in unserer praktischen Lebensgestaltung nicht weiter. Wohl müsse jeder Mensch nach seinem Gewissen leben, doch sei das Gewissen das Bewusstsein von den sittlichen Pflichten jedes Einzelnen. Immer gehe es im menschlichen Leben darum, die menschliche Natur unter die Leitung der sittlichen Vernunft zu zwingen. Deshalb sei die Rechtsordnung im Staat immer an die Regeln der Sittlichkeit gebunden. Der

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„Sozialkontrakt“ im Staat gebe jedem Menschen das ursprüngliche Recht, sein Leben zu erhalten und es im Rahmen der sittlichen Gesetze zu gestalten. Das private Eigentum sei ein Recht auf die Ausübung einer Tätigkeit, aber nicht das Recht auf Verfügung über Sachen und Güter. Die Freiheit des Einzelnen werde immer eingeschränkt durch das gemeinsame Ziel der Gerechtigkeit, das in jedem Staat angestrebt werden müsse. Die Freiheit und die Autonomie des Einzelnen bestehen aber im Gehorsam gegenüber den Gesetzen, welche von der Gemeinschaft beschlossen worden sind.9 Im Verlauf des 19. Jh. wurde J.G. Fichte immer mehr zu einem Vordenker des deutschen Nationalismus. Denn er wollte nach der Niederlage Preußens gegen Napoleon (1806) mit seinen „Reden an die deutsche Nation“ allen Deutschen ein neues Selbstwertgefühl geben, das religiös unterfüttert wurde. Die deutsche Philosophie sei eng mit der deutschen Sprache verbunden, diese aber sei eine Ursprache der Menschheit. Aus dieser Ursprünglichkeit kämen die starken Kräfte der deutschen Philosophie und Religion. Die Reformation Luthers habe das Christentum mit tiefen Inhalten erfüllt, seither sei die deutsche Philosophie offen für das Übersinnliche und Ewige. Sie erfülle damit einen Auftrag für die ganze Menschheit, denn sie gehe immer von dem einen und reinen göttlichen Leben aus. Sie glaube an ein absolut Erstes und Ewiges in jedem Menschen, an die Freiheit und an die moralische Verbesserungsfähigkeit der Menschen, sowie an das ewige Fortschreiten der deutschen Kultur. Alle deutsch sprechenden Menschen sollten sich als eine Nation fühlen und dem idealistischen Denken folgen. Auch Friedrich Wilhelm Joseph Schelling (gest. 1854) hatte lutherische Theologie im Stift zu Tübingen studiert, bevor er sich der Schulphilosophie zuwandte. Er wollte in deutlicher Abgrenzung zu I. Kant die spekulative Philosophie wieder erneuern. Daher versuchte er, die gelernten religiösen und theologischen Lehren mit einer pantheistischen Weltsicht eines Baruch Spinoza und einer spekulativen Naturphilosophie zu verbinden. Denn er wollte nicht wie J.G. Fichte die Natur als Hervorbringung eines subjektiven „Ich“ sehen, sondern er war gewillt, die Eigenständigkeit der Natur voll zu bewahren. In seinem „System des transzendentalen Idealismus“ (1800) wollte er die Ich-Philosophie und die Natur-Philosophie als komplementäre Denkbewegungen darstellen. Mit dem Kreis der Romantiker in Jena (Brüder Schlegel, F. Schleiermacher, Novalis, L. Tieck) sah er in der Gottheit den gemeinsamen Grund sowohl unseres Denkens, als auch unserer realen Wirklichkeit. Die Vielheit der Dinge und Wesen könnten wir nur vor dem Hintergrund einer absoluten Einheit aller Dinge und Wesen verstehen.10 Daher wollte F.W.J. Schelling in seiner Philosophie von der Wissenschaftslehre zur Naturphilosophie fortschreiten. Das menschliche Ich sei keine metaphysische Substanz, sondern ein Prozess, eine Tätigkeit und ein Streben nach Freiheit und Autonomie; es habe damit einen praktischen Charakter. Im organischen Bereich des Lebens bestehen viele Relationen von Zwecken und von Mitteln, die aber nicht vom menschlichen Geist erzeugt werden. Folglich weise uns die gesamte Natur auf ein geistiges Prinzip zurück, das ihr zugrundeliegen müsse. Von uns selbst wissen wir Menschen durch die intellektuelle „Anschauung“, aber auch vom Absoluten haben

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wir eine gewisse Anschauung. Denn die Gottheit sei absolute geistige Tätigkeit in ständiger Entwicklung. Von der Theologie her kannte F.W.J. Schelling die Lehre von der Selbstentäußerung (kenosis) Gottes (Phil 2,5–11) in der Person Jesu Christi. Dieses theologische Denkmodell aus Alexandria übertrug er nun auf seine spekulative Lehre von der Natur. Damit lehrte er, in der ganzen Welt geschähe der Prozess der Selbstentäußerung des Absoluten bzw. der Gottheit. Dieses Göttliche entäußert sich schrittweise in der gesamten Wirklichkeit, folglich müsse die Gottheit selbst als ein Prozess und als reine Tätigkeit verstanden werden.11 Daher sei das Absolute der gemeinsame Grund des Geistigen und des Materiellen, in ihm seien das Subjekt und das Objekt, aber auch die Freiheit und die Natur vereinigt. Diese neuplatonische Lehre (Proklos von Athen, Nikolaus von Kues) hat F.W.J. Schelling in seinem System des „transzendentalen Idealismus“ sein Leben lang entfaltet. Die ursprüngliche Identität von Subjekt und Objekt lasse sich am besten mit den Mitteln der Kunst und mit der Lehre der Ästhetik darstellen. Dabei aber gehe die idealistische Philosophie in vielen Bereichen in Poesie und Dichtung über, denn nur in der Dichtkunst lassen sich die letzten Wahrheiten ausdrücken. Jede Weltinterpretation müsse davon ausgehen, dass in der materiellen Welt immer Geistiges gegeben sei. Angeregt durch den Mystiker Jakob Böhme sah F.W.J. Schelling das Werden der Welt als den großen Entwicklungsprozess der Gottheit bzw. des Absoluten. Gott werde sich im Weltprozess ständig mehr seiner selbst bewusst. Doch die Ideen des göttlichen Selbstbewusstseins lösen sich von der Gottheit ab, sie verselbständigen sich und bilden dann den Kosmos und die reale Wirklichkeit. Doch dieser Übergang von der geistigen Gottheit zur materiellen Welt sei ein „Abfall“ und ein „Sprung“. In dieser Weltdeutung erkennen wir deutlich die Denkmodelle des Neuplatonismus und der antiken Gnosis.12 Später unterschied F.W.J. Schelling noch zwischen der Gottheit selbst und dem „dunklen Urgrund“ bzw. „Ungrund“ in ihr. Folglich nahm er an, dass sich die Gottheit selbst aus einem dunklen Urgrund heraus entwickelt. Sie habe Sehnsucht nach dem Ewigen und Einen, um sich selbst zu „gebären“. Aus heutiger Sicht ist es erstaunlich, wie solche religiöse und mythische Lehren als Philosophie rezipiert werden konnten. F.W.J. Schelling glaubte, diese göttliche Sehnsucht sei ein vom Verstand nicht erleuchteter Wille, der aber bereits die Begierde nach dem Licht des Verstandes in sich trage. Daher sei das Verstandlose und Irrationale in uns Menschen der letzte und unbegreifliche Rest aller Wirklichkeit. Die Gottheit erzeuge zuerst eine Vorstellung von sich selbst, diese Vorstellung sei das göttliche Wort (Logos). Demnach sei der letzte Urgrund unserer gesamten Wirklichkeit nicht die ewige Vernunft, sondern ein unvernünftiger Wille. Damit hatte sich F.W.J. Schelling voll den Lehren der neuplatonischen Mystik angeschlossen, und er hatte sich von den Intentionen der kritischen Philosophie und der rationalen Aufklärung fast vollständig abgewandt.13 Die Gottheit sei also nicht von Anfang an fertig, sondern auch das göttliche Leben beginne mit einem Zustand der Bewusstlosigkeit. Doch im langen Prozess der Bewusstwerdung Gottes werde die anfängliche Dunkelheit überwunden, das Helle trenne sich nun vom Dunklen ab, dies sei der Anfang der Welterschaffung. Damit

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vollziehe sich im Prozess der Weltentstehung die Selbstwerdung Gottes. Zuerst seien die Menschen mit der Gottheit eng verbunden gewesen, doch später hätten sie sich von ihr „entfremdet“ – das ist die theologische Lehre von der Erbsünde. Aber in der menschlichen Geschichte müsse diese Entfremdung wieder aufgehoben werden. Hier übersetzte der Theologe F.W.J. Schelling die christliche Erlösungslehre und die Sprache der neuplatonischen Philosophie und der mystischen Theologie. Die Offenbarung sei die Enthüllung des göttlichen Lichts, das in der Welt immer schon wirksam sei. Daher steige die negative Philosophie (via negativa) immer von der empirischen Welt zur höchsten Gottheit auf, während die positive Philosophie (via positiva) den umgekehrten Weg gehe und von der Gottheit zur Menschenwelt absteige.14 Mit dieser Absage an die kritische Philosophie der rationalen Aufklärung kam wieder das „dunkle“ Denken der Mystik und der Spekulation in die deutsche Schulphilosophie, später auch in die Philosophie der Privatgelehrten (z.B. A. Schopenhauer). Nach dieser Lehre kann die letzte Wirklichkeit nur auf intuitive und mystische Weise erfasst werden, und sie kann in den Formen der Kunst am besten zum Ausdruck gebracht werden. Daher habe die ästhetische Vernunft immer den Vorrang vor der theoretischen und der praktischen Vernunft. Genau diese Lehren wurden im 19. Jh. weiter entfaltet, sie wurden vor allem im 20. Jh. von Martin Heidegger und seiner großen Denkschule übernommen. Damit ging die deutsche Schulphilosophie einen geistigen „Sonderweg“ seit dem Beginn des 19. Jh., dieser Sonderweg dauerte für viele Philosophen bis ins letzte Drittel des 20. Jh. Denn der lange Abschied von Martin Heidegger und vom idealistischen Denken fiel vielen deutschen Philosophen enorm schwer.15

Theologische Denkmodelle Diese theologischen Denkmodelle kamen auch in der Philosophie des Georg Fried­ rich Wilhelm Hegel (gest. 1831) voll zum Tragen. Auch er hatte in Tübingen lutherische Theologie studiert und sich danach der Schulphilosophie zugewandt. Auch er übersetzte theologische Begriffe ständig in die Sprache der idealistischen Philosophie. Denn wo er bisher „Gott“ gesagt hatte, dort sprach er nun vom ewigen „Weltgeist“. Dieser sollte nun alles in der Welt und Wirklichkeit leiten und lenken. Doch zunächst relativierte er die scharfe Trennung zwischen dem Endlichen und dem Unendlichen, zwischen dem Ewigen und dem Zeitlichen. Denn immer schon sei das Ewige im Zeitlichen wirksam und gegenwärtig. Mit I. Kant unterschied er zwischen den Fähigkeiten des Verstandes und der Vernunft. Mit dem Verstand analysieren wir die Dinge und Gegenstände unserer Welt, doch mit den Kräften der Vernunft erfassen wir die Wirklichkeit auf eine ganzheitliche Weise. Daher sei die Wissenschaft die Sache des Verstandes, das spekulative Denken aber sei die Aufgabe der Vernunft. Der Theologe G.F.W. Hegel sah fortan die menschliche Geschichte als den Prozess der Verwirklichung der ewigen Ideen, von denen Platon gesprochen hatte.16 Die Gottheit und die Welt seien in einem „dialektischen“ Verhältnis zu einander. So wie kein Subjekt ohne ein Objekt existieren könne, so könne auch die Gott-

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heit nicht ohne die Welt und den Kosmos existieren. Daher sei die Gottheit kein selbstgenügsames Wesen, sondern sie sei immer auf die Welt und die Menschen hinbezogen. Die Totalität der Wirklichkeit könne vom menschlichen Geist als eine Einheit von Endlichem und Unendlichem erfasst werden. In der „Phänomenologie des Geistes“ erkennen wir mehrere Gestalten des Bewusstseins, nämlich ein Gegenstandsbewusstsein, ein Selbstbewusstsein und die kreative Vernunft. Die Logik, die Naturphilosophie und die Philosophie des Geistes seien daher immer auf einander bezogen. Doch die wahre Philosophie liege in der Offenbarung des Absoluten, sie sei die Manifestation der absoluten Idee im endlichen Bewusstsein des Menschen. Folglich sei es die Aufgabe der Religionsphilosophie, die reale Religion in der absoluten Philosophie „aufzuheben“. Das bedeutet mit anderen Worten, alle Lehren der (christlichen) Religion müssen in die Sprache der idealistischen Metaphysik übersetzt werden.17 Für G.F.W. Hegel hatten auch die Philosophie des Rechts und des Staates einen spekulativen Charakter, denn auch sie seien immer auf die absolute Idee bezogen. Die Wirklichkeit des Staates sei nämlich immer eine Manifestation des Absoluten, denn im Zeitlichen und Vorübergehenden sei immer das Ewige zu erkennen. Im Staat sei die Freiheit des Einzelnen nur dann gegeben, wenn dieser mit dem allgemeinen und vernünftigen Willen übereinstimme. Folglich bestehe das moralisch Gute immer in der bewussten Unterordnung jedes Einzelnen unter das Allgemeine im Staat. Nur der Wille, welcher dem allgemeinen Gesetz gehorche, sei wirklich frei. Damit komme dem staatlichen Recht und Gesetz etwas Heiliges zu, denn in diesen Gegebenheiten zeigten sich die ewigen Ideen. So hatte es auch Platon gegen die Sophisten gelehrt. Nur durch den Bezug auf die ewigen Ideen könne der Relativismus der Lebenswerte und der staatlichen Gesetze überwunden werden. Der vernünftige Staat sei nach Berufsständen geordnet, in der bürgerlichen Gesellschaft komme es zu einem Ausgleich zwischen den Interessen der einzelnen Stände. Der Staat müsse dafür Sorge tragen, dass keine Menschen in Armut und Hunger leben müssen. Doch er muss auch alle arbeitsfähigen Menschen zu sinnvoller Arbeit zwingen.18 In der Kunst werde die Einheit von Endlichem und Unendlichem am deutlichsten ausgedrückt und dargestellt. Auch die Religion vermittelt diese Einheit, aber sie brauche dafür Bilder, Riten und Symbole. Doch die große Weltgeschichte folge immer dem Willen des „Weltgeistes“, alle Menschen seien nur die Werkzeuge dieses umfassenden Geistes. Als Theologe hatte G.W.F. Hegel gelernt, dass die Weltgeschichte immer dem Willen Gottes folge. Nun schreite dieser ewige Weltgeist nach notwendigen Gesetzen fort, dabei gewinne er erst sein klares Selbstbewusstsein. Im Sinne der christlichen Theologie lasse sich die ganze Weltgeschichte als ein großes „Weltgericht“ des göttlichen Geistes verstehen, denn in dieser Geschichte der Menschheit zeigten sich immer die ewigen Wahrheiten. Freilich sei der große Weltgeist immer auf der Seite der Stärkeren und der stolzen Sieger (z.B. auf der Seite Napoleons), aber niemals auf der Seite der Armen, der Schwachen und der Verlierer. Genauso hatte es auch der aristokratische Philosoph Platon gelehrt.19

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Diese metaphysische Geschichtsphilosophie hatte im 19. Jh. und auch noch weit hinein ins 20. Jh. bei den Gebildeten eine erstaunliche Resonanz und Aufnahme gefunden. Die wenigsten Denker hatten bemerkt, dass es sich dabei um eine versteckte Geschichtstheologie handelte, so weit hatten sie sich vom kritischen Denken der rationalen Aufklärung entfernt. Viele Historiker, Militärs, Philosophen und Theologen nannten noch die beiden Weltkriege im 20. Jh. ein göttliches „Strafgericht“ über die Völker. Die Militaristen und Kriegstreiber handelten also im göttlichen Auftrag und auf Geheiß des Weltgeistes. Auf G.W.F. Hegels metaphysische Staatslehre bezogen sich im 19. Jh. zwei völlig konträre Ideologien, da sich aus philosophischen „Leerformeln“ alles Beliebige ableiten lässt. Die Hegelsche „Linke“ sah in diesem metaphysischen Denkmodell die volle Legitimation zu gesellschaftlichen Veränderungen und zu politischen Umwälzungen. Auch die großen Revolutionen erfolgten im Auftrag des ewigen Weltgeistes. Hingegen übernahm die Hegelsche „Rechte“ aus dem gleichen Denkmodell die volle Rechtfertigung des autoritären und des totalitären Staates. K.R. Popper hatte klar erkannt, dass dieses Staatsmodell ja schon bei Plato vorgezeichnet war.20 Die deutsche Politik hatte im 19. und 20. Jh. sehr viel mit Hegels metaphysischer Geschichtsphilosophie zu tun. Auch die meisten Schulphilosophen folgten diesem Denkmodell, doch damit hatten sie sich von den Denklinien der rationalen Aufklärung vollständig abgewandt. Viele dachten, dass dieses metaphysische Denken der Deutschen einen Auftrag für die ganze Welt zu erfüllen habe. Dies war der philosophische und politische Sonderweg der deutschen Kultur, der erst in den 1970er Jahren weitgehend überwunden wurde.

Sinngebung und Veränderung der Gesellschaft Ein Fortschreiten des irrationalen Denkens in der deutschen Kultur bewirkte auch der Privatgelehrte Arthur Schopenhauer (gest. 1860). Zum einen wollte er den neuen Erkenntnissen der Naturwissenschaften Rechnung tragen, doch auf der anderen Seite folgte er archaischen, mythischen und irrationalen Formen der Weltdeutung. Denn er ging von der Überzeugung aus, die er zum Teil bei I. Kant gelernt hatte, dass wir Menschen unsere Welt immer mit unserem Willen und mit unseren Vorstellungen neu erschaffen. Er leugnete damit aber nicht die Existenz der realen materiellen Welt, doch im Prozess unserer Erkenntnis der Welt sei kein Objekt ohne denkendes und wollendes Subjekt möglich. Die Urkraft der gesamten Welt sei jedoch ein „blinder Urwille“, dieser sei das „Ding an sich“, nach dem I. Kant vergeblich gefragt und gesucht hatte. Dieser ewige Urwille habe im Körper (Leib) jedes Menschen sein Objekt gefunden, denn er forme die Lebensgeschichte jedes Menschen. Nun sei dieser metaphysische Urwille eine bewusstlose Kraft und ein zielloser Drang, der sich in allen Phänomenen der Natur und im Bewusstsein der Menschen darstelle und äußere. Freilich bleibe dieser Urwille für uns Menschen geheimnisvoll, doch er sei die universale Kraft des Werdens im ganzen Kosmos.21

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Dieser irrationale Ansatz richtet sich gegen die gesamte vernunftorientierte Philosophie der europäischen Kultur, etwa gegen die Logos-Lehre des Heraklit von Ephesos und gegen die Denkmodelle der griechischen und der europäischen Aufklärung. Für A. Schopenhauer ist der Charakter eines Menschen folglich das Ergebnis einer ewigen Wahl. Trotzdem habe jeder Mensch noch einen Rest von freiem Willen und er sei für seine Entscheidungen und Handlungen verantwortlich. Von den schottischen Moralphilosophen hatte A. Schopenhauer gelernt, dass die moralisch wertvollen Handlungen den altruistischen Zielen folgen sollten und die egoistischen Motive weitgehend überwinden müssen. Daher sei das Mitleid mit den Mitmenschen und mit den Tieren die Basis für ein freies Leben in Gerechtigkeit und Menschenliebe. Dieses Mitleid sei das Mysterium und das Urphänomen in jeder tragfähigen Ethik und Moral, denn im mitleidenden Verhalten zeige sich die Einheit und Verbundenheit aller Lebewesen. Diese Ethik sei im Letzten eine auf die Praxis bezogene Mystik. Damit war A. Schopenhauer einer der ersten Denker in Europa, der in die Ethik des Mitleids auch die Tiere einbezog.22 Doch der dunkle und blinde Urwille im Kosmos und in der Welt sei gekennzeichnet durch ein unbefriedigtes Streben und durch ein ständiges Leiden, daher verlange er nach der Erlösung vom Leiden. Dies lehrte ein Denker, dessen Leben von schwerem Leiden gezeichnet war. Für ihn war daher alles Leben leidvoll, was auch der indische Lehrer Buddha gesehen habe. A. Schopenhauer kannte bereits einige Schriften des Buddha in lateinischer Übersetzung durch christliche Missionare. Unsere Welt sei auf das Ganze gesehen die schlechteste aller möglichen Welten, denn wenn sie noch schlechter wäre, dann könnte sie gar nicht bestehen. Daher sollten wir Menschen uns bemühen, den blinden Willen nach dem Leben in uns zu verneinen. Denn wenn uns das gelingt, treten wir in die tiefe Stille ein und wir ahnen das ewige Nichts (Nirwana). Im Angesicht des Todes biete uns die mystische und irrationale Philosophie immer Trost an. Im Sterben werde der Mensch von der Last seiner Individualität befreit und er stoße zum innersten Kern seines Wesens vor.23 Die Werke von A. Schopenhauer wurden im 19. Jh. vor allem von Juristen und Medizinern gelesen und verbreitet. Diese zuerst kleine Leserschaft entfaltete einen starken Kulturpessimismus bei vielen gebildeten Bürgern und Adeligen. Dies ist für eine Zeit des umfassenden wirtschaftlichen und technischen Aufschwungs höchst erstaunlich und nicht leicht erklärbar. Es könnte sich bei diesen bürgerlichen und adeligen Pessimisten um den Rest eines religiösen Schuldgefühls handeln. Denn viele religiöse Zeitgenossen hatten von ihrem lutherischen und calvinischen Bekenntnis her keine volle Erlaubnis zu einem guten und glücklichen Leben. Denn das menschliche Leben sei ja durch und durch von der Erbsünde geprägt. Wir finden also bei A. Schopenhauer ein Amalgam von religiösen Lehren verbunden mit einer irrationalen Mystik des Daseins und einer Ablehnung des kritischen und rationalen Denkens. Dieses irrationale Denken wurde in der deutschen Kultur über viele Generationen hin als eine tiefe Form der Philosophie wahrgenommen und gedeutet. Es prägte viele andere Denker und Künstler, vor allem Richard Wagner, aber auch Friedrich Nietzsche, Nikolai Hartmann und Wilhelm Busch. Es verband sich sehr schnell mit

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den idealistischen Lehren der Schulphilosophie und prägte große Teile der deutschsprachigen Kultur. Bald wurde eine Schopenhauer-Gesellschaft gegründet, die diese vernunftfeindlichen Lehren weitergeben sollte. Es war vom „tiefen“ deutschen Denken die Rede, das dem „oberflächlichen“ Denken der Engländer und Franzosen (Aufklärung) weit überlegen sei. Noch im Ersten und Zweiten Weltkrieg wurde dieses Denken der Deutschen bemüht, um den großen Krieg gegen die „Dekadenz“ der Engländer und der Franzosen zu rechtfertigen. Die deutschen Feldprediger sprachen von der Überwindung des Lebenswillen, um die Soldaten zum Kampf bis in den Tod zu motivieren. Zu den Links-Hegelianern gehörte der Privatgelehrte Ludwig Feuerbach (gest. 1872), der vor allem das religiöse Bewusstsein seiner Zeit in der Tradition der Aufklärung kritisch analysieren wollte. Dabei ging er von einer sensualistischen Erkenntnistheorie aus, denn alle unsere Erkenntnis der Außenwelt beginne mit den Sinnen und beschränke sich auf sie. Mit diesem Ansatz wollte er den Glauben an eine unsterbliche Seele im Menschen auflösen und überwinden. Mit den Denkern C. Helvetius und P. von Holbach war er der Überzeugung, dass unsere Gottesvorstellungen immer nur von unseren menschlichen Selbstbildern gespeist werden. Daher spiegeln die Lehren der Religion immer nur tiefe Sehnsüchte der Menschen wider, aber es kommt ihnen kein Wahrheitsgehalt zu. Die menschliche Natur werde nicht primär von der kritischen Vernunft bestimmt, sondern sie werde vielmehr von unseren sinnlichen Erfahrungen geprägt und geleitet. Folglich sei auch jede Religion immer an die Sinnlichkeit gebunden, nämlich an Riten, Prozessionen und symbolische Handlungen. Die Gottesidee der Religion stamme aus dem menschlichen Streben nach Macht und Herrschaft und aus dem Bemühen um sittliche Vollkommenheit. Daher sei es möglich, alle Aussagen der Religion in Aussagen über das menschliche Leben zu übersetzen. Alle Theologie als Reden von Gott lasse sich daher in Anthropologie, in das Reden über das Menschliche, übersetzen.24 In der Vorstellung von der Einheit und Einzigkeit Gottes spiegle sich immer die von Menschen ersehnte Einheit des Verstandes. Und im Glauben an die Unsterblichkeit der Seele zeige sich das Verlangen jedes Menschen nach der Fortdauer seines Lebens über den Tod hinaus. Insgesamt betrachtet beruhe aber jedes religiöse Bewusstsein auf einer großen und umfassenden Illusion. Denn die Vorstellung von der „Menschwerdung“ Gottes verbinde sich immer mit dem tiefen Wunsch nach der Vergöttlichung und Vergrößerung des Menschen. Daher projizieren wir Menschen in der Religion immer unsere tiefen Wünsche und Sehnsüchte in eine metaphysische Welt jenseits der Todesgrenze. Hier war L. Feuerbach nun überzeugt, dass die Menschen mit ihren religiösen Projektionen wertvolle Lebensenergie vergeuden, die sie im Zusammenleben mit anderen vernünftiger und sinnvoller einsetzen könnten. Denn zunächst seien alle Menschen einmal empfindsame, fühlende und strebende Lebewesen, von daher müssten auch ihre Vorstellungen und Ideen erklärt werden.25 Mit dieser Konzeption folgte L. Feuerbach einer naturalistischen und materialistischen Anthropologie, in der es keine metaphysischen Geistwelten mehr gibt. Er nannte das religiöse Bewusstsein eine „Entfremdung“ der Menschen von sich selbst.

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Diese Thesen waren philosophiegeschichtlich nicht neu, sie wurden im Ansatz schon von Xenophanes von Kolophon (5. Jh. v.Chr.) vorgetragen. Und sie wurden im 18. Jh. von C. Helvetius und von P. von Holbach erneuert und vertieft. Doch L. Feuerbach hatte diese Ideen präzisiert, er sah in der Vorstellung von der Unendlichkeit Gottes die Sehnsucht nach der Unendlichkeit des menschlichen Geistes. Die Größe und Göttlichkeit der menschlichen Natur sei der Grund für den Glauben an einen jenseitigen Gott. Alle religiösen Ideen haben ihren Grund in der menschlichen Natur und können aus dieser erklärt werden. Gott sei immer ein Spiegel des Menschen, in der Religion werde die Wunschform des Lebens in eine imaginäre Wirklichkeit übersetzt. Mit diesem Denkansatz hatte L. Feuerbach eine große Breitenwirkung unter Naturwissenschaftlern und religionskritischen Zeitgenossen gewonnen. Doch weltweit die größte Wirkungsgeschichte erzielte der Trierer Links-Hegelianer Karl Marx (gest. 1883), der viele Ideen und Anregungen von L. Feuerbach aufgenommen hatte. Er las die Schriften der frühen Sozialisten (C. Saint Simon, Ch. Fourier und R. Owen) und war vom harten Schicksal der Arbeiter in den frühen Industrieanlagen betroffen. Daher wollte er an der Erreichung einer gerechten und menschlichen Gesellschaft mitwirken. Deswegen befasste er sich intensiv mit Fragen der politischen Ökonomie, um die sozialen Probleme verstehen zu können. In seinem Denken ging er allerdings von einem strikten Materialismus aus, alles bestehe nur aus Materie, eine geistige Wirklichkeit sei nicht gegeben. Die Menschen entwickeln geistige und soziale Ideen, die aber immer nur der „Überbau“ von gesellschaftlichen Wirklichkeiten und Strukturen seien. Diese realen sozialen Wirklichkeiten aber bilden den „Unterbau“ für alle Ideen und geistigen Vorstellungen. Wenn es gelinge, den gesellschaftlichen und materiellen Unterbau zu verändern, dann werde sich auch der geistige Überbau sehr schnell der Veränderung anpassen.26 Durch einen „Historischen Materialismus“ sollten die materiellen und die sozialen Faktoren der menschlichen Gesellschaft und Geschichte genau analysiert werden. Auch K. Marx zeigte in seinem Denkansatz deutlich einen soziologischen, einen psychologischen und einen materialistischen Reduktionismus. Das bedeutet, dass sich alle gesellschaftlichen und historischen Prozesse soziologisch oder psychologisch oder materialistisch erklären lassen. Um zu einer gerechteren Gesellschaft zu kommen, müsse das Privateigentum der Bürger und Adeligen verstaatlicht und vergesellschaftet werden. Denn im System des Kapitalismus mit dem uneingeschränkten Privateigentum würden die besitzlosen, aber auch die besitzenden Menschen von ihrem sozialen Wesen entfremdet. Mit J. Locke glaubte er, das Produkt der Arbeit stehe zur Gänze den arbeitenden Menschen zu, die aus Rohstoffen immer einen „Mehrwert“ erschaffen. Doch in der kapitalistischen Wirtschaft würden die arbeitenden Menschen von den Kapitalbesitzern „ausgebeutet“, weil ihnen nicht der volle Mehrwert ihrer Arbeit bezahlt werde. Doch in einem neuen Sozialismus auf wissenschaftlicher Basis werde es nun möglich sein, den Mehrwert der Arbeit gerecht zu verteilen und das individuelle Gewinn- und Besitzstreben zu verringern bzw. zu überwinden. Erst dann könnten sich die arbeitenden Menschen untereinander und mit der sie umgebenden Natur

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versöhnen. Daher zeige erst die sozialistische Gesellschaft die „vollendete“ Wesenheit des Menschen, denn dort geschehe die wahre Resurrektion der Natur und es werde ein neuer Humanismus verwirklicht. Auffallend sind hier die religiösen Begriffe, auf die sich K. Marx ständig bezieht. Das Verhältnis des Menschen zur Natur müsse immer „dialektisch“ gedacht werden, wie G.W.F. Hegel es gelehrt hatte. Im neuen und wissenschaftlichen Sozialismus werde es zur Beseitigung aller sozialen Klassen kommen, erst dann könne die „Selbstentfremdung“ des Menschen aufgehoben werden. Auch hier sehen wir wieder einen zentralen religiösen Begriff aus der christlichen Erbsündenlehre. In einem utopischen Sozialstaat werde es keinen Zwang zur Arbeit mehr geben, jeder Einzelne solle seine Fähigkeiten möglichst frei entfalten können. Mit der Überwindung der Klassengesellschaft komme jede Form der Ausbeutung von Mitmenschen von selbst zu Ende.27 Das Ziel des gesellschaftskritischen Denkens sei die revolutionäre Praxis, dabei müsse sich die Theorie immer dem politischen Handeln unterordnen. Die bisherige bürgerliche Philosophie habe die Welt nur unterschiedlich interpretiert, doch jetzt komme es darauf an, die ungerechte und unsoziale Gesellschaft mit Gewalt zu verändern. Alle philosophischen Ideen hängen von gesellschaftlichen und ökonomischen Faktoren ab, sie bilden ähnlich wie die staatlichen Gesetze, die Moral, die Religion und die Ästhetik nur den Überbau über die sozio-ökonomische Basis. Gewiss könnten philosophische Ideen auf die Entwicklung der Gesellschaft zurückwirken, aber ihre Entstehung hänge immer von gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Gegebenheiten ab. Innerhalb des Historischen Materialismus lassen sich alle philosophischen Ideen aus ihrer gesellschaftlichen Entwicklung heraus erklären. In der Besitzgesellschaft des Kapitalismus entfremdet sich der Mensch aber seinem wahren Wesen, deswegen muss diese Gesellschaft überwunden und beendet werden.28 Jede Arbeit sollte freiwillig geschehen, denn jede erzwungene Arbeit entfremde den Menschen von seinem sozialen Wesen. Ein Sozialismus ganz ohne Besitzstreben werde die Menschen mit ihrer Natur und mit ihrer Umwelt versöhnen. Der Mensch sei ein Teil der Natur, er habe zu ihr immer eine materielle Beziehung. Wenn in der Gesellschaft die sozialen Klassen überwunden sein werden, dann wird es unter den Menschen keine Konflikte mehr geben und die Ausbeutung der Schwächeren durch die Stärkeren werde beendet sein. Doch der Übergang in die klassenlose Gesellschaft werde nicht ohne Gewalt möglich sein, es werde notwendig den Kanonendonner des Umsturzes geben.29 Diese klassenlose Gesellschaft aber könne durch die Vergesellschaftung von Grund und Boden, durch die Abschaffung des Erbrechts und durch die progressive Besteuerung der geleisteten Arbeit erreicht werden. Denn in jeder Gesellschaft sei die Arbeit allein der wertbildende Faktor, sie müsse daher als der oberste Wertmaßstab einer Kultur gesehen werden. Der durch die Arbeit erzeugte Mehrwert von Gütern müsse allein den arbeitenden Menschen zur Verfügung gestellt werden. Der Barmener Unternehmer Friedrich Engels (gest. 1895) hat dieses Denkmodell von Karl Marx frühzeitig aufgenommen und weitergeführt und zu einem System des „Dialektischen Materialismus“ erweitert. Er wollte zeigen, dass es in den mutter-

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rechtlichen Gesellschaften nur gemeinsamen Besitz der Gruppen (Kommunismus) gab. Historisch befasste er sich mit den Bauernkriegen, in denen die ausgebeuteten Bauern um mehr Rechte und Besitz kämpften. Auch er folgte einer materialistischen Weltdeutung, aber für ihn gehörte die Bewegung bereits zu den Fähigkeiten der Materie. In der Entwicklung der Gesellschaften gelten immer die Gesetze der „Dia­ lektik“, auf jede These folge die Antithese und dann werde daraus die Synthese. Auf den Kapitalismus müsse daher mit innerer Notwendigkeit der Kommunismus folgen.30 Zusammen mit Karl Marx verfasste F. Engels die Werke „Die heilige Familie“ (1845), „Die deutsche Ideologie“ und das „Manifest der kommunistischen Partei“ (1848). Für F. Engels war der Dialektische Materialismus das umfassende Deutungssystem der menschlichen Geschichte. Sein revolutionäres Programm könne sogar wissenschaftlich begründet werden. Doch ein wissenschaftlicher Sozialismus gehe immer von normativen Grundannahmen aus, er begnüge sich nicht mit bloßen Beschreibungen. Seine Grundthese lautet, dass die kapitalistische Gesellschaft mit naturgesetzlicher Notwendigkeit an ihren inneren Widersprüchen zusammenbrechen werde und dass danach der Kommunismus verbreitet werde. Diese Großideologie des Historischen und des Dialektischen Materialismus hat erst im 20 Jh. ihre Wirkungsgeschichte gezeigt und hat sich auf große Teile der Erde ausgebreitet. In der Volksrepublik China mit 1,3 Milliarden Menschen ist diese Ideologie noch bis in die Gegenwart bestimmend geblieben.31 F. Engels sah in der Materie ein dynamisches Prinzip, nach dem sich das ganze Weltgeschehen mit innerer Notwendigkeit entwickle. Diese Entwicklung folge den Grundgesetzen der Dialektik, also dem Modell von These, Antithese und Synthese. Die wissenschaftliche Ontologie und die Erkenntnistheorie lassen sich daher mit soziologischen und mit ökonomischen Theorien verbinden. Folglich sei der wissenschaftliche Sozialismus die umfassende Theorie der gesamten Weltgeschichte, in ihr werden aber ständig deskriptive Aussagen mit moralischen Wertungen verbunden. Daher könnten mit dieser Theorie die gesellschaftlichen Entwicklungen präzise vorausgesagt werden.32

Denkkonzepte des Positivismus und des Naturalismus Materialistische Denkkonzepte prägten bereits einige Denker der französischen Aufklärung (P. Holbach, C. Helvetius, J. De Lamettrie), ihnen folgten in der deutschen Philosophie L. Feuerbach und K. Marx. In Frankreich hatte Auguste Comte (gest. 1857) ein neues System des Positivismus entwickelt (philosophie positive). Dabei ging er von einer strikt empirischen Theorie der Erkenntnis aus, nach der nur das empirisch Erfahrbare und Überprüfbare als wirklich anerkannt werden sollte. Er war überzeugt, dass alle naturwissenschaftlichen Erkenntnisse von unmittelbaren Beobachtungsdaten ausgehen, die von unseren Interpretationen unabhängig seien. Die exakten Wissenschaften gingen also von zuverlässigen empirischen Daten aus, dies gelte für die Physik, die Chemie, die Astronomie, abgeschwächt auch für die

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neue Wissenschaft von der menschlichen Gesellschaft, die Soziologie. Daher sei eine Reorganisation der Gesellschaft immer nur auf der Basis empirischer Forschungen möglich. Das Ziel der neuen Wissenschaft liege darin, zu einer rationalen und von den Wissenschaften geprägten Gesellschaft zu gelangen, die von einem positiven Geist des Fortschritts getragen werde.33 Comte glaubte, dass sich die menschlichen Gesellschaften in drei Stadien entwickeln, nämlich von einem mythisch-theologischen zu einem metaphysischen und schließlich zu einem positiv-wissenschaftlichen Stadium (Drei-Stadien-Gesetz). In dieser ersten Kulturepoche werde das Leben der Menschen stark von Göttervorstellungen und von unheimlichen Dämonen geprägt. In der zweiten Epoche werde die mythische Weltdeutung weithin durch metaphysische Lehren (Plato) ersetzt. Doch erst in der dritten Kulturepoche werden die Menschen voll erwachsen, sie beginnen autonom zu denken und erforschen die Gesetzmäßigkeiten der gesamten Natur, aber auch der Gesellschaft. Waren zuerst die Priester und Propheten lebensbestimmend, so waren es in der zweiten Epoche die Krieger und die Adeligen. Doch im positiven Zeitalter werden die Naturwissenschaftler das soziale und das individuelle Leben bestimmen. Doch in seiner späteren Lebensphase erlebte A. Comte eine mystische Wendung, in der Folgezeit sah er im Positivismus sogar eine neue „Religion“. Doch an die Stelle des christlichen Herrschergottes sollte die Vorstellung vom „Großen Sein“ (Grand Etre) treten. Die Menschen schulden diesem höchsten Wesen Dank für ihr Leben, und sie müssen dieses göttliche Wesen durch ein altruistisches Leben verehren. Dabei können sie auch Riten ausführen und Weihehandlungen vollziehen, die Menschen sollen sich in einer großen Gemeinschaft verbunden fühlen. Zu dieser Zeit sollte auch die Politik von den wissenschaftlichen Eliten gestaltet werden, diese müssen auch für die Erziehung der Kinder und für die Bildung der Jugendlichen sorgen. In Brasilien entstand sogar eine positivistische Partei, die 1889 am Sturz der Monarchie beteiligt war.34 In England wurde der Positivismus stark durch John Stuart Mill (gest.1873) geprägt, der zusammen mit Jeremy Bentham eine umfassende Moral der optimalen Nützlichkeit (Utilitarismus) entwickelte. Die gesamte Philosophie sollte fortan empiristisch und antimetaphysisch konzipiert werden, nur dann kann sie für die Gesellschaft und die Wissenschaften einen praktischen Nutzen bringen. In seiner Wirtschaftstheorie (Principles of Political Economy, 1848) folgte Mill den Prinzipien der liberalen Politik, denn diese erhöhe die Effizienz jeder Form der Wirtschaft. Die Regeln der Logik können wir auch psychologisch erklären, deswegen geben sie uns in der Erkenntnis keine letzte Sicherheit. Einen praktischen Nutzen hat nur die induktive Logik, die von vielen Einzelbeobachtungen auf allgemeine Gesetze schließt. Daher sei die induktive Methode auch in den Moralwissenschaften anzuwenden, um allgemeine Regeln für das richtige Verhalten aller Menschen zu finden. Alle moralischen Tugenden müssen für die Gemeinschaft einen Nützlichkeitswert haben, sonst sind sie wertlos. Denn anzustreben sei immer das größtmögliche Glück der größtmöglichen Zahl von Menschen, daran müsse jede Politik sich messen lassen.35

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Den Maßstab für alle unsere moralischen Wertungen bilden immer unsere Erfahrungen von Lust und Unlust, bzw. von Glück und von Schmerz. In seinen Schriften über die „Repräsentierung“ (1861) im Staat und über die „Freiheit“ (1861) lehnte J.St. Mill die rein mechanistische Auffassung des Staates und der Gesellschaft ab, der Staat sei keine Maschine, aber auch kein lebender Organismus. Denn alle Staatsbürger werden in ihren Überzeugungen immer von den materiellen Verhältnissen und von geistigen Ideen geleitet, für sie werden Meinungen, Gefühle und Überzeugungen wichtig. Jede Regierung muss die staatliche Ordnung sichern, die geistige Entwicklung der Bürger fördern und ihre moralischen Fähigkeiten positiv unterstützen. Im Streben nach dem größtmöglichen Glück für möglichst viele Menschen sei die demokratische Staatsform allen autoritären Staatsformen weit überlegen. Die repräsentative Demokratie fördere auch in sehr großen Staaten (England, Amerika) das Verantwortungsbewusstsein aller Bürger, sie diene der Optimierung des guten Zusammenlebens. Eine Gefahr der Demokratie liege allerdings in der möglichen Herrschaft des Mittelmaßes und der Mittelmäßigen.36 Durch die fortschreitenden Erkenntnisse in den Naturwissenschaften wurden die Auseinandersetzungen zwischen den naturalistischen und den idealistischen Weltdeutungen schärfer. Die meisten Naturwissenschaftler folgten wie selbstverständlich materialistischen und naturalistischen Deutungen der Welt. So glaubten Carl Vogt, Ludwig Büchner und Jacob Moleschott mit starker Überzeugung, dass auch das menschliche Bewusstsein durch Aktivitäten im Gehirn entstehe. Vor allem die Erkenntnisse der biologischen Entwicklung der Lebewesen (Jean de Lamarck, Charles Darwin) legte eine naturalistische Weltsicht sehr nahe. Denn wenn sich die einzelnen Arten im „Kampf ums Dasein“ durch Anpassung und durch Auslese weiter entwickeln, denn muss mit geistigen Formkräften nicht mehr gerechnet werden. Wenn wir Menschen von tierischen Vorfahren abstammen, dann ergeben idealistische und religiöse Lehren vom Anfang des Lebens wenig Sinn. Daher wollte der Jenaer Zoologe Ernst Haeckel mit seinem Buch „Die Welträtsel“ (1899) zeigen, dass eine pantheistische Weltsicht mit einer naturalistischen Deutung der biologischen Entwicklung vereinbar sein könnte. Denn damit könne eine Ethik der Selbstliebe, der Nächstenliebe und der Naturliebe grundgelegt werden. Doch ein Dualismus von Geist und Materie sei nicht länger vertretbar, es gäbe fortan nur mehr eine einzige naturwissenschaftliche Weltdeutung (Monismus).37 Eine synthetische Philosophie wollte Herbert Spencer (gest. 1903) entwickeln, denn er glaubte, dass die Erkenntnisse der Naturwissenschaften und der Geisteswissenschaften voll miteinander verträglich seien. Dabei ging er von einer absoluten „Urkraft“ im Kosmos aus, die von uns Menschen aber nie voll erkannt werden könne (the Unknowable). Der Kosmos entwickle sich ständig weiter durch Prozesse der Integration und der Differenzierung. Aus diffusen Gasmassen entstünden neue Sonnensysteme. Vom Leben der Organismen dürfen wir aber nicht direkt auf unsere menschliche Gesellschaft schließen, zwischen beiden bestehe nur eine sehr begrenzte Analogie. Im vernünftig organisierten Staat soll jeder Mensch ein erfülltes Leben, aber im Einklang mit einem erfüllten Leben der Mitmenschen gestalten können.

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Doch jeder Staat sei in einer Entwicklung, er brauche feste Regeln des Zusammenlebens und vor allem eine von der Vernunft geleitete Ethik. Der tierische „Kampf ums Dasein“ müsse durch verantwortliche Kooperation ersetzt werden, dann könne das Glück der Menschen ständig wachsen. In der Erkenntnistheorie können rationalistische und empiristische Grundannahmen miteinander verbunden werden. Die Philosophie habe die bleibende Aufgabe, die Erkenntnisse der Einzelwissenschaften zu einem dynamischen Weltbild zu verbinden.38 Hier zeigt sich bereits, dass sich die angelsächsische und die französische Philosophie im 19. Jh. mehrheitlich in eine andere Richtung entwickelt haben als die deutsche Philosophie und die Schulphilosophie der romanischen Länder. Denn der Positivismus bemühte sich um eine realistische Sichtweise der Welt, er wollte sie mit der rationalen Philosophie verbinden. J. Bentham und J.St. Mill formulierten bereits die Ziele einer utilitaristischen Ethik, aber gleichzeitig beschrieben sie bereits die Grundregeln des demokratischen Staates. Diese Denkkonzepte haben wesentlich zur Entwicklung einer humanistischen Ethik und eines demokratischen Bewusstseins beigetragen. Doch zu dieser Zeit folgten die Schulphilosophen in Mitteleuropa, aber auch in Süd- und Osteuropa mehrheitlich noch den autoritären Denkmodellen Platons, nämlich auf der Basis einer idealistischen Philosophie und der kirchlich geprägten Neuscholastik. Die Philosophie in Russland war zu dieser Zeit mehrheitlich stark mit der Theologie der orthodoxen Kirche verbunden und von dieser abhängig.

Dynamiken der Lebensphilosophie Die Anfänge der Lebens- und der Existenzphilosophie liegen zu Beginn des 19. Jh., ihre Vertreter wollten die theoretische Philosophie mit dem konkreten Leben und Erleben verbinden. Ein früher Denker dieser Sichtweise war der Däne Sören Kier­ kegaard (gest. 1853), der in Berlin Vorlesungen von F.W. Schelling gehört hatte. Er brachte einen starken religiösen Hintergrund mit und wollte einige Lehren des lutherischen Glaubens mittels der Philosophie vertiefen. Deswegen glaubte er an eine absolute und umfassende Wahrheit, die wir Menschen mit unserem Denken aber nie voll erfassen können. Er nahm an, dass diese ewigen Wahrheiten das Leben jedes Menschen prägen und oftmals verändern. Denn mit dem philosophischen Zweifel allein können wir nicht leben, oft führe der Zweifel in die Sinnlosigkeit und Verzweiflung. Um unsere tiefe Lebensangst zu überwinden, haben wir die Wahl zwischen der ethischen, der religiösen und der ästhetischen Lebensform. Am besten gelinge uns die Überwindung der Angst durch den religiösen Glauben, der uns aber immer in eine persönliche Entscheidung hineinstelle.39 Zu den Inhalten der Religion gehöre aber immer das unlösbare Paradoxon von Endlichem und Unendlichem. Im Christentum werde dieses Paradoxon im Glauben ausgedrückt, dass Jesus Christus zugleich Gott und Mensch sei. Die Verzweiflung aber sei für viele Menschen eine „Krankheit zum Tode“. Nur wenn sie sich in Gott gründen, können sie ihre tiefe Verzweiflung überwinden. Der religiös Glaubende werde von einer objektiven Wahrheit in seiner Subjektivität betroffen, dadurch sehe

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er seine ganze Existenz in einem neuen Licht. Seine wesentliche Erkenntnis sei nun auf die Innenwelt gerichtet, das äußere Erkennen sei für den Glauben und das Leben unwichtig. Daher suche die Religion nicht den vernünftigen Gott der Philosophen, sondern den handelnden Gott der Bibel. Im Glauben aber müsse immer das Paradoxon des Endlichen und des Unendlichen ertragen werden. Daher habe das Bedenken der eigenen Existenz in der Philosophie den Vorrang vor der Erkenntnis der Außenwelt. Wir haben es also bei diesem Denkkonzept vor allem mit einer Philosophie der religiösen Innerlichkeit zu tun.40 Breite Wirkung im späten 19. Jh. erzielte der sächsische Pastorensohn und Altphilologe Friedrich Nietzsche (gest. 1900), der sich später der Philosophie zugewandt hat. Er verstand sich als Kulturphilosoph und Kulturkritiker, zunächst wollte er Lernprozesse in der Moral und in der Religion befördern. In der Kultur sah er zum einen die Kraft des „Apollinischen“, die sich im rechten Maß und in der Harmonie der Gegensätze zeige, zum andern die Kraft des „Dionysischen“, welche die Menschen mit Vitalität und mit sinnlicher Berauschung in Berührung bringt. Doch insgesamt sei das Leben der Menschen ohne Sinn und ohne Ziel, aber wir Menschen müssen diese Sinnlosigkeit ertragen. Dafür aber brauchen wir den „schönen Schein“ der Kunst, der Ästhetik, der Musik und des Schönen. Damit relativierte Nietzsche die Fähigkeiten der kritischen Vernunft und der empirischen Wissenschaften. Er sah sich selbst als einen gottlosen „Antimetaphysiker“, der an keine objektiven oder ewigen Wahrheiten mehr glauben konnte.41 Weil das rationale und wissenschaftliche Denken immer scheitern müsse, suchen viele Menschen den schönen Schein der Kunst und die Vielfalt der unser Leben fördernden Illusionen. Doch durch die psychologische Analyse könnten diese metaphysischen und religiösen Illusionen voll aufgelöst werden. Weil es in unserem Leben keine Konstanz und Gleichförmigkeit gebe, hätten die Philosophen die metaphysischen Lehren vom „ewigen Sein“ erdacht. Und um die Härten des Daseins besser ertragen zu können, hätten religiöse Menschen ihre Vorstellungen von einem Gott entwickelt. Nun sei aber der christliche Gott endgültig tot und jede Form von Metaphysik sei in sich zusammengebrochen. Damit sei das Leben der Menschen wieder sinnlos, aber nur starke Charaktere könnten diese Sinnlosigkeit ohne Furcht und ohne Religion ertragen. Wer hingegen an die „ewige Wiederkehr“ der Dinge und der Ereignisse glauben könne, übergebe sein Leben dem Schicksal (amor fati) und bejahe es trotzdem.42 Nietzsche nahm in der gesamten Welt eine endliche Menge von Kraftzentren an, die miteinander in Konkurrenz seien. Diese Kraftzentren (vgl. die Monaden bei Leibniz) aber strebten unentwegt nach Macht und Dominanz, sie folgten einem unbändigen „Willen zur Macht“. Der neue Nihilismus aber bestehe in der Preisgabe aller absoluten Werte und Wahrheiten, im Aufgeben des Glaubens an absolute Ordnungen. Doch dieser sinnlose Zustand führe bei vielen Menschen zu einer Schwächung der Lebenskraft und zu einer „Dekadenz“ der Kultur. Diese Schwächung des Lebenswillens äußere sich in der christlichen Ethik des Mitleids, die zutiefst lebensfeindlich sei. Nietzsche sah das Heraufkommen des Nihilismus als einen notwendigen Prozess,

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sich selbst bemitleidete er als erstes Opfer dieses Prozesses. Doch mit einem starken „Willen zur Macht“ könne dieser totale Nihilismus ertragen und bestanden werden. Notwendig aber sei dafür die „Umwertung“ aller bestehenden Lebenswerte. Als Gegengewicht zu den christlichen „Dekadenzwerten“ müssen die neuen Werte der Macht, der Herrschaft und des Stolzes eingeübt werden. Mit diesem unbedingten Willen zur Macht sei jeder Nihilismus zu ertragen.43 Das Ziel dieser neuen Wertsetzung sei der moralische „Übermensch“, der sich durch stolze Willensakte über die ganze Erde erhebe. Dieser Übermensch sei nun der neue Sinn des Lebens, dieser könne durch vernünftige Politik sogar „gezüchtet“ werden. Freilich lebe dieser neue Menschtyp einsam und isoliert, denn er verachte die „viel zu vielen“ und das „Hornvieh der Geschichte“. Aber er werte alle Dekadenzwerte um in ein neues Lebensprogramm der Herrschaft und der Macht. Der neue Übermensch mache sich selbst zu einem Gott, nachdem er die alten Götter gestürzt habe. Er könne jetzt viele neue Götter erschaffen. Jetzt kämpfe der sinnliche und gewaltsame Gott Dionysos gegen den gekreuzigten Gott der Christen. In seiner geistigen Erkrankung (ab 1890) glaubte Nietzsche, er sei selbst ein Gott geworden. Dieser seelisch leidende Denker verachtete die Fähigkeiten der kritischen Vernunft, die egalitäre Ethik und die Erkenntnisse der modernen Wissenschaften. Erstaunlich ist aber die breite Wirkungsgeschichte dieses philosophischen „Dilettanten“ (H. Lübbe) bei einem breiten Bildungspublikum am Ende des 19. und zu Beginn des 20. Jh. Dies zeigt aber, dass viele Gebildete sich nicht mit dem kritischen Denken der Aufklärung und mit der aufrechten Vernunft anfreunden konnten.44 Mit der Lebensphilosophie verwandt ist die hermeneutische Philosophie von Wil­ helm Dilthey (gest. 1911). In seiner „Einleitung in die Geisteswissenschaften“ (1883) versuchte er, den Prozess des Verstehens von sprachlichen Texten darzulegen. Dabei deutete er das Verstehen als ein Nacherleben von Erlebniszusammenhängen, die allen Texten zugrunde liegen. In den Erscheinungen der Natur und der menschlichen Geschichte zeige sich das Absolute, dies geschehe in der Sprache durch Symbole. Es sei immer das menschliche „Leben“, mit dem wir Sprache, Begriffe, Ideen und Urteile bilden. Im Leben aber gehe es um vorrationale Prozesse des Fühlens, des Wollens und des Ahnens. Doch im subjektiven Erleben zeige sich immer das Absolute. Wir Menschen seien immer in Erlebniszusammenhänge eingebettet, deswegen könnten wir fremdes Erleben und Sprechen verstehen. Aber wir könnten keine ewigen Wahrheiten und Werte mehr erkennen, deswegen müssten wir uns mit relativen Erkenntnissen und mit veränderbaren Werten zufrieden geben. Aus diesen Einsichten folge nun ein „historischer“ Relativismus.45 Nun gehe es in allen Geisteswissenschaften um das Verstehen von Lebenszusammenhängen, doch in den Naturwissenschaften gehe es um das Erklären von Phänomenen. Alle Schöpfungen des vermeintlich „objektiven“ Geistes aber seien Ergebnisse des gemeinsamen Lebens und damit geschichtlich bedingt und relativ. Die Hermeneutik sei daher ein historischer Relativismus, denn beim Prozess des Verstehens seien immer fühlende und handelnde Menschen beteiligt. Damit aber

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seien auch alle Weltanschauungen und Moralsysteme relativ, im letzten seien diese von verschiedenen Charaktertypen abhängig. Damit erweise sich die Hermeneutik als eine historisch-psychologische Betrachtungsweise von Formen der Weltdeutung. Jeder Anspruch auf endgültige Wahrheit werde damit relativiert.46 Ein Vordenker der französischen Lebensphilosophie war Henri Bergson (gest. 1941), er glaubte an die Kraft des intuitiven Erkennens, das von allen Wahrnehmungen und von Verstandeseinsichten unabhängig sein sollte. Er unterschied zwischen einer letzten Wirklichkeit und der von uns rational erkannten relativen Wirklichkeit. Durch das intuitive Erkennen und das unmittelbare Erleben erschaffen wir uns unsere inneren Wirklichkeiten und Bilder. Später beziehen wir diese Bilder auf unsere Erfahrungen der Außenwelt und mit diesen Bildern interpretieren wir diese unsere Erfahrungen. So erkennen wir durch Intuition das tiefere Wesen der Wirklichkeit. Das Wesen der Materie bestehe in Schwingungen von Energie. Das Leben entwickle sich in einer langen Geschichte zu vielen Arten, es werde aber immer von einer unsichtbaren Kraft (elan vital) angetrieben und gesteuert. Doch diese Lebenskraft folge keinem vernünftigen Plan.47 Diese intuitive Erkenntnis habe Auswirkungen auf unsere religiösen Überzeugungen und moralischen Wertungen. Die moralischen Normen lassen sich soziologisch erklären, denn das Gewissen der Menschen werde immer durch den sozialen Druck geformt. Grundsätzlich sei das moralische Lernen ein offener Prozess, Vorbilder des guten und vernünftigen Handelns spielen dabei eine große Rolle. Auch die Grundwerte des guten Handelns erkennen wir auf intuitive Weise, nicht durch rationale Überlegungen. Oft sei eine dynamische Moral mit religiösen Bildern und Vorstellungen verbunden. Auch die Religion trage zum Zusammenhalt der Gesellschaft bei, Gott könne als „All-Einheit“ gesehen werden. Ja die Religion sei ein Ausdruck des irrationalen Lebenswillens im Kosmos und in der Menschenwelt.48

Konzepte der Pragmatischen Philosophie Die Anfänge der Pragmatischen Philosophie liegen im 19. Jh., deswegen werden sie hier kurz dargelegt. Amerikanische Denker griffen Ideen von Francis Bacon und von David Hume auf und führten sie weiter. Charles Sanders Peirce (gest. 1914) hatte Chemie, Mathematik und Philosophie studiert. Er glaubte, dass der Prozess des Erkennens durch den ständigen Zweifel in Bewegung gehalten werden könne. Die Philosophie müsse mit der Klärung der unscharfen Begriffe beginnen. Auch unbezweifelbare Überzeugungen seien nur vorläufige Annahmen, die später korrigiert werden können. Obwohl jedes Wissen nur vorläufig und fehlerhaft ist (Fallibilismus), schreitet unsere Erkenntnis ständig fort. Der methodische Zweifel zwingt uns dazu, zu besseren Erklärungen und Theorien fortzuschreiten. Einer „objektiven“ Wahrheit können wir uns nur annähern, aber wir können sie nie erreichen. Wir können von einer realistischen Weltdeutung ausgehen, denn die Dinge und Gegenstände unserer Welt existieren unabhängig von unserer Erkenntnis. Nun hängen mit unseren Überzeugungen fast immer auch Handlungsanweisungen zusammen, so werden Ideen

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immer mit bestimmten Verhaltensweisen verbunden. Die Bedeutung eines Begriffes können wir immer nur aus seinem Wirkungszusammenhang erkennen.49 Daher liegt die Bedeutung von Ideen immer in ihren praktischen Konsequenzen, alle Ideen werden erlernt, es gibt keine angeborenen Ideen. Um in der Erkenntnis fortzuschreiten, brauchen wir ein geordnetes System von sprachlichen Zeichen. In der Lehre der „Semiotik“ werden die Regeln dieser Zeichen reflektiert. Beliebige Objekte können für uns nur durch Interpretation zu Gegenständen der Erfahrung und der Erkenntnis werden, uns sind keine nichtinterpretierten Fakten zugänglich. Die Wahrheit von Urteilen liegt nicht in ihrer Übereinstimmung mit den beurteilten Tatsachen, sondern in der Übereinstimmung der Überzeugungen unter den Forschern (Konsenstheorie der Wahrheit). Ein Konsens wird möglich innerhalb einer idealen Forschergemeinschaft, damit aber wird eine Annäherung an objektive Wahrheiten möglich. Zuerst lehnte Ch.S. Peirce metaphysische Ansichten strikt ab, später aber glaubte er an eine ideale Struktur der gesamten Wirklichkeit, die mit einem göttlichen Wesen verbunden sei. Von daher können wir annehmen, dass in der gesamten Wirklichkeit ideelle Prinzipien wirksam sind.50 Die Naturprinzipien können als Ideen eines allgemeinen Bewusstseins gesehen werden, das mit Gott identisch ist. Nun sei die in Gott gegründete Ordnung der Natur durch auf einander abgestimmte Zwecke gekennzeichnet. Freilich müsse der Gottesglaube immer auf seine praktischen Folgen für die Gläubigen untersucht und beurteilt werden. Wenn wir sagen, das Geschehen in der Welt werde durch Zufall und Notwendigkeit bestimmt, dann können wir eine Urkraft der „Liebe“ (Agape) als den Zusammenhalt aller Kräfte, Dinge und Geschehnisse ansehen. Folglich habe jede Wissenschaft mit Ethik und Moral zu tun, das gelte auch für die Logik. Die Bedeutung der Begriffe, die wir in der Sprache benutzen, liege immer in ihrer Wirkung auf die Weiterentwicklung der objektiven Vernunft. Ch.S. Peirce näherte sich einem Realismus der Universalbegriffe an, denn er glaubte an ein „Wesen der Dinge“, in dem alle Regelmäßigkeiten in der Natur begründet seien.51 Der Psychologe und Philosoph William James (gest.1910) suchte einen Mittelweg zwischen einer rationalistischen und einer empiristischen Erkenntnistheorie. Die Pragmatische Philosophie sei immer an den empirischen Tatsachen orientiert, aber sie mache keine materialistischen Grundannahmen. Sie akzeptiert die Vielfalt der Weltdeutungen, folgt aber einem moralischen Kriterium für alle philosophischen Lehren und Konzepte. Sie respektiert auch die religiösen Ideen und Lehren, wenn sie für das persönliche und soziale Leben positive Auswirkungen zeigen. Wir müssen erkennen, dass alle unsere Erkenntnisse vorläufig und überholbar sind. Auch sie werden an einem moralischen Kriterium gemessen, denn sie sollen für unser Leben und die Gesellschaft einen Nutzen haben. Deswegen müssen alle Begriffe, Ideen, Weltdeutungen und religiösen Lehren im Lichte ihrer praktischen Folgen für das Zusammenleben der Menschen überprüft werden.52 Die Wahrheit einer Theorie hängt folglich von der Rolle ab, die sie bei der Lösung von Problemen spielt. Verschiedene Sichtweisen und Theorien sind daher ein Mittel, um die Kohärenz unseres Wissens zu bewahren. Weil es kein letztes und perfektes

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Wissen geben kann, sind uns viele Wege der Wahrheitsfindung möglich. Damit bestimmte W. James das Verhältnis von Sein und Sollen neu, er sah die Wahrheit von Aussagen immer schon mit bestimmten Wertannahmen verbunden. Die Bewertung von Handlungen erfolge immer im Kontext von Weltdeutungen und Glaubensannahmen. Sein und Sollen sind in der praktischen Lebensgestaltung nicht so scharf zu trennen, wie es die Logik gerne möchte. Daher haben auch religiöse Ideen einen positiven Wert und Wahrheitsgehalt bei der Gestaltung von Lebensformen, denn sie geben den Glaubenden viele Überlebensvorteile. Es sei aber notwendig, zwischen seelisch gesunden und seelisch kranken Religionslehren zu unterscheiden. Die ersten seien zu fördern, denn sie haben positive Folgen für unsere Lebensgestaltung. Die zweiten aber sollten überwunden werden, denn sie stören das Leben der Menschen.53 In den Inhalten der Religion spielen immer emotionale Prozesse die gestaltende Rolle, daher seien die rationalen Analysen immer sekundär. So könne der Glaube an das Ewige und Göttliche die Solidarität der Menschen stärken und festigen. Im religiösen Glauben bekomme der Einzelne einen neuen Stellenwert im unpersönlichen Weltall. Die letzte göttliche Wirklichkeit werde als „Du“ ansprechbar, dadurch erleben die Glaubenden Geborgenheit in einer ausgesetzten Welt. Da die Menschen verschiedene Vorstellungen vom Göttlichen haben, sind viele Religionen möglich. Das Universum könne nicht allein von den Naturwissenschaften interpretiert werden, denn unser Leben habe immer auch einen seelischen, emotionalen und psychologischen Aspekt. Aber grundsätzlich sei ein Empirismus in den Naturwissenschaften mit religiösen und mystischen Einstellungen zum Leben verträglich. Diese Ideen wurden vor allem zu Beginn des 20. Jh. vielfältig weiterentwickelt.54 So entwickelte sich der Pragmatismus zu einer breiten Weltanschauung, die wie der Empirismus zuerst nach den Tatsachen (facts) und nach den beobachtbaren Folgen von Denkkonzepten fragte. Diese Weltanschauung stimmte auch mit dem Utilitarismus weitgehend überein, da sie die Bedeutung der praktischen Folgen von Ideen untersuchte. Denn der Pragmatismus verstand sich nicht als fertige Doktrin, sondern als eine Methode der Welterkenntnis und der praktischen Weltgestaltung. Es wird davon ausgegangen, dass uns keine letzten und sicheren Wahrheiten zugänglich sind, weil uns dafür keine Evidenz gegeben sei. Daher sei es vernünftig, alle Begriffe und Annahmen im Lichte ihrer praktischen Folgen für das Leben der Einzelnen und der Gesellschaft zu beurteilen. Als wahr gelten jene Annahmen und Aussagen, welche positive Folgen für die individuelle und das soziale Leben haben. Und Theorien gelten dann als wahr, wenn sie brauchbare Instrumente zur Erklärung und zur Vorhersage von Naturphänomenen oder von gesellschaftlichen Entwicklungen geben können. Aber wie die kognitiven Aussagen so müssen auch die moralischen Wertungen für das Zusammenleben der Menschen nützlich und förderlich sein. Folglich können auch religiöse Vorstellungen und Ideen, etwa die Existenz Gottes, für das Leben der Menschen nützlich und hilfreich sein. Doch müssen auch alle religiösen Lehren und Normen nach ihrer Wirksamkeit für das individuelle und das soziale Leben geprüft werden. Daher werden in der Religion nur die nützlichen und tauglichen Ideen überleben, aber das gelte auch für die wissenschaftlichen Hypothesen und Theorien.

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Denn alle unsere Erkenntnisse seien vorläufig und überholbar. Im Bereich der Religion und der Moral gehe es immer um emotionale Prozesse und davon abhängige Entscheidungen, nicht um rationale Überlegungen oder kognitive Einsichten. So können die Menschen in der Religion mit einem göttlichen „Du“ kommunizieren, was ihnen Geborgenheit im Kosmos schenkt. Gott stehe daher immer in einer Verbindung zu den Menschen, so gesehen sei er ein endliches Wesen.55 Weiter entwickelt wurden diese Lehren des Pragmatismus von John Dewey (gest. 1952), der sich vor allem mit Fragen der Soziologie, der Pädagogik und der Politikwissenschaft befasste. Viele seiner Ideen hat er bereits im 19. Jh. entwickelt, deswegen wird er hier dargestellt. Das Denken könne nicht als reine Schau des Seins verstanden werden, wie die Idealisten es taten, denn das theoretische Erkennen könne nie vom praktischen Handeln und damit von einer Lebenswelt und Lebensform getrennt gesehen werden. Das Erkennen sei immer eine menschliche Reaktion auf Reize der Außenwelt, um das Überleben der Einzelnen und der Gruppe zu sichern. Die Menschen müssen sich immer den Bedingungen ihrer natürlichen Umwelt anpassen, darin liege der Anfang jeder Erkenntnis der Außenwelt. Dabei werden die Erfahrungsinhalte mental so rekonstruiert, dass sie der Situation angemessene Verhaltensreaktionen möglich machen. Die Erkenntnis der Außenwelt besteht somit in der optimalen Rekonstruktion der aufgenommenen Daten. Nun werden im Prozess der Erkenntnis Theorien entwickelt, die immer an den praktischen Folgen für das Leben der Menschen zu messen sind. Dabei ist die Erkenntnis immer auf Wertungen bezogen, die in einer Kultur und Lebenswelt als bewährt tradiert werden. In der Philosophie engagiert sich die menschliche Intelligenz für die Umgestaltung der Natur und der Gesellschaft für das allgemeine Wohl der Menschen. Folglich ist der erkennende Mensch immer ein Handelnder, aber er muss Verantwortung für sein Handeln übernehmen. Aber wir können in der Theorie der Ethik und der Moral nicht mehr von einem höchsten Wert (wie Platon) oder einem letzten Ziel (wie Aristoteles) ausgehen, denn alle unsere Ziele und Lebenswerte sind in einer Entwicklung und daher relativ und veränderbar. Doch es ist vernünftig, die Selbsttätigkeit und die Eigenverantwortung jedes Menschen zu fördern und zu fordern, zum Wohl der Gesellschaft. Dies sei in der demokratischen Staatsform am besten möglich. Nun könne der Staat niemals nur theoretisch betrachtet werden, sondern es müsse in jeder Staatslehre immer von konkreten Personen und Gruppen, von gesellschaftlichen Bewegungen und sozialen Dynamiken ausgegangen werden.56 Mit dieser Sichtweise haben die Denker der Pragmatischen Philosophie am Ende des 19. Jh. wesentlich zu einer realistischen Weltsicht, zu einer handlungsbezogenen Ethik, zu einer Moral der persönlichen Verantwortung und zu demokratischem Bewusstsein beigetragen, das sich in Westeuropa und Nordamerika langsam durchsetzen konnte.

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Im 19. Jh. konnten sich umfassende Ideologien entwickeln, welche große Teile der Gesellschaft prägten, die aber in ihrer Weltdeutung weit auseinander lagen. Ideologien sind Lehr- und Glaubenssysteme, welche mit einem absoluten Geltungsanspruch vertreten werden, die starke Feindbilder aufbauen und welche die ganze Welt dichotom deuten. Durch die erschreckenden Ereignisse der Französischen Revolution wurden bei vielen Zeitgenossen die optimistischen Erwartungen des kulturellen und des politischen Fortschritts stark gedämpft, oder sogar in das Gegenteil verkehrt. Zwar wirkten bei vielen Gebildeten die Zielwerte der rationalen Aufklärung noch weiter, starke Eliten glaubten weiterhin an die Kräfte der Vernunft und der Freiheit bei der Gestaltung des gesellschaftlichen Lebens. So wirkte der Entwurf des Fortschritts des menschlichen Geistes von A. de Condorcet noch lange Zeit nach. Denn er war überzeugt, dass die fortschreitende Rationalisierung aller Lebensbereiche den Menschen mehr an Glück und Freiheit bringen werde. In seinem Katalog der allgemeinen Menschenrechte gab er die Zielrichtung für eine vernünftige Weiterentwicklung der Gesellschaft vor.1 Doch die Gegner der rationalen Aufklärung und der Französischen Revolution entwickelten nun sehr schnell ihre konservativen und repressiven Glaubenssysteme, um die alte aristokratische Ordnung retten zu können. In der Begründung ihrer Glaubenssysteme griffen sie zumeist auf das europäische Herrschaftschristentum bzw. auf die alte „Reichskirche“ zurück, denn sie allein schien nun ein Garant der alten Ordnung zu sein. Gleichzeitig bezogen sie sich auf Platon und seine Vorstellung von ewigen Ideen und ewigen Weltgesetzen, nach denen die Gesellschaft und der Staat eingerichtet seien. Die Menschen durften diese Gesetze und Sozialordnungen nicht verändern, was schon die griechischen Sophisten wollten. Im Grund hatten die Denker der Aufklärung bei den Denkmodellen der Sophisten und der Stoiker und Epikuräer angeknüpft, doch ihre Gegner hielten sich nun wieder an Platon und Aristoteles. Genau besehen haben wir es in diesem kulturellen Prozess um keine „Dialektik“ der Aufklärung zu tun, wie ein Buchtitel über eine Aufsatzsammlung von M. Horkheimer und Th. Adorno 1948 suggerierte. Denn es haben keine Ideen der rationalen Aufklärung in ihr Gegenteil dialektisch umgeschlagen, sondern die Gegner der Auf-

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klärung ergriffen wieder die politische Macht und die theoretische Deutungshoheit. Der Prozess der rationalen Aufklärung wurde von ihren erbitterten Gegnern einfach mit politischer Gewalt abgebrochen. Mit dem Begriff der „Dialektik“, einer kognitiven Leerformel, wird hier gar nichts erklärt. Es ist erstaunlich, dass dieses neomarxistische Denkmodell bei einigen Denkern noch bis heute nachwirkt. Vielmehr wurde in ganz Europa im 19. Jh. um die politischen Glaubenssysteme und Ideologien hart gerungen, und zwar von den gegensätzlichen Geisteskräften. Auf der einen Seite wurden weiterhin liberale, demokratische und soziale Lebensformen angestrebt und zum Teil auch verwirklicht. Diese Strebungen waren in den angelsächsischen Ländern, in Nordamerika, in Holland und in Nordeuropa stark. Auf der anderen Seite rangen die autoritären und repressiven Kräfte in der Politik und in der Weltdeutung um die alten Herrschaftsformen der Aristokratie, in starker Kooperation mit den Leitungen der verschiedenen Kirchen. Innerhalb der „Heiligen Allianz“ unterstützten die lutherische, die calvinische, die unierte, die katholische und die orthodoxe Kirchenleitung die repressive Politik ihrer Länder. Dies blieb so bis zum Ende des 19. Jh., denn noch zu Beginn des Ersten Weltkriegs (1914) kämpften die europäischen Mittelmächte gegen die „Dekadenz“ der Engländer und Franzosen.

Konzepte des Traditionalismus Der französische Abbe Emmanuel Joseph Sieyes (gest. 1836) sah in den allgemeinen Menschenrechten die tragenden Säulen des zukünftigen Staates. Der „Dritte Stand“ der Bürger trage nun die Gesellschaft, denn er gewinne die Rohstoffe und verarbeite sie zu wertvollen Produkten, er bringe die wichtigsten Dienstleistungen. Der Adel und der Klerus seien weitgehend überflüssig geworden. Gegen diese egalitären Ideen regte sich bald heftiger Widerstand, die Kräfte der „Tradition“ und der „Restauration“ sammelten sich sehr schnell. Sie warnten vor einer Überschätzung der Kräfte der menschlichen Vernunft und vor einer Überbewertung der individuellen Freiheit. Bereits 1790 schrieb E. Burke in seinen „Betrachtungen über die Französische Revolution“, die gewachsenen Ordnungen der Gesellschaft dürften nicht mutwillig zerstört werden. Ähnlich dachte Joseph de Maistre (gest. 1821) in seinen „Betrachtungen über Frankreich“. Auch er verteidigte die alte aristokratische Ordnung und warnte vor demokratischen Experimenten. In der Revolution sah er ein „Attentat gegen Gott“, denn er hatte sich von einem moderaten Freimaurer zu einem extremen Kritiker der rationalen Aufklärung gewandelt. Nun lehnte er die Ideen der Volkssouveränität, des Staatsvertrags und der menschlichen Autonomie entschieden ab. Denn er sah in jedem Staat und in der gesamten Welt die „göttliche Vorsehung“ am Wirken, in diese dürften die Menschen niemals eingreifen. Die hierarchische und aristokratische Ordnung im Staat sei von Gott gewollt und dürfe von Menschen nicht umgestoßen werden. In der Auslegung der göttlichen Vorsehung sei der Papst in Rom die höchste politische und moralische Instanz. Er sei der Führer der gesamten Menschheit in

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den Fragen des Glaubens und der Moral, er bilde die höchste Autorität der gesamten Menschheit.2 Der italienische Kamaldulensermönch Bartolomeo Alberto Cappelari (gest. 1846) verfasste 1799 ein Buch „Der Triumph des Heiligen Stuhles und der Kirche“ gegen die politischen Neuerer in der Zeit Napoleons. Darin ging er von der „Unfehlbarkeit“ (infallibilitas) des Papstes in Fragen des religiösen Glaubens und der Moral aus, alle Menschen seien seiner Autorität unterworfen. Als Papst Gregor XVI. (ab 1832) kämpfte er entschieden gegen die „Irrtümer“ der neuen Zeit, nämlich gegen den Liberalismus in der Politik, gegen die Freiheit der Presse, gegen die Gewissensfreiheit, den moralischen Relativismus und gegen die geforderte Trennung von Kirche und Staat. Zusammen mit vielen Politikern war er ein Vorkämpfer der Restauration der feudalistischen Ordnung und des politischen Traditionalismus.3 Sehr ähnlich dachte der französische Graf und Politiker Rene de Chateaubriand (gest. 1846), der 1802 ein Buch „Genie de Christianisme“ verfasste. Darin wollte er vor allem die katholische Glaubenslehre vor aller Kritik der rationalen Aufklärung in Schutz nehmen. Daher beschrieb er die großen moralischen, politischen, sozialen und zivilisatorischen Leistungen der christlichen Religion. Später wurde das Buch zu einer „Bibel“ für die französischen Romantiker, welche diesen Ideen mit Begeisterung folgten.4 Auch der deutsche Dichter Friedrich von Hardenberg (Novalis) verfasste eine Schrift „Die Christenheit in Europa“, in der er seine starke Hoffnung auf eine einheitliche christliche Kultur ausdrückte. Diese Kultur sollte vor allem vom Denken und der Lebenswelt des Mittelalters geprägt werden, dort sei der Glaube an das Göttliche und Heilige stark gewesen. Die Reformation und die Aufklärung seien Fehlentwicklungen der Kultur in Europa gewesen, sie müssten überwunden werden. Die Erneuerung Europas könne nur aus dem Geist des mittelalterlichen Christentums geschehen, diesen Vorstellungen folgten fortan die meisten Dichter und Denker der Romantik.5 Der französische Philosoph und Politiker Louis de Bonald (gest. 1840) erstrebte wieder die „Restauration“ der alten aristokratischen Ordnung. Er wurde zum Begründer des Traditionalismus in Frankreich, denn er argumentierte gegen den Optimismus der rationalen Aufklärung und gegen die Überschätzung der Vernunft. Daher müssen die alten Religionslehren und Moralwerte wieder durchgesetzt werden. Jeder Mensch sei von seiner Religion, von seiner Sprache und von seiner Geschichte abhängig, doch der Glaube an die Kraft der Vernunft bringe uns in der Politik nicht weiter. Denn die menschliche Vernunft sei ja durch die „Erbsünde“ geschwächt, wie die Theologen lehrten. Daher erhalten wir die Gewissheit über die Wahrheit unserer Erkenntnisse nur aus der „Tradition“ unserer christlichen Kultur. Diese Tradition sei die von Gott gegebene Ordnung, wir können sie als göttliche „Offenbarung“ ansehen.6 Auch der italienische Theologe Vincenzo Gioberti (gest. 1852) sah in der Sprache der Menschen eine göttliche Uroffenbarung. Denn mittels der Sprache können wir Menschen das Wesen der Dinge und Gott als Ursache alles Wissens erkennen und ausdrücken. Zwar sei auch die Vernunft ein göttliches Geschenk, doch diese sei

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durch die Ursünde Adams geschwächt. Immer sei die Sprache die Trägerin der alten Traditionen, die von uns Menschen nicht verändert werden dürfen. Jedes Denken sei von der Sprache abhängig, in jeder Sprache seien ursprüngliche Denk- und Lebensmuster zu finden. Die Strukturen einer gewachsenen Sprache vermitteln uns die wahre Philosophie der göttlichen Offenbarung.7 Zu den Kritikern der rationalen Aufklärung zählte auch der Franzose Claude de Saint Simon (gest. 1825), der später ein Vordenker eines christlichen Sozialismus wurde. Er verfasste mehrere Werke über die Reorganisation der Gesellschaft nach der Revolution, sowie über das „Industrielle System“. Großen Einfluss bekam sein Buch „Das neue Christentum“ (1825). Darin ging er davon aus, dass in den alten Strukturen der Gesellschaft immer schon die Keime des Neuen seien. Die Idee der Ordnung werde heute durch die technisch-industrielle Gesellschaft und durch die Erkenntnisse der Wissenschaften geprägt. Die gesellschaftliche Ordnung habe sich vom Mittelalter bis zur Gegenwart weiter entwickelt, daher sollten die alten Traditionen mit neuen Erkenntnissen verbunden werden. Die beginnende Industrialisierung suche nach neuen Autoritäten, die Philosophen müssten daher eine neue „Ideologie“ schaffen. Im Mittelpunkt dieser neuen Weltdeutung stehe ein verändertes Christentum, das mit den Prinzipien des moralischen Altruismus lebt. Denn in der neuen Zeit müssten die egozentrischen Strebungen des gewaltsamen Umsturzes überwunden werden. Daher müsse das Privateigentum der Bürger geschützt werden, doch es müsse neu definiert werden. Die staatlich geplante Wirtschaft werde einer freien Marktwirtschaft weit überlegen sein. Doch die schlecht genutzten Produktionsmittel im Staat müssten in ihrer Nutzung optimiert werden. Die Prosperität der Gesellschaft sei der höchste Wert im Staat, eine Egalität des Besitzes sei nicht anzustreben.8 Der Traditionalismus wurde nun zur Leitidee der katholischen Kirchenleitung im ganzen 19. Jh. Alle Päpste dieser Zeitepoche wandten sich in ihren Lehrschreiben gegen die Ziele der rationalen Aufklärung, gegen die allgemeinen Menschenrechte, gegen die Denk- und Gewissensfreiheit, gegen demokratische Verfahren in der Politik, gegen die Gleichheit der Menschen vor dem Gesetz und gegen die freie Wahl der Religion. So schrieb Papst Gregor XVI., die geforderte Freiheit des Gewissens sei ein irriger „Wahn“ (deliramentum). Mit dem Indifferentismus im Glauben und in der Moral könne das „Heil der Seele“ nicht erreicht werden. Die ungezügelte Meinungsfreiheit führe zum Tod der Seele.9 Die Vernunft sei nicht die oberste Norm für die Erkenntnis der übernatürlichen Wahrheiten, der Skeptizismus und der Indifferentismus seien neue Häresien. Auch der Papst Pius IX. kämpfte über 30 Jahre lang vehement gegen die Zielwerte der europäischen Aufklärung, der Naturalismus der Naturwissenschaften und der neue Pantheismus seien gefährliche Irrtümer der Zeit. Es könne keine Freiheit der Vernunft geben, auch nicht in den Wissenschaften und in der Philosophie. Denn die volle Wahrheit sei in den Lehren und Traditionen der römischen Kirche aufbewahrt. Deswegen müssten sich alle Menschen in der Welt dem Lehramt des Papstes unterwerfen, der Wille des Volkes könne im Staat niemals den göttlichen Willen ersetzen. Daher gelte der Kampf der Kleriker dem Liberalismus im Denken, in der Politik und

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in der Kultur. Die Menschen seien nicht gleichwertig, denn es gäbe die von Gott gewollte Ungleichheit im Recht, im Besitz und in der Macht.10 Die meisten Philosophen und Theologen begründeten den politischen Traditionalismus mit der alten Lehre der „Erbsünde“. Diese Lehre war nicht nur für J.J. Rousseau, sondern auch für W. James eine gefährliche Lehre. Die Traditionalisten aber waren davon überzeugt, dass die Menschen durch die Ursünde Adams, welche sich auf alle Menschen vererbt, geistig und moralisch derart geschwächt seien, dass sie zu einer autonomen und freien Lebensgestaltung gar nicht fähig seien. Deswegen brauchen alle Menschen die strenge Führung durch die alten Traditionen und Institutionen, denn diese seien Einrichtungen oder Vorgaben des ewigen „Weltgeistes“. Im protestantischen Denken wurde G.W.F. Hegel auch zu einem Wegweiser der traditionalistischen Weltdeutung.

Modelle des Sozialismus Die Anfänge des Sozialismus liegen in der Zeit der Französischen Revolution. Sozial sensible Bürger traten öffentlich für die Besserstellung der unteren sozialen Schichten, der Bauern, der Knechte und Mägde, aber auch für die Emanzipation der Frauen in einer patriarchalen Kultur, für die zentrale Steuerung der Wirtschaft und für die Begrenzung des freien Marktes ein. So forderte der Franzose CharlesFourier (gest. 1837) die Beendigung des privaten Eigentums und die Vergesellschaftung aller vorhandenen Produktionsmittel. In seiner „Theorie der Bewegungen“ (1808) entwarf er das Modell von kleinen „Genossenschaften“ (phalange), in denen die Menschen arbeiten, um sich ihren Lebensunterhalt zu verdienen. Die Mitglieder dieser Gruppen sollten sich in ihren verschiedenen Charakteren ergänzen und stützen. Ch. Fourier rechnete mit 810 Charaktertypen, jeder Typus sollte in einer Genossenschaft nur maximal zweimal vorhanden sein. Damit sollte jede Produktionsgenossenschaft maximal 1620 Personen umfassen, sie kann aber auch viel kleiner sein. Diese Gruppen sollen mit einander in Konkurrenz stehen, um optimal arbeiten zu können.11 Auch die Erziehung der Kinder sollte in den Genossenschaften erfolgen, der pädagogische Zwang soll dabei vermieden werden. Beide Geschlechter sollen gemäß ihrer Fähigkeiten zu nützlichen und sinnvollen Aufgaben in der Gemeinschaft erzogen werden. Die patriarchale Ehe, die meist von den Familien geplant wurde, sollte durch die freie Wahl der Partner ersetzt werden. Die Solidarität sei nur in den Gruppen lernbar, sie bringe den Menschen am meisten an Lebensglück. Ch. Fourier glaubte nicht an den permanenten Fortschritt der Menschen, er sah vielmehr Wellenbewegungen in der Kulturentwicklung. Seine Gegner nannten sein Modell einen „utopischen Sozialismus“, weil sie nicht an seine Verwirklichung glaubten.12 Realistischer dachte der Engländer Robert Owen (gest. 1858), der selbst einen Betrieb leitete und die empirischen Erfahrungen schätzte. Er trat für eine Verkürzung der Arbeitszeit in allen Betrieben ein, die Arbeitslosen sollten durch eine Versicherung versorgt werden, bis sie Arbeit finden. Die Kinderarbeit sollte generell verboten werden. Die Arbeiter sollten sich ihre Interessensvertreter frei wählen können.

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Das Ziel der frühen Sozialisten war die Erreichung einer Gesellschaft ohne soziale Klassen. Die Arbeit, Grund und Boden sowie das Kapital sollten in eine positive und nützliche Beziehung zu einander gesetzt werden. In dieser Gesellschaft ohne Klassen würden Privateigentum und Geld gar nicht mehr benötigt, denn alle Menschen seien in ihren Gemeinschaften gut versorgt. Die Grundlage der neuen Ordnung sei das göttliche Gesetz, das alle Menschen mit ihrem Verstand erkennen können. So glaubte R. Owen an eine neue „moralische Welt“, in der die Armen und Schwachen von den Stärkeren unterstützt werden. Er experimentierte mit einigen solidarischen Genossenschaften, doch er fand wenig Mitstreiter und Nachahmer.13 Eine radikale Sichtweise der gesellschaftlichen Verhältnisse vertrat der Franzose Pierre Proudhon (gest. 1865), denn er nannte das private Eigentum und den Besitz der Bürger „Diebstahl“ von allgemeinem Eigentum. Denn das Eigentum an Gütern werde geschaffen durch Okkupation oder durch Arbeit, doch das private Eigentum verhindere und verneine die natürliche Gleichheit (egalite) aller Menschen. Er verfasste ein Buch „System des ökonomischen Widerspruchs“ (1846), das er eine „Philosophie des Elends“ nannte. Darin beschrieb er das soziale Elend der Arbeiter und unterschied bei den Wirtschaftsgütern bereits zwischen dem Gebrauchswert und dem Tauschwert. Durch die Maschinen und durch die Arbeitsteilung würden viele Arbeitsplätze in der aufkommenden Industrie vernichtet.14 Auch P. Proudhon wollte die ganze Gesellschaft nach dem Modell einer Genossenschaft organisieren, in der alle Gruppen sich gegenseitig stützten (Mutualismus). Das Privateigentum an Gütern wird erst dann zu Ende kommen, wenn alle Geldgeschäfte generell verboten werden. An die Stelle der Banken sollten Tauschinstitute kommen, in denen Wertpapiere auf Waren ausgestellt werden. Diese Tauschinstitute sollten aber nicht vom Staat, sondern von privaten Organisationen geleitet werden. In dieser Gesellschaft müssen alle Menschen nützliche Arbeit leisten, niemand darf auf Kosten der anderen leben. P. Proudhon glaubte, dass seine ökonomischen und philosophischen Ideen die Gesellschaft in kleinen Schritten verändern werden, dafür sei keine gewaltsame Revolution notwendig. Fast alle der frühen Sozialisten folgten den Lehren des Naturrechts, denn sie gingen von der Vernunftfähigkeit aller Menschen aus. Denn es sei vernünftig, die Gesellschaft auf sozialistische Weise neu zu gestalten.15 Dabei folgten die frühen Sozialisten zum Teil noch den Ideen des J.J. Rousseau, der von der natürlichen Gleichheit aller Menschen ausgegangen war. Diese Denker wollten eine egalitäre Gerechtigkeit in der Gesellschaft erreichen, deswegen setzten sie sich kritisch mit dem beginnenden Industriekapitalismus auseinander. Sie waren davon überzeugt, dass durch den Fortschritt der Wissenschaften auch eine bessere soziale Harmonie im Staat möglich sein werde. Deswegen gründeten sie kooperative „Wohnassoziationen“, um die schlechten Wohnverhältnisse der Jungarbeiter zu verbessern. Sie organisierten in kleinem Rahmen Produktionsgenossenschaften für Gebrauchsgüter und Konsumgenossenschaften für den täglichen Bedarf. Damit wollten sie den wirtschaftlichen Wohlstand der Arbeiter langsam, aber stetig anheben. Gleichzeitig organisierten sie unter den Arbeitern Bildungseinrichtungen für Kinder und Jugendliche, denn sie wollten sowohl die Produktivität der Arbeit, als

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auch die Lebensqualität der Arbeitenden nachhaltig heben. Diese frühen Sozialisten widersetzten sich allen anarchischen Bestrebungen, die einen gewaltsamen Umsturz der Sozialordnung anstrebten.16 Vor allem in Frankreich wurde von den frühen Sozialisten eine „soziale Demokratie“ (democratie sociale) angestrebt, welche die Lebensverhältnisse der Arbeiter in den Industriebetrieben nachhaltig verbessern sollte. Sie sollte auch den Lohnarbeitern alle staatsbürgerlichen und gesellschaftlichen Rechte sichern. Auf diesem ideellen Hintergrund wurde in Deutschland durch Ferdinand Lassalle der „Allgemeine Deutsche Arbeiterverein“ (1863) geschaffen. Sechs Jahre später wurde von August Bebel die „Sozialdemokratische Arbeiterpartei“ gegründet, die sich ab 1875 „Sozialistische Arbeiterpartei“ nannte. Diese junge Partei wurde aber von der Regierung Otto von Bismarcks ab 1878 durch Ausnahmegesetze (Sozialistengesetze) in ihrer Tätigkeit schwer behindert. Ab 1890 nannte sie sich „Sozialdemokratische Partei Deutschlands“. In ihr „Erfurter Programm“ (1891) nahm sie auch einige Gedanken und Ziele von Karl Marx auf. Die angestrebten Ziele waren nun die Überwindung der sozialen Klassen, die Vergesellschaftung der Produktionsmittel, die Befreiung der Arbeiter von unnötigen sozialen Zwängen, die soziale und wirtschaftliche Absicherung aller Arbeitenden. In dieser Partei rangen lange Zeit zwei Richtungen mit einander: Die einen suchten den langen Weg der Veränderung durch stetige Verbesserung der Sozialgesetze im Staat, die anderen aber wollten den gewaltsamen Umsturz und die Revolution.17 Der frühe Sozialismus war zu Beginn des 19. Jh. stark von moralischen Impulsen und Zielsetzungen geprägt. Er ging von einem egalitären Gerechtigkeitsdenken aus, das weitgehend den Lehren des J.J. Rousseau folgte. Danach folgte die kritische Analyse des beginnenden Industriekapitalismus. Denn viele Vordenker glaubten, der wissenschaftliche Fortschritt mache auch mehr an sozialer Gerechtigkeit und an Harmonie in der Gesellschaft möglich (New Harmony von Robert Owen). Wenn die Arbeiter an Bildung und Wissen Anteil bekommen, werden sie auch mehr an wirtschaftlichem Wohlstand für alle schaffen können. Diese sozialen Prozesse müssen aber vom Staat unterstützt und organisiert werden. Eine ganz andere Richtung schlug der anarchische Sozialismus ein, der stark von Max Stirner, Pierre Proudhon, Michail Bakunin und Pjotr Kropotkin geprägt wurde. Diese Vordenker gingen davon aus, dass nicht nur der wirtschaftliche Kapitalismus überwunden werden müsse, sondern dass auch die staatliche Herrschaft zu Ende kommen müsse. Denn durch diese Herrschaften werden immer die Kapitalisten und die besitzenden Klassen unterstützt und gestärkt. Wenn aber das Privateigentum an alle Menschen im Land gerecht verteilt wird, dann werden die arbeitenden Gruppen von selbst in sozialer Harmonie zusammenleben. Dann brauchen sie keine zentrale staatliche Herrschaft und Verwaltung mehr, sie werden ganz ohne Herrschaft (anarchia) friedvoll zusammenarbeiten.18 Gegen den frühen utopischen Sozialismus entwickelten vor allem Karl Marx und Friedrich Engels den wissenschaftlichen Sozialismus, der die Entwicklung der kapitalistischen Wirtschaft auf einer sozialwissenschaftlichen Basis untersuchen wollte.

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Diese Analyse aber wurde stark durch ideologisches Denken geprägt. Sie ergab, dass die Entwicklung einer Gesellschaft fortan an die Arbeiterklasse und an die sozioökonomische Basis gebunden sei. Es lasse sich daher ein revolutionärer Sieg der Arbeiterklasse im allgemeinen Kampf der Besitzklassen mit Sicherheit voraussagen. Dabei komme es mit innerer Notwenigkeit zu einer Diktatur des Proletariats und zu einer klassenlosen Gesellschaft in einem kommunistischen Staatssystem.19 In den christlichen Kirchen entwickelte sich ein religiös motivierter Sozialismus, der immer von den Vorgaben des christlichen Evangeliums ausging. Dabei ging es um die Verwirklichung der sozialen Gerechtigkeit, aber ohne den revolutionären Umsturz der kapitalistischen Gesellschaft. Die Kapitaleigner sollten vielmehr durch staatliche Sozialgesetze dazu angehalten werden, den arbeitenden Menschen den gerechten Lohn zu zahlen und für deren Schutz und Gesundheit Mitsorge zu tragen. Zu den protestantischen religiösen Sozialisten gehörten F. Blumenhardt, H. Kutter und L. Ragatz. In der katholischen Kirche entstand die katholische Soziallehre, die jeden gewaltsamen Umsturz im Staat ablehnte, das Privateigentum schützte, aber die Kapitalbesitzer und Arbeitgeber zu mehr an sozialer Gerechtigkeit ermahnte. (Enzyklika „Rerum Novarum“ von Papst Leo XIII. von 1891). Am Privateigentum wurde festgehalten, aber es wurde die soziale Verpflichtung jedes Eigentums betont. Die Arbeiter werden zu gegenseitiger Solidarität und zu Subsidiarität aufgerufen. Dieser religiöse Sozialismus wurde von den christlichen Missionaren auch in Lateinamerika und in Afrika verbreitet.20

Leitideen der Romantik Auch die Geistesbewegung der Romantik lässt sich in ihren Grundannahmen und Wertorientierungen im weiten Sinn als Ideologie verstehen. Sie entstand zum Teil vor und zum Teil nach der Französischen Revolution als bewusste Abkehr von der Vernunftorientierung der Aufklärung. Die neue Orientierung folgte dem Erleben von Gefühlen, dem Misstrauen gegen die kritische Vernunft, der Rückkehr zu frühen Lebensorientierungen und der Wiedergewinnung des Verlorenen. In England war diese Bewegung stark mit dem Staunen über die Kräfte der „Natur“ verbunden, aber auch mit deistischen Formen der Religion. Kultiviert wurde die Sehnsucht nach dem Ursprünglichen, das einfache Leben der Bauern und Hirten wurde als Ideal gesehen. Angestrebt wurde daher die Rückkehr zum Natürlichen und die Kultivierung der Empfindungen. In den zwischenmenschlichen Beziehungen sollten Freundschaften vertieft werden, „Seelenverwandtschaften“ wurden erkundet und gepflegt. In das Blickfeld rückten die regionalen Sprachformen, weil darin besondere Lebensweisheiten oder sogar göttliche „Offenbarungen“ vermutet wurden. Viele Maler und Dichter dieser Zeit suchten das mystische Erleben und die Rückbesinnung auf griechische und römische Götterwelten.21 Gesucht wurde auch der „Genius“ der alten Sprachen und Lebensweisheiten, das Stürmen und Drängen nach geistiger Freiheit, die Leidenschaft für das Ursprüngliche. Viele Engländer folgten einem fingierten schottischen Dichter Ossian und

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seinen „Liedern alter Völker“ (Thomas Gray, Richard Hurd, Thomas Percy, Thomas Chatterton), sie suchten darin die Leidenschaften des Vorrationalen. Bald folgten auch deutsche Dichter diesen Strebungen. Johann Gottfried Herder verfasste schon 1774 seine „Philosophie zur Geschichte der Bildung der Menschheit“. Dieses Buch war für viele spätere Dichter (Novalis, August Wilhelm Schlegel) wie eine Offenbarung. Dazu kam bald die Begeisterung für die antike Kultur der Griechen und Römer und deren Schriften. Die isländische „Edda“ wurde ins Englische, ins Französische und ins Deutsche übersetzt. Auch in den Dichtungen und Gesängen der nordischen Skalden wurden tiefe Lebensweisheiten vermutet und gesucht.22 Um den Theologen und Dichter Friedrich Gottlieb Klopstock (gest. 1803) bildete sich der Göttinger Dichterbund, der eine neue Geisteskultur schaffen wollte. Dieser Vordenker hatte das Ziel, sich wieder stärker an die strengen Lebenswerte der antiken Kultur zu binden, denn der „Ungeist“ der rationalen Aufklärung sollte überwunden werden. Deswegen wurden in Göttingen Bücher von Christoph Martin Wieland verbrannt, der als Verbreiter des liberalen Denkens und der autonomen Moral denunziert wurde. Diese Göttinger Romantiker wollten viele Gärten und Häuser zerstören und ganze Städte in Asche legen, um den Ungeist der Aufklärung und die neue Technikgläubigkeit auszulöschen. Das deutsche Vaterlandsgefühl sollte auch durch Musik (Christoph Willibald Gluck) und durch Malerei ge­stärkt werden. Zu diesem Kreis gehörten Johann Heinrich Voß sowie Christian und Friedrich Stolberg.23 Es war der Glaube an die Schönheit der Natur, an das Geheimnisvolle und Verborgene, der viele Denker und Künstler bewog. Schon Johann Joachim Winckelmann wollte die antike griechische Kultur wieder mit Leben erfüllen. Friedrich Hölderlin sah in der Natur das Göttliche, die alten Göttinnen und Götter sollten wieder zum Leben erweckt werden. Auch in Romanen und Gedichten sollte die neue Geisteshaltung ihren Ausdruck finden. In Jena wirkten August Wilhelm Schlegel und sein Bruder Friedrich Schlegel, und in Heidelberg waren Clemens von Brentano und Achim von Arnim an der Volksliedersammlung „Des Knaben Wunderhorn“ engagiert. Joseph von Eichendorff verfasste Romane und Gedichte im Geist der Naturfrömmigkeit, er sprach von der Poesie des Waldes und von der Lust des Jägers. Wilhelm Heinrich Wackenroder verfasste seine „Herzensergießungen eines kunstliebenden Klosterbruders“ und betonte die Faszination der altdeutschen Kunst.24 Etwas später schrieb Ernst Theodor Amadeus Hoffmann (gest. 1822) die „Elexiere des Teufels“ und die „Serapionsbrüder“, er wollte sowohl in der Dichtung, als auch in der Musik die Macht des Unbegreifbaren darstellen. In vielen Städten mit Universitäten entstanden „Bruderschaften“, die in seelischer Verwandtschaft und in heiliger Begeisterung für das Irrationale leben wollten. In der Zeit der Napoleonischen Kriege wollten viele Romantiker das Nationalgefühl des eigenen Volkes bestärken. In Frankreich war Rene Chateaubriand deutlich von romantischen Ideen geprägt, er sah in der christlichen Religion etwas Ewiges und Geniales, trotz der zerfallenden Kirchen in seinem Land. Viele Dichter sprachen vom „Weltschmerz“ wegen der neuen politischen und technischen Entwicklungen. Dem romantischen Denkmodell folgten

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auch Victor Hugo, Jean Paul, Honore de Balzac, Henri Stendhal, Gustave Flaubert und Emile Zola.25 Auch in England klang der Traum von der Schönheit des Mittelalters noch längere Zeit nach, was bei Malern und Musikern zu erkennen ist. So war die Romantik nicht bloß eine Richtung in der Kunst, sie war auch eine politische und ästhetische Ideologie. Es ging ihr primär um die Abkehr vom rationalen Denken der Aufklärung, vom optimistischen Menschenbild der Naturwissenschaften und der Technik und damit um eine Rückkehr in eine vorwissenschaftliche Welt. Diese Denkrichtung verbreitete sich in vielen Ländern Europas, wir sehen darin die tiefe Angst vieler Zeitgenossen vor der Kultur der Moderne. Diese Angst hat sich sehr bald mit umfassenden nationalen Ideologien verbunden.26 Die romantische Denkweise und Ideologie orientierte sich am emotionalen Erleben, am Irrationalen, am Volkstümlichen, an der Rückwendung zum Mittelalter. Die innere Entzweiung der modernen Menschen durch die Wissenschaft und kritische Rationalität sollte im emotionalen Leben wieder überwunden werden. Für G.W.F. Hegel war die Romantik berufen, die Innerlichkeit des menschlichen Subjekts frei zu gestalten. Denn die Entzweiung von Natur und Geist sollte jetzt überwunden werden, und es sollten das Unfassbare in der Natur, die Vielfalt und das Fremde in den Kulturen und im Volk in den Blick kommen. Thematisiert wurden daher die Vielfalt des Lebens, das Vorbewusste und das Unbewusste, das Erträumte und Erhoffte, die Ferne des Traumes und die Dämmerung der Nacht. Das Interesse sollte nicht bloß dem Maß und der Ordnung gelten, wie in der Klassik der Kunst, es sollte neue Formen der Aufmerksamkeit wecken. Gesucht wurden nun die Sensibilität für das Fremde und das Unvernünftige, das Abgründige in der Seele, die vorläufige Synthese von Gegensätzen, das ständige Werden, das Unvollständige und Unvollkommene, die Sehnsucht nach dem Unendlichen, das Streben nach dem Lebendigen. Der Mythos und das moderne Bewusstsein sollten wieder eine Einheit bilden, es ging um eine progressive Universalpoesie oder um das Gesamtkunstwerk. Denn die Kunst und die Ästhetik sollten das Erbe der verblassenden Religion antreten. Das freie Spiel mit heterogenen Elementen sei eine Selbstsetzung des Ich, von der J.G. Fichte gesprochen hatte. Die Natur wurde von vielen als beseelt und als „schlummernder Geist“ (F.W.J. Schelling) gesehen. Die Poesie sollte lebendig und gesellig sein, sie sollte das Leben und die Gesellschaft für die Kunst sensibel machen. Nun sollten auch die herkömmlichen Konventionen aufgegeben werden, denn die neue Lebensorientierung liege in der Natur und im Natürlichen. Die Frauen seien durch ihre Sexualität und Gebärfähigkeit näher bei der Natur als die Männer. In der Geselligkeit von Freunden sollte das Leben der Einzelnen zu einem Kunstwerk werden. Doch die Einzelnen müssen sich einbinden in das übergreifende Ganze des Volkes, des Staats oder der Kirche. Diese Geistesbewegung hat nicht nur die Kunst, die Musik, die Malerei und die Dichtung geprägt, sie hatte ihren Einfluss auch auf theologische Lehren der Kirchen in ganz Europa.27

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Marxismus und Kommunismus Der Marxismus als weltumspannende Ideologie entstand in der zweiten Hälfte des Jahrhunderts, er wurde vom Philosophen Karl Marx angestoßen und später in viele Richtungen weiterentwickelt. Der Begriff „Marxismus“ wurde bereits 1872 verwendet, doch kulturgeschichtlich wird auch von einem Marxistischen Sozialismus gesprochen. Denn Karl Marx und Friedrich Engels wollten gegen die utopischen Sozialisten einen „Wissenschaftlichen Sozialismus“ darlegen und verbreiten. Sie begannen ihre Arbeit mit einer umfassenden Kritik der politischen Ökonomie ihrer Zeit. Für sie hing die Entwicklung von politischen Ideologien immer von der sozioökonomischen „Basis“ ab. Nur durch einen „Klassenkampf “ und durch revolutionäre Veränderungen könnten die Arbeiter aus den Zwängen des Kapitalismus befreit werden. Das erreichbare Ziel sei die Herrschaft der „Proletarier“ und die Verstaatlichung aller Produktionsmittel. In der angestrebten klassenlosen Gesellschaft sei das Privateigentum überwunden, alle Besitzwerte gehörten dem Staat und damit allen Bürgern (Kommunismus). Wenn alle Bürger Proletarier seien, dann sei die klassenlose Gesellschaft erreicht.28 In der kommunistischen Gesellschaft soll das Privateigentum aufgehoben werden, alle Güter und Produktionsmittel werden dann vom Staat verwaltet. Bereits die theologischen Utopisten Thomas More (16. Jh.) und Tomasso Campanella (17. Jh.) hatten von einer kommunistischen Gesellschaft geträumt, wie sie in den christlichen Klöstern verwirklicht sei. Im 18. Jh. wurde aus der Idee der Gleichheit aller Menschen von einzelnen Denkern (F. Babeuf) die kommunistische Lebensform gefordert. Die religiöse Gruppe der Leveller in England wollte ebenfalls kommunistische Ideen im Zusammenleben verwirklichen, weil die christliche Urgemeinde in Jerusalem angeblich allen Besitz gemeinsam hatte. Ab 1834 entstanden in Frankreich mehrere Geheimbünde, welche die kommunistische Zielsetzung in der Politik verfolgten. Zu dieser Zeit bildeten deutsche Emigranten in Paris, die vor der preußischen Zensur geflüchtet waren, einen „Bund der Kommunisten“, mit dem auch K. Marx in Verbindung stand. Für diesen Bund verfassten er und F. Engels im Revolutionsjahr 1848 das „Manifest der Kommunistischen Partei“. Und im Jahr 1864 wurde in Paris die „Erste Internationale Arbeiterassoziation“ gegründet. In den Jahren 1870/1871 strebte die Pariser Kommune eine freie und assoziierte Form der Arbeit für alle an, ohne Privateigentum und Kapitalanhäufung. Im Jahr 1889 wurde die „Zweite Kommunistische Internationale“ gegründet, an deren Zustandekommen bereits der Russe V.I. Lenin beteiligt war.29 K. Marx hatte zwischen einem rohen Kommunismus mit der Aufhebung des materiellen Privateigentums und einem positiven Kommunismus mit der Vereinigung aller geistigen und künstlerischen Produktivkräfte unterschieden. Die Arbeiter seien dann nicht mehr Konkurrenten, und sie seien nicht länger der Natur entfremdet. Die Einzelnen könnten sich von den Zwängen der Staatsmacht emanzipieren und sich selbst voll verwirklichen. Damit werde die menschliche Selbstentfremdung, von der

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G.W.F. Hegel gesprochen hatte, endgültig aufgehoben, jeder könne sich sein menschliches Wesen aneignen. Damit werde die volle Freiheit der Menschen möglich und das große Rätsel der menschlichen Geschichte sei damit aufgelöst. Im Kern werde jetzt der Gegensatz von körperlicher und geistiger Arbeit überwunden, die neue Form der Arbeit sei kein Mittel mehr zum Zweck des Überlebens, sondern sie sei ein erstes Lebensbedürfnis. Mit der Entwicklung der Individuen werden auch deren Produktivkräfte wachsen, alle Springquellen des genossenschaftlichen Reichtums werden üppig fließen, und sie werden allen Menschen nach deren Bedürfnissen zur Verfügung gestellt. Das sind sehr ähnliche Ziele, wie sie in den christlichen Klöstern rudimentär verwirklicht wurden. V.I. Lenin hatte zwischen einem niederen Sozialismus mit der Vergesellschaftung aller Produktionsmittel und einem höheren Sozialismus mit der Auflösung des Staates unterschieden. Durch den Kommunismus sollte für alle Menschen ein gerechter Zugang zu den wirtschaftlichen Gütern und Produktionsmitteln möglich sein. Kein Mensch sollte durch seinen Besitz Macht über Mitmenschen ausüben können. Das Ziel war ein brüderliches bzw. geschwisterliches Zusammenleben ohne private Eigentumsrechte. Die frühen Utopisten dachten an die christliche Urgemeinde in Jerusalem (Apg 2,44), doch sie wussten nicht, dass diese ersten Jesusjünger ja gar keinen Besitz hatten. Denn sie waren mit Jesus nach Jerusalem gezogen und hatten nur das, was sie tragen konnten. Der Marxismus als Lehre und politische Ideologie wurde also von K. Marx und F. Engels angestoßen und geprägt. Als Links-Hegelianer wandte sich der ältere Vordenker dieser Ideologie dem materialistischen Denken zu, denn er wollte alle idealistischen Konzepte hinter sich lassen. In seiner Schrift „Die heilige Familie“ verteidigte er aber die Lehren Hegels gegen seine Kritiker D.F. Strauß und B. Bauer. In seinen Schriften „Die deutsche Ideologie“ und „Thesen über Feuerbach“ wollte er das Wesen des Menschen nicht im Einzeldasein sehen, sondern in der Gesellschaft der menschlichen Geschichte bestimmen. Das Wesen des Menschen liege im Ensemble der gesellschaftlichen Verhältnisse. In einem System des „Historischen Materialismus“ sollte Hegels idealistisches Geistsystem durch eine materialistische Theorie der menschlichen Gesellschaft ersetzt werden. Von I. Kant und J.G. Fichte übernahm K. Marx die Einsicht, dass unsere Welt der Objekte immer erst durch das erkennende Subjekt konstruiert werde. Nun werde aber unsere reale Objektwelt immer durch die menschliche Arbeit bestimmt. In jeder Arbeit werden Güter erzeugt und es findet ein Austausch der Menschen mit der Natur statt. Auch die Religion und die Philosophie müssen von einer materialistischen Basis her kritisch beurteilt werden. Denn in der Religion artikuliert sich das Elend der Menschen, das ihre Geschichte durchzieht. In der kommunistischen Gesellschaft aber könne dieses Elend überwunden werden.30 In seiner Kritik der politischen Ökonomie setzte sich K. Marx deutlich von den Vordenkern der „bürgerlichen“ Ökonomie (A. Smith, D. Ricardo, J.B. Say) ab. Denn die dort als natürlich bezeichnete Ordnung sei historisch gewachsen und sie sei in sich widersprüchlich. Nun bestehe der innere Widerspruch der kapitalistischen Gesellschaft darin, dass durch die Erzeugung von Waren die Menschen selber zu

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Waren degradiert werden. Die Beziehungen der Menschen werden hauptsächlich durch Waren, durch Geld und durch Kapital vergegenständlicht. Und es bestehe die Gefahr, dass sich Waren, Geld und Kapital gegenüber den handelnden Menschen verselbständigen. Daher müsse das kapitalistische System mit innerer Notwendigkeit zusammenbrechen, da es nicht dem Wesen der unter sich gleichen Menschen entspreche.31 K. Marx verfolgte in seinen Theorien einen konsequenten Materialismus, für ihn waren alle politischen und philosophischen Ideen von gesellschaftlichen und ökonomischen Faktoren abhängig. Diese These vom Primat des gesellschaftlichen Seins vor dem geistigen Bewusstsein trug er mit metaphysischer Gewissheit vor. Den von ihm bekämpften „Ideologen“ unterstellte er, dass sie mit ihren Ideen die Gesellschaft verändern wollten. Er folgte also in seinem Denken einem konsequenten Soziologismus, die Philosophie verlor damit ihre Selbständigkeit und ihre Kreativität. Das Ideal der kommunistischen Gesellschaft werde dann erreicht, wenn das Privateigentum zur Gänze verstaatlich sei und vom Staat verwaltet werde. Denn in der Besitzgesellschaft des Kapitalismus seien die Menschen von ihrem sozialen Wesen entfremdet. Daher sei die kapitalistische Wirtschaft zutiefst inhuman, aber erst in der kommunistischen Gesellschaft werde der Mensch wieder mit seiner wahren Natur versöhnt. Daher zeige sich der Kommunismus als der vollendete Humanismus, darin soll es keinen Zwang zur Arbeit mehr geben, alle sollen freiwillig eine nützliche Tätigkeit ausüben. Denn durch das Zusammenwirken freier Menschen können die Bedürfnisse aller auf gleichem Niveau befriedigt werden. So werde es nach der Überwindung der Klassengesellschaft keine Ausbeutung der Arbeiter mehr geben, die sozialen Konflikte werden dann beendet sein. Der Zwangsstaat verliere dann immer mehr an Bedeutung, er werde überflüssig und werde eines natürlichen Todes sterben. Freilich sei der Übergang zur klassenlosen Gesellschaft nicht ohne Kanonen und Gewaltanwendung möglich.32 Einige Ideen von K. Marx wurden auch in den Sozialdemokratischen Parteien übernommen, die aber nicht die Aufhebung des Privateigentums forderten. Die Theorie der „Verelendung“ der Arbeiter wurde in Westeuropa noch zu Lebzeiten von K. Marx falsifiziert, und zwar durch die staatlichen Sozialgesetze in England und Frankreich und bald auch in Deutschland. F. Engel hatte den Historischen Materialismus noch durch einen Dialektischen Materialismus ergänzt. Er wollte zeigen, dass alle Vorgänge in der menschlichen Geschichte dem Gesetz der Dialektik folgten. Auf die Herrschaft der Adeligen und der Besitzbürger folge nun mit innerer Notwendigkeit die Herrschaft der Arbeiter (Proletarier). Der Marxismus verband sich im 20. Jh. mit dem Leninismus, dem Stalinismus und dem Maoismus in China. Er lebt heute noch in abgewandelter Form in der Volksrepublik China und in Nordkorea, sowie in Kuba weiter.

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Dynamiken des Nationalismus Die Ideologie des Nationalismus hat eine lange Entwicklungsgeschichte, sie erreichte in unterschiedlicher Intensität fast alle Länder Europas. Im Mittelalter waren an den Universitäten die Studenten nach Sprachnationen (nationes) gegliedert, die gemeinsame Sprache aber war das Latein. Die Vordenker der Romantik betonten wieder die Identität stiftende Funktion der Sprache. Nun waren im 19. Jh. die Sprachgrenzen noch lange nicht identisch mit den politischen Grenzen großer Reiche. Deswegen wurden von vielen politischen Denkern mit der Abgrenzung der Sprachnationen auch immer mehr politische Zielsetzungen verbunden. Als die deutschen Länder durch die Politik Napoleons in zwei feindliche Lager gespalten waren, die gegen einander lange Kriege führten, wollte Johann Gottlieb Fichte mit seinen „Reden an die deutsche Nation“ (1808) in diesen Ländern wieder das Bewusstsein der gemeinsamen Sprache und Kultur wecken. Damit sollte der politische Widerstand gegen Napoleon verstärkt werden, es war von gemeinsamen Aufgaben die Rede. Alle Menschen müssten die Idee einer Ordnung anerkennen, um sich sittlich weiter entwickeln zu können. Sie müssten ihre egoistischen Strebungen zurück drängen, um für die Gemeinschaft tätig sein zu können. Die Sprache, das Denken und die Kultur seien eng mit einander verflochten, in jedem Menschen rede seine Natur. Die natürlich gewachsene Sprache sei reich an anschaulichen Bildern, deswegen hätte sie viel politische Kraft. Die deutsche Sprache sei eine ursprüngliche und lebendige Sprache, sie gebe den Philosophen ihre tiefe Überzeugungskraft.33 In der deutschen Sprache seien die Religion und die Philosophie mit einander verbunden. Die Deutschen hätten durch die Reformation das Christentum mit einem neuen und tiefen Inhalt gefüllt und sie hätten die Philosophie für das Übersinnliche geöffnet. Damit erfülle die deutsche Philosophie einen Auftrag für die ganze Menschheit, denn sie gehe vom göttlichen Leben aus und glaube an ein absolut Erstes und Ursprüngliches im Menschen. Damit verband Fichte mit der deutschen Sprache eine idealistische und religiöse Denkform und Kultur.34 Im Oktober 1817 feierten an die 400 Studenten auf der Wartburg bei Eisenach ein patriotisches Fest mit Gottesdienst, der lutherische Theologe Hermann Riemann hielt die Festrede. Am Abend wurden Bücher und Texte von liberalen Denkern der Aufklärung verbrannt, darunter auch der Code civil von Napoleon und Werke von August Kotzebue. Diese Studenten nannten sich fortan „Burschenschaften“, sie verbanden sich bald zur „Allgemeinen Deutschen Burschenschaft“. Zu ihren Zielen gehörten die Vaterlandsliebe, der Gemeinschaftssinn, die Wahrhaftigkeit und die Frömmigkeit. Sie verbanden vaterländische und nationale Begeisterung mit dem politischen Ziel, den „Deutschen Bund“ von 1815 schrittweise zu einem „Deutschen Reich“ zu führen. In allen deutschen Ländern müssten Verfassungen erlassen werden, welche die Gleichheit der Bürger vor dem Gesetz, die Freiheit der Presse und die Kontrolle der Polizei garantierten. Klemens von Metternich nannte diese Burschenschaften „Ideologen“ und stellte sie unter polizeiliche Aufsicht.35

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Zu dieser Zeit gab es auch in Frankreich, in England, in Spanien und in Russland starke nationale Strebungen. Philosophen und Theologen lehrten fast einstimmig, ihre Nationen hätten einen „göttlichen Auftrag“ zu erfüllen. Zar Alexander I. hatte bereits einen „Heiligen Krieg“ gegen Napoleon geführt, den er als „Antichrist“ bezeichnete. In der Folgezeit der Kriege forderten viele Denker zum Kampf gegen die fremde Nation auf. So wollte Ernst Moritz Arndt einen dauerhaften Hass gegen die Franzosen schüren. Und Friedrich Schleiermacher sah den Krieg gegen Napoleon als Beginn eines „Kulturkampfes“ für deutsche Gesinnung, Religion und Geistesbildung gegen das revolutionäre Frankreich. Zuerst wurde der deutsche Nationalismus stark mit lutherischen Ideen der Reformation verbunden. So wollte der Berliner Theologe Friedrich Ehrenberg für „Zucht und Ordnung“, aber gegen Lüge und Aufstand streiten.36 Der englische Nationalismus wandte sich zuerst gegen die Spanier und Franzosen, auch er war eng mit der Anglikanischen Kirche verbunden. Samuel T. Coleridge wollte in ganz Europa die englische Kultur verbreiten, auch er sprach von Disziplin und Ordnung. Viele Engländer unterstützten den Freiheitskampf der Griechen gegen das Osmanische Reich oder den Aufstand der Polen gegen das Zarenreich. Beim Hambacher Fest (1832) forderten an die 25.000 Teilnehmer in Deutschland die Überwindung der vielen Kleinstaaten und die Errichtung eines großen nationalen Reiches. Zu dieser Zeit schrieb August Heinrich Hoffmann von Fallersleben das „Deutschlandlied“ (1841). In der Folgezeit verbanden sich liberale Strebungen mit nationalen und nationalistischen Zielsetzungen. Der aggressive Nationalismus begann dort, wo die Überlegenheit der eigenen Nation über die anderen Nationen behauptet und zum politischen Programm erhoben wurde. Auf dem Slawenkongress in Prag (1848) forderten die Tschechen die Gleichberechtigung mit den Deutschen im Reich der Habsburger.37 Die deutschen Länder begriffen sich fortan immer stärker als „Kulturnation“, sie waren stolz auf ihre wissenschaftlichen und technischen Erfindungen. So suchte die „Deutsche Fortschrittspartei“ ab 1861 die Einigung Deutschlands unter preußischer Führung. Als diese Einigung 1871 gelungen war, begannen viele Denker und Politiker, einen aggressiven Nationalismus zu vertreten. Protestantische Theologen und Historiker sahen im Sieg Preußens über Österreich (1866) ein „Gottesurteil“, einen Sieg des Protestantismus über den Katholizismus und einen „Triumph des deutschen Geistes“ (Johann Gustav Droysen). Der politische und wirtschaftliche Liberalismus verlor ab 1873 durch eine längere Wirtschaftskrise an Überzeugungskraft, in der Folgezeit wandten sich liberale Zeitgenossen einem konservativen Nationalismus zu. Eine „Nationalliberale Partei“ verdrängte die bisherige „Fortschrittspartei“, sie wurde ab 1876 durch die „Deutsch-Konservative Partei“ ergänzt, die sehr stark nationalistisch ausgerichtet war.38 Philosophische und theologische Ideengeber sprachen nun von der Überlegenheit des „deutschen Geistes“, der deutschen Wissenschaft, Technik, Politik und Kultur über alle anderen Nationen Europas. Dazu kam die religiöse Motivation, denn die deutsche Kultur habe von der göttlichen Vorsehung eine weltpolitische Aufgabe zu-

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geteilt bekommen, die es nun zu erfüllen gelte. Das jährliche Sedansfest als Erinnerung an den Sieg über die Franzosen (1870) sollte im ganzen Reich als christliches Volksfest gefeiert werden. Zu dieser Zeit bekämpfte der Berliner Hofprediger Adolf Stoecker den wirtschaftlichen und politischen Liberalismus, er sah im nationalen und im sozialen Protestantismus den wahren Zusammenhalt des Deutschen Reiches. Den neuen Feind sah er in den emanzipierten Juden, welche die Wirtschaft, die Moral und die Presse bestimmen wollten und gleichzeitig bedrohten. Mit dem Regierungsbeginn von Kaiser Wilhelm II. (1888) verband sich der konservative Nationalismus mit einem imperialistischen Programm, so entstand ein „nationaler Imperialismus“. Fast 30 Jahre lang wurde die militärische Rüstung forciert, um die deutsche Kultur mit militärischen Mitteln verbreiten zu können.39 Der englische Nationalismus bezog sich vor allem auf das Britische Empire, weniger auf den europäischen Kontinent. Die französischen Nationalisten verteidigten zum einen Frankreichs vergangene Größe (Action Francaise), zum anderen wollten sie in Kontinentaleuropa die Demokratie und die französische „Zivilisation“ (civilisation) verbreiten. Das russische Zarenreich wollte in Osteuropa und in großen Teilen Asiens russisch-orthodoxe Kultur und Lebensform durchsetzen. Und das Kaiserreich Österreich-Ungarn drohte an den nationalen und nationalistischen Strebungen der vielen Völker zu zerbrechen. Der deutsche Nationalismus war getragen von der Überzeugung der technischen, der wissenschaftlichen, der wirtschaftlichen, der politischen und der kulturellen Überlegenheit über alle Völker Europas. Damit führte die Ideologie des imperialen Nationalismus direkt in die Katastrophe des Ersten Weltkriegs hinein.40 Ein schwacher Nationalismus geht von einer Staatenordnung aus, nach der jede Staatsnation das Recht zur politischen Selbstbestimmung hat. Dabei wird die prinzipielle Gleichwertigkeit der Nationen vorausgesetzt. Doch ein starker Nationalismus geht immer von der Überlegenheit der eigenen Nation über andere Länder, Staaten und Nationen aus. Er trägt damit die Züge einer politischen Ideologie mit starken Tendenzen zur Abgrenzung und Ausgrenzung, zur Schaffung von Feindbildern. Er steigert sich zu einem imperialen Nationalismus, welcher der eigenen Nation das natürliche Recht auf Herrschaft und Bestimmung über andere Länder, Staaten und Kulturen zuspricht. Einige Vordenker dieser politischen Ideologie unterteilten die die Erde in Herrenvölker und in Sklavenvölker. Diese aggressive Ideologie trägt immer den Keim des Krieges in sich, denn sie möchte andere Völker erobern und besiegen.41 Wir sehen in Europa im späten 19. Jh. einen deutlichen Sozial-Darwinismus, der sich mit der nationalistischen Ideologie verband. Denn im extremen Nationalismus ist das eigene Staatsvolk der höchste Wert und der alleinige Handlungsmaßstab für die Gesellschaft. Nun verbreitete sich der Nationalismus in Europa in mehreren Phasen und Entwicklungsstufen. Ein vorstaatlicher Sprach-Nationalismus trug wesentlich zur Staatsbildung großer Länder bei, etwa des Deutschen Reiches und des Königsreichs Italien. Ein starker Sprach-Nationalismus war auch die Triebkraft für die Bildung neuer Staaten, etwa Serbien, Griechenland, Bulgarien, Rumänien u.a.

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Doch er bahnte auch die Auflösung großer Reiche mit vielen Sprachnationen an, etwa das Kaiserreich Österreich-Ungarn.42 In einer zweiten Phase trug der Sprach-Nationalismus dann zur inneren Festigung von neuen und alten Staaten bei. Die Politiker nennen große Aufgaben für ihre Staaten, etwa für das Deutsche Reich, für Italien, aber auch für England und Frankreich. Sie beziehen sich dabei auf die Verwaltung von Kolonien in Afrika oder auf anderen Kontinenten, oder sie sprechen von Aufgaben in Osteuropa (Deutsches Reich), im Mittelmeerraum (Italien) oder in der slawischen Welt (Russland). Die sprachnationalen Abgrenzungen ersetzten immer mehr die konfessionellen Grenzen religiöser Bekenntnisse. Vor allem der imperiale Nationalismus tendierte zur Unterdrückung von ethnischen Minderheiten, zur Intoleranz gegen Fremde, zur Aggression gegen Nachbarländer und zur Errichtung großer Herrschaftsgebiete. Das System der europäischen Kolonialstaaten erlaubte ab 1870 auch dem Deutschen Reich und dem Königreich Italien die Eroberung und Verwaltung von Kolonien in Afrika. Die geistige und militärische Aufrüstung führte große Staaten zu einer aggressiven Außenpolitik und zu starken Bündnissystemen. Der harte Nationalismus versprach seinen Staatsbürgern die feste Einbindung in eine Gemeinschaft, Schutz und Sicherheit, die Mehrung des Wohlstands auf Kosten anderer Länder.43 Diese politische Ideologie deckte viele innenpolitischen Spannungen und Konfliktfelder zu, die potentielle oder tatsächliche Aggressivität der Staatsbürger wurde nach außen gelenkt, auf neue und stereotype Feindbilder. Statt des inneren Klassenkampfes sollte es den nach außen gerichteten Nationenkampf geben. Am Anfang des 19. Jh. hat der Nationalismus in Europa staatenbildend und staatenstabilisierend gewirkt. Er hat aber immer den Überlegenheitsanspruch der europäischen Länder gegenüber den Kolonien in Afrika und Asien aufrechterhalten und verstärkt. Er hat multi-kulturelle Staaten zur Auflösung gebracht, und er hat die großen militärischen Konflikte des frühen 20. Jh. vorbereitet.44

Entwicklung des Antisemitismus Der Begriff Antisemitismus ist erst 1879 im Berliner Antisemitismus-Streit geprägt worden. Kulturgeschichtlich gesehen handelt es sich um einen Antijudaismus, weil der Kampf nicht gegen alle semitischen Völker, sondern nur gegen die Juden gerichtet war. Da die Juden sich schon in der Antike scharf gegen die persische, griechische oder römische Kultur abgegrenzt hatten, kam es vereinzelt zu judenfeindlichen Äußerungen und Aktionen (z.B. in Alexandria). Der große religiöse Konflikt aber begann, als die Jesusjünger und die frühen Christen sich von der jüdischen Religion trennten bzw. von ihr ausgeschlossen wurden. Nun sahen die Juden in den Christen abgefallene „Häretiker“. Viele Christen aber bezeichneten die toratreuen Juden als ein „verstocktes Volk“, auf dem nun der göttliche Zorn laste. Da sie in Jesus Christus einen göttlichen Sohn sahen, nannten sie die Juden fortan „Christusmörder“ bzw. „Gottesmörder“. Einige Christen sagten, die Juden seien „Söhne des Teufels“

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(Joh 8,44), auf ihnen laste ein ewiger Fluch. Diese Lehren wurden in der ganzen Christentumsgeschichte weitergegeben und in der Liturgie gefeiert (Karfreitag).45 Doch vom Staat waren die Juden meistens geschützt, sowohl im Römischen Imperium, als auch in den islamischen und christlichen Herrschaftsgebieten. Trotzdem kam es in der christlichen Kultur immer wieder zu Judenverfolgungen, zu Vertreibungen und zu Massenmorden an Juden (Pogrome). Durch die Denkbewegung der rationalen Aufklärung und durch die Französische Revolution bekamen die Juden in den meisten Ländern Europas ständig mehr an bürgerlichen Rechten. Sie durften die Ghettos verlassen, an den Universitäten studieren, fast alle Berufe ergreifen und auch als Beamte im Staat tätig sein. Aus diesem Grund wuchs in Europa die Angst vor der Emanzipation und der wirtschaftlichen und wissenschaftlichen Leistungskraft der jüdischen Mitbürger in einigen Teilen der Bevölkerung stark an. Diese Angst wurde von konservativen und nationalistischen Theologen und Philosophen ständig geschürt. Als die jüdischen Mitbürger fast alle Berufe ergreifen konnten, entstand vor allem unter Rechtsanwälten, Ärzten, Theologen und Unternehmern die fast panische Angst, die Juden könnten zuviel an Einfluss im Bereich der Wirtschaft und der Politik bekommen. Zu dieser Zeit forderten Theologen und Kleriker beider Kirchen, der Staat müsse die Rechte der Juden wieder einschränken.46 Ab 1879 hielt der Berliner Hofprediger Adolf Stoecker kritische Reden gegen die Juden und löste damit den Berliner Antisemitismus-Streit aus. Bald danach wurde eine „Antisemitisten-Liga“ gegründet und es kamen vermehrt antijüdische Politiker in den Reichstag. In Österreich-Ungarn begannen die kämpferischen Parolen gegen die Juden mit dem Börsenkrach von 1873, weil die Schuld am Zusammenbruch den jüdischen Bankiers unterstellt wurde. Einen rassistischen Antisemitismus vertraten in Wien Georg von Schönerer und Karl Lueger. Nicht wenige katholische Theologen wie August Rohling, Sebastian Brunner oder Joseph Deckert verbreiteten Parolen gegen die Juden. Sie unterstellten ihnen Hostienfrevel, Ritualmorde und das Streben nach der Weltherrschaft.47 Die römischen Jesuiten fassten die Argumente gegen die Juden in ihrer internationalen Zeitschrift „Civilta cattolica“ im Jahr 1890 zusammen, die in fünf Sprachen gedruckt wurde. Darin forderten sie wieder die klare Trennung zwischen Juden und Christen in allen Staaten der Welt. Der Chefredakteur P. Francesco Barardinelli schrieb, die Juden hätten einen gefährlichen Einfluss auf die Banken, die Zeitungen, die Politik, die Kultur und die Moral, sie bedrohten die christliche Religion. Sie strebten nach der Weltherrschaft, denn sie hätten mit ihrem Geld die Französische Revolution angestiftet und gekauft. Dann hätten sie den Päpstlichen Kirchenstaat beendet. In der Französischen Revolution hätten sie ihre Forderungen nach Gleichheit, Freiheit und Gerechtigkeit durchgesetzt, jetzt hätten sie fast überall in Europa die gleichen Rechte wie die Christen. Überall kämpften sie um die allgemeinen Menschenrechte und die Freiheit des Gewissens, die Vereinigten Staaten von Amerika seien durch jüdisches Geld gegründet worden.48 In Paris sei die Hälfte der Banken bereits in jüdischer Hand. Auch der bayerische Theologe Georg Ratzinger, der Großonkel von Papst Benedikt XVI., kämpfte vehe-

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ment gegen die Vormacht der Juden in Europa. Er sagte, diese verfügten weltweit bereits über die Hälfte des beweglichen Kapitals. In Paris sei die „Jüdische Weltunion“ gegründet worden, um die wirtschaftliche und politische Weltherrschaft vorzubereiten. Die Jesuiten fuhren fort, die Juden seien bereits tief in die Kirche eingedrungen, mit ihren allgemeinen Menschenrechten hätten sie Christus vom Thron gestürzt. In ganz Europa wollten sie jetzt ihre Republiken errichten, um diese dann mit ihrem Geld beherrschen zu können. In etwa 100 Jahren könnten sie die Herrschaft über die ganze Welt erreicht haben. Auch hinter den Freimaurern, den Sozialisten und den Kommunisten seien die Juden versteckt, in Europa sei ein „luziferischer Drachentanz“ in Gang gekommen. Doch nun müssten sich die christlichen Staaten der „jüdischen Pest“ erwehren, solange es noch Zeit sei.49 Jetzt müssten alle christlichen Staaten die jüdischen Güter wieder konfiszieren, wie das vor der Zeit der Aufklärung der Fall gewesen sei. Doch die Juden sollten nicht getötet, sondern in andere Länder vertrieben werden (non morte al giudeo, ma fuori il giudeo). Die Christen könnten nicht mit ihnen zusammen leben, Juden seien wie Vampire, sie saugten die christliche Kultur aus. Wie wilde Bestien stürzten sie sich über die Menschheit. Die Päpste seien bisher zu den Juden viel zu tolerant gewesen, jetzt müssten alle Staatsmänner handeln. Die Juden müssten wieder wie Ausländer und Fremde behandelt werden, sie dürfen nicht die gleichen Rechte wie die Christen haben. Doch die Trennung der Juden von den Christen müsse im Geist der christlichen Nächstenliebe und Barmherzigkeit geschehen. Jetzt aber lebten die Christen im Zustand der Sünde, aber bald werde ein göttliches Zorngericht folgen. Ein „neuer Attila“ (nuovo Attila) werde kommen und die Demokratien der Juden zerstören. Er werde ihre Fabriken, Börsen und Theater zertrampeln. Denn Christus erhebe sich zu jeder Zeit gegen das Horn seiner Feinde.50 Damit hatten die Jesuiten scharfsinnig die antijüdische Stimmung in vielen katholischen Ländern zusammengefasst. In der Folgezeit entwickelte sich der Antijudaismus bzw. Antisemitismus zu einer gefährlichen Ideologie, die erst im 20. Jh. (Holocaust) ihre volle Zerstörungskraft entfaltete. Kulturgeschichtlich gesehen ist der Antijudaismus im 19. Jh. eine hoch aggressive politische Ideologie geworden. Die Träger und Multiplikatoren dieser Judenfeindschaft waren nicht die Arbeiter und Bauern, sondern Politiker und Prediger, Philosophen und Theologen, Beamte und Unternehmer. Sie machten für alle politischen Entwicklungen, die sie ablehnten, die Juden und die Freimaurer verantwortlich: für die Französische Revolution, für die entstehenden Demokratien, für die allgemeinen Menschenrechte, für den entstehenden Kapitalismus, für den Sozialismus und das Egalitätsdenken. Juden und Freimaurer wurden die stereotypen Sündenböcke für die nicht akzeptierte Modernisierung der Gesellschaft. Dabei wussten die Antisemiten sehr genau, welch großen Beitrag jüdische Unternehmer und Bankiers in allen Ländern Europas zur wirtschaftlichen Prosperität leisteten.51 Viele Antisemiten fürchteten um ihren eigenen wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Abstieg, daher war die Ablehnung der Juden vor allem im gehobenen Bürgertum und in Teilen der Aristokratie verbreitet. Denn viele jüdische Mitbürger prägten

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zu dieser Zeit in ganz Europa die Kunst und Kultur entscheidend mit, sie schufen mit starkem finanziellem Engagement die großen Bauwerke und Palais in Europas Städten. Doch in der Politik und in der Beamtenschaft waren sie unterrepräsentiert. Nun konnten die Antisemiten in allen Ländern mit der Unterstützung der Prediger und Theologen, aber auch der Kirchenleitungen rechnen. Im Hass gegen die Juden bildete sich sogar eine Ökumene der christlichen Kirchen, der Protestanten, der Katholiken und der Orthodoxen. Selbst für die Atheisten und Agnostiker blieben die Juden weiterhin die Christusmörder und die Gottesmörder.52 So lieferte die christliche Religion fast geschlossen die Legitimation für die Judenfeindschaft, es gab nur wenig Prediger und Theologen, welche die Juden verteidigten und in Schutz nahmen. So hatte die Judenvernichtung im 20. Jh. eine ideelle Vorlaufzeit von 60 bis 70 Jahren, also von zwei bis drei Generationen. In dieser Zeit wurde enormes Hasspotential gegen die jüdischen Mitbürger aufgebaut, es kann sich dabei aber auch um einen christlichen Selbsthass gehandelt haben. Denn das Christentum kam aus dem Judentum und hatte jüdische Wurzeln. Viele Antisemiten versteckten ihren Hass auf die christliche Religion hinter ihrem Hass gegen die Juden. Doch dieser Hass auf die Juden war mit dem Beginn des Reichschristentums (380 n.Chr.) grundgelegt worden. Denn wenn die Kirchenleitungen durch viele Jahrhunderte die Ketzer und Häretiker, die Hexen und Zauberer und auch die Juden verfolgen konnten, dann konnte der Hass auf die Juden nicht unerlaubt sein. E. Levinas sah in diesem Hass den Ausdruck eines infantilen Gehorsamschristentums.53

Anfänge der Rassenlehre Zu einer sehr aggressiven und destruktiven Ideologie entwickelte sich in Europa die Rassenlehre (Rassismus), die biologische Erkenntnisse über die Tierwelt auch auf Menschen und Völker übertrug. Der französische Graf A. Boulainvilliers sah im französischen Adel die direkten Nachfahren der „Rasse der Franken“, die er deutlich von der Rasse der Romanen unterschied. Im Jahr 1839 verfasste Joseph Arture de Gobineau ein Buch über die „Ungleichheit der Menschenrassen“. Darin betonte er die körperlichen und geistigen Verschiedenheiten der Völker, vor allem der Europäer und der Afrikaner. Als Aristokrat glaubte er, dass nicht „ebenbürtige“ Völker sich nicht biologisch vermischen dürfen; ähnlich wie sich nach alten aristokratischen Regeln die Adeligen nicht mit Bürgerlichen vermischen sollten. Denn diese Vermischung führe zum Niedergang der Kultur. Dieser Autor hatte die alten aristokratischen Heiratsregeln nun auf ganze Völker übertragen. Die Arier, zu denen die Franken gehörten, seien die stärkste aller kulturfähigen Rassen. Aber die seit der Revolution in Frankreich angestrebte Gleichheit und Gleichwertigkeit (egalite) der Menschen sei ein schwerer Verstoß gegen die Prinzipien der menschlichen Natur. Deswegen müsse die Demokratie mit allen Mitteln bekämpft werden, denn durch die Vermischung der Rassen komme es zur „Bastardisierung“ und zur Unreinheit des Blutes. Die höheren Rassen (Weiße) dürften sich nicht mit den niederen Rassen

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(Schwarze) vermischen, denn dies führe zum „Weltuntergang“. Denn nur die weißen Rassen seien dazu befähigt, die Weltgeschichte zu gestalten. Deswegen müssten auch die egalitären Lehren des Christentums jetzt endgültig überwunden werden.54 Bald nach den Entdeckungen von Charles Darwin über die Abstammung der Arten bildeten einige Biologen und Philosophen eine sozial-darwinistische Lehre. Sie gingen davon aus, dass im „Kampf ums Dasein“ nur die tüchtigsten Menschenrassen überleben können. Die Arier seien die stärkste Rasse, sie hätten daher ein natürliches Recht der Herrschaft über alle anderen Völker und Rassen. Das Gleiche hatten die christlichen Theologen und Bischöfe seit Jahrhunderten über den katholischen Glauben und die Kirche gelehrt.55 Diese Sichtweisen und Lehren vertraten in Deutschland und Österreich die Rechtswissenschaftler Ludwig Gumplowicz, Gustav Ratzenhofer und Ludwig Woltmann. Sie gingen von einem Kampf ums Dasein zwischen den Völkern und Rassen aus. Dieser Kampf vollziehe sich in der kapitalistischen Wirtschaft auf natürliche Weise. Die Stärkeren hätten immer das Recht, sich über die Schwächeren durchzusetzen. Nun sei dieser Kampf ums Dasein aber die Krönung der menschlichen Moral, denn er folge den ewigen Naturgesetzen. Die Sozialisten und Kommunisten seien bloß naive Träumer, denn ihr angestrebter „Klassenkampf “ sei in Wahrheit ein „Rassenkampf “. Zur Erforschung und Unterscheidung der Menschenrassen sollten fortan die Schädel aller Menschen systematisch vermessen werden. Damit wurden die alten Feindbilder der Klassen durch neue Feindbilder der Rassen ersetzt.56 L. Woltmann sah die weiße Bevölkerung als „Herrenrasse“, vor allem die „nordische Rasse“ sei die geborene Trägerin einer globalen Weltzivilisation. Die Menschheit habe sich nie einheitlich entwickelt, die Französische Revolution sei daher ein Aufstand der Sklaven gegen die Aristokratie der Franken gewesen. Im Kampf der Rassen aber werden sich die germanischen Völker weltweit durchsetzen.57 In diese Richtung dachte auch der Engländer Houston Stewart Chamberlain (gest. 1927), der in die Familie Richard Wagners eingeheiratet hatte. Er wollte das „veraltete“ und verweichlichte Christentum durch die starke Herrschaft der Germanen erneuern. Denn es gehe heute in Europa um den Kampf gegen die egalitären Demokratien und um die Durchsetzung der Herrschaft der Germanen. Charles Darwin sei der Meister und Vordenker dieses Kampfes, denn er habe die Bedeutung der menschlichen und der tierischen Rassen als erster erkannt. Die Germanen hätten einen natürlichen Anspruch auf die Weltherrschaft, doch sie brauchten dafür einen neuen Mythos des Kampfes. Das alte Indien sei durch die Rassenvermischung zugrunde gegangen, dasselbe gelte auch vom „Völkerchaos“ im Römischen Reich. Im heutigen Kampf der Rassen müssen alle Vorstellungen von Humanität und Menschenliebe aufgegeben werden, gewiss werden viele Völker in diesem Ringen unterliegen und besiegt werden. Die unter vielen Bürgern verbreitete pessimistische Stimmung in der Kultur könne nur durch den tapferen Kampf überwunden werden. Doch im kommenden Krieg müsse das Töten des Feindes mit gutem Gewissen geschehen. Denn der Kampf um die Reinheit des Blutes rechtfertige alle Methoden des Krieges.58

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Kulturgeschichtlich gesehen kann auch hinter der Rassenlehre ein religionspolitischer Hintergrund gesehen werden. Denn diese Lehre wurde allein innerhalb der christlichen Kultur entwickelt, aber nicht in China oder in Indien oder im Islam. Sie dürfte ideell mit dem viele Jahrhunderte alten „Herrschaftschristentum“ (E. Levinas) zu tun haben. Denn seit dem 15. Jh. lehrten die Päpste, dass alle Länder der Erde den Christen gehören, weil sie ihnen von Christus geschenkt wurden. Nichtchristen dürften gar kein Land besitzen, das sei der göttliche Wille. Christus sei der Herrscher (Pantokrator) über alle Länder der Erde. Allein die Christen seien das von Gott auserwählte Volk, sie müssten allen Völkern den wahren Glauben bringen. Mit dieser Glaubenslehre wurde die Kolonialherrschaft aller europäischen Länder legitimiert. Bald aber entstand aus dieser Religionslehre die Überzeugung, dass die weiße Rasse von Gott zur Weltherrschaft eingesetzt worden sei. Die weiße Rasse war also ein säkularer Ersatz für das auserwählte Christentum.59 Erstaunlich ist nun, dass auch Atheisten, Agnostiker und Religionslose diese Lehre übernahmen und von der natürlichen Überlegenheit der weißen Herrenrasse ausgingen. Mit der Begeisterung einiger europäischer Forscher für die Kultur Indiens wurden zu Beginn des 19. Jh. die „Arier“ (Aryas) zu den wahren Herren der Welt erkoren. Gebildete Europäer wussten zu dieser Zeit bereits aus der vergleichenden Sprachenforschung, dass sie mehrheitlich die Nachfahren der Arier waren. Doch wurde von den Ideologen der Rassenlehre sehr bald zwischen den „Herrenvölkern“ und den „Sklavenvölkern“ unterschieden, wie es in der Kolonialzeit allgemein üblich war. Bald sahen einige Ideologen des Germanentums (A. de Gobineau, H.St. Chamberlain) in den Germanen die wahren Herrenmenschen. Damit aber wurden die Slawen und die Romanen strikt abgewertet, sie waren also Arier zweiter Klasse. Und unter den Germanen seien jetzt die Deutschen die stärkste Rasse, daher müsse jetzt von ihnen die Herrschaft über die Welt ausgehen. Sie hätten einen göttlichen Auftrag zu erfüllen. Wir sehen, dass auch die hoch aggressive Rassenlehre ein säkularisiertes Derivat aus dem viele Jahrhunderte alten Herrschaftschristentum sein könnte.

Programme des Imperialismus Der Imperialismus ist eine Ideologie, die große Staaten ermächtigen sollte, noch größere Gebiete und fremde Regionen und Länder zu beherrschen. Der europäische Imperialismus nahm das Maß am Römischen Imperium bzw. am Hellenistischen Imperium des Königs Alexander. Imperium bedeutete ursprünglich die militärische Befehlsgewalt. Der europäische Imperialismus verband sich mit den Zielsetzungen des Kolonialismus, in dem vor allem die Länder Afrikas, Südamerikas und Asiens von europäischen Ländern ausgebeutet wurden. Die ideelle und religiöse Rechtfertigung für die Kolonialherrschaft kam aber zu jeder Zeit von den Bischöfen und Theologen. Denn diese lehrten seit der Spätantike, Christus sei der einzige Herrscher der Welt, er habe alle Güter und Länder den Christen geschenkt. Die Nichtchristen, die Irrlehrer und die Häretiker hätten gar kein Recht, Güter und Länder zu besitzen.60

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Daher bildeten die großen Kolonialmächte England, Frankreich, Spanien und Portugal erste imperialistische Ideologien aus. Erst später folgten ihnen die Königreiche Italien und Belgien, sowie das Deutsche Kaiserreich. In der imperialistischen Politik ging es um den gezielten Ausbau von Machtbeziehungen im Bereich der Wirtschaft und der Politik. Bald war von territorialem Interesse und von notwendigem „Lebensraum“ für das eigene Staatsvolk die Rede. Im späten 19. Jh. wetteiferten der deutsche und der englische Imperialismus um Einflussgebiete. Die englischen Interessen richteten sich auf die vielen schon bestehenden Kolonien, die deutschen Interessen aber gingen nach Mittel- und Osteuropa. Die Theologen und Philosophen lehrten in beiden Ländern, die göttliche Vorsehung habe ihre Völker mit einem besonderen Auftrag ausgestattet. Den Völkern Osteuropas und der Welt müsse die wahre christliche Kultur gebracht werden.61 Ein nationaler und sozialer Protestantismus wollte im Deutschen Kaiserreich ab 1871 die moralische und politische Führung übernehmen. Sehr schnell aber mutierte der konservative Nationalismus in einen nationalen Imperialismus. Dabei wurde klar erkannt, dass die mit einander konkurrierenden Länder auf einen möglich Krieg zusteuerten. Deswegen wurde intensiv gerüstet, denn die militärische Rüstung brachte die Wirtschaft und die Technik voran. Die französischen Nationalisten richteten ihre Interessen vor allem auf die Kolonien in Afrika, doch die deutschen Interessen waren auf eine Vorherrschaft auf dem europäischen Kontinent ausgerichtet. Die stark von der lutherischen Reformation geprägte deutsche „Kultur“ sollte über die als dekadent und schwächlich eingestufte französische „Zivilisation“ siegen. So lauteten die religiösen und politischen Kampfformeln bis in den Ersten und Zweiten Weltkrieg.62 Der deutsche Reichskanzler Otto von Bismarck (gest. 1898) sprach in seiner politischen Strategie von „Blut und Eisen“, mit denen neue Einflussgebiete erkämpft werden sollten. Nach der Reichseinigung hatten sich der Adel und das Bürgertum auf gemeinsame politische Ziele geeinigt. Der preußische Militärstaat bildete nun den Kern der neuen deutschen Nation, das Militär garantierte den Zusammenhalt des neuen Reiches. In der deutschen Reichsverfassung stand das Militär über der Politik, in England und Frankreich aber wurde das Militär vom Parlament kontrolliert. Die geistige und moralische Aufrüstung schritt vor allem im Bürgertum und in der Aristokratie fort, diese erreichte bald auch die Arbeiterschichten und die Bauern. Manche Historiker sprechen zu dieser Zeit auch von einem „Sozialmilitarismus“. Aber dem Krieg gegen Frankreich hatten die Sozialisten August Bebel und Wilhelm Liebknecht noch die Zustimmung verweigert.63 Der Militarismus der kleinen Leute wurde im Deutschen Reich durch regionale „Kriegsvereine“ gefördert, in die alle Mitglieder Gelder einzahlten. Der „Deutsche Flottenverein“ (1898) war deutlich gegen die englische Vormacht auf den Weltmeeren gerichtet. Ständig befürchtet wurde im Deutschen Reich die mögliche Rache Frankreichs für die Niederlage von 1870. Zu dieser Zeit hatten die pazifistischen Bewegungen um Ludwig Quidde und Bertha von Suttner nur wenig Möglichkeiten, sich gegen eine stark militarisierte Grundstimmung im Volk Gehör zu verschaffen. Die meisten Philosophen und Theologen sprachen von einem „gerechten Krieg“,

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der kommen werde, und von den großen Aufgaben, die auf dem deutschen Volk lasteten.64 Auch die Ideologie des Imperialismus wurde innerhalb der christlichen Kultur am stärksten geprägt. Denn die Lehre der Theologen lautete von den Anfängen an, Christus müsse über alle Länder und Menschen der Erde herrschen. Er sei der Allesbeherrscher (Pantokrator), der König der Könige usw. Daraus leiteten die Christen einen universalen Missionsauftrag ab, aber auch die Legitimation der Kolonialherrschaft. Nun gewann dieses Herrschaftschristentum im 19. Jh. einen sehr aggressiven Ton, was an den Lehren der Päpste und Theologen beider Konfessionen jederzeit abgelesen werden kann. Daher wurde der europäische Imperialismus zuerst stark religiös legitimiert, und er blieb es bis ins 20. Jh. Denn das Christentum wurde im 4. Jh. n.Chr. von den römischen Kaisern Theodosius I., Honorius I. und ihren Nachfolgern als neue Reichsreligion mit militärischem Zwang eingeführt, um das auseinander strebende Imperium zusammenzuhalten. Es war zu dieser Zeit die stärkste imperiale Religion, ungleich stärker als der Kult des Sol Invictus oder anderer römischer Staatsgötter. Und das Christentum hatte im Lauf von 1.500 Jahren seine imperiale Struktur deutlich ausgebaut. Diese imperiale Ideologie wurde im 19. Jh. zum Teil profanisiert und säkularisiert und auf die weltlichen Herrschaftsbereiche übertragen. Aber wir erkennen auch, dass diese Ideologie zu dieser Zeit aber bereits ihren Grenznutzen erreicht hatte. Denn sie bereitete den großen Krieg der europäischen Länder vor, der dann zur Schwächung dieser Ideologie selbst führte. Eine ähnliche imperiale Ideologie hatte sich in keiner anderen Kultur der Erde bilden können, nicht in China oder Indien, wohl aber zum Teil im Islam. Gewiss machten die Hunnen und die Mongolen ihre großen Eroberungszüge, aber sie konnten kaum stabile Herrschaften aufbauen. Der christlichen Herrschaftsideologie am ähnlichsten ist jedoch der Islam, der aus dem Judentum, dem Judenchristentum und der arabischen Volksreligion entstanden ist. Der „heilige Krieg“ (dschihad) gehörte von den Anfängen an zum Grundelement dieser Religion, die Herrschaft über die eroberten Gebiete wurde immer durch religiöse Lehren und Gesetze abgesichert. Doch der Islam blieb in der Neuzeit in der technischen Entwicklung weit hinter den christlichen Ländern zurück.65 Folglich war im 19. Jh. die christliche Herrschaftsideologie weltumspannend geworden. Kulturgeschichtlich und ideengeschichtlich gesehen hat der nationale Imperialismus in Europa sehr viel mit dem tradierten „Herrschaftschristentum“ zu tun: in England, in Frankreich, in Deutschland, in Italien und in Russland. Allerdings hat dieser Imperialismus erst in seiner säkularisierten Form seine volle Zerstörungskraft entfaltet, wie die beiden Weltkriege zeigten. Doch die religiöse Legitimation blieb ihm erhalten. Wir erkennen, dass säkulare Ideologien als Derivate von religiösen Herrschaftslehren noch lange Zeit wirksam bleiben können.

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Protestantische Lebenswelten

Vor allem Westeuropa, Nordeuropa, Teile Mitteleuropas und Nordamerika wurden stark von der protestantischen Kultur in großer Vielfalt geprägt. Denn die Ideen und Zielwerte der europäischen Aufklärung waren vor allem in den anglikanischen und calvinischen Ländern entfaltet und verbreitet worden. Es waren die Freidenker und die Freimaurer, die schottischen Moralphilosophen und die Vordenker einer kritischen Philosophie, welche um freies Denken und Reden, um freie Entfaltung der Wissenschaften, der Religion und des Gewissens, um die gleichen Rechte aller Staatsbürger, um demokratische Staatsformen und um die allgemeinen Menschenrechte für beide Geschlechter gerungen haben. Daher ist es nicht übertrieben, zu sagen, dass die Grundwerte der modernen Kultur hauptsächlich das Ergebnis des protestantischen Denkens sind. Doch haben sich die protestantischen Länder in der politischen Verwirklichung dieser Grundwerte sehr unterschiedlich verhalten. Wir sehen deutliche Unterschiede zwischen den lutherischen, den anglikanischen und den calvinischen Ländern Europas. Erstaunlich ist, dass am Ende des Jahrhunderts der politische Nationalismus viel stärker war als das gemeinsame religiöse Glaubensbekenntnis. Politik und Religion waren auch im Protestantismus eng mit einander verbunden, in ihm konnten aber der Nationalismus und der Imperialismus starke Blüten treiben. So hat sich die Religion mit ihren sozialen und pazifistischen Grundwerten sehr schnell einer nationalen und imperialen Politik untergeordnet, ja lautstarke Vertreter der Religion haben diese Politik voll mitgetragen und mitgestaltet.1

Denklinien der Theologie In den deutschen Ländern entstand in der Zeit der Napoleonischen Kriege ein neues Nationalgefühl, das die Grenzen der Konfessionen überstieg. Vor allem Preußen, Sachsen und Württemberg waren die stärksten Länder der Reformation. Mit der Gründung der Universität Berlin (1810) war ein politisches und kulturelles Programm verbunden, die wichtigsten Denker der deutschen Philosophie waren zu dieser Zeit eng mit der protestantischen Theologie verflochten. Das gilt für F. Herbarts Metaphysik der Erfahrung, für die psychologische Sicht der Kritik bei J.F. Fries, für E.F. Apelt und F.E. Beneke, für J.G. Herder und J.G. Hamann, vor allem für F.H. Jacobis

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Philosophie des Glaubens, auch für S. Maimon und L. Reinhold. Vor allem bei J.G. Fichte, F.W.J. Schelling und G.W.F. Hegel war der Bezug zur lutherischen Theologie sehr eng, was dann als große kulturelle Leistung gesehen wurde.2 Damit war die Verbindung zwischen der protestantischen Theologie und der deutschen Kultur und Geistesgeschichte im ganzen Jahrhundert besonders intensiv. Gewiss spielten darin auch noch viele andere religiöse Bewegungen eine gewichtige Rolle. In Frankreich, in England und in Nordeuropa waren die „Erweckungsbewegungen“ zu dieser Zeit noch stark im Volk verwurzelt. Sie verstanden sich als Gegengewicht zu einer einseitigen rationalen Theologie, denn sie wollten den inneren und emotionalen Glauben der Christen wecken. In England waren verschiedene Gruppen der „Dissenters“ aktiv, auch die Baptisten und die Methodisten zeigten viel missionarisches Engagement. Evangelikale Gruppen bildeten „Bibelgesellschaften“, die Bibel wurde in viele Sprachen der Welt übersetzt, um alle Menschen zum christlichen Glauben zu bekehren. Zu dieser Zeit erkämpften die Dissenters und die Katholiken in England die gleichen Rechte, wie sie die Protestanten hatten (1829). Auch in Dänemark, Schweden und Norwegen waren viele Erweckungsbewegungen aktiv, die den religiösen Glauben emotional vertiefen wollten.3 Im „Deutschen Bund“ (ab 1815) waren die Protestanten in der Mehrheit, unter ihnen waren die Lutheraner die stärkste Konfession. Nun tolerierten die protestantischen Länder zu dieser Zeit noch kaum fremde Bekenntnisse, mit Ausnahme Preußens, das viele katholische Regionen verwaltete. In England wurde die Bekenntnisfreiheit 1829 gewährt, in Skandinavien zwischen 1830 und 1848. Im Deutschen Bund waren ung. 65% der Bevölkerung Protestanten, diese aber stellten ung. 80% der Lehrer an den Gymnasien und Universitäten. Sie hatten also einen großen Bildungsvorsprung gegenüber den Katholiken, der auch mit den bildungshungrigen Kindern der verheirateten Pastoren zu tun hatte.4 Der Theologe Friedrich Schleiermacher (gest. 1837) gab der protestantischen Theologie ein neues Gewicht, er rang um exakte Methoden in der Forschung. Sein Schüler Ferdinand Christian Baur wollte das Leben Jesu mit der historisch-kritischen Methode erforschen. Dabei erkannte er deutlich den Unterschied zwischen der Lehre Jesu und der Theologie des Paulus von Tarsos. An dieser Einsicht knüpfte später Paul de Lagarde an, der das Christentum sogar „entjudaisieren“ wollte. David Friedrich Strauss (gest. 1874) war ein Schüler von Ch. Baur, auch er wollte das Leben Jesu historisch exakt darstellen. Zu dieser Zeit war aber an vielen Universitäten eine liberale Theologie entstanden, die sich den konservativen Lehren der lutherischen „Orthodoxie“ heftig widersetzte.5 Im Jahr 1817 vereinigte der preußische Staat die Lutheraner und die Reformierten (Calviner) zur „Evangelischen Kirche der Union“. Diese wurde dem Staat unterstellt, der König fungierte als oberster „Bischof “. Damit wurden die Theologen Beamte des Staates, sie trugen die offizielle Staatslehre und den beginnenden Nationalismus voll mit. Die Unionskirche war dem Innenminister unterstellt, der durch Superintendenten und Kirchenpräfekten die Kontrolle ausübte. Auch im Land Baden kam es

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zu einer Union zwischen den Lutheranern und den Calvinern. Doch zu dieser Zeit entwickelte sich an einigen Universitäten eine neue lutherische „Orthodoxie“, welche sich den Erneuerungsbestrebungen, aber auch den Katholiken hart widersetzte. So kämpfte der Theologe Claus Harms (gest. 1855) vehement gegen den Papst, gegen jede Form der Vernunftreligion und gegen alle Abweichungen vom lutherischen Bekenntnis.6 Zu den konservativen „Altlutheranern“ gehörte Ernst Wilhelm Hengstenberg, der gegen die Kirchenunion mit den Reformierten argumentierte und die Bibel wörtlich auslegen wollte. Viele Theologen standen zu dieser Zeit den Erweckungsbewegungen nahe, andere aber setzten in ihrer Lehre soziale Schwerpunkte. Doch die Mehrheit der liberal denkenden Laienchristen wollte den traditionalistischen Lehren der Theologen nicht mehr folgen. Sie wandten sich vor allem in den großen Städten vom religiösen Glauben ab, auch wenn sie weiterhin zu den kirchlichen Festzeiten Gottesdienste besuchten. Der Mehrheit der Theologen ist es zu dieser Zeit nicht gelungen, eine Brücke zwischen der Religion einerseits und dem liberalen Denken und den Erkenntnissen der Naturwissenschaften anderseits zu schlagen.7 Ein großer Vordenker der liberalen Theologie war Friedrich Schleiermacher, der von der Herrnhuter Brüdergemeinde erzogen wurde. Er lernte die Philosophie von Ch. Wolff und I. Kant kennen und schätzen und entwickelte eine reiche literarische Tätigkeit. Durch seine Freundschaft mit Friedrich Schlegel kam er mit den Ideen der Romantik in Verbindung. In seiner Schrift „Über die Religion. Reden an die Gebildeten unter ihren Verächtern“ verteidigte er die Grundlehren des christlichen Glaubens gegen die rationale Kritik. In seiner Ethik betonte er die Individualität jedes Menschen und mühte sich um eine bessere Beziehung zwischen den Geschlechtern. Mit den Morallehren der Philosophie setzte er sich kritisch auseinander, seine theologische Ethik sollte auf der Bibel und den Einsichten der praktischen Vernunft aufgebaut sein. Er lehrte an der Universität Berlin mehrere theologische Fächer und wirkte dort eine Zeitlang als Rektor, auch war er in der Preußischen Akademie der Wissenschaften tätig. Er engagierte sich für die Vertiefung der persönlichen Frömmigkeit, für maßvolle Reformen in der Kirchenunion, für Verbesserungen im Schulunterricht. Vom König forderte er mehr Rechte für die Kirche, er gilt als großer Vermittler zwischen der lutherischen Theologie und der idealistischen Philosophie.8 F. Schleiermacher wollte in den Menschen wieder den Sinn für das Unendliche wecken, denn er glaubte daran, dass wir im Erleben des Endlichen bereits die Dimension des Unendlichen erfahren können. Religion werde immer getragen von einem Grundgefühl des Größeren und des Unendlichen. Die natürliche Religion sei aber nicht geeignet, das wahre Wesen des Göttlichen zu erfahren, dieses zeige sich uns erst in der christlichen Offenbarung. Die Theologie sei als eine positive Religionswissenschaft zu verstehen, sie zeige auch das Verhältnis des Christentums zu den anderen Religionen. Jede Theologie sei auf die Praxis des Lebens und des Glaubens hingeordnet, sie sei praktische Theologie. Die Glaubenslehre zeige sich als die wissenschaftliche Explikation des christlichen Selbstbewusstseins. Das Grundgefühl des

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Glaubens sei die Erfahrung der unbedingten Abhängigkeit von etwas Größerem und Stärkeren. In der Sünde des Menschen verbinde sich immer die „Ursünde“ Adams mit dem persönlichen Handeln des Glaubenden.9 Erst das Bewusstsein des Gnadenstandes gebe dem Christen die Fähigkeit, sein Leben aktiv zu gestalten. Immer sei Christus die erste Ursache der Begnadigung des Menschen. Christus trage ein königliches, ein priesterliches und ein prophetisches Amt. Die Kirche sei die Gemeinschaft derer, die Christus auf dem Weg der Gnade nachfolgen wollen. Das Grundelement der Religion sei die subjektive Hingabe an das Göttliche und die Hingabe an die göttliche Gnadenkraft. Die Lehren der Religion müssen zu jeder Zeit in die Denkmodelle der Gegenwart übersetzt werden, sie benötigen eine „Hermeneutik“ des Glaubens.10 Religion sei nicht eine Sache der vernünftigen Erkenntnis, sondern das Gefühl der Abhängigkeit und der eigenen Kleinheit. Im Glauben ringe das Natürliche mit dem Übernatürlichen, doch in der Nachfolge Christi siege immer das Geistige über das Fleischliche und Leibliche. Das sei der wahre Trost der Religion.11

Die Kraft der Erweckungsbewegungen Zu dieser Zeit, als um eine liberale Theologie gerungen wurde, gab es in vielen Ländern Europas „Erweckungsbewegungen“ des wahren Glaubens. Sie wollten in der Tradition der pietistischen Frömmigkeit die persönliche „Herzensbekehrung“ der Glaubenden fördern. Wichtiger als alle Einsichten des Verstandes seien die Erfahrungen des Herzensgrundes. In diese Richtung wirkten die „Böhmischen Brüder“ und die „Herrnhuter Brüdergemeinde“. Später wurde die „Evangelische Allianz“ gegründet (1846), welche die vielen Erweckungsbewegungen koordinieren sollte. Eine dieser Bewegungen nannte sich „Theopneusten“ (theos und pneuma), sie wussten sich vom göttlichen Geist getragen und bewegt, deswegen lebten sie ihren Glauben in heiliger Begeisterung. Vom Elsass aus verbreitete sich der Pietismus in Württemberg und in der Schweiz. Der Pastor Johann Friedrich Oberlin (gest. 1826) gründete eine soziale Gemeinschaft in Walderbach, die sich vor allem um die religiöse Erziehung der Jugendlichen bemühte. Der Gründer sprach von der hohen Würde der Knaben und der Mädchen, der Arbeiter, der Hirten und der Bauern. Bald wurden dort Kindergärten, Waisenhäuser, Abend- und Sonntagsschulen eingerichtet. Die Gemeinschaft der Oberliner hat kleine Wirtschaftsbetriebe unterhalten, die nach christlichen Grundsätzen geführt wurden. Tragend war dabei aber immer die pietistische Frömmigkeit.12 Von diesen Erweckungsbewegungen gingen auch Versuche aus, die neu entstehende Arbeiterschaft, die sich von der Kirche entfremdet hatte, wieder zum christlichen Glauben hinzuführen. Dieser Aufgabe widmete sich Franz Heinrich Haerter, der im Elsass eine Gesellschaft zur Mission der Arbeiter gründete. Dort wurden auch Kinderkrippen und Waisenhäuser eingerichtet, sowie religiöse Schulen und Häuser für Diakonissen. Durch gezielte Mission unter den Ärmeren sollte die Religion wieder neu geweckt werden. Von da aus entstanden später die Bewegungen der „Inneren

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Mission“, vor allem in Schlesien, in Berlin und in Hamburg. Die führende Gestalt der Inneren Mission war Johannes Hinrich Wichern (gest. 1881) der in Hamburg aufgewachsen ist und später nach Berlin kam. Im Studium war er von F. Schleiermacher und von Johann Neander geprägt, er wollte die theologische Wissenschaft mit dem christlichen Leben verbinden. So erkannte er bald seine innere Pflicht zur Mission und zur Glaubenserweckung. Oft sprach er von „getauften Heiden“ in den Städten, die den religiösen Glauben längst verloren hatten.13 In Hamburg wurde Wichern Vikar beim Pastor Rautenberg, dort kümmerte er sich um die Kinder der Armen und um Findelkinder in den Vorstädten der Arbeiter. 1833 gründete er das „Rauhe Haus“ als eine Anstalt zur Betreuung männlicher Jugendlicher, die in sozialer Verwahrlosung leben mussten. Hier lebten auch straffällig gewordene Jugendliche, die durch religiöse Erziehung von weiteren Straftaten abgehalten werden sollten. Es war eine strenge moralische Erziehung, verbunden mit praktischem Wissen für verschiedene Berufe. Die Jugendlichen wurden als Gärtner, Schreiner, Schuster, Buchbinder, Weber und in anderen Berufen ausgebildet, um ihren Lebensunterhalt selbst bestreiten zu können. Die Schwester von Wichern regte ihren Bruder dazu an, das Rauhe Haus in einer eigenen Abteilung auch für Mädchen zu öffnen. So entstanden in kurzer Zeit mehrere Häuser mit einer Kirche. Die Jugendlichen sollten wieder in die Gesellschaft eingegliedert werden, sie sollten sich gegenseitig erziehen und zum moralisch richtigen Leben anleiten. Nach 1848 wurden ähnliche Häuser zur Resozialisierung von jugendlichen Straftätern auch in England und in Frankreich eingerichtet.14 In Berlin engagierte sich Wichern beim Bau des Gefängnisses Moabit, wo viele Gefangene in Einzelhaft leben mussten. Er forderte eine besondere Ausbildung für Gefängniswärter, um auch Verbrecher nach einer bestimmten Zeit wieder in die Gesellschaft einzubinden. Seine Gegner nannten ihn einen „exzessiven Philanthropen“, doch er wollte nur die moralischen Zielwerte des christlichen Glaubens erfüllen. Sein Konzept der Resozialisation von Strafgefangenen wurde auch in anderen Ländern nachgeahmt, aber die konservativen und nationalen Politiker verhinderten eine Humanisierung im Strafvollzug. Vor allem die orthodoxen Lutheraner setzten sich weiterhin für strenge Strafen und harte Sühneleistungen von Straftätern ein. Für sie war die Todesstrafe eine gerechte Strafe für schwere Verbrechen. So rangen zu dieser Zeit soziale und liberale Denker im Strafvollzug und in der Erziehung mit ihren autoritären und repressiven Gegnern.15 Im Grunde haben die religiösen Erweckungsbewegungen erheblich zur sozialen Sensibilisierung für die Nöte von Mitmenschen beigetragen. Denn wo die Forderungen Jesu in der Bergpredigt wörtlich und ernst genommen wurden, dort mussten zum Glauben erweckte Christen sozial aktiv werden, um die Notlagen konkreter Mitmenschen zu lindern. Wir erkennen darin die starke moralische und soziale Kraft des christlichen Glaubens, der sich nicht mit verbalen Bekenntnisformeln begnügen wollte. Daher ist es nicht erstaunlich, dass sich manche Erweckungsbewegungen dem liberalen Denken der Zeit annäherten. Denn liberale Denker und Politiker bezogen die Zielwerte ihres Handelns aus der antiken Philosophie (Stoiker) und dem Denken

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der Aufklärung, die erweckten Christen aber nahmen allein an der Bibel das Maß. Da die stoische Ethik in das Neue Testament eingeflossen ist, lagen beide Richtungen nicht weit auseinander.

Theologische Konzepte und Denkmodelle Im ganzen Jahrhundert wetteiferten verschiedene Denkrichtungen miteinander, sie setzten in der Glaubenslehre verschiedene Schwerpunkte. Einige folgten der kritischen Philosophie I. Kants, sie hielten sein Denken mit der protestantischen Theologie verträglich. So betonte Johann Friedrich Röhr (gest. 1848) den gesunden Menschenverstand auch in der Theologie, die philosophische Vernunft sei die höchste Autorität auch im christlichen Glauben. Die moralischen Zielwerte Jesu entsprächen genau den Einsichten der praktischen Vernunft, ihre Zielwerte seien auch das Fundament des Glaubens Jesu. Auch Julius Wegscheider (gest. 1849) war davon überzeugt, dass die Kernaussagen der Bibel mit den Einsichten der kritischen Vernunft übereinstimmen. Heinrich Paulus (gest. 1851) wollte die moralischen Fundamente des Christentums der europäischen Kultur von neuem zugänglich machen. Deswegen forderte er mehr Toleranz für neue Methoden und mehr Freiheit in der theologischen Lehre. In seinem Buch „Das Leben Jesu“ (1828) sah er die Wunder in der Bibel als natürliche Ereignisse an, viele Lehren der Evangelien gingen auf Traumvisionen der Apostel zurück. Auch er plädierte wie die schottischen Moralphilosophen für den gesunden Menschenverstand im christlichen Lebensvollzug.16 Andere Theologen betonten wieder stärker die Erfahrung des „Übernatürlichen“ (Supranaturalisten) im religiösen Glauben. Sie waren überzeugt, dass sich im Christentum das Natürliche und das Übernatürliche verbinden und dass beide Dimensionen keine Gegensätze seien. Einige lehrten, die kritische Vernunft sei erst durch die göttliche Offenbarung zu ihren wahren Einsichten gekommen. So kam Wilhelm de Wette (gest. 1849) zur Einsicht, dass sich die rationalen Erkenntnisse der Philosophie mit den Lehren der Offenbarung verbinden lassen. Ein tiefes religiöses Gefühl erlaube uns Menschen, dass wir uns das Unendliche vorstellen und uns mit ihm verbinden. Vor allem im ästhetischen Gefühl des Schönen verbinde sich der Glaubende mit dem Göttlichen, dem Heiligen und dem Ewigen. Jeder Mensch habe von seiner Natur her einen potentiellen Glauben, mit dem er sich für die christliche Lehre öffnen könne.17 Andere Theologen betonten die lutherische Orthodoxie, denn in der Religion sei nicht die Vernunft die höchste Instanz. Für wahre Protestanten seien die Lehren Martin Luthers die höchsten Normen des christlichen Glaubens. In diese Richtung dachten Claus Harms und Wilhelm Hengstenberg. Nach 1848 entstand eine „neulutherische“ Theologie, welche die Lehren und Einsichten der rationalen Aufklärung entschieden ablehnte und bekämpfte. Sie grenzte sich auch von den Erweckungsbewegungen ab, da bei ihnen der Glaube in ein subjektives Erleben abgleite. So sahen Friedrich Stahl und Wilhelm Löhe in den lutherischen Bekenntnissen die einzig wahre Darlegung des christlichen Glaubens. Gegen den Subjektivismus in der

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Theologie argumentierten auch Theodor Kliefoth und August Vilmar. In der „Erlanger Schule“ wurden diese konservativen Lehren später noch lange Zeit weiter entfaltet.18 Den positiven Beitrag des Protestantismus zur Entwicklung der europäischen Kultur betonten Alexander Schweizer und Karl Nitzsch. Jede persönliche Erfahrung des Glaubens sei eingebettet in die Gemeinschaft der Kirche, diese aber werde von der göttlichen Vorsehung geleitet. Die alten Lehren müssten heute durch Gefühl und Anschauung zu neuem Leben erweckt werden, denn das ganze Leben müsse mit christlichem Geist erfüllt werden. Auch Karl Ullmann glaubte, in Jesus Christus verbinde sich das Göttliche mit dem Menschlichen, in ihm vollziehe sich im Ansatz eine Vergöttlichung des Menschen. Julius Müller betonte die Universalität der Sünde, die durch Jesus Christus aber gebrochen und überwunden worden sei.19 Den theologischen Hintergrund zu den Erweckungsbewegungen formulierte Johann Neander (gest. 1850), der das religiöse Grundgefühl näher analysieren wollte. Das Christentum passe sich der Vielfalt der menschlichen Begabungen an, jeder Glaubende müsse in seinem Leben seine persönliche Erlösung von der Sünde erfahren. Friedrich Tholuck dachte über die Rolle des Zweifels bei der religiösen Erfahrung nach. Die Erweckung zum Glauben habe viel mit der prophetischen Berufung zu tun, die in jedem Menschen möglich sei. Der Franzose Alexandre Vinet schrieb über die Entfaltung des christlichen Gewissens und über die Kultur der Gastfreundschaft. Richard Rothe war in seinem theologischen Denken eng mit der Erweckungsbewegung verbunden. Es sei die Aufgabe der Christen, die ungerechten Verhältnisse in der Gesellschaft aufzudecken und schrittweise zu verbessern, um dem Reich Gottes stückweise näher zu kommen. Die engagierte soziale Arbeit der erweckten Christen sei eine notwendige Fortsetzung des göttlichen Schöpfungswerkes. Denn die ganze Menschheit müsse darauf vorbereitet werden, Christus endgültig zu empfangen.20 Die „Erlanger Schule“ vertrat zunächst eine mittlere Position zwischen den konservativen Theologen und den liberalen Denkern der Religion. So lehrte Johann Christian von Hofmann (gest. 1877), Christus habe den Glaubenden ein persönliches Verhältnis zu Gott vermittelt, denn er habe Göttliches mit dem Menschlichen verbunden. Der Christ sei immer auf die Bibel und auf die Kirche bezogen, in dieser Bezogenheit erlebe er seine persönliche Wiedergeburt. Nicht wenige Theologen folgten in dieser Zeit den idealistischen Denkmodellen des G.W.F. Hegel, auch sie sahen eine gewisse Deckungsgleichheit zwischen der Theologie und der Philosophie. Die Theologie befasse sich zwar mit Symbolen, die Philosophie habe es aber mit Begriffen zu tun, aber beide seien auf das Absolute und das Göttliche bezogen. Jeder Mensch komme im Verlauf seiner Entwicklung zum Bewusstsein seiner Einheit mit dem Göttlichen. Auch für Philipp Marheineke (gest. 1846) war Gott identisch mit dem Absoluten im Sinne Hegels. Daher seien die Gesetze unseres Denkens identisch mit den Gesetzen des Seins, das Endliche könne gar nicht ohne das Unendliche gedacht werden. In Jesus Christus werde die Einheit von Göttlichem und Menschlichem vor aller

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Welt sichtbar. In diesem idealistischen Denkmuster fielen also das Göttliche und das Menschliche zusammen.21 Ein originärer Denker war David Friedrich Strauß (gest. 1874), der das Leben Jesu mit den Methoden der kritischen Gesichtsforschung erkunden wollte. In seinem Denken war er von F. Schleiermacher und G.W.F. Hegel geprägt. So deutete er die Evangelien als die mythische Verkleidung der jüdischen Messiaserwartung. Wichtig seien daher nicht die historischen Fakten rund um das Leben Jesu, sondern der Inhalt der Christusidee. Denn diese spirituelle Lehre drücke die letzte Einheit von Gott und Mensch aus. Denn in Christus habe sich gezeigt, dass die gesamte Menschheit der menschgewordene Gott sei. Was die Kirche von Christus aussagt, das gelte von der gesamten Menschheit und von allen Menschen. Denn die gesamte Menschheit sei heilig und voller Wunder, sie müsse sterben und werde zu neuem Leben auferstehen. Durch den Glauben an die Christusidee werden die Glaubenden vor Gott gerechtfertigt. Doch für diesen Glauben sei die historische Gestalt Jesu unwichtig.22 Der Begründer der „Tübinger Schule“ der Theologie war Ferdinand Christian Baur (gest. 1860), der die Geschichte des Christentums mit dem Denkmodell der „Dialektik“ von G.W.F. Hegel darstellen wollte. Deswegen wollte er die Geschichte der frühen Kirche mit den Methoden der kritischen Geschichtsforschung studieren. Er wollte zeigen, dass das frühe Christentum viele Ideen aus dem Platonismus und von Sokrates übernommen und entfaltet hatte (Das Christliche des Platonismus. Oder Sokrates und Christus. 1837). Folglich glaubte er, dass sich der menschliche Geist kontinuierlich von der griechischen Philosophie zur christlichen Theologie weiter entwickelt habe. Mit dieser Sichtweise wollte er die christliche Dogmen- und Kirchengeschichte erforschen und darstellen. Er sah in der Kirche die Verwirklichung der Christusidee, dabei unterschied er bereits deutlich zwischen dem Judenchristentum und dem griechischen Christentum. Diese Sichtweise wurde von protestantischen Theologen heftig diskutiert und weiterentwickelt. Zu den Schülern von F.Ch. Baur zählen Adolf Hilgenfeld, Karl Köstlin, Gustav Volkmar, Albrecht Ritschl, Karl Weizsäcker und Otto Pfleiderer.23 Der Vermittlungstheologe Isaak August Dorner lehrte, in Jesus Christus sei die Idee des Menschen und der Menschheit auf vollkommene Weise verwirklicht worden. Denn jeder Mensch erlebe eine tiefe Abhängigkeit von Gott, vom Ewigen und Absoluten. Gottfried Thomasius wollte die frühchristliche Kenosis-Lehre zum Zentrum der Glaubensverkündigung machen, denn Gott habe sich zu den Menschen erniedrigt. Für Martin Kähler war der Christus des Glaubens und der Kirche ungleich wichtiger als der historische Jesus, von dem wir nur ein marginales Wissen haben. Alois Biedermann lehrte, in Jesus Christus habe sich die göttliche Gnadenkraft auf vollkommene Weise uns Menschen offenbart. Der französische Theologe Auguste Sabathier stellte den Protestantismus als eine „Geistreligion“ dar, die keine autoritären Züge tragen dürfe. Denn wichtig seien für Christen die ethisch-religiöse Erfahrung und ein vollkommenes Gottesbewusstsein. Er wollte bereits die Erkenntnisse der Psychologie seiner Zeit in die theologische Lehre einbringen.24

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Alois Hilgenfeld mühte sich um eine zeitgemäße Deutung der Evangelien, und Karl Weizsäcker untersuchte die Quellentexte des protestantischen Glaubensbekenntnisses. Albrecht Ritschl befasste sich mit den Lehren der Judenchristen und mit der Theologie des Paulus von Tarsos. Wichtige historische Arbeiten zum frühen Christentum stammen von Georg Ewald, Eduard Reuss, Karl Klein, Heinrich Holtzmann. Eine prägende Gestalt der liberalen Theologie und der historischen Forschung war Adolf von Harnack (gest. 1930) mit seinen Studien zur Geschichte der frühen christlichen Dogmen. Er untersuchte die zunehmende Hellenisierung der Botschaft Jesu in der frühen Kirche. Das „Wesen des Christentums“ (1900) sah er in der Lehre von der Vaterschaft Gottes, im bleibenden Wert jeder Menschenseele und in der Brüderlichkeit aller Menschen. Der evangelische Christ habe einen direkten Zugang zu Gott, er brauche keine vermittelnden Instanzen wie den Papst, die Bischöfe oder die Priester.25 Wichtige Impulse der protestantischen Theologie kamen auch von Albrecht Ritschl (gest. 1869), der das Monopol der göttlichen Offenbarung im Christentum betonte und die Lehre von der Erbsünde der Menschen neu interpretieren wollte. Wilhelm Herrmann lehrte den bleibenden Wert der Lehre von der Rechtfertigung des Sünders vor einem strengen Richtergott. Zu dieser Zeit hatte die „Religionsgeschichtliche Schule“ das Blickfeld der Theologen erheblich geweitet. So untersuchten Hermann Gunkel, Wilhelm Bousset, Johannes Weiss oder Albert Schweitzer in umfassenden Studien die Beziehungen des Judentums zu den Kulturen des Alten Orients und die Bezüge der frühen christlichen Theologie zu griechischen und römischen Lehren und Vorstellungen. Die Historisch-Kritische Methode in der Erforschung der Bibel ermöglichte neue Einsichten und Erkenntnisse über die Entstehungszusammenhänge des Christentums. Hier leisteten Julius Wellhausen und William Wrede wichtige Arbeiten zur religionsgeschichtlichen Einordnung der einzelnen Schriften der Bibel. Vor allem Ernst Troeltsch wollte die christliche Theologie mit den Erkenntnissen der Kulturgeschichte und der Religionsgeschichte verbinden. Er wollte die gesellschaftlichen Bedingungen erforschen, unter denen sich der christliche Glaube entfaltet und oftmals verändert habe. Doch von der Absolutheit und von den Monopolansprüchen für die christliche Offenbarung wollten und konnten auch diese Forscher nicht abweichen. Einen offenen, freien und gleichwertigen Dialog mit anderen Kulturen konnten sie nicht führen, denn sie blieben auf die idealistische Philosophie fixiert. Deswegen haben viele dieser Denker (Ernst Troeltsch, Adolf von Harnack u.a.) im Jahr 1914 vehement zum Krieg gegen Frankreich, England und Russland aufgerufen.26

Soziale und politische Entwicklungen Nach der Niederringung Napoleons und der Gründung der „Heiligen Allianz“ sollte der revolutionäre Geist in Europa ausgelöscht werden. Jetzt sollte das Christentum die stärkste Kraft für die politische und soziale Stabilisierung für ganz Europa sein. Doch es war in drei Konfessionen geteilt: Protestantismus (Preußen und England),

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Katholizismus (Frankreich und Österreich), Orthodoxie (Russland). Diese fünf Großmächte wollten auf der Basis christlicher Lebenswerte den Frieden in Europa sichern. Jetzt war das politische System in den meisten Ländern und in Abstufungen wieder autoritär und repressiv geworden. Als Studenten auf der Wartburg (1817) wieder mehr politische und kulturelle Freiheiten forderten und als ein konservativer Dichter (August von Kotzebue) ermordet wurde, da antwortete der Deutsche Bund mit den „Karlsbader Beschlüssen“ (1819). Damit wurden liberale Vereinigungen und revolutionäre „Demagogen“ verboten bzw. unter polizeiliche Kontrolle gestellt (System Metternich). Durch die Beschlüsse des Wiener Kongresses hatte sich die Einwohnerzahl des Königsreiches Preußen verdoppelt, von fünf auf fast zehn Millionen. Aber nun lebten in großen Teilen dieses Staates (Rheinland, Münster, Trier) auch Katholiken, sie machten ung. 30% der Bevölkerung aus. Auch zu den beiden von Napoleon geschaffenen Königreichen Bayern und Württemberg gehörten protestantische (Franken) und katholische Bewohner (Oberschwaben). Im Königreich Preußen wurden die Angelegenheiten der Kirchen vom Staat verwaltet, der König war der oberste Bischof der Protestanten. Diese Regelung gab aber bald Konflikte mit der katholischen Kirche, die dem Papst in Rom unterstellt blieb. Doch im Protestantismus wurde zwischen der geistlichen Gewalt (iura in sacris) und der weltlichen Gewalt (iura circa sacra) unterschieden. Die erste lag beim Staat, die zweite bei den gewählten oder ernannten Kirchenvertretern.27 Nach dem Allgemeinen Preußischen Landrecht (1794) waren die Pfarrer staatliche Beamte und unterstanden der staatlichen Aufsicht. Für die religiöse und theologische Leitung der Gemeinden waren „Konsistorien“ zuständig, die aus Juristen und Theologen bestanden. Der Reformer Heinrich Karl vom Stein (gest. 1831) wollte den Kirchen ähnlich wie den Städten mehr an Selbstverwaltung übergeben. Doch der König wiedersetzte sich diesem Ansinnen, denn er erwartete von den Pfarrern die volle Unterstützung für seine Politik. Im Krieg gegen Napoleon war diese Unterstützung nach Meinung des Königs nicht ausreichend gegeben, die Pfarrer hätten zu wenig überzeugt gegen die Revolution gepredigt. Deswegen vollzog der König am Reformationstag 1817 die „Kirchenunion“ zwischen der lutherischen und der reformierten (calvinischen) Kirche. Es ging dabei auch um eine einheitliche Kirchenverfassung und Liturgie, vor allem um eine einheitliche protestantische Kirche in Preußen. Das Königshaus der Hohenzollern war reformiert, doch die große Mehrheit der Bevölkerung war lutherisch.28 Auch Nassau, die Pfalz, Baden, Rheinhessen und andere Regionen bildeten Unionskirchen zwischen Lutheranern und Reformierten. In Preußen verordnete der König Friedrich Wilhelm III. eine einheitliche Liturgie beim Heer und am Königshof zu Berlin. Für die Fragen der Kirchenordnung waren Gemeindekirchenräte, Synoden und Generalsynoden zuständig, für jede Provinz gab es den Superintendenten und den Generalsuperintendenten. Auf den Kirchensynoden waren die Pfarrer und Theo­ logen dominant, die Laienchristen blieben in der Minderzahl. Der König fürchtete die Ausbreitung liberaler und republikanischer Ideen in den Gemeinden und auf

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den Synoden. Er wollte „Thron und Altar“ eng verbinden, um seine Politik im Volk optimal abstützen zu können. So blieb es bis zum Ende der Monarchie im Jahr 1918.29 In der Zeit der politischen Restauration waren in vielen Regionen Deutschlands Erweckungsbewegungen entstanden, die im Geist des Pietismus das innere Erleben des Glaubens vertiefen wollten. Sie waren politisch konservativ und wussten sich eng mit den Reformatoren verbunden. In Hamburg unterstützten auch Patrizierfamilien diese Bewegungen, denn sie standen mit englischen Theologen in Verbindung. In der Hansestadt entstand daher eine erste Baptistengemeinde, sie richtete eine Sonntagsschule für arme Kinder ein, die an den Wochentagen arbeiten mussten. Amalie Sieveking gründete einen „Weiblichen Verein für Armen- und Krankenpflege“, und Johann Hinrich Wichern begann mit den Vorarbeiten für das „Rauhe Haus“. Auch in Württemberg und in Franken wurden bald soziale Vereine eingerichtet, die von Kirchengemeinden getragen wurden. Zu dieser Zeit kam es zu großen Auswanderungen nach Nordamerika, weil die wirtschaftliche Not groß war. Viele Auswanderer folgten auch religiös-apokalyptischen Lehren, denn sie sprachen vom „Gelobten Land“, in das sie nun freudig ziehen wollten.30 In Basel entstand eine „Christentumsgesellschaft“, welche die Verbreitung der Bibel, die Erziehung der Jugend und die Mission in fremden Ländern förderte. Ihre Häuser für Arme und Kranke wurden „Rettungshäuser“ genannt. Bald bildeten sich auch evangelikale Gruppen, die wie Jesus von Kranken Teufel und böse Dämonen austrieben und die Riten der Heilung ausführten. Ihnen ging es um die Vertiefung des Glaubens, um die innere Erweckung, um die Umkehr von Sünden und um tätige Nächstenhilfe. In diesen Vereinen und Gesellschaften arbeiteten Unternehmer mit Bauern und Arbeitern zusammen. Auch in Nürnberg entstand eine „Christentumsgesellschaft“, die sich mit den brennenden Problemen der Zeit auf sozial tätige Weise auseinander setzte. In Berlin bildeten sich mehrere pietistische Gruppen und Missionsschulen, es wurde für Notleidende und Arbeitslose eine freiwillige „Beschäftigungsanstalt“ eingerichtet. In Bayern gab es regen Austausch zwischen den katholischen und den protestantischen Erweckungsbewegungen. Die meisten dieser Bewegungen waren politisch konservativ und restaurativ, denn sie wollten von den Kirchen liberale und frühsozialistische Ideen abwehren.31 In Schlesien wollte sich eine lutherische Bewegung um Johann Scheibel von der Kirchenunion trennen, was der König aber untersagte. Später wurde dort eine eigene „Freikirche“ organisiert, viele religiöse Separatisten wanderten nach Nordamerika aus. In den Rheinländern und in Westfalen wurde lange Zeit um eine neue Kirchenordnung gerungen, die schließlich vom König genehmigt wurde. Darin sollte sich die Kirche „von oben“ mit der Kirche „von unten“ eng verbinden. König Friedrich Wilhelm IV. (1840 bis 1861) akzeptierte die Trennung der Altlutheraner von der Preußischen Kirchenunion. Er wollte den Kirchengemeinden und den regionalen Synoden wieder mehr an Freiheit geben. Dabei strebte er eine evangelische „Hochkirche“ mit einer hierarchischen Bischofsverfassung an, aber dieser Versuch scheiterte am Widerstand fast aller kirchlichen Gruppen. Ein „Religionspatent“ (1847) erleichterte den Austritt aus der Staatskirche. Die bauliche Vollendung des Kölner

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Domes sollte katholische Strukturen und protestantische Bauformen mit einander verbinden. Nach der damaligen Deutung war nämlich die Gotik ein protestantischer Stil, während Barock als die katholische Ausdrucksform galt. Im Kölner Dom sollte sich also der protestantische Stil mit der katholischen Liturgie verbinden.32 In der Folgezeit strebte der König von Preußen ein Bündnis mit den Liberalen an. 1846 rief er eine Generalsynode zusammen, an der 75 Personen teilnahmen. Es sollte über eine einheitliche Lehre und Kirchenverfassung verhandelt werden. Die Synode wollte mehr demokratische Mitbestimmung, die der Monarch aber verweigerte. Er sah in den Kirchensynoden nämlich eine Vorform des Preußischen Landtages. Im Revolutionsjahr 1848 verlangten die Liberalen die Freiheit der Presse und der Versammlung, die gleichen Grundrechte für alle Bürger und eine Verfassung für einen deutschen „Bundesstaat“. Diese Zielsetzungen wurden in der Frankfurter Nationalversammlung (Paulskirche) heftig diskutiert und erörtert. In den protestantischen Kirchen standen sich jetzt konservative Gruppen (Orthodoxe) und liberale Bewegungen (z.B. die „Lichtfreunde“) feindlich gegenüber. Die Liberalen forderten eine Allgemeine Synode aus allen Landeskirchen, unter dem Schutz der Frankfurter Nationalversammlung sollte eine evangelische „Nationalkirche“ entstehen. Dieser Plan wurde aber von den konservativen Gruppen strikt abgelehnt.33 In Wittenberg planten einige Theologen einen losen „Kirchenbund“ der einzelnen Landeskirchen. Johann Hinrich Wichern stellte dort seinen Plan der „Inneren Mission“ vor. Er wollte die Volkskirche erneuern und neue Schwerpunkte in der missionarischen Predigt und in den sozialen Tätigkeiten setzen. Ein Jahr später wurde der „Centralausschuss der Inneren Mission“ gegründet, der später viele Wohnheime für Arme, Anstalten der moralischen Besserung und Rettungshäuser für Obdachlose baute und organisierte. Mit der neuen Preußischen Verfassung (1848 und 1850) wurde eine grundsätzliche Trennung der Kirche vom Staat erreicht, nun konnten die Landeskirchen ihre Angelegenheiten weitgehend selbständig regeln. Der König regierte die Kirche aber weiterhin durch den „Evangelischen Oberkirchenrat“, welcher direkt der königlichen Verwaltung unterstellt war. In vielen Bereichen wurde die staatliche Aufsicht über die Kirchen noch verstärkt.34 Mit König Wilhelm I. (1861 bis 1888) begann eine neue Ära im Verhältnis des Staates zur Kirche. Der Monarch drängte den Einfluss der hochkonservativen Lutheraner deutlich zurück, er versuchte eine konservative Politik mit einigen liberalen Zügen. Vor allem der Ministerpräsident Otto von Bismarck verfolgte diesen gemäßigten Konservativismus, doch der politische Liberalismus galt auch ihm weiterhin als Gefahr im Staat. Die Kirchen erhielten von der Politik den Auftrag, die „Seelen zu retten“ und soziale Einrichtungen für die Ärmsten zu schaffen. Diese Einrichtungen sollten die Härten der kapitalistischen Wirtschaft etwas abschwächen und ausgleichen. Zu ihren „Werken der Nächstenliebe“ gehörten Waisenhäuser und Schulen für die Armen, Krankenhäuser, Armenanstalten, Findelhäuser für ausgesetzte Kinder u.a. Der Pädagoge Christian Heinrich Zeller gründete eine Modellschule für arme Kinder. Zu dieser Zeit wurde die kirchliche Sozialarbeit stark von Unternehmern und von Aristokraten mitgetragen. Pfarrer Theodor Fliedner organisierte in Kai-

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serswerth eine „Pflegerinnen- und Diakonissenanstalt“. Die dort wirkenden Frauen verpflichteten sich zu sozialen Tätigkeiten und zur Inneren Mission, sie sollten den tätigen Glauben an Arme und Notleidende weitergeben.35 In Neuendettelsau in Franken organisierte Pfarrer Wilhelm Löbe ein „Diakonisches Haus“, von dort aus wurden in kurzer Zeit 30 neue Häuser der tätigen Nächstenhilfe gebaut. Sie arbeiteten ähnlich wie die katholischen „Schwestern der Nächstenliebe“, die vom Franzosen Vincent de Paul gegründet wurden. Diese „Werke der Nächstenliebe“ waren eng mit der Verbreitung und Vertiefung des christlichen Glaubens verbunden, sie haben zur sozialen Sensibilisierung vieler Christen und Nichtchristen beigetragen. Die Sonntagsschulen wurden nach angelsächsischem Vorbild eingerichtet, sie waren für arbeitende Kinder gedacht. An vielen Orten entstanden religiös motivierte „Jünglingsvereine“ und „Jungfrauenvereine“, die um 1900 eine halbe Million Mitglieder hatten.36 Diese Vereine unterhielten „Herbergen zur Heimat“, wo arme Menschen kostenlos wohnen konnten. In den „Marthahäusern“ wurden Mädchen aufgenommen, wo sie für handwerkliche Berufe ausgebildet wurden. Es gab Häuser für Arbeitslose, Dienste für entlassene Häftlinge, das „Blaue Kreuz“ zur Eindämmung der Alkoholsucht, das „Weiße Kreuz“, um junge Frauen von der Prostitution abzuhalten. So wollte die Innere Mission die ganze Gesellschaft vom Geist des Evangeliums her erneuern. Es gab Reiseprediger und „Evangelisten“, die durch große Regionen zogen, um für ein soziales Christentum zu werben. Zu dieser Zeit haben beide Kirchen viel zur Abmilderung der harten Folgen der kapitalistischen Wirtschaft beigetragen. In Bethel gründete Friedrich von Bodelschwingh eine Anstalt für Epileptiker, er hatte in den Armenvierteln von Paris gearbeitet. Später baute er dort Krankenhäuser, Heime für Geisteskranke, Häuser für Diakone und Diakonissen. Er errichtete Sparkassen, sowie Vereins- und Pensionskassen, außerdem baute er soziale Wohnungen und betrieb eine Landwirtschaft zur Versorgung der Häuser. Dort sollten auch körperlich und geistig behinderte Menschen nützliche Arbeit leisten können, als Sattler, Schuster, Schneider und Gärtner. Die Stärkeren sollten lernen, den Schwächeren zu helfen. Von Bodelschwingh und andere Theologen drängten den Reichskanzler Otto von Bismarck zur Durchsetzung von staatlichen Sozialgesetzen, um die Arbeiter und die Armen nicht in die Hände der Sozialdemokraten oder der Revolutionäre zu treiben.37 Hier haben Teile der protestantischen Kirchen die Forderungen der Bergpredigt Jesu in die soziale Tat umzusetzen versucht. Damit haben sie die Vorwürfe einiger Schreibtischphilosophen wie Karl Marx widerlegt, die Religion lasse die Menschen in ihrem Elend und verstärke dieses noch. Wahrscheinlich haben die sozialen Einrichtungen beider Kirchen mitgeholfen, revolutionäre Bewegungen und Umstürze in den deutschen Ländern zu verhindern. Die Kirchen erbrachten hier die sozialen Leistungen, zu denen der Staat noch kaum in der Lage war.38

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Kirchenpolitik im Deutschen Kaiserreich Im Deutschen Reich hatten die Protestanten die große Mehrheit, die katholischen Länder Österreich und Frankreich waren 1866 und 1870 besiegt worden. Aus dieser militärischen und politischen Stärke heraus entwickelten einige protestantische Theologen sehr bald eine religiöse Lehre des Krieges. Sie sahen in den beiden Kriegen von 1866 und von 1870 den Sieg des Protestantismus über den Katholizismus und ein Werk der göttlichen „Vorsehung“. Daraus leiteten sie einen besonderen Auftrag für die evangelischen Kirchen ab. Ihre großen Gegner sahen sie im Sozialismus, im Liberalismus und zum Teil im Katholizismus. Konservative Theologen wie Adolf Hausrath betonten, der Protestantismus sei den Sozialisten und den Katholiken sittlich weit überlegen. Und Adolf Wagner betonte die soziale Verantwortung der Christen für die Arbeiter, er forderte gerechte Löhne, kürzere Arbeitszeiten, eine Sozialversicherung und Möglichkeiten der Bildung. Seine Gegner nannten ihn spöttisch einen „Kathedersozialisten“. Doch liberale Theologen forderten von der Kirchenleitung die dringliche Öffnung für freiheitliche Denkund Lebensmodelle.39 Nach dem Börsenkrach von 1873 verlor der wirtschaftliche und politische Liberalismus schnell an Überzeugungskraft, in der Folgezeit verbanden sich konservative Denker mit nationalen Politikern. So entstand in kurzer Zeit ein nationaler Konservativismus, der sich sehr schnell den neuen wirtschaftlichen und technischen Entwicklungen anpasste. Der neue Staat wurde vor allem von der Armee und der protestantischen Kirche getragen, die katholische Kirche wurde als geistig rückständig und „ultramontan“ bewertet. Die Sozialpolitik wurde stark von Theologen mitbestimmt, einer der politischen Ratgeber war Theodor Lohmann. Nicht wenige Theologen engagierten sich im „Verein für Sozialpolitik“, ab 1889 gab es im Deutschen Reich bereits für alle Arbeiter eine Alters- und Unfallversicherung. Auch der Hofprediger Adolf Stoecker engagierte sich für eine soziale Politik, dabei folgte er einem national-konservativen Weltbild. Zu dieser Zeit entstand ein „Centralverein für Sozialreform“, eine „Christlich-Soziale Arbeiterpartei“ wurde gegründet.40 Die konservativen Theologen betonten die großen Leistungen und die kommenden Aufgaben der deutschen Nation, gleichzeitig aber warnten sie vor einem wirtschaftlichen und politischen Erstarken des Judentums. Sie verbanden einen religiös begründeten Nationalismus mit einem starken Antisemitismus. Mit dem Regierungsantritt von Wilhelm II (1888) nahmen das nationale und das imperiale Denken unter den Theologen deutlich zu, viele sprachen von einem neuen göttlichen Auftrag. Damit werteten sie nicht nur die Katholiken und vor allem die Franzosen mit ihrer „dekadenten“ Demokratie ständig ab, sie distanzierten sich auch von den anglikanischen Christen in England und von den Calvinern in Schottland und Holland. Vermutlich bemerkten sie gar nicht, dass sie ihre nationale und imperiale Ideologie über das gemeinsame protestantische Bekenntnis des Glaubens stellten. Sie waren nämlich von der göttlichen Aufgabe besessen, den Engländern und den Franzosen die wahre protestantische „Kultur“ zu vermitteln bzw. aufzuzwingen.41

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England, Skandinavien und Nordamerika In England rangen im 19. Jh. viele Freikirchen und Dissenters um die rechtliche Gleichstellung mit den Anglikanern und den Calvinern. Viele Kleriker und Theologen widersetzten sich dem Ansinnen, staatliche Schulen zu gründen und das Bildungsmonopol der Kirchen zu beenden. Doch viele liberale Denker setzten sich für die Ehescheidung, für die kirchliche Wiederverheiratung der Geschiedenen und für die Zulassung von Juden ins Parlament ein. Die Eidesformel bei den Gerichten sollte auch ohne den Bezug auf den christlichen Gott gesprochen werden können, da es im Land bereits viele Atheisten gab. Skeptisch gesehen wurden von den Anglikanern die katholischen Erneuerungsbewegungen (z.B. Oxford-Bewegung), weil die Katholiken weiterhin dem Papst in Rom unterstellt waren. Zu dieser Zeit traten einige anglikanische Theologen zum katholischen Glauben über, andere gingen den umgekehrten Weg. In der Zeit der Königin Victoria entstanden auch in England, Schottland und Wales viele soziale Einrichtungen und Selbsthilfevereine für Arbeiter, für Arme und Kranke. In London wurde die „Heilsarmee“ 1878 gegründet, sie sollte im ganzen Land ein soziales Christentum verwirklichen. Es entstanden Bibelgesellschaften und Missionsvereine, die den Glauben auch in den Kolonien verbreiten und einwurzeln wollten. Religiös motivierte „Bruderschaften“ bemühten sich, auch politisch im ganzen Land gerechte Löhne und sozialen Schutz für die Arbeiter durchzusetzen. Auch viele Adelige und reiche Bürger schlossen sich diesen Unternehmungen an.42 Zu dieser Zeit wurden in ganz England regionale Kirchenkonzile abgehalten (z.B. Lambeth Conference), um aktuelle Fragen des Glaubens und der Lebensgestaltung zu verhandeln. Die liberale Bewegung um William Gladstone wollte mehr freies und selbständiges Denken auch in der Anglikanischen Kirche verbreiten, was ihr in vielen kleinen Schritten auch gelang. Die Oxford-Bewegung mühte sich um eine schärfere Trennung der Kirche vom Staat, was aber kaum Erfolg hatte. Gefordert wurde, dass auch Atheisten (Charles Bradlaugh) im Parlament vertreten sein durften. Die Katholiken in Irland erhielten mehr Rechte im Staat, die Diskriminierung aller Nichtanglikaner wurde beendet. Viele Theologen begannen, die Bibel mit den Methoden der kritischen Forschung auszulegen, dabei wurde die Frage der göttlichen „Offenbarung“ heftig diskutiert. In den sozialen Aktivitäten engagierten sich alle christlichen Kirchen und Konfessionen, sie gründeten 1889 die „Christian Social Union“. Auch die meisten Theologen forderten im Staat mehr soziale Gerechtigkeit. In der Bildung der Jugend arbeiteten Laienchristen und Kleriker eng zusammen (z.B. Voluntary Schools). Die englischen Kirchen öffneten sich früh den liberalen und den sozialen Ideen und Zielsetzungen der Zeit. Der nationale Imperialismus war deutlich schwächer ausgeprägt als bei den lutherischen Theologen im Deutschen Reich.43 Auch in den skandinavischen Ländern Dänemark, Schweden, Finnland und Norwegen veränderten sich die lutherischen Kirchen. Von den deutschen und englischen Universitäten kamen liberale und soziale Denkimpulse. Die Kirchen dort waren eng mit dem Staat verflochten, es gab fast überall Staatskirchen. Dennoch entstanden Erweckungsbewegungen und Freikirchen, etwa die Baptisten oder die

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„Union der Heilung“. In vielen Regionen wurden Missionsgesellschaften gegründet, um den lutherischen Glauben auf allen Kontinenten der Erde zu verbreiten. Die Laienchristen gewannen gegenüber den Predigern deutlich an Einfluss, etwa in der „Inneren Mission“ oder in der „Lutherstiftung“. Sie bemühten sich, in den liberalen Städten und unter der Arbeiterschaft den religiösen Glauben wieder zu verwurzeln. Liberale Ideen aus England wurden vor allem von den Bürgern in den Städten begeistert aufgenommen, viele wollten mehr Glaubensfreiheit und Überzeugungsfreiheit auch in den Einrichtungen des Staates. Gleichzeitig entstanden mehrere konservative Bewegungen, welche den lutherischen Glauben unverändert weitergeben wollten. Insgesamt aber nahm bei den Gebildeten die Offenheit für die moderne Wissenschaft und für kritisches Denken deutlich zu.44 Nach der Berliner Konferenz (1885) über die politische Aufteilung Afrikas unter den Kolonialmächten Europas verstärkten alle christlichen Länder ihre Missionstätigkeit. Es wurden Missionsgesellschaften gegründet, Missionare gingen in fremde Kontinente. Die Anti-Slavery-Society setzte vor allem in England ihre Arbeit fort, um die Folgeschäden der Sklaverei abzumildern. Die früheren Sklaven sollten nun in ganz Europa und in Afrika als den Weißen gleichwertige Menschen behandelt werden. Mit der christlichen Glaubensmission sollte auch europäische Bildung, Erziehung und Wissenschaft nach Afrika kommen, nun wurden dort Gymnasien, Universitäten und Krankenhäuser eingerichtet. In der Missionstätigkeit näherten sich die christlichen Kirchen in kleinen Schritten auch einander an. 1892 wurde in England der erste Lehrstuhl für Missionswissenschaft (Evangelistic Theology) gegründet, einige Jahre später wurde ein ähnlicher Lehrstuhl an der Universität von Halle/Saale eingerichtet. Damit weitete sich der Horizont für fremde Kulturen, die ethnologische Feldforschung begann oder wurde deutlich verstärkt.45 In Nordamerika hatte der Protestantismus viele Formen angenommen, es gab dort kein Staatskirchentum und wenig feste Strukturen. Vor allem gab es keine adeligen Landesfürsten, die als Bischöfe ihrer Kirchen fungieren konnten. Viele protestantische Kirchen und Konfessionen waren mit einander in Konkurrenz, in sozialen Fragen strebten aber sie eine Kooperation an. Zu den großen Konfessionen zählten die Lutheraner, die Reformierten, die Anglikaner, die Baptisten, die Methodisten und viele abgespaltene Glaubensgemeinschaften. Die meisten Gläubigen verstanden sich als „Versammlungen“ (congregations) derer, die das Wort Gottes hören und leben wollten. So entstanden viele missionarische Vereine, etwa die Unitarische Union oder der „Transcendental Club“. Fast in allen Staaten waren Erweckungsbewegungen tätig, die Prediger wollten die Gläubigen zum wahren Glauben aufwecken. Dabei wurden große Versammlungen organisiert, um gemeinsam die Erlösung vom Bösen und die Wiedergeburt zum neuen Leben zu erfahren.46 Regelmäßig wurden große Gebetstreffen (Meet-campings) organisiert, um in heiliger Begeisterung Gottesdienste zu feiern und den Glauben zu vertiefen. Es gab Heilungsgottesdienste, wo um die Heilung Kranker gebetet wurde und wo Riten der Heilung ausgeführt wurden. Viele Prediger nannten Nordamerika das „Zweite Israel“, sie sprachen von einem „Tausendjährigen Reich“, das unter ihnen jetzt

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begonnen habe. Viele erwarteten die baldige Wiederkunft Christi. Andere hofften auf eine neue „Zeit des Friedens“, denn die moralische Besserung aller Menschen und der ganzen Welt sei jetzt real möglich geworden. Aber nur die von Gott „Auserwählten“ würden das Reich Gottes betreten dürfen. Andere Prediger verkündeten, alle weißen Amerikaner gehörten zum „auserwählten Volk“ Gottes, nicht aber die Schwarzen. In vielen Landesteilen entstanden Bibelgesellschaften und Missionsvereine (Education Society, Bible Society, Sunday School Union; Anti-Slavery-Society).47 In fast allen Bundesstaaten wurden Sonntagsschulen eingerichtet, freiwillige Helfer organisierten den Unterricht. Die vielen Erweckungsbewegungen stärkten aber das demokratische Bewusstsein im Land, denn sie gingen von der Gleichberechtigung aller Erwählten aus. Die Träger dieser Bewegungen waren vor allem Puritaner, Baptisten, Kongregationalisten und Presbyterianer. Diese weißen religiösen Bewegungen grenzten sich aber scharf von der schwarzen Bevölkerung ab, die „Neger“ durften an ihren Gottesdiensten nicht teilnehmen. In einigen Bewegungen wurde die „Geisttaufe“ gefeiert, es wurden Sündenvergebungsriten und Heilungsgottesdienste ausgeführt. Einige dieser Gemeinschaften lebten sogar die Polygamie der Männer. Eine starke Bewegung bildeten die Mormonen, die um 1830 von Joseph Smith gegründet worden sind. Dort wurde das Buch Mormon als neue göttliche Offenbarung angesehen, das alle Lebensformen der Gläubigen neu regelte. Die Glaubenden verstanden sich als „Heilige der letzten Tage“, sie zogen 1846/1847 im „großen Zug“ zum großen Salzsee, wo sie sich feste Siedlungen bauten. Diese Gemeinschaft ist bis heute stark von pietistischen und biblizistischen Ideen geprägt.48 Zu den weißen Erweckungsbewegungen zählen die „Sieben-Tage-Adventisten“, die 1868 gegründet wurden. Sie erwarteten die baldige Wiederkunft Christi und wollten sich durch ein moralisches Leben darauf vorbereiten. Vor allem arbeiteten sie daran, die Gesellschaft gerechter zu gestalten und den Armen wirkungsvoll zu helfen. Große Bewegungen bildeten die verschiedenen „Spiritistischen Gesellschaften“, die sich auf das Wirken des „Großen Geistes“ oder vieler kleiner Geistwesen bezogen. In spirituellen Sitzungen (sessions) wollten sie mit diesen Geistwesen Kontakt aufnehmen, sowie deren Botschaften und Lebenskräfte empfangen. Als Samuel Morse 1836 den elektrischen Telegraphen erfand, wurden die spiritistischen Gruppen stark beflügelt. Denn sie glaubten daran, dass sie auch ohne technische Geräte mit den Geistwesen in Kontakt kommen konnten.49 Die protestantischen Kirchen veranstalteten regelmäßig regionale Synoden, auf denen aktuelle Probleme der Zeit verhandelt wurden. Als die Katholiken durch Einwanderung stark zunahmen, kam es zu Protesten gegen diese römische Konfession. Die Schulen waren zu dieser Zeit mehrheitlich protestantisch, doch Katholiken durften Privatschulen einrichten. Viele protestantische Gruppen engagierten sich in der „Anti-Slavery-Society“, die 1833 in Philadelphia gegründet wurde. Sie wollten die Sklaverei beenden und ehemaligen Sklaven zu einem menschenwürdigen Leben verhelfen. Denn nach ihrer Freilassung wurden sie von den Fabrikbesitzern und Farmern sehr schlecht bezahlt. Staatliche Sozialgesetze wie in vielen Ländern Europas konnten die Protestanten und Katholiken in Nordamerika lange Zeit nicht erreichen.50

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Als die meisten Sklaven von ihren Herren befreit waren, wurde das Problem der „Rassen“ akut. Denn die schwarze Bevölkerung wuchs rasch an, aber sie hatte viel weniger rechtliche und wirtschaftliche Möglichkeiten als die Weißen. Die meisten weißen Kirchen schlossen Schwarze von ihren Gottesdiensten aus, daher organisierten sich eigene schwarze Kirchen. So entstanden zwei getrennte Kirchen, eine Kirche der Weißen und eine Kirche der Schwarzen. Nur langsam kam es zu einer Vermischung in den Gottesdiensten und in den Kirchenämtern, die Schwarzen akzeptierten weiße Prediger, den Weißen fiel die Akzeptanz schwarzer Prediger und Theologen um Vieles schwerer. In den Südstaaten entstanden viele schwarze Erweckungsbewegungen, die auch um die soziale Emanzipation der schwarzen Mitchristen rangen.51 Vereinzelt meldeten sich weiße Theologen und Laienchristen zu Wort, die eine religiöse und politische Gleichberechtigung der Schwarzen und der Weißen anstrebten. Es war ein mühsamer Lernprozess, den die weißen Kirchen durchmachten und der weit ins 20. Jh. andauerte. Weiße Missionare versuchten, die indianischen Ureinwohner zum Christentum zu bekehren, was ihnen nur mühsam gelang. Sie predigten ihnen einen „roten Christus“ und eine streng biblische Moral, doch ihre Erfolge blieben gering. Oft konnten Indianerstämme nur durch wirtschaftlichen Anreiz für den christlichen Glauben gewonnen werden. Es gab noch kriegerische Auseinandersetzungen mit den Indianern, denn diese hofften, dass der „Große Geist“ ihnen im Kampf ums Überleben zu Hilfe kommen würde.52 Nach dem Bürgerkrieg zwischen den Nord- und den Südstaaten engagierten sich die Kirchen für die Versöhnung der verfeindeten Parteien, nachdem sie vorher den Krieg unterstützt hatten. In kleinen Schritten bekamen die Schwarzen mehr Rechte und wirtschaftliche Möglichkeiten. Einige weiße Prediger und Theologen engagierten sich für die Aufwertung der schwarzen Bevölkerung, doch die Mehrheit von ihnen blieb bei der Überzeugung, dass Gott ihnen weniger Recht zugesprochen hätte und dass den Schwarzen nur eine dienende Rolle zukommen sollte. Unter den Weißen verstärkten sich aber die konservativen Bewegungen, viele Theologen predigten ein „Evangelium des Reichtums“, dieser sei von Gott gewollt und ein Geschenk des Himmels. Heftig umstritten waren bei den Theologen aber die Lehren von Charles Darwin, es bildeten sich bald „fundamentalistische“ Gruppen, welche die Fundamente des alten Glaubens nicht aufs Spiel setzen wollten.53 Zur gleichen Zeit entstanden aber Bewegungen des „Sozialen Evangeliums“, sie wollten mehr Gerechtigkeit für die arme Bevölkerung erreichen. Die protestantischen Kirchen rückten näher zusammen, sie schlossen verschiedene Kirchenbündnisse, an denen sich die Katholiken freilich nicht beteiligten. In der Folgezeit entstanden weitere Freikirchen (Free Religious Associations), welche die starre Kirchenleitung ablehnten. Im Lauf der Zeit entstand unter den Protestanten auch ein liberales Christentum, das sich den Erkenntnissen der Naturwissenschaften öffnete und mehr Freiräume im Denken und Glauben leben wollte. Die liberalen Theologen wurden häufig von Europa unterstützt. Auch die Vertreter des Sozialen Evangeliums (J. Strong, W. Gladden, W. Rauschenbusch) hatten enge Verbindungen zu europäischen Theologen. Doch die große Mehrheit der Protestanten in Nordamerika blieb

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im 19. Jh. konservativ in ihrer Einstellung zu Religion und Moral. Die angelernte Religion gab den Einwanderern festen Halt, folglich ist die Religion bis heute fest in der amerikanischen Bevölkerung verwurzelt.54 So wurden große Teile Europas von den protestantischen Lehren und Lebensformen geprägt bzw. mitgeprägt. Diese bildeten keine Einheit, sondern wurden in einer breiten Vielfalt gelebt und verwirklicht. Nach dem Schock der Französischen Revolution und den Kriegen Napoleons verloren die Ideen der rationalen Aufklärung in der Theologie und den Glaubensgemeinschaften immer mehr an Gewicht. Wohl konnte sich eine liberale Theologie weiter entfalten, aber ihr Wirkungsraum blieb begrenzt. Denn die Mehrheit der Theologen und die Kirchenleitungen strebten zu einer konservativen lutherischen und calvinischen „Orthodoxie“. Die Kirchen unterstützten die Politik ihrer Länder, daher dachten viele Protestanten national und bald auch nationalistisch. Bei vielen Theologen sehen wir einen latenten Antijudaismus, der sich zum Ende des Jh. hin deutlich verstärkte. Daher unterstützten die Kirchenleitungen auch die Kolonialpolitik ihrer Länder, sie sahen darin nämlich die Chance für die Missionierung ganzen Kontinente. Die meisten Theologen waren überzeugt, dass der eine Weltgott nur die Weißen dazu berufen habe, der schwarzen Bevölkerung den christlichen Glauben und die europäische Kultur zu bringen. Doch politisch und ideell entwickelten sich die Kirchen in Deutschland und in England stark auseinander. Denn in den deutschen Ländern war die Angst vor der Revolution und der Demokratie ungleich größer als in England, Schottland und Wales. Das Vereinigte Königreich gehörte nie zur „Heiligen Allianz“ der konservativen Mächte Europas, dort konnten die Ideen der rationalen Aufklärung weiter entwickelt werden. Dort wurde auch zuerst in ganz Europa vom Parlament das Ende des Sklavenhandels beschlossen (1807). An den Universitäten verbreiteten sich weithin eine realistische Weltdeutung und eine utilitaristische Ethik. In der Politik erhielt ein starkes Parlament immer mehr an demokratischen Rechten. Auch die Sozialgesetze für Bauern und Arbeiter wurden maßvoll weiterentwickelt. Denn England blickte noch immer auf die verlorenen Kolonien in Nordamerika (USA und Kanada), wo es bereits funktionierende Demokratien gab. Ganz anders entwickelte sich Deutschland, denn Preußen gehörte zur Heiligen Allianz mit Russland und Österreich. Dort wurden liberale und demokratische Ideen über viele Jahrzehnte gewaltsam unterdrückt. Die Schulphilosophie orientierte sich mehrheitlich am idealistischen Denken, sie entfernte sich damit aber vom realistischen und pragmatischen Denken der Aufklärung. Viele Theologen blickten wieder zurück zu den Reformatoren M. Luther und J. Calvin und nahmen an ihnen das Maß. Folglich lehrten sie, Deutschland sei nun die wahre Hüterin der Reformation. Sie schauten nun abwertend auf die englische und anglikanische Theologie, denn diese sei nur an einer oberflächlichen Denkweise orientiert. Doch in der deutschen Theologie sei die volle „Tiefe“ des deutschen Geistes zu finden. Daher unterschied sich der englische bzw. anglikanische Protestantismus im 19. Jh. deutlich vom deutschen (lutherische) Protestantismus, nicht nur in der Glau-

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benslehre, sondern auch im philosophischen Hintergrund. Die deutschen Theologen waren mehrheitlich dem idealistischen und metaphysischen Denken gefolgt, während die englischen Theologen mit großer Mehrheit in der Tradition der Aufklärung weiterdachten. Sie schätzten die Demokratie und die allgemeinen Menschenrechte, auch den geordneten Rechtsstaat, die aber zu den Feindbildern der deutschen Theologen und Kirchen wurden. Zu Beginn des Ersten Weltkriegs wurden diese Feindbilder virulent, die deutschen Theologen sahen einen Kulturkrieg der tiefen deutschen „Kultur“ gegen die oberflächliche englische „Zivilisation“. Doch in der Sozialgesetzgebung gab es eine gewisse Zusammenarbeit zwischen beiden Ländern. Die Protestanten in Skandinavien waren lange Zeit gespalten. Denn zum einen orientierten sie sich am deutschen Protestantismus und den deutschen Kirchen, denn von dort kam die Reformation in ihre Länder. Es gab enge Zusammenarbeit mit der Theologie und den Kirchen in Deutschland. Doch liberale Teile der skandinavischen Theologie richten sich nach den englischen Theologen mit ihren liberalen Traditionen aus. Insgesamt hat die protestantische Glaubensform und Lebenswelt die europäische Kultur und Gesellschaft nachhaltig mitgeprägt. Aus den protestantischen Kirchen stammen ohne Zweifel die Öffnung für demokratische Lebensformen, die Akzeptanz der allgemeinen Menschenrechte und des Rechtsstaates, die nachhaltige Sozialgesetzgebung, die Toleranz des freien Denkens und Glaubens. Aber aus diesen Kirchen kommen auch das nationale und nationalistische Denken, der starke Antijudaismus, die idealistische Weltdeutung, die konservative Orthodoxie und die repressive Form der aristokratischen Politik.

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Die katholische Kirche wurde vor allem in Frankreich durch die Revolution und durch Napoleon stark verändert. Es gab danach wieder zwei gegnerische Flügel, eine konservative und traditionalistische Richtung und eine liberale und politisch lernbereite Bewegung. Durch das Konkordat zwischen dem Papst und Napoleon (1801) wurde das Verhältnis zwischen dem Staat und der Kirchenleitung neu geregelt. Im Jahr zuvor war Pius VII. in einem Konklave in Venedig zum Papst gewählt worden. Die Verhandlungen zum Konkordat führten Charles de Talleyrand, der frühere Bischof von Autun, und Kardinal Ercole Consalvi. In den 77 „Organischen Artikeln“ wurden die Freiheiten der Gallikanischen Kirche zusammengefasst. Im „Code civil“ (1801) wurden die Eheschließung und die Ehescheidung aus der Hand der Kleriker in die Kompetenz des Staates übernommen. Alle Bischöfe mussten sich fortan dem Staat unterordnen, der religiöse Kult durfte nur in den Kirchen ausgeführt werden. Die kirchliche Trauung war erst nach der staatlichen Eheschließung erlaubt. Die Bischöfe verloren die Aufsicht über die staatlichen Schulen, kirchliche Schulen waren aber weiterhin möglich. Die Diözesen wurden neu geordnet und die früheren Priesterseminare wurden wieder geöffnet.1

Die Kirche zur Zeit Napoleons Nach der siegreichen Schlacht bei Austerlitz (1805) wurde Napoleon von vielen Theologen in Frankreich als „neuer Kyros“ gepriesen, er war für sie der „Bischof des Äußeren“. Bald danach wurde der kaiserliche Einheitskatechismus veröffentlicht, darin wurde die kirchliche Lehre der staatlichen Aufsicht unterstellt. Der Kaiser hieß darin der „Gesalbte des Herrn“, die Bischöfe und Theologen nannten seine vielen Eroberungskriege „gerechte Kriege“. Ab 1809 verschlechterte sich die Beziehung des Kaisers zur Kirchenleitung und zum Papst, weil dieser sich geweigert hatte, die Kontinentalsperre gegen England mit Truppen zu unterstützen. Daraufhin besetzte Napoleon den Kirchenstaat und nahm den Papst in Gefangenschaft, zuletzt in Fontainbleau. Die Kurienkardinäle und alle Ordensoberen mussten nach Paris übersiedeln. Nun verlangte der Kaiser von den Bischöfen die Annullierung seiner ersten Ehe, um die österreichische Kaisertochter Maria Luise heiraten zu können. Bei dieser kaiserlichen Hochzeit waren 16 Kardinäle anwesend, der Papst aber war in Savona gefangen.

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In Paris begann im Juni 1811 ein Konzil der Bischöfe aus Frankreich, Italien und Deutschland, um die Fragen der Religion neu zu ordnen. Doch der Papst hatte den Kaiser exkommuniziert, er ignorierte dieses Konzil. Als Napoleon im Winter 1812/13 in Russland besiegt wurde und geschlagen nach Paris zurückkehrte, verhandelte er sofort mit dem Papst in Fontainbleau ein neues Konkordat, darin machte er der Kirchenleitung wieder viele Zugeständnisse. Am 24. Mai 1814 durfte der Papst nach Rom zurückkehren, viele Kleriker und konservative Laienchristen erwarteten eine religiöse Wiedergeburt. Auf dem Wiener Kongress (1815) wurde die Wiederherstellung des Kirchenstaates und des Papsttums von allen Großmächten bestätigt. In der Folgezeit bildeten sich im Vatikan unter den Prälaten und Bischöfen zwei konträre Parteien: die Zelanti lehnten alle Annäherungen an die Kultur der Moderne strikt ab, während die Politicanti zu vielen Änderungen aus politischer Klugheit bereit waren.2 Der päpstliche Verhandler auf dem Wiener Kongress war wieder der Kardinal Ercole Consalvi, ihm saß ebenfalls wieder der frühere Bischof Charles de Talleyrand aus Frankreich gegenüber. Die Klöster, die unter Napoleon aufgehoben wurden, durften wieder ihre Pforten öffnen. In Rom durften nun auch protestantische und anglikanische Kapellen eingerichtet werden, nämlich für Besucher aus England und Deutschland. Als der Bourbone Ludwig XVIII. wieder als König in Frankreich regierte, sandte der Papst sogleich einen Nuntius nach Paris. Der Jesuitenorden wurde wieder errichtet, der bereits 1773 aufgehoben worden war. Der Vatikan förderte die Mission in vielen Ländern der Welt, gleichzeitig verhandelte er mit vielen Ländern Europas Kirchenverträge (Konkordate). Der Papst Leo XII. (1823 bis 1829) schlug in seiner Kirchenpolitik wieder einen extrem restaurativen Kurs ein, er forderte vom König in Frankreich die alten Rechte der Bischofsernennungen.3

Neuorganisation der Seelsorge In der Zeit der politischen Restauration und der Heiligen Allianz von Österreich und Preußen mit Russland wurden die konservativen Kräfte in der Kirche wieder gestärkt. Joseph de Maistre und Bartolomeo Capellari schrieben über den Triumph des Heiligen Stuhles über die Kräfte der Reformation, sie sahen im Papst wieder die höchste moralische Autorität der Christenheit. Und Rene de Chateaubriand pries die wunderbaren Geheimnisse des christlichen Glaubens, die Denker der Romantik idealisierten den Glauben des Mittelalters. Unter diesen Voraussetzungen konnten sich die begonnenen Lernprozesse der Aufklärung kaum weiter fortsetzen. Viele Theologen priesen wieder die religiöse Mystik und die Kraft des „Übernatürlichen“ (Surnaturel). Neue Predigerorden wurden gegründet (Redemptoristen), um das Kirchenvolk in vielen „Volksmissionen“ wieder im alten Glauben zu verwurzeln. Der Glaube an die Wunder nahm im Volk wieder stark zu, doch der Glaube an eine vernünftige Form der Religion sollte unter der Bevölkerung ausgelöscht werden. Viele Theologen in Frankreich priesen die Rückkehr der Bourbonen auf den Königsthron als Werk der göttlichen Vorsehung. Die Wirren der Revolution und die Kriege Napoleons wurden nachträglich als Ereignisse der Apokalypse gedeutet. Bald

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wurden neue religiöse Gemeinschaften gegründet, welche sich „Freunde des Königs und der Religion“ nannten. Sie wollten das alte Bündnis zwischen dem Königsthron und dem Altar der Priester wieder festigen. Zu dieser Zeit wurde die „Kongregation der Glaubensritter“ (Chevaliers de la foi) gegründet, auch sie wollten die restaurative Politik des Königshauses voll mittragen. Die Jesuiten und andere Orden predigten auf den Volksmissionen gegen die Abirrungen der Demokratie, gegen die allgemeinen Menschenrechte und die Formen der Rechtsstaates. Bei diesen Missionen wurden viele Bücher verbrannt, welche Ideen der rationalen Aufklärung verbreiten wollten. Viele religiöse und mystische Erneuerungsbewegungen strebten eine „Rechristianisierung“ Frankreichs im Sinne des alten Herrschaftschristentums an.4 Erst in der Zeit zwischen 1830 und 1848 konnten sich in Frankreich langsam liberale Ideen in der Religion verbreiten. Die religionskritischen Gruppen rückten wieder enger zusammen, sie orientierten sich stark an F. Voltaire (Voltairisme). Jetzt durften auch wieder agnostische und atheistische Bücher gedruckt werden. Doch auf der Seite der restaurativen Religionsvertreter nahm die Intoleranz deutlich zu. Sie unterstellten den Atheisten, den Agnostikern und den Juden, dass sie die Autorität des Staates untergraben wollten und die Liebe zum Vaterland schwächten. Mit der Juli-Revolution von 1830 und der darauf folgenden Herrschaft des „Bürgerkönigs“ Louis-Philippe wurde der Einfluss des Papstes und der Kleriker im Land wieder reduziert. Doch der Papst Gregor XVI. wandte sich in einem Lehrschreiben gegen alle Einschränkungen seiner politischen Macht, gegen alle Demokratien und gegen die Verfassungen in den konstitutionellen Monarchien. Doch der Theologe Robert de Lamennais (gest. 1854) engagierte sich für eine liberale Form der Religion, für die strikte Trennung der Kirche vom Staat, für die Freiheit des Gewissens, der Presse und der Vereine. Er forderte das allgemeine Wahlrecht der Männer auf allen politischen Ebenen, die fortschreitende Emanzipation des Geistes von den Fesseln der Religion und neue Formen des Christentums. Die katholische Zeitschrift „L Avenir“ machte schon früh auf die Nöte der Arbeiter und ihre mögliche Verbesserung aufmerksam. Doch der Papst verurteilte alle Forderungen nach freiem Denken und nach Gewissensfreiheit. Die Anhänger von Lamennais verstanden sich als „Theo-Philanthropen“, sie wollten die Gottesliebe und die Menschenliebe in einer liberalen Politik zusammen führen.5 Einen Einschnitt in der Kirche Frankreichs brachte das Revolutionsjahr 1848, die Absetzung des Bürgerkönigs und danach die Regierung von Louis Napoleon als Kaiser Napoleon III. Im Januar 1849 wurde in Rom die Republik ausgerufen, der Papst wurde abgesetzt, doch durch die militärische Intervention der katholischen Mächte Frankreich und Österreich wurde er wieder in sein Amt eingesetzt. Der Papst Pius IX. (1846 bis 1878) kämpfte massiv gegen alle liberalen und demokratischen Ideen, er verurteilte in vielen Enzykliken die Freiheit des Gewissens, die allgemeinen Menschenrechte, den demokratischen Rechtsstaat. Die hierarchisch geordnete Kirche sei für alle Zeiten eine „vollkommene Gesellschaft“ (societas perfecta). Der Staat könne nicht die oberste Norm der Moral sein, die Gewissensfreiheit und der moralische Indifferentismus führten die Menschen in den Untergang. Zu dieser Zeit kämpfte die

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katholische Kirchenleitung den härtesten Kampf gegen die Lernprozesse der europäischen Aufklärung und gegen die politischen Folgen der Französischen Revolution. Bekämpft wurden in den Wissenschaften der Naturalismus und der Materialismus, aber auch die pantheistischen Weltdeutungen. Unter das Verdikt der Kleriker und Theologen fiel aber auch die Abstammungslehre des Charles Darwin, weil sie den Lehren der Bibel widersprach.6

Kultur des Laienchristentums Doch zu dieser Zeit wurden auch in Frankreich die Laienchristen selbständiger in ihrem Denken, Leben und Glauben. Denn viele Katholiken engagierten sich für eine größere Freiheit in der Wirtschaft, in der Politik und in der privaten Lebensgestaltung, sie kämpften für die allgemeinen Menschenrechte, für die Demokratie und den Rechtsstaat. Diese Laienchristen organisierten sich in den katholischen Verbänden, sie arbeiteten im sozialen Bereich für Arme und Kranke. Die restaurativen Lehren der Kleriker übernahmen sie nur mehr selektiv, sie wählten aus den Lehren der Theologen und Bischöfe das aus, was ihnen mit ihrer Überzeugung verträglich erschien. In der Folgezeit entstand ein autonomes Laienchristentum, viele Katholiken engagierten sich in liberalen Parteien, andere arbeiten für die Verbesserung der Situation der Arbeiter in den Fabriken. Diejenigen Katholiken, die aber den Lehren der Päpste in Rom folgten, wurden von ihren Kritikern „Ultramontanisten“ genannt. Im ganzen Land wurden neue wissenschaftliche Akademien (Academie Francaise) ausgebaut, um das Volk wissenschaftlich und politisch zu bilden. Laienchristen gründeten in Zusammenarbeit mit dem Orden der Vinzentiner (Lazaristen) die regionalen „Vinzenzkonferenzen“, um vor Ort die Armen und Entrechteten nachhaltig zu unterstützen. Sie engagierten sich zusammen mit Klerikern in der Erziehung der Jugend, sie gründeten Zeitungen und Verlage, um religiöse und politische Schriften unter das Volk zu bringen. Damit schärften sie das soziale Gewissen der reicheren Mitbürger für die Nöte der Arbeiter, der Kranken und der Obdachlosen. Ähnliche Entwicklungen sehen wir auch in Belgien und in Luxemburg. In Holland waren die Katholiken eine Minderheit, auch dort trugen Laienchristen und Orden die konfessionellen Schulen und die Armenhilfe.7 Zu dieser Zeit verfasste der Philosoph und Historiker Hippolyte Adolphe Taine ein geschichtsphilosophisches Werk über die menschliche Intelligenz (De l´intelligence). Darin warnte er bereits vor der Übermacht der emanzipierten Juden in der Wirtschaft. Viele Laienchristen verteidigten den Glauben an das „Übernatürliche“, auch sie argumentierten gegen den Naturalismus und den Materialismus vieler Naturwissenschaftler. Zu dieser Zeit wirkten Kleriker als „Seelenführer“, sie förderten die regelmäßige Meditation (z.B. Charles Gay) und das „Herzensgebet“ zu Jesus und zu Maria. Nicht wenige Laienchristen entfalteten eine religiös motivierte Literatur, sie folgten den Ideen der Romantik oder eines christlichen Sozialismus. Andere vertraten eine Philosophie des Lebens und wandten sich gegen materialistische Weltdeutungen. Sie wollten einer pessimistischen Stimmung unter den konservativen

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Denkern entgegen wirken, die überall nur den kulturellen „Niedergang“ (decadence) befürchteten. Maurice Blondel besang in seinen „Cornets intimes“ (1886) die Schönheit des Lebens und das vielfältige Gute in der modernen Welt. Im Jahr 1886 war der Dichter Paul Claudel zum katholischen Glauben übergetreten, er pries fortan die Schönheit des religiösen Glaubens. Der katholische Dichter Leon Bloy kritisierte die Doppelmoral vieler Bürger. Manche Dichter sprachen von einer Sehnsucht vieler Menschen nach der moralischen „Heiligkeit“ des Lebens.8 Die Frömmigkeit des Volkes wurde stark von den Volksmissionen der Orden geprägt, verbreitet war die Verehrung des „Herzens“ Jesu und der Gottesmutter Maria. Viele glaubten an Erscheinungen der „heiligen Jungfrau“, etwa in La Salette oder in Lourdes, wo die Heilung von Krankheiten erbetet wurde. Die meisten Theologen wandten sich zu dieser Zeit den Lehren der Neuscholastik und des Thomas von Aquin zu (Neuthomismus). Sie glaubten, mit den Lehren des Theologen aus dem 13. Jh. die Problemlagen ihrer Zeit bedenken zu können. Es gab aber auch Theologen, die sich positiv zum modernen und liberalen Denken verhielten, sie wurden aber als „Modernisten“ denunziert. Damit entfernten sich die Überzeugungen vieler Laienchristen deutlich von den Lehren der Kleriker, der Bischöfe und der kirchenamtlichen Theologen. Auch in den deutschen Ländern entwickelte das Laienchristentum eine starke Eigendynamik. Denn in großen Teilen der Bevölkerung lebten die Ideen und Zielwerte der rationalen Aufklärung weiter (Josefinismus). In vielen Regionen bildeten sich aber Freundeskreise der Romantiker und der inneren Frömmigkeit, etwa der Münsteraner Kreis um die Fürstin Amalie von Gallitzin, in Regensburg der Kreis um den Bischof Michael Sailer, in München eine Gruppe um Joseph Ludwig Colmar und Franz Leopold Liebermann. Andere Vereinigungen wollten auch die Katholiken an die liberalen und konstitutionellen Ideen heranführen. In Bonn, Tübingen, München, Breslau und Würzburg wurden neue Theologische Fakultäten eingerichtet. Viele Theo­logen suchten dort den Anschluss an die Moderne, etwa Georg Hermes in Bonn. Seit dem Wiener Kongress kamen viele katholische Gebiete (Rheinland, Trier, Mainz, Münster) zum Königreich Preußen. In der Folgezeit mussten die Probleme der Mischehen zwischen Katholiken und Protestanten geregelt werden. Als der Erzbischof von Köln Clemens August Droste zu Vischering durchsetzen wollte, dass die Kinder aus gemischten Ehen katholisch erzogen werden sollten, wurde er vom preußischen König in der Festung Minden eingesperrt (Kölner Wirren, 1837). Doch König Friedrich Wilhelm IV. (ab 1840) versöhnte sich mit der katholischen Kirchenleitung und begann den Weiterbau des unvollendeten Kölner Domes. Denn dieser Dom sollte nun ein Symbol einer deutschen Nationalkirche sein. Im Revolutionsjahr 1848 unterstützten auch viele Katholiken das erste gesamtdeutsche Parlament in der Frankfurter Paulskirche. Denn sie sahen in der Demokratie die stärkste Kraft gegen ein konservatives und restauratives Christentum (Ultramontanismus).9 Zu dieser Zeit wuchs auch in den deutschen Ländern ein starkes Laienchristentum, es wurden Männervereine und Frauenvereine gegründet, katholische Verlage begannen ihre Tätigkeit. Viele Vereine verfolgten liberale und demokratische Ziele,

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andere waren stark im sozialen Engagement für die Arbeiter, die Armen und Kranken. Der Kleriker Adolf Kolping (gest. 1865) gründete in Köln den „Katholischen Gesellenverein“ (1851), der in 18 Jahren über 24.000 Mitglieder um sich sammelte. Das waren fünfmal mehr Mitglieder als Ferdinand Lassalle in seinen Arbeitervereinen erreichen konnte. Bischof Wilhelm von Ketteler (gest. 1877) und der Theologe Adam Möhler unterstützten diese Intentionen und forderten eine staatliche Sozialpolitik für Arbeiter und Bauern. Viele Laienchristen suchten die Zusammenarbeit mit protestantischen Christen in den „Werken der Nächstenliebe“.10 In der zweiten Hälfte des Jh. verstärkten auch die Katholiken die Missionstätigkeit in Afrika und Lateinamerika. Die meisten Theologen und Bischöfe begrüßten das Ende des Sklavenhandels. Nach der Berliner Konferenz (1885) wurde die Missionstätigkeit deutlich intensiviert, neue Missionsorden wurden gegründet (Steyler Missionare), die Zusammenarbeit mit den Ethnologen wurde gefördert. Fortan konnte sich an den Universitäten die Religionswissenschaft als eigene Disziplin etablieren. Zu dieser Zeit wurden viele Kulturgüter aus Afrika und Südamerika nach Europa geschafft, sie sollten dort der wissenschaftlichen Forschung dienen. Viele Laienchristen engagierten sich auch in den Naturwissenschaften, denn sie sahen darin keinen Gegensatz zur Religion. Nur wenige Theologen wagten, die Methoden der kritischen Geschichtswissenschaft auch auf die Bibel und die Dogmen der Kirche anzuwenden. Zu ihnen zählten Ernest Renan, Alfred Loisy und der irische Theologe George Tyrell. Doch ihre Lehren wurden von den Päpsten als Häresien und „Irrlehren“ verboten.11 Zu dieser Zeit engagierten sich viele Laienchristen für die allgemeinen Menschenrechte, für demokratische Entscheidungen in der Politik und für den Rechtsstaat. Sie nahmen die Erkenntnisse von Charles Darwin und anderer Naturwissenschaften sehr positiv auf und sahen darin keinen Widerspruch zum christlichen Glauben. Doch die Bischöfe und Päpste kämpften geschlossen gegen Demokratie, Menschenrechte und Rechtsstaat, sie sprachen von einem „Amerikanismus“, der sich jetzt auch in Europa ausbreite.12 Doch Laienchristen waren in liberalen und nationalen Bewegungen tätig, ihnen war die restaurative Haltung der Kleriker unverständlich. Vor allem in Italien spitzte sich die politische Situation zu, denn ohne die militärische Eroberung des Kirchenstaates gab es keine Einheit Italiens. Daher gründete Giuseppe Mazzini in Marseille den Geheimbund „Junges Italien“, um die politische Einigung seines Heimatlandes zu erreichen. Antiklerikale Gruppen und Freimaurer verfolgten ähnliche Ziele. Auch in Spanien und Portugal gab es Konflikte der liberalen Bewegungen mit den Theologen und Klerikern. In Frankreich forderten viele Politiker die strikte Trennung des Staates von der Kirche. Und in Österreich-Ungarn hatte eine liberale Regierung das Konkordat mit dem Papst gekündigt, weil dieser seine Unfehlbarkeit im Glauben und in der Moral verkündet hatte. Im Deutschen Reich erließ Otto von Bismarck den „Kanzelparagraphen“, um die politische Macht der Kleriker einzugrenzen (1871). Die Grundschulen wurden verstaatlicht, die Priester verloren das Inspektionsrecht über die Schulen, Ordensleute

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durften nicht mehr unterrichten. Die „Maigesetze“ (1873) verlangten von allen Klerikern ein Staatsexamen, ein eigener Gerichtshof für kirchliche Angelegenheiten wurde eingerichtet. 1874 wurde die obligatorische Zivilehe eingeführt, alle katholischen Orden mussten das Königreich Preußen verlassen. Die Gemeinden durften ihre Pfarrer selbst wählen. Die Kleriker mussten wie alle Beamten den Treueeid auf den Staat und das Reich ablegen. Dieser „Kulturkampf “ gegen die katholische Kirchenleitung hatte zur Folge, dass viele Laienchristen selbständig denken und glauben lernten. Denn sie waren mit den restriktiven Lehren der Kleriker und Theologen längst nicht mehr einverstanden.13 Im Jahr 1870 hatte der Münchner Theologe Ignaz Döllinger (gest. 1890) die „Altkatholische Kirche“ gegründet, die sich nicht mehr der Autorität des Papstes unterstellte. Er wollte katholisch bleiben, aber nicht mehr vom Vatikan abhängig sein. Dabei orientierte er sich an der alten Kirche der Spätantike, gleichzeitig wollte er für die Erkenntnisse der neuen Zeit offen sein. Im Jahr 1871 gründeten 62 katholische Abgeordnete im Deutschen Reichstag die Fraktion der „Zentrumspartei“ unter der Führung von Ludwig Windhorst. Diese Partei verstand sich als Gesinnungsgemeinschaft, sie wollte katholische Belange in der Politik des Reiches vertreten. Fortan begannen die katholischen Arbeitervereine mit den protestantischen Vereinen zusammen zu arbeiten. Ein „Volksverein für das katholische Deutschland“ sollte die aktive Mitarbeit in der Politik des Reiches unterstützen. Seit 1875 arbeitete die „Görres-Gesellschaft“, um die Pflege der Wissenschaften unter den Katholiken zu verstärken.14

Lehren der Päpste und Bischöfe Doch alle Päpste und die große Mehrheit der Bischöfe kämpften im 19. Jh. gegen die Ideen und Zielwerte der europäischen Aufklärung und gegen die Errungenschaften der Französischen Revolution. Sie orientierten sich am Kirchenbild des Mittelalters und des politischen Absolutismus und verteidigten ein geschlossenes und hierarchisches Kirchensystem (societas perfecta). Die hierarchische Kirchenstruktur sei von Gott geoffenbart und dürfe niemals verändert werden. Der römische Papst sei in der Nachfolge des Apostels Petrus der oberste Hüter der ewigen und vollendeten Wahrheit, er sei auch die höchste moralische Instanz für die ganze Welt. Auch die Protestanten und die Nichtchristen müssten sich seinen Lehren unterordnen. Diese Position wurde von traditionalistischen und restaurativen Denkern in ganz Europa unterstützt. Viele Aristokraten sahen im Papsttum die letzte Verteidigung ihrer politischen Vorrechte und Privilegien. Andere sahen darin die harte Auseinandersetzung mit dem Protestantismus, der die Aufklärung möglich gemacht habe. Denn die Forderungen nach Demokratie, nach Gewissensfreiheit, nach Menschenrechten und nach dem Rechtsstaat seien von protestantischen Denkern ausgegangen. Die Aufklärung sei ein spätes Kind der Reformation gewesen, sie habe sich vor allem in den protestantischen Ländern (USA, Holland, England) verbreitet. Andere sagten, die Freimaurer seien hinter der Aufklärung und der Revolution in Frankreich gestanden, sie wollten jetzt auch die katholische Kirchenleitung zerstören.15

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Im letzten Drittel des Jahrhunderts schrieben antisemitische Denker, die Juden und das europäische „Finanzjudentum“ stünden hinter der rationalen Aufklärung, sie hätten mit ihrem Geld die Revolution in Frankreich gekauft. Mit großen Geldsummen hätten sie den Kirchenstaat zu Ende gebracht, jetzt strebten sie nach der politischen Herrschaft in ganz Europa. Die Bischöfe und Päpste kämpften folglich einen „Abwehrkampf “ gegen den Materialismus, den Liberalismus, den Naturalismus, den Modernismus, den Amerikanismus, den Modernismus und den moralischen Relativismus. Dieser Kampf sei nur zu gewinnen durch den Anspruch absoluter und ewiger Wahrheiten.16 Daher lehrte der Papst Gregor XVI., der Indifferentismus im Glauben sei ein schwerer Irrtum, für das Heil der Seele sei ein guter moralischer Lebenswandel niemals ausreichend. Die Forderung der Gewissensfreiheit sei ein „Wahn“ (deliramentum) und die ungezügelte Meinungsfreiheit wirke wie die „Pest“, sie führe zur Zerstörung des Staates. Diese Forderungen einiger Denker und Politiker seien eine Unverschämtheit, der Irrtum führe immer zum Tod der Seele, das habe schon Aurelius Augustinus gelehrt.17 Der Zweifel dürfe nicht in die heilige Theologie einziehen, denn die Vernunft sei niemals die Richterin über die Wahrheiten des Glaubens. Der Skeptizismus und der Indifferentismus seien die neuen Häresien der Zeit (Breve „Dum accerbissima“). Die Bibel dürfe nicht in die Sprachen der Völker übersetzt werden, weil nur die Theologen die heiligen Schriften richtig auslegen können und dürfen. Die protestantischen Bibelgesellschaften seien eine Bedrohung für den katholischen Glauben. In der Erfindung der Eisenbahn und in der Konstruktion von Stahlbrücken sei ein „Werk des Teufels“ sogar sichtbar geworden.18 Auch der Papst Pius IX. war ein fanatischer Kämpfer gegen die europäische Aufklärung und ihre politischen Folgen. So war er überzeugt, dass durch die Freimaurer und Geheimsekten viele neue Irrtümer verbreitet würden. Der Kommunismus und der Relativismus seien eine Bedrohung der ganzen Menschheit. Auch der Naturalismus der Naturwissenschaft, der Pantheismus und der Materialismus seien mit dem katholischen Glauben nicht vereinbar. Die Ehe diene nicht dem Lustgewinn der Ehepartner, sondern allein der Zeugung von Kindern. Die Lehren der Religion stünden immer über den Erkenntnissen der Wissenschaften, daher könne es in der Theologie keine freie Vernunft geben. Alle Menschen müssten sich dem Lehramt des Papstes unterwerfen, denn außerhalb der wahren katholischen Kirche gäbe es kein Heil der Seele (Enzyklika „Quanto conficiamus“).19 Der Wille des Volkes könne im Staat niemals die ewigen göttlichen Gesetze verändern. Vollendete Tatsachen in der Politik schaffen kein dauerhaftes Recht, der Kommunismus an Gütern bedrohe die Familien und den Staat. Die Autorität der Kirche sei nicht an die Zustimmung der Staaten gebunden.20 In seinem Lehrschreiben „Syllabus“ (1864) fasste der Papst die wichtigsten Irrlehren der Zeit zusammen. Er verurteilte den Pantheismus in den Naturwissenschaften, den Naturalismus und den Rationalismus. Die Staaten hätten niemals das Recht, in die Politik der Kirchenleitung einzugreifen. Die Kleriker müssten die Aufsicht auch in

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den staatlichen Schulen bekommen, denn das Naturrecht genüge nicht als Quelle der staatlichen Gesetze. Die Ehe sei unauflösbar, die Ehegerichte müssten bei den Klerikern und Bischöfen bleiben. Der Papst müsse hart und konsequent gegen den Liberalismus im Denken und gegen die vielen Irrlehren der modernen Kultur kämpfen. Er habe ein göttliches Recht der Herrschaft über den Kirchenstaat. Im Jahr 1870 sprach ein Konzil der Bischöfe dem Papst die „Unfehlbarkeit“ in Fragen des Glaubens und der Moral zu.21 Im Jahr 1854 verkündete der Papst in Gegenwart von 200 Bischöfen das neue Dogma, dass die Gottesmutter Maria ohne „Makel der Erbsünde“ empfangen worden sei (Conceptio Immaculata). Nun wurde ein neues Fest zur Verehrung der Gottesmutter eingeführt, im Volk sollte die Marienverehrung gefördert werden. Bald danach wurde von „Erscheinungen“ der Gottesmutter berichtet (z.B. Lourdes). Ein später Kämpfer gegen die Aufklärung war auch Papst Leo XIII. (gest. 1903), er sah in den allgemeinen Menschenrechten und in der Gleichwertigkeit aller Menschen vor dem Gesetz einen schweren Irrtum. Die Ungleichheit der Menschen vor dem Gesetz und der Macht sei von Gott gewollt. In allen Fällen müssten die Katholiken Gott mehr gehorchen als den Menschen (Enzyklika „Quod apostolici“). Die Protestanten könnten sich ihres Heiles nicht sicher sein, denn nur in der katholischen Kirche sei das Heil zu finden (Enzyklika „Jam vos omnes“). Die Philosophie des Thomas von Aquin festige den katholischen Glauben und schütze ihn vor Irrlehren (Enzyklika „Aeterni patris“).22 Doch dieser Papst billigte für die Katholiken in den USA die demokratische Staatsform, die dort seit mehr als 100 Jahren bestand. Jede Herrschaft stamme aber von Gott, sie komme nicht durch menschliche Verträge zustande. Daher sei auch die Demokratie an das göttliche Recht gebunden, welches die katholische Kirche verwalte. (Enzyklika „Diuturnum illud“).23 Die Freimaurer seien eine große Gefahr für die Kultur, denn sie bedrohten die Kirche und die Ordnungen des Staates. Ihre Mitglieder seien aus der Kirche ausgeschlossen (Enzyklika „Humanum genus“).24 Die Autorität des Staates stamme von Gott und nicht vom Volk, die Freiheit des Gewissens gehöre nicht zu den natürlichen Rechten der Menschen.25 Daher könne es zwischen den Religionen und Konfessionen keine Gleichberechtigung geben, das volle Heil der Seele sei nur in der katholischen Kirche zu finden. Aber niemand dürfe zum katholischen Glauben gezwungen werden. Der Irrtum aber habe kein Existenzrecht, deswegen könne es keine Freiheit der Meinung und des Gewissens geben. Die Menschen müssten sich vom ewigen Naturgesetz leiten lassen, denn dieses sei allen Menschen eingepflanzt und wir können es mit unserer Vernunft erkennen. Alle Gesetze im Staat müssten vom Naturrecht abgeleitet werden, jeder Mensch habe ein Recht auf Eigentum und auf gerechten Lohn für seine Arbeit. Mit seiner Enzyklika „Rerum novarum“ (1891) wollte der Papst auf die sozialen Nöte der Arbeiter aufmerksam machen, er forderte von den Katholiken das soziale Engagement für Arme und Schwache.26 Damit hatte sich die katholische Kirchenleitung weit von den Überzeugungen der meisten Laienchristen entfernt. Sie stand auf der Seite einer Minderheit des konservativen Adels und des antimodernen Bürgertums.

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Lehren der Theologen Die meisten Theologen fühlten sich fortan genötigt, den Lehren des Thomas von Aquin zu folgen und einen „Neothomismus“ zu lehren. Sie hatten wenig Freiräume des Denkens, denn sie waren an die Lehren der Tradition und an die Vorgaben der Bischöfe und Päpste gebunden. Zu Beginn des Jahrhunderts waren in der Moral noch die Lehren der Aufklärung und des Josefinismus zu erkennen. Die Theologie und die Lehren der Prediger sollten für das Kirchenvolk auch einen praktischen Nutzen haben. Doch in der Zeit der „Restauration“ wurden die liberalen Ideen in der Moral und im Kirchenrecht immer mehr zurückgenommen und unterdrückt. Fast alle liberalen Theologen, die den Dialog mit dem Denken der Moderne gesucht haben, wurden von der Kirchenleitung gemaßregelt oder verurteilt. Eine Folge der restaurativen Kirchenpolitik war, dass sich viele Laienchristen von den Lehren der Kleriker und Theologen lösten. Sie waren gezwungen, in ihrem Denken, Glauben und Leben selbständig zu werden. Viele Katholiken verfolgten zu dieser Zeit mit starker Überzeugung die Zielsetzungen der rationalen Aufklärung. Sie glaubten an die allgemeinen Menschenrechte und Menschenpflichten, an die Gleichheit aller Menschen vor dem Gesetz, an die demokratischen Verfahren in der Politik auf allen Ebenen und an den vernünftigen Rechtsstaat. Und sie strebten mit starker Überzeugung nach mehr Freiheit im Denken, in der Wirtschaft, in der Religion und in der praktischen Lebensgestaltung. Aus kulturwissenschaftlicher Sicht ist es daher sinnvoll, zwischen der Kirchenleitung und der Kirche zu unterscheiden, denn beide waren inhaltlich längst nicht mehr identisch.27 Im Verlauf des Jahrhunderts trennten sich große Teile der Laienchristen von den Lehren der Kirchenleitung. Zwar bemühten sich einige Theologen, die Zielwerte der Aufklärung mit katholischen Lehren zu verbinden. Sie versuchten, den Neothomismus an die neuen Erkenntnisse der Zeit anzupassen. So lehrten sie, die Vernunft und die Religion seien keine Gegensätze, aber im Konfliktfall müsse sich die Vernunft immer dem religiösen Glauben unterordnen. Das Gewissen der Gläubigen müsse nach den Vorgaben der Kleriker gebildet werden. Die staatliche Autorität sei von Gott eingesetzt, sie dürfe nicht von Menschen gestürzt werden. „Gerechte Kriege“ seien notwendig, um von einem Volk große Übel abzuwehren, doch sie müssen von der zuständigen Autorität befohlen werden. Die Reformation und das liberale Denken hätten aber die Katastrophe der Französischen Revolution vorbereitet und ausgelöst.28 Zu den Theologen der „Neuscholastik“ zählen A. Goudin und S.M. Roselli vom Orden der Dominikaner. Auch die Jesuiten folgten dieser Denkform, ihre Zeitschrift „Civilta cattolica“ wurde 1850 in Rom gegründet. Zentren der neuscholastischen Lehre waren Rom, Piacenza und Neapel. In Deutschland wirkten die Mainzer Schule um B. Liebermann, sowie J. Heinrich, F. Moufang, F. Clemens und M. Scheeben. Besonders fanatisch gegen das liberale Denken und den „Reformkatholizismus“ kämpfte der Dominikaner Albert Maria Weiß, der sich als „Turmwächter“ gegen den schädlichen „Zeitgeist“ sah. Das Denken der Aufklärung und der Liberalismus im Denken

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und Glauben seien eine „Vergiftung“ der christlichen Kultur. Diese Zerstörung des wahren Glaubens habe bereits mit Petrus Abälard, Wilhelm von Ockham, Martin Luther und Erasmus von Rotterdam begonnen. Auch der schwäbische Bischof Wilhelm von Keppler kämpfte gegen die moderne Kultur, er wollte die Kirche aus dem „Geist des Mittelalters“ erneuern. Die gegenwärtige Lage werde durch die „Dekadenz“ der Wissenschaften geprägt, die Juden und die Freimaurer seien seit langem die Hauptfeinde der christlichen Kultur. Jetzt kämpfe aber das „deutsche Wesen“ gegen den moralischen Niedergang der Franzosen, gegen die Demokratie und gegen die „Senilität“ der Zeit. Allein die „germanische Seele“ könne jetzt dem Niedergang der Kultur entgegentreten. Als „Bauernbischof “ wollte er Öl in die Wunden einer „kranken Zeit“ gießen.29 In Italien strebte Antonio Rosmini-Serbati (gest. 1855) nach einer maßvollen Erneuerung der Kirche. Er sprach von „fünf Wunden“ der Kirche und meinte damit die Trennung der Laienchristen von den Klerikern, die ungenügende Bildung der Kleriker, die mangelnde Kommunikation der Bischöfe unter einander und den staatlichen Einfluss auf die Kirche. Auch Carlo Passaglia wollte zu einer sinnvollen Erneuerung der Kirche beitragen, er wollte zwischen dem Kirchenstaat und dem Königreich Sardinien-Piemont vermitteln. So schlug er dem Papst den freiwilligen Verzicht auf den Kirchenstaat vor, was ohne Erfolg blieb. Beide Theologen wurden vom Vatikan exkommuniziert, ihre Schriften kamen auf den „Index“ der verbotenen Bücher. Auch der französische Theologe Robert de Lamennais wollte die Theologie mit dem liberalen Denken verbinden, er plädierte entschieden für demokratische und soziale Staatsformen.30 Der deutsche Theologe Georg Hermes wollte ebenso einige Grundideen der Aufklärung mit dem katholischen Glauben verbinden. Gleichzeitig aber wollte er die Grundlehren der Religion gegen die Angriffe vieler Naturwissenschaftler verteidigen (Untersuchung über die innere Wahrheit des Christentums). Die kritische Vernunft und die Religion seien durchaus mit einander verträglich, doch der Staat und die Kirche sollten durch Gesetze klarer voneinander getrennt werden.31 Als Theologe und Bischof von Regensburg wirkte Johann Michael Sailer (gest. 1832), er strebte im Geiste der Romantik nach einem verinnerlichten Christentum. In seinen Büchern über Religion und Erziehung näherte er sich einem christlichen Humanismus, das Ziel der Bildung sei die Entfaltung der freien religiösen Persönlichkeit. Die Kirche habe eine mystische Dimension, sie müsse jetzt auch den Blick zu den Protestanten wagen.32 Wichtige theologische Anregungen kamen von der katholischen Tübinger Schule. So argumentierte Johann Sebastian Drey (gest. 1853) für eine maßvolle Rationalität auch in der Theologie, die Politik der Restauration führe uns geistig nicht weiter. Er glaubte an eine „katholische Aufklärung“ und übernahm Ideen von G.E. Lessing und F.W.J. Schelling. Mit starken Argumenten wollte er den katholischen Glauben gegen die rationale Kritik verteidigen (Apologetik).33 Ein kreativer Denker der Tübinger Schule war Johann Baptist Hirscher (gest. 1865), er wollte den autoritären Traditionalismus überwinden und öffnete sich vorsichtig dem kritischen Denken. In Verbindung mit J.G. Fichte und F.W.J. Schelling

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wollte er die großen Themen des christlichen Glaubens ins Wissen der Philosophie hineinheben.34 So war er davon überzeugt, dass sich das „Reich Gottes“ unter den Menschen in vielen Staatsformen verwirklichen könne. Der Glaube sollte von innen heraus gelebt werden und eine überzeugende Lebensform zur Folge haben. Später hat er sich wieder den neuscholastischen Lehren genähert.35 Ein eigenwilliger Denker war Jakob Frohschammer, der die christlichen Lehren mit den Erkenntnissen der Naturwissenschaften verbinden wollte. Deswegen lehnte er das neuscholastische Denken als völlig ungenügend ab, weil es die neuen Fragestellungen der Zeit gar nicht verstand.36 Auch in der Theologie sollte die freie Entfaltung der kritischen Vernunft den höchsten Rang einnehmen, dadurch würden alle Dogmen der Glaubens relativiert. Entschieden kämpfte dieser Theologe gegen die Lehre von der „Unfehlbarkeit“ des Papstes.37 Von der katholischen Kirche getrennt hat sich Ignaz Döllinger, weil er die Lehre von der Unfehlbarkeit des Papstes nicht mittragen konnte. Er wollte damit bekunden, dass die frühe Kirche keine unfehlbaren Kleriker und Bischöfe kannte. Schon früh kritisierte er die Existenz des päpstlichen Kirchenstaates, gleichzeitig suchte er eine Annäherung an die Protestanten, um die lange Kirchenspaltung zu überwinden. Als er die Zustimmung zum I. Vatikanischen Konzil verweigerte, wurde er von der Kirchenleitung exkommuniziert. Er war mit vielen Denkern seiner Zeit in Verbindung und strebte ein aufgeklärtes Laienchristentum mit nur wenigen kirchlichen Ämtern an.38 Für die katholische Erneuerung engagierte sich Hermann Schell (gest. 1906), dabei nahm er viele Denkimpulse der Tübinger Schule auf. Er argumentierte gegen die pantheistische Form der Religion, denn er sah die Gottheit als „Geistperson“. Zwischen dem Wirken der menschlichen Natur und der göttlichen Gnadenkraft sah er ständige Wechselbeziehungen. Er suchte den Dialog mit den Protestanten und konnte sich demokratische Verfahren im Staat gut vorstellen.39 Auch Matthias Scheeben (gest. 1888) bemühte sich um das rechte Verhältnis zwischen der menschlichen Natur und der göttlichen Gnade, er sprach auch von Natur und Übernatur. In seinem Werk „Die Mysterien des Christentums“ wollte er die christliche Glaubenslehre einem kritisch denkenden Publikum zugänglich machen. Für ihn waren alle Glaubenslehren organisch mit einander verbunden, durch die göttliche Inkarnation werde die menschliche Natur in das göttliche Leben hineingenommen.40 In England entwickelte der Konvertit John Henry Newman (gest. 1890) eine eigenwillige Theologie und Spiritualität. Er war aus der anglikanischen zur katholischen Kirche übergetreten und hatte sich in seiner Theologie eng an liberales Denken angelehnt. Als Begründer der Oxford-Bewegung rang er um die Vertiefung des christlichen Glaubens in einer von den Naturwissenschaften geprägten Zeit. In Rom trat er in den Orden der Oratorianer ein und gründete später in England mehrere Oratorien, die sich als spirituelle Zentren des Glaubens verstanden. Er betonte den Wert des persönlichen Gewissens, durch dessen Stimme wir die Existenz Gottes erkennen können. Deshalb erinnerte er an das prophetische Amt in der Kirche,

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das nicht unterdrückt werden dürfe, doch es müsse sich dem Priestertum und dem Leitungsamt unterordnen. Der freie Wettstreit der Wissenschaften müsse sich aber an der religiösen Wahrheit orientieren. In der Moraltheologie folgte Newman aber weitgehend den Lehren der schottischen Moralphilosophen.41 So lässt sich zusammenfassend sagen, dass im 19. Jh. viele Theologen um eine der Zeit gemäße Theologie gerungen haben. Sie orientierten sich zuerst am kritischen Denken der rationalen Aufklärung, folgten später den idealistischen Denkkonzepten und schwenkten zuletzt auf neuscholastische Sichtweisen ein. Freilich hatten sie wenig freien Spielraum, denn sie wurden von der Kirchenleitung ständig eingeengt und korrigiert. So haben sich nur wenige Theologen mit den Erkenntnissen der Naturwissenschaften auseinander gesetzt. Auch die katholischen Theologen wollten in der „Vaterlandsliebe“ den Protestanten nicht nachstehen, deswegen schlossen sie sich früh nationalen und bald auch antisemitischen Denkrichtungen an. Viele Laienchristen trennten sich aber mit starker Überzeugung von den ungenügenden Lehren der Theologen und der Kleriker.42

Südeuropa, Südamerika und Afrika In Italien, Spanien, Portugal, Südamerika und in Teilen Afrikas wurde im 19. Jh. mehrheitlich ein konservativer Katholizismus gelehrt und gelebt. Die Lehren der Aufklärung waren dort nur sporadisch verbreitet worden und zeigten innerhalb der Religion wenig Auswirkungen. Mit der Wiedererrichtung des Kirchenstaates war eine politische Einigung Italiens in weite Ferne gerückt. Die Mehrheit der Kleriker und der Theologen kämpfte gegen die Ideen des Liberalismus in der Politik und in der Lebensgestaltung, aber auch gegen die Lehren des Sozialismus, welche die Gesellschaft verändern wollten. Die Kirchenleitung beanspruchte die höchste Autorität im Glauben und in der Moral, das Weltbild der Naturwissenschaften wurde relativiert oder in Frage gestellt. Dadurch aber wandten sich das gebildete Bürgertum, Teile der Aristokratie, aber auch viele Arbeiter von den Lehren der Bischöfe ab. So entstand auch in Italien, in Spanien und Portugal in Ansätzen ein autonomes Laienchristentum. Durch regelmäßige Volksmissionen sollte das breite Volk wieder im christlichen Glauben verwurzelt werden. Die Verehrung des „Herzens“ Jesu und der Gottesmutter Maria sollte die persönliche Frömmigkeit vertiefen. Viele glaubten an „Erscheinungen“ der Jungfrau Maria vor Jugendlichen und Kindern. Es wurden neue Orden und Kongregationen gegründet, um die Volksmissionen flächendeckend durchführen zu können. Die Kleriker predigten einen kindlichen Glauben, die Gläubigen sollten sich ganz der göttlichen Gnade und Vorsehung anvertrauen. Fortan kamen alle Laienchristen in große Schwierigkeiten, welche die politische Vereinigung Italiens wollten. Denn sie wollten religiös leben, aber den politischen Vorgaben der Bischöfe und Kleriker konnten sie nicht folgen. Es kam zu einer deutlichen Entfremdung zwischen den liberalen Gläubigen und der autoritären Kirchenleitung.43

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Zu den liberalen Denkern im Katholizismus gehörten Francesco Traniello, Alessandro Manzoni und vor allem Antonio Rosmini-Serbati. Sie erstrebten einen einheitlichen Staat Italien mit einer liberalen Verfassung. Vincenzo Gioberti und Giuseppe Mazzini dachten, ähnlich wie der Deutsche Bund an eine „Liga“ der italienischen Staaten, unter denen der Papst den Vorsitz haben sollte. Durch die Revolution (1848) und durch die Gründung des Königreichs Italien (1870) kam es zu einer starken Entfremdung der politisch liberalen Laienchristen, aber auch der Arbeiterschaft von der Kirchenleitung. Denn der Papst und viele Kleriker bekämpften den neuen Staat, sie sahen in der gewaltsamen Auflösung des Kirchenstaates ein Unrecht, das von den Freimaurern und den Juden angezettelt worden sei. Unter den Gebildeten und Liberalen entstanden starke antiklerikale Bewegungen, doch das einfache Volk lebte einen kindlichen Glauben an Gott und an Jesus Christus. Die Liberalen wollten eine klare Trennung der Kirche vom Staat, das Ende der klerikalen Schulaufsicht, die staatliche Eheschließung und Ehescheidung (L. Gambeta). Doch diese Trennung konnte auch im Königreich Italien nicht erreicht werden, zu stark war das einfache Volk mit der Religion verbunden.44 Auch in Spanien und Portugal kam es nach den Napoleonischen Kriegen zu einer Restauration der Königsmacht und der Kirchenleitung. Die Bischöfe und Kleriker bildeten zusammen mit dem Militär die Säulen des Staates. Allerdings versuchten liberale Denker in den Cortes (Reichsstände) eine freiheitliche Verfassung zu erreichen. Nach 1860 nahm die antiklerikale Haltung bei vielen Bürgern und Adeligen stark zu, doch das gläubige Volk folgte den Lehren der Priester. Auch hier wurden Orden und religiöse Gemeinschaften gegründet, um einen kindhaften Glauben im Volk zu vertiefen. So wurden die kirchlichen Feste als Volksfeste gefeiert, in der Karwoche (semana santa) wurde das Leiden Jesu auf den Straßen nachgespielt. Viele verehrten die Gottesmutter als die Schützerin in allen Nöten. An den Universitäten hatten die Jesuiten wieder einen starken Einfluss, die kirchliche Inquisition kam erst nach 1880 vollständig zu Ende. Auch in Portugal gab es starke liberale Bestrebungen im Bürgertum und zum Teil beim Adel. Nach einer Revolution (1820) gelang es den Liberalen, dem König eine Verfassung abzuringen. Danach folgte eine liberale Regierung, welche den Einfluss der Kleriker im Staat eingrenzte, aber der Katholizismus blieb weiterhin Staatsreligion. Zu dieser Zeit gab es aber bereits ein gebildetes und liberales Laienchristentum, das die restaurativen Lehren der Papstes und der Bischöfe nicht mehr akzeptieren konnte. In Spanien hatten die Liberalen ab 1820 einige politische Erfolge, doch ab 1823 regierte der König Ferdinand III. wieder autokratisch. Er gab den Bischöfen wieder alle Rechte der Erziehung und der Bildung in den Schulen, aber auch die Ehegerichtsbarkeit. Scheidungen blieben verboten, es gab nur Annullierungen von Ehen durch die Kleriker. In den Provinzen gab es immer wieder Aufstände gegen die repressive Politik des Königs. Doch in der Kirche entstanden zu dieser Zeit viele Vereine und katholische Zeitungen, welche vehement gegen das liberale Denken und Handeln kämpften.45

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Im Jahr 1851 wurde ein Konkordat zwischen dem Heiligen Stuhl und dem Königreich Spanien geschlossen, darin wurden die alten Rechte der Kleriker gut gesichert. Zu den neu gegründeten Orden zählten die „Schwestern der Nächstenliebe“, die „Kongregation von Jesus und Maria“, sowie die „Kongregation Sacro Cuore“. Diese Orden engagierten sich in der Armenhilfe und Krankenpflege, sie waren auch in der Erziehung der Kinder und Jugendlichen tätig. Die kirchlichen Schulen durften ihre Lehrpläne selbständig erstellen, der Religionsunterricht war im Schulprogramm ein Schwerpunkt. Die Seelsorger förderten im Volk die Verehrung des „Herzens“ Jesu und der Maria, sie predigten eine strenge Sexualmoral, die aber von den Laienchristen kaum befolgt worden sein dürfte. So trug die Religion zur Stabilisierung der Gesellschaft und des Staates bei. Doch den Kampf gegen eine liberale Politik konnten auf Dauer die Kleriker und Theologen nicht gewinnen.46 Auch in den Ländern Lateinamerikas erlebte die katholische Kirche einen Prozess der Säkularisation und der Laisierung. Aus den früheren Missionskirchen waren längst eigene Diözesen geworden, die Orden wirkten in der Erziehung, in den Krankenhäusern und im Armendienst. Für die Kirchenleitung in Rom war der Übergang der meisten Länder in die politische Autonomie ein schwieriger Prozess. Denn zuerst hielt der Vatikan an der von Gott gewollten Herrschaft der Spanier und Portugiesen fest. Doch als diese militärisch nicht mehr gehalten werden konnte, nahm der Papst sehr schnell diplomatische Beziehungen zu den neu entstandenen Staaten auf. Freilich gelang es den Bischöfen nicht, alle ihre früheren Privilegien zu behalten. Unter den Laienchristen hatten sich, aus Europa kommend, längst liberale und republikanische Ideen verbreitet. Viele der neuen Politiker dachten utilitaristisch, aber sie wollten den Bischöfen nicht mehr zu viel an Macht zukommen lassen.47 Da die Bischöfe ihre alten Rechte (z.B. Patronatsrecht) verteidigten, entstanden in vielen Ländern antiklerikale Bewegungen. Diese forderten eine klare Trennung der Kirchen von den Aufgaben des Staates, die Schulen und die Ehegesetze sollten der staatlichen Verwaltung unterstellt werden. Die Kirchen durften weiterhin Privatschulen unterhalten, ihre Hauptaufgabe lag nun in der Armenhilfe und im Krankendienst. Vor allem in Mexiko entstand ein katholischer Sozialismus, der die Religion mit sozialen Gesetzen für die Armen verbinden wollte. Viele Laienchristen engagierten sich für soziale Reformen und für demokratische Entscheidungen in der Politik, sie dachten sogar an eine christliche Form der Demokratie. In Brasilien wurde nach der politischen Unabhängigkeit von Portugal (1822) sehr schnell eine eigenständige Kirchenhierarchie vom Vatikan eingesetzt, Missionare predigten auch hier einen kindlichen Glauben an die Gottesmutter Maria. Zu dieser Zeit entstanden viele neue Vereine mit religiösen und sozialen Zielsetzungen. Doch ab 1881 gab es eine weitgehende Trennung der Kirche vom Staat, die Schulen und die Ehegesetze wurden der staatlichen Verwaltung unterstellt.48 Im Volk entstanden viele missionarische Bewegungen, unter ihnen wurden auch messianische Hoffnungen verbreitet. Viele Wallfahrten wurden organisiert, die Kleriker förderten die Marienverehrung. So entwickelte sich in Lateinamerika ein eigenständiger Katholizismus in vielfältiger Form. Es entstanden Anbetungsvereine,

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Gruppen der Sozialhilfe und Frühformen der Charismatischen Bewegung. In den meisten Ländern haben die liberalen und republikanischen Parteien mit der Kirchenleitung Frieden geschlossen, denn sie brauchten die Mitarbeit der Katholiken im Staat.49 Der Katholizismus lebte auch in den Missionen in Afrika, in Asien und in Ozeanien in vielfältiger Weise. Überall wurden Missionsstationen eingerichtet, diese wurden später in eigenständige Pfarren und in Apostolische Vikariate umgewandelt. Die Missionare gründeten Schulen und organisierten die Armenbetreuung. Sie lehrten zu dieser Zeit aber ein stark europäisches Christentum, mit europäischer Moral und Lebensform bis hin zur Kleidung. Erst am Ende des Jahrhunderts begannen einige Missionare, die Eigenständigkeit der afrikanischen Kultur zu bewahren und in der Kirche einzubinden. Zu dieser Zeit gab es bereits afrikanische Kleriker, Ordensmänner und Ordensfrauen, aber noch keine Bischöfe. Die katholischen Missionsorden standen in Konkurrenz mit den protestantischen Missionsgesellschaften. Vereinzelt wurden bereits Gymnasien, Krankenhäuser und Berufsschulen eingerichtet, in einigen Städten wurden sogar Universitäten gegründet. Damit kamen mit der Mission auch europäische Wissenschaft, Medizin, Technik und Philosophie nach Afrika. Freilich war die Mission zu dieser Zeit noch stark durch europäische Lebens- und Glaubensformen geprägt.50 Wir sehen auch in der katholischen Lebenswelt eine große Bandbreite und Vielfalt an Überzeugungen. Grundsätzlich ist es sinnvoll, zwischen der „Kirche“ und der Kirchenleitung strikt zu unterscheiden. Denn zur Kirche gehören alle getauften Christen bzw. hier Katholiken, die Kirchenleitung aber wird nur vom Papst, der römischen Kurie und den Bischöfen der Länder gestellt. Wir sehen im 19. Jh. bereits ein weites Auseinanderklaffen der katholischen Überzeugungen und Lebensformen. Denn gebildete katholische Laienchristen folgten mit starker Überzeugung der Ideen und Wertungen der rationalen Aufklärung. Sie rangen daher um mehr Demokratie in der Politik und um die allgemeinen Menschenrechte. Viele Laienchristen folgten dem liberalen Denken, sie engagierten sich für die Freiheit des Lebens, des Glaubens, des Gewissens, der Presse und der öffentlichen Rede.51 Sozial sensible Laienchristen setzten sich für die Armen und Entrechteten ein, für die Arbeiter in den Fabriken und für die verarmten Bauern. Sie dachten und lebten mit starker Überzeugung sozial, sehr oft auch sozialistisch. Daher schlossen sie sich sozialkritischen Bewegungen und später der Sozialdemokratie an. Andere dachten bereits kommunistisch und erwarteten eine klassenlose Gesellschaft. Viele Katholiken wollten mithelfen, die Bildung in breiten Schichten der Bevölkerung voranzubringen. Wieder andere schlossen sich pazifistischen Bewegungen an, um den bedrohten Frieden zwischen den Völkern zu sichern. Doch viele Katholiken waren am Aufbau einer starken kapitalistischen Wirtschaft beteiligt, nicht wenige von ihnen dachten nationalistisch oder imperialistisch. Und es gab unter den Katholiken auch antisemitische und antijüdische Bewegungen.52 Auch unter den katholischen Aristokraten gab es liberal und sozial denkende Richtungen, aber es gab mehrheitlich auch die konservativ und repressiv ausgerichteten

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Gruppen. Doch die Kirchenleitung in Rom, die Päpste, die römische Kurie und die Bischöfe der Länder vertraten geschlossen eine konservative, restaurative und repressive Ideologie mit dem Monopolanspruch des wahren Glaubens. Damit schufen sie starre Ausgrenzungen und stereotype Feindbilder, die gegen die Kultur der Moderne gerichtet waren. Sie vertraten ausschließlich ein konservatives Herrschaftschristentum und predigten den Laienchristen ein infantiles Glaubenschristentum (E. Levinas). So stand die katholische Kirchenleitung im ganzen 19. Jh. geschlossen gegen alle Formen der Demokratie, gegen freies Denken und Glauben, gegen die allgemeinen Menschenrechte. Sie hat zusammen mit anderen konservativen Organisationen wichtige kulturelle Lernprozesse in der Gesellschaft verhindert oder verzögert. Aber diese Kirchenleitung war auch im 19. Jh. nicht die Kirche. Denn viele Katholiken haben nachhaltig und dauerhaft zu den großen Lernprozessen der Gesellschaft beigetragen, denn sie haben sich mit starker Überzeugung für Demokratie und Menschenrechte, für die Erhaltung des Friedens und für soziale Gerechtigkeit eingesetzt. Die Theologen und viele Historiker machten lange Zeit den Fehler, dass sie den Glauben der Laienchristen mit den Lehren der Kleriker und Bischöfe einfach gleichsetzten. Dies ist aus kulturwissenschaftlicher Sicht nicht mehr möglich.

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Eine eigene Lebenswelt bildete das orthodoxe Christentum, das von der kulturellen Entwicklung in West- und Mitteleuropa deutlich getrennt war. Die Denkmodelle und Zielwerte der rationalen Aufklärung haben diesen Kulturraum wenig berührt und kaum geprägt. Die orthodoxe Theologie und Kirche hatten weithin das Deutungsmonopol der Welt und des Lebens, die Politik und die Religion waren mit einander verkettet. Das Zarenreich Russland war wirtschaftlich und politisch dominant, es wurde von der orthodoxen Kirchenhierarchie gestützt und zusammengehalten. In den Kriegen gegen Napoleon gab der religiöse Glaube vielen Menschen die innere Kraft, um gegen die eindringenden Heere zu kämpfen. Der Sieg über Napoleons Truppen 1812 und 1814 wurde von den Theologen und Klerikern als Sieg des orthodoxen Glaubens über die europäische Aufklärung gedeutet. Auf dem Wiener Kongress bildete Russland mit Österreich und Preußen die „Heilige Allianz“, um die alte aristokratische Rechtordnung aufrecht zu halten.

Missionarisches Bewusstsein der Orthodoxie Der große Sieger gegen Napoleon Zar Alexander I. war fest im orthodoxen Glauben verwurzelt, er wurde von den Theologen und Mönchen als „Retter“ des russischen Vaterlandes und des wahren christlichen Glaubens gefeiert. Auch Zar Nikolaus I. (ab 1825) wollte den wahren Glauben seiner Vorfahren verteidigen, deswegen verschärfte er die Zensur über alle Schriften, die Lehren an den Universitäten wurden vom Staat kontrolliert. Die entstehende Arbeiterschicht sollte keine Möglichkeit der Bildung bekommen, damit sie sich nicht gegen den Staat auflehnen konnte. Denn der Staat und die Kirche sahen in der Bildung der Massen eine Gefahr für die Stabilität des Reiches. Die Geheimpolizei überwachte alle Vereine und Gesellschaften, denn überall wurden politische Aufstände und Umstürze vermutet. Der Zar war davon überzeugt, dass die orthodoxe Religion den göttlichen Auftrag habe, alle Völker des Reiches auf dem rechten Weg zu führen. Alle nichtchristlichen Völker und Stämme in Sibirien und Zentralasien sollten zum Glauben an Christus geführt und gezwungen werden. Politisch orientierte sich der Zar stark am Königreich Preußen, dessen militärische Rüstung er nachahmen wollte.1

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Zwar erhielten die Juden, die Muslime und die alten Volksreligionen im Reich eine gewisse Glaubensfreiheit, aber das oberste Ziel der Zarenpolitik war die Missionierung aller nichtchristlichen Völker in seinem Imperium. Daher betrieben die Mönche und Priester mit staatlicher Unterstützung eine intensive Missionierung in Sibirien und Zentralasien. Die neu getauften Christen erhielten wirtschaftliche Privilegien, aber oftmals wurden ganze Stämme mit Zwang zum Christentum geführt. Der Zar verstand sich als „Haupt der Kirche“, er leitete die Christenheit im Reich durch einen Oberprokurator. In dieser Rolle wirkte lange Zeit der Jesuitenschüler Nikolaj Protsov, der alle Pfarrregister, Taufbücher und Totenbücher überwachen ließ. Unter die staatliche Zensur fielen auch alle Schriften und Verlautbarungen der Kleriker, Mönche und Bischöfe, die Post der Popen, sowie die Übersetzungen der Bibel. Auf diese Weise sollte eine einheitliche „Reichsreligion“ geschaffen werden.2 Ab 1856 begann die Herrschaft von Zar Alexander II., der im Krimkrieg gegen die Osmanen auch um russische Besitzungen im „Heiligen Land“ Palästina gekämpft hatte. Er musste einigen Reformen im Reich zustimmen, die Leibeigenschaft der Bauern wurde 1861 beendet, danach konnten die Bauern frei ihr Land bearbeiten. Es wurden lokale Zentren der Verwaltung eingerichtet, damit wurde die politische Macht dezentralisiert. Schließlich wurden viele Gesetze im Staat und die Struktur des Militärs modernisiert. Die Wehrpflicht wurde von 25 Jahren auf 6 Jahre herabgesetzt, damit wurden neue Arbeitskräfte für die Landwirtschaft und die Industrie freigesetzt. Der Zar war ein strikter Gegner des sozialen Wandels, die unteren sozialen Schichten sollten nicht mehr Rechte bekommen, als sie bisher hatten. Nach einem zweiten Aufstand in Polen (1861) und einem Attentatsversuch auf den Zaren wurden die repressiven Kräfte im Reich enorm verstärkt. Doch einige Theologen und Popen sahen zu dieser Zeit auch die Not der Armen und wurden sozial sensibel, sie engagierten sich für eine gerechtere Gesellschaft. Johan Sokolov predigte, der orthodoxe Glaube dürfe nicht allein auf das Jenseits ausgerichtet sein, die Menschen sollten bereits in diesem Leben ihr kleines Glück verwirklichen. Doch die Mehrheit der Bischöfe und Kleriker blieb der Not des Volkes gegenüber gleichgültig.3 Einige Theologen aber forderten Reformen in der orthodoxen Kirche, diese sollte auch soziale und kulturelle Aufgaben übernehmen. Dafür wurde eine „Gesellschaft für spirituelle Aufklärung“ gegründet, doch diese wurde durch die staatliche Zensur in ihrer Tätigkeit stark beeinträchtigt. Dimitri Tolstoj wirkte als Minister für Volksbildung und als Oberprokurator der Kirche. Er wollte das Schulsystem und die Theologischen Akademien nur langsam verändern und modernisieren. In den Lehrplänen der Schulen wurde nun neben der Religion mehr an Mathematik, Physik und Chemie unterrichtet. Die Theologischen Akademien sollten auch für Laienmitarbeiter in den Kirchen geöffnet werden, was aber nur zögerlich verwirklicht wurde. Mit dem gewaltsamen Tod des Zaren Alexander II. (1881) kamen auch die politischen und kulturellen Reformen zu einem abrupten Ende. Der neue Zar Alexander III. verschärfte die polizeiliche Überwachung aller kulturellen und wissenschaftlichen Vereinigungen, um revolutionäre und republikanische Ideen vom Reich fernzuhalten.4

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Nun wurden die Gesetze zur Überwachung der Presse und der Universitäten verschärft, alle Veröffentlichungen mussten der staatlichen Zensur vorgelegt werden. Das betraf auch die Schriften der Theologen, der Popen und der Bischöfe. Der Zar förderte einen politischen Nationalismus, welcher die Bürger, die Adeligen und das Volk eng mit einander verbinden sollte. Er verordnete, dass bei Festen wieder die alte Nationaltracht getragen werden müsse. Alle nichtrussischen Völker und Stämme im großen Reich sollten die russische Kultur und den orthodoxen Glauben übernehmen. Von der politischen und kulturellen „Russifizierung“ betroffen waren auch die Balten, die Finnen, die Polen, die Weißrussen und die Ukrainer. Später wurden alle Regionen Sibiriens und Zentralasiens in dieses nationalistische Programm einbezogen. In Dorpat wurde die deutsche Universität geschlossen und durch eine russische ersetzt (1893). Die Lutheraner in den baltischen Ländern sollten zur Orthodoxie übertreten.5 Mit dem nationalistischen Programm der Russifizierung wurden die Lutheraner und die Katholiken (Polen) bekämpft. In Weißrussland (Belarus) und in der Ukraine wurden die dortigen Sprachen eingeschränkt, an den Schulen sollt allein Russisch unterrichtet werden; diese Sprache wurde auch die einzige Amtssprache in allen Regionen. Auch die Religion und die Kultur der Juden wurden reglementiert, auch sie sollten jetzt in allen Lebensbereichen die russische Kultur übernehmen. In einigen Regionen schritt die Industrialisierung fort, es wurden vor allem Eisen und Kohle verarbeitet und es wurden große technische Bauwerke (Stahlbrücken, Eisenbahnen) geschaffen. Die Regierung aber verweigerte Sozialgesetze, die das harte Los der Arbeiter verbessern und die Armut im Land vermindern sollten. Anstelle sozialer Gesetze gab es harte polizeiliche Kontrolle der gesamten Arbeiterschaft. Die Regierung dieses Zaren endete nach 13 Jahren. Sein Nachfolger war Zar Nikolaus II. (ab 1896), der wohl gut gebildet war. Aber er hatte nicht die Fähigkeiten, notwendige politische und soziale Reformen durchzusetzen. Persönlich war er fromm und neigte der Mystik zu, er sah sich als der „Gesalbte des Herren“, doch er blieb ein Gefangener des politischen Apparats. So regierte er mit den konservativen und nationalen Kräften im Adel und im Bürgertum und vertraute sich voll der Kirchenleitung an. Als Oberprokurator der Orthodoxie fungierte Konstantin Pobedonovsev, der die Kirche sehr autoritär leitete. Er sah in der Demokratie, die von vielen Bürgern und Gebildeten gefordert wurde, die größte Gefahr und „Täuschung“ unserer Zeit. Deswegen wurden im ganzen Zarenreich alle demokratischen Gruppen und Vereinigungen verboten. Den Katholiken in Polen wurde verboten, in ihrem Land Mission zu betreiben. Der Prokurator unterstützte die Bewegung der „Slawophilen“ in ganz Europa, mit dem nationalen Dichter Fjodor Dostojewski war er befreundet. Doch die Schriften des Pazifisten Leo Tolstoj ließ er überall verbieten.6 So war die orthodoxe Kirche im Zarenreich am Ende des Jahrhunderts kulturell und politisch erstarrt, es gab keine Entwicklungsmöglichkeiten. Die Bischöfe und Priester kümmerten sich um die schöne Feier der Liturgie und um die vom Staat verordnete Auslegung der Bibel. Die soziale Not der Arbeiter und der Bauern kam

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kaum in ihr Blickfeld, die Armen und Leidenden wurden auf ein glückliches Leben jenseits des Todes vertröstet. Hier hatte die Religion tatsächlich die Funktion, die Karl Marx ihr zugeschrieben hatte. Das soziale Elend wurde festgeschrieben, aber nicht verändert. In Kiew wurde zu dieser Zeit eine russische Universität gegründet und in Moskau wurde die prächtige Christus-Erlöserkirche eingeweiht. Große politische Feiern gab es zur 1000-Jahrfeier der Slawenmissionare Kyrillos und Methodios und zur 900-Jahrfeier der orthodoxen Taufe von Fürst Wladimir in Kiew (1889). Die kirchliche Verwaltung wurde zentralisiert, alle Schulen blieben unter der Aufsicht der Popen und Bischöfe.7

Geistige und politische Orientierung Mit der zunehmenden Industrialisierung entstanden im Zarenreich aber neue politische Bewegungen und Parteien, die Sozialisten und Sozialdemokraten, später die Bolschewiki und die Menschewiki. Sie kämpften für gerechtere Löhne, für den Schutz der Arbeiter und Bauern und für verbesserte Wohnverhältnisse der Armen und Ärmsten. Der Zar und seine politischen Berater aber weigerten sich, auf deren Forderungen einzugehen. Deswegen kam es zu mehrfachen Arbeiterunruhen, die von der Polizei aber niedergeschlagen wurden. Die Kleriker und Mönche kümmerten sich wenig um das soziale Elend, ihnen war die strenge Ordnung im Staat wichtiger. Häufige Konflikte gab es zwischen den „weißen“ und den „schwarzen“ Klerikern, also zwischen den verheirateten Priestern mit ihren Familien und den unverheirateten Mönchen und Nonnen. Im Jahr 1900 lebten im Zarenreich ung. 80 Millionen orthodoxe Christen mit ung. 45.000 Priestern und Mönchen.8 Doch die Priesterfamilien lebten zumeist vom Volk isoliert, sie wurden vom Staat bezahlt und waren sozial gut abgesichert. Viele Adelige und gebildete Bürger verachteten die Popen wegen ihrer schlechten Bildung und wegen ihrer geistigen Unbeweglichkeit. Nicht wenige der Priester, Mönche und Kirchendiener waren Alkoholiker, das beklagten viele Synoden der Bischöfe. Sie berichteten, dass betrunkene Priester die heilige Liturgie feierten. Nationalistische Priester kämpften gegen „westliche“ Ideen und warnten vor einer schleichenden „Protestantisierung“ im Land. So stützten sich das Zarenreich und die orthodoxe Kirche gegenseitig, doch ihre gemeinsame Herrschaft hatte längst ihren Grenznutzen erreicht. Viele Klöster waren im Volk sehr angesehen, sie gaben den Mönchen die Möglichkeit der religiösen Bildung und des sozialen Aufstiegs. Frauen und Männer aus allen sozialen Schichten konnten in Klöster eintreten, dort war ihr Lebensunterhalt gut gesichert. Auch die Kinder von Adeligen und von Bürgern traten in Klöster ein, was den Familien großes Ansehen gab. Die orthodoxe Frömmigkeit war stark auf das Jenseits und den Himmel orientiert, dadurch konnten im Volk viele Härten der Armut und des Elends ertragen werden. Viele Klöster waren Pilgerstätten für Laienchristen, dorthin wurden große Wallfahrten organisiert. In manchen Klöstern wirkten charismatische Prediger, ihnen wurden oft heilende Kräfte zugeschrieben. Und es gab auch die „Narren Christi“, die bewusst aus allen sozialen Bindungen und

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Lebensregeln ausgestiegen waren. Es gab auch Pilgerfahrten zum Heiligen Berg Athos und ins Land der Bibel. 1882 wurde die „Russisch-orthodoxe Palästinagesellschaft“ gegründet, sie organisierte die Wallfahrten und sammelte Geld für die Erhaltung der heiligen Stätten.9 Unter den Intellektuellen des Zarenreiches gab es zwei gegensätzliche Orientierungen. Die „Westler“ (Zapadniki) wollten sich weiterhin an den Zielwerten der europäischen Aufklärung orientieren, sie schätzten die Kultur des Barock, die vom Zaren Peter I, und von den Zarinnen Anna, Elisabeth und Katharina II. gelebt wurde. Denn sie waren überzeugt, dass die Lernprozesse der westlichen Kultur auch in Russ­ land zum Tragen kommen müssten. Viele von ihnen nahmen die Erkenntnisse der Naturwissenschaften und der Medizin mit Begeisterung auf, sie wollten sich auch in der Literatur und in der bildhaften Kunst an westlichen Vorbildern orientieren. Nicht wenige der politisch Denkenden orientierten sich an der idealistischen Philosophie des G.W.F. Hegel, sie strebten nach langsamen und maßvollen Veränderungen im Staat. Der Dichter Leo Tolstoj trennte sich aber von der orthodoxen Kirche, denn er wollte ein Christentum, das sich wieder am Leben Jesu und an der Bibel orientierte. Die zweite Richtung aber bildeten die Traditionalisten, die sich strikt an den alten orthodoxen Traditionen orientieren wollten. Sie lehnten jede Öffnung zur westlichen Kultur der rationalen Aufklärung ab.10 Der Philosoph Vladimir Solovjov kam vom Atheismus zum orthodoxen Glauben, er war stark von den deutschen Romantikern geprägt. Mit Freunden wollte er einen religiösen Humanismus neu beleben, dabei bezog er sich auf mystische Erfahrungen, denn er wollte das „Gott-Menschliche“ in allen Bereichen der Welt erkennen. Außerdem erwartete er die baldige Ankunft Christi zum Jüngsten Gericht.11 Den Westlern standen die „Slawophilen“ entgegen, die von einer „ewigen Mission“ Russlands in der ganzen Welt träumten. Sie glaubten, dass das wahre Christentum nur in der russischen Kirche zu finden sei, und sie warnten vor der moralischen „Dekadenz“ der westlichen Kultur. Zu ihren Vordenkern gehörten Ivan Kirejevski, Konstantin Aksakov, Jurij Samarin und Aleksej Komiakov. Auch der Dichter Fjodor Dostojewski stand den slawophilen Denkern nahe, sie wollten alle Slawen in Europa unter der Führung Russlands politisch vereinigen. Daher entstand nach dem Krimkrieg (1853 bis 1856) die „Panslawische Bewegung“, die Kongresse aller slawischen Völker in Moskau veranstaltete. Bei einem Kongress in Prag konnten sich die Tschechen, die Polen und die Kroaten aber nicht verständigen, daher war die Kongresssprache deutsch, die Amtssprache der Habsburger Monarchie. Die Sehnsucht nach einer gemeinsamen slawischen Kultur und Politik war bei vielen Intellektuellen am Ende des Jahrhunderts sehr groß.12

Religiöse Minderheiten im Zarenreich Neben der russisch-orthodoxen Kirche gab es verschiedene religiöse Bewegungen, die nicht der offiziellen Kirche angehören wollten. Eine starke Gruppe bildeten die „Altgläubigen“ (Staroveri), die dem Patriarchen Nikon von Moskau aus dem 17. Jh.

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folgen wollten. Sie lehnten alle Neuerungen der offiziellen Kirche strikt ab. Um 1850 lebten im Zarenreich ung. acht Millionen Altgläubige. Sie wurden von der Kirchenleitung als „Schismatiker“ eingestuft und sollten zur Staatskirche übertreten. Erst 1883 erhielten sie die gleichen bürgerlichen Rechte wie die Mitglieder der offiziellen Kirche. Viele Altgläubige lebten asketisch, sie lehnten die orthodoxe Liturgie ab. Sie nannten sich „Gemeinde des Erlösers“ oder „Kämpfer des Geistes“ oder „Neues Israel“. Manchen von ihnen zogen als Geißler durch die Dörfer, andere entmannten sich selbst (Skoptsi).13 Die Stundisten (Stundizm) waren vom deutschen Protestantismus beeinflusst, sie arbeiteten mit den Baptisten zusammen, die bereits in Russland tätig waren. Einige von ihnen hatten die Lebensform von Erweckungsbewegungen, andere konzentrierten sich auf soziale Tätigkeiten für Arme und Kranke. Eine Minderheit bildeten die katholischen Christen, die mit dem Papst in Rom in Verbindung standen. Diese lebten vor allem in dem Teil Polens, der zum Zarenreich gehörte. Zar Nikolaus I. traf daher in Rom mit dem Papst Gregor XVI. zusammen, um über die Privilegien der Katholiken zu verhandeln. 1849 schloss das Zarenreich sogar ein Konkordat mit dem Heiligen Stuhl, in dem alle Rechte der Katholiken geregelt und geschützt wurden. Zar Nikolaus I. wollte eine Habsburger Kaisertochter heiraten, was aber vom Reichskanzler Klemens von Metternich verhindert wurde. Papst Leo XIII. schloss 1880 neue Kirchenverträge mit dem Zaren Alexander II., denn die meisten Katholiken folgten dem römisch-katholischen Ritus, einig von ihnen befolgten römisch-orthodoxe Riten.14 Eine kleine Minderheit bildeten die Protestanten in den baltischen Ländern und in Finnland. Im 19. Jh. hatten viele Zaren protestantische Prinzessinnen aus deutschen Fürstenhäusern geheiratet, damit gab es auch protestantische Intellektuelle am Hof in St. Petersburg. Eine große religiöse Minderheit bildeten die Juden, sie lebten vor allem in Polen, in Weißrussland und in der Ukraine. Um 1880 lebten ung. 5 Millionen Juden im Zarenreich, viele von ihnen wurden aber zur Konversion zum orthodoxen Glauben gedrängt; des öfteren gab es auch Zwangstaufen. Die Juden sollten vor allem in den ländlichen Gebieten leben, sie bekamen von der Regierung „Aufenthaltszonen“ zugewiesen. Aus den Städten wurden sie sehr oft vertrieben. Jüdische Knaben wurden schon mit 12 Jahren in die militärische Erziehung eingegliedert. Die Bauern sahen die Juden in ihren Dörfern oft als „Eindringlinge“ und als „Parasiten“. Vor allem die Slawophilen und viele Popen, Bischöfe und Mönche kämpften lautstark gegen die Juden im Land, sie nannten sie „Feinde“ des wahren Glaubens an Christus.15 So entstanden im Zarenreich im 19. Jh. mehrere antisemitische Bewegungen, welche die Juden aus dem Land vertreiben oder sie in bestimmten Regionen isolieren wollten. Denn sie sahen wie die katholischen Kleriker in den Juden eine Gefahr für den christlichen Glauben. Es gab vermehrt antisemitische Schriften, die unter den Gebildeten verteilt wurden. Doch in den meisten Dörfern waren die handwerklichen Fähigkeiten der Juden sehr geschätzt. Auch im Zarenreich wurde der Antisemitismus von den Bischöfen, Theologen, Klerikern und Intellektuellen geschürt. Die Bauern und die Arbeiter hatten aber gelernt, mit den Juden zusammen zu arbeiten und zu leben.16

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Die russisch-orthodoxen Missionen Viele Theologen, Mönche und Priester sahen es als ihre Aufgabe an, den Völkern und Stämmen in Sibirien und in Zentralasien den orthodoxen christlichen Glauben zu predigen. Sie organisierten mit der Hilfe des Staates große Missionsgesellschaften für alle Völker mit schamanistischen Religionen bzw. Naturreligionen, aber auch für Buddhisten und Moslems. Dabei übersetzten sie mit viel Aufwand die Bibel in die Sprache der Burjaten, der Kalmüken, der Finn-Ugrier, der Turkvölker, der Mordvinen, der Curvasen u.a. Aber sie missionierten auch unter den gläubigen Moslems bei den Völkern der Tartaren und der Osseten. Einigen russischen Missionaren und Missionsgesellschaften gelang es sogar, bis ins westliche China vorzudringen und dort den christlichen Glauben zu verkündigen. Andere Missionare kamen bis Persien und bis Japan. Sie alle sahen die Mission des einzig wahren Glaubens als göttlichen Auftrag, sie wollten allen Völkern Asiens die christliche Kultur bringen. Auch in den Balkanländern wurde die orthodoxe Kirche neu organisiert, da die Herrschaft des Osmanischen Reiches immer weiter zurückgedrängt wurde. Als die Griechen 1829 von den Türken unabhängig wurden, musste in Griechenland eine neue Kirchenorganisation mit einem eigenen Patriarchen aufgebaut werden. Die Bulgaren lebten bis 1878 unter der türkischen Herrschaft, doch sie konnten mehrheitlich den orthodoxen Glauben bewahren. Deshalb wurde in Bulgarien ein „Exarchat“ eingerichtet, das mit Istanbul/Konstantinopel in Verbindung blieb. Die Serben bildeten ab 1878 einen eigenen Staat, auch sie errichteten eine neue Kirchenhierarchie in Verbindung mit dem „ökumenischen“ Patriarchen. Auch in Montenegro und in Bosnien-Herzegowina wurde eine neue Kirchenorganisation geschaffen. Rumänien wurde 1861 ein selbständiger Staat und schuf eine selbständige orthodoxe Kirche. Alle diese Kirchen strebten nach einer Unabhängigkeit (Autokephalie) vom ökumenischen Patriarchen in Istanbul.17 Das orthodoxe Christentum in Russland und in anderen Ländern Osteuropas zeigte sich im 19. Jh. mehrheitlich als unbeweglich und modernisierungsresistent. Es wurde von den kulturellen Lernprozessen der europäischen Aufklärung kaum berührt. Wohl haben alle Zaren im 18. Jh. das Denken der rationalen Aufklärung in Russland gefördert, doch durch den Schock der Französischen Revolution und die Kriege Napoleons wurde das Denken der Aufklärung zum strikten Feindbild in Russland. Vor allem die Theologen und die Kirchenleitungen wollten ihre heiligen Lehren der Antike unverändert weitergeben, sie kämpften daher gegen das freie Denken, gegen demokratische Entscheidungen und gegen die allgemeinen Menschenrechte. Auch sie folgten dem Modell des Herrschaftschristentums, wie es von den Byzantinischen Kaisern eingerichtet worden war. Nun gab der orthodoxe Glauben vielen Menschen aber persönliche Sicherheit, er trug auch zur nationalen Identität der verschiedenen Völker bei. Daher war die orthodoxe Kirche neben dem Militär die stärkste Stütze für die monokratische Herrschaft des Zaren. Sie erlaubte keine geistige oder politische Hinwendung zur westlichen Kultur, die sie als dekadent und gefährlich einstufte. Damit hat diese monolithische

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Kirche wesentlich zur sozialen und politischen Unbeweglichkeit des Zarenreiches im ganzen 19. Jh. beigetragen. Sie hat zusammen mit Teilen des Adels soziale und politische Reformen nachhaltig verhindert. Folglich war sie indirekt eine Wegbereiterin der Revolutionen und der vielen Aufstände der Bauern, die vom Militär immer niedergeschlagen wurden. In Russland war die Religion tatsächlich der stärkste Ausdruck des Elends des Volkes, aber auch die Festschreibung dieses Elends, wie es Karl Marx formuliert hatte.

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Politische Entwicklungen

Die politischen Entwicklungen gaben die Rahmenbedingungen für das kulturelle Leben, sie sollen hier nur kurz dargelegt werden. Denn Politik und Kultur waren eng verflochten, sie haben sich gegenseitig angeregt oder behindert. Die sozialen und politischen Prozesse verliefen mit unterschiedlichen Geschwindigkeiten in West-, in Mittel-, in Nord-, in Süd- oder in Osteuropa. Hier geht es darum, einen großen Überblick zu bekommen, um die sozialen, politischen und kulturellen Dynamiken überhaupt verstehen zu können.

Die Napoleonische Zeit Der Beginn des 19. Jh. war fast in ganz Europa durch die Kriege gezeichnet, mit denen Napoleon große Teile des Kontinents überzog. Denn es war ihm und seinen begeisterten Mitkämpfern gelungen, die aggressiven und destruktiven Potentiale der Revolution vom eigenen Volk nach außen zu anderen Völkern zu tragen. Gleichzeitig gelang es seinen Gegnern lange Zeit nicht, eine einheitliche Kriegsfront gegen ihn zu erreichen. Mit seinen Aggressionskriegen veränderte er die alten Herrschaftsstrukturen nicht nur in Frankreich, sondern in großen Teilen Mittel- und Südeuropas. Denn er hatte mit anderen Generälen das französische Heer neu organisiert, um einen „Volkskrieg“ auf breiter Basis gegen fremde Herrschaften und Völker führen zu können. Gleichzeitig konnte er seine Soldaten dazu motivieren, in fast ganz Europa für mehr politische Freiheit und für einige Ideen der Aufklärung zu kämpfen. Den Feldzug gegen Österreich in Oberitalien hatte er 1797 gewonnen. In der Folgezeit hatte er die „Zisalpine Republik“ (Mailand), die „Ligurische Republik“ (Genua), die „Helvetische Republik“ (Schweiz), die „Römische Republik“ (Kirchenstaat) und die „Parthenopäische Republik“ (Neapel) gegründet. Damit hatte er die alten Herrschaften in diesen Regionen in kurzer Zeit umgestürzt und mit starkem Militär neue Staaten gegründet, die alle von seiner Politik abhängig waren. Die Region Piemont kam unter französische Militärverwaltung. Im Dritten Koalitionskrieg wurde die österreichische Armee bei Ulm wegen eines Verrats durch einen Schneider aus Freiburg besiegt (1805). Und in der DreiKaiserschlacht bei Austerlitz siegte die Napoleonische Koalitionsarmee (mit Bayern und den Rheinstaaten) über ein Heer der Österreicher und der Russen. Im Frieden

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Politische Entwicklungen

von Pressburg verlor Österreich Venetien und Dalmatien an die Republik Italien, Tirol-Trentino musste an Napoleons Koalitionspartner Bayern abgetreten werden, Vorderösterreich kam an Baden und an Württemberg. Im Frieden von Tilsit konnte das Königreich Preußen nur mit Hilfe der Russen vor einer Auflösung gerettet werden. Nach dem Fünften Koalitionskrieg (1809) verbündeten sich Österreich und Preußen für kurze Zeit sogar mit Napoleon.1 In Frankreich war der General Napoleon 1799 durch einen Staatsstreich mit dem Militär zum „Ersten Konsul“ geworden, damit hatte er im Staat die alleinige Gesetzes­ initiative erreicht. Damit wurde Frankreich eine Militärdiktatur, sie war aber eingekleidet in einige demokratische Strukturen. Der Erste Konsul ordnete das Schulwesen neu, fortan kamen primär naturwissenschaftliche Fächer auf den Unterrichtsplan. 1801 schloss er ein Kirchenkonkordat mit dem Papst Pius VII. Danach wurde die Bank von Frankreich gegründet, die hohe militärische Rüstung kurbelte im ganzen Land die Wirtschaft an. Der „Code civil“ (1804) sicherte den Bürgern die persönliche Freiheit, das gleiche Recht vor dem Gesetz, das Recht auf Privateigentum, die zivile Ehe und die Ehescheidung. Das Heer wurde auf 1,3 Millionen Mann vergrößert, ca. 41% aller wehrpflichtigen Männer wurden in das neue „Volksheer“ eingegliedert. 1804 krönte sich Napoleon zum „Kaiser der Franzosen“, danach wurde ein neues Adelssystem errichtet, doch auch der alte Adel wurde zur Mitarbeit im Staat eingeladen. Das Ziel der neuen imperialen Politik war nun die Erreichung der französischen „Hegemonie“ über ganz Europa, nach dem Modell des Fränkischen Reiches unter Karl dem Großen und des Römischen Imperiums der Antike.2 Gegen England wurde von Napoleon eine Kontinentalsperre verhängt, an der sich aber nicht alle europäischen Staaten beteiligten. In den besiegten Ländern sollte die alte Feudalherrschaft zerschlagen und durch die Einführung des Code civil ersetzt werden. Die neu geschaffenen Staaten (Königreich Bayern, Königreich Sachen, Königreich Württemberg u.a.) sollten eine zentrale Verwaltung bekommen. Die Schulen wurden der Aufsicht der Kirchen entzogen und unter die staatliche Aufsicht gestellt. Aber durch die französische Herrschaft entstand bei vielen besiegten Ländern und Völkern ein neues Nationalgefühl. Durch die Verflechtung mit der französischen Wirtschaft wurde in vielen mit Frankreich verbündeten Ländern die Textilindustrie ausgeweitet. Wie in Frankreich sollte auch in allen deutschen Ländern das Kirchengut der Bischöfe und Klöster säkularisiert werden, es sollte in das Eigentum der neu gegründeten Staaten übergehen. Dieser Beschluss der deutschen Fürsten erfolgte im Jahr 1803 im „Reichsdeputationshauptschluss“ in Regensburg. Mit der Gründung des „Rheinbundes“ auf der Seite Napoleons (1806) verzichtete des letzte Kaiser des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation, Franz II. von Habsburg, in Wien auf die Kaiserkrone. Nach dem Frieden von Tilsit wurden das „Königreich Westfalen“ und das „Großherzogtum Warschau“ von Napoleon gegründet, das Königreich Preußen wurde aber stark verkleinert.3 Allein England trotzte den Eroberungen Napoleons, in einem langen Seekrieg leistete es harten Widerstand. Doch durch die Kontinentalsperre kam es im Vereinigten Königreich wegen knapper Lebensmittel zu Teuerungen und zu Arbeiterun-

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ruhen. In den deutschen Ländern erwachte zu dieser Zeit ein neues Nationalgefühl, das von Dichtern, Philosophen und Theologen nachhaltig unterstützt wurde. Die Nation wurde jetzt verstanden als die Gemeinschaft der Kultur, der Sprache und des „Schicksals“. Viele Vordenker der Sprachnation verbanden mit dem Gefühl der Gemeinschaft aber auch mehr an politischer Freiheit, als bisher möglich war. In Preußen kam es daher zu politischen Reformen durch Karl vom Stein und Karl August von Hardenberg, die Bauern bekamen ihre persönliche Freiheit von den Grundherren, die Verwaltung der Städte wurde effizienter organisiert. Mit der Heeresreform durch die Generäle Gerhard von Scharnhorst, August von Gneisenau und Karl von Clausewitz wurde die Einführung der allgemeinen Wehrpflicht verbunden. In den Rheinbundstaaten wurden die allgemeine Gewerbefreiheit für die meisten Berufe sowie das Recht auf Religionsfreiheit gewährt, alle Bürger sollten fortan vor dem Gesetz gleich sein. In Baden und in Bayern gab es sogar erste Ansätze zu Verfassungen im aristokratischen Staat.4 Die nationale Erhebung in Spanien gegen die Franzosen brachte 1812 die erste Niederlage Napoleons in diesem Land, die Herrschaft ging dort wieder an den Bourbonen Ferdinand VII. Durch erzwungene Kriegsbündnisse mit Österreich und Preußen zog Napoleon mit der „Großen Armee“ gegen Russland und besetzte Moskau. Doch der russische Winter setzte der Armee des Kaisers der Franzosen stark zu, beim Übergang über die Beresina kam es zu großen Verlusten. Napoleon verließ fluchtartig seine Truppen, um nach Paris zurückzukehren. Doch im Frühjahr 1813 begannen Preußen, Russland und Österreich gemeinsam den Krieg gegen die Franzosen und ihre deutschen Verbündeten, Napoleon wurde im Oktober bei Leipzig besiegt, danach zogen die Truppen der Sieger in Paris ein. Charles de Talleyrand hatte dort eine provisorische Regierung gebildet. Der Bourbone Ludwig XVIII. kehrte wieder an die Regierung zurück, doch er gab dem Land jetzt eine liberale Verfassung. Napoleon wurde auf die Insel Elba verbannt, nach einer kurzen Rückkehr zu seinen Truppen wurde er 1815 bei Waterloo endgültig besiegt.5

Die neue Ordnung der Heiligen Allianz Auf dem Wiener Kongress (1815) erfolgte eine politische Neuordnung Europas, welche durch die fünf Großmächte Russland, England, Österreich, Preußen und Frankreich garantiert wurde. Russland gewann Kongresspolen, Österreich verlor Vorderösterreich und Belgien, bekam aber die Lombardei und Venedig, Preußen bekam die Rheinprovinz und Westfalen. Durch diese Entscheidung wuchs Preußen nach Deutschland hinein, während Österreich aus Deutschland hinauswuchs. Die deutschen Länder gaben sich im „Deutschen Bund“ (1815 bis 1866) eine neue politische Ordnung, er war ein Zusammenschluss von 39 relativ autonomen Staaten. Den Vorsitz im Bund hatten Österreich und Preußen, der „Bundestag“ trat in Frankfurt zusammen. Ein „Bundesheer“ sollte für den Kriegsfall aufgestellt werden. Gleichzeitig schlossen sich die drei Monarchen von Russland, Österreich und Preußen zur „Heiligen Allianz“ zusammen, um in ihren Ländern die monarchische Ordnung

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aufrecht zu halten. In allen drei Ländern gab es fortan ein enges Bündnis zwischen „Thron und Altar“, die Religion stützte die autoritäre Herrschaft. Demokratische oder revolutionäre Bestrebungen sollten mit allen Mitteln (Zensur) abgewehrt und unterdrückt werden.6 Zu den konservativen und traditionalistischen Staatsdenkern dieser Zeit zählten Edmund Burke, Friedrich Genz und viele Romantiker. Karl Ludwig von Haller sprach von einer „Restauration“ der alten politischen Herrschaftsformen, auch von „Legitimismus“ und vom Patrimonialstaat war die Rede. Aber gleichzeitig gingen im aufgeklärten Bürgertum die Bestrebungen nach mehr Freiheit im Staat und in der persönlichen Lebensgestaltung weiter. Der Fortschritt der Vernunft sollte allen Menschen mehr Freiheitsrechte und mehr an Menschenrechten bringen, vor dem Gesetz sollten alle Bürger gleich sein. Jeder Staat sollte eine Verfassung bekommen, an die auch die Fürsten und Könige gebunden waren. Die Gewaltenteilung sollte überall durchgesetzt werden, ein Rechtsstaat sollte alle Bürger vor Unrecht schützen. Alle männlichen Bürger sollten durch freie Wahlen ihre Vertreter für ein „Parlament“ bestimmen können, um die Gesetze zu beschließen und die Regierung zu kontrollieren. Die Wirtschaft sollte sich frei entfalten können, die Reglementierungen des Gewerbes und des Handels sollten aufgegeben werden. Wichtige Vordenker eines liberalen Staates und einer freien Wirtschaft waren die Engländer Jeremy Bentham, John Stuart Mill und Herbert Spencer. Doch zugleich mit den liberalen Bewegungen entstanden in Europa auch die nationalen Ideologien.7 Im frühen 19. Jh. begann die Gesellschaft in Europa, sich zu verändern, die Entdeckungen der Naturwissenschaften und die Industrialisierung in der Wirtschaft schritten fort. Bald wurden von Vordenkern neue politische Forderungen erhoben: die volle Gleichberechtigung der Bauern, die Beendigung des Sklavenhandels und der Sklavenhaltung, die Beendigung der Kriege durch internationale Verträge, die Humanisierung der Rechtsprechung und die Zivilisierung der Gesellschaft. Aus Nordamerika kamen Ideen der demokratischen Politik, der Selbstverwaltung der Städte, der Überwindung der Klassenunterschiede. Manche Ziele der Französischen Revolution wurden von aufgeklärten Bürgern weiterhin angestrebt, es ging um die Beteiligung der männlichen Bürger an der Politik, um mehr Individualität in der Lebensgestaltung, vor allem um liberale Verfassungen im Staat. Doch die „Demokratie“ hatte nach 1815 in Europa bei vielen Bürgern keinen guten Klang, denn die Tötungsorgien der Revolution in Frankreich waren noch in Erinnerung. Doch in Frankreich regierte der König fortan bereits mit einer Verfassung; und England hatte seit langem eine ungeschriebene Verfassung mit einem sehr starken Parlament.8 In Italien war im Bürgertum die Erinnerung an Napoleon zumeist positiv, denn dieser hatte gezeigt, dass auch dort autonome und fast republikanische Staatsformen möglich waren. Doch Russland, Österreich und Preußen wehrten sich vehement gegen alle demokratischen Strebungen und gegen liberale Verfassungen. Zu dieser Zeit folgten die Großmächte Österreich und Preußen politisch weit mehr dem russischen, als dem englischen und französischen Modell der Politik. Diese Ausrichtung wirkte noch weit ins 20. Jh. nach. In Frankreich bewährte sich die konstitutionelle

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Monarchie, die politische Mitgestaltung der Bürger hing allerdings von der Größe ihres Besitzes ab. Nur Besitzbürger durften sich an Wahlen beteiligen. Zu dieser Zeit gab es im Land ung. 52.000 Wahlberechtigte bei etwa 30 Millionen Einwohnern. Doch die männlichen Bürger kämpften weiterhin um den Ausbau ihres politischen Mitspracherechts, aber an die Besitzlosen, die Arbeiter, die kleinen Bauern und vor allem an die Frauen dachten sie nicht. Für sie war entschieden, dass die Mitgestaltung im Staat von der Größe des Besitzes und vom männlichen Geschlecht abhängen sollte.9 Doch auch in Frankreich gab es mehrere politische Gesinnungsgruppen und politische Richtungen. Die Denker der Restauration, zu denen vor allem die adeligen Großgrundbesitzer gehörten, wollten alle Rechte wieder bekommen, die sie vor der Revolution hatten. Für die Rückkehr des königlichen Absolutismus argumentierten die Denker Louis de Bonald und Joseph de Maistre. Die Vertreter des Großbürgertums forderten aber mehr persönliche Freiheiten und die Gleichheit aller Bürger vor dem Gesetz. Zu den politisch Liberalen zählten viele Rechtsanwälte, Journalisten und Professoren, sie forderten eine Weiterentwicklung der konstitutionellen Monarchie mit mehr demokratischen Mitentscheidungen der Bürger. Der König Ludwig XVIII. dachte in Ansätzen bereits liberal, aber gleichzeitig verstand er es, mit allen politischen Gruppen Kompromisse zu schließen.10 In England hatten die Volksvertreter im Parlament zu dieser Zeit schon eine breite Basis, es gab bereits 400.000 wahlberechtigte Besitzbürger. Im Parlament bildeten sich zwei konkurrierende Parteien, die Whigs und die Tories. Beide hatten ihre Wähler bei den Adeligen und Großgrundbesitzern, erst wenige bei den Stadtbürgern und Industriebesitzern. Nur wenige Adelsfamilien bestimmten aber die Politik, doch der König hatte eine schwache Position. Aber durch die schnell fortschreitende Industrialisierung wuchs der Reichtum der Stadtbürger viel schneller als der des Landadels. Viele der alten Adelsfamilien fürchteten fortan um ihre Privilegien und politischen Vorrechte. In den Städten Manchester, Leeds, Sheffield und Birmingham verdoppelte sich die Zahl der Einwohner in 30 Jahren. Der Aufbau der Industrie schritt schnell voran, auch Frauen und Kinder wurden in den Arbeitsprozess einbezogen. Der Dichter William Cobbett forderte zu dieser Zeit schon das gleiche Wahlrecht für alle Männer, unabhängig von ihrem Besitz. Doch die Frauen sollten in der Politik nicht mitwirken, sie sollten durch die Männer vertreten werden. Für kurze Zeit kam es auch in England zu einer Einschränkung der Versammlungs- und der Pressefreiheit.11 Doch die Regierung verbesserte stetig durch vernünftige Gesetze die Wirtschaftsbedingungen. Ab 1824 wurde es den Arbeitern erlaubt, ihre beruflichen Interessen in Gemeinschaften zu vertreten. Zu dieser Zeit wurde das Strafgesetz reformiert, die Todesstrafe wurde nur auf wenige schwerste Verbrechen reduziert; eine moderne Polizei wurde eingerichtet. Zu dieser Zeit war England der am stärksten von der politischen Vernunft regierte Staat in Europa, dort konnten viele Zielwerte der Aufklärung verwirklicht werden. In der Wirtschaft kam es zu einer Liberalisierung im Handel, die merkantilistischen Zölle wurden abgeschafft, die Industrie konnte sich frei entfalten.

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Ganz anders verlief die politische Entwicklung in Russland, in Österreich und in Preußen, dort war die Angst vor möglichen Revolutionen und politischen Umstürzen besonders groß. Die restaurativen Gesetze sollten alle liberalen, demokratischen und republikanischen Bestrebungen eindämmen bzw. auslöschen. Bereits 1815 wurde in Jena die „Deutsche Burschenschaft“ gegründet, denn viele Studenten kämpften zu dieser Zeit um mehr politische Freiheit. Aber durch die „Karlsbader Beschlüsse“ (1819) wurden die Burschenschaften in allen Ländern des Deutschen Bundes verboten, die Presse und die Universitäten wurden von der Polizei überwacht, die republikanischen „Demagogen“ wurden überall verfolgt. Schon zu dieser Zeit trennten sich die konservativen Mittel- und Oststaaten Europas (Russland, Österreich, Preußen) von den liberalen Weststaaten (England und Frankreich). Diese Trennung dauerte ideell weit ins 20. Jh. hinein.12

Freiheitsbewegungen und restaurative Politik Vor allem in Südeuropa kam es zu politischen Freiheitsbewegungen. So kämpften in Spanien liberale Kräfte gegen die restaurative Politik des Königs. In Portugal erreichten die Cortes sogar eine liberale Verfassung; auch der König von Neapel musste den liberalen Bürgern eine Verfassung gewähren. In Serbien begannen die Aufstände gegen das Osmanische Reich. Und in Griechenland hatte der Freiheitskampf 1829 bereits Erfolg, die Griechen bildeten nun einen eigenen Staat. Ihr erster König war Otto I. von Wittelsbach. Auch in den süddeutschen und norddeutschen Ländern gab es liberale Bewegungen. Mehrere Länder (Nassau, Sachsen-Weimar, Bayern, Baden, Württemberg, Hessen-Darmstadt) wurden bereits mit einer Verfassung regiert. Doch der preußische König Friedrich Wilhelm III. hielt streng an den Regeln der Heiligen Allianz fest, die liberalen „Demagogen“ wurden in seinen Ländern flächendeckend verfolgt. Durch die Entschädigung der adeligen Gutsherren nach der Bauernbefreiung kam es zur Bildung neuer Großgrundbesitzer. Im Jahr 1834 wurde unter der Führung Preußens der „Deutsche Zollverein“ gegründet, dem sich Österreich nicht anschloss. Einige Jahre später wurde die erste Eisenbahnlinie von Leipzig nach Dresden fertiggestellt.13 Auch in England gab es eine konservative Periode der Regierung (1815 bis 1830), doch dann folgte eine lange Reformzeit. Bei der Parlamentsreform von 1832 fielen von 200 Abgeordneten bereits 143 auf die Vertreter der Städte. Nun wurden regelmäßige Wahlen angesetzt, die Parteien nannten sich fortan „Liberale“ und „Konservative“. Durch Parlamentsbeschluss wurde die Kinderarbeit in den Fabriken auf 8 Stunden am Tag herabgesetzt, die Städte bekamen mehr Selbstverwaltung. Auch die Königin Victoria (1837 bis 1901) achtete strikt auf die Verfassung, zu ihrer Zeit wurden die ersten Arbeitervereine (Working Mens Association) gegründet. Durch Streiks setzte die Arbeiterbewegung mehr Rechte und bessere Löhne in den Fabriken durch. Doch die Vertreter einer liberalen Wirtschaft (Manchester Liberalismus) lehnten staatliche Sozialgesetze ab, aber sie förderten die Bildung der Arbeiter und

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den Pazifismus. Denn Wirtschaft konnte nur in Friedenszeiten gedeihen. Gefordert wurde von vielen politischen Kräften eine Reform des Wahlrechts. Zu dieser Zeit bildeten die Arbeiter ihre ersten Konsumgenossenschaften. Doch eine Hungerkatastrophe forderte 1845/46 in Irland fast 1 Million Tote. Zu dieser Zeit wanderten viele Iren nach Nordamerika aus.14 In Frankreich regierte der König mit einer liberalen und egalitären Verfassung, die Bürger der Mittelschicht konnten ihren politischen Einfluss stärken. Im Code civil gab es Rechtsgleichheit für alle und damit keine Privilegien der Adeligen. Doch die konservativen Royalisten wollten diese Verfassung außer Kraft setzen, was ihnen aber nicht gelang. Es gab politische Geheimbünde, welche die Bonaparte-Familie wieder an die Herrschaft bringen wollten. Ab 1824 regierte der Bourbone König Karl X., er stützte seine Macht stark auf die Hierarchie der Kirche. Die Kleriker bekamen wieder die Aufsicht über die Schulen, die Jesuiten durften in das Land zurückkehren. Als 1830 der „Bürgerkönig“ Louis Philippe an die Macht kam, nahm er die Tricolore der Revolution als Staatsfarbe an und revidierte die alte Verfassung. Die Zahl der wahlberechtigten Männer wurde stark erhöht, die Entwicklung der Industrie und des Bergbaus wurde forciert. In den Städten entstand ein wohlhabendes Großbürgertum. Der König vermittelte zwischen den liberalen und den konservativen Parteien, doch er stand deutlich auf der Seite des neuen Finanzbürgertums.15 In der Außenpolitik verband sich Frankreich mit England (Entente cordial, 1830), beide Länder unterstützten die liberalen Bewegungen in Spanien, Portugal und Belgien. Der Besitz an Kolonien wurde stark erweitert, Frankreich eroberte Algerien. Im Königreich Frankreich stritten sich die konservativen Legitimisten mit den liberalen Republikanern und mit den imperialistischen Bonapartisten. Die Gebeine Napoleons wurden in den Invalidendom überführt, um seine politische Wertschätzung zu zeigen. Als es zu mehreren Wirtschaftskrisen gekommen war, forderte Louis Blanc eine staatliche Arbeitssicherung für alle Arbeitenden. Belgien erstritt seine Unabhängigkeit von den Niederlanden, König Leopold war der erste König im Land. In der Schweiz wurde die konservative Verfassung durch ein indirektes Wahlrecht aller männlichen Besitzbürger abgelöst.16 Zu dieser Zeit bildeten sich in Italien mehrere politische Geheimbünde, etwa „Giovane Italia“, welche einen italienischen Nationalstaat zum Ziel hatten. Im Deutschen Bund forderte die Bewegung „Junges Deutschland“ mehr politische Rechte für alle Bürger. Und in Polen kam es zu zwei großen Aufständen gegen die russische die preußische und die österreichische Herrschaft. Zu dieser Zeit lösten sich die meisten Kolonien in Südamerika von den europäischen Ländern Spanien und Portugal, sie erkämpften ihre politische und wirtschaftliche Selbständigkeit. Es waren die Ideen und Zielsetzungen der europäischen Aufklärung, welche dort diese Freiheitsbewegungen ausgelöst hatten (Simon Bolivar, Jose de San Martin). Diese neuen Staaten Lateinamerikas wurden von den USA, von Frankreich und von England anerkannt, nicht aber von der Heiligen Allianz.17

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Das Revolutionsjahr 1848 Im Jahr 1848 kam es in mehreren Ländern Europas zu Aufständen und Revolutionen gegen die alte Herrschaft. Die Schweiz erreichte eine neue Bundesverfassung nach dem Vorbild der USA mit einem Nationalrat (Parlament) und einem Bundesrat (Kantone). Die Exekutive wird seither vom Bundesgericht kontrolliert. In Frankreich erzwangen Studenten, Arbeiter und die Nationalgarde die Abdankung des Bürgerkönigs Louis Philippe. Jetzt wurden Nationalwerkstätten für Arbeitslose eingerichtet, eine allgemeine Wahl der Männer brachte eine bürgerliche Mehrheit in der Nationalversammlung. Der zweite Aufstand der Arbeiter wurde vom Militär gewaltsam niedergeschlagen, danach aber wurde eine zweite Verfassung erarbeitet. Die bürgerlichen Parteien wählten den Neffen von Napoleon I. Louis Napoleon zum Präsidenten des Staates. Er regierte zwar gegen das Parlament, gewann aber das Vertrauen der Kirchenleitung und des breiten Volkes. Als die Republikaner gegen seine Wahl Protest einlegten, wurden sie aus dem Parlament ausgeschlossen. Im Dezember 1851 erfolgte ein Staatsstreich des Militärs, nun wurde eine neue Verfassung erarbeitet, und ein Jahr später ernannte sich der Herrscher als Napoleon III. zum „Kaiser der Franzosen“.18 Auch in Italien kam es zu vielen Aufständen gegen die Herrschaft der Fürsten, vor allem in Mailand, Palermo und Venedig. In einem „heiligen Krieg“ (Guerra santa) sollte ein einheitlicher Nationalstaat geschaffen werden, doch es gab keine Einigkeit zwischen den kämpfenden Parteien. In Neapel unterdrückte der bourbonische König den Aufstand, doch in Rom musste der Papst flüchten und es wurde die „Römische Republik“ ausgerufen. Doch österreichische und französische Truppen besiegten die Aufständischen und setzten die alten Fürsten wieder ein, die Habsburger in Mailand und Venedig, den Papst im Kirchenstaat. In Deutschland kam es zu mehreren Aufständen gegen die restaurativen Regierungen. Die Republikaner in Baden, am Rhein, in Sachsen und in Schlesien strebten eine Demokratie an, während das liberale Bürgertum von den Fürsten nur mehr Freiheiten und mehr Mitsprache in der Politik forderte. Doch beide Gruppen strebten nach einer nationalen Einigung aller deutschen Länder. Im März begannen die Aufstände in Wien und in Berlin, der preußische König versprach daraufhin eine Verfassung. In Bayern kam es zum Regierungswechsel, Maximilian II. war der neue König. Ende März begann in Frankfurt in der Paulskirche ein „Vorparlament“ mit 500 Mitgliedern aus allen deutschen Ländern zu tagen. Beschlossen wurden allgemeine freie Wahlen für Männer, auf 50.000 Einwohner sollte ein Abgeordneter zum Parlament kommen. In Konstanz wurde bereits die Republik ausgerufen, die aber vom Militär rasch wieder beendet wurde.19 Am 18. Mai wurde die verfassungsgebende Versammlung in Frankfurt eröffnet, 586 Abgeordnete tagten in der Paulskirche. Der „Reichsverweser“ Johann von Habsburg bildete eine provisorische Reichsregierung. In diesem Parlament standen sich die konservative Rechte, die liberale Mitte, das rechte Zentrum, das linke Zentrum und die demokratische Linke gegenüber, sie verabschiedeten einen allgemeinen Katalog von Grundrechten für alle Bürger. Aber die Großmächte Österreich und Preußen

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leisteten harten politischen Widerstand, denn sie wollten kein nationales Parlament. In den Beratungen um eine Verfassung wurde eine Gewaltenteilung zwischen dem „Reichstag“ und einem erblichen Kaisertum angestrebt. Die Großdeutsche Richtung wollte einen föderalen Bundesstaat mit Gesamtösterreich unter der katholischen Dynastie der Habsburger. Doch die Kleindeutsche Richtung wollte eine Vereinigung aller deutschen Staaten, aber ohne Österreich, unter der protestantischen Dynastie der Hohenzollern. Bei der Abstimmung siegte die Kleindeutsche Richtung mit einem Stimmenverhältnis von 290 zu 248. Danach wurde dem preußischen König Friedrich Wilhelm IV. die Kaiserwürde angetragen. Doch dieser lehnte sie ab, denn er wollte von keinem Parlament zur Herrschaft berufen werde, um nicht von diesem abhängig zu sein.20 Danach riefen die Preußen und die Österreicher ihre Abgeordneten aus Frankfurt ab und das Parlament löste sich auf. Aber es kam zu republikanischen Volkserhebungen am Rhein, in Berlin, Dresen, Baden und in der Pfalz. Doch das Militär beendet die Proteste, aber der Wunsch nach politischer Vereinigung aller Deutschen blieb bei vielen Bürgern sehr lebendig. In der Folgezeit wanderten viele republikanisch Gesinnte nach Nordamerika aus. Das Bürgertum aber widmete seine Energie nun dem Aufbau von großen Industrieunternehmen und der Weiterentwicklung der Technik und der Wissenschaft.21 In Österreich musste der Reichskanzler Klemens von Metternich abtreten, er floh nach England. Die Aufständischen beriefen eine verfassungsgebende Versammlung in den Reichstag, dort wurde die Befreiung der Bauern aus der Leibeigenschaft beschlossen. Als der Kriegsminister ermordet wurde, floh der Kaiserhof nach Olmütz, der Reichstag wurde nach Kremsier verlegt. Doch die Truppen schlugen den Aufstand in Wien nieder, Kaiser Franz Josef I. übernahm die Regierung. Bei einem Slawenkongress in Prag wurde die Gleichberechtigung aller slawischen Völker mit den Deutschen im Reich gefordert. Auch in Ungarn erreichten die Aufständischen die Befreiung der Bauern und die Beendigung der Adelsprivilegien. Doch der Kaiser traf in Warschau mit dem Zaren Nikolaus I. zusammen, danach schlugen österreichische und russische Truppen gemeinsam den Aufstand in Ungarn nieder.22 Auch in Preußen siegten die konservativen Kräfte und das Militär über die Aufständischen und Revolutionäre. Die Nationalversammlung wurde von Berlin nach Brandenburg verlegt, dann aber vom Militär gewaltsam aufgelöst. Doch der König gewährte dem Land eine Verfassung mit einem Drei-Klassen-Wahlrecht, je nach der Größe der Besitzverhältnisse. Danach schloss Preußen ein Bündnis mit Sachsen und Hannover, in Erfurt beriet ein Unionsparlament eine gemeinsame Verfassung. Doch Österreich wehrte sich mit Sachsen und mit Bayern gegen diese Unionspolitik, im Vertrag von Olmütz wurde 1850 der „Deutsche Bund“ wiederhergestellt, Österreich behielt mit russischer Unterstützung dort wieder die Führung. Damit hatten in den meisten Ländern Mitteleuropas die konservativen und restaurativen Kräfte mittels des Militärs den Sieg davon getragen.23 Während in England und Frankreich mit Verfassungen regiert wurde, waren in Mittel- und Osteuropa freie Verfassungen politisch nicht überall durchsetzbar. Die

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Politik der Heiligen Allianz und des Deutschen Bundes waren auf die Bewahrung der aristokratischen Herrschaft ausgerichtet. Die revolutionären Kräfte der Arbeiter, aber auch der liberalen Bürger wurden von den Regierungen unterschätzt und dann mit militärischer Gewalt niedergerungen. Die Mehrheit der Bürger aber wollte im Staat geordnete Verhältnisse, um die Wirtschaft, die Technik und die Wissenschaft frei entfalten zu können. In kleinen Schritten wurde ihnen durch veränderte Wahlgesetze mehr Mitbestimmung in der Politik gewährt. Die neuen Konfliktlinien zeichneten sich aber in der Folgezeit zwischen den besitzenden Bürgern und den Besitzlosen, den Arbeitern und den Kleinbauern ab. Diese hatten keine Möglichkeit der politischen Mitgestaltung, viele von ihnen wollten sich diese Möglichkeit mit Gewalt erkämpfen. In England war die Partei der Whigs für die sozialen Probleme der Arbeiter offen, sie rang lange Zeit um verbesserte staatliche Sozialgesetze. Doch die Partei der Tories wollte die alte aristokratische Ordnung und die Privilegien der Adeligen verteidigen. In Mitteleuropa brachten die Lehren des Sozialismus und des Kommunismus jedoch neue Dynamik in die Politik.24 Im Deutschen Bund fürchteten die Adeligen und das Bürgertum schnelle und gewaltsame Veränderungen in den Staaten. In Dresden wurde über eine Reform des Bundestages in Frankfurt beraten, das liberale Baden sollte unter strenge Kontrolle gestellt werden. Eine selbständige und gemäßigt liberale Politik verfolgten jedoch die Königreiche Sachsen und Bayern. Doch in Preußen bestimmten die Großgrundbesitzer und die protestantische Kirchenleitung weitgehend die Politik, unter dem Minister Manteuffel wurde die Zensur sogar wieder verstärkt. Der protestantische Oberkirchenrat bekam wieder die Aufsicht über die Schulen. Eine katholische Fraktion im Landtag gab sich ab 1859 den Namen „Zentrum“. Doch die Hofpartei des Königs und die Kirchenleitung verhinderten für lange Zeit eine liberale Politik.25 In Österreich wurde die kurze Zeit gewährte Verfassung von 1848 drei Jahre später wieder aufgehoben, der Kaiser regierte danach wieder absolut und die Verwaltung wurde zentralisiert. Ungarn und Norditalien wurden unter militärische Aufsicht gestellt. Ein Konkordat mit dem Papst (1855) sicherte der Kirchenleitung die Aufsicht über die Schulen, die freie Ausübung des Kultes und das katholische Eherecht mit dem Scheidungsverbot. Die Wirtschaft konnte sich nur langsam entfalten, denn es kam zu mehreren Finanzkrisen. Die liberalen Bürger und die Vertreter der vielen Nationen standen in Opposition zur Zentralregierung. Durch einen verlorenen Krieg in Oberitalien (Solferino) wurde die Lombardei von der Habsburger Monarchie befreit. Die Regierung in Wien war nun zu einigen liberalen Gesetzen gezwungen, die Kronländer erhielten in der Folgezeit mehr an Autonomie in der Verwaltung. Doch die nationalen Konflikte zwischen den vielen Völkern erschwerten die Ausarbeitung einer tragfähigen Verfassung.26

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Neue Bewegungen und Organisationen Zu dieser Zeit schritt in Europa die politische Emanzipation der Juden fort, sie erlangten in den westlichen Ländern die gleichen Rechte wie Nichtjuden, sie wurden zu gleichberechtigten Staatsbürgern. Vordenker dieser Emanzipation waren G.E. Lessing, Ch.W. Dohm und M. Mendelsohn. Die USA und die Französische Revolution hatten als erste Länder den Juden die volle Gleichberechtigung gegeben. Doch Napoleon schränkte in Frankreich ihre Bewegungsfreiheit wieder ein. Aber in der Zeit nach Napoleon gewannen die Juden in vielen Ländern großes Gewicht in der Finanzwirtschaft, denn sie waren angesehene Geldverleiher und Besitzer von Banken. Sie fungierten als Herausgeber von Zeitungen und waren als Ärzte und Rechtsanwälte tätig. Dadurch entstand unter der christlichen Bevölkerung eine Angst vor der Übermacht der Juden in der Wirtschaft und in der Bildung. Auch die Theologen und Kleriker beider Großkirchen schürten in Europa die Angst vor den Juden, sie sahen in ihnen eine Bedrohung des christlichen Glaubens.27 Eine wichtige politische Strömung bildete der Sozialismus, der in Frankreich 1832 erstmals so benannt wurde. Später wurde sogar von einem wissenschaftlichen und einem christlichen Sozialismus gesprochen. Die neue Klasse der Arbeiter wurde im Zuge der Industrialisierung und des Frühkapitalismus als „vierter Stand“ bezeichnet. Die Arbeiter waren auf den Verkauf ihrer Arbeitskraft angewiesen, denn Besitz hatten sie zumeist keinen. Sie gründeten „Gewerkschaften“, in England „Trade Unions“, in Frankreich „Syndicats“, die meist nach Berufen gegliedert waren. Mit den Arbeitsgebern verhandelten sie über die Höhe der Löhne, die Länge der Arbeitszeit und den Gesundheitsschutz am Arbeitsplatz. Gleichzeitig organisierten sie Hilfskassen für Arbeitslose und für Kranke, sie richteten Vereine zur Fortbildung und bald auch zur sportlichen Betätigung ein. Das Vereinigungsrecht erhielten sie in England 1824, in Frankreich 1864 und in den deutschen Ländern 1869.28 Nach dem Vorbild der Industriearbeiter organisierten sich später auch die Angestellten, die Beamten, die Heimarbeiter und die Landarbeiter. In dieser Zeit wurden auch Produktionsgenossenschaften und Konsumvereine der Arbeiter gegründet. Hermann Schulze-Delitsch regte die Bildung von gewerblichen Genossenschaften für Handwerker an. Und Friedrich Wilhelm Raiffeisen gründete bäuerliche Genossenschaften und Selbsthilfevereine. Die meisten dieser Vereine arbeiteten demokratisch, damit gaben sie wichtige Impulse für die Demokratisierung der Gesellschaft. Auch die Kirchen engagierten sich für die Sozialhilfe an den Armen, in England entstand sogar ein „christlicher Sozialismus“ (Oxford-Bewegung). Christliche Jugendvereine leisteten Pflegedienste in Armenhäusern und Pflegeheimen. Wertvolle Arbeit organisierten die „Diakonie“ und die „Innere Mission“, bald gab es auch katholische und evangelische Arbeitervereine und Gesellenvereine.29 Die staatliche Sozialgesetzgebung begann in England, 1833 verabschiedete das Parlament das erste Fabriksgesetz. Frauen durften nicht mehr im Bergbau und in Kohlegruben arbeiten, die tägliche Arbeitszeit für Frauen und Kinder wurde auf 10 Stunden begrenzt. In Frankreich war die Kinderarbeit in den Bergwerken ab 1813

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untersagt, in Preußen wurde die Fabrikarbeit für Kinder unter 9 Jahren 1839 und unter 12 Jahren 1854 verboten. Im Deutschen Reich bildete sich ab 1872 ein „Verein für Sozialpolitik“, und ab 1883 verabschiedete die Regierung Otto von Bismarck die neuen Arbeitergesetze mit Arbeiterschutz im Fall der Krankheit und mit Altersversorgung. Ab 1894 wurden ähnliche Gesetze in Frankreich erlassen, in England allerdings erst 1908. Im Deutschen Reich waren ab 1891 die Sonntagsruhe und der Lohnschutz garantiert. Damit wandelte sich der liberale Wirtschaftsstaat in kleinen Schritten in einen sozialen Wohlfahrtsstaat.30 Im Zarenreich Russland, aber auch in Österreich-Ungarn (ab 1867) kamen die wirtschaftlichen und sozialen Entwicklungen viel langsamer voran. Mehrere Geheimbünde engagierten sich in Russland für eine liberale Verfassung, für die Befreiung der Bauern aus der Leibeigenschaft und eine gerechte Verteilung des Bauernlandes. Im Krimkrieg (1853–57) kämpfte Russland gegen die Westmächte und wurde besiegt, das Zarenreich verlor das Donaudelta, das Schwarze Meer wurde zur neutralen Zone der Schifffahrt. In einer Pariser Konvention wurden erste Regeln für einen Seekrieg festgelegt. Erst 1861 hat Zar Alexander II. die Leibeigenschaft der Bauern aufgehoben, ca. 40 Millionen Bauern bearbeiteten nun kollektive Felder, Wiesen und Viehweiden. Die Zahl der Grundschulen und der Gymnasien wurde im ganzen Land vermehrt, die Pressezensur wurde erleichtert. Die Gouvernements erreichten mehr an Selbstverwaltung, die Gerichte wurden von der Verwaltung getrennt, die Städte erhielten mehr an Autonomie. Ab 1874 gab es für Männer die allgemeine Wehrpflicht, der Militärdienst dauerte 6 Jahre. Die Bauern litten aber an der Überschuldung, an ungenügenden Anbauflächen und an veralteten Produktionsmethoden.31

Die nationalen Einigungen In Italien und im Deutschen Bund schritten die Prozesse der politischen Vereinigung rasch voran. Camillo di Cavour hatte als Ministerpräsident des Königreiches Sardinien-Piemont eine Justizreform und eine freie Wirtschaftspolitik erreicht, er wollte auch eine freie Kirche in einem freien Staat haben. Deswegen entwickelte er ein Programm der nationalen Einigung Italiens unter der Führung von SardinienPiemont, auf einen revolutionären Umsturz sollte aber verzichtet werden. Mit der Hilfe Frankreichs sollten die Österreicher aus Italien vertrieben werden, der neue Staat sollte eine liberale Verfassung bekommen. Zu diesem Zweck wurde die „Societa nazionale Italiana“ gegründet, Cavour gewann für seine Pläne bald die Unterstützung der Westmächte. Kaiser Napoleon III. versprach, an der Errichtung eines italienischen Nationalstaates unter dem Vorsitz des Papstes auch militärisch mitwirken zu wollen.32 Daraufhin begann ein Krieg Österreichs gegen Sardinien-Piemont und Frankreich. Die Schlachten bei Magenta und Solferino gingen für Österreich verloren, die Lombardei wurde nun für kurze Zeit den Franzosen zugesprochen (Friede von Zürich). Doch die Anhänger von G. Mazzini und G. Garibaldi organisierten in vielen Regionen Aufstände gegen die Regierungen der Fürsten. König Franz II. von

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Neapel und Sizilien wurde von den Aufständischen besiegt, er trat als Herrscher ab. Danach bildete sich in Turin ein gesamtitalienisches Parlament, dieses erklärte Rom zur Hauptstadt und den König Victor Emanuel II. von Sardinien-Piemont zum König von ganz Italien (1861). Preußen verbündete sich mit Italien und führte Krieg gegen Österreich, dieses wurde bei Königgrätz/Sadowa besiegt. Darauf wurde die Provinz Venedig von der österreichischen Herrschaft befreit und schloss sich Italien an. Die nationale Bewegung „Irridenda“ strebte aber die nationale Einigung aller italienischen Regionen an.33 Doch jetzt war nur der Kirchenstaat noch außerhalb Italiens, die päpstliche Kurie verweigerte jede Verhandlung mit dem neuen Königreich Italien. Frankreich wollte aber den Kirchenstaat verteidigen, deswegen wurde Florenz die erste Hauptstadt Italiens. Der Papst Pius IX. verlangte die Autonomie des Kirchenstaates und die Unterwerfung aller Staaten unter die päpstliche Autorität. Doch Giuseppe Garibaldi marschierte mit seinen Truppen dreimal gegen Rom, wurde aber vom französischen Militär aufgehalten. Auf dem I. Vatikanischen Konzil (1870) beschlossen die Bischöfe die Unfehlbarkeit des Papstes in Fragen des Glaubens und der Moral. Doch als Preußen gegen Frankreich den Krieg begann, mussten die französischen Truppen aus Rom abgezogen werden. Jetzt eroberten italienische Truppen die Stadt des Papstes, dieser wurde ein Gefangener im Vatikan, aber dort wurde ihm die Autonomie gewährt. Rom wurde nun zur Hauptstadt des geeinigten Königreiches Italien. Damit bildete das Land erstmals seit dem Ende des Weströmischen Imperiums (476) wieder eine politische Einheit.34 Anders verlief die politische Einigung der deutschen Länder und die Entstehung des Deutschen Reiches. Im Königreich Preußen wurde Otto von Bismarck 1862 Ministerpräsident, er regierte meist gegen den Landtag und die Verfassung und verstärkte die militärische Rüstung. Damit festigte er die Monarchie und erhob nun den Führungsanspruch im Deutschen Bund, gleichzeitig stärkte er die Freundschaft mit Russland. Im deutsch-dänischen Krieg 1864 kämpften Preußen und Österreich noch gemeinsam gegen Dänemark, Schleswig, Holstein und Lauenburg kamen zum Deutschen Bund. Holstein wurde von Österreich verwaltet, Schleswig von Preußen. Als es zwischen beiden Großmächten zum Konflikt kam, besetzte Preußen Holstein und trat aus dem Deutschen Bund aus. Danach kämpfte es mit zwei Armeen gegen die Staaten des Deutschen Bundes, Hannover wurde bei Langensalza besiegt, Österreich bei Königgrätz/Sadowa (1866). Französische Gebietsforderungen bis zum Rhein veranlassten die süddeutschen Staaten zu einem Schutzbündnis mit Preußen. Nun wurde der Deutsche Bund aufgelöst, denn Preußen eroberte alle deutschen Staaten nördlich des Mains, außer Sachsen und Hessen-Darmstadt, und bildete nun den „Norddeutschen Bund“.35 In der Folge billigte der preußische Landtag nachträglich die Verfassungsverletzung durch Otto von Bismarck, die Nationalliberale Partei arbeitete fortan mit der konservativen Regierung zusammen. Im Norddeutschen Bund gab es den Bundeskanzler, den Bundesrat und den Reichstag, der Zollverein wurde erneuert. Aber nun fürchtete Frankreich eine preußische Hegemonie in Europa, Kaiser Napoleon III.

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provozierte einen Krieg gegen Preußen (1870). Die süddeutschen Staaten kämpften aber mit den Preußen gegen Frankreich, das bei Sedan eine militärische Niederlage erlitt. In Versailles wurde 1871 das „Deutsche Reich“ proklamiert, König Ludwig II. von Bayern bot dem König von Preußen Wilhelm I. die deutsche Kaiserkrone an, die dieser nun annahm. Das Deutsche Reich war fortan ein Bundesstaat unter der Führung Preußens, zentral verwaltet wurden das Militär, der Handel, der Verkehr, der Zoll, die Finanzen, die Post und die Außenpolitik. Der Bundesrat hatte die Rechte der Gesetzgebung und der Verordnungen, doch Preußen hatte immer ein Vetorecht. Der Kaiser bestellte den Reichskanzler, der zugleich Ministerpräsident von Preußen war. Der Reichstag durfte über Gesetzesvorlagen und über die Finanzpolitik abstimmen. Mit Bismarck zusammen arbeiteten die Nationalliberalen, die Freikonservativen, die Deutsch-Konservative Partei und das katholische Zentrum. Die Gegner des Reichskanzlers waren die Altkonservativen, die Freisinnige Fortschrittspartei und die vereinigten Sozialdemokraten.36 In der Folgezeit wurden innerhalb des Deutschen Reiches die Wirtschaftsgesetze vereinheitlicht, es gab ein neues Strafgesetzbuch, einheitliche Gewichts- und Münzgesetze; die Reichsbank wurde 1875 geschaffen und das Bürgerliche Gesetzbuch wurde 1900 fertiggestellt. Aber bald führten die liberalen Bewegungen einen „Kulturkampf “ gegen die katholische Kirchenleitung, denn alle Schulen wurden unter staatliche Aufsicht gestellt, de Predigten der Priester wurden durch den „Kanzelparagraphen“ reglementiert. 1874 wurde die Zivilehe eingeführt, die Ausbildung der Kleriker wurde einheitlich geregelt, die Jesuiten wurden im ganzen Land verboten. Nach 1886 wurde der Kulturkampf beendet. In dieser Zeit wuchsen die Leistungen der Industrie und des Handels rapide an, es war die Zeit der „Gründerjahre“. Frankreich musste hohe wirtschaftliche Entschädigungen für den verlorenen Krieg bezahlen. Doch eine Wirtschaftskrise 1873 ließ bei vielen Bürgern tiefe Zweifel an einer unkontrollierten liberalen Wirtschaftspolitik aufkommen, deswegen wurden neue Schutzzölle erhoben In der Folgezeit kam es zu einem Bündnis zwischen der Schwerindustrie und den Großgrundbesitzern.37 Mehrere Attentate auf den Kaiser wurden den Sozialdemokraten zur Last gelegt, folglich verbot Bismarck deren Organisationen und Zeitungen. Ihre Parteitage mussten in London oder in der Schweiz abgehalten werden. Mit dem Regierungsantritt von Kaiser Wilhelm II. 1888 kam es aber zu einem politischen Konflikt mit Bismarck, dieser wurde 1890 vom Kaiser entlassen.

Entwicklungen in Mittel- und Osteuropa Die Niederlage Österreichs 1866 gegen Preußen hatte im Reich der Habsburger den politischen „Ausgleich“ mit Ungarn zur Folge, die Monarchie nannte sich jetzt Österreich-Ungarn. Beide Reichshälften wurden getrennt verwaltet, gemeinsam waren nur das Militär, die Außenpolitik und die Finanzen. Franz Joseph I. wurde zum König von Ungarn gekrönt, mit dem Militär und der katholischen Kirchenleitung hielt er den Vielvölkerstaat zusammen. Den Tschechen wurden die gleichen Rechte

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verweigert, welche die Ungarn erreicht hatten. Die österreichische Reichshälfte bestand aus 8 Nationen, 15 Kronländern und 17 Regionalparlamenten. Seit 1867 gab es eine Verfassung mit einem Verordnungsrecht, in der Wirtschaftspolitik begann eine liberale Zeitepoche. Die allgemeine Wehrpflicht und die Schulpflicht wurden auf alle Regionen ausgedehnt. Im Königreich Böhmen wurden 1880 tschechisch neben deutsch die zweite Amtssprache, zwei Jahre später wurde in Prag neben der deutschen eine tschechische Universität gegründet. Der Landtag in Böhmen hatte bereits eine tschechische Mehrheit. Bei der Wahlrechtsreform 1882 wurden auch Kleinbürger zur Wahl zugelassen.38 Zu dieser Zeit entstanden mehrere deutsch-nationale Bewegungen, die DeutschVölkische Partei kämpfte gegen die drohende Übermacht der Slawen. Die ChristlichSoziale Partei entwickelte stark antisemitische Züge, sie schürte den Hass auf die Juden. Die Sozialdemokratische Partei wurde erst 1889 gegründet, doch ihre Entfaltung wurde von den konservativen Regierungen stark behindert. Die „Jungtschechen“ verhinderten einen Ausgleich zwischen den Tschechen und den Deutschen in Böhmen, daraufhin legten deutsche Nationalisten den Reichsrat lahm. Die Alldeutsche Partei des Georg von Schönerer betrieb die „Los-von Rom-Bewegung“ und suchte einen Anschluss der Deutschen an das Deutsche Reich. Hingegen wollte die ChristlichSoziale Partei die Dynastie der Habsburger unbedingt erhalten.39 In der ungarischen Reichshälfte dominierten die Ungarn, sie betrieben eine Politik der Magyarisierung. Allein Kroatien erhielt eine gewisse Autonomie, doch unter der rumänischen Bevölkerung kam es zu Unabhängigkeitsbestrebungen. Gegen die panslawische Bewegung regierte der ungarische Ministerpräsident Istvan Tisza mit eiserner Hand.40 Auf dem Balkan verschärften sich die politischen Spannungen zwischen Russland und dem Osmanischen Reich. Im russisch-türkischen Krieg (1877–78) wurde Bulgarien durch russische Gebiete vergrößert. Auf dem Berliner Kongress (1878) wurden Rumänien, Serbien und Montenegro als selbständige Staaten anerkannt. Doch Bulgarien blieb noch dem Osmanischen Reich tributpflichtig. Russland erhielt Bessarabien und Teile Armeniens, an England fiel Zypern; und Österreich-Ungarn wurde mit der Verwaltung von Bosnien-Herzegowina beauftragt. In dieser Zeit entfremdete sich das Deutsche Reich aber von Russland, der Konflikt zwischen Russland und ÖsterreichUngarn wegen der slawischen Bevölkerung stieg stetig an. Damit näherten sich das Deutsche Reich und Österreich-Ungarn politisch wieder an (Zweibund).41 Bulgarien kämpfte lange Zeit gegen die osmanische Fremdherrschaft, dieser Kampf wurde von den Russen unterstützt und blieb siegreich. Eine bulgarische Nationalversammlung gab sich eine liberale Verfassung und wählte Alexander von Battenberg von Hessen-Darmstadt zum Fürsten. Auf ihn folgte als Herrscher Ferdinand I. von Sachsen-Coburg, unter ihm kam es zu einer ständigen Verbindung mit Russland. In Griechenland regierte als König Georg I. von Glücksburg, die Briten übergaben die Jonischen Inseln an die Griechen (Enosis-Bewegung). Auch Thessalien kam zu Griechenland, doch Makedonien blieb ein Streitobjekt mit den Bulgaren. Im Krieg gegen die Türken wurden die Griechen 1897 besiegt, Kreta erhielt die politische Autonomie.

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Die Fürstentümer Moldau und Walachei vereinigten sich 1861 zum Staat Rumänien, die Regierung Cuza verstaatlichte dort den Besitz der orthodoxen Kirche und befreite die Bauern aus der Leibeigenschaft. Auf Empfehlung von Napoleon III. wurde Carol I. von Hohenzollern-Sigmaringen als König gewählt, er baute nach preußischem Vorbild eine starke Armee auf und forcierte den Bau der Eisenbahn und die Förderung von Erdöl. Das Land schloss sich 1883 politisch dem Deutschen Reich und Österreich-Ungarn (Zweibund) an.42 Auch die Serben kämpften lange Zeit gegen die türkische Herrschaft, 1862 zog die türkische Besatzung ab. Im Jahr 1869 bekam das Land Serbien eine Verfassung, die Regierung von Nikola Pasic lehnte sich politisch an Österreich-Ungarn an. 1882 erfolgte die Proklamation Serbiens zum Königreich unter König Alexander I. Ein Krieg gegen Bulgarien blieb ohne Erfolg, doch zu dieser Zeit unterstützte Russland bereits massiv die Panslawische Bewegung auf dem Balkan.43

Konfliktlinien in West- und Mitteleuropa In vielen Ländern Europas verband sich mit dem wachsenden Nationalismus eine imperiale Politik. Frankreich war durch die Niederlage gegen Preußen politisch geschwächt, das Land musste Entschädigungen zahlen. Der Aufstand der Pariser Kommune 1871 wurde vom Militär niedergeschlagen, Napoleon III. aber war von der Herrschaft abgetreten. Die Regierung übernahm Marschall MacMahon, im Jahr 1875 wurde mit einer Stimme Mehrheit vom Parlament die „Dritte Republik“ ausgerufen. Nun bekamen alle männlichen Bürger im Land das Wahlrecht, das Parlament und der Senat zusammen bildeten die Nationalversammlung. Diese hatte die Aufgabe der Gesetzgebung. Der Präsident wurde auf sieben Jahre gewählt, er wurde aber von der Nationalversammlung kontrolliert. In der Politik engagierten sich nun viele Rechtsanwälte, Professoren und Schriftsteller, und im Parlament standen sich die großbürgerlichen „Opportunisten“ und die kleinbürgerlichen „Radikalen“ gegenüber. Der Präsident Grevy verfolgte eine Politik der Aussöhnung zwischen den Parteien, er wollte den Staat von der Kirche trennen. Die kirchlichen Orden wurden begrenzt, die Schulen unterstanden fortan der Aufsicht des Staates, die Zivilehe wurde wieder eingeführt, die Städte erhielten mehr an Selbstverwaltung, die Freiheit der Presse und der Versammlung wurde bestätigt (1881). Bald sammelte sich eine „PatriotenLiga“ von Konservativen, Radikalen und Bonapartisten um Georges Boulanger, sie strebten nach einer autoritären Regierung. Doch die liberalen Republikaner blieben stärker und trugen den Sieg davon.44 Im Jahr 1889 wurde der Eiffelturm fertiggestellt, als Krönung einer Weltausstellung in Paris. Der Papst Leo XIII. hatte den Katholiken in Frankreich die Zusammenarbeit mit der Republik nicht nur erlaubt, sondern sogar empfohlen. Die Sozialisten organisierten sich in Syndikaten und im Allgemeinen Arbeiterverband, sie spalteten sich aber in eine gemäßigte und eine radikale Richtung. Der Konflikt um die militärgerichtliche Verurteilung des jüdischen Offiziers Alfred Dreyfus 1894 spaltete die Gesellschaft. Ein Republikanischer Block verteidigte die allgemeinen Menschenrechte

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auch für Juden, doch ein Integraler Nationalismus (Action Francaise) kämpfte fanatisch gegen die Rechte der Juden, aber auch gegen die Deutschen und die Protestanten im Land. Bekämpft wurden auch die politischen Ideen der Romantiker, die Regeln der Demokratie und die allgemeinen Menschenrechte. Gleichzeitig verstärkte sich bei den linksradikalen Gruppen und Bewegungen der antiklerikale Kurs der Politik. Aber zu dieser Zeit konnte Frankreich trotz dieser innenpolitischen Konflikte seinen Kolonialbesitz in Afrika sogar noch vergrößern und festigen.45

Der nationale Imperialismus Das Deutsche Reich suchte eine politische und militärische Absicherung gegen Frankreich, weil von dort ein Revanchekrieg erwartet wurde. Deswegen schloss Otto von Bismarck den „Zweibund“ mit Österreich-Ungarn (1879) und drei Jahre später den „Dreibund“ mit Italien. Mit Russland schloss das Deutsche Reich einen Rückversicherungsvertrag, doch ein angestrebter Vertrag mit England kam nicht zustande. Doch nach dem Sturz von Otto von Bismarck verschärfte der Kaiser Wilhelm II. die imperiale Machtpolitik, dabei dürfte er die Möglichkeiten der deutschen Politik aber weit überschätzt haben. Denn der Rückversicherungsvertrag mit Russland wurde von deutscher Seite im Jahr 1890 nicht mehr verlängert. Damit aber schloss sich das Zarenreich politisch der Republik Frankreich an, 1894 wurde ein russisch-französischer Zweibund geschlossen. Frankreich investierte nun in Russland in den Ausbau der Eisenbahnen und der Industrie. Gleichzeitig verschlechterten sich aber die deutschen Beziehungen zu England, zum Teil wegen der starken Handelskonkurrenz, zum Teil wegen der deutschen Flottenpolitik, wegen unkluger Depeschen des Deutschen Kaisers und wegen der Kolonialpolitik in China (Tsintao).46 Vor allem das deutsche Programm des Flottenbaus (1898) und die Errichtung der Bagdad-Bahn durch deutsche Firmen verstärkten die politischen Spannungen mit England. Denn das britische Königreich erlebte im Welthandel die zunehmende Konkurrenz durch das Deutsche Reich, durch die USA und durch Japan. Der wirtschaftliche Erfolg wurde auch in England stark mit religiösen Legitimationen verbunden, die Theologen und Prediger sprachen von einem göttlichen Auftrag für ihr englische Nation, sie sollte überall in der Welt den technischen Fortschritt und die Zivilisation bringen. Thomas Carlyle begründete die britische „Weltmission“ mit philosophischen Argumenten, und Charles Dickens war überzeugt, dass die ganze Welt täglich britischer werde. Robert Seeley forderte eine planmäßige Expansion Englands in der ganzen Welt. Auch der Premierminister Benjamin Disraeli wollte mit seiner Politik die Weltgeltung Englands stärken, die Queen Victoria unterstützte ihn dabei. Seit 1877 nannte sie sich auch „Kaiserin von Indien“. England hatte Ägypten besetzt (1882), um über den Suezkanal zu bestimmen und um das Land wirtschaftlich aufzubauen.47 Daher wurde die britische Expansion in Afrika fortgesetzt, im Süden wurden Botsuanaland, Rhodesien, Somaliland, Uganga, Kenia und der Sudan erobert. Im Burenkrieg wurde Südafrika britisch, aber Niederländisch blieb dort weiterhin

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die Amtssprache. Nun sollte das Britische Empire durch den Freihandel in einer Reichskonföderation gefestigt werden, daher wurden die Kolonien wirtschaftlich mit einander verflochten. Die Verbindung geschah aber auch durch die englische Sprache, durch englische Gesetze, durch die gemeinsame Königin, durch Verwaltung und Währung. Die Verhandlungen mit dem Deutschen Reich scheiterten jedoch wegen der gegensätzlichen wirtschaftlichen Interessenslagen. Die Engländer setzten durch, dass auf allen Industriewaren im Welthandel das Erzeugungsland stehen müsse (made in England usw.). In London gab es mehrere Weltausstellungen, welche die großen Leistungen der Nation und ihrer Kolonien zeigen sollten. Zu dieser Zeit gingen die alten Adelsparteien langsam in demokratische Massenparteien über, die Sozialgesetze, der Strafvollzug und die Gesundheitsvorsorge wurden verbessert. Durch die Wahlrechtsreform von 1867 hatten auch die Kleinbürger und die Facharbeiter bereits ein Wahlrecht bekommen, das 1884 auf alle wohnungsbesitzenden Männer ausgedehnt wurde. Zu dieser Zeit wollte Irland von Britannien frei werden, deswegen wurde in den USA der Geheimbund „Fenier“ gegründet, der ein selbständiges Irland zum Ziel hatte. Fortan leistete der irische Landtag immer öfter offenen Widerstand gegen englische Gesetze im Land. Bei einem politischen Protest wurde der englische Güterverwalter Thomas Boykott ermordet, sein Name blieb seither im internationalen Sprachgebrauch erhalten.48 Auch das Deutsche Reich strebte ab 1882 nach Kolonien in Afrika, zu diesem Zweck wurde ein Deutscher Kolonialverein gegründet. Auf der Kongo-Konferenz in Berlin erhielt das Deutsche Reich die Verwaltung von Deutsch-Südwestafrika, von Kamerun und Togo, sowie von Deutsch-Südostafrika. Der Kaiser Wilhelm II. forcierte das Streben nach politischer, technischer und militärischer Weltgeltung, denn „Weltpolitik“ sei nun auch eine deutsche Aufgabe. Die „Weltmacht“ sei das Ziel, dafür aber sei eine große Flotte die Voraussetzung. Mit der Gründung des „Alldeutschen Verbandes“ wurde die imperiale Politik deutlich verstärkt. In der Folgezeit wurde das Deutsche Reich die stärkste Industrienation in Europa und der Welt, die wirtschaftliche Konkurrenz wurde enorm gesteigert. Dabei war der deutsche Kaiser ein Enkel der englischen Königin Victoria. Er wollte seinen Cousin, den englischen König wirtschaftlich und politisch übertreffen. Admiral Alfred von Tirpitz gab dem deutschen Flottenbauprogramm nach außen einen defensiven Charakter, der aber nicht das Ziel dieses Programms war. Der deutsche Reichskanzler Bernhard von Bülow scheitert daher mit dem Versuch, England für den Dreibund mit ÖsterreichUngarn und Italien zu gewinnen (1900).49 Der Kaiser Wilhelm II. glaubt fest an ein „Gottesgnadentum“ seiner Herrschaft, er wollte das gesunde Erbe von Fürst Bismarck antreten. Doch es gab auch viele interne Probleme im neuen großen Reich, die Finanzen waren nämlich immer von der Zustimmung der Länder abhängig. Es gab ein unterschiedliches Wahlrecht in Preußen und im Deutschen Reich, eine parlamentarische Verfassungsreform wurde lange Zeit von den konservativen Kräften blockiert. Das starke Bündnis zwischen der Industrie, dem Großgrundbesitz und dem Beamtentum verhinderte eine fort-

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schreitende Demokratisierung der inneren Strukturen. Die volle Eingliederung der Industriearbeiter in den Staat gelang kaum, auch wenn 1890 die Verbotsgesetze gegen die Sozialdemokraten aufgehoben wurden. Die ostelbischen Bauern wehrten sich mit Erfolg gegen den Freihandel landwirtschaftlicher Produkte mit Russland. Das Heer wurde ständig vergrößert, im Jahr 1900 wurde das allgemeine Bürgerliche Gesetzbuch verabschiedet, das viele Reformen in der Rechtsprechung brachte.50 So bestimmte der nationale Imperialismus am Ende des 19. Jh. nicht nur das Deutsche Reich, sondern auch England, Frankreich und zum Teil auch das Zarenreich Russland. Aber nun führte nicht der „Kampf der Klassen“ (K. Marx) in die Katastrophe des Ersten Weltkrieges. Es war der imperiale Nationalismus, verbunden mit der völligen Unterschätzung der Destruktivkräfte der modernen Rüstungstechnologie, der die partielle Selbstzerstörung einiger europäischer Staaten zur Folge hatte. Für viele Politiker sollte der nationale Imperialismus den befürchteten „Klassenkampf “ verhindern. Doch sie sahen nicht, dass sie mit ihrer aggressiven Politik in einen europäischen Nationenkampf hineinliefen, dessen Folgen sie überhaupt nicht abschätzen konnten.51

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Die Kultur des 19. Jh. wurde stark von Entdeckungen der Naturwissenschaften und von technischen Erfindungen geprägt. Damit wurde die Lebenswelt der meisten Menschen verändert, es gab neue Formen der Bewegung, der Kommunikation und der Lebensgestaltung. Die relevanten Forschungen erfolgten vor allem in wissenschaftlichen Gesellschaften (z.B. Royal Society, Societe Royal, Akademie der Wissenschaften) und an den Universitäten. Aus der frühen „Naturphilosophie“ waren nun viele Naturwissenschaften geworden. Die Forschungen erfolgten vor allem im Bereich der Physik und der Chemie. Denn ab 1800 war es möglich geworden, elektrischen Strom künstlich herzustellen. Zu dieser Zeit wurden das ultrarote und das ultraviolette Licht gemessen, die antike Atomlehre (Demokritos, Leukippos) wurde nun durch chemische Beobachtung bestätigt. Die Anziehung von Massen konnte experimentell nachgewiesen werden. Damit wurden viele Hypothesen und Vermutungen über die Geschehnisse in der Natur durch Experimente überprüft. Das Licht der Sonne wurde in seiner thermischen und in seiner chemischen Wirkung untersucht, gleichzeitig wurden die Messgeräte ständig verbessert und präzisiert.

Allgemeine Erkenntnisse über die Natur Mit der Erfindung der Dampfmaschine war eine völlig neue Energiequelle erschlossen worden, welche bald die Industrie und den Verkehr veränderte. Das Gesetz zur Erhaltung von Energie (1842) liefert die Grundlage für die verschiedenen Umwandlungen von Energie in der Natur und in der menschlichen Technik. Denn in jedem technischen Prozess werden Energieformen umgewandelt und verändert. Etwas später wurden die beiden Hauptsätze der Thermodynamik formuliert, damit konnte der Nutzungseffekt der Umwandlung von Wärmenergie in mechanische Energie genau berechnet werden. Gleichzeitig wurde auch die theoretische Grundlage für die Verflüssigung von Gasen geliefert, es wurden verschiedene Methoden der Kältetechnik, der Elektrotechnik, der Lichttechnik und der chemischen Technik entwickelt. Davon hingen die späteren Erkenntnisse über die Thermochemie, die Elektrochemie und die Photochemie ab. Auch die Forschungen der Meteorologie und der Physik der Atmosphäre wurden durch diese Erkenntnisse angeregt.1

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Die Entdeckungen der Elektrizität durch den Italiener Alessandro Volta (1800) zeigte enorme technische Auswirkungen und Entwicklungsmöglichkeiten. Bald wurden Messgeräte entwickelt, um die Stärke des elektrischen Stromes messen zu können. Die Erforschungen des Elektromagnetismus führten zur Entdeckung der positiven und der negativen Jonen. Experimentiert wurde auch der Durchgang des Stromes durch Gase, dabei wurde die „Braunsche Röhre“ entdeckt (1899). Die Erforschung des Lichtes führte zu Erkenntnissen über Wellenlinien und Spektrallinien, welche bei der Analyse von Atomen (Wasserstoff) wichtig wurden. Die antike Atomlehre wurde von John Dalton (1808) präzisiert und durch chemische Beobachtungen bestätigt. In der Folgezeit wurden mehrere Theorien über die Gesetze der Materie aufgestellt, die Gesetze der Elektrolyse wurden präzisiert. Mit Hilfe der Kathodenstrahlen gelang Philippe Lenard (1895) bereits eine Analyse des Aufbaus von Atomen.2 Auch die Forschungen der Astronomie und der Astrophysik gingen rapide weiter, mit der Spektralanalyse konnten Gestirne und deren Bewegungen sehr präzise vermessen werden. Die bisherigen Theorien über die Entstehung des Sonnensystems wurden vielfältig weiter entwickelt, um 1900 waren bereits die ersten Messungen der Sonnentemperatur möglich. Intensiv waren die Forschungen im Bereich der Chemie, denn im Jahr 1814 waren bereits 46 chemische Elemente bekannt, und im Jahr 1900 waren 84 Elemente erforscht und analysiert. Die organische Chemie trug zur Entdeckung des Benzols (1865) und später des Benzins bei, sie regte vor allem die Farbstoffchemie und die medizinische Forschung an. Auch die Erkenntnisse in der Archäologie, der Paläontologie, der Geologie und der Biologie schritten rasch voran. Dabei wurden die neuen Erkenntnisse in den Naturwissenschaften systematisch in der Technik und bald auch in der Industrie angewandt. Die Elektrizitätsforschung hatte ihr Anwendungsgebiet in der Telegraphie und in der Telephonie, aber vor allem bei der Erfindung der elektrischen Lichtwellen und ihrer Anwendung in der Glühlampe (1854). Damit wurde die Lebenswelt vieler Menschen stark verändert.3

Entdeckungen der Physik und Chemie Hier sollen einige Erfinder und Entdecker kurz skizziert werden. Abbe Rene Hauy war der Begründer der modernen Kristallographie, er verfasste eine große Abhandlung über die bekannten Minerale (1801). Außerdem entwickelte er Strukturtheorien über die Kristalle, wobei er von sechs Grundstrukturen ausging. Er sprach bereits von Molekülen (molecules integrantes) und schrieb den Teilchen geometrische Formen und Größen zu. Er glaubte, dass aus einer einzigen Substanz vielfältige Kristallgestalten entstehen können. Alessandro Volta (gest. 1827) experimentierte im Bereich der Elektrizitätslehre, seine Erkenntnisse trug er am Institut de France in Paris vor, wo Napoleon unter den Zuhörern war. Außerdem machte er elektrische Experimente mit Metallen und stelle eine Spannungsreihe der verschiedenen Metalle auf. Dabei sprach er von elektrischen Leitern erster und zweiter Klasse. Durch einen Versuch konnte er beweisen, dass bei der Berührung zweier verschiedener Metalle Elektrizität entsteht. Als er verschiedene

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Metalle in Salzsäure tauchte, hatte er die erste Gleichstrombatterie entdeckt. Dabei erreichte er bereits eine Spannung von 100 Volt.4 Abraham Gottlob Werner gilt als der Begründer der wissenschaftlichen Mineralogie, denn er hatte bereits die petrographischen Schichten in den Bergen erforscht. Im Bereich der Akustik und der physikalischen Astronomie forschte Florens Friedrich Chladni. Doch wichtige Erkenntnisse in der Atomtheorie gelangen dem Engländer John Dalton (gest. 1844). Er untersuchte zunächst die Ausdehnung und den Druck von Gasen und von Dämpfen, vor allem des Wasserdampfes. Dabei konnte er die gleichmäßige Ausdehnung von Gasen bei steigender Temperatur erkennen. Später formulierte er eine Atomtheorie, die er von den griechischen Philosophen Demokritos und Leukippos übernommen hatte. Er glaubte, dass alle Atome der gleichen Art auch gleich an Gestalt und Gewicht seien, dass Atome verschiedener Art sich auch in Gewicht und Form unterschieden. Mit dem Chemiker Jakob Berzelius hatte er diese Theorie in seinen chemischen Untersuchungen angewandt.5 Forschungen zur Ausbreitung des Lichtes und des Schalles wurden von Thomas Young weitergeführt. Er konnte erstmals die Wellenlängen des Lichtes messen und die Gültigkeit des Interferenzprinzips erweisen. Daher sprach er bereits von der Polarisation des Lichtes. Außerdem vermutete er, dass die Netzhaut des Auges nur auf die drei Grundfarben Rot, Gelb und Blau anspreche. Exakte Forschungen zur Elektrochemie betrieb Johann Wilhelm Ritter, er stellte ein Spannungsgesetz auf und entwickelte Vorformen der Akkumulatoren. Ein bahnbrechender Chemiker war Jakob Bezelius (gest. 1848), er bestimmte die Gesetze für die chemischen Verbindungen durch die quantitative Analyse und erkannte einige Atomgewichte. Von ihm stammen die Buchstaben zur Kennzeichnung der chemischen Elemente. Außerdem analysierte er die Kieselsäure und die Eigenschaften der Fluoride, dabei erkannte er die positive und die negative elektrische Aufladung der chemischen Elemente. Die Minerale wollte er allein nach chemischen Gesichtspunkten ordnen und dabei seine elektrochemische Theorie anwenden.6 Wichtige Arbeiten zur Elektrizität und zur Chemie stammen von Michael Faraday (gest. 1867), er stellte Chlor in flüssiger Form dar und entdeckte bei der Destillation fetter Öle das Benzol und das Butylen. Weiter erkannte er, dass elektrodynamische Vorgänge von der Stromrichtung, der magnetischen Feldgröße und von der mechanischen Kraft abhängen. Von ihm stammen die Vorarbeiten für die Urform des Elektromotors. Außerdem erkannte er die magnetische Drehung der Polarisationsebene des Lichtes und lieferte die Vorarbeiten für die Grundgesetze der Elektrolyse. Auf dem Gebiet der Geologie kam der Engländer Charles Lyell zu wichtigen Erkenntnissen, denn er verfasste ein Grundwerk über Geologie und erforschte die erdgeschichtlichen Veränderungen durch die Schwankungen des Klimas. Wichtige Arbeiten zur chemischen Analyse von organischen Verbindungen lieferte Friedrich Wöhler. Und Justus von Liebig (gest. 1873) hatte die Methoden der organisch-chemischen Elementaranalyse entscheidend verbessert. Er untersuchte die Nährstoffe für den Ackerbau, vor allem den Kohlenstoff, den Wasserstoff und den Stickstoff.7

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Mit dem farbigen Licht der Doppelsterne befasste sich Christian Doppler (gest. 1855). Denn er erkannte, dass bei Annäherung oder Entfernung einer Schall- oder einer Lichtquelle die vom Empfänger wahrgenommene Frequenz sich erhöht bzw. sich erniedrigt. Diese Erkenntnis wurde im Experiment bestätigt, sie setzt die Wellennatur der Lichtes bzw. des Schalles voraus und ist für die moderne Astronomie und Kosmologie enorm wichtig geworden. Wilhelm Weber schuf das elektrostatische und elektromagnetische Maßsystem, er ging in seiner Sichtweise von elektrischen Teilchen aus. Ihm gelang die genaue Berechnung der Lichtgeschwindigkeit, nämlich die gemessene Elektrizitätsmenge dividiert durch die elektromagnetisch gemessene Elektrizitätsmenge. Wichtige Forschungen zur Gaschemie und ihrer physikalische Anwendung in den Hochöfen der Industrie stammen von Robert Bunsen (gest. 1899), der sich bereits mit der Frühform der Spektralanalyse befasste. Von ihm stammten der BunsenBrenner in der Chemie, eine Wasserstrahlpumpe und ein Messgerät für Eiskalorien und Dampfkalorien. Julius Meyer forschte über die kinetische Energie und über die Wärmeausdehnung bei Wasser. Er hatte wichtige Vorarbeiten zum Gesetz der Energieerhaltung geleistet.8 Bedeutsame Untersuchungen zur analytischen und zur präparativen Chemie sowie zur Herstellung von künstlichen Farbstoffen stammen von Wilhelm Hofmann (gest. 1892), der damit viele Impulse für die Farbstoffchemie gab. Er entwickelte aus dem Rosanilin viele Farbstoffe der modernen Lebenswelt, ebenso Safranine und Chinolin. Der Physiker Hermann von Helmholtz (gest. 1894) befasste sich in seiner Farbtheorie mit den drei Grundfarben aller Farbkombinationen, mit Klangfarben in Resonatoren und mit den Obertönen bzw. mit Kombinationstönen. Durch die Erfindung des Augenspiegels konnten in der Medizin die Augenuntersuchungen erheblich verbessert werden. Helmholtz formulierte auch die Gesetze der Hydrodynamik in Wirbelbewegungen. Der Physiker Emile du Bois-Reymond entwickelte eine streng physikalisch orientierte Physiologie der Pflanzen und der Tiere. Er wollte das Phänomen des Geistes und des Bewusstseins auf einer rein empirischen und materiellen Basis erklären. Aber er war sich dessen bewusst, dass die Wissenschaft viele Rätsel der Natur nie werde lösen können.9 Der Physiker Rudolf Clausius befasste sich mit der bewegenden Kraft der Wärme und formulierte die These von der Energiekonstante in der Welt. Er kam zur Überzeugung, dass die Entropie auf ein Maximum zustrebe. William Thomson arbeitet an elektrischen Maßeinheiten, er war bei der Verlegung der ersten Überseekabel von Europa nach Amerika beteiligt. Er studierte die elektromagnetischen Phänomene und entwarf eine mathematische Formel für Schwingungen. Der Chemiker August Kekule war an der Erforschung des Kohlenstoffes und des Methangases beteiligt. Er erkannte die kettenförmigen Verbindungen von Kohlenstoffatomen und erforschte den Grundtypus des Benzolringes. Der schottische Physiker James Clark Maxwell (gest. 1879) befasste sich mit der physiologischen Farbenlehre, mit der kinetischen Gastheorie und mit Fragen der

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Elektrodynamik. Ihm war es gelungen, die Formen der Elektrizität und des Magnetismus mit einer einheitlichen Theorie darzustellen. Er erforschte mit der Wellendifferentialgleichung die Formen transversaler Wellen und erkannte, dass Lichtwellen elektromagnetischer Natur sein müssten. Damit wurde auch die Lichtgeschwindigkeit in die Elektrizitätslehre einbezogen. Die beiden Chemiker Dimitri Mendelejew und Lothar Meyer entdeckten das Periodensystem der chemischen Elemente.10 Die Forschungen mit den Kathodenstrahlen führten Conrad Röntgen (gest. 1923) im Jahr 1895 zur Entdeckung neuer Strahlen, die nach ihm benannten Röntgenstrahlen. Sie wurden vor allem in der Medizin, in der Eisenindustrie und in der Rüstungstechnik eingesetzt. Wilhelm Ostwald formulierte Verdünnungsgesetze für schwache Elektrolyte. Der Holländer Hendrik Lorentz war an der Erforschung von Jonen und Elektronen beteiligt, er leistete auch Vorarbeiten für die spätere Relativitätstheorie. Und Heinrich Hertz (gest. 1894) forschte an einem elektrischen Oszillator für hohe Schwingungsfrequenzen, dabei gelang ihm 1886 zum ersten Mal die Übertragung von Wellen. Damit war der Beweis für die Existenz elektromagnetischer Wellen erbracht, aber auch der Nachweis ihrer Wesensgleichheit mit den Lichtwellen. Eine Welle konnte linear polarisiert werden. Damit gab H. Hertz den Anstoß zu einer weltumspannenden Nachrichtentechnologie, zu drahtloser Kommunikation im Rundfunk, zur Telegraphie und zum späteren Fernsehen.11

Neue Erkenntnisse in der Medizin und Biologie Auch im Bereich der Medizin, der Biologie und der Zoologie wurden im 19. Jh. entscheidende Erkenntnisse gewonnen und Entdeckungen gemacht. Der Franzose Georges Cuvier (gest. 1832) gab wichtige Impulse für die vergleichende Anatomie der Tiere und für die zoologische Klassifikation, Er unterschied zwischen Wirbel-, Weich-, Glieder- und Strahlentieren und glaubte an ein natürliches Gleichgewicht (Orthostase) in der belebten Natur. Angeregt durch die Bibel glaubte er, dass durch Katastrophen immer wieder Tierarten ausgelöscht werden und danach neue entstehen. Etienne Saint-Hilaire (gest. 1844) dachte schon an Übergänge zwischen den Wirbellosen und den Wirbeltieren, er wollte bereits einen gemeinsamen Bauplan in der Natur erkennen. Als erster konnte Karl Ernst von Baer im Jahr 1826 die Existenz von Eizellen bei Säugetieren (Hunden) nachweisen, er gab damit wichtige Impulse für die Embryologie auch beim Menschen.12 Die biologische Zelllehre wurde von Matthias Schleiden und von Theodor ­Schwann entwickelt. Sie erforschten Muskelfunktionen und Nervenbahnen und entwarfen die Theorie von der Zelle als dem Urorganismus. Bald konnten Zellen auch mikroskopisch erforscht werden. Die wohl wichtigste und folgenreichste Theorie in der Biologie entwickelte Charles Darwin (gest. 1882) mit seiner Erforschung der Entstehung der Arten. Mit seinem Buch „The orgin of species by means of natural selection“ (1859) löste er eine neue Sichtweise der biologischen Entwicklung aus. Denn er ging davon aus, dass sich die einzelnen Arten ihren äußeren Lebensbedingungen anpassen, um im „Kampf ums Überleben“ (struggle for life) bestehen zu können.

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Daraus folgerte er, dass die Tierarten miteinander verwandt sind und dass auch wir Menschen und bestimmte Menschenaffen gemeinsame Vorfahren haben müssen.13 Wichtige Erkenntnisse über die praktische Biologie gelangen dem Franzosen Louis Pasteur (gest. 1895) mit seinen Forschungen über die Gärungschemie. Denn er befasste sich mit den Gärungsprozessen und den daran beteiligten Mikroorganismen. Dabei erkannte er, dass durch das Erhitzen bestimmte Mikroorganismen abgetötet werden, sodass Prozesse der Gärung oder der Fäulnis verhindert werden. Er erforschte aber auch Mikroorganismen als Überträger von Krankheiten, etwa den Milzbrand, die Hühnercholera, den Schweinerotlauf und die Tollwut. Folglich arbeitete er bereits an Impfstoffen gegen diese Krankheitserreger. Gleichzeitig wurden die wichtigsten Arbeiten zur Mikrobiologie und zur Bakteriologie von Robert Koch (gest. 1910) durchgeführt. Ihm gelang es, Bakterien in Reinkulturen herzustellen und dann einzufärben. Damit konnten die Erreger von Milzbrand, von Tuberkulose und von Cholera identifiziert werden. Weiter erforscht wurden die Erreger von Malaria, Pest und Schlafkrankheit. Gemeinsam mit Paul Ehrlich und mit Emil von Behring gelang es ihm, die antibakterielle Wirkung von Blutseren zu beweisen und auf vielfältige Weise therapeutisch einzusetzen.14 Zu den großen Ärzten im 19. Jh. gehörte auch Samuel Hahnemann (gest. 1843), der Begründer der homöopathischen Medizin. Er arbeitete mit dem Ähnlichkeitsprinzip im Prozess der Erkrankung und der Heilung und glaubte, dass durch kleine Dosen von chemischen Stoffen große Wirkungen im menschlichen Organismus ausgelöst werden können. Dem Budapester Mediziner Ignaz Semmelweis (gest. 1865) gelangen die Erkenntnis und die Eindämmung des Kindbettfiebers in den Krankenhäusern. Denn er fand heraus, dass dieses Fieber von den Ärzten aus ihrer Beschäftigung mit Leichen auf die gebärenden Frauen übertragen wurde. Daher sprach er vom „Leichengift“, das durch Desinfektionsmittel (Chlorkalk) abgetötet werden sollte. Wichtige Forschungen zur Zellbiologie stammen von Rudolf Virchow (gest. 1902), der sich lange Zeit mit pathologischer Anatomie beschäftigte. Dabei erforschte er die Zellen an Knorpel-, Knochen- und Bindegewebe, er befasste sich auch mit den Ursachen der Trichinose im Tierfleisch. Deswegen forderte er die geregelte ärztliche Fleischbeschau in allen Schlachthöfen, damit hat er erheblich zur Verbesserung der sozialmedizinischen Einrichtungen (z.B. Kanalisation) in den Städten beigetragen.15 Der Engländer Joseph Lister (gest. 1912) hat wichtige Anstöße zu den antiseptischen Operationen gegeben. Denn er untersuchte die entzündlichen Prozesse nach den chirurgischen Eingriffen, zuerst bei den Tieren, danach bei Menschen. Dabei erkannte er die tödliche Blutvergiftung durch Wundinfektionen (1860) und entwickelte zusammen mit Chemikern wirksame Mittel zur Desinfektion, nämlich Karbolsäure und Phenol. Robert Koch konnte 1882 den Tuberkelbazillus mittels Einfärbung isolieren, er hat auch viele Impulse für die Tropenmedizin gegeben. Emil von Behring (gest. 1917) erforschte den Erreger der Diphterie und entwickelte bereits Impfstoffe dagegen. Er hatte damit die Blutserumtherapie angestoßen, die auch gegen

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den Wundstarrkrampf angewendet wurde. Und Paul Ehrlich (gest. 1915) hatte im späten 19. Jh. die Vorarbeiten zur Serumstherapie und zur Chemotherapie gegen Syphilis geleistet.16

Einsichten der Astronomie und Mathematik In der Astronomie hatte Wilhelm Olbers (gest. 1840) die Beobachtung der Kometenbahnen verbessert und einige Planetoiden entdeckt. Dabei halfen ihm die Berechnungen des Mathematikers Carl Friedrich Gauss. Und Friedrich Wilhelm Bessel (gest. 1846) erarbeitete die Fundamente der Astronomie. Denn er konnte die jährliche Parallaxe eines Fixsternes mit Hilfe eines Heliometers nachweisen. Auch konnte er damit der Richtigkeit des heliozentrischen Planetensystems erstmals empirisch bestätigen. Franz Encke (gest. 1865) befasste sich mit der Bahnberechnung von Planetoiden und von Kometen. Damit stellte er die Kometenkunde auf eine neue Basis und verbesserte die bisherigen Sternenkarten. Der Engländer William Herschel (gest. 1871) beobachtete die Doppelsterne und entdeckte Nebelflecken und Sternenhaufen. Mit einem zwanzigfüßigen Reflektor verbesserte er die Beobachtungsmöglichkeiten, damit wurde die Erforschung der Milchstraße möglich. Er war auch ein Pionier der Stellarphotographie und ordnete Gestirne nach Helligkeitsklassen. Der Engländer Georges Airy (gest. 1892) beobachtete und beschrieb bereits Sonnenprotuberanzen und Sonnenflecken. Angelo Secchi (gest. 1878) arbeitete bereits mit der Spektralanalyse und wurde damit zu einem der Begründer der modernen Astrophysik. William Huggins (gest. 1910) gilt als Begründer der Sternenspektroskopie, er untersuchte den chemischen Aufbau der Sonnenoberfläche und wendete die Spektralanalyse auf das Licht der Fixsterne an. Und er beobachtete das Spektrum einer Nova und erkannte mehrere Wasserstofflinien. Außerdem erkannte er, dass die Verteilung des Lichtes gemäß dem Dopplerschen Effekt von Rot zu Violett uns Auskunft gibt über die Bewegung von Sternen.17 Benjamin Gould untersuchte vor allem den südlichen Sternenhimmel. Friedrich Zöllner verbesserte die photometrischen Untersuchungen und stellte die Astrophysik auf eine interdisziplinäre Basis. Norman Lookyer untersuchte Radialgeschwindigkeiten der Sonne, Sonnenfinsternisse und Protuberanzen, dabei entdeckte er das Element Helium. Hermann Carl Vogel verbesserte die Messungen der Helligkeitsverteilung in der Sonne und der Radialgeschwindigkeiten der Gestirne. Eduard Pickering gelang bereits die Klassifizierung der Fixsterne nach den Kriterien der Spektrallinien, und 1903 schuf er den ersten photographischen Sternenatlas.18 Auch die Mathematiker haben die naturwissenschaftliche Forschung stark vorangebracht. Wichtige Impulse stammen von Carl Friedrich Gauß (gest. 1855), der sich zunächst mit der Erforschung der Primzahlen befasste. In seinen Arithmetischen Abhandlungen untersuchte er die Theorie der Teilbarkeit mit Resten, sowie quadratische Polynome mit zwei Unbekannten. Seine Methode der kleinsten Quadrate spielt noch heute eine wichtige Rolle in der Statistik und Numerik. Später stellte

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Naturwissenschaften und Technik

er astronomische Berechnungen an und entwickelte eine Theorie der elliptischen Funktionen. Zur Erforschung des Erdmagnetismus entwickelte er ein Magnetometer. Wichtig war ihm die Entwicklung der Nicht-Euklidischen Geometrie, er befasste sich mit der Berechnung von gekrümmten Flächen und mit Problemen des Dimensionenwechsels in der Geometrie. Schließlich wollte er die Widerspruchlosigkeit der Nicht-Euklidischen Geometrie beweisen.19 Der Franzose Augustin Louis Caudy (gest. 1857) bemühte sich um die Verbesserung der mathematischen Analysis, mit Fragen des Grenzwertes, der Stetigkeit, der Ableitung und des Integrals. Den Begriff der Funktion wollte er präzise fassen. Schließlich befasste er sich mit Fragen der Himmelsmechanik, der Wellenausbreitung und der Elektrizitätstheorie, aber auch mit der Ausarbeitung von Differentialgleichungen. Viele mathematische Formeln tragen bis heute den Namen dieses Forschers. Carl Gustav Jacobi befasste sich mit Oberflächen und mit Kurven der doppelten Krümmung, mit Zahlentheorien und mit elliptischen Funktionen. Auch arbeitete er an partiellen und an dynamischen Differentialgleichungen.20 Ein großer Anreger der mathematischen Forschung war der Norweger Niels Henrik Abel (gest. 1829). Ihm gelang der Beweis der Unmöglichkeit der Auflösung einer allgemeinen Gleichung durch Wurzeln. Später arbeitete er über elliptische Integrale, über transzendente Funktionen und über die Theorie des Integrals. Der Franzose Evariste Galois (gest. 1832) befasste sich mit der Auflösungstheorie algebraischer Gleichungen. Der Schotte William Hamilton (gest. 1865) arbeitete an der Berechnung von Wellengleichungen und von Wellenbrechungen, an komplexen Zahlen im dreidimensionalen Raum, sowie an der Theorie von dynamischen Prozessen. Damit leistete er wichtige Vorarbeiten für die spätere Quantentheorie und Quantenmechanik. Der Belgier Lejeune Dirichlet (gest. 1859) veröffentlichte Arbeiten zur Analytischen Zahlentheorie und zu den Konvergenzbedingungen für trigonometrische Reihen. Ernst Kummer (gest. 1893) erstellte eine Funktionstheorie und erweiterte die Theorie der Hypergeometrischen Reihen von Gauß. Arthur Carley (gest. 1895) arbeitete mit James Sylvester an einer Invarianztheorie und einer Geometrie beliebig dimensionaler Räume, sowie an der Berechnung von elliptischen Funktionen. Beide haben damit die wichtigen Vorarbeiten für Albert Einsteins Relativitätstheorie geleistet.21 Karl Weinstraß (gest. 1897) verfasste Arbeiten zur Lösung des Jacobischen Umkehrproblems, eine Einleitung in die Theorie der analytischen Funktionen, sowie Studien zu elliptischen Funktionen und zu den Abelschen Funktionen. Ihm gelang der axiomatische Aufbau einer Infinitesimalrechnung. Der Russe Pafnuti Tschebyschew (gest. 1894) arbeitete über Zahlentheorien und Wahrscheinlichkeitsberechnungen, über orthogonale Polynomie sowie über die Integration elliptischer Funktionen. Sein besonderes Interesse galt dem angewandten Maschinenbau und den Gesetzen der Mechanik. Über Probleme der Approximation und der Interpolation, über Polynomie und Differentialgleichungen, über Interpolationsformeln und quadratische Formeln arbeitete der Franzose Charles Hermite (gest. 1901). Und Leopold Kronecker befasste sich mit Zahlentheorien, mit elliptischen Funktionen, mit Fragen der Algebra und

Naturwissenschaften und Technik

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mit Theorien der Determinanten. Seine Theorie über Zahlen und über Algebra, sowie über trigonometrische Reihen wurde später vielfältig weiterentwickelt.22 Wichtige Werke über trigonometrische Reihen und über die Berechnung von Nullstellen der Zeta-Funktionen stammen von Georg Riemann (gest. 1866). Und Julius Dedekind (gest. 1916) hat die Erkenntnisse über Wahrscheinlichkeitstheorien, über Differentialtheorien und über partielle Differentialgleichungen weiterentwickelt. Der Norweger Sophus Lie (gest. 1899) befasste sich mit Transformationen von Geraden und von Kugeln, sowie mit Differentialgleichungen. Damit leistete die Mathematik einen wichtigen Beitrag zu den Erkenntnissen der Naturwissenschaften in vielen Bereichen.23 So war das ganze 19. Jh. stark von den Erkenntnissen der Naturwissenschaften geprägt. Deswegen folgten viele der wissenschaftlich Gebildeten einer materialisti­ schen oder positivistischen Weltdeutung, auch wenn ihnen die Schulphilosophie idealistische und metaphysische Weltbilder entgegensetzte. Die biologische For­schung weitete den Blick auf die Vielzahl der Lebewesen, auch auf die Verwandtschaft der Menschen mit den höheren Tieren. Durch die Erfindungen der Dampfmaschine, der Eisenbahn, der Elektromotoren und des Benzinantriebs wurde neue Formen des Verkehrs und der Transporte möglich. Durch die Verbindung von Eisen, Stahl und Beton konnten ganz neue Bauwerke geschaffen werden, es wurden neue Verkehrs­ wege erschlossen. Der Schiffbau ermöglichte den Transport großer Gütermengen auf den Weltmeeren. Aber die naturwissenschaftlichen Erkenntnisse und technischen Erfindungen wurden sehr bald auch für die militärische Rüstung und für die Kriegführung ein­ gesetzt. Viele dieser Forschungen und Neuerungen wurden durch den militärischen Einsatz vorangetrieben. Es wurden Kampfmaschinen, Kriegsgeräte und Sprengstoffe entwickelt, die ungeheure Zerstörungskraft in sich trugen. Die Tragik lag nun darin, dass sich die politischen Entscheidungsträger dieser Zeit diese Zerstörkarft nicht realistisch vorstellen konnten. Im Kontext nationalistischer und imperialistischer Ideologien konnten diese neuen Kriegswaffen unvorstellbare Kriege zur Folge haben. Erst im militärischen Einsatz erkennen wir die Ambivalenz der naturwissenschaftlichen Forschung und Hochtechnologie. Die europäische Politik verstand es nicht, mit diesen Kampfmitteln auf vernünftige und verantwortungsvolle Weise umzugehen. Allein einige Dichter und Künstler haben die destruktiven Folgewirkungen dieser technischen Erfindungen geahnt und beklagt.

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Die Kultur der 19. Jh. wurde bei den Gebildeten auch stark von der Literatur und Dichtkunst mitgeprägt. Viele Dichter waren zu dieser Zeit sensible Zeitgenossen, welche einige Grundstimmungen in Teilen der Gesellschaft zum Ausdruck brachten und damit verstärkten. Einige von ihnen folgten philosophischen Ideen, andere machten auf Problemsituationen der Zeit aufmerksam. Die Rezipienten der Literatur waren vor allem die Aristokraten und die Bürgerlichen, aber kaum Bauern und Arbeiter. Die Lebenswelt der unteren sozialen Schichten kam erst in der zweiten Hälfte des Jh. in das Blickfeld der Literaten. Zu dieser Zeit trennte sich bereits die bürgerliche „Hochkultur“ immer deutlicher von der volkstümlichen und trivialen Literatur, die von einer breiten Leserschaft im Volk rezipiert wurde.1

Kognitive und emotionale Orientierungen Zu Beginn des Jh. wirkte in Weimar ein Dichterkreis um Johann Wolfgang von Goethe (gest. 1832) und Friedrich Schiller (gest. 1805), die das Maß ihrer Kunst vor allem in der griechischen und römischen Antike suchten. F. Schiller hatte gesagt, die Griechen hätten ihre Götter als edle Menschen gestaltet und sie wollten das Menschliche dem Göttlichen annähern. Diese Dichter der „Klassik“ wollten Erotik und Sinnlichkeit im Leben neu bewerten und diese mit Sittlichkeit und Humanität verbinden. Denn sie waren überzeugt, dass aus dem Erleben der Schönheit in der Welt auch die gesellschaftliche Freiheit des Einzelnen ständig wachsen werde. So stellte J.W. von Goethe in seinem „Faust“ die tiefe Dramatik des menschlichen Lebens dar, das nicht allein von der aufrechten Vernunft geleitet werde. Doch der Autor glaubte an einen möglichen Ausgleich zwischen den rationalen Strebungen und den emotionalen Tiefenschichten in jedem Menschen. Denn immer ringen in uns das Göttliche und das Teuflische, aber kein Mensch muss schicksalhaft den Weg der Unvernunft und der Zerstörung gehen.2 Die klassische deutsche Dichtung im engeren Sinn umfasste den Dichterkreis, der sich am Fürstenhof von Weimar versammelt hatte. Auf selbständige Weise sollte dort die Kultur der Griechen und Römer in einer veränderten Zeit auf neue Weise angeeignet werden. Sie sollte mit den Lebensproblemen einer neuen Gesellschaft verbunden werden. Gesucht wurden die stille Einfalt und die edle Größe der anti-

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ken Vorbilder, in der Sprache des Göttlichen sollte das menschliche Dasein erhellt werden. Die Sinnlichkeit des Körpers sollte mit der Sittlichkeit der Seele verbunden werden. Gesucht wurde auch die neue Menschlichkeit, die sich in der Schönheit des Lebens und in der Freiheit des Geistes verwirklicht. Durch das Drama und die Tragödie sollten moralische und soziale Lernprozesse in der Gesellschaft möglich werden. Die späteren Rezipienten überhöhten diese klassische Kunst für das Bürgertum und den Adel, während sozialistische Denker und Dichter die Klassik kritisierten, weil sie das Leben der Bauern und der arbeitenden Menschen gar nicht in den Blick brachte. Doch die Dichter der „Romantik“ suchten nicht mehr die harmonische und ganzheitliche Sichtweise des Lebens wie die Klassiker, sie artikulierten auch die Brüche und Fragmente, die Gegensätze und die Entzweiungen. Viele von ihnen litten unter dem Zwiespalt von erlebtem Endlichen und von ersehntem Unendlichen, unter dem Riss zwischen der Außenwelt und ihrer Innenwelt, unter der Trennung von Geist und Natur. Sie zeigten ihre starke Sensibilität für das Fremde und Ferne, für den Traum und die Dämmerung, für das Vor- und Unbewusste. Daher verabschiedeten sie sich von der Schönheit der ewigen Ordnung und des festen Maßes, sie zeigten Sympathie für die Abgründen des Lebens. Sie nahmen auch das Lebensfeindliche und Kranke in ihr Blickfeld, denn für sie war das Leben immer ein Werdeprozess und ein unvollendeter Zustand. Ihre Sehnsucht richtete sich oft nach dem Unendlichen und Ewigen, viele dachten dabei an die aktive „Selbstsetzung der Ich“ (J.G. Fichte). Oder sie sahen im Sinne von F.W.J. Schelling die gesamte Natur als beseelt und als „schlummernden Geist“. Daher verbanden sie die mythische Weltdeutung mit einer realen Welterfahrung und kombinierten heteronome Elemente zu neuen Einheiten. Wichtig war ihnen das subjektive Erleben, die Poesie sollte aus dem vollen Leben und aus der Gesellschaft kommen, ja sie sollte die ganze Lebenswelt poetisch werden lassen. Wichtiger als das Festhalten an moralischen Konventionen war ihnen das ursprüngliche Erleben von Natur, dabei wurden von den Männern die Frauen und Kinder in eine besondere Nähe zu dieser allmächtigen Natur gerückt. Das individuelle Leben und die kleinen Gemeinschaften sollten als „Kunstwerke“ gestaltet werden. In diesen Freundeskreisen spielten Frauen (Caroline Schelling, Bettina von Arnim, Dorothea Schlegel, Rahel Varnhagen) eine gestaltende Rolle. Die frei schwebende Intelligenz sollte aber bald wieder eingebettet werden in das Ganze des Volkes, des Staates und der Kirche.3 Die Träger des literarischen Schaffens und die Rezipienten dieser Literatur waren vor allem aristokratische und bürgerliche Kreise der Gesellschaft. Viele Dichter waren philosophisch gebildet, sie orientierten sich an bestimmten Denkmodellen, am deutschen Idealismus, am französischen Positivismus, am englischen Utilitarismus, an der pessimistischen Weltsicht A. Schopenhauers oder an der Kulturkritik von F. Nietzsche. Die Wertschätzung der Dichtkunst verbreitete sich vor allem in den Städten, dort wurden große Bibliotheken und Lesehallen eingerichtet. Die Kunst wurde als Form der Lebenskultur und als Sinngebung des Lebens verstanden. Für Heinrich Heine waren die Götter von den Menschen längst weggegangen, nun müssten die

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Menschen ihr Leben selbst gestalten. Doch Friedrich Hölderlin sehnte sich ein Leben lang nach den Göttern der Griechen zurück. Und G.W.F. Hegel war überzeugt, dass die Kunst immer die große „Idee“ zum Vorschein bringe. Die Kunst des Biedermeier wollte daher die Welt der ewigen Ideen wieder mit der realen Lebenswelt verbinden.4 Mit Sören Kierkegaard kamen existentialistische Impulse in die Literatur, das kritische Denken der rationalen Aufklärung wurde weithin verabschiedet. In der Folge ging es bei vielen Dichtern wieder um das Ringen mit einer „Erbsünde“, um das Erleben von Verzweiflung und von Angst vor dem Tod, um ein „Sein zum Tode“. Andere Literaten rangen um die Dynamik zwischen dem freien Individuum und den neuen Zwängen der Gesellschaft, die immer mehr von Wissenschaft und Technik bestimmt wurde. Am Ende des Jh. wurden die Erfahrungen des Tragischen und der Sinnlosigkeit besonders intensiv thematisiert, die Angst vor der Dekadenz der Kultur, vor die Umwertung der bisherigen Lebenswerte. Doch auch die Dichter der Romantik veränderten ihren Horizont der Erfahrung, sie thematisierten die Erinnerung an das Leiden vieler Menschen, sie trauerten über die vielen Auszüge aus dem „Palast“ der schönen Künste (Alfred Tennyson) und sie sprachen von der Unwiederbringlichkeit des reinen Schönen in einer Welt der Technik und der Industrie.5 Die innere Zerrissenheit vieler sensibler Zeitgenossen thematisierten am Ende des Jh. vor allem Stefan George und Hugo von Hofmannsthal. Ab der Mitte des Jh. wurde in der bürgerlichen Literatur auch die schwierige Situation der Arbeiter und der Bauern wahrgenommen und zum Ausdruck gebracht. So stellte Victor Hugo (Les miserables, 1862) die harten Lebensbedingungen der Arbeiter in den Fabriken dar. Und Charles Dickens hatte schon früh (Oliver Twist, 1838) auf die unerträgliche Kinderarbeit, auf das Massenelend und den Hunger der Ärmsten aufmerksam gemacht. Emile Zola hatte in seinem Roman „Die Schnapsbude“ (L´assomoir, 1877) die harten Lebensbedingungen in den Vorstädten von Paris beschrieben. Unter den deutschen Dichtern hat Gerhard Hauptmann diese leidvollen Erfahrungen dargestellt (Die Weber, 1892; Vor Sonnenaufgang, 1889). Daher wurden im Deutschen Reich ab 1872 „Bildungsvereine für Arbeiter“ gegründet, um auch die arbeitenden Menschen an der Kultur teilhaben zu lassen.6 Das Ziel dieser Bemühungen war, für die Arbeiter durch Alphabetisierung und Bildung die beruflichen Möglichkeiten zu verbessern und den Lebensstandard zu heben. Franz Mehring war einer der ersten, der die Arbeiterbildung aktiv gefördert und literarisch beschrieben hat.7. August Bebel, Moritz Bromme und Nikolaus Osterroth haben bereits Lebensgeschichten von Arbeitern verfasst. Und Ferdinand Lassalle hatte in der historischen Tragödie „Franz von Sickingen“ (1859) das harte Schicksal von Arbeitern auf die Bühne gebracht. Dasselbe gelang etwas später auch J.B. Schweitzer.8 Und August Kappel verfasste den Zweiakter „Max Hirschkuh oder das Amt des Heuchlers“ (1872). Von Otto Walster stammt das Theaterstück „Ein verunglückter Agitator“ (1874), Max Kegel schrieb „Die Tochter des Staatsanwalts“ (1876) und Emil Rosenow verfasste das Drama „Die im Schatten leben“ (1899). Doch durch die Sozialistengesetze des Otto von Bismarck wurde das literarische Schaffen der Arbeitervereine deutlich behindert.9

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Im Lauf des Jh. übernahmen literarische Zeitungen, Zeitschriften und Karikaturen eine gesellschaftskritische Rolle, die aber von der staatlichen Zensur ständig kontrolliert wurden. Doch die Satire und die Karikatur waren wichtige Medien, um auf Problemfelder der Zeit aufmerksam zu machen.10 Die politische Lyrik wurde vor allem im bürgerlichen Milieu verbreitet. So war Heinrich Heine (Deutschland. Ein Wintermärchen) ein Meister des politischen Gedichts, in dem er liberale Gesetze und humane Lebensformen für alle Bürger forderte. Aber bald wählten auch die nationalen Dichter das Gedicht und das Volkslied, um vaterländische Ideen und Werte zu verbreiten. So bekam das politische Gedicht unterschiedliche, ja oft konträre Inhalte, denn es wurde von Liberalen, von Nationalisten, von Imperialisten, von Sozialisten und von Antisemiten sehr effektiv eingesetzt.11 Die großen Romane der Zeit können als symbolische Darstellung und Spiegelung von Teilen der bürgerlichen und der aristokratischen Gesellschaft gesehen werden. Immer ging es auch darum, politische und kulturelle Lernprozesse anzuregen und einzuleiten.12 Im letzten Drittel des Jh. entstanden viele populäre Erzählungen und Trivialromane, sie verabschiedeten sich von den hohen literarischen Zielvorgaben. Volksbücher und Volkskalender konnten in den Bibliotheken der Städte und Märkte gelesen werden. Große Verbreitung fanden bürgerliche Feuilletonromane (z.B. Eugene Sue), die in den Familienzeitschriften abgedruckt wurden (z.B. Eugenie Marlitt). Karl May war ein Meister des fiktiven Romans über fremde Völker und Länder. In Nordamerika wurden Romane in kleinen Heften und Taschenbüchern verlegt (Nick Carter). In den deutschen Ländern erreichten die Romane von Hedwig Courths-Mahler große Auflagen.13 Ein großes literarisches Thema war der befürchtete oder real erlebte kulturelle „Niedergang“ (Dekadenz, decadence), der Abstieg im Bereich der Moral, des Lebensstils und der Lebenswelt. Folglich suchten viele Literaten und Künstler eine geistige Gegenbewegung zum stetigen Fortschritt der Naturwissenschaften, der Technik und der Wirtschaft. Oft waren es sensible Außenseiter, die große Angst vor den zerstörenden Potentialen der modernen Technik intensiv erlebten. Zuerst wurde die Dekadenz nur auf die Kultur der römischen Antike bezogen, bald aber auch auf tatsächliche oder vermeintliche Fehlentwicklungen der Gegenwart. Die Konservativen unterstellten den Liberalen, zum Niedergang der Sitten beizutragen, die Antisemiten machten die Juden für den Niedergang der gesamten Kultur verantwortlich. Die Adeligen und Teile der Bürgerlich hatten starke Angst vor dem sozialen Aufstieg der unteren sozialen Schichte und dem eigenen Abstieg. In Paris wurde 1886 die Zeitschrift „Le decadent“ gegründet, sie kritisierte den neuen Kapitalismus der Industrieunternehmer und die fortschreitende Zerstörung der Natur. Max Nordau verfasste bereits 1892 ein Buch über die „Entartung“ der Kunst. Kritische Denker der Dekadenz waren Henri Amiel und Marie Bashkirtseff. Aus dem Gefühl des notwendigen Scheiterns und der Vergeblichkeit aller Anstrengung wurde die Gestalt des „Dandy“ geschaffen, der auf egozentrische Weise sein

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Leben genießt. H. Bangs schrieb über die „Hoffnungslosen Geschlechter“ (1880), denn auch die erotischen Beziehungen zwischen den Geschlechtern wurden als fragil erlebt. Okkulte Bewegungen sollten haltlos Gewordene sammeln, von der „Synagoge Satans“ war die Rede.14 Große Vordenker der möglichen und der tatsächlichen Dekadenz waren auch Jakob Burckhardt und Friedrich Nietzsche. Der erste sah den politischen Niedergang im Kampf zwischen dem Despotismus und der Demokratie, der zweite wollte die allgemeine Sinnlosigkeit des Daseins durch den „Willen zur Macht“ und zur Herrschaft überwinden.15

Themen der deutschen Literatur Nach dem Wirken der Klassiker und der Romantiker gewann der bürgerliche Bildungsroman an Bedeutung. Darin wurden volkstümliche Erzählungen oder wundersame Geschichten verbreitet. Jean Paul (gest. 1825) schrieb gegen das Gefühl der Einsamkeit, gegen die Abschiede von letzten Sicherheiten, gegen die Angst vor dem totalen Nichts (Rede des toten Christus vom Weltgebäude, dass kein Gott sei). Friedrich Schlegel (gest. 1829) wagte es in seinem Roman „Lucinde“, das erotische Begehren der Geschlechter von den Vorgaben der herkömmlichen kirchlichen und bürgerlichen Moral zu befreien. E.T.A. Hofmann (gest. 1822) ging in seinen Fantasieerzählungen dem Mysteriösen, dem Geheimnisvollen, dem Spuk und dem Grausen nach. Das starke Gerechtigkeitsgefühl des Einzelnen thematisierte Heinrich von Kleist (gest. 1811) in seinem „Michael Kohlhaas“. Er brachte die starke Spannung zwischen Tragik und Humor, aber auch zwischen der Klassik und der Romantik auf die Bühne. Und J. von Eichendorff trauerte auf intensive und melancholische Weise der angeblich schönen Welt in der vorindustriellen Zeit nach.16 Im Werk von Franz Grillparzer (gest. 1872) erkennen wir deutlich das Ringen zwischen dem liberalen und dem konservativen Denken, aber schließlich siegte die Angst vor zuviel Freiheit in der Lebensgestaltung. Die Lebenswelt der Bauern und der Dörfer beschrieb Jeremias Gotthelf (gest. 1854), der das mythische und magische Denken der wenig Gebildeten darstellte. Heinrich Heine (gest. 1856) kämpfte sein Leben lang um mehr politische und persönliche Liberalität, er sehnte sich nach demokratischen Lebensformen, doch er wusste um seine „Poesie der Ohnmacht“. Nikolaus Lenau (gest. 1850) litt am „Weltschmerz“ vieler Romantiker und an den vielen Disharmonien der neuen bürgerlichen und industriellen Lebenswelt. Die biedermeierliche Beschaulichkeit mit Wehmut und Humor beschrieb Eduard Mörike (gest. 1875), der sich stark mit der Religion verbunden wusste. Adalbert Stifter erwies sich als ein Meister der Naturromantik, er beschrieb das kleine Leben in der Stille und politischen Zurückgezogenheit. Aber als Protest gegen die politische Staatsräson schrieb Friedrich Hebbel (gest. 1863) seine „Agnes Bernauer“, die den Intentionen des Adels geopfert wurde. Ein stark politischer Dichter war Georg Büchner (gest. 1837), der Bruder von Ludwig Büchner, der ein begeistertes revolutionäres Manifest (Der hessische Landbote) verbreitete. In „Dantons Tod“ deutete er das Scheitern der Revolution in Frankreich als ein blindes Schicksal der Geschichte.17

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Der Schweizer Gottfried Keller (gest. 1890) engagierte sich politisch gegen die reaktionären „Finsterlinge“ in der Kirche, der Wirtschaft, der Politik und der Gesellschaft. Er zeigte, dass sich widersprüchliche Situationen aber mit Humor ertragen und gestalten lassen. Scharfe Kritik an der aristokratischen Gesellschaft übte Theo­ dor Fontane (gest. 1898) mit seinem Roman „Effi Briest“. Der Schweizer Conrad Ferdinand Meyer erinnerte an den heldenhaften Freiheitskampf in Graubünden und träumte von einer sinnlichen Lebenswelt (Huttens letzte Tage). Frank Wedekind plädierte im „Frühlingserwachen“ für mehr Aufklärung und Freiheit im Bereich der sexuellen Beziehungen zwischen den Geschlechtern. Er wollte der Urkraft des Lebens auch in der Kultur und Gesellschaft wieder stärker zum Durchbruch verhelfen.18

Themenkreise der romanischen Literatur Die romanischen Länder Frankreich, Italien, Spanien und Portugal, besonders aber Rumänien hatten im 19. Jh. sehr unterschiedliche politische Entwicklungen, die sich auch in der Literatur dieser Sprachen und Völker spiegeln. Einen starken Individualismus in der Lebensgestaltung vertrat der Franzose Stendahl (Henri Beyle, gest. 1842) in seinem Roman „Rot und Schwarz“ (Le rouge et le noir). Darin analysierte er mit kritischer Sichtweise die bürgerliche Gesellschaft seiner Zeit und plädierte für den genialen Menschen, der den Mitmenschen an Leidenschaft, an Lebensenergie und an Willensstärke weit überlegen sei. In Napoleon sah er diesen überlegenen Menschen, der aber von den vielen Mittelmäßigen gestürzt worden sei. Der Italiener Alessandro Manzoni (gest. 1873) schuf mit seinen „Verlobten“ (I promessi sposi) ein Meistwerk der italienischen Literatur. Denn er wollte eine nationale Geschichte Italiens auf der Basis der christlichen Moral verfassen und verbreiten. Als Leiter einer Kommission für Sprachpolitik war er auch an der Schaffung der italienischen Hochsprache entscheidend beteiligt.19 Der Franzose Honore de Balzac (gest. 1850) wollte mit seiner „Menschlichen Komödie“ (La comedie humaine) der bürgerlichen Gesellschaft den scharfen Spiegel vor die blinden Augen halten. Er erkannte bereits sehr früh die wirtschaftliche und politische Macht der Börse (La Bourse) und die Bedeutung von Geld und Kapital in der neuen Zeitlage. Daher schrieb er über verlorene Illusionen einer vergangenen Zeit, über das Leben der Kurtisanen in Paris, über Schurken und politische Rebellen. Doch er selbst folgte einem sehr konservativen und katholischen Lebensprogramm der Monarchie. Viel gelesene Abenteuerromane verfasste Alexandre Dumas der Ältere (gest. 1870), z.B. „Der Graf von Monte Cristo“ und „Die drei Musketiere“. Auch er erkannte zu Beginn des Industriezeitalters die verführerische Macht des Geldes und den gnadenlosen Konkurrenzkampf im aufsteigenden Bürgertum. Sein Sohn Alexandre Dumas der Jüngere schrieb die „Kameliendame“ (1852), die der Oper „La Traviata“ von G. Verdi als literarische Vorlage diente.20 Victor Hugo (gest. 1885) folgte lange Zeit romantischen Ideen und Lebenswerten (Der Glöckner von Notre Dame), doch er erkannte früh das soziale Elend der Arbeiter

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und der Bauern (Les Miserables, 1862). Deswegen engagierte er sich politisch und stand nach 1848 auf der Seite der Republikaner. Dabei folgte er einer apokalyptischen Weltdeutung, denn er sah sich selbst als die „singende Seele“ der Menschheit. In Frankreich gilt er als leidenschaftlicher Verteidiger der Unterdrückten und der Opfer der staatlichen Justiz. Zu den frühen Symbolisten in Frankreich zählte Charles Baudelaire (gest. 1867), der in seinen Werken zwischen tiefer Lebenslust und starkem Überdruss am Leben hin und hergerissen war. Sehr scharf erkannte er die schleichende Morbidität und die mögliche Selbstzerstörung im hedonistischen Lebensstil. Deswegen stellte er das viele Hässliche in der Großstadt auf ästhetische Weise dar. Er schrieb über die „Künstlichen Paradiese“ der Drogensüchtigen und der Dandys, denn sie pendeln zwischen tiefer Spiritualität und animalischen Trieben (Les fleurs du mal, 1857). Der Tod aber sei der letzte Ausweg für den innerlich zerrissenen Lustmenschen.21 Sehr realistische Romane schrieb Gustave Flaubert (gest. 1880), vor allem „Madame Bovary“ und „L´education sentimentale“. Er bemühte sich, in seinen Erzählungen die Position des unparteilichen Beobachters einzunehmen. Als Sohn eines Chirurgen hatte er das Leiden und Sterben vieler Menschen gesehen und hautnah miterlebt. Für ihn verkörpert die Ehebrecherin Madame Bovary die wilde Sinnlichkeit und zugleich die tiefe Sehnsucht nach emotionaler Geborgenheit. Der Autor selbst betrachtete seine „Lehrjahre der Gefühle“ als sein Meisterwerk, darin beschreibt er mit viel Genauigkeit die emotionalen Vorgänge in den Tiefenschichten der Seele. Jules Verne (gest. 1905) gilt als der Begründer der Science-Fiction-Literatur, denn er verfasste viele fiktive Reisen zu fernen Orten, zum Mittelpunkt der Erde oder rund um die ganze Welt oder einen Aufenthalt am Meeresgrund. Da er gut technisch gebildet war, glaubte er fest an die Nützlichkeit der modernen Technologie, insgesamt verband er Abenteuerlust mit tiefem Humor. So war er einer der am meisten gelesenen Autoren seiner Zeit, viele seiner Romane wurden später verfilmt.22 Einer naturalistischen Sichtweise der Welt (verismo) folgte der Italiener Giovanni Verga (gest. 1922). Er hatte zuerst romantische Ideen verbreitet (Die Verlobten, 1842), später wandte er sich nationalistischen Zielen der Dichtkunst zu (Sizilianische Novelle, 1890; Die Besiegten, 1894; Die Malavoglias, 1889). Sein Werk „Cavalleria rusticana“ (1880) wurde zehn Jahre später von Pietro Mascagni zu einer Oper vertont. Ein gewichtiger Vertreter des französischen Naturalismus war Emile Zola (gest. 1902), er wollte in seinen Dichtungen zugleich Beobachter und Experimentator sein (Le roman experimental, 1879). In seinem Roman-Zyklus „Rougon-Macquart“ (1871) beschrieb er das Milieu der Arbeiter, aber auch die liberalen Bestrebungen im Bürgertum. In seinem Land sah er die Gesellschaft in Liberale und in Konservative zerrissen, es gab kaum eine verbindende ideelle Dynamik. Eindrucksvoll beschrieb er das Leben der Freudenmädchen und Kurtisanen im bürgerlichen Milieu (Nana, 1880), aber auch das harte und gefährliche Leben der Bergarbeiter (Germinal, 1885). Persönlich war er stark von naturwissenschaftlichen und positivistischen Ideen geprägt, aber er wusste auch um die wilde „Bestie im Menschen“ (1890).

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Einer symbolistischen Theorie der Dichtkunst folgte Stephane Mallarme (gest. 1898), dem der Seelenzustand der Leser wichtig war. Er glaubte, dass durch die Symbolsprache der Kunst beim Leser bestimmte Seelenzustände ausgelöst und verstärkt werden könnten. Die Sprache habe immer eine suggestive Wirkung, sie bewege sich aber immer auf ideelle Wirklichkeiten hin. Für einen Kreis von Eingeweihten könne die Dichtkunst sogar erlösende Kraft und Wirkung haben.23 Der Sichtweise der Symbolisten folgte auch Paul Verlaine (gest. 1896), der vor allem den dekadenten Luxus der bürgerlichen Gesellschaft und den Niedergang der Moral und der Kultur darstellen wollte. In einer solchen Zeit habe der Dichter priesterliche Aufgaben, er müsse sich dem Verfallenden und dem Vergehenden mit aller Kraft widersetzen. Die Figuren des Niedergangs waren für ihn der Pierrot, der Harlekin und die femme fatale Salome. In seiner kraftvollen Sprache drückte er aber viel Traurigkeit über das Verlorene aus (Einst und Jüngst, 1885; Die Galanten Feste, 1869; Lieder ohne Worte, 1874). Arthure Rimbaud (gest. 1891) war mit Paul Verlaine eng verbunden, auch er suchte in aller Vergänglichkeit nach letzten Wahrheiten hinter der empirischen Welt. Die Seefahrt war für ihn ein starkes Symbol für die Dynamik des menschlichen Lebens (Das trunkene Schiff, 1883). Jeder heldenhafte Mensch habe eine tiefe Sehnsucht nach Freiheit und nach der Ekstase, denn er wolle seine engen Grenzen sprengen (Les Illuminations, 1886). Der Dichter müsse als Prophet und Seher das wahre Sein des Menschen erkennen, doch dabei drohe ihm oft der Verlust der Sprache. Denn das tief Geschaute könne in der Sprache nicht mehr ausgedrückt werden (Eine Zeit in der Hölle, 1873).24 In Spanien und den davon kulturell abhängigen Ländern in Lateinamerika war die literarische Bewegung des „Costumbrismo“ lange Zeit bestimmend. Sie war eng mit den Vorstellungen der Romantik und des philosophischen Idealismus verbunden. Wir erkennen aber in vielen Ländern eine deutliche Demokratisierung der Literatur, denn neben dem Adel und dem Bürgertum kamen die Bauern, die Industriearbeiter und die Landarbeiter immer mehr in das Blickfeld der Dichter. In allen Ländern des Kontinents wurden Elemente der Volkskultur literarisch verarbeitet, stark war aber noch die Erinnerung an die Zeit der großen Helden der Vergangenheit. Sowohl im Roman als auch im Drama wurden philosophische und psychologische Ideen verarbeitet und weitergegeben. So entstand auch frühzeitig eine republikanische und sozialdemokratische Literatur, sie spiegelte die neue Pluralität einer dynamischen Gesellschaft. Wichtige Autoren waren: Restif de la Bretonne, Etienne de Jouy, Jules Janin, Ramon de Mesonero Romanos, Jose Clavigo y Fajardo, Jose Caruero, Serafin Estebanez, Antonio Flores, Jose de Freixas, Domingo Sarmiento, Luis Alberto Sanchez. Thematisiert wurden in der Dichtung auch die neuen Erkenntnisse der Naturwissenschaften, die technischen Neuerungen, die gesellschaftlichen und politischen Veränderungen, sowie die Vielfalt der Lebensformen und der Weltdeutungen.25

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England, Amerika, Skandinavien Der Engländer William Blake (gest. 1827) verstand sich selbst als romantischer Visionär, der die tiefen Geheimnisse des Lebens und des Kosmos erkunden wollte. Er wollte die Kräfte des Universums mit dem menschlichen Streben nach Freiheit der Lebensgestaltung verbinden. Daher erschuf er sich seine eigenen Mythen und ging den Tiefenschichten der menschlichen Seele nach. In seinen „Liedern der Unschuld“ träumte er davon, dass eine friedvolle Zeit kommen werde, in der das Lamm und der Tiger zusammenleben werden. Der Dichter sei ein Sänger und Prophet des Ursprünglichen, er verbinde immer das sinnliche Streben mit dem geistigen Erkennen. Sein stärkstes Symbol war der „brennende Tiger“. Zu seinen großen Werken zählen: „Milton“ (1809) und „Jerusalem“ (1820). Dieser kreative und mystische Autor hatte noch starken Einfluss auf die Lebensform der „Blumenkinder“ im 20. Jh. in England und in Nordamerika. Sir Walter Scott (gest. 1832) prägte den historischen Roman (Waverly, 1814), denn er war davon überzeugt, dass er mit seinen literarischen Werken einen Einfluss auf die weitere politische Entwicklung des Landes ausüben könne. So beschrieb er einen Aufstand in Schottland, das Ringen der Amerikaner um ihre Unabhängigkeit oder die Ereignisse der Französischen Revolution. Zu seinen großen Werken zählt die „Braut von Lammermoor“ (1819), „Das Fräulein vom See“ (1810) und „Graf Robert von Paris“ (1832).26 Die Autorin Jane Austen (gest. 1817) zeichnete in ihren Werken große Frauengestalten der Weltliteratur: Emma Woodhouse (Emma, 1816), Fanny Price (Mansfield Park, 1814), Elizabeth Bennet (Pride and Prejudice, 1813). Dabei thematisierte sie das Leben der bürgerlichen Frauen und ihr zaghaftes Suchen nach Lebensglück und Selbstverwirklichung. Sie schrieb über Vernunft und Sinnlichkeit, über Herzensbildung und Einfühlungsvermögen, über den Stolz und die unbegründeten Vorurteile im täglichen Leben. Als Erzählerin aus kleinen Lebenswelten gab die Autorin tiefe Einblicke in die Gefühlswelt starker Frauen. George Lord Byron (gest. 1824) gilt als prägender Dichter der englischen Romantik, in vielen Versepen und Dramen brachte er den Schmerz über den Verlust der alten Lebenswelt zum Ausdruck. So verband er in seinen Dichtungen immer die reale Wirklichkeit mit erträumten und ersehnten Fiktionen. In der Moral engagierte er sich für die freien Beziehungen zwischen den Geschlechtern, mit Gleichgesinnten schloss er sich zu „Satanischen Schulen“ zusammen, wo freie Erotik erlebt wurde. Seine Helden aber sind ruhelose Wanderer zwischen der Verzweiflung am Leben und der wilden Tatkraft (Manfred, 1817; Cain, 1821; Don Juan, 1824). Auch Mary Shelley (gest. 1824) war eng mit der Lebenskunst der Romantik verbunden, sie beklagte den übertriebenen Stolz vieler reicher Menschen, aber auch die drohende Vereinsamung in der Gesellschaft. Die Wissenschaftler aller Richtungen rief sie zur sozialen Verantwortung auf. Bekannt wurde sie durch ihren Schauerroman „Frankenstein“ (1818), der zuerst anonym erschien. Frankenstein ist der Typ des modernen Wissenschaftlers, der nach absoluter Freiheit und Selbstbestimmung

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sucht. Wie ein moderner Prometheus tritt er den Göttern als selbstbewusster Rebell entgegen. Wenn er die soziale Verantwortung für sein Forschen verweigert, dann wird er zu einem einsamen Monster, das in Isolation und Entfremdung lebt. Wir erkennen hier deutlich die weibliche Kritik am männlichen Geniekult der Zeit.27 Der Däne Hans Christian Andersen (gest. 1875) war ein Meister der Märchenerzählung, ja er nannte sein eigenes Leben ein großes Märchen (1855). Denn in der Bibliothek seines Vaters hatte er viele alte Volksmärchen gelesen, die seine Fantasie beflügelten. Insgesamt hatte er 168 Märchen verfasst, dazu noch Romane und Reiseerzählungen. Er hatte alte Volksmärchen bearbeitet und weitergeschrieben, doch er hatte auch ganz neue Märchen geschaffen. Mit den Naturphilosophen glaubte er an die Einheit von Materie und Geist, von Natur und Seelenkraft. Für ihn war die Welt voller Wunder und in der gesamten Natur wirkten unsichtbare Geistwesen. Zu seinen großen Werken gehören: Der Improvisator (1835), Das Märchen meines Lebens (1855), Glücks-Peter (1870).28 Charles Dickens (gest. 1870) beschrieb vor allem die englische Gesellschaft der Victorianischen Zeit, auch er verfasste einige Märchenerzählungen mit starker Symbolkraft. Zu seinen großen Werken zählen: Oliver Twist (1837), Ein Weihnachtslied (1843). Mit dieser Erzählung wurde er zum Anreger vieler Weihnachtserzählungen in ganz Europa. In seinem zeitkritischen Werk „Hard Times“ (1854) beschrieb er die negativen Folgen des Industriezeitalters für die Arbeiter, die Bauern und die Armen. Persönlich folgte er dem utilitaristischen Denken, manchmal neigte er aber zu einer pessimistischen Weltsicht. Mit „David Copperfield“ (1850) schuf er einen großen Bildungsroman für seine Zeit. Viele skurrile Gestalten aus seinen Werken (z.B. Pip aus „Große Erwartungen, 1860) sind in die englische Alltagssprache eingegangen.29 Der Norweger Henrik Ibsen (gest. 1906) hatte starken Einfluss auf die Entwicklung des modernen Romans in ganz Europa. Mit „Nora oder ein Puppenheim“ (1879) gelang ihm ein großer Erfolg, denn er brachte die Frage nach der politischen und sozialen Emanzipation der Frauen in der bürgerlichen Gesellschaft auf die Bühne. Denn Nora verließ ihren Ehemann und die vielen Kinder, um ein selbstbestimmtes Leben führen zu können. In seinem Werk „Gespenster“ thematisierte er die gefürchtete und unheilbare Krankheit Syphilis. Mit „Hedda Gabler“ (1891) beschrieb Ibsen auf einfühlsame Weise die persönliche Entwicklung einer starken Frau. In seinen Dramen verband er mythische Themen mit dem literarischen Symbolismus und dem Naturalismus. Auch die „Wildente“ (1885) war für ihn ein starkes Symbol für das Streben nach persönlicher Freiheit und für den Ausbruch aus den Zwängen der bürgerlichen und der kirchlichen Moral. Auch der Schwede August Strindberg (gest. 1912) schrieb naturalistische Dramen und Romane, er verfasste aber auch lyrische Gedichte. Darin thematisierte er den Kampf der Geschlechter in der bürgerlichen Ehe (Fräulein Julie, 1889). Persönlich erlebte er das Scheitern mehrerer Liebesbeziehungen und schließlich einen nervlichen Zusammenbruch. In „Das rote Zimmer“ (1879) kritisierte er viele Fehlentwicklungen in der bürgerlichen Gesellschaft. Er schrieb auch autobiographische Romane (Die

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Hemsöer, 1887) und stellte das Leben der Fischer und Bauern auf den Inseln dar. Mit einem „Traumspiel“ (1901) wollte der Dichter den Zwängen des realen Lebens entkommen. Politisch unterstützte er zeitweise die Sozialdemokraten, zeitweise aber hing er den Konservativen an (Strindbergfehde). Er gilt vor allem als Anreger des absurden und des surrealen Dramas.30 Breite Wirkung zeigte der Ire Oscar Wilde (gest. 1900), der in Dublin geboren wurde. Er lebte später in London als Künstler und als Dandy, was er durch extravagante Kleidung zeigen wollte. Mit Freunden kultivierte er den künstlerischen Elitarismus und die kreative Individualität der Lebensgestaltung. Er lebte in einer homosexuellen Beziehung, was er auch öffentlich zeigen wollte. Mit seinem Werk „Das Bildnis des Dorian Gray“ (1891) beschrieb er die Lebenswelt einer als dekadent bewerteten Gesellschaft. Darin verfällt der unmoralische Dandy in seinem Seelenleben und endete schließlich im Selbstmord. Auch seine Dramen „Eine Frau ohne Bedeutung“ (1893) und „Ernstsein ist alles“ (1895) zeigen die Widersprüche der kapitalistischen Gesellschaft. Er bemühte sich aber auch, die Gesellschaftskomödie zu erneuern, um seine gebildeten Zeitgenossen zeitweilig zum Lachen zu bringen.31

Russisch-slawische Literatur Auch die slawische Literatur entwickelte im 19. Jh. eine erstaunliche Vielfalt. Die Sprachkunst der Dichter hat in vielen Ländern zur Bildung einer nationalen Identität beigetragen. In Russland gilt Alexander Puschkin (gest. 1837) als Meister der nationalen Dichtung. In seinen politischen Werken engagierte er sich für eine konstitutionelle Monarchie und für die Beendigung der Leibeigenschaft der Bauern. In seinem Versroman „Eugen Onegin“ (1833) stellte er die Entwicklung der russischen Geschichte umfassend dar. Im Drama „Boris Godunow“ erinnerte er an die große Zeit der russischen Herrscher. Und in seinem Gedicht „Der Prophet“ sprach er von einer göttlichen Berufung des Dichters, der zu jeder Zeit auch harte Wahrheiten ausrufen müsse. A. Puschkin starb früh an den Folgen eines Duells mit einem französischen Offizier. Er kannte die Salonsprache der Adeligen, die Sprache der Theologen und Prediger, aber auch die Sprachformen des einfachen Volkes. Zu den realistischen Dichtern in Russland zählt Ivan Turgenjew (gest. 1883), der Dramen, Romane und Gedichte verfasste. Er hatte drei Jahre in Berlin gelebt und engagierte sich deswegen für mehr politische Freiheiten im Zarenreich. Er war ein Meister der Naturbeschreibung und brachte das Leben der kleinen Leute, der Bauern und Landarbeiter auf die Bühne (Ein Monat auf dem Land, 1855). In seinem großen Werk „Väter und Söhne“ (1862) zeigte er seine Meisterschaft in der Beschreibung von Charakteren und von seelischen Prozessen. Darin beschrieb er auch die Konflikte zwischen den Generationen und den verschiedenen Weltanschauungen. Er zeichnete die Gestalten von liberalen Adeligen, von konservativen Bürgern, von orthodox Religiösen, von radikalen Nihilisten und von zynischen Materialisten. Die inneren Gegensätze im russischen Volk machten ihm aber große Sorgen, denen er in seinem literarischen Werk nicht entkommen wollte.32

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Zu den großen Erzählern zählt Fjodor Dostojewski (gest. 1881) mit seinen monumentalen und philosophischen Romantragödien. Er hatte sich früh den utopischen Sozialisten angeschlossen und wurde deshalb 1849 zum Tod verurteilt. Die Todesstrafe wurde zu Zwangsarbeit und zu vier Jahren Militärdienst umgewandelt. In dieser Zeit fand er zum christlichen Glauben zurück und war von der Gestalt des Messias fasziniert. Er verfasste Romane und Novellen in Fortsetzungen, die in Zeitschriften gedruckt wurden. Auf mehreren Reisen nach Westeuropa lernte er die europäische Kultur kennen und schätzen. In den großen Romantragödien „Schuld und Sühne“ (1866) und „Die Brüder Karamasow“ (1880) zeichnete er die Tiefen der menschlichen Seele nach. In Russland wurde er unter den Gebildeten zu einer moralischen Instanz, denn er glaubt fest daran, dass sein Volk eine besondere göttliche Erwählung habe. So kritisierte er, dass die meisten Menschen in den Städten ihre ländlichen Wurzeln vergessen und abgestreift hätten. Viele hätten sich auch von Gott und der Religion getrennt, sie lebten als praktische Atheisten. Die Göttlichkeit der Welt zeige sich aber in der Freiheit der Menschenseele, denn alle Schuld und Verbrechen der Zeitgenossen könnten durch Liebe wieder geheilt werden.33 Auch Leo Tolstoi (gest. 1910) wurde zu einer starken moralischen Instanz in Russland und bald auch in anderen Teilen Europas. Denn nach einer persönlichen Lebenskrise orientierte er sein Leben an der Bergpredigt Jesu, die auch in der modernen Zeit verwirklicht werden sollte. Er suchte seine persönliche Form der Religiosität, die aber von der Kirchenleitung nicht unterstützt wurde. Denn er engagierte sich für eine Kultur der Gewaltlosigkeit und für die Erhaltung des Friedens zwischen hoch gerüsteten Völkern. In seinem Werk „Krieg und Frieden“ (1869) verarbeitete er seine Erfahrungen im Krimkrieg gegen das Osmanische Reich. Und mit „Anna Karenina“ (1877) schuf er eine der großen Frauengestalten der Weltliteratur. In allen seinen Werken beklagte er die fortschreitende Entfremdung der Stadtmenschen von den Gegebenheiten der Natur. Der polnische Dichter Henryk Sienkiewicz (gest. 1915) schrieb eine große Romantrilogie (Trylogia) über die Geschichte des polnischen Volkes. Damit schuf er ein Nationalepos für ein durch lange Zeit unterdrücktes und geteiltes Volk. Mit seinem Werk „Quo vadis?“ (1895) zeichnete er mit Begeisterung den Weg des frühen Christentums in der Zeit des römischen Kaisers Nero nach. Das Buch wurde in viele Sprachen übersetzt und später verfilmt. In seinen Romanen „Mit Feuer und Schwert“ und „Sturmflut“ zeichnete er die Lebenswelt der mittelalterlichen Ritter nach, deren Werte der Ehre und der Tapferkeit auch heute Geltung haben sollten. Dieser Dichter hat sein Leben lang darum gerungen, das Selbstwertgefühl der Polen zu stärken und die politische Selbständigkeit seines Landes zu erreichen.34 Die polnische Dichtung wurde stark von katholischen und von nationalen Ideen geprägt, am Rande wurden aber auch positivistische und materialistische Sichtweisen des Daseins vertreten. Der historische Roman sollte die vergangene Größe Polens in Erinnerung rufen und das nationale Erwachen vorbereiten. Die Dichter des „Jungen Polen“ dachten stark idealistisch und metaphysisch, sie wollten in der Literatur vor allem das existentielle Erleben und die individuelle Lebensgeschichte darstellen.35

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Auch in Serbien, Kroatien und Slowenien entstand zu dieser Zeit eine nationale Literatur, aber es musste erst eine einheitliche Hochsprache geschaffen werden. Die Dichter wollten dazu beitragen, die nationale Identität ihrer Völker zu stärken. Serbien war viele Jahrhunderte unter türkischer Herrschaft gewesen, die Dichter knüpften an alte Volkserzählungen, an Märchen, an Mythen und an Heldensagen an. Kroatien war lange Zeit von den Ungarn abhängig, auch dort suchten die Dichter in den alten Traditionen ihrer Kirchen und Klöster nach der nationalen Besonderheit und Identität. Die Slowenen waren seit der Karolingischen Zeit von den Bayern und dann von den Habsburgern abhängig, auch sie mussten erst eine eigenständige Literatur schaffen. Wichtig war für diese Völker der historische Roman, der auf Vorbilder der Vergangenheit blickte. Insgesamt haben Literatur und Dichtkunst in allen slawischen Ländern stark zur Ausbildung einer nationalen Identität und Hochsprache beigetragen.36 Insgesamt wurde die Kultur in allen Ländern Europas stark von der Dichtkunst und den Werken der Literatur mitgeprägt. Denn die Autoren und Schriftsteller thematisierten persönliche oder soziale oder politische Problemfelder, sie machten diese Konflikte einer breiten Öffentlichkeit bewusst und bekannt. Nicht selten haben sie auch Anregungen dazu gegeben, wie bestimmte Probleme gelöst werden könnten. Theaterdichter brachten soziale Notsituationen oder emotionale Stimmungslagen auf die Bühne, sie machten die Zuseher oft nachdenklich oder sie schärften die mora­ lische und soziale Sensibilität. Sie trugen deutlich zu kulturellen Lernprozessen bei. Viele Autoren brachten auch philosophische Ideen oder moralische Lebenswerte oder politische Programme in ihre literarischen Werke ein. Andere engagierten sich für die Erhaltung des Friedens und für die Verständigung der Völker. Doch haben Schriftsteller in allen Ländern auch dazu beigetragen, die nationale Identität und das Selbstwertgefühl ihrer Völker zu stärken. Denn sie verstanden die Nation fast immer als Sprachnation, in vielen Ländern waren sie an der Formung einer Hochsprache beteiligt. Sie thematisierten das Leben der verschiedenen sozialen Schichten, der Adeligen, des gehobenen Bürgertums, der Handwerker und Händler, der Arbeiter und der Bauern, der Stadtmenschen und der Landbewohner. Vor allem stellten Dichter und Schriftsteller emotionale Prozesse, Wünsche und Sehnsüchte, Traumwelten und Erwartungen breiter Schichten der Bevölkerung dar. Sie waren Meister der Fiktion, aber damit trugen sie wesentlich zur Sinnstiftung des Lebens bei.

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Die Malerei der Romantik Die Malerei des 19. Jh. wurde durch eine starke Dynamik der Veränderung geprägt. Darin spiegeln sich auch Wandlungen und Entwicklungen der Gesellschaft. Zu Beginn prägten die Vorstellungen und Ideen der Romantiker das Kunstschaffen vieler Maler. Diese ließen sich in ihren Werken von subjektiven Erfahrungen und Empfindungen leiten, sie folgten imaginären Welten und „Nachtgedanken“, sie idealisierten vergangene Lebenswelten des Mittelalters, und sie drückten latente Todesängste aus. In Frankreich malte Theodore Gericault (gest. 1824) große Themen der griechischen Mythologie und Szenen von Kriegen. Eugene Delacroix (gest. 1863) stellte auf seinen Bildern große historische Szenen dar, etwa die „Schlacht von Nancy“, aber auch Themen der Religion und der Mythologie, „Das Floß der Meduse“ oder „Dante und Vergil in der Vorhölle“. Nach der Juli-Revolution von 1830 malte er das programmatische Bild „Die Freiheit führt das Volk an“, etwas später die „Frauen von Algier“. Von Theodore Chasseriau stammt das Bild „Esther vor der Begegnung mit Ahasver“, ein Thema aus der jüdischen Bibel. Andere Maler dieser romantischen Periode waren Paul Delaroche, Alfred Dedreux und Pierre d´Angers.1 Die deutschen Maler der Romantik orientierten sich an den Dichtern der Zeit und an den idealistischen Philosophen (Fichte, Schelling, Hegel), sie wollten die Dimension des Metaphysischen bildhaft darstellen. So malte Philipp Otto Runge (gest. 1810) verschiedene mystische Landschaften, die „Vier Zeiten“ und den „Morgen“. In allen seinen Bildern zeigte er einen starken Bezug zur Religion und zum Göttlichen. Caspar David Friedrich (gest. 1840) wollte in seinen Bildern immer auch seine eigenen Innenwelten darstellen. Im Bild „Kreidefelsen auf Rügen“ drückt er seine tiefe Sehnsucht nach Weite und nach der ewigen Übernatur aus. Moritz von Schwind malte große Wandgemälde für die Residenz in München oder für die erneuerte Wartburg. Peter von Cornelius hatte den „Faust“ von J.W. von Goethe mit Bildern illustriert. Er schloss sich später dem Künstlerkreis der „Nazaräner“ an, welche in ihren Bildern die christliche Kultur und die deutsche Geschichte verbinden wollten. Zu ihnen gehörten Friedrich Overbeck und Julius Schnorr von Carolsfeld.2 Zur Schule der romantischen Kunst gehörten auch der Venezianer Francesco Hayez (gest. 1882) und die Spanier Vincento Lopez Portana und Dominguez Becquer.

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Auch sie malten historische Szenen aus ihren Ländern und überhöhten sie mit einer metaphysischen Dimension. In England gründeten einige romantische Maler die Schule der „Präraffaeliten“. Diese Künstler betonten in ihren Bildern ihre subjektive und innere Erfahrung bei der Betrachtung von Szenen der Natur, sie wollten damit die allegorische Historienmalerei ihrer Vorgänger und Zeitgenossen überwinden. Diese Maler vereinigten sich zu Bruderschaften, zu ihnen gehörten Gabriel Rossetti, William Hunt, John Millais, James Collinson und Walter Deverell. Sie malten Bilder von Frauen und Traumwelten, Szenen aus der Bibel, aber auch Erinnerungen an große Reisen in fremde Länder. Vor allem Gabriel Rossetti strebte nach einer naiven und kindhaften Verklärung der weiblichen Schönheit (Dantes Traum, Beata Beatrix; Erziehung Marias).3 John Millais malte das Mädchen „Ophelia in einer Grotte“ mit vielen Blumen, oder er schuf das Bild eines blinden Mädchens. Die Bilder von Edvard Burne-Jones drückten eine melancholische Grundstimmung des Lebens aus, die vielleicht mit der christlichen Religion zu tun hatte. Und William Morris begann, die Kleider der Frauen mit kostbaren Ornamenten zu malen. Damit hat er die Kunst des „Jugendstiles“ deutlich angeregt.4

Realisten, Impressionisten und Symbolisten Viele Maler in Frankreich begannen im Kontext der fortschreitenden Industrialisierung und im Zusammenhang mit positivistischen Weltdeutungen eine sehr realistische Kunst. So malten Theodore Rousseau, Jules Dupre, Jean F. Millet große Landschaften mit weiten, fast unendlichen Horizonten. Sie wollten damit intensive Stimmungen ausdrücken und bei den Betrachtern wecken. Den Menschen in den Städten wollten sie mit ihren Bildern wieder die Würde und die Schönheit des ländlichen Lebens in Erinnerung rufen (Die Kornschwingen; Die Ährensammler; Das Abendgebet). J.B. Corot malte Bilder von Kathedralen und Kirchen (z.B. Chartres), aber auch Stadtansichten von Italien, von Florenz und Volterra. Auch er wollte mit seinen Bildern die Empfindsamkeit der Betrachter wecken. Honore Daumiers schuf viele Karikaturen zu politischen Themen der Zeit. Ein großer Meister der realistischen Malkunst war Gustave Courbet (gest. 1877) mit seinen Bildern „Die Begegnung“ und „Bon Jour Monsieur Courbet“. Er hatte ein Manifest der realistischen Malerei verfasst, in dem er die Grundzüge seiner künstlerischen Überzeugungen ausführlich darlegte. Sein Bild „Der Traum“ sah er als große Allegorie auf das menschlichen Leben und die Liebe zwischen den Geschlechtern. Im Jahr 1871 engagierte er sich in der Pariser Kommune für republikanische Ziele der Politik. Andere Maler dieser Epoche in Frankreich waren Alexandre Cabanel und Jean B. Carpeaux. Dieser schuf auch die großen Skulpturen für die neue Oper in Paris.5 Von dieser akademischen Malerei, die an den Kunstakademien unterrichtet wurde, trennte sich bald eine Gruppe von Malern, welche sich „Impressionisten“ nannten. Unter ihnen war Edouard Manet (gest. 1883) ein besonderer Meister der bildhaften Eindrücke (impressions). Er malte einen toten Torero oder ein Sommerkonzert in

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den Gärten der Tuillerien. Sein „Frühstück im Freien“ und die „Olympia“ riefen bei den Betrachtern zuerst Ablehnung hervor, denn sie waren von der neuen Malweise überfordert. Später malte er einen „Flötenspieler“ vor der kaiserlichen Wache in Paris, eine „Frau am Klavier“ oder „Personen auf dem Balkon“. Vor allem porträtierte er den Dichter Emile Zola, mit dem er befreundet war. Kurze Zeit war er am DeutschFranzösischen Krieg (1870) beteiligt, danach zog er sich in ein kreatives Künstlerleben zurück. Zu seinen großen Werken danach zählten „An der Eisenbahn“, „Die Kahnfahrer“, „Im Boot“ und die „Blonde mit nackten Brüsten“. Außerdem malte er eine Dame mit Fächer, eine Bierkellnerin, Szenen im Restaurant, ein Portrait des Dichters Stephane Mallerme und Szenen in einer Bar. In seiner Maltechnik setzte er reine und unvermischte Farben neben einander, um optimal visuelle Effekte zu erzielen.6 Die Impressionisten grenzten sich deutlich vom Realismus der staatlichen Akademien ab. Eine neue Maltechnik der subjektiven Impressionen entwickelte Claude Monet (gest. 1912), der zuerst Landschaften und gesellschaftliche Karikaturen malte. Zu seinen frühen Bildern gehören der „Hafen von Antwerpen“, eine „Kirche im Schnee“ oder „Lichtreflexe im Wasser mit Segelschiffen“. Andere Maler der impressionistischen Technik waren Auguste Renoir, Alfred Sisley, Camille Pissaro, Paul Cezanne, Mary Cassat und Berthe Morisot. Zu ihren großen Themen gehörten verfremdete Eisenbahnhallen oder Kirchenfassaden, Volksfeste in Parkanlagen, badende Frauen oder Mädchen auf der Schaukel (Auguste Renoir), weite Landschaften am Meer, Flussufer und Winterbilder, Dorfstraßen und moderne Brücken. Edgar Degas malte Tanzklassen und Tänzerinnen, Frauen beim Bügeln oder bei der Toilette.7 Ein Meister der Skulpturen war Auguste Rodin (gest. 1917), der beim Betrachter tiefe Emotionen und ein gewisses Nacherleben auslösen wollte: Die Bürger von Calais; Danaide; Der Denker; Statue von Honore Balzac. Die Gruppe der Impressionisten löste sich 1886 auf, danach suchten viele Maler neue und individuelle Stilrichtungen. Georges Seurat (gest. 1891) initiierte eine pointilistische Gruppe, er malte Landschaften, sowie Menschen in Ruhe und in Bewegung. Einen besonderen Weg ging Paul Cezanne (gest. 1906), der mit Emile Zola befreundet war. Er malte zuerst Porträts und Landschaften, eine moderne Olympia, Kartenspieler in der Kneipe, Stillleben mit Früchten, ein Selbstbildnis, Harlekins, badende Frauen, den „Mann mit der roten Weste“, eine „Frau mit Kaffeetasse“. Die Farben seiner Bilder entwickelten eine starke Eigendynamik.8 Vincent van Gogh (gest. 1890) kam aus Holland nach Paris, wo er bald seinen eigenen Stil entwickelte. Zu den Themen seiner Bilder gehören: arbeitende Bauern auf den Feldern, Ausflugslokale für Bürger, Porträts, einfache Zimmer, Blumen, vor allem Sonnenblumen, Dorfmädchen, ein Abendspaziergang, verschiedene Gärten, Ansicht einer Kathedrale. Henri Toulouse-Lautrec (gest. 1901) befasste sich lange Zeit mit dem Malen von Plakaten für Pferderennen und für Nachtbars, er malte Tänzerinnen und Frauen in den Bordellen, Frauen am Schminktisch. Seine Bilder spiegeln vor allem die bürgerliche Gesellschaft am Ende des Jahrhunderts.9 Von den Menschen der Südsee fasziniert war Paul Gauguin (gest. 1903), der längere Zeit auf der Insel Tahiti lebte. Zuerst malte er Impressionen an der Seine oder

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Dorffrauen nach der Predigt des Pfarrers, oder das Bild des Gekreuzigten (Der gelbe Christus). Später stellte er das Leben der Menschen auf Tahiti auf eindrucksvolle Weise dar: Vor der Hochzeit; Frauen am Strand; Kein Markt heute; Die Geburt Jesu auf Tahiti; Nackte Frauen mit Früchten. Er wollte mit seinen Bildern in Europa ein Ideal des naturhaften Lebens verbreiten.10 In starken Symbolwelten lebten und malten die „Symbolisten“ und die „Nabis“. Sie orientierten sich am romantischen Dichter William Blake und verfassten 1886 ein „Manifest des Symbolismus“. Dabei griffen sie auf das mystische Erleben und auf die Bilder der antiken Mythologie zurück. Zu diesen Malern zählte Gustave Moreau mit einer „Erscheinung Christi“, einem „Tanz der Salome“ und einer „Fee mit Greifvögeln“. Andere Maler dieser Richtung waren Odilon Redon und Puvis de Chavannes. Mit ihnen in Verbindung standen Arnold Böcklin aus der Schweiz und Hans von Marees, sie malten „Sirenen“ und „Meeresmenschen“, „Badende Frauen“, „Die Toteninsel“, die „Sphinx“ und „Tristan und Isolde“. In Belgien folgten Jean Delville und Emile Fabry diesem Stil. Auch der Norweger Edvard Munch (Der Schrei; Tanz des Lebens) war davon beeinflusst und geprägt. Zur Gruppe des „Nabis“ (Propheten) schlossen sich Maler und Bildhauer zusammen, sie wollten göttlich erleuchtete Künstler und Mahner in ihrer Zeit sein. Daher blickten sie auch auf fremde, fernöstliche Kunstformen, denn sie wollten ihrer Gesellschaft neue Botschaften des wahren und guten Lebens verkünden. Zu dieser Gruppe gehörten Karl Schwabe und Ferdinand Hodler mit Bilden der Musen, nackten Körpern am Tag und in der Nacht, „Spleen und Ideal“. Maurice Denis malte die katholischen Mysterien oder Musen im Park.11 Zu dieser Zeit entstand in der Malerei der „Jugendstil“, der aber mehrheitlich schon ins 20. Jh. gehört. Er wird hier deshalb nur in der Architektur kurz dargestellt.

Baukunst und Architektur Die Architektur und die Baukunst wurden stark von den neuen technischen Möglichkeiten geprägt. Durch die industrielle Herstellung von Gusseisen und Stahl und später von Stahlbeton wurden ganz neue Bauformen und Konstruktionen möglich. Durch die Verwendung von Säulen aus Gusseisen entstand eine neue Metallarchitektur, die zuerst in den Industriehallen eingesetzt wurde. Die Materialen Holz und Stein wurden immer mehr durch Eisen, Stahl und Glas ersetzt, die Metallarbeiter und die Techniker verdrängten die Maurer, Steinmetze und Holzarbeiter. Die Ingenieure berechneten und konstruierten lange Brücken für die Eisenbahn, aber auch die neuen Bahnhöfe und die Ausstellungshallen für die neue Technologie. Die meisten Techniker waren von den Fortschritten der empirischen Wissenschaften überzeugt, sie erkannten darin ungeahnte Möglichkeiten der Entwicklung für die gesamte Wirtschaft.12 In England und in Frankreich wurden Hängebrücken aus Stahl schon seit 1815 gebaut. Der Bau der Eisenbahn über weite Strecken begann ab 1840, dafür wurden große und tragfähige Brücken gebraucht. Zu dieser Zeit wurden auch bereits

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Markthallen und Lagerhallen aus Stahl und aus Glasscheiben gebaut. In Paris wurde 1852 das erste Warenhaus in dieser Bautechnik errichtet. Und in London fand 1851 die erste „Weltausstellung“ technischer Erzeugnisse und Waren statt, dafür wurden große Hallen und Pavillons aus Stahl und aus Glas errichtet. Der sog. „Kristallpalast“ war über 500m lang und 124m breit, er hatte eine von Glas überdeckte Fläche von 70.000 Quadratmetern. Auch für die Weltausstellungen in Paris wurden große Hallen gebaut, einige bereits mit einer Scheitelhöhe von 50m. Viele dieser neuen Gebäude überragten nun die Kirchen und Dome in den Städten, was viele technikbegeisterte Zeitgenossen auch symbolisch deuteten: Die Wissenschaft und Technik traten den Siegeszug über die Religion und Mystik an.13 Zur Weltausstellung von 1889 hatte Gustave Eiffel (gest. 1923) den höchsten Turm der Welt aus Stahl in Paris konstruiert und bauen lassen, den nach ihm benannten Eiffel-Turm mit einer Höhe von 300m. Diese Höhe erreichten keine Kirchtürme und Dome aus Stein. Nun wurde die neue Architektur sehr bald mit schönen und eleganten Bauformen ausgeführt und ausgestattet, bei den Betrachtern und Benutzern entstand das Gefühl der Leichtigkeit und der Weite. Es kam ungleich mehr Licht in die neuen Bauten, als dies bei den Bauwerken aus Stein möglich war. Über die Hafeneinfahrten von London und Marseille wurden lange Hebebrücken errichtet, um die Durchfahrt der großen Schiffe zu ermöglichen. Stahlbeton wurde erst ab 1872 verwendet, von da an wurden Hallen und Silos, Wasserleitungen und Brücken vermehrt mit diesem Material gebaut. Die älteren Architekten waren den neuen Baumaterialen gegenüber meist skeptisch und ablehnend eingestellt, denn sie hatten keine Ausbildung im Umgang mit ihnen.14 Doch die jüngeren Architekten lernten an den Technischen Hochschulen, diese Materialien einzusetzen. Sie arbeiteten meist mit den Ingenieuren zusammen, oder sie absolvierten selbst eine technische Ausbildung. Henri Lebruste (gest. 1875) war Architekt und Ingenieur, er baute in Paris die Bibliothek Saint Genevieves und die neue Nationalbibliothek. Dabei verband er leichte Stahlkonstruktionen mit einem Glasdach. James Bogardus (gest. 1874) baute in New York eine Fabrik mit fünf Etagen und ein „Kolosseum“ für eine Weltausstellung der Technik. Der „Kristallpalast“ in London war von Joseph Paxton geplant worden. Hector Horeau (gest. 1872) schuf große Entwürfe der Metallarchitektur, die aber nur zum Teil ausgeführt werden konnten. Zu dieser Zeit wurden bereits Botanische Gärten für exotische Pflanzen aus der Südsee aus Stahl und Glas erbaut. Besondere Bauten aus Stahl und Glas waren zu dieser Zeit die großen Bahnhöfe in Paris, London, Neapel, Mailand u.a., sowie die Gebäude der Weltausstellungen in Paris und in Wien. So entstand die Architektur des „Funktionalismus“, die theoretisch und mathematisch gut abgesichert war.15 Auch in Amerika verbreitete sich die neue Architektur sehr schnell, vor allem Chicago wurde zu einem Zentrum der Bautechnik. Henry Richardson baute dort die ersten Warenhäuser, William Jenney (gest. 1907) entwarf dort das erste „Hochhaus“ (Home Insurance Building). Die Schule von Chicago schuf in der Stadt ein neues Handels- und Verwaltungszentrum aus Glas und Stahl. In der Folgezeit wurden große Innenhöfe mit Glaskuppeln überdacht: Rookery Building; Tacom Building;

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Auditorium Building. Gleichzeitig wurden neue Lehrbücher der Architektur verfasst, darin wurden die neuen Konstruktionsformen mit den technischen Möglichkeiten abgestimmt. Als besonderes Kunstwerk galt der Lesesaal der Nationalbibliothek in Paris, denn das Dach war ein kuppelförmiges Gewölbe, das von 16 Säulen aus Gusseisen getragen wurde. In der Mitte jeder Kuppel gab es eine Lichtöffnung aus Glas, sodass der Raum durch Licht von oben überflutet wurde. Kunstvoll gestaltet wurden auch Eisenbahnbrücken und vor allem die Bahnhöfe, die Markthallen und die Glashäuser der Botanischen Gärten.16 Zentren der modernen Architektur in Europa waren neben Paris und London bald auch Brüssel, Den Haag, Berlin und Wien. Wichtige Theoretiker der neuen Bauformen waren Peter Behrens, Mies van der Rohe und Anatol de Baudot. Sie entwarfen neue Kirchen (Raincy), große Garagen, neue Opernhäuser, Konzertsäle, Markthallen, Bahnhöfe und Palmenhäuser für die großen Städte. Viele der alten Städte wurden modernisiert, es wurden alte Stadtviertel abgerissen und durch neue Prachtstraßen, Palais und Boulevards ersetzt.17 In den Bauformen und in der Innenausstattung der neuen Gebäude entstand am Ende des Jh. ein neuer Stil, der später als „Jugendstil“ zusammengefasst wurde. Er hatte in jedem Land eine andere Bezeichnung, in Frankreich hieß er Art Nouveau, in den USA Modern Style, in Spanien Modernismo. Es ging diesen Künstlern darum, zu der nüchternen und sachlichen Architektur aus Glas und Stahl ein geistiges oder spirituelles Gegengewicht zu finden. In diese Richtung arbeiteten John Ruskin und William Morris, denn sie glaubten an die Möglichkeit der Schönheit auch der Maschine. Bei der Gestaltung der Innenräume wurde auf alte Formen der Gotik, der Romantik und der Präraffaeliten zurückgegriffen. Mit diesen Stilelementen arbeiteten James McNeill Whistler und C.F. Voysey. In Barcelona entstand in diesem Stil eine neue Kapelle in Santa Colona. Und in Belgien arbeiteten die Architekten Victor Horta und Henry van de Velde, die auch bei der Innenausstattung der neu geschaffenen Räume nach alternativen Formen suchten. Ein Zentrum der Jugendstilarchitektur war zu dieser Zeit Katalanien, vor allem Barcelona. Der Architekt Antonio Gaudi begann dort die Basilika Sagrada Familia, die aber zu seiner Zeit nicht fertig gestellt wurde. Es wurden neue Häuserfassaden und Deckenkonstruktionen gestaltet, etwa die Estacion del Norte in Valencia, die Alqmeda de Recalde in Bilbao oder große Konzertsaal in Barcelona. In Wien entstand um 1898 das Gebäude des „Sezession“, das von Joseph Maria Olbrich geschaffen wurde. In Paris wurden um 1900 viele Stationen der Untergrundbahn (Metropolitain) in den Formen des Jugendstils gestaltet. Diese Stilrichtung fand ihre volle Entfaltung zu Beginn des 20. Jh. in einer Zeit der wirtschaftlichen Prosperität, der sog. „Gründerzeit“.18

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Musik und Tonkunst Auch das Musikschaffen des Jh. spiegelt die geistige, die kulturelle und die gesellschaftliche Entwicklung. In dem Maß, als die Lebensformen in der Gesellschaft vielfältiger wurden, entwickelten sich auch neue Maßstäbe und Regeln des Musikschaffens. Die Träger des musikalischen Schaffens und Erlebens waren weiterhin die Adeligen und die bürgerliche Gesellschaft. Die Bauern und die Arbeiter hatten kaum die Möglichkeit, an der musikalischen Hochkultur teilzunehmen, außer in den großen Kirchen und Klöstern. Aber sie entfalteten ihre regionale Volksmusik mit einfachen Instrumenten, die aber zum Teil von Musiklehrern bereits aufgezeichnet wurde. Doch die musikalische Hochkultur zeigte eine starke Dynamik der melodischen Expression. Die Übergänge von der Barockmusik zur klassischen Musik lagen im späten 18. Jh. Vor allem Ludwig van Beethoven (gest. 1827) stand mit seinem Werk für die klassische Formensprache der Komposition. Mit seinen großen Symphonien veränderte er die Regeln der barocken Kompositionen. Er war lange Zeit als Konzertpianist und als frei schaffender bürgerlicher Musiker tätig. So komponierte er neben den neun Symphonien fünf große Klavierkonzerte und 32 Klaviersonaten. Mit seiner Oper „Fidelio“ gelang ihm ein Werk, das die Sehnsucht vieler Menschen nach politischer Freiheit zum Ausdruck brachte. Seine „Missa sollemnis“ stellte einen Höhepunkt der Kirchenmusik dar, sie sollte das höchste Lob des göttlichen Schöpfers zum Ausdruck bringen. Außerdem schuf er mehrere Violinsonaten, Bagatellen, Chorfantasien und Variationen zu Diabelli.19 Der Italiener Niccolo Paganini (gest. 1840) war ein Virtuose auf der Violine und der Gitarre, seine Musik war geprägt von romantischen Gefühlslagen, aber auch vom Glauben an eine göttliche Inspiration. In seiner Musik spielten Phantasiewelten eine wichtige Rolle, so wollte er mit den Mitteln der Tonfolgen und der Rhythmik den Kampf des Guten gegen die Mächte des Bösen darstellen. Er schuf große Konzerte für Violine und Orchester, Etüden für Violinen, sowie Werke für Gitarren mit den höchsten Anforderungen an die Spieler. Carl Maria von Weber (gest. 1826) kam aus Schleswig-Holstein, er wirkte als Kapellmeister in Breslau, Stuttgart und Dresden. Seine große Oper „Der Freischütz“ stellt die Nähe der Adeligen und der Bürgerlichen zum Erleben der Natur dar, aber auch die Sehnsucht nach der freien Lebensentfaltung. Weitere Opern von ihm sind „Euryanthe“ und „Oberon“, außerdem komponierte er Symphonien, Bläserkonzerte, Lieder und Kammermusik. Er gilt bis heute als großer Gestalter romantischer Ideen und Gefühle. Ein deutscher Komponist mit jüdischer Herkunft war Giacomo Meyerbeer (gest. 1864), der in Berlin geboren wurde, aber in Paris lebte und dort die französische und die italienische Oper kennen lernte. Daher verband er in seinen Kompositionen mehrere Musikstile miteinander, eine Zeitlang wirkte er in Berlin als Generalmusikdirektor. Dort schrieb er die Opern „Les Hugenots“, „Le prophete“ und „L´Africaine“, die in Paris uraufgeführt wurden. Auch er ist noch stark von der Gefühlwelt der

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Romantik geprägt, in seinen Opern verband er häufig Massenszenen, Chöre und großes Ballett mit italienischen Melodien.20 Auch Franz Schubert (gest. 1828) war stark von der romantischen Gefühlswelt geprägt. In seiner melodienreichen Musik drückte er zum einen spielende Lebensfreude und Sehnsucht nach Liebe aus, zum andern aber die Erfahrung des Scheiterns und die Erwartung des baldigen Todes. Als neue Musikgattung schuf er das romantische Klavierlied, in dem er Texte von zeitgenössischen Dichtern (Goethe, Heine) vertonte. Er lebte als freier Künstler in ärmlichen Verhältnissen, viele seiner Werke wurden erst nach seinem Tod entdeckt und aufgeführt. Zu seinen Liederzyklen gehören „Die schöne Müllerin“, die „Winterreise“ und der „Schwanengesang“. Er schuf auch große Symphonien und Werke der Kammermusik, sowie zwei große Konzertmessen, in Es-Dur und in As-Dur.21 Albert Lortzing (gest. 1851) war als Sänger, Schauspieler und Kapellmeister tätig, von ihm stammen mehrere Opern: „Zar und Zimmermann“, „Der Wildschütz“, „Undine“ und „Der Waffenschmied“. Wir erkennen in seinen Werken die Lebenswelt und Kultur des Biedermeier, er setzte in seiner Musik viele volkstümliche Akzente. Felix Mendelsohn-Bartholdy (gest. 1847) war ein Enkel des jüdischen Philosophen Moses Mendelsohn. Er orientierte sich in seinem Musikschaffen stark an den Werken von Johann Sebastian Bach, den er wieder in die Kirchen und Konzertsäle brachte, aber auch an G.F. Händel und an W.A. Mozart. So verband er romantisches Empfinden mit klassischen Formgesetzen. Mit der Aufführung der „Matthäuspassion“ von J.S. Bach begann er eine Reihe von Historischen Konzerten. Damit hatte er wesentlich zur Bildung einer bürgerlichen Musikkultur in den neu gegründeten Konzertvereinen, Konservatorien und Gesangsvereinen beigetragen. Zusammen mit Robert Schumann gründete er in Leipzig das erste „Musikkonservatorium“ (1843) zur Pflege der Musik verstorbener Komponisten. Zu seinen Werken gehören große Konzerte für Violinen, fünf Symphonien, das Oratorium „Elias“, eine Ouvertüre zum „Sommernachtstraum“ von W. Shakespeare. Auch seine Ehefrau Fanny Mendelsohn-Hensel war vielfältig im Musikschaffen tätig.22 Die Musik und die Dichtkunst verbinden wollte in besonderer Weise Robert Schumann (gest. 1856), der aus Zwickau stammte. Er widmete sich zuerst der Klaviermusik, sein späteres Interesse galt aber der Liedkunst. Daher vertonte er Texte von Heinrich Heine im Zyklus „Dichterliebe“, aber er komponierte auch Kammermusik und Symphonien. In seiner „Neuen Zeitschrift für Musik“ schrieb er regelmäßig über die Regeln und Themen seiner Musik. Von ihm stammen große Klaviersonaten, Cellokonzerte, Violinsonaten und Opern (Genoveva; Das Paradies und die Peri; Faust). Ein zweiter Liederzyklus heißt „Frauenliebe und –leben“. Die Klavierzyklen tragen die Titel „Kinderszenen“ und „Waldszenen“. Auch seine Frau Clara Schumann war als Pianistin tätig, sie hat uns große Werke an Klaviermusik und an Liedern hinterlassen.23 Ein vielfältig begabter und tätiger Musiker war Franz Liszt (gest. 1886), denn er wirkte als Pianist und als Komponist, als Dirigent und als Kulturmanager. Er hatte familiäre Bande zu Richard Wagner, der mit seiner Tochter Cosima verheiratet war.

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F. Liszt war lange Zeit als Klaviervirtuose bekannt, er absolvierte seine Konzertreisen durch halb Europa bereits mit der Eisenbahn. Längere Zeit wirkte er als Musikdirektor in Weimar und führte große Werke im neuen Festsaal der Wartburg auf. Eine Zeitlang lebte er in Rom und zuletzt in Bayreuth. Zu seinen großen Werken zählen „Les preludes“, zwei Klavierkonzerte, Ungarische Rhapsodien und Opernparaphrasen. In vielen Werken verband er volkstümliche Melodien und Rhythmen mit modernen Musikformen der Avantgarde. Zu seinen religiösen Werken gehören zwei Oratorien „Christus“ und „Legende der heiligen Elisabeth“, zwei lateinische Messen, sowie die Passionsmusik „Via crucis“.24 Der große deutsche Tondichter aber war Richard Wagner (gest. 1883), der die Themen der germanischen Mythologie mit einer bürgerlichen, aristokratischen und nationalen Musikkultur verbinden wollte. Deswegen verstand er die Oper als Gesamtkunstwerk und als religiöses Weihespiel, das die christliche Liturgie in den Kirchen ersetzen sollte. Er stammte aus Leipzig, lebte längere Zeit in Zürich, wirkte dann in München und zuletzt in Bayreuth. Kurze Zeit stand er mit Friedrich Nietzsche in Verbindung. Der bayerische König Ludwig II. ließ ihm in Bayreuth ein Festspielhaus bauen, das 1876 mit dem Bühnenfestspiel „Ring der Nibelungen“ eröffnet wurde. In seiner Musik verband R. Wagner romantische und moderne Stilelemente, er arbeitete mit einer bisher nicht gekannten Klangfülle. Damit wollte er die Zuhörer und Teilnehmer an seinen Weihespielen von seinen Ideen und Visionen abhängig machen, sie sollten innerlich verwandelt werden. Zu seinen großen Werken zählen: Tristan und Isolde; Die Meistersinger von Nürnberg; Parsifal; Der Ring der Nibelungen; Der fliegende Holländer; Lohengrin; Tannhäuser; Das Liebesmahl der Apostel. R. Wagner erzielte in der deutschen Kultur und Politik des 20. Jh. eine breite und lange Wirkungsgeschichte.25 Ein symphonischer Tonkünstler und Komponist war Anton Bruckner (gest. 1896), der Elemente der Klassik in seine Zeit übersetzen wollte. Er schuf große Werke der Kirchenmusik und Orgelkonzerte, zwei große Orchestermessen. Zu seinen Motetten gehören: Ave Maria; Locus iste; Christus factus est; Virga Jesse; Vexilla Regis; Te Deum. Seine neun Symphonien setzten neue Maßstäbe der Komposition, denn er war lange Zeit als Organist tätig. Sein Zeitgenosse in Wien war Johannes Brahms (gest. 1897), der sich als konservativer Gegenpol zur „Neudeutschen Schule“ von F. Liszt und R. Wagner verstand. Wir erkennen in seinen Werken eine ungewöhnliche Dichte an Ausdruckskraft. Zu seinen großen Kompositionen gehören: das Deutsche Requiem; Ungarische Tänze; Streichsextette; Deutsche Volkslieder; Klaviersonaten, Ouvertüren; Klaviervariationen über Händel, Paganini und Schumann.26 Eigene Wege ging die italienische Musik und Komposition, sie verband Elemente der regionalen Volksmusik mit der musikalischen Hochkultur der adeligen und der bürgerlichen Gesellschaft. Gioachino Rossini (gest. 1868) wirkte in Neapel und in Rom. Zu seinen großen Opern gehören: Tancredi; L’Italiana in Algeri; Il barbiere di Seviglia; Semiramide; Guillaume Tell. Später komponierte er ein „Stabat Mater“, mehrere Ouvertüren und eine „Petit messe solennelle“. In seinen Melodien drückte er tiefe Gefühle der Sehnsucht, der Lebensfreude und der Liebe aus. Gaetano Donizetti

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(gest. 1848) stammte aus Bergamo, er schrieb zuerst Quartette und Symphonien. Als Operndirektor wirkte er in Neapel und komponierte an die 70 Opern für verschiedene Anlässe. Am bekanntesten sind: Anna Bolena; L’Elisir d’amore; Lucrezia Borgia; Maria Stuarda; Lucia di Lammermoor; Don Pasquale. Er schuf Streichquartette, Symphonien, Lieder, Kammermusik und ein Requiem für Bellini.27 Zu den Frühromantikern gehörte auch Vincenzo Bellini (gest. 1835), der in seinen Melodien viel an sinnlicher Leidenschaft ausdrücken konnte. Er stammte aus Sizilien und wirkte in Venedig und in Mailand. Zu seinen großen Opern gehören: La Sonnambula; Norma; Beatrice di Tenda; I Puritani e i Cavalieri. Er komponierte auch Kirchenmusik und große Konzerte für Oboen. Der große Meister der italienischen Oper war Giuseppe Verdi (gest. 1901), der auch als Komponist der nationalen Einheit verstanden wurde. Sein Name wurde auf den ersten Italienischen König bezogen: Vittorio Emmanuele Re d´Italia. Seine Musik drückte intensive Gefühle der Trauer, der Liebe, des Stolzes, der Güte und der sinnlichen Leidenschaft aus, er wirkte in Mailand, Paris und London. Zu seinen großen Opern zählen: Nabucco; Aida; Otello; Falstaff; Ernani; Macbeth; Rigoletto; Il Trovatore; La Traviata; Simone Boccanegra; Un ballo in maschera; La sforza del destino; Don Carlos. Er komponierte ein großes Requiem für den Dichter Alessandro Manzoni. Mit seinen Werken unterstützte er aktiv die politische und kulturelle Vereinigung Italiens.28 Zu den großen französischen Komponisten gehörte Hector Berlioz (gest. 1869), der zuerst eng mit der romantischen Musik verbunden war. Zu seinen frühen Werken zählen: Acht Szenen zu Goethes Faust; eine Symphonie phantastique; Harold en Italie; ein monumentales Requiem, die Oper „Benvenuto Cellini“ und eine dramatische Symphonie „Romeo et Juliette“. Er war ein gefeierter Dirigent und ein großer Lehrer der Komposition. Zu seinen späteren Werken zählen: La damnation de Faust; L´enfance du Christ; Les Troyens; La prise de Troie. Er wagte neue Formen der Musik und fühlte sich phantastischen Weisen der Kompositon verbunden. Frederic Chopin (gest. 1849) war ein Meister der Klaviermusik, die er für bürgerliche Salons komponierte. Er wurde bei Warschau geboren, lebte aber später in Paris. Er komponierte große Konzerte für Klavier und Orchester, Variationen über Mozart; Klaviersonaten, Polonaisen, Nocturnes, Walzer, Mazurkas, Balladen, Impromptus und Scherzi, sowie eine Cellosonate. Besonders bekannt wurden von ihm: Barcarolle; Berceuse; Bolero; Tarantelle und die Fantasie in f-Moll.29 Dem literarischen Musiktheater verschrieb sich Charles Gounod (gest. 1893), der sich aber zuerst mit Kirchenmusik befasste. In Rom lernte er die Musik Palestrinas und den Gregorianischen Choral kennen. Später komponierte er eine große „Cäcilienmesse“, die Opern „Sapho“ und „Faust“, sowie Oratorien und Instrumentalmusik. Andere Opern von ihm thematisieren Romeo und Julia, sowie Gestalten aus den Werken von Goethe und Shakespeare. Mit seinen Meditationen über ein Prelude von J.S. Bach schuf er ein eindrucksvolles „Ave Maria“. Jacques Offenbach (gest. 1880) schuf mehrere Musikkomödien, die zwischen der Opera buffa und der Operette angesiedelt waren. Er wirkte in Paris als Kapellmeister

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am Theatre Francais und gründete später sein eigenes Theater. Zu seinen kompositorischen Werken gehören: Orphee aux enfers; La vie parisienne; La Grand-Duchesse de Geroldstein; La perichole; Les contes d`Hoffmann. Mit seinen über 100 Bühnenwerken schuf er wirkungsvolle Parodien auf die Geschichte Frankreichs, vermischt mit Kritik an der bürgerlichen Gesellschaft.30 Große Orgelwerke komponierte Cesar Frank (gest. 1896), der deutsche Eltern hatte, aber in Paris lebte und wirkte. Er war als Organist und Kapellmeister tätig und unterrichtete am Conservatoire. Zu seinen bekannten Werken zählen das Oratorium „Les Beatitudes“, symphonische Dichtungen, große Orgelwerke, Kammermusik, symphonische Variationen und Violinsonaten.31 In Paris wirkte auch Camille Saint-Saens (gest. 1921) als Organist und Klaviervirtuose. Er komponierte 13 Opern (z.B. Samson et Dalila), fünf Symphonien, einige symphonische Dichtungen, Klavierwerke und Cellokonzerte, ein Requiem, ein Oratorium, Kompositionen für Orgel, für zwei Klaviere und Orchester (Le carneval des animaux). Auch Georges Bizet (gest. 1875) lebte in Paris und in Rom. Da er früh starb, erlebte er kaum den Erfolg seiner Werke. Er hinterließ uns symphonische Musik, einige Opern und Musik zu Schauspielen. Seine Oper „Carmen“ ist die bis heute weltweit am meisten gespielte Oper. Außerdem komponierte er Orchestersuiten (z.B. Jeux des enfants), zwei Carmen-Suiten und zwei Arlesienne-Suiten. Von Jules Massenet (gest. 1913) stammen mehrere Opern (Le Roi de Lahore; Herodias; Werther), Oratorien, Ballettmusik, Orchesterwerke und Lieder.32 Zu den russischen Komponisten gehörte Michail Glinka (gest. 1857), der russische Volkslieder zu großen Symphonien verarbeitete. Zu seinen großen Opernwerken zählen: „Das Leben für den Zaren“; „Ruslan und Ljudmila“. Seine Orchesterwerke tragen die Namen Taras Bulba und Karaminskaja. Alexander Borodin (gest. 1887) war Arzt, Chemiker und Musiker, er schrieb mehrere Symphonien sowie die Oper „Fürst Igor“. Von Modest Mussorgskij (gest. 1881) stammt ein großes Musikdrama „Boris Godunow“ nach einem Text von Alexander Puschkin; andere Opern blieben unvollendet. Er komponierte große Orchesterwerke, etwa „Eine Nacht auf dem kahlen Berg“, den Klavierzyklus „Bilder einer Ausstellung“ und die Klavierlieder „Kinderstube“. Am bekanntesten wurde Peter Iljitsch Tschaikowsky (gest. 1893), der auch Beziehungen zu Bayreuth unterhielt. Zu seinen großen Werken zählen die Ballette „Schwanensee“, „Dornröschen“ und der „Nussknacker“, die Opern „Eugen Onegin“ und „Pique Dame“, sechs Symphonien, Konzerte für Violine und Cello, ein Streichquartett „Souvenir de Florence“, sowie Chormusik für die russisch-orthodoxe Liturgie. 33 Der symphonischen Dichtung widmete sich Nikolaj Rimski-Korsakow (gest. 1908), er schuf auch 15 Opernwerke, große Ballettmusik, Kammermusik und Lieder. Als Begründer der nationalen tschechischen Musikdichtung gilt Friedrich Smetana (gest. 1884), der als Kapellmeister in Prag wirkte. Von seinen Opern sind vor allem „Die verkaufte Braut“, „Dalibor“ und „Libussa“ bekannt geworden. In seiner Symphonischen Dichtung „Mein Vaterland“ versuchte er, die Vielfalt seines Landes in

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der Sprache der Musik darzustellen. In seinem Streichquartett „Aus meinem Leben“ verarbeitete er persönliche Erfahrungen seiner Tätigkeit. Auch Antonin Dvorak (gest. 1904) lebte und wirkte in Prag, er hat die tschechische Musikwelt stark mitgeprägt. Zu seinen Opern gehört „Rusalka“, zu seinen symphonischen Dichtungen „Der Wassermann“; „Die Mittagshexe“; „Das goldene Spinnrad“; Die Waldtaube“ und „Heldenlied“. Er hatte Themen der tschechischen Mythologie in die Sprache der Musik verarbeitet. Zu seinen Kompositionen gehören Violin- und Klavierkonzerte, Slawische Tänze, eine lateinische Messe, ein Requiem, das „Stabat Mater“ und das „Te Deum“, Biblische Gesänge und Lieder zu Zigeunermelodien.34 Von den skandinavischen Komponisten hat der Norweger Edvard Grieg (gest. 1907) internationale Bedeutung erlangt. Auch er hat nordische Volkslieder aus vielen Regionen in die musikalische Hochkultur eingeführt. Er studierte in Leipzig und Kopenhagen und komponierte „Lyrische Stücke“ für Klavier und Singstimmen, ein Klavierkonzert, die Schauspielmusik zu Henrik Ibsens Drama „Per Gynt“, die Per Gynt Suiten, die Suite „Aus Holbergs Zeit“. In seinen Kompositionen verband er subjektive Stimmungen mit Phantasiewelten, daher nannte er seine Kompositionen „Elfentanz“; „Schmetterling“, „Schwermut“ und „Sonnabend“.35 So hatte das Musikschaffen in allen Ländern die Kultur des Jh. tiefgreifend mitgeprägt. Überall wurden nationale und regionale Besonderheiten der Musik mit internationalen Stilen der Tonkunst verbunden. In fast allen Ländern trug die Musikkunst zum Aufbau und zur Verstärkung der nationalen Identität bei, zumindest in den bürgerlichen und aristokratischen Schichten. Gleichzeitig wurden die großen Werke der Musikkultur international rezipiert und weiter entwickelt. Wir sehen in ganz Europa und auch in Nordamerika einen verstärkten kulturellen Austausch durch die Sprache der Musik. Sie hat aber auch dazu beigetragen, bestimmte Denkmodelle und Ideologien der einzelnen Länder und Kulturen zu verstärken und zu vertiefen.

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Deutschtum und Judentum „Erforsche nicht Dinge, die zu schwierig für dich sind und suche nicht Dinge, die vor dir verborgen sind.“1

Trotz dieser Warnung in der rabbinischen Literatur haben sich jüdische Denker immer wieder aufgemacht, die jüdische Religion mit ihren Themen wie Schöpfung, Offenbarung, Erlösung, der göttlichen Vorsehung, dem freien Willen, Recht und Gerechtigkeit, zu durchdringen. In der Haskala, der jüdischen Aufklärung, entwickelten Gestalten wie Moses Mendelssohn ganz neue Konzepte zu diesen Grundthemen. Vor dem Hintergrund der französischen Revolution löste sich durch die Haskala die alte Identität von Volk und Religion. Man darf dabei nicht etwa annehmen, dass die Juden in Mitteleuropa im 17. und 18. Jahrhundert in von der Umwelt völlig isolierten Ghettos gelebt und gearbeitet haben und weder Sprachen noch Kulturen der Umgebung gekannt hätten. „Latein und Mathematik gehörten bereits in vorhergehenden Jahrhunderten zur Erziehung… Es war selbstverständlich, dass die traditionelle jüdische Erziehung, also das Studium der religiösen Schriften, keinen Gegensatz bildete zur Beherrschung der für Handel und Wandel notwendigen Umgangssprachen und Umgangsformen sowie zum damit verbundenen allgemeinen und Fachwissen. Das jüdische Bildungsethos ist durch die Verbürgerlichung der europäischen Gesellschaft immens beflügelt worden, doch gehörte es schon Jahrhunderte zur deutsch-jüdischen Mentalität.“2

Die Frage nach der jüdischen Nation und der jüdischen Religion – sind die Juden ein Volk oder ist das Judentum nur eine Religion – bestimmte das 19. Jahrhundert, ein mitunter verzweifeltes Ringen mit der jüdischen Identität und ihren traditionellen Überlieferungen. Jakob, der mit Gott kämpft, ist das symbolische Bild der Geschichte dieses sich immer wieder wiederholenden Prozesses. Im Zentrum der Umwälzungen, die das Judentum im 19. Jahrhundert bewegten, stand das Juden in Deutschland. Aber „Deutschland“ – was hieß das eigentlich im 19. Jahrhundert? 1806 war unter dem Schutz Napoleons der Rheinbund gegründet

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worden, dem 1808 39 Staaten angehörten. Das Heilige Reich Deutscher Nation löste sich endgültig auf und Kaiser Franz II. dankte ab. Als Napoleons Stern untergegangen war, wurde nach dem Wiener Kongress der „Deutsche Bund“ (1815–1866) gegründet, wobei Preußen und Österreich dominierten. Nach dem Krieg von 1866 zwischen Preußen und Österreich und dem kurzlebigen „Norddeutschen Bund“ (1866–1871) entstanden schließlich das deutsche Kaiserreich (1871–1918) und Österreich-Ungarn (1867–1918) als Doppelmonarchie. Im 19. Jahrhundert kennzeichnete das Judentum neben der Entwicklung der unterschiedlichen religiösen Entwicklungen der Kampf um die bürgerliche Gleichberechtigung. Im Zuge der Emanzipation bedeutete der Weg in die Gesellschaft für viele As­similation und in einigen Fällen auch die Taufe, wobei die wenigsten aus religiösen Gründen die Religion wechselten. In einer Abwehrhaltung gegenüber den Veränderungen durch die Moderne entstanden zu dieser Zeit nationale und rassistische Formen des ewigen Antisemitismus, in denen Juden für die unterschiedlichsten Themen die Sündenbock-Funktion übernahmen. Gegner der Industrialisierung, der Frauenemanzipation oder des Kapitalismus und Sozialismus sahen „den Juden“ als Drahtzieher hinter allen Veränderungen, die die Gesellschaft prägten. Deutschtümler betrachteten die Juden in der Zeit, in der sich die deutschen Länder zur Nation formten, als eine „fremde ungermanische“ Nation, als „Staat im Staate“. Ein früher Höhepunkt waren die sogenannten „Hep-Hep-Unruhen“ von 1819. Von Würzburg, einer Stadt mit einer großen jüdischen Gemeinde (ca. 400 Menschen), zog das Pogrom bis nach Bayreuth, Regensburg, Heidelberg, Frankfurt, Danzig, Breslau und Hamburg. In einer „Proclamation“ aus Danzig bemühen die Verfasser sogar den abgenutzten, aus dem mittelalterlichen Antisemitismus bekannten „Gottesmörder“Vorwurf: „Darum laßt uns jetzt ihr sich selbst gefälltes Urtheil an sie vollstrecken laut dem wie sie geschrieen: Sein Blut komme über uns und unsere Kinder! Auf! wer getauft ist, es gilt der heiligsten Sache, fürchtet nichts und zögert keine Stunde, den Streit für des Glaubens Ehre zu wagen. Diese Juden, die hier unter uns leben, die sich wie verzehrende Heuschrecken unter uns verbreiten, und die das ganze preußische Christenthum dem Umsturz drohen, das sind Kinder derer die da schrieen: kreutzige, kreutzige. Nun auf zur Rache! Unser Kampfgeschrei sey Hepp! Hepp! Hepp! Aller Juden Tod und Verderben, Ihr müßt fliehen oder sterben!“3

Trotz des Antisemitismus wurden im deutschen Judentum jener Tage ver­schiedene Versuche unternommen, der jüdischen Existenz eine an die neuen Bedingungen angemessene Form zu geben, was zu einem entschiedenen Bruch mit der früheren Identität von Volk und Religion führte. Diese brachten das Ju­dentum auf verschiedene Weise mit den Fragen der Zeit und der Kul­tur in Beziehung. Die damals vorherrschenden jüdischen Strömungen oder Ideologien, sei es die die Anschauungen des „Centralvereines der deutschen Staatsbürger jüdischen Glaubens“ (CV) oder der „Zionistischen Vereinigung für Deutschland“ (ZVfD), sind unter­schiedliche Formen dieser Reaktion. Wobei auch hier neue identi­tätsstiftende Merkmale eher ver-

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schwommen vorhanden waren. Der CV verstand sich als Abwehrorganisation gegen den Antisemitismus und betrachtete das Judentum als reine Religionszugehörigkeit – unab­hängig von der Staatsbürgerschaft. Die Zionisten vertraten auf der anderen Seite ein nationales – oft religionsloses – Judentum. In der Reformbewegung wurde die „jüdische Nation“ negiert und in der Neo-Orthodoxie spiritualisiert. Dabei darf man nicht übersehen, dass die deutsch-jüdische Lebenswelt des 19. Jahrhunderts in den beiden Kaiserreichen ein entscheidender Teil der Kultur dieser Epoche gewesen ist und keine von der übrigen Bewegung der Moderne abgetrennte jüdische Subkultur. Die Berliner jüdische Aufklärung hatte versucht, Juden durch Bildung den Anschluss an die westlichen Na­tionen zu ermöglichen. Sie wollte den Völkern zeigen, dass auch die Juden durchaus würdig sind, Rechte zu besit­zen. Aber die Weichen für die Bewegungen der jüdischen Moderne wurden be­reits viel früher gestellt. Die Halacha, die jüdische Welt der Gebote und Verbote, war stets im Fluss, Öffnungen zur Kultur der Umwelt hatte es neben dem spanischen Judentum auch im italienischen Judentum der Renaissance gegeben, Hand in Hand mit historisch-kritischen Auseinandersetzungen mit den religiösen Traditionen der rabbinischen Gelehrsamkeit. Die „Conversos“, die sabbatianische Bewegung des 17. und 18. Jahrhunderts, und der Chassi­dismus hatten das Judentum tief erschüttert. Die traditionell-orthodoxe Lebensform war ins Schwanken geraten. Im 18. und 19. Jahrhundert versuchten jüdische Denker aus dem Bedürfnis heraus, Brauchtum und Kultur der Umgebung in Einklang zu bringen, eine Art Theologie und Ritus zu entwickeln, die zeigt, dass das Judentum in der modernen Welt einen wichtigen Platz beanspruchen kann. Nachdem die Haskala die Strukturen der Gemeinden zunehmend kritisierte und auf eine Trennung von Staat und Rabbinat gepocht hatte, war auch eine Reform des Ritus nur eine Frage der Zeit. Jüdische Menschen, die sich im Zuge der Haskala der idealistischen und romantischen deutschen Philosophie zugewendet hatten, erkannten, dass eine jüdische Gemeinschaft in Deutschland nur eine Chance hat, wenn sie sich nicht völlig auflösen oder in ein selbstgewähltes Ghetto gehen will: Veränderung. Als Reaktion auf die fortschreitende Assimilation und auch Konversionen entwickelten sie jüdische Lehren, die auf die Zeitumstände reagierten. Von Anfang an aber war es nicht möglich, eine geschlossene Reformlehre herauszubilden, wodurch so unterschiedliche Strömungen wie das Reformjudentum, das konservative Judentum oder die Neo-Orthodoxie entstanden. Trotz des Erfolges der Haskala blieb die Mehrheit des deutschen Judentums bis in die Mitte des 19. Jahrhunderts eher traditionell. Dabei muss man auch sehen, dass sich diese von Region zu Region und Gemeinde zu Gemeinde unterschieden, durch unterschiedliche Herkunft und religiöse Lokalbräuche. Zwar folgten alle Gottesdienste einer gemeinsamen Standardliturgie, aber einzelne Melodien, liturgische Ergänzungen und Bräuche waren verschieden. Auch von Seiten der deutschen Länder, die im Zuge der deutschen Einigung versuchten, ihre überbordende Verwaltung zu zentralisieren, konnten einzelne unabhängige jüdische Körperschaften nicht mehr länger toleriert werden. Dies hatte zur Folge, dass jüdische Zivilstreitigkeiten nicht mehr vor jüdischen Gerichten entschieden werden durften und auf weltliche Ge-

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richte übertragen wurden. Der Kampf um die bürgerliche Gleichstellung der Juden wurde nicht nur von Juden, sondern auch von Christen wie Wilhelm von Humboldt (Potsdam 1767 – Tegel 1835) ausgetragen. Als nach der französischen Revolution die Juden in Frankreich dank Napoleon auch vor dem Gesetz gleichberechtigt waren, erweiterte sich die jüdische Emanzipation durch seine Eroberungszüge auch in die von Frankreich besetzten Gebiete, wie das Königreich Westfalen. Der wichtigste nicht unter französischen Einfluss entstandene Schritt zur Emanzipation erfolgte durch den Einsatz des Staatskanzlers Freiherrn August von Hardenberg (Essenrode 1750 – Genua 1822), der das preußische Judenedikt von 1812 maßgeblich durchsetzte. Das Edikt wurde in der Zeitschrift „Sulamith“ mit dem biblischen Vers „Es werde Licht“ freudig begrüßt (Band 1, S.382). Es sollte auf dem Wiener Kongress 1814, so hoffte es zumindest Wilhelm von Humboldt, auf die Länder des Deutschen Bundes erweitert werden. Stattdessen siegten aber die reaktionären Kräfte und sorgten dafür, dass die jüdische Emanzipation in vielen Gebieten nach dem Wiener Kongress noch weiter außer Kraft gesetzt wurde. Erst 1867 wurde im österreichischen und 1871 im deutschen Kaiserreich die bürgerliche Gleichberechtigung des Judentums Gesetz. Wobei man auch hier nicht vergessen sollte, dass zu Beginn der Kämpfe um die jüdische Emanzipation 5,4 Millionen Menschen in Preußen lebten, von denen 95 4 Prozent keine Bürgerrechte hatten und 70 Prozent Analphabeten waren. In allen deutschen Staaten lebten 1816/17 257.000 Juden (1,09% der Gesamtbevölkerung) und 1848 394.650 Juden (1,16% der Gesamtbevölkerung). In den Ländern Habs5 burgs lebten 1848 112.300 Juden (1,37% der Gesamtbevölkerung). Währenddessen versuchten die jüdischen Denker in der Reformbewegung, das Judentum von Grund auf neu aufzubauen und erwiesen sich damit als Erben von Lessing, der den Gedanken vorbereitet hatte, dass Religionen historischen Veränderungen unterworfen seien und daher dem Fortschritt folgen müssen. Die Reformer in Deutschland sahen das Judentum als eine Vernunft-Religion, das Schlagwort „ethischer Monotheismus“ ist hiermit verbunden. Noch zur Zeit Mendelssohns waren die mystischen Strömungen des Judentums auch im Westjudentum ein mächtiger Strang. Im 19. Jahrhundert wird Kabbala und Chassidismus zunehmend als etwas „Ostjüdisches“ bezeichnet. So wird im entstehenden Reformjudentum, wie auch in der Wissenschaft des Judentums damals, alles Mystische ausgeblendet. Die Bilder werden zugehängt und man begibt sich in den Salon. Der Gottesdienst wird verändert, auf die Zionsgebete und den Glauben an die Rückkehr ins Land der Väter und dem Wiederaufbau des Tempels wird verzichtet. Sie müssen dem deutschen Patriotismus weichen. Dabei sind einige Elemente der jüdischen Reform, wie die veränderte Rolle der Frau, der Kampf gegen für die Privatisierung des Judentums gegen eine rabbinische Autonomie, herausragende Beiträge. Die Reformbewegung versuchte das Motto „Deutsch werden, jüdisch bleiben“ in eine Lehre umzuwandeln. Die Bildung des 19. Jahrhunderts – persönliche Sittlichkeit, geistige Fähigkeiten, gesellschaftlicher Schliff, Literatur, Kunst und Musikkenntnisse – wurde für viele Juden zu einer Art weltlicher Religion, mit den Werken von Lessing und Schiller an der Spitze. Zu frühen Goetheverehrern zählte Rahel Varnhagen von Ense (Ber-

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lin 1771–1833). Zu den bedeutenden Trägern deutsch-jüdischer Kultur gehörten Heinrich Heine (Düsseldorf 1797 – Paris 1856), Ludwig Börne (Frankfurt a.M. 1786 – Paris 1837) oder der Maler Moritz Oppenheim (Hanau 1800 – Frankfurt a.M. 1882). Börne ließ sich 1818 und Heine 1825 protestantisch taufen, was aber weder bedeutete, dass sie vor Antisemitismus sicher waren, noch, dass sie völlig aus der jüdischen Gesellschaft ausgegrenzt worden wären. Die berühmten „Hebräischen Melodien“ Heines entstanden erst nach seiner Konversion. Wie sehr auch schon das 19. Jahrhundert vom rassistischen Antisemitismus geprägt war, sieht man in den Angriffen, denen Heine nach der Taufe ausgesetzt war, wie in der Kontroverse mit August Graf von Platen.

„Als mich die Pfaffen in München zuerst angriffen und mir den Juden zuerst aufs Tapet brachten, lachte ich– ich hielts für bloße Dummheit. Als ich aber System roch, als ich sah wie das lächerliche Spukbild allmählig ein bedrohliches Vampier wurde, als ich die Absicht der Platenschen Satyre durchschaute, als ich durch Buchhändler von der Existenz ähnlicher Produkte hörte die mit demselben Gift getränkt manuskriptlich herumkrochen – da gürtete ich meine Lende, und schlug so scharf als möglich, so schnell als möglich. Robert, Gans, Michel Beer und andre haben immer, wenn sie wie ich angegriffen wurden, christlich geduldet, klug geschwiegen – ich bin ein Andrer, und das ist gut.“6 Säkulare Juden, Reformjuden, Juden, die nach der Konversion immer noch von Gesellschaft und Kritik als Juden wahrgenommen wurden, bildeten die Gruppe der an Kunst, Literatur und Musik begeisterten Juden. Auch Saul Ascher (Berlin 1767–1822), einer der ersten jüdischen Reformatoren, musste sich als Publizist mit den „Deutschtümlern“ auseinandersetzen. Der Kantianer Ascher, von Heine in seiner Harz-Reise als ein von der Vernunft besessenes Gespenst ironisiert, bekämpfte auch Antisemiten wie den „Turnvater“ Jahn mit seiner Schrift „Germanomanie“: „Die Anfälle sind gefährlicher und nachdrücklicher, da sie eine potenzierte Quelle haben. Die Juden, heißt es, sind weder Deutsche noch Christen, folglich können sie nie Deutsche werden. Sie sind als Juden der Deutschheit entgegengesetzt, folglich dürfen sie die Christen nicht als ihresgleichen aufnehmen und können sie unter ihnen höchstens mit der Einschränkung geduldet werden, dass man überzeugt sei, sie treten der Deutschheit nicht in den Weg.“7

Beim Wartburgfest 1817 verbrannten Studenten auch bewusst diesen Text von Ascher mit dem Spruch „Wehe über die Juden, so da festhalten an ihrem Judentum und wollen über unser Volkstum schmähen.“ Heine ließ 1821 in seinem Theaterstück „Almansor“ seiner Figur Hassan sagen „Das war ein Vorspiel 8 nur, dort wo man  Bücher  verbrennt, verbrennt man auch am Ende Menschen.“ Darüber hinaus war Ascher einer der wichtigsten Figuren in der Debatte, ob das Judentum ein Glaube oder eine nationale Gesetzesreligion sei.

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Reformjudentum Ein zentraler erster Reformpionier war Israel Jacobson (Halberstadt 1768 – Berlin 1828), Hoffaktor des Königs Jerome von Westphalen. Er wurde zum Präsidenten des in der Zeit der napoleonischen Gleichberechtigung gegründeten „Konsistorium der Israeliten“ und hoffte, eine zentrale Kult- und Ritusreform durchzusetzen. Daneben wurde von ihm 1801 eine moderne jüdische Freischule für „arme Judenkinder“ eingerichtet. Bereits 1802 wurden auch christliche Kinder in die Jacobson-Schule aufgenommen. Als Schulsynagoge wurde 1810 die erste Reformsynagoge errichtet, der „Jacobs-Tempel“. Zur Einweihung hielt man passend zum gelebten jüdisch-christlichen Dialog der Schule einen ökumenischen Gottesdienst ab, an dem katholische und protestantische Würdenträger teilnahmen. Das passte auch gut zum Motto der Synagoge „Haben wir denn nicht alle einen Vater? Hat nicht ein Gott uns erschaffen?“. Der Tempel wurde während der Reichspogromacht 1938 zerstört und der Synagogendie9 ner Nußbaum ermordet. Die Bezeichnung „Tempel“ signalisiert gewissermaßen das Ende des Diaspora-Gefühles. Man fühlte sich nicht mehr im Exil und hoffte weder auf eine Rückkehr nach Zion, noch auf eine Wiederherstellung des Jerusalemer Tempels. „Wir dürfen nicht mehr mit dem Munde um die Rückkehr nach Palästina beten, während unser Herz doch mit den stärksten Banden an das deutsche Vaterland gekettet ist, während das Geschick desselben mit dem unseren unauflöslich verbunden, was uns lieb und teuer, von ihm umschlossen ist. Wir dürfen nicht um die Zerstörung des Tempels in Schutt und Asche trauern, während wir längst ein anderes, umso teuer gewordenes Vaterland besitzen.“10

Auch hatte bereits der Jacobstempel einige der Charakteristika späterer Reformsynagogen wie die deutsche Predigt, einen Chor, Orgel und einen Glockenturm mit Glocke. Es wird bis heute der Reformbewegung vorgeworfen, sich im Synagogenbau und im Ritus an das – vor allem protestantische – Christentum zu assimilieren. Aber die unterschiedlichen Strömungen der Reformbewegung und ihre Synagogen und Gebetbücher sind vielmehr der gelungene Versuch, sich in der Welt der Romantik und des Deutschtums zu akkulturieren. Die Reformdenker versuchten erfolgreich, den Elementen der jüdischen Tradition eine Form zu geben, die zeitgemäß und der Umwelt angepasst war. In der Orthodoxie wurden die Mitzwot (die Gebote) befolgt und nicht hinterfragt. Plakativ gesagt bedeutet dies, man tötet nicht seinen Mitmenschen, da dies ethisch verwerflich ist, sondern weil es Gottes Gebot ist. In der Reformbewegung nehmen dagegen Ethik, Spiritualität und Erbauung wichtige Positionen ein und ersetzen ein emotionslos ausgeübtes Regelwerk mit tatsächlicher Religiosität. Das ist kein christliches Judentum, sondern eine modernes Judentum in einer vom Christentum geprägten Zeit. Aktuelle Versuche religiöser Integration scheitern ja gerade so oft, weil religiöse Gruppen versuchen, ihre religiösen Traditionen in Länder zu pflanzen und dabei, ohne jede Akkulturation, auf die gewachsenen Strukturen keinerlei Rücksicht nehmen. Nach dem Fall Napoleons und dem Ende des Konsistoriums ging Jacobson nach Berlin, wo er zunächst bei sich und später im Haus von Jakob Herz Beer (1769–1825)

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und Amalia Beer (Berlin 1767–1854) eine Synagoge einrichtete, die zum magnetischen Anziehungspunkt für die jüdische Jugend Berlins wurde. Es gab auch hier eine Orgel und einen Chor. Die chauvinistische Trennung von Frauen und Männer war noch nicht ganz aufgehoben, aber man saß sich zumindest gegenüber. Hier erhielten auch Mädchen ihre Bat-Mitzwa. Damals lebten ca. 3300 Juden in Berlin, zuweilen besuchten über 400 Gäste den Tempel. Bei den Beers wurde auch Eduard Kley (Wartenberg 1789 – Hamburg 1867) als Hauslehrer eingestellt – immerhin hatten sie vier Söhne, darunter der Schriftsteller Michael Beer (1800–1833), aber auch Jakob Meyer (Tasdorf 1791 – Paris 1864), der sich später Giacomo Meyerbeer nennen sollte. Friedrich Wilhelm III. befürchte innerjüdische Spaltungen und schloss den BeerTempel 1823. Eduard Kley, der auch im Tempel gepredigt hatte, war einer der Triebfedern des Hamburger Tempel-Vereins von 1817. Kley wurde zum ersten Prediger des vom Verein errichteten Hamburger Tempels. Deutsche Predigt, Kürzungen des Gottesdienstes und ein Chor zeichneten ihn aus. Man betete nach der sephardischen Aussprache, da man glaubte, dass diese authentischer sei. In Hamburg wurde auch eine moderne Konfirmation anstelle der traditionellen Bar-Mitzwa eingeführt, die bereits in Berlin erprobt wurde, 1819 wurde ein Reform-Gebetbuch veröffentlicht. „Der Gott des neuen Gebetbuches ist ungeschmälert in seiner Macht: Er erweckt die Toten zum Leben; er erschuf die Welt in sechs Tagen. Aber er ist nicht mehr der Gott, der Israel seine besondere Gnade zuwendet. Das Alenu-Gebet mit seinen ausschließenden Tendenzen wird im Sabbat-Gottesdienst weggelassen, in den Gottesdiensten der hohen Festtage, bei denen der vollständige hebräische Text bewahrt bleibt, schließt die deutsche Übersetzung die Heiden, nicht aber die Christen vom göttlichen Segen aus. Einst gebot Gott Tieropfer, aber der Gott der Reformer verlangt jetzt nur noch Gebete und Opfer der Herzen. Anstatt den Messias zu entsenden, der Israel nach Palästina zurückführt, wird er Israel – und der ganzen Menschheit – die Erlösung zuteilwerden lassen.“11

Trotz der von 40 traditionellen Rabbinern unterschriebenen Petition gegen den Tempel-Verein und seine Reformen, ließ sich der Hamburger Senat nicht auf einen religiösen Streit ein und der Tempel blieb bestehen. Nachdem der erste zu klein geworden war, wurde der Neubau des Hamburger Israelitischen Tempels 1844 eingeweiht. In Berlin gründete man ein Jahr später die „Genossenschaft für Reform im Judentum“, aus der 1850 die Berliner Reformgemeinde hervor ging. Sie blieb innerhalb der Gesamtgemeinde, während sich die orthodoxen Mitglieder 1869 abgespalten hatten. Samuel Holdheim (Kempen 1806 – Berlin 1860) wurde Rabbiner der Berliner Reformgemeinde. Er galt als radikal, da er bereits als Landesrabbiner von Schwerin-Mecklenburg und auf den Rabbinerversammlungen von 1844–1846 einen rein biblischen positiven Offenbarungsglauben vertreten hatte. Holdheim lehnte das rabbinische Judentum ab und möchte die rabbinische Jurisdiktion, das Ehe- und Familienrecht, endgültig abschaffen und die Juden an die Landesgesetze binden („Die Autonomie der Rabbinen und das Prinzip der jüdischen Ehe“, 1843). Er

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sah die Beschneidung als leer, überflüssig und bedeutungslos an und anerkannte auch Ehen mit Nichtjuden als religiös gültig. Er lehnte alle zweiten Feiertage ab und legte den Schabbat auf den Sonntag. Holdheim war einer der bedeutendsten Theoretiker des Reformjudentums. Im Januar 1844 rief Ludwig Philippson (1811 Dessau – 1889 Bonn) in der „Allgemeinen Zeitung des Judentums“ alle Rabbiner dazu auf, in einer Konferenz die offenen Fragen von Kultus und Ritus zu diskutieren, um Spaltungen abzuwenden. Allerdings waren die 25 Rabbiner, die im Juni 1844 in Braunschweig zu einer Rabbinerkonferenz zusammen kamen, vor allem Reformtheologen. Am Ende der Versammlung wurden Punkte beschlossen, die die Gräben zwischen Tradition und Reform noch vertieften, statt zu einer Einigung zu gelangen. So beschloss die Rabbinerversammlung Ehen zwischen Juden und Christen und Muslimen in allen Ländern anzuerkennen, in denen es von Staats wegen erlaubt ist, die Kinder jüdisch zu erziehen. Das „Kol Nidre“ Gebet wurde gestrichen. Eine besonders scharfe Reaktion traditioneller Juden war die Zusammenstellung eines Gutachtens von 110 Rabbinern gegen die Versammlung, in dem die Teilnehmer als „Ketzer“ beschimpft wurden. Für die zweite Rabbinerversammlung, die 1845 in Frankfurt am Main stattfand, war angedacht, die konservativeren Richtungen stärker einzubinden. So kam auch Rabbiner Zacharias Frankel (Prag 1801 – Breslau 1875) zur Konferenz. Das konservative Judentum, dessen geistiger Vater Frankel war, nannte man auch historisches Judentum oder die historische Schule. Auf der einen Seite sah Frankel die jüdische Geschichte als eine Geschichte der Veränderungen. Aber er unterstützte nur Veränderungen, solange diese nicht die drei Grundpfeiler angreife – hebräisch als Liturgiesprache, die Speisegesetze und den Schabbat. Frankel versuchte als Mensch der Mitte den Kern des Judentums zu bewahren. Dieser Kern der jüdischen Religion ist für Frankel geoffenbart und daher nicht der rationalen Kritik oder Veränderung unterworfen. Allerdings gibt es auch eine geschichtliche Entwicklung der Traditionen und der nachbiblischen Gesetze, die stets uminterpretiert wurden. Er vertrat eine Fortbildung religiöser Verbesserungen anstelle einer Reform mit ihren Neuerungen. Frankel durchlief die typische Entwicklung eines „modernen Rabbiners“, er studierte den Talmud, absolvierte aber auch ein Universitätsstudium und promovierte 1830. 1836 wurde er Rabbiner in Dresden. Dort wurde 1840 die bis dahin größte Synagoge Deutschlands errichtet, die rund 1000 Menschen Platz bot. Die äußere Gestalt war der berühmten San Vitale aus Ravenna im neoromanischen Stil nachempfunden. Auch dieses Bauwerk von Gottfried Semper wurde in der Pogromnacht 1938 völlig zerstört. Frankel, der 1854 der erste Direktor des Breslauer Seminars wurde, hatte 1851 die legendäre „Monatsschrift für Geschichte und Wissenschaft des Judentums“ ins Leben gerufen, der erst die Nazis 1938 den Garaus machten. Der letzte Jahrgang dieser Zeitschrift, in der die größten Gelehrten jener Zeit ihre teilweise noch heute bedeutenden Artikel geschrieben hatten, wurde, bis auf wenige Exemplare, völlig eingestampft. Eines der zentralen Themen der zweiten Rabbiner-Konferenz war die Rolle der hebräischen Sprache im jüdischen Gottesdienst. Abraham Geiger (Frankfurt a.M. 1810 – Berlin 1874) sprach sich im Gegensatz zu Frankel gegen das Hebräische aus,

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da dadurch das Judentum den Charakter einer nationalen Religion beibehalten würde. Als in einer Abstimmung mit 18 zu 12 Stimmen beschlossen wurde, dass das Hebräische im Gottesdienst nicht obligatorisch sei, verließ Frankel wütend die Versammlung. Eine Spaltung war nicht mehr aufzuhalten – auch innerhalb der Reform. Die radikale Berliner Reformgenossenschaft sah sich ebenfalls nicht durch die Rabbinerkonferenz vertreten. Im Berliner Reform-Ritus gab es bis auf wenige Gebete kein Hebräisch mehr, die Kopfbedeckung der Männer, die zweiten Feiertage und das Schofarblasen wurde abgeschafft. Man führte zusätzlich zum Schabbatgottesdienst einen Gottesdienst am Sonntag ein. Als aber nach einigen Jahren keiner mehr am Schabbat in die Synagoge kam, wurde auch dieser aufgegeben. Im Juli 1846 fand die dritte und letzte Rabbinerkonferenz in Breslau statt, in der man sich offiziell von den zweiten Feiertagen verabschiedete. Es kam dann 1847 und nach der Revolution von 1848 nicht mehr zu einer vierten Konferenz, die ursprünglich in Mannheim stattfinden hätten sollen. Abraham Geiger setzte sich – zeitgleich mit Ludwig Philippson – für die Errichtung einer Lehrstätte für die „Jüdische Theolo­gie“ ein, die religiöses Den­ken und Wissen­schaft verbinden sollte. Jedoch erst 2013 sollte so ein Lehrstuhl an einer deutschen Universität (in Potsdam) eingerichtet werden. Geiger, der wie viele seiner Zeitgenossen unter dem Einfluss des Idealismus und der Romantik stand, studierte in Heidelberg, der Hauptstadt der deutschen Romantik. So war auch Geiger weniger ein Rabbiner als ein Wissenschaftler. Für seine Schrift „Was hat Mohammed dem Judentum entnommen“ hatte er 1823 einen Preis erhalten. Da aber jüdische Wissenschaften als auch Juden keinen Platz an den deutschen Universitäten finden, wird er Rabbiner und gründet Zeitschriften wie die „Wissenschaftliche Zeitschrift für jüdische Theologie“. Erst am Ende seines Lebens lehrt er an der von ihm selbst, Philippson und Samuel Neumann 1872 gegründeten „Hochschule für die Wissenschaft des Judentums“ seine Form des jüdischen Denkens. Geigers Position ist absolut universalistisch und basiert auf den ethischen Lehren der Propheten. Die Tora sei nicht wörtlich von Gott offenbart worden. Da religiöse Lebensformen immer wieder umgestaltet und angepasst werden möchte er der uneinheitlichen Reformbewegung eine einzige Stoßrichtung geben. Er sah das Judentum als historische Religion, deren Verbindung mit der Geschichte erhalten bleiben und wissenschaftlich erforscht werden müsse. Wer laut Geiger die Gebote zur geistigen Erhebung befolgt, könne das gerne tun. Für Gesetze, wie die Speisegesetze, sieht er keinen Grund, sie zu bewahren, da sie gesellschaftsfeindlich sind. Zur Beschneidung sagte er in einen privaten Brief: „Sie bleibt ein barbarisch blutiger Akt, der den Vater mit Angst erfüllt, die Wöchnerin Spin krankhafte Spannung versetzt, und das Opferbewusstsein, das sonst dem Akte eine Weihe gab, ist doch nun einmal bei uns geschwunden, wie es denn, als ein rohes auch keine Befestigung verdient.“12

Dennoch hatte sich Geiger nie an offiziellen Aktionen gegen die Abschaffung der Beschneidung beteiligt. Allein daran kann man erkennen, dass Geiger ein eher gemäßigter Reformer war, obwohl er für das Breslauer Rabbinerseminar zu modern war.

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Wissenschaft des Judentums Wenn man heute die Vorlesungsverzeichnisse der großen Universitäten im deutschsprachigen Raum durchblättert, sind Lehrveranstaltungen zum Judentum bzw. Lehrstühle und Institute für jüdische Studien keine Seltenheit mehr. Dabei sind auch sie erst Produkte der späteren Nachkriegszeit, die auf keine wirkliche universitäre Tradition zurückgreifen können. Es gab zwar Orientalistik, aber weder Judaistik noch jüdische Theologie fanden Platz in den deutschsprachigen Universitäten des 19. und frühen 20. Jahrhunderts. Die „Wissenschaft des Judentums“ fand bei PrivatGelehrten statt. Die eigentlichen Gründerväter wie Eduard Gans (Berlin 1798–1839) oder Leopold Zunz (Detmold 1794 – Berlin 1886), hatten sich bereits 1819 in dem „Verein für Cultur und Wissenschaft der Juden“ zusammengeschlossen. Hier sollte nun das Judentum auf objektive Weise historisch, philologisch und philosophisch untersucht werden. Eine der Ziele des „Culturvereines“ war es, das Judentum vor der Auflösung zu retten, indem man bewies, dass es eine historische Erscheinung und Teil der allgemeinen Kultur ist. Die sich assimilierenden Juden, bei denen die weltliche Kultur anstelle der jüdischen Tradition getreten war, sollten erkennen, dass das Judentum keinen Gegensatz zur Kultur darstellt. Auch hoffte der „Culturverein“ auf der anderen Seite mit seinen Leistungen einen Schritt zur Beschleunigung der Emanzipation der Juden zu erreichen. 1817 hatte Leopold Zunz bereits die programmatische Schrift „Etwas zur rabbinischen Literatur“ verfasst. Er dachte, dass aus Anerkennung der jüdischen Literatur als gleichwertiges Kulturgut auch die Gleichstellung der Juden hervorgehen würde. Sprachrohr des kurzlebigen Culturvereines wurde 1823 die „Zeitschrift für die Wissenschaft des Judentums“, die nach nur einem Jahrgang verschwand. Heinrich Heine, der auch Mitglied im „Culturverein“ gewesen war, schrieb 1823 über die Zeitung an Leopold Zunz: „Ich habe von Moser die Zeitschrift erhalten, und selbige bereits aufgeschnitten, durchblättert, und Theilweise mit Aerger gelesen. Ich will gar nicht in Abrede stellen daß die Sachen darinn gut sind, aber ich muß freymüthig gestehen – und erführe es auch der Redakteur – der gröste Theil, ja 3/4 des dritten Hefts ist ungenießbar wegen der verwahrlosten Form. Ich will keine Göthische Sprache, aber eine verständliche, und ich bin fest überzeugt was ich nicht verstehe, versteht auch nicht David Levy, Israel Moses, Nathan Itzig, ja vielleicht nicht mahl Auerbach II. Ich habe alle Sorten deutsch studirt, sächsisch deutsch, schwäbisch deutsch, fränkisch deutsch, – aber unser Zeitschriftdeutsch macht mir die meisten Schwierigkeiten. Wüste ich zufällig nicht was Ludwig Markus und Doctor Gans wollen, so würde ich gar nichts von Ihnen verstehen.“13

1824 wurde der „Culturverein“ aufgelöst. Die Gründe hierfür ergaben sich aus der politisch-soziologischen Stellung der Juden in dem Jahrhundert des „Kampfes für die Emanzipation“. Besonders im Schicksal des Vorsitzenden des „Culturvereines“, Eduard Gans, trat dies illustriert zu Tage. Er ließ sich 1825 taufen, um eine akademische Position in Berlin zu erlangen. In einem Brief von Gans an den Minister v. Altenstein von 1821 findet sich folgender Ausspruch: „Ich gehöre zu der unglück-

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lichen Menschenklasse, die man hasst, weil sie ungebildet ist, und die man verfolgt, 14 weil sie sich bildet.“ Nach dem Ende des „Culturvereines“ lebte die „Wissenschaft des Judentums“ nur noch in Privat-Gelehrten wie Zunz oder Moritz Steinschneider (Proßnitz 1816 – Berlin 1907) weiter. Diese vertraten eine untheologische Richtung in der „Wissenschaft des Judentums“, die später vor allem durch Rabbiner bestimmt wurde. Steinschneider bekannte einmal: „Ich habe meine Forschungen zunächst für mich selbst angestellt; es hat stets Männer gegeben, welche das Forschen zu den selbstzweckdienlichen Tätigkeiten zählen, wie andere Männer andere Genüsse. (...) Ich schreibe über Juden, aber nicht für sie, nicht pro domo. Judenfeinde belehrt man nicht, am wenigsten durch Geschichte.“15

Bedeutende erste Pioniere waren Isaak Markus Jost (Bernburg 1793 – Frankfurt a.M. 1860), der Verfasser einer mehrbändigen jüdischen Geschichte, Peter Beer (Neu-Bidschow 1758 – Prag 1838), der eine zweibändige „Geschichte, Lehren und Meinungen aller bestandenen und noch bestehenden religiösen Sekten der Juden“ verfasst hatte und Samuel Baeck (Kromau 1834 – Lissa 1912) mit seiner „Geschichte des jüdischen Volkes und seiner Literatur vom babylonischen Exile bis auf die Gegenwart“. Ganz im Sinne des Bildungsbürgertums verfasste Heinrich Graetz (Xions 1817 – München 1891) sein monumentales elfbändiges Werk, die „Geschichte der Juden“ (1853–1876). Hierin entwarf er nicht die Geschichte des Judentums, sondern die Geschichte der Juden als Volk in einer Verwirklichung eines göttlichen Planes – eine „Leidens- und Gelehrtengeschichte“. Dabei blendete er in seiner Geschichtsdarstellung vehement alle irrationalen Strömungen im Judentum aus. Diese Hal­tung ist eben nicht vom Kampf um die bürgerliche Gleichberechtigung der Juden zu trennen. Im Zuge die­ses Kampfes wollte Graetz alles, was ihm mystisch, „mittelalterlich“ und „abergläubisch“ anmu­tete, streichen, weil es dem Eintritt der Juden in die bürgerliche Gesellschaft des 19. Jahrhun­derts im Wege stehen könnte. Obwohl er in seiner „Geschichte der Juden“ der Kabbala nur ein paar Seiten widmete, spricht aus diesen eindeutig eine negative, verachtende Einschätzung dieser Lehre.16 Er sah in ihr eine Reaktion auf die rationalistische Philosophie, die mit dem mittelalterlichen Denker Maimonides ihren Höhepunkt feierte. Die Kabbala sei in ihrem Kern etwas Nichtjüdisches, sie stelle all das dar, was das Judentum nicht sein sollte, während sich in der rationalistischen Philosophie die höchste Errungenschaft jüdischen Denkens widerspiegle. „Verdächtig genug ist der Ursprung der Kabbala, wenn dieser blinde, phantastischen Vorstellungen unterworfene Lehrer ihr erster Urheber oder auch nur Vermittler gewesen sein soll.“ Zu Azriel und Ezra aus Gerona heißt es weiter: „Ehrlich waren beide nicht; denn sie haben ein oder mehrere von ihnen verfasste Machwerke älteren Autoritäten untergeschoben, um ihrer Afterlehre den Stempel des Altertums aufzudrücken.“17 Im 20. Jahrhundert fand durch die Gründung der Hebräischen Universität in Jerusalem die „Erneuerung der Wissenschaft des Judentums“ statt, wo zunächst eine

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zionistische und mittlerweile post-zionistische Historiographie betrieben wurde. Hier wurden durch Professoren wie Gershom Scholem (Berlin 1897 – Jerusalem 1982) und Martin Buber (Wien 1878 – Jerusalem 1965) auch Phänomene untersucht, die von der Wissenschaft des 19. Jahrhunderts vernachlässigt wurden. Beide waren weder Rabbiner, wie die meisten der Gelehrten der „Wissenschaft des Judentums“, noch in irgendeiner Weise den religiösen Traditionen des Judentums verpflichtet. Selbst die großen Rabbinerseminare jener Tage sind erst im zähen Kampf errungen worden. 1854 wurde das „Jüdisch-Theologische Seminar Fraenkelscher Stiftung“ in Breslau und 1872 die „Hochschule für die Wissenschaft des Judentums“ in Berlin gegründet. Ein Jahr später folgte das orthodoxe Rabbinerseminar von Esriel Hildesheimer (1820–1899). In Metz wurde bereits 1830 und in Paris 1859 eine wissenschaftliche Rabbiner-Lehranstalt gegründet. 1855 folgte das orthodoxe „Jews College“ in London, 1862 die „Israelitisch-theologische Lehranstalt“ in Wien und 1877 die Landesrabbinerschule in Budapest, wo Wilhelm Bacher (1850–1913), Ignaz Goldziher (1850–1921) oder David Kaufmann (1852–1899) unterrichteten. Einer der ersten Gelehrten der hebräischsprachigen Seite der „Wissenschaft des Judentums“ war Nachman Krochmal in Galizien (Brody 1785 – Tarnopol 1840). Krochmal stand unter dem Einfluß der idealistischen Schule Schellings und Hegels und verstand im deutschen Idealismus das logische Erbe der mittelalterlichen jüdischen Philosophen, wie Maimonides und Ibn Esra (1092–1167). Krochmal verfasste im Laufe seines Lebens leider nur zwei Niederschriften seiner Ideen. Sein hebräischer „More Nebuche Ha-Seman“ (Führer der Verwirrten in dieser Zeit) blieb unvollendet und wurde von seinem Freund Leopold Zunz zusammengestellt und posthum 1851 veröffentlicht. Seine zweite Schrift ist eine ebenfalls auf Hebräisch geschriebene Sammlung von Vorlesungen Krochmals über verschiedene Philosophen. Sein „More Nebuche ...“ ist ebenso kein einheitliches Werk, sondern eine Schriftensammlung theologisch-philosophischer Abhandlungen über jüdische Geschichte und somit ein Versuch der philosophischen Betrachtung der jüdischen Geschichte, die für ihn pluralistisch ist. Krochmal übernahm das Hegelsche Geschichtsbild der Völker: jedes Volk habe seine Epoche, aber wenn es seine Rolle im weltgeschichtlichen Prozess erfüllt hat, verschwindet es wieder. Krochmal sagte, dies treffe auf alle bis auf das jüdische Volk zu, es lebe ewig durch seine Beziehung zum „absoluten Geist“, der Hegelsche Terminus für Gott. Krochmal sah in der jüdischen Mystik, der Kabbala, genauso wie im Idealismus und in der Philosophie des Maimonides eine „Hochmot ha-emuna“ (Wissenschaft des Glaubens). Er wendet den zyklischen Begriff von Reife, Blüte und Niedergang auf die Kabbala an: diese, aufgeschwungen im zweiten Jahrhundert, hätte im dreizehnten Jahrhundert ihre Blüte und mit dem Sabbatianismus ihre Degeneration erlebt. Krochmal sah Parallelen zwischen Hegels dialektischer Philosophie und Gedanken der Kabbala. So benützt er den Begriff des Zimzum, der Selbstverschränkung Gottes, aus der Kabbala, um die Schöpfung zu erklären. Genauso wie die Kabbala entsprach auch die im 19. Jahrhundert in Osteuropa blühende chassidische Volksbewegung nicht dem aufgeklärt-rationalen „Wesen des

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Judentums“, wie es die Vertreter der „Wissenschaft des Judentums“ formuliert hatten. So wurde der Chassidismus dort ignoriert bzw. mit Polemik überschüttet. Graetz schrieb in seiner „Geschichte der Juden“: „Alles und jedes, was der Zaddik tue, treibe und denke, habe einen entscheidenden Einfluß auf die höhere und niedere Welt. (…) Selbst wenn er aus der Flasche Begeisterung schöpfe, wirke er damit auf das ganze Weltall ein. Welcher bodenlose Wahn! Das alles hat die Afterlehre der Kabbala verschuldet.“18 Die eigentliche „Entdeckung“ und Verarbeitung des Chassidismus für literarische und politische Zwecke fand im Osten statt. Trotz der verschiedenen Beweg- und Hintergründe schufen diese Juden aus dem Osten ein neues – uneinheitliches – Bild des Chassidismus. Ihre Sichtweisen wurden im Westen von Denkern wie Martin Buber aufgenommen und reflektiert. Bis zu den Pogromen am Ende des 19. Jahrhunderts war der Chassidismus im Osten ein beliebtes Angriffsziel der Haskala gewesen – wie bei Josef Perl (Tarnopol 1777–1839) „Sefer Megalle Temirin“ (Die entdeckten Geheimnisse) von 1819 oder „Sefer Bochen Zaddik“ (Auf der Suche nach einem Gerechten) von 1838. Doch mit dem Scheitern der Assimilation und dem Erstarken der national-jüdischen und den jüdisch-sozialistischen Richtungen wurden nun die volkstümlichen Elemente des Chassidismus als Propagandamittel entdeckt. Man war auf der Suche nach einem national-traditionellen Modell, mit dem man die Massen gewinnen konnte, das aber dennoch fern der Orthodoxie stand. Einen sehr leidenschaftlichen Niederschlag fand der Chassidismus bei Micha Berdyczewski (= Micha Josef Bin Gorion, Miedzybóz 1865 – Berlin 1921). Der revolutionäre Anhänger der nationaljüdischen Idee stand deutlich unter dem Einfluss der Lebensphilosophie Nietzsches und Schopenhauers. Diese wandte er auf das Judentum an. So verstand er im Chassidismus eine revolutionäre Bewegung gegen die erstarrte Orthodoxie. In seinem „Sefer Chassidim“ (Warschau 1900) wurde Berdyczewski zum begeisterten „Entdecker des Chassidismus“ und sah in ihm eine revolutionäre Bewegung gegen die erstarrte Orthodoxie. Später trennte er sich jedoch von dieser Begeisterung. Er fand im Chassidismus keine wirkliche Lösung für die gesellschaftlichen Verhältnisse des Ostjudentums. Berdyczewski selbst wurde in Miedzybóz geboren, jener Stadt, in der rund 100 Jahre zuvor Israel ben Elieser (1700–1760), der legendäre Begründer des modernen Chassidismus, als ein „Ba’al Schem Tov“ gewirkt hatte. Die Arbeit als „Ba’al Schem“ besagte, dass Israel ben Elieser ein Kenner der praktischen Kabbala war, der mit Gottesnamen durch Amulette und Handauflegen in Verbindung mit Naturmedizin Menschen heilte. Berdyczewski hatte familiäre Wurzeln in dieser Welt der Chassidim. Generationen vor ihm waren allesamt Rabbiner gewesen. Aber er war der Erste, der diese „goldene Kette“ der Tradition durchbrach. In Breslau, Berlin und Bern studierte er vor allem Philosophie und schloss 1896 sein Studium mit einer Dissertation über den „Zusammenhang zwischen Ethik und Philosophie“ ab. In Berlin lernte er 1899 auch Rachel Ramberg kennen, die er 1902 heiratete. Dank ihrer Tätigkeit als Zahnärztin im Armenviertel von Breslau konnte sie seine schriftstellerische Arbeit unterstützen. Gemeinsam zogen sie 1911 wieder nach Berlin.

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„Zwei Jahre vor seinem Tode erreichte ihn die Unglücksbotschaft von den Pogromen der Bürgerkriegszeit in der Ukraine, der die gesamte Bevölkerung des Städtchens Dubowa (...) mit seinem greisen Vater, dem 75jährigen Rabbi Mose Aaron Berdyczewski, zum Opfer gefallen waren (...) und zermalmte ihn. Seine Kraft war schon vorher von Arbeit und Entbehrungen aufgezehrt gewesen, und den Schlag überlebte er nicht. Er starb am 18. November 1921 und ist auf dem Friedhof zu Berlin-Weißensee begraben.“19

Andere Juden zog es in den Osten als einzig mögliche „Rückkehr“ zum Judentum, wie Ahron Marcus (Hamburg 1843 – Frankfurt a.M. 1916, beigesetzt in Krakau). Bereits 1861 war der aus Hamburg stammende Marcus in Krakau „Chassid“ geworden. Seine Schriften reflektieren die Zeit, die er beim „Reben vom Radomsk“, Salomon Rabinowicz, verbracht hatte. 1888 schrieb er: „Ich stelle die Behauptung auf, daß (...) die von der modernen Cultur durch eine chinesische Mauer getrennten Juden Ost-Europas im Besitze einer lebendigen Wissenschaft sind.“20 Marcus veröffentlichte 1901 das faszinierende Buch „Der Chassidismus. Eine kulturgeschichtliche Studie“ unter dem Pseudonym „Verus“. Ein Werk „aus der Feder eines Choßid“, dem moderne Philosophie und Psychologie nicht fremd waren. Marcus Buch „Der Chassidismus“ ist eine unwissenschaftliche Geschichte des Chassidismus in Form einer Verteidigungsrede und wirkt wie eine apologetische Gegendarstellung zu Graetz oder Geiger. Marcus‘ Bücher spiegeln die Sehnsucht eines Westjuden nach einem ganzheitlich gelebtem Judentum wider. Trotz des erlebten Chassidismus von Marcus beherrschte doch jenes romantische Bild von „Ost“ und „West“ sein Denken. Er idealisierte den ostjüdischen Chassidismus und verteufelte das Westjudentum. Die jüdische Aufklärung und Wissenschaft schuf die Kluft zwischen West- und Ostjudentum. Während die Juden im Osten im Chassidismus die höchste Vollendung erreichten, verloren die Juden jenseits der Karpaten ihr Judentum. Seine grobe Vereinfachung der historischen Entwicklungen schmälert den Wert von Marcus Schrift erheblich. Seine Feindbilder waren moderne jüdische Philosophen wie Salomon Maimon oder Wissenschaftler wie Graetz. Dennoch ist Marcus Werk ein früher Baustein der positiven Darstellung des Chassidismus.

Der „Wiener Ritus“ In Wien war nach der Vertreibung von 1670 zunächst eine sephardische Gemeinde 1736 gegründet worden, wobei es erst 1778 zur Einweihung einer Synagoge kam. Diese Gemeindegründung ist mit der Gestalt des legendären „Converso“ Diego d’Aguilar (1699 als Moses Lopez Pereira in Porto geboren) verbunden, der wieder zum Judentum zurückgekehrt war. Er wurde 1726 Baron und war geschäftlich so erfolgreich, dass er Kaiserin Maria Theresia 300.000 Gulden für die Erweiterung des Schlosses Schönbrunn borgen konnte. Dennoch musste er vor der spanischen Inquisition fliehen und starb 1759 in London. Im später errichteten prächtigen „Türkischen Tempel“ in Wien gedachte die sephardische Gemeinde bis in die Nazizeit d’Aguilar im Kaddisch. Als beim November-Pogrom 1938 die 12 Meter hohe Kuppel einstürzte, bebte das ganze Viertel.

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Mit dem Toleranzpatent von 1782 war zunächst noch keine Errichtung einer aschkenasischen Synagoge erlaubt. Erst 1825 kam es zur Grundsteinlegung des Wiener Stadttempels, der 1826 eingeweiht wurde. Mit Isaak Noah Mannheimer (Kopenhagen 1793 – Wien 1865), einem gemäßigten Reformrabbiner aus Kopenhagen, entwickelte sich im Gegensatz zu Deutschland der ganz spezielle „Wiener Ritus“ oder „Mannheimer Ritus“, der bis heute den Gottesdienst des Stadttempels prägt. Man hielt zwar Predigten auf Deutsch ab, Hebräisch blieb aber als Gebetssprache erhalten, die Liturgie wurde nicht verändert. 1840 erschien ein Gebetbuch in der Bearbeitung Mannheimers. Während es in Deutschland oder Ungarn zur Trennung von Orthodoxie und Reform kam, wurde in Wien versucht, die Einheit des Judentums zu bewahren. So arbeitete Mannheimer eng mit dem traditionellen Rabbiner Elasar Horwitz zusammen (1803–1868). 1889 betrug der jüdische Bevölkerungsanteil in Wien 71.600. 1890 zählte man schon 118.500 und 1900 stieg er bis zu 147.000 an. Damals hatte Wien ungefähr 1.700.000 Einwohner, davon also ca. 10% Juden, die die Wiener Stadtbevölkerung ausmachten – heute sind es nur 0,5%. „Neun Zehntel von dem, was die Welt als Wiener Kultur des neunzehnten Jahrhunderts feierte, war eine vom Wiener Judentum geförderte, genährte oder sogar schon selbst geschaffene Kultur.“21 Die nächste Synagoge Wiens sollte ein sichtbares Plädoyer für das Wiener Judentum und seine Einheitsgemeinde sein. Statt immer weitere kleinere Betstuben zu errichten, sollte ein zweites großes Gotteshaus Platz für die immer größer werdende jüdische Gemeinde bieten. Zwischen 1854 und 1858 wurde der „Leopoldstädter Tempel“ in der Tempelgasse im 2. Wiener Bezirk mit 2000 Plätzen nach Plänen des Architekten Ludwig v. Förster errichtet und am 18. Juni 1856 eingeweiht. Adolf Jellinek (Derslawitz 1820 – Wien 1893), ein wichtiger Vertreter der Wissenschaft des Judentums, der zuvor in Leipzig im Sinne Frankels als Rabbiner tätig war, kam 1856 nach Wien, wo er zuerst im Stadttempel und ab 1858 im Leopoldstädter Tempel predigte. Aus Rücksicht auf die Einheitsgemeinde verzichte Jellinek auf die Orgel. Er befehdete sich aber nach dem Tod Mannheimers mit dessen weit konservativerem Nachfolger Moritz Güdemann (Hildesheim 1835 – Baden 1918). Die Herausforderung durch die Reformbewegung wurde von der Orthodoxie in Deutschland aufgenommen durch Samson Raphael Hirsch (Hamburg 1808 – Frankfurt a.M. 1888) aufgenommen, der vor allem durch seine Jugendschrift „Neunzehn Briefe über Judenthum, Altona 1835“ bekannt ist. Er forderte eine Anpassung an die Lebensumstände ohne jedoch die Tradition aufzugeben. Allerdings entwickelte er dabei eine betont nichtzionistische Lehre, in der Begriffe wie Nation und Volk spiritualisiert wurden. Während Mendelssohn das Judentum nach außen hin darstellte, wandte sich Hirsch an die Juden, nicht mehr, um sie zur modernen Welt zu öffnen, sondern um sie auf den Weg der Tradition zurückzuführen. Hirsch war ein ernster Bewunderer der klassischen deutschen Kultur unter der Bedingung, dass man sie nicht einfach für die jüdische Tradition ersetzte. Er schrieb nicht für die Wissenschaft, sondern für „Jissroels denkende Jünglinge und Frauen“ und schuf ein Werk, das

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die moderne Orthodoxie bis heute befruchtet hat. Hirsch war die gelebte Synthese zwischen jüdischer und deutscher Kultur. Sein Ideal war der „Jissroelmensch“, der aufgeklärte Jude, der die Gebote einhält. Für Hirsch war die Philosophie nur ein Vehikel, um seine religiösen Überlegungen zu formulieren. Er hatte als Hamburger den Streit um den Hamburger Tempel als Kind miterlebt und lernte bei Rabbiner Isaac Bernays (1792–1849), der an der Würzburger Talmudschule und an der philosophischen Fakultät der Würzburger Universität studiert hatte. Als Hirsch Landesrabbiner des Großherzogtums von Oldenburg zu werden, verhält er sich, der auch mit Abraham Geiger in Bonn studiert hatte, jedoch wie ein Reformrabbiner. Er richtet einen Chor ein und hält deutsche Predigten und macht Liturgiekürzungen, die er später in seinem eigenen Siddur wieder integrieren wird. Von 1846 bis 1851 wurde er Landesrabbiner der österreichischen Provinz Mähren und Stadtrabbiner der Gemeinde Nikolsburg, wo Hirsch mit der traditionell-orthodoxen Gemeinde immer wieder in Konflikt geriet. Erst 1851 konnte Hirsch in Frankfurt a.M. eine modern-orthodoxe Gemeinde finden, die seiner Lebenshaltung entsprach. 1850 war in Frankfurt die „Israelitische Religionsgesellschaft“ (Adass Jeschurun) als Kontrapunkt zur Reformbewegung gegründet worden. Hirsch setzte sich für die orthodoxe Austrittsgemeinde ein und legte mit der „Freien Vereinigung für die Interessen des orthodoxen Judentums“ (1885) den Grundstein für die organisatorische Erfassung und Aktivierung der europäisch-jüdischen Orthodoxie. Trotz mancher orthodoxen Vorbehalte gegen Akkulturation und Assimilation haben diese Faktoren erst das vielgerühmte „jüdische Erbe“ in Literatur und Wissenschaft erst ermöglicht: „Es ist aber auch eine unabweichliche Tatsache, dass ohne die Emanzipation und die damit verbundene geistige Transformation durch Aufnahme der europäischen Denkweise in Kultur und Wissenschaft die Spitzenleistungen von Juden in diesem Jahrhundert nicht möglich gewesen wären.“22

Antisemitismus Am Ende des 19. Jahrhunderts nahm der Antisemitismus immer gröbere Formen an, wofür die antisemitische Politik des Wiener Bürgermeisters Karl Lueger (seine Amtszeit war von 1897–1910) ein markantes Beispiel ist. Bereits 1893 hatte Lueger die Christlich-Soziale Partei gegründet, die sich hauptsächlich antisemitischer Propaganda bediente. Trotz des Faktums, dass Kaiser Franz Joseph seine Ernennung zum Bürgermeister mehrmals verweigerte, wurde er 1897 schließlich mit absoluter Mehrheit zum Bürgermeister Wiens gewählt. Der schon herrschende Antisemitismus, der alle Bereiche des Alltagslebens durchdrang, erlangte nun seinen Höhepunkt. Hierauf entwickelte die Wiener Judenheit im wesentlichen drei Formen der Reaktion: Ignoranz, Bekenntnis und Hinwendung zum Judentum oder jenes seltsame Gebilde des „jüdischen Selbsthasses“, wie ihn Otto Weininger (1880–1903) verkörperte und damit die „urwienerische“ Neigung zur zerstörerischen Selbstkritik auf radikale Weise verinnerlichte.

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„Wer hat die liberale Bewegung in Österreich geschaffen? Die Juden. Von wem sind die Juden verraten und verlassen worden? Von den Liberalen. Wer hat die deutschnationale Regierung in Österreich geschaffen? Die Juden. Von wem sind die Juden im Stich gelassen … Was sag ich im Stich gelassen … bespuckt worden wie die Hund’? Von den Deutschen. Und genauso wird’s ihnen jetzt ergehen mit dem Sozialismus und dem Kommunismus. Wenn die Suppe erst aufgetragen ist, so jagen sie euch vom Tisch. Das war immer so und wird immer so sein.“23

Viele Vorurteile und Bilder des Antisemitismus, die bis heute leider hartnäckig geblieben sind, entstanden bereits im 19. Jahrhundert. Für viele Menschen erfolgte durch die zu rasche Industrialisierung schnell die Ernüchterung. Die sozialen Missstände und die Unzufriedenheit fanden auch bald ihren Sündenbock – die Juden. Der Judenhass wurde zum Ventil der Frustrationen und war für politische Gruppen ein bequemes Mittel, um von den wirklichen Ursachen abzulenken. Ihre Popularität schwankte zwar mit der Wirtschaftslage auf und ab, aber er diente als kleinster gemeinsamer Nenner bei Wahlen. Die Jahrhunderte lang entrechteten Juden wurden, kaum dass sie gleichberechtigt waren, nun in der antisemitischen Literatur dieser Zeit zu unglaublichen Supermenschen. Sie waren märchenhaft reich, hatten die Presse, Kunst und Literatur in der Hand, beherrschten den Kapitalismus, Marxismus, den Sozialismus oder den Liberalismus, verführten die schwachen germanischen Frauen und waren die geheimen Herrscher der Welt. Juden behielten alle ihre vermeintlichen „Ghettoeigenschaften“, bekamen aber auch ungeheure Macht angedichtet. Sie wurden zur Bedrohung – mit den Waffen Presse, Banken und Börse. Man beklagte die Unsicherheit der Gründerzeit, aber entwickelte zugleich eine dumpfe Verschwörungslehre, dass die germanische Rasse von der jüdischen Rasse bedroht sei. Es entstand ein politischer Antisemitismus, der reaktionär und anti-aufklärerisch war. Auf romantische Weise wurden das deutsche Volkstum, die deutsche Rasse und das Germanentum besungen. Das deutsche Volkstum würde durch den „fremden“ Juden angegriffen, traditionelle Formen des Eigentums, Landwirtschaft und Handwerk seien in höchster Gefahr. Der seltsame Begriff Antisemitismus entstammte eigentlich aus einer Philologen-Debatte über semitische Sprachen und wurde durch Wilhelm Marr (1818–1904), einem Publizisten und Journalisten, als Synonym für den Judenhass in Umlauf gebracht. Marr, der „Patriarch des Antisemitismus“ und „Vater der neuen antijüdischen Bewegung“ nutzte die gesellschaftliche Frustration nach den Revolutionen von 1848 und dem Börsenkrach von 1873 aus, indem er vor der „Judenherrschaft“ warnte, die an all den Missständen Schuld seien. In seinem „Sieg des Judenthums über das Germanenthum“ beklagt er 1879, dass es für einen Aufstand der Teutonen eigentlich schon zu spät sei – die Juden hätten bereits gesiegt. Antisemitentage und Vereinigungen entstanden trotz der politischen Spannungen zwischen den antikonservativen und konservativen Antisemiten. Vor allem in Großstädten wie Berlin, Dresden oder Wien entwickelte sich der Antisemitismus, der die Juden als Dämonen einer Weltverschwörung durch eine degenerierte Rasse beschwor. Der Theologe August Rohling (1839–1831) verband 1871 das traditionelle Bild vom Juden als Feind der Christenheit und „Gottesmörder“ mit dem neuen Bild des Juden als Wirtschaftsfeind in „Der Talmudjude“. Er entwarf einen wüsten Anti-

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Talmudismus und beschrieb die „Judenherrschaft über das Universum.“ Diese Hetze wurde auch vom deutschen Hofprediger Adolf Stoecker (1835–1909) aufgenommen. Er war 1874 zum vierten Hof- und Kanzelprediger ernannt worden und wurde schließlich 1878 auch mit der Leitung der Stadtmission betraut. Er wollte die Massen für das Christentum durch politische Aktionen retten und setzte den Antisemitismus erfolgreich als Bindemittel zwischen Arbeiter, Händler, Handwerker, Ladenbesitzer oder Beamten ein. Stoecker wurde 1881 der erste betonte Antisemit im Reichstag und vertrat eine Politik, in deren Zentrum der Antisemitismus stand. Für ihn war Judentum reines Ausbeutertum und stünde gegen den deutsch-christlichen Geist. Er kämpfte gegen das „Manchestertum“ in der Wirtschaft, das natürlich jüdisch sei, da die Juden für alle industriellen Veränderungen wie die Eisenbahn verantwortlich seien und das deutsche Volk vergiften würden. Antisemiten wie Stoecker forderten die Aufhebung der Gleichberechtigung, ein Fremdenrecht für Juden, die Einführung einer Kopfsteuer, eine Beschränkung auf Zulassung zu Ämtern und ein Verbot jüdischer Zuwanderung aus dem Osten. Der prominente Berliner Historiker Heinrich Treitschke machte den Antisemitismus salonfähig. Im November 1879 erschien in den Preußischen Jahrbüchern sein Artikel „Unsere Aussichten“. Er erzählt den „ewigen Judenhass“ von der Antike bis zur Gegenwart „positiv“ aus der Sicht des Antisemitismus. Die Juden „wollen keine Deutschen sein“ und der Antisemitismus sei die „natürliche Reaktion des germanischen Volksgefühls gegen ein fremdes Element“. Jüdische Historiker wie Heinrich Graetz würden mit ihrer Darstellung der Verfolgungen nur Hass auf das Christentum schüren. Treitschke warnte vor den „Hosen verkaufenden“ Juden aus dem Osten, die morgen „Börse und Banken“ beherrschen würden. Er prägte den Satz „Die Juden sind unser Unglück“, der später auf jeder Nummer des „Stürmers“ als Banner zu lesen war.24 Treitschke entfachte dadurch einen „Antisemitismus-Streit“, indem zunächst Juden wie Heinrich Graetz aus Breslau oder Hermann Cohen aus Marburg gegen ihn auftraten. Erst später griff ihn auch der Althistoriker Theodor Mommsen in der Nationalzeitung (20.11.1880) an. Es kam schließlich zur „Erklärung der 75“ gegen Treitschke und für die Judenemanzipation. Diese waren sich einig, dass Treitschke den Status des Hochschullehrers missbraucht hätte. Treitschke selbst zog sich in die Rolle des schweigenden Opfers zurück. Ein anderer Wissenschaftler der Berliner Universität, Eugen Dühring (1833–1921), skizzierte als Volkswirt einen perfiden physiologischen Antisemitismus in „Die Judenfrage als Frage der Racenschädlichkeit für Existenz, Sitte und Kultur der Völker“ (1881). Dühring behauptete allen kulturgeschichtlichen Leistungen des Judentums zum Trotz, dass sie nichts für die Welt getan hätten. Stattdessen wollten sie die anderen Völker unterwandern, um sie zu erobern. Da das Judentum „biologisch“ sei, sind Taufe und Erziehung sinnlos. Man solle sie am besten „alle los werden“ und ihre Besitztümer beschlagnahmen. Damit die antisemitischen Leser ja nicht den Überblick über diese ganzen wahnwitzigen Irrlehren verlieren, veröffentlichte Theodor Fritsch (1852–1933) in seinem berüchtigten Hammer-Verlag das „Handbuch zur Judenfrage“, das bis 1944 49 (!) Auflagen erlebt hatte. Gegen den zersetzenden Einfluss der Juden in der Kunst hatte bereits 1850

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Richard Wagner (Leipzig 1813 – Venedig 1883) in seinem Artikel „Das Judenthum in der Musik“ gewettert. Erst 1869, als der Antisemitismus „modisch“ geworden war, bekannte er sich zu dem Artikel, den er als K. Freigedank veröffentlicht hatte und brachte ihn in einer erweiterten Fassung unter seinem Namen heraus. Das Hauptwerk der antisemitischen Rassenlehre wurde allerdings die Schrift seines Schwiegersohn und enthusiastischem Verehrers, Houston Stewart Chamberlain (Portsmouth 1855 – Bayreuth 1927) aus England, „Die Grundlagen des 19. Jahrhunderts“ von 1899. Das über 1200 Seiten starke Buch war ein beispielloser Erfolg. Es sollte bis 1940 30 Auflagen und zahlreiche Übersetzungen erleben, sowie eine gekürzte „Volksausgabe“. Ausgehend von Wagner schlüpft Chamberlain in die Rolle eines Siegfried, der stolz auf seine „Ungelehrtheit“ ist. Denn erst dadurch konnte er sich ohne Vorurteile den Überblick verschaffen, um durch Heldenmut die Welt zu bezwingen. Er schildert einen Kampf zwischen Licht und Finsternis, in der der germanischen Rasse die Zukunft gehören würde, wenn sie sich von den „antigermanischen“ Elementen befreit hat. So wie Siegfried in Wagners „Walküre“ das Inzest-Produkt der Geschwister Siegmund und Sieglinde ist, so würde sich durch Auslese und Inzucht der Rassecharakter veredeln. Alle großen Schöpfer der Welt sind Angehörige der „arischen Rasse“ gewesen und die gesamte Kultur sei ihr Werk. Was in der Bibel Anerkennung verdiene, stamme von den Israeliten. Die Israeliten sind keine Juden, Jesus habe nicht der jüdischen Rasse angehört. Die christliche Religion solle sich gründlich von allem Jüdischen trennen und der Jude in der modernen Welt müsse als Schädling entfernt werden. Denn sie sind nicht integrierbar in die europäische Kultur und infizieren seit der Emanzipation die Indoeuropäer mit jüdischem Blut. Dennoch glaubten viele Juden, der Antisemitismus sei nur eine Übergangserscheinung. Man wollte keinen Schutz der Kaiser, da man nicht in mittelalterliche Kammerknechts-Modelle zurückfallen wollte, sondern die durch die Emanzipation verbürgten Rechte als Staatsbürger verwirklicht sehen, wie es Raphael Löwenfeld (Posen 1854 – Charlottenburg 1910) in seiner Schrift „Schutzjuden oder Staatsbürger“ formuliert hatte: „Die Bitte um Schutz hat aber auch ihre moralische Bedeutung. Um Schutz fleht, wer keine Rechte geniesst, oder wem seine Rechte geschmälert werden. Wir aber sind im Vollbesitze der Bürgerrechte, und der lärmende Haufe der Antisemiten hat keine Macht, sie uns zu schmälern. Jeder Meinung aber darf sich in einem freien Staatswesen frei aussprechen: wer sie bekämpfen will, trete mit den Waffen des Geistes in die Schranken und rufe nicht von aussen seine Hilfe herbei. Wenn wir mehr thun, erniedrigen wir uns. Dann verzichten wir schweigend auf die Mittel, die unsere Rechte uns gewähren und fallen zurück in das mittelalterliche Elend, das unsere Ahnen zu Schutzjuden machte.“25

Die wichtigste jüdische Organisation im Kampf gegen den Antisemitismus war der oben erwähnte „Centralverein deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens“ der 1893 gegründet worden war. Trotz dieser betont aufklärerischen Aktionen betonten rassistische Vertreter eines Alldeutschtums wie Georg von Schönerer (1842–1921) in Wien, den „fremden orientalen“ Geist des Judentums. Er förderte einen bemerkens-

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werten Germanen- und Personenkult. So führt Schönerer das Grußwort „Heil“ ein und lässt sich selbst als „mein Führer“ ansprechen. Frauen sollen sich nicht mehr schminken und „deutsche“ Frisuren tragen. Schönerer war ein rassistischer Judenhasser, Lueger dagegen vertrat einen religiöskulturell und ökonomischen Antisemitismus, der opportunistische Gründe für den populären Politiker hatte. Wenn er sich mit konvertierten Juden abgab, sagte er „Wer ein Jude ist, bestimme ich“ und instrumentalisierte den Antisemitismus für seine politischen Zwecke. Während sich das akkulturierte jüdische Bürgertum als deutsche, bzw. österreichische oder englische Patrioten verstand, waren die Emanzipationsbewegungen im russischen Kaiserreich gescheitert. Im Zuge der reaktionären Politik des Zaren Alexanders III. brach eine Welle von grausamen Pogromen aus, die zahlreiche Gemeinden vernichtete. Der Kampf für die Emanzipation der Juden Osteuropas schien verloren und die Frage einer Massenauswanderung wurde heftig diskutiert. Eine der größten Auswanderungen in der jüdischen Geschichte setzte ein. Das Bestimmungsziel war meist die USA. Deutschland und Österreich wurden zu Durchgangsländern und in Städten wie Berlin (Scheunenviertel), London (East End) oder Wien (Mazzeinsel) entstanden ostjüdische Viertel, in denen oft Flüchtlinge wohnten, denen es an Geld oder Kraft für die Weiterreise mangelte. So kam es auch zu sozialen Auseinandersetzungen zwischen schon etablierten „West-Juden“ und den Neuankömmlingen aus dem Osten während Antisemiten wie Schönerer gegen die Aufnahme der jüdischen Pogromopfer aus Russland waren, da „die Juden die Pogrome selbst provoziert“ hätten. Die Konfrontation mit den jüdischen Flüchtlingsmassen aus Osteuropa bedeutete für viele moderne westliche Juden in Städten wie Wien oder Berlin einen Schock. Sie sahen ihre eigene so hart erkämpfte Gleichberechtigung und gesellschaftliche Stellung, die ohnehin stets bedroht war, durch die „abgerissenen Ghettojuden“ gefährdet. Entgegen der mitunter sehr verächtlichen Haltung der westeuropäischen jüdischen „assimilierten Krawattenjuden“ gegenüber den osteuropäischen jüdischen traditionellen „Kaftanjuden“ entstand vor allem in der zionistischen Jugend eine undifferenzierte Verehrung alles „Ostjüdischen“. Die vermeintlich ganzheitliche Welt des Ostjudentums wurde für viele Jugendliche aus assimiliertem westjüdischem Haus zum idealisierten Zufluchtsort. Sie sahen in den osteuropäischen Juden ein ursprüngliches Judentum, was zu einer sentimental-romantischen Verklärung und Idealisierung des „Ostjudentums“ führte. Die satirischen Werke von Karl Kraus oder die Programme der jüdischen Kabaretts jener Zeit spiegeln diese Auseinandersetzungen: So parodierte Maxim Sakaschansky in seinem Berliner Kabarett „Kaftan“ – dem einzigen jiddischsprachigen Kabarett Berlins – erfolgreich die Kämpfe zwischen „West“ und „Ost“. Nathan Birnbaum führte das Begriffspaar West- und Ostjude als erster in die publizistischen Kontroversen ein. Er hatte sich darum bemüht aufzuzeigen, dass die osteuropäische jüdische Kultur wichtige Impulse für ein geistiges Erwachen des westeuropäischen Judentums geben könnte. Gerade sein Einsatz und glühendes Engagement für Sprache und Literatur des osteuropäischen Judentums ist erwäh-

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nenswert. Dies kann man in Birnbaums Artikel „Sprachadel“ sehen, den er in der von Julius Kaufmann herausgegebenen Zeitschrift „Die Freistatt“ veröffentlicht hatte. „Wann werden sie endlich zu verstehen anfangen, daß, wenn es überhaupt noch eine Hilfe für das jüdische Volk gibt, diese nur von jenen neun Millionen Ostjuden kommen kann, die nicht blutarm und nicht verschlafen und nicht exotisch, die keine entjudeten Europäer und keine welken Orientalen, sondern einfach lebende Juden sind, denen das Leben, das jüdische Leben aus Worten und Taten sprießt und spritzt.“26

Neben der nur kurzlebigen „Freistatt (die Zeitschrift erschien nur zwischen April 1913 und 1914) war es vor allem die programmatische Monatsschrift „Ost und West“ (1901–1923), die sich diesen kulturellen Fragen widmete.  „Wer ist Westjude? Ist es derjenige, der nachweisen kann, dass seine Ahnen in der glücklichen Lage waren, vor den westeuropäischen bzw. deutschen Pogromen im Mittelalter und später niemals fliehen zu müssen? Ist es ein Jude in Breslau, das lange Zeit ‚Worclaw‘ heiß und eine polnische Stadt war, mehr Westjude als jener aus Krakau, das heute noch polnische ist? Ist derjenige schon Westjude, dessen Vater sich schon nicht mehr erinnern kann, wie es in Posen oder Lemberg aussieht? Fast alle Juden waren einmal Westjuden, ehe sie nach Polen und Russland kamen. Und alle Juden waren einmal ‚Ostjuden‘, ehe ein Teil von ihnen westjüdisch wurde.“27

Am Anfang und am Ende der sogenannten „deutsch-jüdischen Symbiose“ steht eine Bibelübersetzung. Moses Mendelssohns Pentateuchübertragung am Ende des 18. Jahrhunderts wollte den Juden in die Sprache der Umwelt einführen, Martin Buber und Franz Rosenzweig beabsichtigten in der Zeit der Weimarer Republik mit ihrer Bibelübersetzung den hebräischen Urtext durch das Deutsche hörbar zu machen. Durch den Tod Rosenzweigs und Bubers erzwungener Emigration nach Jerusalem, wurde die Bibelübersetzung erst 1961 vollendet. Gershom Scholem sagte dazu bei der feierlichen Präsentation der Buber-Rosenzweig-Bibel bitter: „Ihre Übersetzung (...) war etwas wie das Gastgeschenk, das die deutschen Juden dem deutschen Volk in einem symbolischen Akt der Dankbarkeit noch im Scheiden hinterlassen konnten. (...) Ist sie nicht mehr das Gastgeschenk der Juden an die Deutschen, sondern, es fällt mir nicht leicht, es zu sagen – das Grabmal einer in unsagbarem Grauen erloschenen Beziehung.“28

Zionismus Das jüdische 19. Jahrhundert war von zwei großen Konzepten neben der Massenauswanderung in die USA geprägt: Das Eine ist die bereits geschilderte Akkulturation, bzw. Assimilation an die jeweiligen Gastländer und die Definition der jüdischen Glaubensgemeinschaft losgelöst von nationalen Begriffen. Das zweite Konzept ist der moderne jüdische Nationalismus, der Zionismus. Ein allgemeines Missverständnis lautet, dass die Juden, die nach der Zerstörung des Zweiten Tempels in Jerusalem im Jahr 70 n.Chr. von den Römern vertrieben und in die Diaspora gedrängt wor-

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den waren, nach 1800 Jahren plötzlich wieder nach Palästina zurückkehrten und Anspruch auf ihr Land erhoben würden. Im traditionellen Judentum wurde stets die Verbindung mit Jerusalem, bzw. dem Land Israel, in zahlreichen Gebeten und Riten ausgedrückt, wie es der berühmte Satz am Ende der Pessach-Liturgie „Nächstes Jahr in Jerusalem“ oder Psalm 137,1 „An den Strömen von Babel, da saßen wir und weinten, wenn wir an Zion dachten“ demonstrieren. Die hebräische Sprache und der jüdische Festtags-Kalender sind tief im Land Israel verwurzelt. Im Mittelalter träumte ein Jehuda ha-Levi aus Tudela in seinen Zionsliedern von „Erets Israel“. Es hatte immer wieder Auswanderungen ins „Heilige Land“ gegeben und im 16. Jahrhundert war Safed eines der wichtigsten jüdischen Zentren jener Epoche. Das Wort „Zionismus“ hängt mit dem Begriff Zion zusammen, das bereits in antiken Zeiten zum Synonym für Jerusalem wurde. Der moderne Zionismus als Zeichen der jüdisch-nationalen Bewegung ist im 19. Jahrhundert entstanden, als sich in Europa der Nationalismus bereits stark verbreitet hatte und tatsächliche Nationalstaaten in Europa ins Weltgeschehen getreten waren. Die alten messianischen Hoffnungen auf die Rückkehr nach Israel wurden zuerst von R. Juda Alkalai (1798–1878) mit einer konkreten Einwanderung verbunden. Er wurde in Sarajevo geboren und wurde 1825 Rabbiner von Semlin (heute ein Teil Belgrads). In den modernen nationalen Bewegungen auf dem Balkan, die er hautnah erlebte, liegt einer der Hintergründe für seinen religiösen Zionismus. Im Beginn einer jüdischen Besiedlung in Israel verstand er die Anfänger der messianischen Endzeit. Man solle nicht mehr darauf warten, dass ein Messias die Rückkehr einläutet, sondern selbst aktiv werden. So wie die Gemeinde von Damaskus 1840 nach einem Ritualmordvorwurf durch Adolphe Crémieux und Sir Moses Montefiore gerettet wurde, könne auch das Ende des Exils durch menschliche Aktion beginnen. Alkalai gründete Palästina-Kolonisationsvereine und verbreitete seine Ideen als Wanderprediger. Er propagierte die Wiederbelebung des Hebräischen als moderne Umgangssprache und den Aufbau einer jüdischen Armee. Obwohl er selbst orthodox war, trafen seine Ideen im traditionellen Umfeld auf großen Widerstand. Napoleon und der Beginn der jüdischen Emanzipation überzeugten R. Zwi Hirsch Kalischer (1795–1874) aus Posen, dass auch die nächste Phase der Erlösung durch den Menschen selbst verwirklicht werden könnte. Kalischer blieb trotz aller Modernität ein traditioneller Rabbiner, der seine Ideen in der Tradition verankerte. Das Wort „T’shuvah“ (Rückkehr / Umkehr) deutete er nicht mehr nur religiös als Umkehr zur Tradition, sondern als tatsächliche Rückkehr ins Land Israel. Das Kommen des Messias sei demnach von der Rückkehr des jüdischen Volkes abhängig. Dieses aktiv menschliche Element im Erlösungsprozess stieß ebenfalls bei den meisten orthodoxen Rabbinern seiner Zeit auf scharfe Opposition. Während in den palästinafreundlichen Kreisen des 19.Jahrhunderts religiöse Motive dominierten, kam es nach den Pogromen in Russland ab 1881 zu einer deutlichen Veränderung. Es entstanden Vereine in Russland, die die Kolonisation Palästinas propagierten und sich „Chibbath Zion“ (Zionsliebende) oder „Chowewe Zion“ (Zionsfreunde)

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nannten. Sie flossen später mit der Zionistischen Organisation Theodor Herzls zusammen, einige existierten noch formal bis zum Ersten Weltkrieg. Ende des Exils, Erlösungshoffnung und Rückkehr nach Israel fügten sich hier zusammen. Den ideologischen Hintergrund stärkten Denker wie Perez Smolenskin, der ab 1868 die Zeitschrift „Ha-Schachar“ (Die Morgenröte) edierte und den jüdischen Nationalismus als Kontrapunkt zur Assimilation definierte. Der russische Arzt und Politiker Leo Pinsker (1821–1891) war zunächst ein begeisterter Verfechter der jüdischen Integration in Russland. Aber durch die Erfahrung der Pogrome wurde er zum glühenden Zionisten. Seine Schrift „Autoemanzipation“ von 1882 ist einer der zentralen Texte der frühen zionistischen Bewegung neben dem zunächst wenig beachteten „Rom und Jerusalem“ (1862) des deutsch-jüdischen Denkers Moses Hess (1812–1875). Das Motto des rabbinischen Gelehrten Hillel markiert bereits die Stoßrichtung des Buches: „Wenn ich selbst mir nicht helfe, wer denn? Und wenn nicht heute, wann denn?“ „Was uns fehlt, ist nicht die Genialität, sondern das Selbstgefühl und das Bewußtsein der Menschenwürde, das ihr uns geraubt. (...) So weit sind wir gesunken, daß wir fast übermütig werden vor Freude, wenn, wie im Okzident, ein geringer Bruchteil unseres Volkes mit den Nichtjuden gleichgestellt wurde. Wer gestellt werden muß, steht bekanntlich schwach auf den Füßen. (...) Die Vaterlandslosen wurden vaterlandsvergessen. (...) müssen wir (...) einsehen lernen, daß, solange wir nicht wie die anderen Nationen ein eigenes Heim haben, wir ein für allemal die edle Hoffnung aufgeben müssen, mit den anderen gleichwertige Menschen zu werden.“29

Es war für die Vereine aufgrund der Gegnerschaft der osmanischen Herrschaft schwierig, das zionistische Siedlungsprojekt zu betreiben. Die ersten Siedlungen wie Petach Tikvah hatten mit enormen ökonomischen Problemen zu kämpfen. Nur wenige Vereine wie die Wiener Kadimah konnten an Bedeutung erringen, die Nathan Birnbaum (Wien 1864 – Scheveningen 1937) gegründet hatte. In seiner Schrift „Die nationale Wiedergeburt des jüdischen Volkes in seinem Lande“ hatte er erstmalig die nationaljüdische Bewegung als „Zionismus“ bezeichnet. „Land, Land! Darin liegt also das Geheimnis der Lösung der Judenfrage. Wo aber soll dieses Land, das den zweitausendjährigen Wanderer aufnehmen soll, gesucht werden? Man braucht es nicht erst zu suchen, Jedermann kennt es; es gibt kein zweites, das in Betrachtung gezogen werden könnte. Und hat sich denn auch in Wirklichkeit die national-jüdische Partei, welche sich deshalb auch die zionistische nennt, für dieses Land, für Palästina entschieden.“30

Der freie Schriftsteller Theodor Herzl (Pest 1860 – Edlach 1904) begann, die nationaljüdischen Vereine zu sammeln und zu organisieren und wurde zum prominenten Begründer des politischen Zionismus. Er schwankte zwischen der Karriere als Jurist und der Schriftstellerei. Als geistreicher Feuilletonist schrieb er für die Wiener „Neue Freie Presse“. So erlebte er den starken Antisemitismus in Paris als Korrespondent beim Prozess gegen den Offizier Alfred Dreyfus (Mühlhausen 1859 – Paris 1935), nachdem er bereits in Wien in seiner Studentenverbindung „Albia“ antisemitische Aktionen beobachten konnte.

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„Die Figuren des Dreyfus-Prozesses könnten alle noch in den Romanen Balzacs vorkommen.“31 Dreyfus, ein jüdischer Offizier des französischen Generalstabs wurde 1894 zu lebenslanger Verbannung auf die Teufelsinseln in Französisch-Guayana verurteilt. Sein Verbrechen, Spionage für das Deutsche Reich, hatte nicht er, sondern Major Walsin-Esterhazy begangen. Am 5. Januar 1895 wurde Dreyfus öffentlich degradiert. Dieses Schauspiel vor Tausenden von Zuschauern mit dem Zerbrechen des Säbels von Dreyfus schockiert Herzl. 1893 war in Österreich der rassistische „Waidhofner Beschluss“ verabschiedet worden, wodurch den jüdischen Studenten gewissermaßen symbolisch die Säbel zerbrochen wurde, indem man sie aus den Studentenverbindungen hinauswarf und die Satisfaktionsfähigkeit absprach. Jeder Jude und jeder Mensch jüdischer Herkunft sei „von Geburt aus ehrlos“, da in seinen Adern „jüdisches Blut rollt“. Er stünde „ethisch tief “ und es ist „entehrend“ mit ihm zu verkehren. Daher ist es unmöglich einen Juden zu beleidigen und „ein Jude kann daher keine Genugtuung für erlittene Beleidigung verlangen.“ Herzl erlebte in der Dreyfus-Affäre in Paris denselben Ungeist, den er in Wien am Werk gesehen hatte. Die Juden Frankreichs waren seit 1791 gleichberechtigt gewesen, eine andauernde Emanzipation, die erst 1940 durch die Vichy-Regierung enden sollte. Napoleon hatte 1808 das „Consistoire central israélite“ (Konsistorium / Zentralrat) gegründet, das als Organ jüdischer Selbstverwaltung Vorbild-Charakter hatte. Der Jurist Adolphe Crémieux (Nimes 1796 – Paris 1880) war Mitglied des französischen Parlamentes und des „Consistoire“. Er wurde der erste Präsident der „Alliance Israélite Universelle“, die den organisierten Kampf gegen den Antisemitismus aufgenommen hatte. Crémieux hatte 1846 dafür gesorgt, dass der diskriminierende Judeneid „more judaico“ abgeschafft wurde. Die Dreyfus-Affäre zeigte, dass selbst in Frankreich, wo sich die Juden auf einzigartige Weise akkulturiert hatten, so ein antisemitischer Prozess möglich war. Dreyfus war der Spionage verdächtig, da er ja als Jude und Elsässer kein „echter französischer Patriot“ sein könnte. Es war nicht die Dreyfus-Affäre, die den Weg zum „Judenstaat“ ebnete. Sie war der Schlusspunkt in Herzls Entwicklung, in der er bedingt durch den nationalen und rassistischen Antisemitismus des 19. Jahrhunderts das Scheitern der jüdischen Akkulturation in Habsburg und dem Kaiserreich erkennen sollte. Hatte er zunächst noch in einer Massenkonversion zum Christentum die „Lösung der Judenfrage“ für die jüngere Generation gesehen, ändern sich nun seine Ansichten, was man in seiner Schrift „Der Judenstaat“ (Leipzig/Wien 1896) sehen kann, die er 1895 beendet hatte. 1897 organisierte er den „Ersten Zionistenkongress“ in Basel. Das Ziel seines Zionismus, die Schaffung eines jüdischen Gemeinwesens im Land Israel, sollte allerdings erst 1948 Wirklichkeit werden. Die ideologische Strömung des „Kulturzionismus“ opponierte gegen Herzls Anschauungen. Ihre markanteste Gestalt war Ascher Ginsberg, genannt „Achad Ha’Am“ (Einer aus dem Volk, Kiew 1856 – Tel Aviv 1927). Ascher Ginsberg behauptete, die Not der Juden könne nicht durch eine Massenaussiedlung behoben werden. Das zu lösende Problem sei die geistig-sittliche Krise des Judentums, die durch die Assimilation verursacht worden wäre. Er träumte

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von einem kulturellen Zen­trum in Palästina. 1896 gründete er in Odessa die erste moderne hebräische wissenschaftliche Zeitschrift „Ha-Shiloach“ (Der Sendbote), die er selbst bis 1902 redigierte. Sie wurde zur Plattform seines Kulturzionismus. Erst eine veränderte neue jüdische Gemeinschaft könnte praktische Arbeit in Palästina tun. Er sah den Zionismus nicht als eine politische Bewegung, sondern als einen Weg, der die Juden wieder zu sich selbst führt. In seinen national-romantischen Schriften wie „Nicht dies ist der Weg“ von 1889 verbindet er gerne seine Gedanken mit biblischen Motiven wie die verdorrten Gebeine aus Ezechiel und die Hoffnung auf deren Wiederbelebung.32 Der Zionismus mit seinem nationalen Ideal sah sich von Anfang an im Kampf mit der sogenannten „Assimilation“ und lei­stete in der Vorkriegszeit vor allem bei der Jugend entscheidende Hilfe bei der Fin­dung ihrer eigenen jüdischen Identität. Die aufgegebene jüdische Tradi­tion wurde nun aber oft durch ein bloßes Bekenntnis zum Zionis­mus ersetzt, der es ebenfalls an Substanz fehlte.

Juden in den USA Im 18. Jahrhundert gab es in den amerikanischen Kolonien vor allem an der Ostküste einzelne jüdische Gemeinden. „Shearith Israel“ in New York war die älteste jüdische Gemeinde in Nord Amerika. Rabbiner gab es noch keine. 1760 lebten 18.000 Menschen in New York, 400 davon Juden, die alle dem sephardischen Ritus folgten. Es waren vor allem Händler, die sich gut in die Kolonialwelt integrierten. Die positiven christlich-jüdischen Beziehungen führten aber auch zu Problemen, wie wir in den Briefen von Bilhah Abigail Levy Franks (New York 1696–1756) sehen können. Sie hatte 1712 Jacob Franks geheiratet, mit dem sie neun Kinder hatte. Was hieß Judentum in einer Umgebung, in der es keine rabbinischen Autoritäten gab und es äußerst schwierig war, die jüdischen Traditionen zu befolgen? Die Franks bemühten sich, die Feiertage und die „Kashrut“ einzuhalten. Damit die familiären Traditionen erhalten bleiben, plante Abigail, die Kinder jüdisch zu verheiraten. Dennoch heiratete ihre Tochter Phila 1743 den Protestanten Oliver DeLancey, Sohn eines Geschäftspartners des Vaters. Abigail brach den Kontakt mit ihrer Tochter ab. Auch ihr Sohn David heiratete später eine Christin.33 Es entstanden Gemeinden in Philadelphia, Savannah in Georgia, Richmond in Virginia oder Charleston in South Carolina. Die Juden passten sich völlig an die Umgebung an, was man auch im Synagogenbau sieht. 1680 wurde die jüdische Gemeinde von Newport gegründet und 1763 hatte Peter Harrison die Pläne für die Touro-Synagoge entworfen, die die älteste erhaltene Synagoge in den USA ist. Gemeindeführer war Aaron Lopez (Lissabon 1731 – Newport 1782), ein „Converso“ aus Portugal, der 1752 vor der Inquisition geflohen war. Als engagierter Händler war er nicht nur im Ölgeschäft tätig, sondern auch im Sklavenhandel. Von 1700–1776 stieg der Zahl der jüdischen Einwohner von ca. 200 auf 2500. Man befolgte den „orthodoxen Ritus“, war aber meist religiös nicht sehr gebildet. Isaac Pinto (ca. 1721–1791) aus der Gemeinde „Shearith Israel“ veröffentlichte 1766 das erste amerikanisch-jüdische Gebetbuch für Schabbat und Hohe Feiertage: „Prayers

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for Shabbath, Rosh-Hashanah and Kippur, or the Sabbath, the beginning of the year, and the Day of Atonement, with the Amidah and Musaph of the Moadim or Solemn Seasons, according to the Order of the Spanish and Portuguese Jews. Translated by Isaac Pinto and for him printed by John Holt in New York. A.M. 5526“. Die Gemeinden hatten immer noch keine Rabbiner, sondern nur Vorbeter und das Gemeindeleben wurde von den „Parnassim“ (Vorstehern) geführt. Diese versuchten ein möglichst „koscheres“ jüdisches Leben in den Kolonien zu etablieren, indem sie gegen Händler am Schabbat oder Wirte, die unkoscheres Essen verkauften, vorgingen. Die Strafen waren milde, man verlas am Jom Kippur die Namen der Schuldigen und ein kurzfristiger „Bann“ wurde verhängt. Mitunter fühlten sich die Gemeindemitglieder von den jeweiligen Parnassim auch zu stark unterdrückt. So hatte sich Mitglieder der „Shearith Israel“ Gemeinde 1732 geweigert, ein Gebet für die Gesundheit der Parnassim zu beten. In Europa hatte man wie in Amsterdam die unterschiedlichen jüdischen Gemeinden strikt getrennt. Die spanisch-portugiesischen Flüchtlinge der Inquisition und die Aschkenasim unterschieden sich in Traditionen und Sprachen wie Ladino und Jüdisch-Deutsch. In den amerikanischen Kolonien gab es meist eine gemeinsame Synagoge, einen Friedhof, eine Schule und man heiratete untereinander. 1738 heiratete Isaac Mendel Seixas Rachel Levy – ihr gemeinsamer Sohn war Gershom Mendel Seixas (1745– 1816), der erste in den Kolonien geborene Vorbeter in „Shearith Israel“. Bis zum Ende des 18. Jahrhunderts folgten alle Synagogen dem „Minhag Sepharad“, obwohl die Mehrheit Aschkenasim waren. Zur Zeit des amerikanischen Unabhängigkeitskrieges (1775–1783) lebten ca. 2500 Juden unter den 3,7 Millionen Kolonisten. Der Krieg spaltete das Judentum in den Kolonien. Sollte man sich loyal zur britischen Krone verhalten, die den Juden immerhin das Bürgerrecht gewährt hatten oder nicht? Nach der mittelalterlichen Vertreibung der Juden aus England 1290 war es zur Wiederansiedlung in der Zeit Oliver Cromwells (Huntingdon 1599 – Westminster 1658) gekommen. Um 1660 lebten ca. 400 Juden in England (1655). Bis zur Emanzipation sollte es allerdings auch in England noch Jahrhunderte dauern – bis 1858. Als Händler litten die Juden in den Kolonien wie alle anderen unter den Steuern, aber reichte dies aus, um zum Revolutionär zu werden? Es ist nicht bekannt, wie viele Juden sich im Krieg engagiert hatten. Mordecai Sheftall in Georgia unterstützte die Rebellen und wurde Colonel der Milizen. Als die Briten 1778 Savannah besetzt hatten, kam er in Haft. „When Savannah was captured by the British in December, 1778, a large number of citizens (among them a number of members of the Union Society) and soldiers was placed on board of the prison-ships. A few days after, those of the prisoners who held office in the American army were sent, under parole, to Sunbury, a town forty miles distant, on the seacoast. Among these were four members of the society, Mordecai Shefftall, John Martin, John Stirk, and Josiah Powell, who were kept there three years.“34

Unter Captain Richard Lushington sollen so viele Juden gekämft haben, dass man seine Truppe die „Jew Company“ genannt hatte. Francis Salvador (London

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1747–1776) war Mitglied der „South Carolina’s General Assembly“, obwohl Juden weder das Wahlrecht hatten, noch öffentliche Ämter bekleiden durften. Er wurde von Cherokee-Indianern, die auf der Seite der Briten kämpften, getötet und skalpiert. 1950 hatte man ihn zu Ehren in Charleston ein Mahnmal mit folgender Inschrift errichtet: „Born an aristocrat he became a democrat, An Englishman he cast his lot with America; True to his ancient faith he gave his life For new hopes of human liberty and understanding.“ Im Krieg gab es aber auch manche skurrile Momente. So hatte Jonas Phillips (1736–1803) aus Philadelphia einen deutsch-jüdischen Brief nach Amsterdam mit einer Kopie der Unabhängigkeitserklärung geschickt. Der Brief fiel in die Hände der Briten, die verzweifelt versuchten, den Brief zu decodieren, da sie das DeutschJüdische für einen Geheimcode der Kolonisten gehalten hatten. Um Haym Salomon (1740–1785) ranken sich viele Mythen und Legenden. Er war vermutlich einer der Hauptfinanziere der amerikanischen Seite während des Krieges. Nachdem 1787 in Philadelphia die Verfassung der USA unterzeichnet wurde, fragten sich die jüdischen Gemeinden zu Recht, wie ihre Rolle in dem neuen Staatengebilde wohl aussehen würde. Religiöse Freiheit, die Trennung von Staat und Religion prägten auch den Willkommensgruß an George Washington, den Moses Mendel Seixas, Präsident der Gemeinde von Newport, Washington schrieb, als dieser die Stadt besuchte. Nach der Revolution konnte man sehen, wie jeder Staat seine eigene Entwicklung in der Frage nach der jüdischen Gleichberechtigung nahm. In New York gab es sie bereits 1777, in Maryland erst 1826, da die Bewohner befürchteten, dass die Gleichberechtigung eine „Flut jüdischer Flüchtlinge“ zu Folge hätte. Pennsylvania hatte bis 1790 noch bei der Annahme eines öffentlichen Amtes im Eid den Zusatz: „I do acknowledge the scriptures of the old and the new testament to be given by divine inspiration.“ 1791 folgte mit dem ersten Zusatzartikel zur Verfassung der Vereinigten Staaten die Trennung von Staat und Kirche und damit die uneingeschränkte Freiheit und Gleichheit für die Juden. Die Art und Weise wie sich die jüdischen Gemeinden in den USA etablierten wirkte auf die europäischen Gemeinden und verursachte Migrationswellen in die USA. Zwischen 1815 und 1861 emigrierten 2 Millionen Deutsche in die USA, so dass Johann Wolfgang Goethe „Amerika, du hast es besser als unser Kontinent“ 1827 dichtete. Lebten 1820 ca. 3000 Juden in Nord Amerika, so waren es 1880 bereits 300.000. „Rodeph Shalom“, die erste ashkenasische Synagoge in den USA wird in Philadelphia mit deutlich reformierten Zügen gegründet: „Members who married non-Jews would not be expelled as long as they raised their children as Jews.“ Die jüdischen Emigranten, die nach der Revolution von 1848 in die USA emigrierten, stammten meist aus Deutschland, Böhmen, Mähren oder Posen. Durch die Emigration deutscher Juden bekam das Reformjudentum in den 40er und 50er Jahren entscheidende Impulse. 1841 wurde mit der Gemeinde Beth Elohim in Charleston die erste US-Synagoge mit Orgelmusik gegründet. David Einhorn (Diespeck 1809 – New York 1879), ein radikaler Reformer im Stile eines Holdheim

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wurde 1855 Rabbiner der Har Sinai Synagoge in Baltimore, die z. B. das Kol Nidere Gebet gestrichen hatte. Isaac Mayer Wise (Steingrub 1819 – Cincinnati 1900) war 1846 in die USA emigriert. In der Synagoge Beth-El in Albany gab es keine Geschlechtertrennung während der Gottesdienste. Auch führte Wise Konfirmationszeremonien ein und Frauen wurden ebenfalls zum Gebetsquorum dazugezählt. Mit seinem Gebetbuch „Minhag America“ träumte Wise noch von einem einheitlichen Reformjudentum in den USA. Die Rabbinerversammlung von Cleveland 1855 führte aber eher zu Spaltungen. Dennoch stärkten spätere Rabbinerversammlungen in Philadelphia und Cincinnati eine einheitliche Reformbewegung. 1885 trafen sich unter der Schirmherrschaft von Wise die führenden amerikanischen Reformrabbiner in Pittsburgh und verabschiedeten eine Art Katechismus in acht Punkten, die „Pittsburgh Platform“: „3. We recognize in the Mosaic legislation a system of training the Jewish people for its mission during its national life in Palestine, and today we accept as binding only its moral laws, and maintain only such ceremonies as elevate and sanctify our lives, but reject all such as are not adapted to the views and habits of modern civilization. 4. We hold that all such Mosaic and rabbinical laws as regulate diet, priestly purity, and dress originated in ages and under the influence of ideas entirely foreign to our present mental and spiritual state. They fail to impress the modern Jew with a spirit of priestly holiness; their observance in our days is apt rather to obstruct than to further modern spiritual elevation.“

1873 hatte Wise die „Union of American Hebrew Congregations“ und das „Hebrew Union College“ in Cincinnati gegründet, die ersten Absolventen gab es 1883. Die Abschluss-Feier ging als „Trefa Banquet“ in die jüdische Geschichte, da es Muscheln, Krabben und Froschschenkel gab. Das führte zur endgültigen Spaltung zwischen Konservativen Strömungen und dem Reformjudentum in den USA. Die Hälfte der Juden, die in der Mitte des 19. Jahrhunderts in die USA emigrierten, kam allein aus Bayern, da dort die antijüdische Gesetzgebung in den 30er und 40er Jahren besonders diskriminierend gewesen war. So durften sie nicht die Tätigkeit der Eltern ausüben, was allerdings oft nur das einzig erlaubte Gewerbe für Juden war, es gab Verbote für Familiengründung etc. Diese jungen Juden, die zwischen 17 und 20 Jahre alt waren, versuchten sich meist als Hausierer, die von Farm zu Farm durch die Staaten zogen, um ihren Waren anzubieten. So waren 1850 in Easton Pennsylvania von 70 Juden 24 Hausierer. Der amerikanische Traum vom gesellschaftlichen Aufstieg war harte Arbeit voller Entbehrungen – vom zu Fuß gehenden Hausierer zum eigenen Wagen bis hin zum eigenen Geschäft und später vielleicht zur eigenen Fabrik. Eine Erfolgsgeschichte erlebte Löb Strauß (Levi Strauß, Buttenheim 1829 – San Francisco 1902). Er wanderte 1847 in die USA aus und stattete 1853 beim Goldrausch die Glücksritter aus. Da diese solide Hosen brauchten, meldete er zusammen mit Jacob Davis 1873 das Patent für die „Waist Overalls“ an, Denim-Jeanshosen mit Nieten aus Pferdegeschirr.

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Die jüdische Bevölkerung wuchs zwischen 1840 und 1880 von 15.000 zu 25.0000, mit der Expansion der USA und den „Boomtowns“, mit dem Gold-, Kupfer- und Silberrausch zogen Juden auch gen Westen. Hier kam es noch viel stärker zu Problemen mit der religiösen Erziehung der Kinder, weit weg von einer Gemeinde und von einer Synagoge. So hieß Judentum im „wilden Westen“ meist, die Kinder jüdisch zu verheiraten. Anna Freudenthal Solomon (Posen 1844 – Los Angeles 1933), emigrierte mit ihrem Mann Isidor 1872 in die USA. Sie zogen weiter nach New Mexico in eine kleine Siedlung namens Pueblo Viejo. Isidor wurde Postmeister und gemeinsam bauten sie die Stadt auf, die später Solomonville heißen sollte. Sie gründeten die Solomon Commercial Company, die Gila Valley Bank, das Solomon Hotel und die Solomonville-Sheldon Postkutschenlinie. Anna führte das erste Warenhaus und zusammen mit dem chinesischen Koch Gin Awah Quang das Hotel. Als aber Lily Solomon, eines ihrer sechs Kinder, einen Nichtjuden heiraten wollte, wurde sie von den Eltern mit einem anderen Juden zwangsverheiratet. Anna Solomon setzte es durch, dass alle ihre Kinder jüdisch heirateten. Heute heißt die Kleinstadt in Arizona nur noch Solomon. „Wir verkauften alles, was wir außer unseren drei Kindern besaßen, Charles, der drei Jahre alt war, Eva war zwei Jahre und meine jüngste Tochter Rose drei Monate alt, und machten uns auf den Weg nach New Mexico. ...Wie oft erschrak ich und dachte, dass ich Indianer gesehen hätte. Ich hatte nicht erwartet, hier mit unseren Kindern lebend anzukommen. Kurz bevor wir diesen Ort erreichten, hörten wir die schrecklichen Laute, die Indianer machen, wenn sie auf dem Kriegspfad sind. Es war eine schöne Nacht, ich erinnere mich, als ob es letzte Nacht war. Als wir zu Hause ankamen, sagten uns die Mexikaner, es war ein Koyote, die Indianer machen die gleichen eigenartigen Geräusche …Wir schliefen auf dem Lehmboden. Mein Mann weckte mich auf, um mir ein paar Indianer, die hier auf der Durchreise von der San Carlos Reservation waren, zu zeigen. Ich hatte noch nie einen Indianer gesehen. Jetzt mussten wir beginnen, das Haus in Ordnung zu bringen, aber wir hatten keine Möbel, kein Herd, noch irgendetwas anderes.“ 35

Andere führten abenteuerliche Leben an der „Frontier“ wie Julius Meyer (Bromberg 1839–1909). Er emigrierte 1867 nach Omaha, Nebraska. Angeblich wurde er bei einer Büffeljagd von Sioux-Indianern gefangen genommen. Bei ihnen studierte er die indianischen Sprachen und Gebräuche. Er soll sechs verschiedene Indianer-Sprachen gekonnt haben und war Übersetzer für General Crook, für den amerikanischen Kongress und Indianer-Agent. Die Indianer gaben ihm den Namen Box-ka-re-sha-hasta-ka (gelockter weißer Häuptling mit einer Zunge – aufgrund seiner Ehrlichkeit) und war mit berühmten Stammesführern wie Sitting Bull oder Red Cloud bekannt. Später eröffnete er einen indianischen Souvenirladen, „Indian Wigwam“ in Omaha und begleitete eine indianische Delegation 1883 nach Paris. Solomon Bibo aus Brakel in Westphalen (1853–1934) verließ 1869 Preußen, um sich seinen zwei Brüdern anzuschließen, die bereits 1866 in die USA emigriert waren und mit Acoma Pueblo Indianern in New Mexico Handel betrieben.1885 heiratete er Juana Valle, die Enkelin des Häuptlings der Acoma, die für ihn zum Judentum konvertierte. Da es keinen Rabbiner in New Mexico gab, heirateten sie nach india-

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nischem Ritus vor einem katholischen Priester. Vor einem Friedensrichter wurde die zivile Trauung geschlossen. Durch diese Ehe wurde Solomon Mitglied des Acoma Stammes. Während die Juden in Europa um ihre Gleichberechtigung kämpften, hatten Städte in den USA wie Dodge City, Deadwood oder Tombstone Ende des 19. Jahrhunderts jüdische Bürgermeister. In Tombstone fand zu der Zeit der berühmte „Gunfight at the O.K. Corral“ (1881) mit Marshall Wyatt Earp (1929) statt, der mit der Jüdin Josephine Sarah Marcus (1860–1944) verheiratet war. Die Earps sind nicht weit von Solomon Bibo in Colma gemeinsam bestattet. Der amerikanische Bürgerkrieg spaltete auch die Juden in den USA. Ihr jeweiliger Patriotismus wurde in Frage gestellt und sie immer wieder als „Spione“ der jeweils anderen Seite verdächtigt. 7000 von 150.000 Juden kämpften auf der Seite der Unions Army, 3000 von 25.000 Juden bei den Konföderierten in den Südstaaten. Zunächst durfte es keine jüdischen „Feldrabbiner“ geben, aber nach Protesten wurden sie 1862 doch zugelassen. General Ulysses S. Grant bannte 1862 alle Juden aus dem Militärbezirk von Tennessee (General Order Nr. 11). Der Hintergrund für diese Aktion war der Baumwollhandel von Juden und Nicht-Juden für Armeebekleidung, in dem auch Grants Vater beteiligt war. Als erste jüdische Organisation protestierte die „Bné B‘rith“ Missouri Loge bei Präsident Lincoln, der die Order am 8.1.1863 wieder aufhob. R. Morris J. Raphall der Gemeinde „Bnei Jeshurun in New York“ wurde durch seine Predigt als „pro-slavery rabbi“ berühmt, während sich R. David Einhorn gegen diese Ansichten in seiner Synagoge in Baltimore verwehrte. Beide argumentierten auf der Grundlage der hebräischen Bibel für und gegen die Sklaverei. Die wohl schillerndste jüdische Gestalt während des Bürgerkriegs war Judah Philip Benjamin (1811–1884). Als Sohn englischer Juden wuchs er in Charleston auf und wurde 1832 Anwalt in Louisiana. Dort hatte er bis 1850 eine Zuckerrohrplantage mit über 130 Sklaven. 1853 wurde er 1853 Senator von Louisiana. Bei Ausbruch des Krieges trat er zurück. Unter Präsident Jefferson Davis wurde er Justizminister und später Kriegs – und Außenminister. Sein Porträt zierte eine Zwei-Dollar Note (2.12.1862) und Wertpapiere (19.8.1861). Benjamin wurde – nachdem den Süden das Kriegsglück verließ – zum Sündenbock und Zielscheibe von Antisemitismus. Nach Kriegsende floh Benjamin nach England, wo er 1866 wieder als Anwalt wirkte, von 1872 bis 1882 sogar als Kronanwalt. Ende des 19. Jahrhunderts bis 1924 kam es durch die Emigration von über zwei Millionen ostjüdischer Pogromflüchtlinge zu Konflikten zwischen den „deutschen“ Juden und den Einwanderern aus dem Osten. Unter den Zaren Russlands lebten ca. 94% der jüdischen Bevölkerung Russlands in einem speziellen Ansiedlungsgebiet, ein gigantisches Ghetto für fast 5 Millionen Juden. Das jüdische „Schtetl“ ist das jüdische Viertel in einer Klein- oder Großstadt, in der die Juden gesellschaftlich nahezu isoliert in geistiger und kultureller Trennung von der Umwelt lebten. Die Welt des Schtetl wird in der Kunst und Literatur idyllisch- romantisch verklärt als wehmütige Erinnerung an eine vernichtete Welt – mit Kaftanen und Klezmermusik. Die Wirklichkeit bedeutete aber vor allem Armut und Angst vor Pogromen.

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„Das Äußere des polnischen Juden ist schrecklich. Mich überläuft ein Schauder, wenn ich daran denke, wie ich hinter Meseritz zuerst ein polnisches Dorf sah, meistens von Juden bewohnt. Das W-cksche Wochenblatt, auch zu physischem Brei gekocht, hätte mich nicht so brechpulverisch anwidern können, als der Anblick jener zerlumpten Schmutzgestalten; und die hochherzige Rede eines für Turnplatz und Vaterland begeisterten Terzianers hätte nicht so zerreißend meine Ohren martern können, als der polnische Judenjargon. Dennoch wurde der Ekel bald verdrängt von Mitleid, nachdem ich den Zustand dieser Menschen näher betrachtete, und die schweinestallartigen Löcher sah, worin sie wohnen, mauscheln, beten, schachern und – elend sind. Ihre Sprache ist ein mit Hebräisch durchwirktes, und mit Polnisch fassoniertes Deutsch.“36

Zar Alexander II. verkürzte den Militärdienst von 25 Jahren auf fünf Jahre und beginnt die antijüdischen Gesetze auch weiter zu lockern. Er stirbt aber im März 1881 bei einem Attentat. Die Juden verlieren makabrerweise als vermeintliche Drahtzieher des Attentats in den sogenannten Mai-Gesetzen wiederum ihre Freiheiten und die fürchterlichste Pogromwelle überzieht das Land, was die Massenflucht zur Folge hat. Ende des 19. Jahrhunderts entstand aber auch in Städten wie Wilna, Warschau und St. Petersburg eine säkulare ostjüdische Kultur, die sich in den zionistischen und sozialistischen Bewegungen wie dem 1897 gegründeten „Allgemeinen jüdischen Arbeiterbund“ formierte, aber auch die jüdische Kulturgeschichte bereicherte. Der weißrussische Schriftsteller Salomon An-sky (Schlomo Rappoport, 1863–1920) gründete 1908 in St. Petersburg die „Jüdische Historische Ethnographische Gesellschaft“, die sich zur Aufgabe gemacht hatte, die ostjüdische Folklore zu sammeln. Dieses Unternehmen war Teil der gesamt europäischen „Renaissance“ –Bewegung im Judentum, die versuchte, das Judentum neu zu beleben. „Gathering folklore is not only a scholarly task, but a national and topical one. To educate our children in a national Jewish spirit, we must give them folktales, folk songs, in short, what forms the basis of children’s education for other peoples.“37 Das bedeutete aber für die Teilnehmer der Expeditionen (1912–1914) nach Podolien oder Wolhynien nicht nur, Geschichten und Riten aufzuschreiben, sondern auch Kultobjekte zu archivieren, zu fotografieren und Musik auf Wachszylindern aufzunehmen. Der Fragenkatalog umfasste über 10.000 Fragen „covering all aspects of everyday life and the beliefs oft he people.“38 Allein in den ersten beiden der insgesamt drei Expeditionen (Juli – Oktober 1912; Juli – November 1913; Juli 1914) sammelte An-sky zusammen u.a. mit dem Fotographen Solomon Yudovin und dem Musikwissenschaftler Yoel Engel 1300 Geschichten, 2200 Lieder und Melodien, zahlreiche Manuskripte, 600 Kultobjekte und machte 1400 Fotographien. Diese Fotos zeigen Menschen, Gemeinden, Synagogen, Kultobjekte und Friedhöfe, die wenige Jahre später während der Shoah vernichtet wurden.39 Solomon Rabinovich (1839–1916) beschrieb unter seinem Pseudonym ScholemAlejchem in seinem jiddischen Werk eine „Schtetl“-Welt in Aufbruch und Auflösung, versinnbildlicht durch seinen zur Kultfigur gewordenen Tewje, dem Milchmann. In Manhattans „Lower East Side“ lebten zeitweise 500.000 Juden. 1890 lebten dort rund 300.000 Ostjuden in erbärmlichen Lebensumständen. Viele der Einwanderer

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mussten ihren Unterhalt in Fabriken, sogenannten „sweat shops“ verdienen, von denen es damals Tausende in Brooklyn und Manhattan gab, in denen die Arbeiter, auch Kinder, in Schichten arbeiteten. Die Fabrikbesitzer waren meist deutsch-jüdische Emigranten, die im frühen 19. Jahrhundert gekommen waren. Glücklich, der einen Arbeitsplatz in der Nähe des Fensters hatte. Sidney Goldin (Samuel Goldstein, 1878–1937) hatte 1932 mit seinem jiddischen Spielfilm „Uncle Moses“ der Welt der „sweat-shops“ ein beeindruckendes Mahnmal errichtet. Die Buchvorlage von Sholem Asch war im „Forverts“ als Serie erschienen. Die jiddische Zeitung „Der Forverts“ (The Forward), das Sprachrohr der ostjüdischen Einwanderer, war 1897 von Abraham Cahan (Podberesy 1860 – New York 1951) gegründet worden. Cahan schilderte die Welt der Einwanderer auch in seinen Romanen „Yekl: A Tale of the New York Ghetto“ (1896) und The Rise of David Levinsky (1917). Wie früher die Rabbiner im „Stettl“, so wurde jetzt Cahan der Ansprechpartner für die Einwanderer und ihrer Probleme bei der Amerikanisierung. „Uncle Moses“ war ein fast reiner Studio-Film (Metropolitan Studios, New Jersey), der städtischste und amerikanischste aller jiddischen Filme, in dem Maurice Schwartz einen despotischen Fabrikbesitzer wie einen „Jewish Godfather“ spielt. In der Lower East Side lebten 1916 noch 353.000 Juden, am Ende der 30er nur noch knapp die Hälfte dort. Die zunehmende Integration in die amerikanische Lebenswelt führte auch in der nächsten Generation zum Ende des jiddischsprachigen Theaters und des jiddischen Films. Das amerikanische Judentum sollte sich bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts so weit akkulturiert haben und die jüdischen Gemeinden trotz ihrer Verbundenheit mit dem Staat Israel jegliches Gefühl einer „Diaspora“ völlig überwunden haben.

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Islamische Kulturgeschichte Karl Prenner

Das 19. Jahrhundert, das hier vorgestellt werden soll, umfasst das Osmanische Reich, das sich von Südosteuropa bis Nord-Afrika und den Kaukasus erstreckt, das Reich der Qadscharen in Iran und jenes der Moguln in Indien bzw. Indien unter britischer Herrschaft. Gemeinsam ist allen drei Reichen, dass sie im Laufe des 19. Jahrhunderts immer stärker ihre wirtschaftliche und politische Selbständigkeit verlieren und von europäischen Mächten abhängig werden. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts sind sie dann als „europäische Vasallenstaaten“ der direkten Kontrolle der Kolonialländer ausgeliefert.1 Alle drei Reiche fungierten nicht nur als Absatzmärkte, sondern auch als landwirtschaftliche Rohstofflieferanten für die Industrieländer. Ägypten, der syrische Großraum und Anatolien lieferten Baumwolle, Seide und Getreide. In all diesen Ländern waren die Verlierer dieser sozialen und wirtschaftlichen Veränderungen die herkömmlichen Mittelschichten wie Handwerker, Gewerbetreibende und die bäuerliche Bevölkerung. Im Gegenzug dazu bildet sich eine neue Mittelschicht heraus, bestehend aus Großgrundbesitzern und Inhabern des Handels- und Finanzkapitals (Christen, Juden, Armenier), die mit Europa zusammenarbeiteten.2 Die nach europäischem Vorbild vorgenommenen Reformen brachten letztendlich nicht den gewünschten Erfolg, da die Reformer die ökonomischen und sozialen Bedingungen, die in Europa zur Industrialisierung führten, falsch einschätzten. „Man glaubte, oder wurde glauben gemacht, dass der ökonomische Liberalismus die Bedingung für die Industrialisierung und den damit verbundenen wirtschaftlichen Aufschwung sei.“3 Das Scheitern der Reformbestrebungen am Ende des 19. Jahrhunderts habe nach Hendrich auch damit zu tun, dass die Rolle der Eliten „[…] interessegeleitet [war], und weil es dazu keine Institutionen und gesellschaftlichen Kräfte gab, die eine Kontrollfunktion oder ein Gegengewicht hätten bilden können, war es den Eliten in den letzten einhundertfünfzig Jahren möglich, ernsthafte Gesellschaftsreformen dann zu unterbinden, wenn diese ihre Stellung bedrohten.“4 Allen drei Imperien gemeinsam war aber auch, dass der Islam instrumentalisiert wurde, „als Mittel einer konfessionellen Begründung von Herrschaft.“5 Dass in der islamischen Welt gegenüber Europa „ein gegenteiliger Prozess“ der modernen Wissenschaftsentwicklung

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stattfand, sieht Kaser darin verursacht, dass „wissenschaftliche Inhalte […..] nun auf ihre Vereinbarkeit mit Glaubensgrundsätzen rigider als bis dahin überprüft [wurden].“6 Diese Instrumentalisierung der Religion hatte aber letztendlich auch ihre Politisierung zur Folge. Nach Schulze7 hänge die Politisierung des Islam ursächlich mit der Herausbildung der kolonialen Gesellschaft zusammen. Unter den Quellen des politischen Islam fungierte einmal die Legitimitätskrise der herkömmlichen Regime. Aufgrund der Machtansprüche der Kolonialmächte „mußte das bisher Selbstverständliche der islamischen Identität zu einem islamischen Selbstverständnis transformiert werden.“8 Ein weiterer Grund war die konfliktreiche Auseinandersetzung zwischen der kolonialen Gesellschaft und den traditionellen Gesellschaften. Unter diesen Bedingungen entwickelte sich der Islam zu einem konkurrierenden Alternativmodell zum Westen, indem er nicht nur als „Herrschaftsidentität“, sondern auch als „gesellschaftliche Identität“ fungierte.9 Als dritte Quelle gibt Schulze die „fundamentalistischen“ innerislamischen Reformbewegungen, z.B. Wahhabiyya, an. Gemeinsam sei der Rückgriff auf die heilvolle Zeit der „frommen Vorfahren“ (as-salaf). Mit dieser Politisierung wurde die Pluralität, die durch Jahrhunderte die muslimischen Gesellschaften formte und durchwirkte, aufgegeben und nur mehr eine Variante des Islam als authentisch erklärt.

Das osmanische Reich Politische und wirtschaftliche Aspekte Grundsätzlich wird die Osmanische Gesellschaft von zwei Klassen beherrscht, auf der einen Seite die Beamtenklasse und auf der anderen die Klasse der Regierten, die Handwerker, Händler und Bauern. Die Beamtenklasse, dazu gehörten auch die Religionsgelehrten (Ulama), stand im Dienste des Sultans und hatte den Staat zu verwalten.10 Diese Gesellschaftsstruktur führte im Laufe der Zeit dazu, dass sich beide Klassen immer mehr entfremdeten; in der Folge kam es zur Herausbildung eines Dualismus im Kulturschaffen, nämlich zwischen „Hochkultur / große Kultur“ und „Volkskultur / kleine Kultur“.11 Auch literaturgeschichtlich führte dies zu einem Dualismus zwischen Hof- und Volksliteratur. Das Verbindende zwischen den beiden gesellschaftlichen Gruppen war der Islam, der den gesamten Lebensstil seiner Anhänger prägte. Im Zuge der Verwestlichung verschärfte sich diese gesellschaftliche Doppelgleisigkeit aber auch in der herrschenden Klasse, da an die Stelle der traditionellen osmanischen Oberschicht jene traten, die nach Europa ausgerichtet waren und europäische Sprachen und Kultur kannten. Nicht mehr die militärische Elite, sondern die zivile, vor allem die Diplomaten und Botschafter, bekommen immer mehr an Einfluss.12 Im Übergang vom 18. zum 19. Jahrhundert beginnt der wirtschaftliche und kulturelle Einfluss und in der Folge die Durchdringung des Vorderen und Mittleren Orients durch die europäischen Mächte, die letztendlich in der Kolonialherrschaft gipfelt. Die europäische Industrie hat, bedingt durch die industrielle Revolution, nach

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neuen Absatzmärkten für ihre Waren Ausschau gehalten und sie vornehmlich im islamischen Orient gefunden. Dazu hat auch beigetragen, dass die Dampfschifffahrt nicht nur den Handel im Mittelmeer, sondern auch den Überseehandel revolutionierte. Da das Osmanische Reich durch einseitige Handelsverträge und Kapitulationen, die als Sonderrechte einzelnen europäischen Staaten gewährt wurden, im Laufe der Zeit zunehmends auch territoriale Einbußen hinnehmen musste, gelang es den europäischen Mächten immer mehr, ihre wirtschaftlichen und politischen Interessen im Osmanischen Reich durchzusetzen. Unterschiedliche Haltungen gegenüber diesem Fremdeinfluss werden sich im Laufe der Zeit herauskristallisieren. Anfangs blickte man noch unkritisch auf Europa, verband mit dem europäischen Modell große Erwartungen für die eigenen Länder, meinte, dass Islam und europäisches Fortschrittsdenken durchaus vereinbar seien, nicht nur in Hinblick auf die technischen Errungenschaften, sondern auch auf ideelle, auf Freiheit und Rechtsstaatlichkeit.13 Vor allem nach dem 1. Weltkrieg setzt infolge der Zerschlagung des Osmanischen Reiches und seiner Aufteilung unter den europäischen Mächten eine kritische Haltung gegenüber Europa ein, die auf ideellem Gebiet eine verstärkte Hinwendung zu den eigenen islamischen Traditionen, zur eigenen muslimischen Identität zur Folge hatte. Die Bruchlinien zwischen traditioneller islamischer Identität und moderner Zivilisation sind aber bereits im 19. Jahrhundert zu erkennen. „Die Geschichte des Vorderen Orients im neunzehnten Jahrhundert vollzog sich daher im Spannungsfeld zwischen der erzwungenen oder freiwilligen Öffnung für westliche Einflüsse einerseits und dem Willen zur Selbstbehauptung andererseits, zwischen der Annahme des ‚Fortschritts‘ auf der einen und der Wahrung der eigenen Identität auf der anderen Seite.“14

Das 19. Jahrhundert wird von Schölch15 in drei Abschnitte eingeteilt: 1. Die Zeit der ersten Reformen des osmanischen Reiches bis 1856. 2. Die Fortsetzung der Reformen (1856–1876). Am Ende der politischen und wirtschaftlichen Durchdringung steht der Staatsbankrott von Konstantinopel und Kairo und die Installierung einer „internationalen Schuldenverwaltung.“ 3. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts die Herausbildung einer politischen Neuorientierung, nämlich die Entstehung des Nationalgedankens in arabischer, ägyptischer und türkischer Version. Die ständigen Niederlagen, die das Osmanische Reich in Auseinandersetzung mit den europäischen Kolonialmächten, aber auch mit der russischen Expansionspolitik erlitten hatte, und die Auswirkungen der industriellen Revolution in Europa haben gezeigt, dass Reformen der öffentlichen Ämter, der Verwaltung und der Wirtschaft, vor allem aber des gesamten Militärwesens nach europäischem Muster unausweichlich seien, sollte das Osmanische Reich gegenüber den europäischen Mächten nicht gänzlich ins Hintertreffen geraten.16 Anfangs meinte man noch, dass ausschließlich mit einer Reform des Militärwesens nach europäischem Vorbild die anstehenden Probleme zu lösen seien, ohne gleichzeitig die kulturellen und gesellschaftlichen

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Voraussetzungen einer rationalen Menschen- und Weltsicht zu schaffen. Neben den Janitscharen wurden so unter Selim III. (1789–1807) und Mahmud II. (1808–1839)17 Streitkräfte nach europäischem Muster aufgebaut. Französische Militärexperten kamen ins Land und entsprechende Militärschulen und Übersetzerbüros wurden errichtet. Studenten und Kadetten sandte man nach Europa, damit sie sich modernes Wissen aneignen. Aber weder die neuen Truppenkontingente noch die nach europäischem Muster ausgerichteten Schulen konnten einen entsprechenden Einfluss auf das herkömmliche Erziehungswesen entfalten, denn als „Neuerung“ hat sie die breite Öffentlichkeit nicht akzeptiert. Nur im Bereich der Ingenieursschulen wurde modernes westliches Wissen vermittelt.18 Auf diese Weise begann sich eine nach Europa ausgerichtete Gruppe zu formieren, die sich für die Übernahme von Reformen nach europäischem Muster aussprach. Diesen stand eine beharrende konservative Gruppe gegenüber, die von den Janitscharen und den Religionsgelehrten angeführt wurden, die bloß auf Reformen des guten alten Brauches bedacht waren. Die Opposition und der Konservativismus im Inneren, sowie ethnisch-religiöse Konflikte in den Provinzen verhinderten jedoch tiefgreifendere Reformen. Das Versagen der Janitscharen bei der Niederschlagung des griechischen Aufstandes (1821–1830) nahm Mahmud II. zum Anlass, um diesen ein endgültiges Ende zu bereiten.19 1826 wurden sie im Rahmen einer Revolte niedergemetzelt. Somit war nun endgültig der Weg für Reformen, besonders für Militärreformen frei. Die Verfechter der herkömmlichen Ordnung bestanden zwar weiter, nun aber konnten Reformen von den Janitscharen nicht mehr durch Gewalt verhindert werden und die Vertreter der alten Ordnung hatten ihre militärischen Unterstützer verloren. Auch die mit den Janitscharen verbundene heterodoxe Bruderschaft der Bektaschiyya war vom Untergang der Janitscharen betroffen. Nun übernahm der orthodoxe Khalidiyya-Naqschbandiyya-Orden ihre Funktion der „Militärseelsorge.“ Ziel dieses Ordens ist die strikte Befolgung der sunna des Propheten (islamische Tradition) und die Vermeidung von „Neuerungen“. Erneuerung des Islam meint hier die Rückkehr in die heilvolle Zeit des Propheten und seiner Gefährten. Gerade auch die Elite der Osmanischen Gesellschaft („upper ranks“) folgte dem Ideal dieses Ordens, aber auch dem Mevlevi-Orden. „If the ulama supported the measures of reform of sultan Mahmud II., it was because by this time and among other things they were motivated by orthodox sunni ideals propagated by the sufi movement.“20 Der Sultan allerdings setzte diesem orthodoxen Trend Widerstand entgegen. Nach der Zerschlagung der Janitscharen wurde dem Aufbau einer Armee nach westlichem Muster große Aufmerksamkeit gewidmet, vor allem den Militärschulen. Auch die Reformen des Erziehungswesens sollten das herkömmliche Schulsystem – Koranschulen und Medresen – durch ein säkulares ersetzen.21 Die Errichtung eines eigenen Erziehungsministeriums und die praktische Verstaatlichung der „frommen Stiftungen“ beschnitten zwar den Alleinanspruch der Ulama auf das Erziehungswesen und somit auch ihren gesellschaftlichen Einfluss, allerdings hatte der Betrieb an den Koranschulen und Medresen weiterhin Bestand. So verstärkte sich anhand dieses parallel laufenden Er-

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ziehungssystems die gesellschaftliche Dualität weiter; auf der einen Seite die Vertreter des modernen Europa, die durch das säkulare Schulsystem europäische Bildung erhielten und eine gewisse intellektuelle Oberschicht darstellten, auf der anderen die Verfechter des traditionellen althergebrachten Bildungssystems der Medresen, die gegen diese Verwestlichung kämpften.22 Die aus dem säkularen Erziehungssystem hervorgegangenen Absolventen, sie bezeichneten sich als „Junge Osmanen“, forderten eine fundamentale Gesellschaftsreform, die eine Teilhabe des Volkes an der Herrschaft ermöglichen sollte, also eine Volkssouveränität. Aber auch die herrschende intellektuelle Schicht war gespalten, da sie sich trotz der säkularen Bildung den herkömmlichen kulturellen Werten und Vorstellungen verbunden fühlte. Mit Abdülmedschid (1839–1861) und seinem Reformedikt von 1839 (Gülhane Edikt) beginnt die Epoche der Tanzimat (Neuordnung)-Reformen.23 Dieses Dekret weist auffällige Parallelen zur Erklärung der französischen Menschenrechtscharta von 1791 auf, indem es die Sicherheit des Lebens, den Schutz der Ehre und des Eigentums regelt. Normalerweise wird von einer rechtlich-politischen Gleichstellung der nicht-muslimischen millets mit den Muslimen gesprochen. 24 Nach Meier ein „Minimalkodex moderner Menschenrechte“.25 Abu-Manneh26 resümiert, dass „equality before the law did not entail civil and plitical equality … In no way could the Gülhane Rescript be claimed to have granted equality to the non-Muslim subjects of the Ottoman sultan“. Die Träger dieser Reformen waren Staatsmänner, die „gleich gut mit orientalischen und europäischen Fragen vertraut“27 waren, als Botschafter in europäischen Städten waren, daher auch deren Sprachen beherrschten. Gerade diese Staatsmänner trieben nun das Reformkonzept voran. Es erstreckte sich nicht nur auf die Modernisierung des Militärwesens, sondern betraf sämtliche Bereiche von Staat und Verwaltung, allerdings blieb der sozio-ökonomische Bereich von den Reformen ausgespart. Auf diese Weise sollte die traditionelle Ausrichtung der herrschenden Klasse beibehalten werden. Die Tanzimat- Reformen kreierten eine neue Schicht technischer Eliten, „denen die Aufgabe übertragen wurde, das alte Sozialsystem zu retten, indem sie dessen Instrumente modernisierten.“28 Diese nun eingeleitete Säkularisierung der osmanischen Gesellschaft stellte für die Konservativen „eine Bedrohung der staatlichen Ordnung“ dar, daher forderten sie die Ausrichtung der Gesellschaft nach dem Islam, denn „Staat und Religion“ bilden eine Einheit.29 Als Vorbild für die Zentralisierung der Verwaltungsstrukturen diente das französische Regierungssystem. Insgesamt wird im Zuge der Reformen auch auf kulturellem Gebiet der französische Einfluss immer greifbarer. Sämtliche staatliche Angelegenheiten mussten sich der Kontrolle der Zentralgewalt beugen.30 Nach europäischem Muster hat man „Ministerien“ geschaffen, allerdings „mit dem alten Personal und der herkömmlichen Arbeitsweise, ohne jegliche Strukturveränderung.“31 Eine Veränderung erfuhr das traditionelle System der Ämterverteilung, des Landbesitzes (timar-system) und der Steuerpacht, und die Ländereien gingen größtenteils in Staatsbesitz über, was wiederum negative Auswirkungen auf die Bauern mit sich brachte. Nur durch eine entsprechende Qualifikation konnte man nunmehr in den Rang eines Staatsbeamten aufsteigen.

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Nach dem Krimkrieg mit Russland (1853–1856), bei dem Frankreich und England das Osmanischen Reich unterstützten, und dem anschließenden Frieden von Paris 1856 konnte das Osmanische Reich seine Territorien erhalten. Kurz vor dem Friedensschluss hatte der Sultan nochmals im Rahmen eines Reformediktes, unter Druck von England, Frankreich und Österreich, den Nicht-Muslimen rechtliche Gleichstellung mit den Muslimen und die Fortsetzung der administrativen Reformen zugesprochen.32 Das Zugeständnis an die Europäer, im Rahmen der Kapitulationen mehr an wirtschaftlichen Tätigkeiten im Osmanischen Reich ausüben zu können, führte dazu, dass sich die Kolonialmächte nun gleichsam auf eine rechtliche Basis für die Durchsetzung ihrer Interessen berufen konnten. Diese Bestimmungen über die „Rechtsgleichheit der Untertanen ungeachtet der konfessionellen Stellung“,33 führten dazu, dass es zu diversen Unabhängigkeitsbestrebungen kam, denn mit der Frage nach den religiösen Minderheiten war auch die Frage nach den entsprechenden Nationalitäten verbunden. Außerdem protegierten die europäischen Mächte diese religiösen Minderheiten. Die Kapitulationen ermöglichten es, dass nach dem Krimkrieg der osmanische Markt den europäischen Exportprodukten völlig ausgeliefert war. Europäische Kaufleute konnten auf dem gesamten osmanischen Territorium Handel betreiben. Die Folgen für die osmanische Wirtschaft und den Handel waren enorm: „der halbkoloniale Status des Reiches als Absatzmarkt und Rohstoffquelle für die Industrieländer wurde auf diese Weise vollends besiegelt.“34 Faroqhi35 gibt zu bedenken, „daß das Gesamtbild des osmanischen Gewerbes doch differenzierter war, als es auf den ersten Blick erscheinen könnte“, dass also durchaus auch Rohstoffe verarbeitet wurden. Nach Schölch36 ist allerdings um die Mitte der 50er Jahre „eine Euphorie des Fortschritts“ zu konstatieren, die bis in die 70er Jahre hinein andauert. „Mit Hilfe des europäischen Kapitals, im Wege der Europäisierung, sollte der Vordere Orient den Anschluß an Fortschritt und Zivilisation finden, ja er sollte Teil Europas werden.“ Jene, die den Reformen skeptisch gegenüberstanden, waren vor allem die Ulama. Es ging um die Frage, wieweit die Reformen nach europäischem Vorbild und die Übernahme europäischer Institutionen mit dem Islam und im Speziellen mit der Scharia vereinbar seien. Die Verfassung von 1876 unter Abdülhamid II. (1876–1909),37 die Medschelle, setzt den Reformprozess weiter fort „in Richtung auf eine dem europäischen Vorbild entsprechende freiheitlich-bürgerliche Ordnung.“38 Im Blick auf die Balkankrise (russisch-türkischer Krieg 1877/1878) versucht der Sultan mit diesem Reformgesetz die europäischen Mächte wohlwollend zu stimmen und führt ein parlamentarisches System ein und damit eine „säkulare, konservative Staatsverfassung.“39 Die Medschelle ersetzte die herkömmlichen osmanischen Gesetzesbücher und richtete sich nach den europäischen aus.40 Islamisches und europäisches Recht wurden hierbei zu einem modernen Codex transformiert. Die Medschelle-Kommission setzte sich aus zwei oppositionellen Gruppen zusammen: auf der einen Seite jene, die für eine totale Verwestlichung eintraten und auf der anderen die traditionell ausgerichteten Ulama.41 Durch die Einrichtung der neuen, nach europäischem Muster strukturierten

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staatlichen Zivilgerichtshöfe wurden nicht nur die Schariats-Gerichtshöfe in ihrem Wirkungsbereich eingeschränkt, sondern es wurden auch „gemischte Gerichtshöfe mit osmanischen und europäischen Richtern eingesetzt.“42 Somit näherte man die Scharia-Gesetze dem europäischen Recht an. Allerdings beschnitten der Sultan und die Ministerien die Eigenständigkeit des Parlaments insofern, als der Sultan unter Ausschaltung des Parlaments noch immer eigenständig Gesetze erlassen konnte. Weiters waren nun alle Untertanen vor dem Gesetz gleich, die Religion spielte keine Rolle mehr. Alle hatten die gleichen Rechte und Pflichten und somit auch Zugang zu den öffentlichen Ämtern. Neben der Pressefreiheit gewährleistete der Staat auch die Freiheit der Religionsausübung, allerdings war der Islam Staatsreligion und der Sultan trug den Titel Kalif; damit war der Anspruch verbunden, der Schutzherr aller Muslime zu sein, ein Anspruch, der als Reaktion auf die europäische Kolonialpolitik zu sehen ist.43 Gegenüber diesem osmanischen Kalifat entsteht auch in einigen arabischen Ländern die Idee eines arabischen Kalifats im Sinne einer „´spiritual´ institution.“44 Die neue Kodifizierung des Grundgesetzbuches ließ nun das Privateigentum zu, sodass in der Folge auch Ausländer Grundbesitz erwerben konnten. Da nun Juden und Christen als gleichberechtigte osmanische Staatsbürger galten, so meinte man, sollten die Forderungen der europäischen Mächte erfüllt sein und der europäischen Einmischungspolitik ein Riegel vorgeschoben werden.45 An dieser Religionsfreiheit partizipierte die zwölferschiitische Gemeinde in Istanbul bzw. im Osmanischen Reich nur marginal, denn die Schiiten galten den sunnitischen Osmanen grundsätzlich als Häretiker, daher wurde ihnen auch keine eigene millet gewährt. Abdülhamid II. benutzte seine „autokratische Machtfülle“,46 um die Reformen voranzutreiben, vor allem im Bereich des Erziehungswesens, allerdings behielt er die Aufteilung in muslimische und nicht-muslimische Schulen bei, wodurch auch die Medresen weiter bestehen konnten.47 Die Errichtung von staatlichen Bibliotheken und der Ausbau des Kommunikationsnetzes sollte die Modernisierung forcieren. So kann man Abdülhamid II. als „Vollender“ der Tanzimat-Reformen bezeichnen.48 Allerdings blieb der „kulturelle Dualismus“ in der Gesellschaft bestehen. 1878 (Berliner Kongress) erlangten Montenegro, Serbien, Rumänien und Bulgarien vollständige Unabhängigkeit. Noch im selben Jahr marschierten österreichisch-ungarische Truppen in Bosnien und der Herzegowina ein. Das in der Verfassung grundgelegte Prinzip „der einheitlichen osmanischen Staatsbürgerschaft im Rahmen des multi­ ethnischen Staates“ wurde durch „die Idee des auf ethnischer Grundlage gebildeten territorialen Nationalstaats … überholt.“49 Die immer massivere Einmischung der Europäischen Mächte in die inneren Angelegenheiten des Osmanischen Reiches, so sollten die nicht-muslimischen Minderheiten gegenüber der muslimischen Mehrheit eine bevorzugte Stellung einnehmen, hatte zur Folge, dass dadurch der autokratische Stil Abdülhamids II. weiter zunahm. Dem bei den Nicht-Muslimen immer stärker vertretenen Nationalismus, gefördert durch die Europäer, setzte der Sultan den Osmanismus, aber auch den Panislamismus und den Panturkismus entgegen.50 Christliche Minderheiten des Osmanischen Reiches versuchten ihre Vorstellungen und Wünsche mittels Terrorakte durchzusetzen, um so den osmanischen Staat zu

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einem Vorgehen gegen sie herauszufordern und sodann ein europäisches Eingreifen herbeizuführen. Wie Abdülhamid II. vertrat auch die Opposition selbst die Ideologie des Panislamismus, des Osmanismus, des türkischen Nationalismus und des Modernismus. Die Verfechter des Panislamismus sprachen sich gegen eine starke Verwestlichung aus, weil diese dem Islam widerspräche, sie plädierten daher nur für die Übernahme der technologischen Errungenschaften des Westens; geistige, ethische und kulturelle Werte des Westens zu übernehmen, sei mit dem Islam nicht vereinbar. Ihre Forderung war daher die Rücknahme sämtlicher Tanzimat-Reformen, die Rückkehr zum klassischen islamischen Erziehungssystem und damit zur SchariaGesetzgebung. Die Vertreter des Osmanismus forderten die Gleichheit aller osmanischen Untertanen. „Die im Prinzip der osmanischen Nationalität implizierte Idee einer trans-nationalen bzw. multi-nationalen Nationalität erwies sich in einer Zeit, in der in den europäischen Territorien des Reiches die Idee des nationalen, völkischen Nationalismus ihre politischen Siege errang, als hoffnungslos unrealistisches Konstrukt, das unter den gegebenen Umständen zum Scheitern verurteilt war.“51 Eine andere Gruppe vertrat die Ausrichtung nach Europa in unterschiedlichen Graden. Vor allem das Erziehungs- und Bildungswesen, aber auch die Gesetzgebung sollten ausschließlich nach europäischem Vorbild ausgerichtet werden. Nach der Kritik der Jungosmanen verfolgten die Tanzimat-Reformen keine wesentlichen Umstrukturierungen der osmanischen Gesellschaft, vielmehr sollte das Bestehende im gesellschaftlichen und staatlichen Bereich abgesichert werden.52 1908 wird dann die jungtürkische Bewegung Abdülhamid II. stürzen. Die enorme Auslandsverschuldung und die immer größere Abhängigkeit von den Industriestaaten führten 1875 zum Staatsbankrott. Die Folge war eine „internationale osmanische Staatsschuldenverwaltung“,53 der der Sultan die wichtigsten staatlichen Einkünfte überlassen musste. Damit war der „kranke Mann am Bosporus“ zur Gänze vom europäischen Finanzkapital abhängig. Andererseits aber konnte mit dem europäischen Kapital auch die osmanische Wirtschaft modernisiert werden;54 so etwa das Telegraphennetz, Straßen und drei große Bahnlinien: Konstantinopel wurde mit dem europäischen Schienennetz verbunden (Orient-Express); die Bagdad-Bahn und die Hedschas-Bahn (von Damaskus nach Medina). Bevorzugt behandelte der Sultan hierbei das Deutsche Reich. Je mehr Teile des Balkans dem Osmanischen Reich verloren gingen, desto mehr konzentrierte es sich auf die arabischen Provinzen, wodurch der Islam sich immer stärker als Verbindungsglied zwischen Türken und Arabern erwies. Die osmanischen Provinzen Die Unabhängigkeitsbestrebungen der Balkanprovinzen gingen mit einer unterschiedlichen Geschwindigkeit und Intensität vor sich. Durch das Eingreifen der europäischen Großmächte entsteht 1830 ein eigener griechischer Teilstaat. Zur selben Zeit erlangte auch das Fürstentum Serbien seine Anerkennung als autonomes Gebiet, allerdings unter osmanischer Oberhoheit. Verbunden war das Entstehen dieser

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christlichen Nationalstaaten durchwegs auch mit Vertreibungen und Auswanderungen der muslimischen Bevölkerung bis hin zu Massakern.55 Kaser zieht als Bilanz: „Für das Jahrhundert zwischen etwa 1820 und 1920 sind Millionen von muslimischen Todesopfern bzw. Flüchtlinge in das Osmanische Reich zu verzeichnen; Schätzungen sprechen von etwa fünf Millionen Todesopfern und ebenso vielen Vertriebenen.“56 Den Vertriebenen, Bauern und Nomaden, mussten nun neue Lebensräume zugeteilt werden. Kennzeichnend für diesen Teil des Osmanischen Reiches ist, dass es sich hier in der Hauptsache um bäuerliche Gesellschaften handelt; denn „im nahöstlichen Teil des Osmanischen Reiches [war] eine Industrialisierung nach westeuropäischem Muster aufgrund der ökologischen Gegebenheiten und der geringen Rohstoffvorkommen kaum möglich [….].“57 Außerdem fehlte es nicht nur im Nahen Osten, sondern auch auf dem Balkan an der Wasserkraft.58 Während der zweiten Tanzimat-Periode, also ab Mitte des 19. Jahrhunderts, entmachtete die „Hohe Pforte“ die Lokalherren und den Einfluss deren „etablierter Familien“ in den syrischen Provinzen, vor allem im Libanongebirge und im palästinensischen Bergland, und installierte das osmanische Verwaltungssystem, um eine politische und militärische Kontrolle zu gewährleisten.59 Die politische Elite der Provinzen hatte so stärker am politischen Leben teil. Insgesamt konnten nun größere Städte der arabischen Provinzen wirksamer in die politische Struktur des osmanischen Staates integriert werden. 1872 erhielt auch Jerusalem einen ähnlichen Status wie Damaskus und Aleppo, indem es direkt der Hohen Pforte unterstellt wurde.60 Die Haltung der Europäer war allerdings ambivalent, denn einerseits unterstützten sie die osmanischen Gouverneure, andererseits wiederum die Lokalherren, um europäische Interessen effektiver durchsetzen zu können. Die Kontrolle über die syrischen Provinzen hatte auch positive Auswirkungen auf die Wirtschaft, auf den Agrar- und Handelssektor, sodass „landwirtschaftliche Überschüsse [...] für die regionalen und europäischen Märkte produziert [wurden].“61 Sozio-ökonomisch wirkten sich diese Veränderungen auf dem Agrarsektor dahingehend aus, dass auf der einen Seite Großgrundbesitzer entstehen und auf der anderen eine Handels- und Finanzelite.62 Teilweise entstanden auch „lokale Industriebetriebe“, wie „etwa Seidenspinnereien im Libanon oder Tabak-, Zement- und Lebensmittel verarbeitende Betriebe in Ägypten.“63 Die Europäer waren weniger an einer ökonomischen Erschließung des „Heiligen Landes“ interessiert, vielmehr verfolgten sie politische Interessen. England, Rußland, Frankreich und Preußen versuchten durch ihre religiös-kulturelle Einflussnahme, nämlich Schutz der religiösen Minderheiten in Palästina, auch politischen Einfluss zu gewinnen. Rußland protegierte die orthodoxen Christen, Frankreich die Katholiken, England und Preußen die Juden und Protestanten. Konsulate wurden errichtet, ebenso Patriarchate und Bischofssitze.64 Diese Interessen europäischer Mächte in Palästina waren getragen von unterschiedlichen Zielsetzungen: Ausgangspunkt für das britische Interesse in Palästina war ein chiliastisches Konzept, „the restoration of the Jews.“65 Es handelt sich hierbei um die Verwirklichung der Prophezeiungen, nach denen die Juden ins Hl. Land zurückgeführt, dort gesammelt werden und das Christentum annehmen sollten. Unter den Katholiken war der Gedanke des „fried-

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lichen Kreuzzugs“ vorherrschend, also die Wiedergewinnung des Hl. Landes, das zur Zeit der Kreuzzüge in Besitz von Christen war.66 Konstantinopel wirkte gezielt diesen europäischen Interessen am Hl. Land entgegen, indem es etwa die Bedeutung Jerusalems als „Hl. Stadt“ für die Muslime hervorstrich. Mitte des 19. Jahrhunderts brachten syrisch-libanesische Christen durch die Ausbildung an modernen christlichen Missionsschulen Intellektuelle hervor, die nicht nur eine führende Funktion bei dem sich herausbildenden Pressewesen im Vorderen Orient einnahmen, sondern auch die Notwendigkeit von Reformen erkannten. Freilich ging es da weniger um eine religiöse Reform des Islam, sondern um eine rechtlich-politische Gleichstellung von Muslimen und Nicht-Muslimen, um eine gemeinsame gesellschaftliche Basis des Zusammenlebens über die religiösen und ethnischen Grenzen hinweg. In diesem Zusammenhang wurde eine Trennung von Religion, Staat und Gesellschaft gefordert und eine „säkularisierte arabische Kultur“ propagiert.67 Hierfür hatten ja die osmanischen Reformdekrete mit ihrer rechtlichen Gleichstellung bereits den Weg gewiesen. Im Libanon suchten religiöse und ethnische Minderheiten Schutz und Zuflucht, die Maroniten im Norden und die Drusen im Süden. Da sich die Maroniten schon sehr früh nach Europa ausrichteten, befanden sie sich gegenüber den Drusen wirtschaftlich im Vorteil, wodurch das instabile Gleichgewicht zerbrach und Auseinandersetzungen vorprogrammiert waren.68 Die Massaker der Drusen an den Maroniten hängen nicht nur mit dem Vordringen letzterer nach dem Süden zusammen, sondern waren auch eine Reaktion der muslimischen Bevölkerung gegen die von den europäischen Mächten erzwungenen Reformmaßnahmen, die die muslimische Identität bedrohten.69 Zu ähnlichen Massakern an der christlichen Bevölkerung kam es auch in Damaskus und in anderen Gebieten des Nahen Ostens. Während Frankreich die Maroniten als Schutzmacht protegierte, übernahm bei den Drusen England diese Funktion. „Dies war ein folgenreicher Schritt, denn Frankreich ließ die ersten Generationen an maronitischen Intellektuellen an französischen Universitäten ausbilden und etablierte eine kulturelle Hegemonie über das Land und insbesondere über Beirut, die bis heute Auswirkungen hat.“70 1864 mussten die Osmanen dem Libanon Autonomie gewähren. Das Libanongebirge erfuhr entsprechend dem „administrativen Konfessionalismus“ eine Neuordnung.71 Nach dem Abzug der französischen Truppen (Napoleon Bonaparte) gelang es 1811 dem albanischen Truppenführer Muhammad Ali, der vom Sultan zum Gouverneur von Ägypten ernannt wurde, unter Ausschaltung der Mamluken einen eigenen Staat zu errichten.72 Sein Ziel war es, vom Sultan und von den europäischen Mächten unabhängig zu werden bzw. eine Entwicklung in Ägypten einzuleiten, die es letztendlich mit dem modernen Europa in Gleichklang bringen sollte. Allmählich gelang es ihm, durch Reformen sowohl des Militärs als auch der Wirtschaft und der Verwaltung, Ägypten nach französischem Vorbild auszubauen und Istanbul zu überholen. Muhammad Ali hat im Auftrage Mahmud II. 1812/13 Mekka und Medina, die vom wahhabitischen Reich der Saudis den Osmanen entrissen wurden, wieder zurückerobert, aber auch den griechischen Aufstand (1821–1830) (auf

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Kreta, Zypern, Peloponnes), dem die osmanischen Truppen der Janitscharen nicht mehr gewachsen waren, niedergeschlagen. Aufgrund der Schwäche der osmanischen Streitkräfte konnte er über Syrien bis nach Anatolien vordringen. Letztendlich musste er auf Druck der europäischen Mächte seine eroberten Gebiete wieder aufgeben. Er leitete eine industrielle Entwicklung ein, indem er die Landwirtschaft verstaatlichte und Handel und Handwerk zu Staatsbetrieben und Staatsfabriken (Spinnereien und Webereien) umfunktionierte.73 Weizen und Baumwolle waren die Exportgüter. Durch diese staatlichen Kontrollmechanismen wurde das Funktionieren des traditionellen „bäuerlichen Familienverbandes“ beträchtlich in Mitleidenschaft gezogen und „der bäuerliche Besitz geschwächt und die Familie als Produktionseinheit durch Zwangsarbeit, militärische Zwangsrekrutierung und Enteignungen teilweise aufgebrochen.“74 Vor allem die wirtschaftliche und soziale Situation der Frauen litt darunter. Umgekehrt fanden dann Frauen außerhalb des Familienverbandes in der landwirtschaftlichen und industriellen Produktion als Arbeitskräfte Verwendung, ein Faktum, das für die Frauen auch positive Auswirkungen mit sich brachte, nämlich eine gewisse Unabhängigkeit vom Familienverband und die Eröffnung größerer Handlungsspielräume durch Aneignung von Qualifikationen, aber auch von Bildung.75 Zu einer wesentlichen Verbesserung des Status der Frauen der unteren Schichten führte diese Modernisierungspolitik Muhammad Alis jedoch nicht. Im Gegenteil, viele Frauen verloren an Eigenständigkeit und gerieten in neue Abhängigkeitsverhältnisse hinein.76 Von diesen staatlichen Eingriffen waren auch die religiösen Gemeinschaften betroffen. Ein entsprechendes Säkularisierungsprogramm hat die religiösen Institutionen entmachtet, sodass gegen Ende des 19. Jahrhunderts nur mehr das Personenstandsrecht für die Scharia-Gerichtsbarkeit übrig blieb. In Zusammenhang mit der neuen Rolle der Frau entwickelt sich auch ein „neuer Geschlechterdiskurs, der die traditionelle Frauenrolle infrage stellte.“77 Sicherlich waren von diesem Diskurs in erster Linie die Frauen der Mittel- und Oberschicht betroffen. Letztendlich blieben aber doch die traditionellen Geschlechterrollen innerhalb der Familie bestehen und die patriarchalische Kontrolle über die Frauen fand durch das Personenstandsrecht weiter ihre Fortsetzung. „Das Personenstandsrecht signalisiert somit eine fortdauernde Allianz von ´traditionellen´ und ´modernen´ Patriarchen auf Kosten der Frauen.“78 Mervat spricht von einer „domesticated femininity“ 79 unter der Herrschaft von Muhammad Ali, da auf der einen Seite die Mutterfunktion der Frauen verherrlicht und auf der anderen Seite deren Autonomie abgelehnt wurde. So diente z.B. die Durchführung der Mädchenbeschneidung auch der sozialen Kontrolle über die Frau. Das staatliche System unterwarf insgesamt die Körper von Männern und Frauen im Namen der Gesundheit und der Fürsorge der staatlichen Kontrolle. Muhammad Ali entsandte Studienmissionen nach Europa und errichtete Fachschulen, die das europäische Wissen in Ägypten fruchtbar machen sollten. Ägypten entwickelte sich immer mehr zu einer den europäischen Mächten ebenbürtigen Macht. Neben Istanbul wurde nun auch Kairo zu einem wichtigen wirtschaftlichen und politischen aber auch kulturellen Zentrum. Aber dies forderte wiederum das Eingreifen europäischer Mächte, England, Frankreich und Russland heraus. Vor allem

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England sah in Muhammad Alis Erfolgen einen Konkurrenten für seine hegemoniale Handels- und Interessenspolitik. Auf Druck von England musste er so auch seine Monopolwirtschaft aufgeben und die Märkte Ägyptens dem europäischen Handel öffnen; damit scheiterte sein wirtschaftlicher und politischer Alleingang. Muhammad Ali betrieb aus wirtschaftlichen Gründen in Syrien eine Minderheitenpolitik, indem er die „völlige Gleichheit von Muslimen und Nicht-Muslimen“ propagierte „und […] jede Form der öffentlichen Diskriminierung von Christen und Juden [untersagte].“80 Die Folge war, dass Syrien dem kulturellen Einfluss Europas geöffnet wurde und dass sich die Gegensätze zwischen den religiösen Gruppierungen verschärften. Hat nun Muhammad Ali eine Modernisierung betrieben, die tatsächlich das Land entwicklungsmäßig an Europa anschließen sollte? Schölch spricht sich dagegen aus, seine Wirtschafts- und Handelspolitik als eine Art „moderne „Entwicklungspolitik“ zu bezeichnen. Seiner Meinung nach war es reine „Machtpolitik“, denn es ging ihm nicht um das Wohl der Bevölkerung, sondern um Hausmachtpolitik.81 Die Verschuldung des ägyptischen Staates führte unter Muhammad Ali dahin, dass Ägypten den Staatsbankrott erklären musste. Um den europäischen Gläubigern entgegenzukommen, wurde eine internationale Schuldenverwaltung eingerichtet, die die Kontrolle über die ägyptischen Staatsfinanzen übernahm. Die beiden Nachfolger von Muhammad Ali verfolgten weiter das Ziel, Ägypten zu einem Europa ebenbürtigen Partner zu machen. Ägypten ist fortan den europäischen Handelsinteressen und Kapitalinvestitionen völlig ausgeliefert und konnte dem nichts Adäquates entgegensetzen. „Ursprung und Motor des finanziellen Ruins und der politischen Bevormundung Ägyptens“, schreibt Schölch,82 war die Errichtung des Suezkanals (1859–1869). Letztendlich kam Ägypten 1876 unter eine „europäische Zwangsschuldenverwaltung.“ Gegen diese „verschleierte europäische Kolonialherrschaft“83 wandte sich der Urabi-Aufstand 1881/82. Offiziere und Intellektuelle erheben sich gegen die türkisch-tscherkessische politische und militärische Oberschicht in Ägypten, gegen die Säkularisierung der Gesellschaft und gegen die Herausbildung einer einflussreichen teils ausländischen Handels- und Finanzelite sowie einer Schicht von Großgrundbesitzern, die in der ägyptischen Gesellschaft wenig Rückhalt hatten.84 Die Wiederherstellung der eigenen kulturellen ägyptischen Identität war der Motor hinter diesem Aufstand. England hat ihn niedergeschlagen und 1882 Ägypten besetzt, obwohl Ägypten formell noch immer dem Osmanischen Reich unterstand. Algerien unter französischer Kolonialherrschaft 1848 wurde Algerien französisches Territorium,85 Marokko und Tunesien blieb dieser Status als französische „Protektorate“ erspart. Religion stilisierte unter den französischen Kolonialisten bewusst zu einem „zentralen Wesens- und Unterscheidungsmerkmal der algerischen Bevölkerung“ hoch,86 damit aber „politisierten sie die islamische Identität der algerischen Völker.“87 Der französischen Kolonialverwaltung lag nämlich eine Ideologie zugrunde, die von einer „Überlegenheit der westlichen

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Zivilisation“ ausging und wovon auch „das Recht zur Verwestlichung der Welt“ abgeleitet wurde.88 Das Verhältnis zwischen Franzosen und Nord-Afrikanern drückte sich in dem ideologischen Slogan aus: „Die arabische Rasse ist inferior und unerziehbar.“89 Algerien war gegenüber Tunesien und Marokko am massivsten von den Eingriffen in die Besitz- und Rechtsverhältnisse betroffen.90 Erst durch diese erzwungene koloniale Neuorientierung der Identität des algerischen Volkes kam der islamischen Identität auch eine politische Bedeutung zu. Die französische Assimilierungspolitik führte zur Konfiszierung der religiösen Stiftungen und zur Schließung von Moscheen und Koranschulen.91 Mehr als eine halbe Million französischer Kolonisten wurde Ende des 19. Jahrhunderts in Algerien angesiedelt und das enteignete Land wurde unter ihnen aufgeteilt. Ziel der französischen Kolonialpolitik war die Zerschlagung der herkömmlichen Stammesstrukturen und der religiösen Institutionen. Die Assimilierungspolitik richtete sich nicht nur auf die Zerstörung des Familienverbandes, sondern auch auf die Auslöschung der arabischen und berberischen Identität.92 In Auseinandersetzung mit dem Kolonialismus begann auch der Geschlechterdiskurs ein wesentlicher Aspekt des gesellschaftlichen Diskurses zu werden. „Der Schleier der Frau, die Ehre der Familie, die Vormachtstellung des Mannes werden zum Symbol für die Abgrenzung vom Westen.“93 Nach Fanon, dem Theoretiker des algerischen Befreiungskampfes, war es in erster Linie die Absicht der Kolonialherren, ein negatives Bild vom gesellschaftlichen Status der Frau zu entwerfen, nämlich als ein erniedrigtes und unterdrücktes Wesen. Die Frau sei durch den algerischen Mann „in ein träges, dämonisiertes, in der Tat entmenschlichtes Objekt transformiert worden  [….].“94 Die algerische Frau müsste daher, so das Ziel der Kolonialherren, befreit und entschleiert werden. Das geschah durch die Anhebung des Mindestheiratsalters für Mädchen auf 15 Jahre, das Verbot der einseitigen Verstoßung der Frau und der Eröffnung von Bildungschancen für Mädchen,95 Reformschritte, die an und für sich zu begrüßen sind, aber mit all diesen Maßnahmen wollten die Kolonialherren nicht nur die patriarchale Familienstruktur treffen, sondern insgesamt auch Einfluss auf die Gesellschaft gewinnen.96 Im Gegensatz zur Politik der Kolonialmacht wurde die traditionelle Rolle der Frau „zum Symbol der religiösen und kulturellen Identität und Integrität und die patriarchalische Familie zur authentischen Antithese zum französischen Kulturimperialismus erhoben.“ Gerade der Schleier wird nun „zum Widerstandssymbol“ gegenüber den Kolonialherren und ihrer Kultur.97 „Der geistige und moralische Überlegenheitsanspruch der Kolonialisten“ basierte auf einer „rassistischen Dichotomisierung“ zwischen Europäern und Orientalen, womit die Kolonisierung, d.h. „Zivilisierung“ gerechtfertigt werden sollte.98 Der Beginn der Frauenbewegungen Insgesamt beginnen im Laufe des 19. Jahrhunderts die Frauen selbst im Rahmen dieses kolonialen Diskurses ihre Situation zu artikulieren und die patriarchalen Strukturen zu hinterfragen. In Ägypten hat sich unter Muhammad Ali die erste Frauenbewegung in den islamischen Ländern herausgebildet. Die vom Staat initiierte Mo-

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dernisierungspolitik schuf den Frauen der Mittelschicht neue Möglichkeiten für ihre Selbstverwirklichung bezüglich Bildung und Beruf, wodurch es den Frauen leichter fiel, die patriarchalen Strukturen in Frage zu stellen und sie teilweise abzuschütteln.99 Von entscheidender Bedeutung für den Zugang der Frauen zur öffentlichen Bildung waren die christlichen Missionsschulen, protestantischer und katholischer Provenienz. Diese Schulen im Libanon, Palästina und Ägypten waren nicht nur der christlichen Bevölkerung zugänglich, sondern auch Angehörigen anderer Religionen. Auf diesen Missionsschulen kamen die Mädchen mit christlichen Werten in Kontakt, vor allem auch in Hinblick auf die Rolle der Frau; dadurch angeregt, begannen sie über ihre traditionelle Rolle in den muslimischen Gesellschaften nachzudenken. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts treffen wir Frauen in islamischen Ländern, die auch journalistisch tätig sind und erste Zeitschriften gründeten.100 Durch die Schaffung von staatlichen Bildungseinrichtungen erlangten aber die Frauen auch Kenntnisse über ihre Religion. Dadurch begannen sie diverse Bestimmungen wie Abgeschlossenheit und Schleier zu hinterfragen, und dass ihre oft konfliktreiche Familiensituation nicht als unabänderliches Schicksal zu sehen ist, sondern Ausdruck „struktureller Unterdrückungsverhältnisse und Benachteiligungen als Frau.“ Auf diese Weise „wurde das ‚Private‘ politisch.“101 Qasim Amin, ein Schüler Muhammad Abduhs, schrieb 1899 über „Die Befreiung der Frau“102 und etwas später „Die neue Frau.“ Nach Wettig103 gilt er als „erster Frauenrechtler Ägyptens“, denn er sieht die Frau in den östlichen Ländern als Unterdrückte, als Sklavin des Mannes, während sie in den europäischen Ländern „ein lobenswertes Niveau des Respekts, der intellektuellen Freiheit und Handlungsfreiheit erreicht habe.“104 Nicht nur islamistische Reformer sondern auch nationalistische Traditionalisten waren seine Kritiker. Gerade in Hinblick auf die oft kolportierte Machtlosigkeit und wirtschaftliche Bedeutungslosigkeit von Frauen in der Osmanischen Gesellschaft hat Meriwether105 für Aleppo dieses Bild korrigiert, indem sie nachwies, dass Frauen „fromme Stiftungen“ (waqf) nicht nur für den öffentlichen (Moscheen, Medresen, Zawiyas) sondern auch für den familiären Bereich gründeten, aber auch Empfänger solcher waren. Erneuerungsbewegungen Die Begegnung der islamischen Welt mit Europa seit der Kolonialzeit hat dieser nicht nur die militärische Überlegenheit Europas bewusst gemacht, sondern auch die Überlegenheit im Bereich der Naturwissenschaften, Wirtschaft und Technik. Ab diesem Zeitpunkt beginnen in den muslimischen Gesellschaften fundamentale Fragestellungen, die sich mit dem Ungleichgewicht zwischen Europa und der islamischen Welt beschäftigen.106 Wo sind die Ursachen und Gründe für diese unterschiedlichen Entwicklungen zu finden? Was ist in dieser Situation die Stellung des Islam gegenüber dem Westen? Welche Produkte des Westens können übernommen werden, welche müssen als unislamisch zurückgewiesen werden? Immer mehr setzt sich das Denken durch, dass die Ursachen für das Zurückbleiben der islamischen Welt gegenüber Europa auch mit der islamischen Welt selbst zu tun habe. Der Islam selbst

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könne aber kein Hindernis für den Fortschritt darstellen, denn die islamische Welt hatte im Frühmittelalter durch die Übernahme und Verarbeitung des griechischhellenistischen Wissenschaftserbes gegenüber Europa einen enormen technischen und kulturellen Vorsprung inne. Bereits im 18. und dann im 19. Jahrhundert versuchten Reformer den Islam zu erneuern. Anfänglich glaubte man noch, dass dieses Zurückbleiben durch militärische Reformen wettzumachen sei. Im Laufe der Begegnung mit Europa stellte sich jedoch heraus, dass umfassende Reformen notwendig seien. Da die Kolonialherren Christen waren, ging es letztendlich nicht nur um eine politische, sondern auch um eine kulturelle und religiöse Auseinandersetzung zwischen Christen und Muslimen. In diesem Kontext bekam das Muslimsein eine neue Ausrichtung, indem es auch als „kulturelle Identität“ fungierte, „die gegenüber der Kultur der Herrschenden zu verteidigen war.“107 Dazu kommt noch, dass die Kolonialherren „außereuropäische Völker, Kulturen und Religionen als minderwertig und zurückgeblieben beschrieben.“108 Vor allem der Islam und die Muslime waren davon betroffen: der Islam wurde als starr und damit als Hindernis für den Fortschritt angesehen, eine Sicht, die den mittelalterlichen Stereotypen wieder neuen Auftrieb gab: der Islam als eine Gewaltreligion, eine Religion der Lüste und der Ausschweifung und beherrscht vom Prädestinationsglauben; Kismet und Fatalismus sind für die Rückständigkeit des Islam verantwortlich. Von muslimischer Seite hat man zwar erkannt, dass Reformen notwendig sind, in der Hauptsache blieb der Islam gegenüber den Anfeindungen unangefochten, indem man auch auf negative Seiten Europas verwiesen hat. Durch dieses apologetische Interesse kam es zu jener Engführung des Islam, die in der Vielfalt die Ursache für den Niedergang ortete, kam es aber auch zu einer stärkeren Verbindung von Religion, Politik und Gesellschaft, was dann der Slogan „Islam ist Staat und Religion“ zum Ausdruck bringt.109 Nach Peters könne man diese Erneuerungsbestrebungen durchaus mit dem Terminus „Fundamentalismus“ bezeichnen. „Die Fundamentalisten streben danach, diese Unterschiede und Teilungen zu überwinden und alle Muslime in einem Glauben zu vereinen, in einer Lehre und Glaubensübung. Dies kann aber nur geschehen, wenn man an der authentischen Überlieferung des Islams (arab. sunna) festhält und fremde Einflüsse (arab. bida) zurückweist.“110 Die Pluralität und Vielfalt regionaler Deutungen und Praktiken des Islam, wie sie sich durch die Jahrhunderte herauskristallisiert hatten,111 erfuhren nun eine Engführung insofern, als diese Vielfalt negativ gesehen und daher einem vereinheitlichten Islam das Wort geredet wurde. Die Reformer gingen davon aus, dass den Islam im Laufe der Zeit Neuerungen (bida), nämlich volksreligiöse Lehren und Praktiken, verfälscht hätten. Betroffen davon waren nicht nur die ekstatischen Rituale der Mystiker, Musik und Tanz, sondern auch die Verehrung von heiligmäßigen Männern und Frauen, denen man wunderwirkende Kräfte zuschrieb, der Gräberbesuch und die damit verbundenen Bräuche, vor allem die Bitte um Fürsprache, aber auch Riten, die im Rahmen des Dschinn-Glaubens praktiziert wurden. Die Reformer gingen auch davon aus, dass die islamischen Gesellschaften durch die Herausbildung von vier sunnitischen Rechtsschulen, die erst im 9. Jahrhundert entstanden sind, vom Islam der Gründerzeit abgewichen sind. Das

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blinde Folgen der Lehrmeinung der Rechtsschulen (taqlid) wird nun von den Reformern in Frage gestellt, indem sie für sich beanspruchen, mittels des Rechtsprinzipes idschtihad Koran und Sunna neu zu interpretieren. Durch diesen Anspruch geraten die Reformer oft in Gegensatz zu den traditionellen Religions- und Rechtsgelehrten. Ziel der Erneuerer ist es, in die idealisierte heilvolle Zeit der „frommen Vorfahren“ (as-salaf) zurückzukehren und die Gesellschaft wieder nach dem Beispiel der sunna des Propheten auszurichten. „Dies erklärt, warum fundamentalistische Bewegungen häufig aktionistisch und mit politischen Bewegungen verbunden sind.“112 Muhammad ibn Abd al-Wahhab (1703/4–1792) und der Wahhabismus Die Bezeichnung „Wahhabiten“ wird von den Anhängern abgelehnt, vielmehr nennen sie sich muwahhidun, „Bekenner der Einheit Gottes“. Zentrum der wahhabitischen Lehre bildet die Einheit und Einzigkeit Gottes (tauhid). Mitte des 18. Jahrhunderts kam es zwischen Muhammad ibn Abd al-Wahhab und Ibn Saud, dem Herrscher des Nadschd, zu einem Bündnis, indem letzterer die Durchsetzung der wahhabitischen Lehre zu seinem politischen Ziel erklärte.113 Allerdings muss beachtet werden, dass Ibn Abd al-Wahhab in dieser frühen Periode bloß ein lokaler Gelehrter war, der erst durch sein Bündnis mit Ibn Saud Bekanntheit erlangte. Gelehrte verschiedener Rechtsschulen standen daher den Lehren und der Praxis von Muhammad ibn Abd al-Wahhab skeptisch gegenüber bzw. widerlegten diese.114 Durch das Bündnis mit Ibn Saud konnte die wahhabitische Lehre auf der gesamten Halbinsel Fuß fassen. Anfang des 19. Jahrhunderts wurde der Hedschas mit den beiden heiligen Städten des Islam, Mekka und Medina, erobert, aber erst Anfang des 20. Jahrhunderts kommt es zur Gründung des saudi-arabischen Staates.115 Ausgangspunkt für die wahhabitische Reform des Islam ist die Zeit der „frommen Vorfahren.“ Eng verbunden mit dem Konzept der absoluten Einheit Gottes war die Vorstellung, dass alles, was nach den ersten drei Generationen der Muslime entstand, eine unerlaubte Neuerung (bida) sei, sogar das Feiern des Prophetengeburtstages. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts bewerten die wahhabitischen Gelehrten häufig auch technische und gesellschaftliche Innovationen als Neuerungen. Aber im Zentrum der wahhabitischen Kritik stand die auf der arabischen Halbinsel weit verbreitete sogenannte Heiligenverehrung und der damit verbundene Gräberkult wie auch die Verehrung von Steinen und Bäumen.116 Die Gelehrten betrachteten alle diese Praktiken als einen Versuch, verstorbenen Menschen Fähigkeiten zuzuschreiben, die allein Gott zukommen. Diejenigen Muslime, die sich diesen Aktivitäten widmeten, machten sich daher der Vielgötterei (schirk) schuldig und werden in den wahhabitischen Schriften als Polytheisten bezeichnet (muschrikun: Beigeseller) und müssen bekämpft werden. Die Folge war nicht nur die Auslöschung dieser volksreligiösen Kulte und Riten auf der arabischen Halbinsel, sondern auch die Vertreibung von Juden und Christen von der arabischen Halbinsel. Das Ziel war die Schaffung einer Gesellschaft nach dem Vorbild der „frommen Altvorderen.“ Die Schiiten galten den Wahhabiten, genauso wie die Christen, als Polytheisten, und seien daher zu bekämpfen. Vor allem die

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Verehrung der Imame durch die Schiiten erschien den Wahhabiten wie auch vielen anderen Sunniten als Polytheismus. Der Wahhabismus folgt grundsätzlich der hanbalitischen Rechtsschule, verschärft diese aber in einigen Aspekten, indem er den Tabakimport und das Rauchen verbietet. Die wahhabitischen Gelehrten betrachteten – entgegen den Gelehrten anderer Rechtsschulen – das Rauchen von Tabak gleich dem Alkoholkonsum als eine schwere Sünde, und die Missachtung des Rauchverbots unterlag einer harten Strafe. Weiters bedeutet die Nicht-Teilnahme am täglich vorgeschriebenen Pflichtgebet (salat) und die Nicht-Entrichtung der Almosensteuer (zakat), dass die Betreffenden zu Ungläubigen und daher zu Apostaten werden.117 Eine große Rolle für die Reinigung des Islam spielten sodann die beduinischen „Brüder“ (ichwan), wodurch Konflikte mit der Bevölkerung vorprogrammiert waren. Muhammad ibn Ali as-Sanusi (1787–1859) Er gilt als ein weiterer fundamentalistischer Denker, der einen Mystikerorden, die Sanusiyya, begründete. Anhand dieses Ordens kann man gut ersehen, „wie Mystizismus und fundamentalistisches Gedankengut zusammengehen können.“118 Als geistiger Lehrer von as-Sanusi119 fungierte der marokkanische Mystiker Ahmad ibn Idris (1760–1837). Der Pfad dieses Mystikers war dadurch geprägt, dass am Ende des Weges nicht eine unio mystica stand, sondern die Vereinigung mit dem Geiste Muhammads. Voraussetzung war hierfür, dass man sich in allem nach dem Vorbilde des Propheten zu richten hatte. Auch die Sanusiyya lehnt Praktiken, die die sunna des Propheten nicht kennt, ekstatische Rituale, Musik und Tanz ab. Zentrum des Wirkens von as-Sanusi waren Libyen und die Sahara-Gebiete, wo unter den Beduinen der transsaharischen Handelswege zawiyas (Sufizentren) gegründet wurden.120 Unter asSanusis Nachfolgern nahm der Orden eine politische Ausrichtung an und avancierte zu einem Staatswesen, anerkannt durch die Osmanen. Anfang des 20. Jahrhunderts verstärkt sich diese politische Ausrichtung des Ordens durch den Kampf gegen die Kolonialmächte, Frankreich und Italien. Islamischer Modernismus ab Mitte des 19. Jh. Ende des 18. Jahrhunderts setzt die Zeit der Kolonialherrschaft ein und dauert mehr als ein Jahrhundert. Sämtliche islamische Länder waren von der Kolonialisierung betroffen.121 Genauso wie die Fundamentalisten fordert nun auch das liberale Lager der Modernisten in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts die Rückkehr zu Koran und Sunna und die Neuauslegung mittels idschtihad. Jedoch waren die Modernisten auch mit dem westlichen Denken vertraut. Idschtihad verfolgte daher eine andere Zielrichtung, nämlich „den Islam den neuen Verhältnissen anzupassen“, denn der Islam ist zu Wandel und Fortschritt fähig.122 Es geht den Modernisten um das Streben nach demokratischen Verhältnissen, Freiheitsrechten, Toleranz gegenüber Andersdenkenden und nach politisch-gesellschaftlichem Pluralismus. Denn nach dieser Sicht bedeutet „‚Säkularisierung‘ als politische Praxis […] keinen Bruch mit der islamischen Epistemologie, nach der alles gesellschaftliche und staatliche Handeln auf

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den Heiligen Texten und ihrer Auslegung beruhen musste.“123 Gemeinsam war den arabischen Liberalen der Wunsch nach einer Renaissance (nahda) der islamischen bzw. auch der arabischen Kultur.124 Keine gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und politischen Analysen werden vorgenommen, vielmehr sah man in der Erneuerung der Religion jenes Mittel, das die muslimischen Gesellschaften mit Europa gleichschalten würde. Erneuerung der Religion bedeutet nun auch für die Modernisten konkret Reinigung von sämtlichen volksreligiösen Anschauungen und Praktiken und Rückkehr zu den „rechtgläubigen Vorfahren.“ Im Zuge dieser Reinigung des Islam finden auch westliche Vorstellungen Aufnahme in den Islam. Grundsätzlich hatte die Modernisierung in den städtischen Gesellschaften nachhaltigere Auswirkungen als in den ländlichen, wo der Widerstand dagegen stärker ausgeprägt war.125 Die Modernisten gingen davon aus, dass islamische Tradition und europäische Moderne grundsätzlich vereinbar seien. Rifa´a at-Tahtawi (1801–1873) Rifa´a at-Tahtawi wurde von Muhammad Ali im Rahmen einer ägyptischen Studienkommission nach Paris geschickt, die er als Imam und geistlicher Betreuer begleitete (1826–1831). Mit der Sprache lernte er auch die französische Kultur und Gesellschaft und deren Einrichtungen, vor allem Bildungseinrichtungen kennen und schätzen. Dies machte ihn zu einem führenden Vertreter der Reformbestrebungen nach französischem Vorbild. Seinen Bericht über diesen Studienaufenthalt verfasste er in einer klassisch arabischen Reisebeschreibung.126 Alle Wissensgebiete und deren Institutionen, die er in Paris kennengelernt hatte, sind nach ihm bei den Franzosen vorbildlich, „bei uns nur mangelhaft ausgebildet oder gänzlich unbekannt.“ 127 Daher sei Frankreich nachzuahmen, damit wieder jene Zeit der Hochblüte arabischer Wissenschaften, wie sie zur Zeit des Kalifats herrschte, erreicht werden kann. Auch bewunderte er die Aufrichtigkeit, die Freundlichkeit der Franzosen gegenüber Fremden, ihre Arbeitsmoral und Sparsamkeit. Die Tugend der Frauen habe nichts damit zu tun, „ob diese unverhüllt gehen oder den Schleier tragen.“128 Diese Reisebeschreibung wurde zur Pflichtlektüre für ägyptische Beamte. Er übersetzte auch zeitgenössische Werke aus dem Französischen und auf seine Initiative hin konnte die erste staatliche Mädchenschule in Kairo errichtet werden.129 Nach ihm lassen sich die traditionelle islamische Identität und das moderne Europa durchaus vereinbaren. Er will daher die europäische Moderne übernehmen, aber ohne hierbei die „theozentrische Weltsicht zu verändern.“130 Tibi spricht diesbezüglich vom „islamischen Traum von der halben Moderne.“131 Auch erkannte man in dieser Frühphase der Modernisierung noch nicht die Bruchlinien, die sich später auftun werden, da ja den Orient und Europa ganz unterschiedliche Entwicklungen prägen. Im Gegenteil, für at-Tahtawi dient gerade die „kulturelle Vererbungstheorie bzw. Rückgewinnungstheorie“,132 nach der sich das moderne Europa ja dem Kulturtransfer der arabischen Wissenschaften im Mittelalter verdankt, der grundsätzlichen Verwobenheit von Abendland und Morgenland. „Damit wird es möglich, die europäische Zivilisation ihrerseits zu

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übernehmen, genauer gesagt, das ehemals weitergegebene „Erbe“ nun vom Westen „zurückzuerhalten“ – eine apologetische Figur, die von at-Tahtawi bis zur Gegenwart fortbesteht.“133 Dschamal ad-Din al-Afghani (1838/39–1897) Meier charakterisiert ihn als „Heros des islamischen Modernismus, des Pan Islamismus und des antikolonialen Widerstands.“134 Die kritiklose Übernahme westlicher Moderne wird von ihm nicht mehr gutgeheißen. Al-Afghani war ein politischer Denker und kämpfte zeitlebens gegen die Kolonialherrschaft in den islamischen Ländern. Auf seinen Reisen kam er nach Kairo, Indien, in den Hedschas und nach Istanbul, nach Persien und Europa, Paris und London; in den islamischen Ländern suchte er Kontakte zu den Reformern. Als Vertreter des panislamischen Denkens setzte er sich zeitlebens für die Einheit der Umma ein, wenn auch nicht politisch, so doch auf geistiger Ebene. Eine gewichtige Rolle spielt bei al-Afghani der dschihad, insofern er „als der Begründer der modernen Interpretation der islamischen Doktrin von Djihad als Antikolonialismus“ gelten kann.135 Europa stand er ambivalent gegenüber, einerseits sah er dieses deswegen so stark, weil in ihm Wissenschaftlichkeit, Unternehmergeist und Rationalismus136 verwirklicht sind und daher in Europa auch die moderne Entwicklung stattgefunden hatte. Diese Aspekte fehlten der islamischen Welt bzw. sind diese grundsätzlich auch vorhanden, aber in der Zeit des Niedergangs gingen sie verloren und müssten daher wieder neu entdeckt werden. Andererseits stand Europa für die Kolonialisierung der islamischen Länder. Auch er sieht die Ursache für den Niedergang der islamischen Welt darin, dass der Islam nicht mehr authentisch gelebt wird, überfrachtet ist mit einer jahrhundertealten Kasuistik und mit Auswüchsen des Aberglaubens. Die Ulama und ihr Dogmatismus sind für die Verfälschung des Islam, die zum Niedergang der islamischen Kultur geführt habe, verantwortlich und nicht der Islam selbst.137 Dadurch konnte sich die moderne Wissenschaft in der islamischen Welt nicht selbständig weiter entwickeln.138 Mit Hilfe des idschtihad sollten daher die Quellen wieder neu gedeutet und der Islam von den Fehlformen gereinigt werden. Europäische Technik und Wissenschaft könne die islamische Welt übernehmen, bei ethischen und geistigen Werten müsse geprüft werden, ob die Übereinstimmung mit dem Islam gegeben sei. Der Einfluss, der von al-Afghani auf die weitere Generation von Reformern ausging, war, „daß der Islam zu Wandel und Entwicklung fähig sei.“139 Am Konzept der Moderne kritisiert er die Selbstermächtigung und Absolutsetzung der Vernunft des westlichen Rationalismus, weil damit die Verbindung zum Absoluten, zur Transzendenz blockiert ist.140 Damit verbindet er gleichzeitig auch seine Kritik an der westlichen Gesellschaft bzw. an der Unmenschlichkeit der Kolonialherren. Den Islam zeichne gerade die Verbindung von Vernunft und Religion aus. Religion wird bei ihm zu jener treibenden Kraft, die Kultur und Zivilisation hervorbringt. Ohne religiöse Rückbindung kommt es zu Materialismus und Unmenschlichkeit. „Die Revitalisierung des Religiösen, die ´Wiedergeburt´ (Nahda) ist

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also keine Gegenbewegung zur Moderne ….. sondern die Rückkehr zu einer über­ zeitlichen Botschaft, die eine ontologische Gewissheit mobilisiert, um innerhalb von Moderne ein Modell von Gesellschaft durchzusetzen.“141 Ausdrücke wie „islamische Moderne“ und „islamische Vernunft“ verweisen darauf und wenden sich gegen das europäische Modell der Trennung von Naturwissenschaft und Religion. Mit dieser Rückkehr zu den „frommen Vorfahren“ wurde ein neuer, übergeschichtlicher Islam geschaffen, „der weniger Religion, als eine Ideologie im Kontext von Moderne ist.“142 Muhammad Abduh (1849–1905) Muhammad Abduh, ein Schüler von al-Afghani, war kein Politiker, vielmehr Theologe; ausschlaggebend für sein Denken waren die Kenntnis der europäischen Geisteswissenschaften und die moderne Philosophie.143 Er stellte sich die Frage, wo die Ursachen für die Kolonialherrschaft zu finden seien. Hierbei sichtet auch er in kritischer Weise diverse Strömungen der islamischen Geistesgeschichte. Sein Anliegen galt der Reform des ägyptischen Bildungs- und Rechtswesens, vor allem jenes der al-Azhar-Universität, da es dem Einzelnen nicht erlaubt werde, Fragen zu stellen, zu reflektieren, sondern nur auswendig den vorgetragenen Lehrstoff zu wiederholen. Seine Nähe zu al-Afghani und seine, aber nicht unkritische Unterstützung des UrabiAufstandes, machten ihn bei der Regierung verdächtig. Nach Niederschlagung des Aufstandes besetzten die Briten Ägypten und Abduh musste das Land verlassen. Mit al-Afghani finden wir ihn in Paris, wo beide eine arabischsprachige Zeitschrift herausgaben. Als er 1888 nach Ägypten zurückkehrte, hat er sich mit der britischen Herrschaft arrangiert, wurde Mufti, aber die Aufnahme seiner Lehrtätigkeit hat man ihm verwehrt. Man nimmt an, dass Abduh aufgrund der Betonung der Vernunft in einigen Positionen vom mu´tazilitischen Gedankengut beeinflusst war: so z.B. in Hinblick auf die Willensfreiheit des Menschen und die Zurückweisung des Prädestinationsglaubens. Hildebrandt hat in seiner Untersuchung144 gezeigt, dass sowohl al-Afghani als auch Muhammad Abduh von den rationalistischen Strömungen der ascharitischen und maturiditischen Theologie beeinflusst waren. Seine Theologie ist, wie bei vielen Intellektuellen der damaligen Zeit, durchaus vom Rationalismus geprägt, obwohl er sich auch gleichzeitig der Grenzen des Vernunftgebrauches bewusst ist. Keinesfalls könne man Abduh als den Initiator eines „mutazilitischen Erwachens“ in der arabischen Welt bezeichnen.145 Jene Reformen, die von Muhammad Abduh ausgingen, waren durchwegs salafistisch geprägt, d.h. sie richteten sich nach der Zeit der „frommen Vorfahren.“ Ziel seiner Reformen war die Reinigung von späteren vernunftfeindlichen Entwicklungen volksreligiöser Praktiken, die den Islam verfälscht und die Muslime gespalten hätten; daher fordert auch er die Rückkehr zum Koran und zu den Prophetentraditionen. Als salafistischer Reformer begab er sich auf die rationalistische Schiene: Der Islam ist seinem Wesen nach eine Vernunftreligion und stehe daher nicht im Gegensatz zu den modernen Wissenschaften. Somit werde der Islam gleichsam auch zu einer

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„natürlichen Religion“ und das islamische Gesetz zu einer „Spielart des Naturgesetzes.“146 „Die Verstandesgemäßheit des Islams ist ein ideologisches Argument, mit dem sich, wie wir sahen, Fortschrittslehren aufgreifen und zugunsten des Islams auslegen lassen.“147 Wissenschaft und Philosophie gehören zur islamischen Religion und können davon nicht getrennt werden. Denn mit dem Islam hat die Menschheitsgeschichte mittels der Vernunft ihren höchsten Entwicklungsgrad erreicht. Die Offenbarungsgeschichte wird hier als eine Entwicklung der Religion zu immer mehr an Rationalität hin interpretiert,148 sodass der Islam letztendlich die Religion des Zeitalters der Vernunft wird. Trotz seiner gegenwärtigen Rückständigkeit ist der Islam daher „die fortschrittlichste [Religion] der Welt.“149 Sein Anliegen war es, wie auch jenes von al-Afghani, darauf aufmerksam zu machen, „daß der wahre Islam die Grundlagen dieser neuen und scheinbar fremden Gesetze und Einrichtungen enthalte und daß tatsächlich die Werte der bürgerlichen Gesellschaft im Europa des 19. Jahrhunderts auch die des Islam seien. So machte er sich daran, aus dem Islam eine Rechtfertigung für die Europäisierung herzuleiten.“150 Religion legitimiert so auch politische Herrschaft. Nagel weist darauf hin, dass es bei der Frage, wie die islamische Welt aus ihrer Erstarrung geführt werden kann, nicht darum ging, die Grundlagen des „islamischen Wissens“ kritisch zu durchleuchten, vielmehr darum, dass sich die breite Masse der Gläubigen aktiv an der Umsetzung dieses „islamischen Wissens“ beteilige.151 Auch Wielandt differenziert insofern, als dass es Abduh nicht darum ging, den Islam der Moderne anzupassen, vielmehr „plädierte [er] dafür, die fortschrittsfördernden Kräfte freizulegen, die der Islam als solcher enthielt.“152 Abduh war also bestrebt, gegen das Negativbild des Islam bei den Europäern zu kämpfen, vor allem auch gegen jene rassistischen Strömungen des 19. Jahrhunderts, die insgesamt den Semiten die Fähigkeit zu Kulturleistungen absprachen, wie die Ideologie der Kolonialherren offensichtlich zeigt. Was bedeutet diese Sicht nun für die Überlegenheit Europas im Bereich der Wissen­schaft, Technik und Wirtschaft? Nach muslimischer Meinung habe das lateinische Europa im Mittelalter die Voraussetzun­gen für seinen Fortschritt dem Islam entlehnt, daher brau­chen die Muslime ihrerseits nur jene europäischen Wissenschaften, soweit sie nicht im Widerspruch zum Islam stehen, zu übernehmen. Damit wird und wurde die Übernahme der Welt der Technik für den modernen Islam kein „theologisches Problem.“ Nach Nagel sei damit der Boden für den Islam als Ideologie bereitet, denn es gibt nach dieser Sicht „keinen Entwicklungsprozess der Zivilisation, an welchem alle Völker und Kulturen in unterschiedlicher Weise – einmal führend und anregend, ein anderes Mal empfangend, aneignend und weiterbildend – mitwirken.“153 Allein die „frommen Vorfahren“ hätten den wahren Islam gekannt. Geschichtliche Entwicklungen werden zugunsten des heilvollen Anfangs negiert. Die Gedanken von Abduh verbreitete vor allem sein Schüler Raschid Rida (1865–1935) über die Zeitschrift Manar. Abduh sowie sämtliche Modernisten haben bei ihren Überlegungen ausgeblendet, dass Aufklärung im europäischen Kontext auch Kritik gegenüber der Religion einschloss. „Daher haben die Muslime das Phänomen der Moderne auch nicht als Bruch mit der Vergangenheit und nicht als

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Fortschritt, sondern als eine Art Wiederbelebung der Vergangenheit, also letztlich als etwas Magisches oder Mythisches verstanden.“154 Beziehungen der Osmanen mit dem Iran Während der osmanischen Herrschaft waren militärische Auseinandersetzungen mit dem Iran begrenzt. Gemeinsame ökonomische Interessen standen für beide Imperien an vorderster Stelle, führte doch der Export von Seide und anderen Produkten vom Iran durch osmanisches Territorium, wodurch auch dem Sultan ein gewisses Druckmittel in die Hand gegeben wurde. Aber auch andere Vorteile legten es nahe, diese Handelsroute nicht zu blockieren.155 Im Osmanischen Reich lebte eine nicht unbedeutende Zahl an Zwölferschiiten aus Persien als Kaufleute, Händler und Handwerker. Weiters befand sich neben Sekretären und Dolmetschern, die sich im Zuge von persischen Handelsniederlassungen angesiedelt hatten, auch ein persischer Botschafter in Istanbul. An den schiitischen Heiligtümern im osmanisch beherrschten Irak lebten führende Rechtsgelehrte, aber auch Studenten und Kaufleute. Aus der Diskriminierung der Schiiten im Osmanischen Reich resultierten auch viele – teilweise militärische – Spannungen und Konflikte mit dem Staat der Qadscharen.156 So wurde der osmanisch-persische Krieg 1821–1823 u.a. durch Klagen iranischer Pilger, die aus dem Osmanischen Reich zurückkehrten, ausgelöst. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts „war die osmanische Regierung allerdings sichtlich darum bemüht, Eskalationen zu vermeiden und reagierte sehr schnell auf iranische Beschwerden.“157 Trotz vertraglicher Zusicherung konnten die Schiiten im Osmanischen Reich ihre Trauerfeierlichkeiten anlässlich des Märtyrertodes von Husain vom 1.–10. Muharram (Aschura-Rituale) „entweder gar nicht oder nur unter großen Schwierigkeiten öffentlich ausüben.“158 Erst im letzten Drittel des 19.Jahrhunderts bahnt sich hierbei eine Veränderung an. Osmanisches Kulturschaffen Die Übernahme europäischer Kultur verfolgte durchaus das Ziel, das Osmanische Reich zu modernisieren und so sein Überleben im Gefüge der damaligen europäischen Mächte zu garantieren. Damit war auch die Frage nach der Säkularisierung der Gesellschaft, nach der Trennung von Religion und Politik ständig gegenwärtig, wobei diese Säkularisierung, wie Faroqhi bemerkt,159 eher „praktische Gründe“ hatte, nämlich die Entmachtung der Religionsgelehrten und die Übernahme der Kontrolle des Staates über religiöse Einrichtungen, weniger eine Veränderung im allgemeinen Denken der Bevölkerung. Im Laufe der Tanzimat bildet sich eine bürgerliche Schicht von Intellektuellen heraus, von Zivilbeamten, Offizieren und Literaten, aber auch ein wirtschaftliches Bürgertum von Kaufleuten. Mit den Bildungsreformen und der Zunahme des Literaturschaffens findet die moderne Intelligentia ihren Ausdruck auch in den Printmedien. Nach Faroqhi könne man den Wandel, der in der obersten Bildungselite des 19. Jahrhunderts vor sich ging, „auch als eine, allerdings durch

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die Umstände in ihrer Tragweite begrenzte, Version der Aufklärung“ betrachten.160 Lerch charakterisiert das komplexe Verhältnis der osmanischen Elite zur Moderne mit „osmotische Veränderung“ oder „osmotischer Druck“161 und meint damit, dass die Ideen der Aufklärung auch im Osmanischen Reich ihre Wirkung entfalteten. Die Tanzimat-Reformen zeugen davon, vor allem jene, die ab 1856 das Reich reformieren sollten: Gleichbehandlung der religiösen Minderheiten, Verbesserung der gesellschaftlichen Stellung der Frau, Installierung des westlichen Bildungswesens und damit der geistigen Produkte Europas.162 Neue Kommunikationsmedien entstehen, die nicht nur die Sprache, sondern auch die literarischen Genres verändern.163 Die Einführung des Buchdruckes hat hier wesentlich dazu beigetragen, denn „ab etwa 1860 erreichten Bücher eine signifikante Auflage.“164 Während der Tanzimat entsteht ein regelrechter „print capitalism“ und alles, was die Printmedien begleitet, einschließlich der bürgerlichen Leserschaft.165 Diese Ausrichtung und Teilhabe am westlichen Kulturschaffen betraf auch das literarische Schaffen; Schriftsteller und Literaten übernehmen westliche Literatur und deren Gattungen, den europäischen Roman, Dramen, ja überhaupt den europäischen Lebensstil wie auch die Photographie. 166 Der Austausch an Informationen durch Zeitungen und (Fach-)Zeitschriften (1832 erscheint die erste Zeitung) und der Journalismus tragen wesentlich dazu bei. Vor allem spielten die Armenier Istanbuls durch ihre Kenntnis des Osmanischen im Buchwesen eine entscheidende Rolle: So hatten die Armenier „einen wichtigen Anteil an der Entwicklung des osmanischen Dramas.“167 Immigranten christlich libanesischer Intellektueller gründeten in Kairo die ersten Zeitungen. Nach Walther war überhaupt Ägypten das erste Land, „in dem sich eine modernere Erzählliteratur entwickelte.“168 Gegenüber dem europäischen Roman sei jedoch zu bedenken, dass sich die ersten Romanautoren „auch mit den politischen und gesellschaftlichen Fragen jener Zeit auseinandersetzten.“169 Der Roman wurde so als Kennzeichen für die moderne Zivilisation betrachtet „und zugleich als Mittel um dieses zivilisatorische Niveau zu erreichen.“170 Insgesamt stand die Literatur im Dienst der Europäisierung bzw. der Erziehung, um so am Fortschritt Europas teilhaben zu können. Durch die Reformen und die europäischen Einflüsse kam es in der osmanischen Gesellschaft zu einem „kulturellen Dualismus“,171 der auch in folgenden zwei Wertesystemen zum Ausdruck kommt: „alte Moral/neue Moral, Familien alten Typs/Familien neuen Typs oder alte Erziehung/neue Erziehung.“172 An diesem Diskurs um die Übernahme westlicher Wertvorstellungen beteiligen sich auch die Romanschreiber. Der erste Roman der osmanisch-türkischen Literatur erschien 1872 „Die Liebe von Talaat und Fitnat“ (Taauk-i Talaat ve Fitnat) von emsettin Sami (1850– 1904), eine Liebesgeschichte. Nach Lerch sei Sami „einer der interessantesten und vielseitigsten Gestalten der Tanzimat-Literatur“, der sich vor allem auch für eine Besserstellung der Frau innerhalb der osmanischen Kultur einsetzte.173 Er war auch Sprachwissenschaftler und veröffentlichte 1889 „die erste wirkliche Enzyklopädie“ im Sinne der Aufklärung in sechs Bänden. Ein weiterer Tanzimat-Intellektueller war Ibrahim inasi, der das erste Bühnenstück in Türkisch verfasste, worin er sich mit dem traditionellen Geschlechterverhältnissen auseinandersetzt. Mit ihm beginnt die

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literarische Beschäftigung mit den gesellschaftlichen Reformen.174 Mehmet Namik Kemal (1840–1888) wiederum fungierte als „Ahnherr und Vordenker der nationalen Bewegung, als gefeierter Vorläufer der Jungtürken.“175 Neben seinem publizistischen Wirken will Kemal mit seinem literarischen Werken „den osmanischen Patriotismus fördern …., dem er gleichzeitig eine fast religiöse Konnotation gibt.“176 Die autobiographische Literatur am Ende der osmanischen Zeit wiederum zeigt bereits, wie sich der Lebensstil den gesellschaftlichen Gegebenheiten angepasst hat, sodass sich die Ebenen „traditionell“ und „modern“ verwischen“.177 Von diesen sozialen Veränderungen der Tanzimat-Periode ist auch die muslimische Frau betroffen. Die Ursprünge der türkischen Frauenbewegung sind in der Zeit der Tanzimat-Reformen zu finden, wo auch den Frauen der Bildungsweg durch die Einrichtung von Schulen ermöglicht wurde. Ab den 1850er Jahren werden die ersten staatlichen Mädchenschulen bzw. –gymnasien und Ausbildungsstätten für Lehrerinnen errichtet.178 Frauen der gebildeten städtischen Mittelschicht schließen sich in der Tanzimat-Periode auch zu „feministischen“ Zirkeln“ zusammen und sind durchaus auch literarisch tätig.179 Als erste „osmanisch-türkische Feministin“180 könne Fatma Aliye Hanil (1862–1935) gelten, die neben ihrer islamisch-orientalischen Ausbildung vor allem auch eine französische erhalten hatte. Als „Modernistin“ hat sie sich dafür eingesetzt, dass auch Frauen eine entsprechende Bildung und Ausbildung erhalten. Lerch verweist darauf, dass in diesem Zeitraum etwa 15% der Gesamtbevölkerung alphabetisiert waren, kaum allerdings Frauen. Der nachhaltigste und einflussreichste Intellektuelle jener Zeit sei jedoch Ahmet Midhat Efendi (1844–1912) gewesen.181 Neben Zeitungsartikeln, Dramen, Erzählungen und Romanen war er auch ein Zeitkritiker. Insgesamt könne man nach Lerch davon ausgehen, dass die Literaten der Tanzimat-Periode durchwegs politisch und gesellschaftlich engagiert gewesen sind und so die Modernisierung vorangetrieben hätten.182 Diese Modernisierung sei vor allem von der französischen Geistes- und Ideengeschichte geprägt worden, von Voltaire, Ernest Renan und Auguste Comte. Auf das Theater hat vor allem Molieres eingewirkt. In Kontrast zu dieser Ausrichtung nach dem aufgeklärten Frankreich ist festzustellen, dass die genannten Literaten und Intellektuellen der Tanzimat Zeit grundsätzlich aber sehr wohl ihrer islamischen Verwurzelung treu blieben. Demgegenüber schlossen sich konservative osmanische Muslime aus verschiedensten gesellschaftlichen Schichten religiösen Bewegungen an, allen voran der Reformbewegung des Khalidiyya-Naqschbandiyya Ordens.183 Mit dieser Entwicklung im 19. Jahrhundert war aber gleichzeitig auch das Schwinden der klassischen Divan-Literatur verbunden, und damit auch der mystische und der persische Einfluss.184 Kemal erhielt noch eine Ausbildung in der höfischen Literatur, aber gerade bei ihm zeigt sich das Verlassen dieser künstlichen höfischen Dichtung und die Hinwendung zu „den Bedürfnissen der Menschen und den Erfordernissen des realen gesellschaftlichen Lebens.“185 Mit den wirtschaftlichen und sozialen Veränderungen stieg auch die Bevölkerungszahl der osmanische Städte enorm an: zwischen 1840 und 1890 wuchs die

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Bevölkerung Istanbuls von 400.000 auf ungefähr 900.000 an. Die ländliche Bevölkerung war ebenso einer großen Fluktuation ausgesetzt: Die Vorstöße Russlands in den Kaukasus bedingten jedes Mal, dass muslimische Flüchtlinge im osmanischen Territorium Zuflucht suchten; auch der Verlust von Territorien auf dem Balkan löste ähnliche Fluchtbewegungen aus.186 Tibi stellt die Frage, warum diese kontinuierlichen Reformschritte, die das Osmanische Reich modernisieren sollten, „nicht zur Entwicklung einer modernen bürgerlichen Gesellschaft“ führten?187 Er meint, dass man hierfür den Islam nicht ganz ausblenden könne. Aber den eigentlichen Grund sieht er darin, dass der Islam keine „institutionelle Kirche“ kenne. Eine Institution, die sich als ein „Teilsystem“ in einem gesamtgesellschaftlichen Gefüge hätte verselbständigen können. Eine grundlegende Säkularisierung der Osmanischen Gesellschaft und die Schaffung einer Zivilgesellschaft kamen daher trotz Verwestlichung nicht zustande.188 Daher seien die Osmanischen Reformbemühungen nur als Aneignung der „halben Moderne“ zu bezeichnen. Da sich der Islam auf kein „Subsystem“ reduzieren lasse, sei eben im Islam überhaupt ein fundamentaler Säkularisierungsprozess schwer vorstellbar.189 Merten wiederum sieht in erster Linie „das Millet-System und die damit zusammenhängende, konkrete Ausgestaltung der osmanischen Gesellschaft“ für den Niedergang des Osmanischen Reiches als verantwortlich an.190 Einerseits kann bezüglich des Millet-Systems „zu keinem Zeitpunkt von gleichberechtigten Parteien die Rede sein“,191 andererseits führte vor allem jener Umstand zu einer „Desintegration der osmanischen Gesellschaft während des 19. Jahrhunderts“, dass es „immer sowohl Einzelpersonen als auch religiöse und kulturelle Gruppen gegeben [hat], die vom Millet-System nicht erfasst waren.“192

Indien unter britischer Herrschaft Im 18.Jahrhundert beginnt der Niedergang des muslimischen Moghul-Reiches, eine Zeit, die von Korruption, inneren Kämpfen, politischen Morden und Massakern gekennzeichnet ist. Keine Partei bzw. Herrscherpersönlichkeit war stark genug, um sich gegenüber der anderen durchzusetzen. Dieses politische Vakuum nutzten die Sikhs, die Rajputen und Marathen u.a., um sich selbständig zu machen, um ihre Regionalmacht zu festigen und sie weiter auszudehnen. Gleichzeitig damit ist auch der Vormarsch der British East India Company (abgek. Company) verbunden, wodurch es zu Konflikten mit diesen wieder neu erstandenen Fürstentümern kommt.193 Infolge der Einmischung in Regionalkonflikte gelang es der Company, neben den bereits von den Briten beherrschten Enklaven Madras und Bombay, auch die Oberherrschaft über Bengalen und Bihar zu erlangen. Sie ließen sich vom Moghulkaiser die Steuer und Zivilverwaltung übertragen. Bengalen wurde zum Ausgangspunkt und Stützpunkt, von dem aus die Briten ihre Herrschaft kontinuierlich ausbauten.194 Sie veränderten auch das Steuersystem der Moguln, indem die herkömmlichen Steuereinnehmer zu Grundbesitzern (Zamindar) und die Bauern zu deren Pächtern wurden.195 Die Grundbesitzer hatten dem Staat eine bestimmte Summe der

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eingetriebenen Steuern abzuliefern. Diese Doppelrolle der Zamindars, sowohl als Steuereintreiber als auch als Landbesitzer schuf eine Mittelinstanz zwischen Staat und Bauern, die letztere stärker der Willkür dieser Mittelsleute auslieferte.196 Dazu kam noch, dass sich diese Zamindars dem Land und der bäuerlichen Bevölkerung entfremdeten, da sie meistens in den größeren Städten lebten. Von Madras ausgehend entstand Anfang des 19. Jahrhunderts ein effektiveres Steuersystem, das in der Folge den Bauernstand zu einer gewissen Blüte brachte, das man als „‚Ryotwari‘ oder „bauernbezogene‘ Festsetzung“ 197 bezeichnete. In diesem Modell gab es keine Zamindars, sondern viele Kleineigentümer und die Bauern bezahlten ihre Steuern direkt dem Staat. Technische Neuerungen unter britischer Herrschaft waren vor allem die Bewässerungskanäle und die Eisenbahn. Durch erstere kam es zu einem Aufschwung der Landwirtschaft, vor allem im Panjab. Den Transport revolutionierten wiederum die Dampfschiffe, die ständig zwischen Indien und England unterwegs waren; die beiden Seehäfen für den internationalen Seehandel waren Kalkutta und Bombay. Nicht nur mit Europa sondern auch mit Afrika, China und Australien wurde Handel betrieben. Aber auch die Eisenbahn erfuhr in den folgenden Jahrzehnten einen kontinuierlichen Ausbau. Der enorme Holzverbrauch (Eisenbahnschwellen, Bau von Brücken u.a.) bedingte eine massive Abholzung der Wälder, was massive ökologische Auswirkungen mit sich bringen sollte.198 Anfang des 19. Jahrhunderts veränderte sich auch die Wirtschaft Indiens dramatisch, da die industrielle Revolution in Europa „britische Tuche“ in großer Menge für Indien produzierte.199 Dadurch kam die Textilindustrie Indiens teilweise zum Erliegen, und die in dieser Branche Tätigen verloren ihre Arbeit und mussten neue Erwerbsmöglichkeiten suchen. „Innerhalb weniger Jahrzehnte war Indien von einem der führenden Produzenten von Baumwollerzeugnissen zu einem der Hauptlieferanten von Rohbaumwolle und einem der wichtigsten Absatzmärkte für britische Textilien geworden.“200 Aufgrund der britischen Kontrolle war der Indienhandel dem wirtschaftlichen Diktat der Briten ausgeliefert und einseitig und konkurrenzlos.201 Die Briten überschwemmten daher mit ihren Massenprodukten die indischen Märkte. Die herkömmlichen Fernhandelswege nach Iran, Zentralasien oder China versanken in Bedeutungslosigkeit. Neue Wirtschaftszweige entstehen durch Kaffeebzw. Teeplantagen, wozu auch die Rodung von Wäldern in großem Stil notwendig war. Auch bei diesen Plantagen fungierten die Europäer als Besitzer.202 Im Laufe der Zeit entsteht vor allem innerhalb des städtisch indischen Industrieproletariats eine westlich gebildete Mittelschicht, die aber bis zum 1. Weltkrieg zu den obersten Rängen der Verwaltung und anderer staatlicher Dienste keinen Zutritt hatte, denn diese waren den Europäern vorbehalten. Der innerbritische Diskurs, ob man sich mit dem Status der bisherigen Eroberungen begnügen oder weitere Eroberungen durchführen solle, schlug zugunsten letzterer Position aus.203 In der Folge konnten große Gebiete Indiens unter britische Herrschaft gebracht werden. Gegen Mitte des 19. Jahrhunderts eroberte die Company den Sind und den Panjab. Die Eroberungen geschahen mit Hilfe der Sepoys, Einheiten von indischen Soldaten,

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die nach europäischen Standards ausgebildet und ausgerüstet wurden. Damit konnten die Briten ihre europäischen Gegner, Franzosen und Holländer, aber auch ihre indischen besiegen. Zum militärischen Aufstieg der Briten trug auch das System der „Hilfsbündnisse“ bei. Truppen, die auf dem Territorium einzelner indischer Staaten stationiert waren, sollten diese schützten, als Gegenleistung mussten sie die Interessen der Briten unterstützen.204 Bis 1857 umfasste das von der Company kontrollierte Gebiet 2/3 des Landes und ¾ der Bevölkerung.205 Der Diskurs, ob das 18. Jahrhundert eine Zeit des Verfalls und des kulturellen Niedergangs war und das 19. Jahrhundert sodann eine Wiederbelebung der alten Traditionen gebracht hat, sei nach neueren Forschungen zu „modifizieren.“206 „Der Untergang der Moguln war danach weniger eine langanhaltende Tragödie als eine Chance für eine neue regionale Dynamik.“207 Außerdem diente dieses Bild von den Verfallserscheinungen der indischen Gesellschaft des 18. Jahrhundert den Kolonialherren als Vorwand für deren Eroberungen. Diverse politische und geistige Strömungen, die sich im 18. Jahrhundert bereits abzeichnen, werden dann im 19. Jahrhundert voll zur Entfaltung kommen. Gerade das Reformprogramm von Schah Waliullah (1703–1762) haben die Reformer des 19. Jahrhunderts übernommen: gefordert wird eine „moralische Erneuerung der islamischen Gemeinschaft“ und dass sich Sunniten und Schiiten als religiös gleichwertig behandeln sollten; weiters wird auch die Abgrenzung von der hinduistischen Gesellschaft für notwendig erachtet, denn Muslime und Hindus üben viele Bräuche und Riten gemeinsam aus. Alle diese Aspekte seines Reformprogrammes werden das 19. Jahrhundert prägen und führen sodann zum „mohammedanischen Nationalismus“, der die Gründung Pakistans beeinflusste.208 Ein für die wirtschaftliche Dominanz der Briten entscheidendes Jahr war 1813, als das Handelsmonopol der Companie aufgehoben wurde und in Britisch Indien nun auch private Kaufleute und Missionare uneingeschränkten Zutritt hatten. Damit verstärkte sich auch der Einfluss der britischen Krone und des Parlaments in innerindische Angelegenheiten, und es begann eine neue Ära der britischen wirtschaftlichen Penetration Indiens. Die Briten dominierten in der Folge den Welthandel; ausschließlich Rohstoffe, in der Hauptsache Rohbaumwolle, hat man aus Indien importiert, indische Textilwaren waren von der Einfuhr in England durch Schutztarife ausgeschlossen.209 1833 wurde dann die Company vollständig der britischen Verwaltung unterstellt.210 Englisch als offizielle Sprach ersetzte das Persische. Wirtschaftliche Probleme, die die hohe Steuerlast der Briten auslösten, die christliche Missionstätigkeit und die Entfremdung durch das westliche britische Erziehungs- und Schulsystem, führten 1857 zum Soldatenaufstand (Mutiny).211 Muslimische und hinduistische Mitglieder der Streitkräfte der Company revoltierten in der Nähe von Delhi gegen die Briten, unterstützt auch von meuternden Bauern und Grundbesitzern Nordindiens. Diese setzten den alten Schah wieder in sein Amt ein. Auch Ulama der Schah-WaliullahTradition und insgesamt nordindische Muslime beteiligten sich am Aufstand gegen die Briten. Diesen gelang es nur mit Hilfe der Sikhs den Aufstand niederzuschlagen.

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Verantwortlich gemacht hat man hierfür praktisch nur die Muslime, daher wurden auch die islamischen Stadtviertel von Delhi zerstört, „die alte muslimische Aristokratie wurde völlig entwurzelt, verlor Land und Besitz und, was schwerwiegender war, verlor ihre eigentliche geistige Basis.“212 Der letzte Mogulkaiser musste sich wegen angeblicher Beteiligung an der Verschwörung gegen die Briten vor Gericht verantworten, 1858 starb er; damit war die Moguldynastie an ihr Ende gekommen. Die Wirtschaftsstruktur der muslimischen Oberschicht war vernichtet worden, ja ihre Existenz stand auf dem Spiel, sollten diese weiterhin der britischen Regierung und ihrer Kultur feindlich gegenüberstehen. Die Folge dieses Aufstandes war, dass die British East India Company aufgelöst wurde und dass die britische Krone die Herrschaft über Indien selbst übernahm (Königin Victoria nannte sich auch Königin von Indien). Fortan blieb die Armee geteilt, in eine britische und eine indische. Das Misstrauen auf beiden Seiten nahm ständig zu. Anfang des 19. Jahrhunderts entwickelte sich Lucknow, ausgelöst durch den Niedergang der Moghulkultur in Delhi, zu einem kulturellen schiitischen Zentrum. Die schiitische Festtagskultur konnte sich hier gut entfalten; im Rahmen der Zeremonien der Muharramfeiern spielte vor allem das Vortragen von Gedichten eine wesentliche rituelle Rolle, Gedichte, in denen des Leidens und Sterbens Husains, des Prophetenenkels, gedacht wird (marthiya). Gerade diese Muharram-Feiern dienten auch der von Leid und Unterdrückung geplagten Bevölkerung zur Identifikation mit Husain und damit zum Trost und zur Hoffnung. Das Mitleiden mit Husain und seinen Gefährten, ja auch das Mitsterben, wird für den Schiiten zu einem heilschaffenden Akt. Aber auch die Geburtstage der zwölf Imame waren Teil der Festtagskultur. „Lucknow“, schreibt Schimmel, „erschien den Beobachtern wie ein überfeinertes Theater“, „jedes Haus war wie eine Hochzeit, jede Straße wie ein Fest.“213 1856 annektierten die Briten Lucknow und zerstörten die kostbare Bibliothek. Bereits im späten 18. und sodann im 19. Jahrhundert setzte auch ein Prozess ein, den Arnold „Eroberung von Wissen“214 bezeichnet; er meint damit, dass Angehörige der britischen Verwaltung die indischen Verwaltungssprachen lernten und dass auch die indischen Sprachen erforscht wurden.215 Es entstanden Übersetzungen aus dem Sanskrit genauso wie umgekehrt aus dem Englischen in die indischen Sprachen. Voraussetzung war, dass der Buchdruck zur Verbreitung dieser Literatur wesentlich beitrug. Ziel dieser Bemühungen um Sprache, Literatur und Geschichte Indiens war es, „den Subkontinent in den umfassenden Rahmen westlichen Wissens einzufügen.“216 In diesem Zusammenhang etablierte sich auch das Fach Orientalistik. Die Neugier, die das wissenschaftliche Interesse für das indische Kulturschaffen ausgelöst hatte, haben aber nicht alle gutgeheißen, denn die Utilitarier und die Evangelikalen zweifelten an dieser hohen kulturellen Einschätzung der indischen Kultur.217 Die Utilitarier gingen davon aus, dass Indien rückständig und von barbarischen Sitten, Riten und vom Aberglauben beherrscht sei. Diese Sichtweise legitimierte den Herrschaftsanspruch des über Indien moralisch höherstehenden Westens, um dieses zurückgebliebene Land und seine Kultur auch in das Zeitalter der Aufklärung zu führen, um Indien also „von seiner dekadenten Vergangenheit“ zu reinigen.218 Die

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Evangelikalen, die als Missionare tätig waren, gingen wiederum davon aus, dass sowohl der Hinduismus als auch der Islam Religionen seien, die durch Aberglaube und Fanatismus diametral zur christlichen Lehre stünden; daher die Aufforderung an die Regierung, sich von beiden Religionen abzugrenzen.219 Der Einfluss, den diese beiden Bewegungen auf die Gesellschaft ausübten, führte dazu, dass die „Sympathie und Toleranz gegenüber der indischen Gesellschaft und Kultur in Frage gestellt wurde.“220 Die neue indische Bildungselite, hervorgegangen aus den von den Briten installierten Bildungseinrichtungen, entwickelte infolgedessen auch ein nationalistisches Denken, das aber die Briten ablehnten. So gründeten einige Wirtschaftstreibende 1885 in Bombay den indischen Nationalkongress zur Zusammenarbeit zwischen Hindus und Muslimen, dem die britische Seite allerdings „Verachtung und Misstrauen“ entgegenbrachte.221 Die Situation der Muslime, die unter der Oberhoheit der Company lebten, verschlechterte sich zunehmends, da die Briten juristische Neuerungen einführten, unter denen die Muslime mehr litten als die Hindus.222 So veränderte die Companie die Eigentumsstruktur des Landes insofern, als sie zahlreiche Ländereien und Besitztümer enteigneten. Im Besonderen waren die Ländereien der „frommen Stiftungen“, die zum Erhalt von Schulen, Madrasen, Moscheen und anderen Einrichtungen dienten, davon betroffen. Scharf kritisierten die Briten vor allem die Familienstiftungen, da sie nicht den religiösen und wohltätigen Zielen der öffentlichen Stiftungen entsprechen würden, obwohl Rechtsgelehrte ihre Legalität bestätigten.223 Diese Maßnahmen trafen das Erziehungssystem der Muslime im britischen Teil Indiens schwer. Ähnliche Vorgänge sind in sämtlichen von Kolonialmächten beherrschten islamischen Ländern beobachtbar. Diverse Grundsatzurteile (fatwa) von Rechtsgelehrten erklärten jene Gebiete, die unter britischer Herrschaft standen, zum Kriegsgebiet (dar al-harb). Muslime konnten demnach ihren Pflichten nicht mehr nachkommen. Hierin liegt auch der Ansatz für die Forderung nach einem eigenen muslimischen Staat, erstmals 1930 von Muhammad Iqbal, dem großen Dichter-Philosophen des indischen Islam, ausgesprochen. Dies war die Geburtsstunde des Pakistans-Gedankens.224 1835 erfolgte ein weiterer Eingriff in das islamische Erziehungssystem, indem die persische Sprache die englische als offizielle Sprache ablöste; dies bedeutete einen „schweren Schlag für die indo-persische Literatur.“225 Denn das kulturelle Erbe Persiens beginnt damit langsam zu verschwinden. Profitiert haben dadurch die Regionalsprachen, vor allem das Urdu und das Sindhi, geschrieben mit arabischen Buchstaben. Nach Malik könne man von einer dichotomen Vorgangsweise ausgehen, denn um Indien nach den Vorstellungen der Briten zu „modernisieren“, mussten sie es zuerst „traditionalisieren“, also die Gesellschaft in stagnierende Kasten, Religionen und Ethnien unterteilen. Dahinter stand die Absicht, die jeweiligen Traditionen der indischen Völker und die koloniale Moderne gegeneinander auszuspielen.226 Primär war das Kriterium die religiöse Zugehörigkeit, die dann wiederum eine entsprechende „Ethnifizierungspolitik“ erlaubte. Bis 1830 hat die Company die Gesetze der Hindus und Muslime beachtet. Im Laufe der Zeit jedoch durchdrangen sich britische und islamische Vorstellungen immer

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mehr, so entsteht ein eigenes anglo-islamisches Recht, eine Fusion von Elementen des britischen Rechts mit solchen des islamischen,227 nur das Familien- und Erbrecht wurde den jeweiligen religiösen Gemeinschaften belassen. Dieses anglo-islamische Recht könne der Medschelle insofern verglichen werden, „als es auch hier nicht mehr um die Ableitung einzelner Entscheidungen aus dem überlieferten Material der Kompendien und ihrer Kommentare ging, sondern um eine hiervon unabhängige, an den Sachfragen ausgerichtete Jurisprudenz und Rechtsprechung.“228 Daher waren auch die Rechtsgelehrten bei der Erstellung dieses „Anglo-Muhammadan law“ weitgehend ausgeschlossen. Den flexiblen und facettenreichen Umgang mit dem islamischen Recht ersetzte nun „a rule-bound legal system. If Anglo-Muhammadan scholarship endorsed a scripturalist version of Islam, that same vision was transformed into an oppositional Islam that could be used in the anticolonial struggle.“229 Damit hängt zusammen, dass der Einfluss der Ulama nicht nur im Rechtsbereich, sondern auch im Bereich der Erziehung eine Einschränkung erfuhr. Um die Madrasen zu modernisieren, benutzten die Kolonialherren zwei europäische Kategorien, „religiös“ und „nicht-religiös.“230 Was man als „nicht-religiös“ betrachtete, war „useful“, was als „religiös“, war „not-useful.“ Religion wurde de factum auf die persönliche Ebene beschränkt, sie habe nichts mit Öffentlichkeit zu tun und wurde daher auch aus den Curricula ausgeschlossen. Sowohl Dorfschulen sind aus dem Bereich der Moscheen entfernt worden als auch Bücher religiösen Charakters aus dem Unterricht. Erneuerungsbewegungen Als Reaktion auf diese Situation, die die traditionelle muslimische Identität, teilweise sogar die Existenz in Frage stellten, entstanden zu Beginn des 19. Jahrhunderts diverse muslimische Reformbewegungen, zum Teil militanter Natur, die die Spannung zwischen Tradition und Moderne aufzulösen versuchten. Ihr Ziel war eine islamische Erneuerung durch Rückkehr zu den „frommen Vorfahren.“ Daher der Aufruf zum Glaubenskampf und zur Reinigung des Islam von der Heiligenverehrung und anderen synkretistischen volksreligiösen Formen und Praktiken und Stärkung seiner arabischen Elemente. Diese Reformer sprachen sich auch gegen die exzessiv betriebenen Muharram-Feiern der Schiiten aus. Mit dieser Rückkehr zu den eigenen Traditionen sollte der Niedergang des Islam in Indien aufgehalten werden. Diese Erneuerungsbewegungen, die den arabischen Islam förderten, gingen meistens von Pilgern aus, die in Mekka den arabischen Islam wahhabitischer (hanbalitischer) Prägung kennen gelernt hatten und diesen nach ihrer Rückkunft propgagierten. Großen Anteil an diesen Reformbewegungen hat der Naqschban­ diyya-Orden, aus dem wichtige Reform-Mystiker hervorgegangen sind. Betont wird vor allem das Vorbild des Propheten, wobei auch die praktischen und politischen Aspekte seines Wirkens in den Mittelpunkt gestellt werden. Dieser Orden gilt als einer der orthodoxesten und war von allem Anfang an mit der Politik verbunden bzw. hatte auch eine militante Ausrichtung.

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Sayyid Ahmad von Ray Bareilly231 führte das Denken von Schah Waliullah weiter und gründete die Ordensgemeinschft „Tariqa Muhammadiyya“ (Muhammadanischer Pfad). Während seines Aufenthaltes auf der arabischen Halbinsel hatte er die Vorstellungen Muhammad Abd al-Wahhabs kennen gelernt und entwickelte sich zu einem Glaubenskämpfer. Gerade er wandte sich auch gegen diverse synkretistische Formen, Riten und Praktiken, die Muslime und Hindus zusammenführten: Pilgerfahrten zu den Hindustätten, Verehrung von Hindu Gottheiten, Feiern von HinduFesten, das Tragen von Hindu-Mode; all das hatte vor allem bei Muslimen auf dem Lande Eingang gefunden. Da Britisch-Indien Kriegsgebiet sei, war sein politisches Ziel, die Ungläubigen zu bekämpfen und eine islamische Theokratie zu errichten. Durch seine Predigten fand er eine große Anhängerschaft; er starb nahe Peshawar als Märtyrer. Besonders in Bengalen beuteten indische Großgrundbesitzer die Landbevölkerung aus, sodass es auch hier zu Aufständen kam bzw. dass auch hier Reformbestrebungen für den „reinen Islam“ bei den Ausgebeuteten auf fruchtbaren Boden fielen. Die Fara´idi (Pflichten)-Bewegung, eine militante Erneuerungsbewegung, pochte auf die religiösen Pflichten und war ebenfalls wahhabitisch ausgerichtet. Ihr Anführer Hadschi Schariatullah (1781–1840) hatte mehrere Jahre in Mekka gelebt. Im Sinne der wahhabitischen Lehre forderte er die muslimische Bevölkerung Bengalens auf, die Hindu-Riten, und somit jegliche synkretistischen Praktiken aufzugeben, und sich allein nach Koran und Sunna auszurichten. Gerade in Bengalen hatten sich diverse Vorstellungen beider Religionen vermischt. In anderer Hinsicht zeigte diese Bewegung auch politischen und sozialrevolutionären Charakter, weil die muslimischen Bauern aufgefordert wurden, gegen die Hindu-Großgrundbesitzer und die hohen Steuern der britischen Regierung aufzubegehren.232 Erst unter seinem Sohn Dudu Miyan gewinnt diese Bewegung eine breitere Basis im ländlichen Raum; er selbst wurde mehrmals verhaftet. Später standen stärker religiöse Reformen im Vordergrund.233 Mekka-Pilger fanden nach ihrer Rückkunft ein weites Betätigungsfeld für ihren Kampf um einen „reinen Islam“, für ihre Reislamisierungsbestrebungen. Wie die nordindische Wahhabitenbewegung so wurde auch die in Bengalen wahhabitisch angehauchte Reformbewegung von der breiten Masse der Muslime abgelehnt. Modernistische Reformer und ihre Gegner Andere Reformer sprachen sich wiederum für eine loyale Zusammenarbeit mit den Briten aus bzw. insgesamt für eine Anpassung des Islam an die herrschenden Verhältnisse. Großen Einfluss auf seine muslimischen Glaubensbrüder gewann Sayyid Ahmad Khan, „Vater des islamischen Reformertums“.234 Geboren 1817 in Delhi, schloss er sich schon sehr früh der Company an. 1869–70 lebte er in England, eine Zeit, die für ihn prägend werden sollte. Der Soldatenaufstand hat auch seine Entwicklung beeinflusst. Er sah nur in der Zusammenarbeit mit den Briten und der Aufnahme der westlichen Kultur einen Ausweg aus der bedrohlichen Lage, in die die Muslime geraten waren. Daher setzte er sich auch für Übersetzungen europäischer

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Werke ein. „Britische Zivilisation schien für ihn die höchstmögliche Kulturstufe“235 zu sein, eine Sicht, die ihm allerdings viele Gegner einbrachte. Seine rationalistische und differenzierte Denkweise, ja durchaus auch kritische Sichtung der islamischen Tradition (Hadith), wurde von den orthodoxen Muslimen abgelehnt. Trotzdem setzte er sich entsprechend seinen Grundsätzen für ein gemeinsames Erziehungsprogramm für Hindus und Muslime ein. 1875 gründete er das Anglo-Muslim-College in Aligarh, das zur „Keimzelle des indo-muslimischen Modernismus“236 werden sollte. Ziel dieses Kollegs war es, eine Bildungsstätte für Muslime zu schaffen, wo diese die europäische Moderne kennenlernen konnten.237 Seine Bemühungen um die britische Sache brachten ihn dann den Adelstitel ein. Er wollte eine Variante des Islam kreieren, „die für muslimische junge Menschen mit europäischer Bildung annehmbar war.“238 Auch wollte er den Islam gegenüber der europäischen Polemik verteidigen. Seiner Sicht nach kenne sehr wohl auch der Islam – entgegen der traditionellen Sicht – Naturgesetze, die allerdings in keinem Gegensatz zum Koran stünden. Die Modernisten legten so die Basis für eine naturwissenschaftliche Interpretation des Koran. Denn der Koran und die Erkenntnisse der Naturwissenschaften stimmen überein. Der Islam wird hier nicht nur als eine natürliche, sondern auch als eine rationale Religion vorgestellt. „Entscheidend aber war, dass mit der Gleichsetzung von Naturordnung und Religion, von Rationalität und Gotteserkenntnis nicht zuvorderst eine Säkularisierung, sondern eine Sakrali­ sierung entscheidender Bereiche von modernem Denken geleistet wurde.“239 Wie bei den arabischen Modernisten, so scheint auch hier das Religiöse „als Agens des Kulturellen und Geistigen auf.“240 Sein rationalistisches Denken lehnten aber orthodoxe Muslime ab und sie verunglimpften ihn als „Naturalisten“. Syed Ameer Ali, ein Schiite aus Kalkutta, dagegen verfolgte in seinem Schrifttum ein apologetisches Ziel, indem er den Europäern zu zeigen versuchte, dass der Islam und sein Kulturschaffen durch die Jahrhunderte nicht gegen den Fortschritt gerichtet waren, vielmehr daran Anteil hatte. Dies stellt er in seinem Werk „The Spirit of Islam“ (1891) dar. Die Muslime in Indien könnten mehr davon profitieren, wenn sie sich gegenüber den Briten loyal verhalten würden. Der Islam ist für ihn nicht fortschrittsfeindlich, sondern „der Islam [ist] Fortschritt“.241 An den Modernisierungsprozessen des indischen Islam hatten auch kleinere Gruppen Anteil, so etwa die Ismailis (Siebener-Schiiten), seit dem Mittelalter in Sind und Gudscharat ansässig. In diesem Raum geht es vor allem um die Khodscha-Ismailis, die durch die intensive Tätigkeit des 3. Aga Khans, ihres Oberhauptes, zu einer modernen, weltaufgeschlossenen Gemeinschaft umgeformt wurden.242 Verschiedene fundamentalistische Gruppierungen griffen Reformer, die sich für eine Anpassung des Islam und seiner Traditionen an die Zeitverhältnisse aussprachen, an; die Gläubigen verketzerten sich so gegenseitig. Es waren vor allem drei Bewegungen, die sich gegen die Reformer richteten: – Die Deoband-Schule,243 1868 gegründet, ging aus der Bewegung um Schah Waliullah hervor und propagierte die fundamentalistische Theologie der Naqschbandiyya, indem sie sich ausschließlich nach der islamischen Tradition

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ausrichtete. Einige ihrer Führer wanderten während des Soldatenaufstandes nach Mekka aus. Sie lehnt nicht nur den Gebrauch der englischen Sprache ab, sondern auch die modernen Wissenschaften und die Philosophie, die Feier des Geburtstages des Propheten und natürlich auch die Heiligenverehrung an den Schreinen. Die Rückständigkeit der Muslime sei nach dieser Schule durch den Einfluss des Westens und anderer Religionen verursacht worden und dass den reinen und authentischen Lehren Muhammads nicht mehr Folge geleistet wird. In der Deoband Tradition befindet sich u.a. auch die Taliban-Bewegung.244 – Die Ahl-i Hadith245 konzentrierten sich auf die „genaue Befolgung der pro phetischen Traditionen“ (Hadith)246 und standen der Naqschbandiyya bzw. der Wahhabiyya nahe. Sie lehnen nicht nur die vier Rechtsschulen ab, sondern auch die Heiligenverehrung, den Gräberkult und teilweise den Sufismus. Ein jeder kann für sich den Koran und die Sunna interpretieren.

– Die Ahmadiyya geht auf Mirza Ghulam Ahmad zurück, einem strenggläubigen Muslim, der sich 1891 als der von Gott auserwählte Mudschaddid (Erneuerer) des Islam, als die geistige Wiedergeburt Jesu, die Wiederkehr Buddhas und Krishnas, ja als der erwartete Mahdi (Rechtgeleiteter) ausgab. Er fühlte sich berufen, das ursprüngliche Verständnis des Islam, unter Berück sichtigung der spezifischen Zeitbedingungen, wiederherzustellen. Der Anspruch auf das Prophetentum von Ghulam Ahmad führte zur Spaltung der Gemeinde. Diese Bewegung entwickelte die größte Missionsbewegung für den Islam in der westlichen Welt und in West-Afrika. Bekannt geworden ist sie auch dadurch, weil sie lehrt, dass Jesus in Kashmir gestorben ist und dort begraben wurde.247

Indisches Literaturschaffen Die Ersetzung des Persischen durch das Englische als Verwaltungssprache hatte weitreichende Folgen für die indo-persische Literatur, die immer mehr verschwindet. Gestärkt wurden dadurch die Regionalsprachen. Im Rahmen der Reformbewegungen entstehen nun durch das Bekanntwerden der englischen Prosaliteratur in Urdu auch neue literarische Gattungen, indem die Novelle und der Roman in den Dienst der Reformen gestellt werden.248 Wichtige Werke der englischen Prosaliteratur werden ins Urdu übersetzt. Eine nachhaltige Wirkung im Sinne der Reformen kommt dem Werk von Deputy Nazir Ahmad (1831–1912) zu. Er schrieb in Urdu eine Reihe von Romanen, die die Notwendigkeit der Erziehung thematisierten. In einschlägigen Novellen beschäftigt er sich mit gesellschaftlichen Problemen, etwa mit der Polygamie. Insgesamt kann gefolgert werden, dass „die Reformbewegung eine neue Blüte der Urdu-Literatur“ hervorbrachte.249 Interessant sei in diesem Zusammenhang, dass die Urdu-Literatur, die sich unter islamischem Einfluss herausgebildet hatte, „ihre größte Blüte in Nordindien während des Verfalls der Moghul-Macht hatte.“250

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Auch das Sindhi erlebte einen starken Auftrieb; nicht mehr die mystische Dichtung steht im Vordergrund, sondern es entwickeln sich auch hier, von der britischen Romantradition beeinflusst, eigenständige Formen einer Prosa.251 Hierbei spielt der Frauenbildungsroman eine besondere Rolle. 1892 erschien ein diesbezüglich erster Roman von Mirza Qalich Beg (gest. 1929).252

Der Iran unter der Herrschaft der Qadscharen Ende des 19. Jh. gelang es den Qadscharenstreitkräften den Iran zu erobern und damit wieder Nord und Süd zu vereinigen; ihr erster Herrscher war Agha Muhammad Qadschar. Dieser dehnte seine Eroberungen auch bis in die kaukasischen Gebiete aus: Aserbeidschan, Armenien und Georgien. 1796 wurde er zum offiziellen Herrscher des Iran, zum schah-in-schah („König der Könige“) gekrönt. Allerdings gab es noch keine staatliche Struktur, vielmehr dominierten die Stämme in den einzelnen Städten und Regionen und somit lokale Stammesführer. Im frühen 19. Jahrhundert machten die Nomaden bis zur Hälfte der iranischen Bevölkerung aus.253 Die politischen Strukturen bezeichnet Riahi daher als „archaisch“, denn unter Aqa Muhammad Khan existierten nur drei offizielle Staatsposten, die der Schah in seiner Person selbst vereinigte. Nach seinem Tod 1797 transformiert sich der stammesmäßig strukturierte qadscharische Staat hin zu einem „zentralisierten Nationalstaat.“254 Unter Fath Ali Schah (1797–1834)255 beginnen sich die europäischen Mächte in die inneren Angelegenheiten des Iran einzumischen, vor allem Franzosen und Engländer.256 Bei den Auseinandersetzungen mit den Russen ging es vor allem auch um territoriale Ansprüche, indem sie den Qadscharen die eroberten Gebiete im Kaukasus wieder zu entreißen versuchten. Es beginnt nun jene Konkurrenzpolitik zwischen Frankreich, England und Russland, die sich in unterschiedlichen Parteinahmen zur Durchsetzung der jeweiligen Interessen, einmal als Verbündete, das andere Mal wieder als Konkurrenten konkretisierte, sodass „Diese ganze Periode [ …] für die Perser eine verwirrende Einführung in die unerforschlichen Wege des Westens [war].“257 Das Nachsehen bei dieser interessegeleiteten Politik hatte der iranische Staat. Im ersten russisch-iranischen Krieg (1803–1813) ging es vor allem um Georgien. 1813 kam es mit Russland zum Vertrag von Gulistan, wo für die Iraner wichtige Gebiete des transkaukasischen Gebietes an die Russen verlorengingen. Insgesamt waren Briten und Russen von Binnenzöllen befreit und hatten somit gegenüber den einheimischen Kaufleuten Vorteile. Durch den Kontakt mit den ausländischen Mächten entstand bei einigen die Überzeugung, dass nur Reformen, in erster Linie dachte man in dieser Zeit noch an militärische, den Iran vor dem Einfluss ausländischer Mächte Abhilfe schaffen könnten.258 Derjenige, der sich für solche Reformen aussprach, war der Kronprinz Abbas Mirza (1789–1833).259 Mit Hilfe westlicher Militärexperten wollte dieser das Heer reformieren. Außerdem schickte er Perser zur Ausbildung ins Ausland, die dann nach ihrer Rückkehr die Gruppe der Reformer bilden werden. Europäische Literatur wird übersetzt, sodass eine westlich orientierte Bildungsschicht entsteht. Der Hof in Teheran unterstützte Mirza diesbezüglich nicht, hier war man gegenüber

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dem militärischen Reformprogramm eher reserviert eingestellt. Aber auch die Religionsgelehrten und Stammesführer teilten diese reservierte Einstellung gegenüber den Reformen. Der wachsende Einfluss der Ulama, hinter denen die Basaris und die Bevölkerung stand, prangten die Misshandlung der Muslime im Kaukasus durch die Russen öffentlich an, sodass der Schah nicht anders konnte, als 1826 den Russen den dschihad zu erklären. Die iranische Armee wurde geschlagen und im Vertrag von Turkomanchai 1828 – „russisches Friedensdiktat“260 -erhielt Russland weitere Konzessionen und Gebiete und Iran musste sich außerdem zu Reparationszahlungen verpflichten. Gerade dieser Vertrag war Grund für viele Aufstände in der Bevölkerung. Mit der ausländischen Einmischung und dem ausländischen Einfluss kam es immer stärker zu einer „Polarisierung der iranischen Gesellschaft.“ Europa wurde ambivalent gesehen: auf der einen Seite „fungierte es als technologisches Vorbild“, auf der anderen Seite war es „gleichzeitig die Quelle politischer, ökonomischer, territorialer und kultureller Bedrohung.“261 Die „Nezam-e Jadid“ (neue Ordnung)262 markiert den Beginn eines Reformprogrammes, sprich einer Verwestlichung, nämlich die Ausrichtung der iranischen Armee nach westlichem Vorbild, gleichzeitig war damit aber auch ein staatliches Zentralisierungsprogramm verbunden. Die Opposition bzw. die Gegner dieser Modernisierung stießen sich an der „europäischen Kleiderordnung“, aber auch daran, dass Ungläubige die Streitkräfte kommandierten, was als „schleichende Verwestlichung“ angesehen wurde.263 Mit Hilfe der Briten konnte nach Fath Alis Tod als Nachfolger Muhammad Schah (1834–1848) den Thron friedlich übernehmen. Unter seiner Herrschaft gelang es den Briten, 1836 und 1841 Verträge abzuschließen, „die ihnen alle Vorrechte einräumten, die vorher bereits die Russen innehatten.“264 Wichtige Führer der Zwölferschia, die mudschtahids,265 befanden sich nicht in Iran, sondern sind in die von den Osmanen beherrschten schiitischen Zentren in Iraq, Nadschaf und Karbala, wo Ali und Husain begraben sind, ausgewichen. Sie verfügten dort über eigene Einkünfte aus den „frommen Stiftungen“ und den Spenden der Gläubigen. Diese schiitischen Zentren in Iraq waren federführend für die neuzeitliche Entwicklung der imamitischen Gelehrsamkeit.266 In der Zeit Muhammad Schahs entstand die Babi-Bewegung, aus der später die Baha´i-Religion hervorging. Schaych Ahmad Ahsa´i (gest. 1826) gründete innerhalb der 12-Schia die Schaychi-Bewegung, eine theosophische Schule, die sich neben den Koran- und Propheten- bzw. Imamtraditionen (hadith) auch auf intuitives Wissen als eine weitere Quelle, um Kenntnisse zu erlangen, beruft. So können Offenbarungen auch in Visionen und Träumen durch Muhammad oder die Imame übermittelt werden.267 Die Rechtsgelehrten haben diese Lehre vor allem auch deswegen angegriffen, weil die Himmelsreise Muhammads und die leibliche Auferstehung spirituell gedeutet werden. 1822 wurde die Schaychi-Bewegung zu einer häretischen Sekte gestempelt. Innerhalb dieser Bewegung hat man für das Jahr 1844/1260 (also 1000 Jahre nach dem Verschwinden des 12. Imams) die Wiederkunft des 12. Imams/ Mahdi erwartet. Der Begründer der Babi-Bewegung,268 Sayyid Ali Muhammad aus Schiraz, schloss sich dieser chiliastisch ausgerichteten Bewegung an. Er selbst bezeichnet sich am 22. Mai 1844 als „Tor (bab)“ zum Mahdi, zum kommenden Imam.

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Anhänger sammeln sich um ihn, sodass die Rechtsgelehrten auf ihn aufmerksam werden und ihn exkommunizieren (takfir: das Für-Ungläubig-Erklären). Während seiner Gefangenschaft gibt er sich selbst als Wiederkehr des „Verborgenen Imams“ zu erkennen, dass er der erwartete Mahdi und das islamische Gesetz durch ihn nun aufgehoben sei. Damit gibt er seinen Anhängern die Möglichkeit, „sich deutlicher als Gemeinschaft mit einer eigenen – vom Islam unterschiedenen – religiösen Identität zu deklarieren.“269 So forderte er soziale Gleichheit, Schutz des Privateigentums, mehr Rechte für Frauen, allgemeine Schulbildung und stellte die Rolle und den Anspruch des schiitischen Klerus in Frage und verkündete „eine neue göttlich sanktionierte Ordnung, die an die Stelle des Koran treten würde.“ 270 Alle Gläubigen haben direkt Zugang zu ihrer Religion und brauchen keine Mittlerschaft, wie dies die zwölferschiitischen Gelehrten als Spezialisten für ihre Gläubigen beanspruchen. Ein kurzes Interregnum des Herrscherwechsels, nämlich zu Schah Nasir ad-Din (1848–1896), führte zu einer „Politisierung der Babi-Religion“271 und war der Anlass, dass die Anhänger des Bab einen eigenen Babi-Staat errichten wollten. Die Revolte zwischen 1848 und 1852 wurde blutigst niedergeschlagen. Bei diesen Auseinandersetzungen zwischen Babis und Zwölferschiiten stützten sich die Babis auf ein Verständnis des dschihad, „demzufolge der bewaffnete Kampf gegen die Feinde der Religion gestattet ist.“272 Der Bab selbst wurde bereits 1850 hingerichtet. Massenfolterungen und -hinrichtungen unter den Babis folgten dann bei dem Versuch, den Schah zu ermorden. Die Frage nach dem konkreten Erscheinen des Propheten führte zur Spaltung der Bewegung, indem ein Teil der Anhänger des Bab Subh-i Azal, die Mehrheit jedoch seinem Halbbruder Baha´ullah folgten. Letzterer erklärte sich 1863 als der Verheißene, als „derjenige, den Gott erscheinen lassen wird“; der Führungsanspruch von Subhi Azal wird somit abgelehnt. Ab dieser Zeit kann man von einer eigenständigen Baha´i-Religion sprechen.273 Die Anhänger von Subhi Azal setzen die Religion des Bab fort und warten noch immer auf den „Verheißenen.“ Die internen Auseinandersetzungen um den Führungsanspruch lassen die osmanische Regierung aktiv werden. Letztendlich wird Subhi Azal und seine Anhänger nach Zypern verbannt, Bahha´ullah nach Akka in Palästina. Unter Nasir ad-Din wurde die Reform des Militärs nach westlichem Muster in Angriff genommen, das „Nezam-e Jadid-Programm“ fand seine Fortsetzung. Junge Männer entsandte man an westliche Universitäten. Die Gründung des Dar al-Funun (Haus der Wissenschaften) 1852274, aufbauend auf den westlichen Wissenschaften, war „die erste westlich-wissenschaftliche höhere Bildungsstätte im Iran. Schwerpunkte waren zunächst militärische, medizinische und naturwissenschaftliche Studien, die die traditionellen – nur islamisch(-theologisch)en – Wissenschaften in den Hintergrund rückten.“275 In der Hauptsache waren hier ausländische Lehrkräfte tätig. Westliche Bücher, fast ausschließlich französische, wurden ins Persische übersetzt, aber auch persische Lehrbücher veröffentlicht. Anfang des 19. Jahrhunderts kamen die erste Druckerpresse und der erste Telegraph in den Iran. In dieser Zeit erschienen auch die ersten Zeitungen in persischer Sprache; sie zielten auf die Erziehung des iranischen Volkes und die Weitergabe von Informationen ab.276 Auf diese Weise

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bildet sich eine Schicht von Intellektuellen heraus, die vom europäischen Gedankengut beeinflusst war. Reisende, die sich längere Zeit in Europa aufhielten, brachten eine neue Literaturgattung hervor, die „Reiseerinnerungen.“277 Das Hauptcharakteristikum der medizinischen Modernisierung im Staat der Qadscharen war, dass der Staat die vorherrschende Medizintradition institutionalisierte, indem er sie in den Staat eingliederte. 278 Förderer dieser Reformen war der Premierminister Mirza Taqi Chan, der 1852 ermordet wurde. Die zentralistische Politik des Premierministers279 stellte für die Stammesführer, Grundeigentümer, Hofbeamten und Ulama eine Bedrohung ihrer jeweiligen Interessen dar. Die Qadscharenherrscher konnten aber den Interessen dieser halbautonom agierenden Gruppen keinen geordneten politischen Widerstand entgegen setzen. Außerdem neutralisierten Briten und Russen sich durch ihre Konkurrenzbestrebungen selbst, ein weiterer Grund, dass die Modernisierung nicht effizient vorangetrieben werden konnte. Die finanziellen Ausgaben für Kriege und westliche Produkte führten zu ständigen Steuererhöhungen, die wiederum die Belastung der Landbevölkerung steigerten. Dazu kam noch das System der Steuerpacht, das für die Ausbeutung der Bevölkerung anfällig war, denn jeder Pächter versuchte möglichst viel an Gewinn herauszupressen. Sämtliche öffentliche Ämter wurden versteigert und die Inhaber verpachteten die untergeordneten Stellen wieder weiter.280 „Die nahezu vollständige militärische und finanzielle Autonomie der Provinzbeamten leistete der Ausbeutung der Untertanen Vorschub.“281 Wirtschaftlich zum Nachteil geriet dem Iran, dass aus dem Westen importierte Waren die persischen Märkte überschütteten, vor allem mit Textilprodukten. Exportiert wurden Rohprodukte, Baumwolle, Obst und Nüsse. Dazu wuchs „die Abhängigkeit Irans von den Westmächten durch die Korruption und Käuflichkeit der Beamten, die keinerlei wirksamer Kontrolle unterlagen.“282 Die Herausbildung des schiitischen Klerus als religiös-politische Kraft Die Qadscharenherrscher förderten den Schiismus,283 indem sie schiitische Heiligtümer restaurierten bzw. neu ausstatteten und mit entsprechenden Dotationen versahen. Da aber die Qadscharen keine Abstammung von den Imamen, wie die Safawiden, nachweisen konnten, war es ihnen auch nicht möglich, den Anspruch auf die Stellvertreterschaft des Verborgenen Imams zu stellen. Diese Rolle fiel nun den Rechtsgelehrten selbst zu. Unter ihrer Herrschaft „vollendete sich die Entwicklung des Juristenstandes zum Klerus“, wobei auch „Tendenzen einer Hierarchisierung des geistlichen Standes“ erkennbar werden.284 Die Usuli-Schule setzte sich nun endgültig durch. Während der einfache Molla für die Anwendung des schiitischen Rechts zuständig ist, sind für die Rechtsfindung, um selbständige und verbindliche Entscheidungen herbeizuführen (idschtihad), die Mudschtahids zuständig. Die einfachen Gläubigen und die Mollas haben sich der Autorität eines Mudschtahids blindlings zu unterwerfen (taqlid). „Der mardscha at-taqld ist derjenige Mudschtahid, auf den der einzelne Gläubige seine Verantwortung in Glaubensfragen abwälzt, indem er sich dessen Expertenurteil unterwirft und seiner Entscheidung blindlings folgt.“285

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Grundsätzlich ist jeder mudschtahid ein mardscha at-taqlid, allerdings wird sich im Laufe des 19. Jahrhunderts herauskristallisieren, dass nur ein mardscha´ at-taqlid als höchste Autorität anerkannt werden wird. Die Übertragung dieses Amtes auf einen Mudschtahid kann sich auf keine kanonischen Kriterien berufen, sondern hängt von dem Ansehen und der Gefolgschaft des Betreffenden ab. Nicht nur diese Tendenz zur Hierarchisierung, sondern auch die Aneignung der Vorrechte des Verborgenen Imams durch die Ulama schufen aus diesen eine „Geistlichkeit.“286 Diskutiert wurde die Frage, wie mit den Abgaben der Gläubigen an den Propheten bzw. an die Imame laut Sure 8,41 zu verfahren sei: Wenn ihr etwas erbeutet, so gehört ein Fünftel (Chums) davon Gott und dem Gesandten, und den Verwandten, den Waisen, den bedürftigen, dem Reisenden, so ihr an Gott glaubt …. Der Anteil des Imams (Chums: Anteil Gottes, des Propheten und der der „Verwandten“) kommt nun den Ulama als kollektive Stellvertreterschaft des Imams zu; diese können „diese Einkommenssteuer der Gläubigen erheben und zum allgemeinen Besten der schiitischen Gemeinde verwenden.“287 Durch diesen Anteil des Imams bekamen die Ulama eine zusätzliche Einnahmequelle, die wesentlich zu ihrer Unabhängigkeit beitragen wird. Weitere Vorrechte, die nun vom Imam auf die Gelehrtenschaft übergingen, waren die Leitung des Freitagsgebetes, die Ausrufung des dschihad und die Vollstreckung der im Koran festgelegten hudud-Strafen bei Diebstahl, Ehebruch und Mord. Zu den „klerusartigen Zügen“, die die Rechtsgelehrten im Laufe des 19. Jahrhunderts annehmen, gehöre nach Halm288 auch das „Für-ungläubig-Erklären“ (takfir), also das Wachen über die Reinerhaltung der Lehre. Eine solche Exkommunikation konnte jeder Mudschtahid aussprechen. Nicht nur Derwische waren davon betroffen, sondern auch Gnostiker und Theosophen, die sich auf Offenbarungen und Erleuchtungen beriefen, die ihnen in Träumen durch den Propheten und die Imame zukamen. Insgesamt aber, wie Riahi feststellt, sind die „Ursprünge des Schiismus als politische Bewegung der Neuzeit“ in der politischen und wirtschaftlichen Abhängigkeit von den europäischen Mächten und der damit voranschreitenden Verwestlichung, die die traditionelle Rolle der Ulama langfristig in Frage stellte, zu finden. In dieser Situation begannen die Ulama „die jahrhundertealte Tradition des Quietismus zu Gunsten eines Politaktivismus aufzugeben.“289 Dies bedeutete langfristig, dass gerade die Ulama die Verteidigung der nationalen Interessen des Iran übernahmen. Die Ulama bildeten durch die Verwaltung der „frommen Stiftungen“, fast des gesamten Bildungsweges, Koranschulen und Madrasen, und durch ihre notariellen Tätigkeiten sozioökonomische Netzwerke. Infolgedessen fungierten sie nicht nur als Gelehrte und Richter, sondern auch als Grundbesitzer und Geschäftsmänner.290 Das staatliche Rechtssystem Irans zeichnete sich durch eine Doppelgleisigkeit aus: einerseits die Scharia-Gesetzgebung und andererseits die säkulare. Letztere war nicht kodifiziert und kann daher nach Riahi als „Willkürrecht“291 bezeichnet werden. Denn durch Einrichtung weltlicher Gerichtshöfe wird die Scharia-Gerichtsbarkeit der staatlichen Kontrolle unterworfen. Der schiitische Klerus fügte sich anfänglich diesem dualen Rechtssystem, in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhundert wird sich dies jedoch durch

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verstärkte Teilnahme des Klerus an politischen Prozessen verändern. Die stärkere Wahrnehmung der gesellschaftspolitischen Rolle des Klerus hängt auch mit den Hierarchisierungstendenzen innerhalb der schiitischen Rechtsgelehrten zusammen; daher ist „dem Konzept des Mojtaheds […] ein gewisser gemeinschaftlicher Führungsanspruch im politischen Sinne immanent.“292 Folglich nehmen dann die Ulama auch konkret die nationale und soziale Führungsrolle wahr. Mit der „großen Verborgenheit“ des 12. Imams gibt es nach zwölferschiitischer Lehre nur noch illegitime weltliche Macht, denn die Herrschaftsausübung ist dem Mahdi vorbehalten. Wenn sich der Klerus auch grundsätzlich loyal gegenüber dem Staat verhielt, betrachteten ihn doch einige als illegitim. Es hat sich hierfür „eine Doktrin der doppelten – geistlichen und weltlichen – Stellvertreterschaft des Verborgenen Imams, die der Schah und die ulam´ gemeinsam ausüben“, entwickelt.293 Der Schah sorgt gesellschaftspolitisch dafür, dass die Scharia angewandt werden kann, für deren Anwendung sind jedoch konkret die Rechtsgelehrten zuständig. Diese Kooperation konnte aber nur so lange bestehen, als der Schah sich zur Schia bekannte.294 In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wird sich das Verhältnis zwischen den Gelehrten und der Schah-Dynastie verschlechtern; der Grund war das Bestreben des Schahs und seiner Minister, den Iran nach europäischem Vorbild zu reformieren. Da dem Staat zentrale politische Organe durchgehend fehlten, regionale Verwaltungseinheiten weitgehend autonom waren, kam dem Klerus häufig die Aufgabe zu, das Volk zu schützen und soziale Aufgaben für ein friedliches Zusammenleben zu übernehmen, letztendlich eine „nationale Führungsrolle“. „Eine Verpflichtung zur Loyalität existierte zuerst gegenüber dem Islam und erst dann gegenüber dem Iran.“295 Der Klerus fungierte so als Führer der „‚religiös-nationalen‘ Gemeinschaft“, um gegen ausländische Einmischung und Fremdeinflüsse Stellung zu nehmen, wozu der Staat nicht in der Lage war, weil er über die Mobilisierung der Bevölkerung nicht verfügte.296 So kristallisierten sich die politischen Ansprüche der UIama im Laufe des 19. Jahrhunderts immer offensichtlicher heraus. Der wirtschaftliche Einfluss der Ulama wurde nicht nur dadurch beschnitten, dass der Staat die Verwaltung der frommen Stiftungen kontrollierte, indem er hierfür ein eigenes Ministerium schuf, sondern dass durch das „Haus der Wissenschaften“ auch das Bildungsprivileg des Klerus in Frage gestellt wurde. Der Kampf um die Konzessionen In der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts beginnt der Kampf um die wirtschaftlichen Konzessionen. 297 Insgesamt verhinderte die Konkurrenz zwischen England und Russland eine Kolonialisierung Irans, wie sie etwa in Afrika und in anderen von den Kolonialmächten beherrschten und ausgebeuteten Ländern stattfand. 1860 erging die Konzession für den Bau eines Telegraphennetzes an England, 1872 ergingen an Baron Julius von Reuter Konzessionen, die zentrale Bereiche der Wirtschaft betrafen, allerdings unter relativ geringer pauschaler Gewinnbeteiligung des iranischen Staates. Damit sollte der Iran modernisiert und eine russische Vorherrschaft verhindert

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werden. Jedoch hat die iranische Regierung unter dem Druck konservativer Kreise und vor allem Russlands298 die Vergabe der Konzessionen an Reuters zurückgezogen, da dieser seine im Vertrag festgelegten Bedingungen nicht eingehalten habe. Insgesamt war die konservative Opposition so stark, dass dem Schah bezüglich Reformen die Hände gebunden waren und daher im Iran des 19. Jahrhunderts viel weniger Reformen durchgeführt wurden als im osmanischen Reich. Das „wirkliche Konzessionsfieber“ setzte erst wieder im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts ein und dauert bis zum 1. Weltkrieg299: Großbritannien bzw. einzelne Briten erwarben „16 Konzessionen im Transport- und Bankenwesen sowie Monopole zur Rohstoffausbeutung, 28 gingen im gleichen Zeitraum an Russland.“300 1889 erhielt eine britische Gesellschaft die Konzession für die Errichtung einer Nationalbank „Imperial Bank of Persia“, die dann in verschiedenen Städten Irans Zweigstellen gründete. 1891 bekamen russische Investoren eine Konzession für die Gründung einer Kreditbank. Diese Konzessionspolitik führte dazu, dass der Iran in immer größerem Ausmaß unter britischen und russischen Einfluss geriet und dass der iranische Staat seine staatliche Kontrolle über wesentliche Bereiche seiner Wirtschaft verlor und Fremden überlassen musste. Dem schiitischen Klerus kam gegenüber dem iranischen Staat eine gewisse Autonomie zu, da führende Persönlichkeiten in Iraq lebten und wirtschaftlich unabhängig waren. Außerdem beherrschte der Klerus nicht nur das Bildungswesen sondern auch die Justiz. Durch seine Verbindungen zu den Basaren und Gilden wurden die Kleriker nun zum Sprachrohr, der sich durch den Einfluss des Westens bedroht fühlenden Bevölkerung. Außerdem versuchten sie sämtliche Reformen zu verhindern.301 Der Höhepunkt des Widerstandes gegen die Konzessionspolitik wurde 1880 erreicht, als einem englischen Staatsbürger ein vollständiges Monopol für Anbau, Verkauf und Export für sämtliche in Iran angebaute Tabakssorten gewährt wurde.302 Tabak gehörte im 19. Jahrhundert zum wichtigsten Exportprodukt. Betroffen waren davon vor allem die Einkünfte der Bazarhändler und Geldverleiher, mit denen ja der Klerus „durch Herkunft, Verschwägerung und gemeinsame Interessen eng verbunden“ war.303 Von den Rechtsgelehrten ausgehend, kam es zu Massenprotesten und 1891 zu einem Tabakboykott im gesamten Iran. Eine fatwa (Rechtsgutachten) hat das Konsumieren von Tabak verboten. Die landesweite Befolgung des Tabakverbotes, sogar am Hofe des Schah, machte deutlich, dass der Staat seine Führungsrolle praktisch stillschweigend dem Klerus überlassen hatte.304 Aufgrund dieser landesweiten Proteste nahm die Regierung die Konzession zurück, allerdings musste sie eine sehr hohe Entschädigungssumme zahlen. Der Tabakaufstand „war die erste erfolgreiche Massenbewegung im modernen Iran, in der sich ulam, Modernisten und die städtische Bevölkerung in einer Protestaktion gegen die Regierung verbündeten.“305 Die Auswirkungen einer religiösen Allianz gegen den Staat erweisen hier zum ersten Mal die gesellschaftliche Rolle der Ulama; aber auch ein Nationalbewusstsein der iranischen Bevölkerung, die ihren Unmut gegenüber einem ineffizienten Staat und seiner Politik zum Ausdruck bringt, verbindet sich damit. Traditionelle und zivile Gruppen von Reformern verbündeten sich mit dem religiösen Establishment und mobilisierten die Bevölkerung.306 Auf die Solidarisierung dieser beiden Gruppen hatte

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al-Afghani ab den 1880er Jahren großen Einfluss, denn er motivierte die Bevölkerung zum eigenständigen Denken und entsprechenden Handeln, vor allem gegen den Fremdeinfluss, „die Bedrohung durch ‚Ausländer‘ und ‚Ungläubige‘“.307 Al-Afghani wurde sodann zweimal vom Schah des Landes verwiesen. Die Tabakaffäre hatte zur Folge gehabt, dass der Schah in Zukunft wichtige Entscheidungen, ohne den Klerus zu befragen, nicht mehr treffen konnte, außerdem wurden Pensionen von Klerikern erhöht und manche erhielten sogar einen staatlichen Sold. Mit dieser staatlichen Einbindung des Klerus ging ihre teilweise Unabhängigkeit verloren und sie büßten so immer mehr „an Glaubwürdigkeit und Respekt ein.“308 Iranisches Kulturschaffen Im Iran der Qadscharenzeit setzt sich die traditionelle Diwandichtung zur Verherrlichung des Herrschers bzw. höher gestellter Persönlichkeiten weiter fort. Unter Muhammad Schah (1834–1848) war „die Zierde des Hofes“309 Habibu llah Farsi Qa´ani (gest. 1854). Er war der erste Dichter, der auch über die Kenntnis von europäischen Sprachen verfügte, vor allem über das Französische. Er übersetzte daher für den Schah auch französische Werke. Qa´ani war nicht nur „offizieller Lobredner“, sondern hat auch Missstände der zeitgenössischen Gesellschaft angeprangert und zum sittlichen Lebenswandel aufgefordert.310 Auch in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts findet die klassische Dichtung ihre Fortsetzung. Langsam aber vollzieht sich auch hier ein Wandel, indem Dichter beginnen, auf die sie „umgebende Welt und die Dinge zu achten und Staat und Gesellschaft einer Kritik zu unterziehen.“311 Mit der Einführung der Druckerpresse312 von Europa aus wurde Mitte des 19. Jahrhunderts auch eine ausländische Presse eingerichtet, um den Iran mit den Weltgeschehnissen bekannt zu machen. „He soon established a department for the translation of selected items from foreign journals … Included were papers from India and Istanbul.“313 Diese staatliche Presse befand sich allerdings im Dar al-Funun, wo auch europäische Werke über Literatur und Geschichte übersetzt wurden, „and officers from France, Austria, Italy and Germany compiled military and mathematical manuals as well as scientific text-books and Persian-French phrase-books.“314 1867 hören wir von „goverment newspapers“, herausgegeben von der Regierung, wo nicht nur laufende Nachrichten vom In- und Ausland berichtet werden, sondern auch Werke alter und moderner Dichter erforscht werden.315 So entwickelte sich das Dar al-Funun zum Vorgänger der ersten Universität Teherans. Christliche Missionare gründeten zahlreiche religiöse Institutionen wie Schulen, Hospitals und Druckerpressen. Der allmähliche Einfluss von christlichen Missionaren in der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts hat auch wesentlich zum Kontakt der Iraner mit anderen Kulturen und Völkern beigetragen.316 Für das 19. Jahrhundert ist im Iran auch das schiitische Passionsspiel bezeugt, die szenische Darstellung der dramatischen Vorgänge von Kerbela, nämlich das Martyrium von Husain und seiner Gefährten.317 Im Rahmen der Passionsspiele haben sich auch spezielle szenische Darstellungen entwickelt, die nur von Frauen für Frauen ausgeführt wurden.318

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Beziehungen zwischen Iran und Indien Green hat darauf aufmerksam gemacht, dass in der Darstellung der Geschichte des Iran zur Zeit der Qadscharen vor allem die Auseinandersetzung mit Russland bzw. den Osmanen vorherrsche, übersehen werde hierbei, dass durch das ganze 19. Jahrhundert ein reger religiöser, politischer und wirtschaftlicher Austausch mit Indien existierte.319 Für viele Iraner war, wie schon in früheren Jahrhunderten, Indien nicht nur ein Land für vielfältige Handelsinteressen, sondern auch begehrtes Ziel für literarisch Tätige, für Sufis und Zuflucht Suchende. Auf der anderen Seite gab es in Indien auch eine zwölferschiitische Minderheit, vor allem in Bombay, mit einer eigenen Moschee und einer Husayniyya für die Abhaltung der Aschurariten.320 Diese Schiiten in Bombay waren vor allem Händler. In Bombay gab es aber auch eine ismailitische Gemeinde, entstanden nach dem Umzug von Agha Khan von Calcutta nach Bombay. „Bombay´s Persian publishing industry“321 betraf vor allem das Zeitungswesen. In den 1850er Jahren wurde die erste persische Zeitung in Calcutta/Bombay gedruckt. Bombay war durch das 19. Jahrhundert auch zoroastrisches intellektuelles Zentrum für Publikationen.

Kunst und Architektur Insgesamt hatte in allen drei Imperien die koloniale Durchdringung auch massive Auswirkungen auf Kunst und Kultur.322 Durch die Einführung der neuen Techniken wie Buchdruck und Photographie „durchliefen Malerei und Buchkunst im 19. und 20. Jahrhundert einen Prozess tiefgreifender Veränderungen.“323 Der europäische Einfluss wird nicht nur in der Architektur sichtbar, bei den städtischen Verwaltungsbauten und Palästen, sondern vor allem auch in der Portraitmalerei und der Photographie. Gerade bei der Porträtmalerei gab es aufgrund des europäischen Einflusses eine Weiterentwicklung gegenüber den voraufgehenden Jahrhunderten, wo eher die idealisierte Form von Herrscherporträts, Höflingen, jungen Frauen oder Derwischen vorherrschend war. Ab dem 19.Jahrhundert entstehen nun „individualisierte Porträts im europäischen Stil.“ 324 Ausschlaggebend hierfür waren diplomatische Kontakte mit den europäischen Mächten. Analog zur europäischen Porträtmalerei ließen sich auch osmanische und qadscharische Herrscher von europäischen Künstlern ganzfigurig abbilden. Weil diese Porträts in öffentlichen Gebäuden zu sehen waren, erregten sie den religiös begründeten Protest bei der Bevölkerung, sodass diese Bilder oftmals entfernt werden mussten. Auch Standbilder und Reiterdenkmäler für Sultane und Schahs werden an öffentlichen Plätzen errichtet.325 Erst ein Rechtsentscheid (fatwa) des Modernisten Muhammad Abduh (gest. 1905), in dem er sich für die Erlaubnis der Bilder nach islamischen Recht aussprach, trug zur Beruhigung um den Bilderstreit bei. In den staatlichen Militärschulen wurde Malerei als Unterrichtsfach eingeführt. Es geht hierbei um das Erlernen von Kartographie und graphischen Techniken.326 Auch die Photographie hielt Einzug und damit Fotostudios, allerdings anfangs von Christen betrieben. Der osmanische und qadscharische Hof produzierten „umfang-

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reiche fotographische Dokumentationen. Die in Alben zusammengefassten Fotografien dienten repräsentativen, administrativen und Kontrollzwecken und wurden bewusst als Propagandainstrument eingesetzt.“327 Die Struktur der Hauptstädte wurde nach europäischem Vorbild ausgerichtet, Teile von Altstädten wurden abgerissen und durch moderne nach Europa ausgerichtete öffentliche Bauten, Ministerien, Postämter, Bahnhöfe, Schulen, Museen, mit neoklassizistischem bzw. neubarocken Stilelementen errichtet.328 „Das Ziel der städtebaulichen Umgestaltungsmaßnahmen bestand darin, diese traditionellen Strukturen aufzubrechen und eine durch Blickund Verkehrsachsen erfahrbare und damit auch kontrollierbare räumliche Organisation zu schaffen.“329Sackgassen mussten breit angelegten Straßen weichen. Kairo und Teheran wurden so nach dem europäischen Städtemodell modernisiert. Insgesamt zeigt sich eine Auseinandersetzung zwischen traditioneller und moderner Architektur. Schah Nasir ad-Din (1848–1896) hat das Stadtgebiet von Teheran erweitert und, angeregt durch seine Europareisen, auch in städtebaulicher Hinsicht zu einer Metropole umgestaltet.330 So entstehen in Ägypten im letzten Drittel des 19. Jahrhundert neben modernen Bauten auch solche „in einem hybriden neo-mamlukischen Stil, der europäische Konstruktionsprinzipien mit dekorativen Elementen verbindet, die aus der mamlukischen Architektur abgeleitet sind.“331 In Persien wird wiederum auf das archämenidische und sassanidische Bauerbe zurückgegriffen.332 In Istanbul finden sich an Bibliotheksbauten und Moscheen „maurische Motive.“ „Somit wurde der europäische Orientalismus, der die islamische Welt romantisierend verklärte, im Orient selbst aufgenommen.“333 Alle diese Bauten waren nur unter finanzieller Beteiligung von Geschäftsleuten bzw. in den Provinzen von Gouverneuren möglich.334

Anmerkungen 1. Wirtschaftliche und soziale Prozesse 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13

A. Rich, Wirtschaftsethik I. Göttingen 1984, 34–44. P. Koslowski, Prinzipien der Ethischen Ökonomie. Tübingen 1988, 72–80. F. Furger, Sozialethik und Ökonomik. Münster 1994, 33–45. F. Hengsbach, Wirtschaftsethik. Freiburg 1999, 28–34. M. Vogt, Malthus. In: LThK VI, Freiburg 2006, 1253f. K. Schmidt, Religion, Versklavung und Befreiung. Stuttgart 1978, 67–77. A. Gurland, Wirtschaft und Gesellschaft im Übergang zum Zeitalter der Industrie. In: G. Mann (Hg.), Propyläen-Weltgeschichte VIII, Berlin 1986, 283–285. A. Gurland, Wirtschaft und Gesellschaft, 285–293. P. Ulrich, Integrative Wirtschaftsethik. Berlin 1997, 45–55. A. Gurland, Wirtschaft und Gesellschaft, 290–298. A. Gurland, Wirtschaft und Gesellschaft, 300–306. J.M. Buchanan, Die Grenzen der Freiheit. Tübingen 1984, 129–141. P. Ulrich, Integrative Wirtschaftsethik, 33–40. F. Furger, Sozialethik und Ökonomie, 65–72. O. von Nell-Breuning, Wirtschaftsethik. Stuttgart 1992, 77–89. P. Koslowski, Prinzipien der Ethischen Ökonomie in Deutschland. München 1993, 99–110. A. Gurland, Wirtschaft und Gesellschaft, 286–294. F. Furger, Sozialethik und Ökonomie, 67–82. F. Furger, Sozialethik und Ökonomie, 67–88.

2. Dynamiken der philosophischen Ideen 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15

Deutsch von W. Alff. Frankfurt 1963. A. de Condorcet, Plan de declaration des droites naturels, civils et politiques des hommes. Œuvres XII, 417–422. W. Röd, Der Weg der Philosophie II. München 1996, 127–129. J. de Maistre, Über den Papst. Paris 1807, 66–87. R. de Chateaubraind, Geist des Christentums. Paris 1802, 78–92. C. de Saint-Simon, Das neue Christentum. Paris 1825, 34–52. J.G. Fichte, Reden an die deutsche Nation. Werke VII, 298f, 314f, 362. J.G. Fichte, Wissenschaftslehre. Werke X, 245ff, 98ff. J.G. Fichte, System der Rechtslehre II,3. Werke X, 583f. F.W.J. Schelling, Philosophische Untersuchungen über das Wesen der menschlichen Freiheit. Werke VII, 359ff. F.W.J. Schelling, Von der Weltseele. Werke I, 376f. Ders., Ideen zur Philosophie der Natur. Werke II, 47ff. F.W.J. Schelling, Philosophie der Religion. Werke VI, 28–30. M. Frank, Friedrich Wilhelm Joseph Schelling. In: O. Höffe (Hg.), Klassiker der Philosophie II, München 2008, 66–80. F.W.J. Schelling, Das Wesen der menschlichen Freiheit. Werke VII, 359ff. F.W.J. Schelling, Stuttgarter Privatvorlesung. Werke VII, 432ff. Ders., Philosophie der Offenbarung III. Werke XIV, 19–23. F.W.J. Schelling, Philosophie der Offenbarung I. Werke XIII, 7–10. W. Röd, Der Weg der Philosophie II, 228–240. M. Frank, F.W.J. Schelling, 66–80.

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Anmerkungen

16 G.W.F. Hegel, Phänomenologie des Geistes. Einleitung. Jubiläumsausgabe II, 67–70. W. Röd, Der Weg der Philosophie II, 245–250. L. Siep, G.W.F. Hegel. In: O. Höffe (Hg.), Klassiker der Philosophie II, 43–65. 17 G.W.F. Hegel, Vorlesungen über die Philosophie der Religion I. Jubiläumsausgabe XV, 20–25. 18 F.G.W. Hegel, Philosophie des Rechts. Vorrede. Jubiläumsausgabe VII, 27–30. Ders., System der Philosophie § 507. Jubiläumsausgabe X, 394–398. W. Röd, Der Weg der Philosophie II, 260–266. 19 G.W.F. Hegel, Vorlesung über die Geschichte der Philosophen I. Jubiläumsausgabe XVII, 35–40. W. Röd, Der Weg der Philosophie II, 260–272. L. Siep, G.W.F. Hegel 45–60. E. Topitsch, Gottwerdung und Revolution. Hamburg 1983, 55–67. 20 K.R. Popper, Die offene Gesellschaft und ihre Feinde I, 1966, 37–49. 21 A. Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung I, § 16. Werke II, 159ff. W. Röd, Der Weg der Philosophie II, 273–283. 22 A. Schopenhauer, Über die Grundlage der Moral § 43. Werke IV, 2, 195. 23 A. Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung II, 41. Werke III, 583ff. W. Röd, Der Weg der Philosophie II, 280–288. 24 L. Feuerbach, Das Wesen des Christentums VII. Ges. Werke V, 143–145. W. Röd, Der Weg der Philosophie II, 295–299. 25 L. Feuerbach, Zur Kritik der Hegelschen Philosophie. Ges. Werke IX, 61–64. Ders., Grundsätze zur Philosophie der Zukunft. Ges. Werke IX, 316–320. W. Röd, Der Weg der Philosophie II, 295–299. 26 K. Marx, Ökonomisch-philosophische Manuskripte. Marx-Engels-Werkausgabe. Berlin 1960ff, I, 587–590. M. Quante, Karl Marx. In: O. Höffe (Hg.), Klassiker der Philosophie II, 129–142. 27 K. Marx, Deutsche Ideologie I. Marx-Engels-Werkausgabe III, 70–75. Ders., Das Kapital I. MarxEngels-Werkausgabe XXV, 16–20. W. Röd, Der Weg der Philosophie II, 299–305. 28 E. Braun, Aufhebung der Philosophie. Marx und die Folgen. Stuttgart 1997, 69–81. 29 W. Röd, Der Weg der Philosophie II, 303–305. 30 F. Engels, Anti-Dühring I. Marx-Engels-Werkausgabe XX, 21–24. 31 M. Quante, Karl Marx, 135–143. 32 W. Röd, Der Weg der Philosophie II, 303–310. 33 A. Comte, Die Soziologie. Deutsch von F. Blaschke. Stuttgart 1974, 68–74. 34 A. Comte, Reden über den Geist des Positivismus. Deutsch von I. Fetscher. Hamburg 1956, 37–44. W. Röd, der Weg der Philosophie II, 111–119. 35 J.St. Mill, Priciples of Political Economy I. London 1848, I, 4, §1, 67. Ders., System der deduktiven und der induktiven Logik. Ges. Werke III, 4ff. 36 J.St. Mill, Betrachtungen über die Repräsentationsregierung. Ges. Werke VIII, 1–7. D. Birnbacher, J.St. Mill. In: O. Höffe (Hg.), Klassiker der Philosophie II, 100–110. 37 W. Röd, Der Weg der Philosophie II, 322–324. 38 H. Spencer, First principles. London 1884, 119–130. W. Röd, Der Weg der Philosophie II, 325–328. J.H. Turner, Herbert Spencer. New York 1985, 34–44. 39 S. Kierkegaard, Philosophische Brocken. Werke X, 6–10, 133–140. 40 S. Kierkegaard, Die Krankheit zum Tode. Werke XXVI, 127–130. Ders., Philosophische Brocken. Werke X, 44–51. W. Röd, Der Weg der Philosophie II, 446–450. 41 F. Nietzsche, Die fröhliche Wissenschaft § 37. Werke III, 405–419. 42 F. Nietzsche, Götzendämmerung § 24. Werke VI, 127–130. Ders., Menschliches, Allzumenschliches I, §1. Werke II, 25–30. Ders, Die fröhliche Wissenschaft § 341. Werke III, 570–578. Also sprach Zarathustra III, § 2. Werke IV, 200–210. W. Röd, Der Weg der Philosophie II, 371–380. V. Gerhardt, Friedrich Nietzsche. In: O. Höffe (Hg.), Klassiker der Philosophie II, 143–156. 43 F. Nietzsche, Zur Genealogie der Moral. Vorrede § 5. Werke V, 252–254. Ders., Ecce Homo § 1. Werke VI, 335–340. Also sprach Zarathustra III, § 1. Werke IV, 200–211. W. Röd, Der Weg der Philosophie II, 280–284. 44 F. Nietzsche, Also sprach Zarathustra Vorrede § 3. Werke V, 14–20. W. Röd, Der Weg der Philosophie II, 280–285. V. Gerhardt, F. Nietzsche, 148–155. 45 W. Dilthey, Der Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften. Ges. Schriften VII, 151–155. W. Röd, Der Weg der Philosophie II, 385–388. 46 W. Röd, Der Weg der Philosophie II, 388–393.

Anmerkungen

245

47 H. Bergson, Materie und Gedächtnis. Frankfurt 1964, 56–60. Ders., Zeit und Freiheit. Meisenheim 1949, 65–72. 48 H. Bergson, Materie und Gedächtnis, 60–71. 49 Ch.S. Peirce, Die Festlegung einer Überzeugung. Schriften I, 310ff. Ders., Wie unsere Ideen zu klären sind. Schriften I, 334ff. 50 Ch.S. Peirce, Pragmatismus-Vorlesungen Nr. 2. Schriften II, 305–310. Ders., Überblick über den Pragmatismus. In: Schriften II, 475–480. W. Röd, Der Weg der Philosophie II, 508–512. 51 Ch.S. Peirce, Pragmatismus-Vorlesungen. In: Schriften II, 340–350. W. Röd, Der Weg der Philosophie II, 314–316. 52 W. James, Der Pragmatismus. Hamburg 1977, 73–85. Ders., Das pluralistische Universum. Darmstadt 1994, 38–45. Ders., The Meaning of Truth. New York 1968, 7–13. 53 W. James, The varieties of religious experience. London 1902, 34–45. W. Röd, Der Weg der Philosophie II, 516–520. 54 W. Röd, Der Weg der Philosophie II, 518–521. 55 W. James, The will to beliefe. In: Werke II, 7–12. 56 J. Dewey, The reconstruction of philosophy, 87–95.

3. Die großen Ideologien 1 A. de Condorcet, Esquisse. Œuvres VI, 13–20, XII, 651–671. 2 J. der Maistre, Über den Papst. 1817. Ders., De la souverainite. 1870. N. Brieskorn, Joseph de Maistre. In : LThK VI, Freibrug 2006, 1214. W. Röd, Der Weg der Philosophie II, 129f. 3 G. Schwaiger, Gregor XVI. In: LThK IV, Freiburg 2006, 1023ff. 4 M. Neumeyer, Chateaubriand. In: LThK II, Freiburg 2006, 1030f. 5 W. Frühwald, Novalis. In: LThK VII, Freiburg 2006, 937f. 6 O. Grönemann, Bonald. In: LThK II, Freiburg 2996, 570. H. Schwedt, Traditionalismus. In: LThK II, Freiburg 2006, 159f. 7 K.H. Menke, Gioberti. In: LThK IV, Freiburg 2006, 654. W. Röd, Der Weg der Philosophie II, 131f. 8 W. Röd, Der Weg der Philosophie II, 131f. 9 H. Denzinger/P. Hünermann, Kompendium der Glaubensbekenntnisse und kirchlichen Entscheidungen. Freiburg 1991, 758–767. 10 H. Denzinger/P. Hünermann, Kompendium der Glaubensbekenntnisse, 800–808. 11 A. Anzenbacher, Sozialismus. In: LThK IX, Freiburg 2006, 781–783. 12 W. Röd, Der Weg der Philosophie II, 133ff. 13 W. Röd, Der Weg der Philosophie II, 134. 14 A. Anzenbacher, Sozialismus, 781–783. 15 W. Röd, Der Weg der Philosophie II, 135f. 16 A. Anzenbacher, Sozialismus, 781–783. 17 H.J. Vogel, Sozialdemokratie. In: LThK IX. Freiburg 2006, 751–753. 18 W. Röd, Der Weg der Philosophie II, 134–140. 19 A. Anzenbacher, Sozialismus, 781ff. 20 A. Anzenbacher, Sozialismus, 781ff. 21 Z.B. W. Blake, F. Flaxman, H. Füßli, H. Müller. 22 R. Benz, Die romantische Geistesbewegung. In: G. Mann (Hg.), Propyläen-Weltgeschichte VIII, Berlin 1986, 196–205. 23 G. Seubold, Romantik. In: LThK VIII, Freiburg 2006, 1268–1270. 24 R. Benz, Die romantische Geistesbewegung 200–209. G. Seubold, Romantik 1268–1270. 25 G. Seubold, Romantik 1268ff. 26 R. Benz, Die romantische Geistesbewegung 220–233. G. Seubold, Romantik 1268ff. 27 G. Seubold, Romantik 1268ff. 28 A. Anzenbacher, Sozialismus, 781f. M. Lutz-Bachmann, Marxismus. In: LThK VI. Freiburg 2006, 1451f. 29 A. Anzenbacher, Sozialismus, 781f.

246

Anmerkungen

30 K. Marx, Deutsche Ideologie I. Marx-Engels-Werke III, 70–73. Ders., Das Kapital I. Marx-EngelsWerke XXIII, 16–22. 31 F. Engels, Anti-Dühring VI. Marx-Engels-Werke XX, 55–60. 32 A. Anzenbacher, Sozialismus, 781ff. 33 J.G. Fichte, Reden an die deutsche Nation, Nr. 3. Werke VII, 314–317. 34 J.G. Fichte, Reden an die deutsche Nation, Nr. 7. Werke VII, 362–366. 35 P. Alter, Nationalismus. Frankfurt 1985, 120–134. 36 P. Alter, Nationalismus. Frankfurt 1985, 56–69. 37 M. Greschat, Protestantismus in Europa. Darmstadt 2005, 100–118. P. Alter, Nationalismus 124– 143. 38 A. Grabner-Haider, Hitlers mythische Religion, 117–125 P. Alter, Nationalismus, 89–102. 39 M. Greschat. Protestatntismus in Europa, 116–124. W. Wette, Militarismus in Deutschland. Freiburg 2008, 35–48. 40 P. Alter, Nationalismus, 129–144. 41 P. Alter, Nationalismus, 125ff. 42 W. Wette, Militarismus in Deutschland, 65–85. M. Greschat, Protestantismus in Europa, 120–128. 43 P. Alter, Nationalismus, 128ff. 44 W. Wette, Militarismus in Deutschland, 45–53. 45 E. Weinzierl, Antijudaismus. In: LThK I. Freiburg 2006, 750–754. 46 M. Greschat, Vom Vormärz zur deutschen Einheit. In: J. Gadille (Hg.); Die Geschichte des Christentums XI. Freiburg 1997, 309–323. 47 E. Weinzierl, Antijudaismus, 752–754. 48 F. Berardinelli, Della questione Giudaica. In: Civilta cattolica (1890) 5–20. 49 F. Berardinelli, Della questione Giudaica, 400–407. 50 E. Weinzierl, Antijudaismus, 750–754. 51 A. Grabner-Haider, Hitlers mythische Religion, 107–116. 52 E. Weinzierl, Antijudaismus, 750ff. 53 E. Weinzierl, Antijudaismus, 750ff. 54 A. de Gobineau. Die Ungleichheit der Menschenrassen. Berlin 1935, 153–160. 55 M. Vogt, Sozialdarwinismus. In: LThK IX, Freiburg 2006, 751. 56 L. Gumplowicz, Der Rassenkampf, 1883, 22–36. Ders., Die soziologische Staatslehre. Graz 1892, 15–29. G. Ratzenhofer, Die soziologische Erkenntnis. Leipzig 1898, 265–272. 57 L. Woltmann, Politische Anthropologie. Eisenach 1903, 191–210. 58 H.St. Chamberlain, Die Grundlagen des 19. Jahrhunderts I. München 1900, 191–210. 59 H.St. Chamberlain, Die arische Weltanschauung. München 1912, 87–99. 60 Papst Martin V. im Jahr 1423. Vgl. R. Fischer-Wollpert, Lexikon der Päpste. Wiesbaden 2004, 101ff. U. Zelinka, Imperialismus. In: LThK V. Freiburg 2006, 435f. 61 M. Greschat, Protestantismus in Europa, 120–130. 62 A. Grabner-Haider, Hitlers mythische Religion 117–120. W. Wette, Militarismus in Deutschland, 35–48. 63 W. Wette, Militarismus in Deutschland, 65–77. 64 M. Greschat, Protestantismus in Europa, 124–133. W. Wette, Militarismus in Deutschland, 67–78. A. Grabner-Haider, Hitlers mythische Religion, 77–87. 65 W. Wette, Militarismus in Deutschland, 45–68.

4. Protestantische Lebenswelten 1 P. Greschat, Protestantismus in Europa, 104–110. F.W. Graf, Protestantismus. Geschichte und Gegenwart. München 2006, 90–97. 2 W. Röd, Der Weg der Philosophie II, 183–200. 3 V. Barrie, England. In: B. Plongeron (Hg.), Die Geschichte des Christentums X, 690–696. 4 F.G. Dreyfus, Nationalismen, Religion und Kultur. In: B. Plongeron (Hg.), Die Geschichte des Christentums X, 710–720.

Anmerkungen 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23 24 25 26 27 28 29 30 31 32 33 34 35 36 37 38 39 40 41 42 43 44

247

F.G. Dreyfus, Nationalismen, Religion und Kultur, 715–721. F.G. Dreyfus, Nationalismen, Religion und Kultur, 720–725. M. Greschat, Protestantismus in Europa, 120–130. G. Meckenstock, Schleiermacher. In: LThK IX, Freiburg 2006 158f. G. Wenz, Friedrich Daniel Schleiermacher. In: P. Neuner/G. Wenz (Hg.), Theologen des 19. Jahrhunderts. Darmstadt 2010, 15–23. G. Wenz, Friedrich Daniel Schleiermacher, 25–37. A. Envreve, Das protestantische Denken. In: J. Gadille/J.M. Mayeur (Hg.), Die Geschichte des Christentums XI, Freiburg 1997, 41–66. B. Plongeron, Das Christentum als gesellschaftlicher Messianismus. In: B. Plongeron (Hg.), Die Geschichte des Christentums X, 830–834. B. Plongeron, Das Christentum als gesellschaftlicher Messianismus 830–835. M. Greschat, Protestantismus in Europa, 84–98. M. Greschat, Protestantismus in Europa, 126–132. B. Plongeron, Das Christentum als gesellschaftlicher Messianismus, 833–836. A. Encreve, Das protestantische Denken, 70–76. F.W. Graf, Der Protestantismus, 61–65. A. Encreve, Das protestantische Denken, 87–82. M. Greschat, Protestantismus in Europa, 98–103. F.W. Graf, Der Protestantismus, 61–65. A. Encreve, Das protestantische Denken, 78–82. A. Encreve, Das protestantische Denken, 80–85. A. Encreve, Das protestantische Denken, 85–90. F.W. Graf, Der Protestantismus, 73–79. A. Encreve, Das protestantische Denken, 90–96. A. Encreve, Das protestantische Denken, 95–99. F.W. Graf, Der Protestantismus, 80–85. A. Encreve, Das protestantische Denken, 100–104. U. Köpf, Baur. In: LThK II, Freiburg 2006, 95ff. A. Encreve, Das protestantische Denken 352–366. F.W. Graf, Der Protestantismus 85–90. A. Encreve, Das protestantische Denken 370–385. F.W. Graf, Der Protestantismus 95–110. A. Encreve, Das protestantische Denken 390–410. M. Greschat, Protestantismus in Europa 102–110. Ders. Der Protestantismus. In: J. Gadille/J.M. Mayeur (Hg.), Die Geschichte des Christentums XI, 309–311. M. Greschat, Der Protestantismus, 310–312. M. Greschat, Der Protestantismus, 310–312. P. Meinhold, Kirchengeschichte in Schwerpunkten, 211–213. F.W. Graf, Der Protestantismus, 70–79. P. Meinhold, Kirchengeschichte in Schwerpunkten, 219–221. M. Greschat, Der Protestantismus, 312–314. P. Meinhold, Kirchengeschichte in Schwerpunkten, 214–222. M. Greschat, Der Protestantismus, 316–318. M. Greschat, Der Protestantismus, 316–319. F.W. Graf, Der Protestantismus, 73–80. M. Greschat, Der Protestantismus, 318–321. F.W. Graf, Der Protestantismus, 74–79. M. Greschat, Der Protestantismus, 320–324. P. Meinhold, Kirchengeschichte in Schwerpunkten, 218–228. M. Greschat, Der Protestantismus, 324–326. F.W. Graf, Der Protestantismus, 65–72. M. Greschat, Der deutsche Protestantismus im Kaiserreich. In: J. Gadille/J.M. Mayeur (Hg.), Die Geschichte des Christentums XI, Freiburg 1997, 656–659. F.W. Graf, Der Protestantismus, 90–97. M. Greschat, Der deutsche Protestantismus im Kaiserreich, 660–678. J. Gadille, Die britischen Inseln. In: J. Gadille/J.M. Mayeur (Hg.), Die Geschichte des Christentums XI, 221–238. J. Gadille, Die britischen Inseln, 560–574. Ch. Chanel, Nordeuropa. In: J. Gadille/J.M. Mayeur (Hg.), Die Geschichte des Christentums XI, 582–588.

248

Anmerkungen

45 J. Gadille/J.F. Zorn, Missionstheologien. In: J. Gadille/J.M. Mayeur (Hg.), Die Geschichte des Christentums XI, 412–422. 46 F.W. Graf, Der Protestantismus, 45–48. 47 R. Ladous, Nordamerika. In: J. Gadille/J.M. Mayeur (Hg.), Die Geschichte des Christentums XI, 830–845. 48 R. Ladous, Nordamerika, 840–849. 49 F.W. Graf, Der Protestantismus, 48–54. 50 R. Ladous, Nordamerika, 855–867. 51 F.W. Graf, Der Protestantismus, 46–52. 52 R. Ladous, Nordamerika, 870–889. 53 R. Ladous, Nordamerika, 898–908. 54 R. Ladous, Nordamerika, 900–910.

5. Katholische Lebenswelten 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16

17 18 19 20 21 22 23 24 25

B. Plongeron, Von Napoleon zu Metternich. In: Ders. (Hg.), Die Geschichte des Christentums X. Freiburg 2000. 622–631. B. Plongeron, Von Napoleon zu Metternich, 631–644. R. Fischer-Wollpert, Lexikon der Päpste, 128–130. R. Fischer-Wollpert, Lexikon der Päpste, 128–130. B. Plongeron, Von Napoleon zu Metternich, 670–676. J. Gadille/J.M. Mayeur, Politische Freiheiten. In: Dies. (Hg.), Die Geschichte des Christentums XI, Freiburg 1997, 10–22. J. Gadille, Lehre und Spiritualität innerhalb der katholischen Kirche. In: J. Gadille/J.M. Mayeur, Die Geschichte des Christentums XI, 106–110. A. Encreve/J. Gadille, Frankreich. In: J. Gadille/J.M. Mayeur (Hg.), Die Geschichte des Christentums XI, 167–178. J. Gadille, Theologie und Spiritualität in der katholischen Welt. In: J. Gadille/J.M. Mayeur (Hg.), Die Geschichte des Christentums XI, 330–344. V. Conzemius, Deutschland. In: J. Gadille/J.M. Mayer (Hg.), Die Geschichte des Christentums XI, 294–306. V. Conzemius, Deutschland, 306–320. J. Gadille, Modernismus und Religionswissenschaften. In: J. Gadille/J.M. Mayeur (Hg.), Die Geschichte des Christentums XI, 425–431. J. Gadille, Modernismus und Religionswissenschaften 438–444. J. Gadille, Modernismus und Religionswissenschaften 450–466. V. Conzemius, Deutschland. In: J. Gadille/J.M. Mayeur (Hg.), Die Geschichte des Christentums XI, 642–655. O. Weiss, Kulturkatholizismus. Regensburg 2014, 29–44. P. Meinhold, Kirchengeschichte in Schwerpunkten 222–230. H. Albert, Zur Kritik der reinen Religion. In: K. Salamun (Hg.), Aufklärungsperspektiven. Tübingen 1989, 99–116. E.W. Orth, Ideologie und Weltanschauung. A.s.O. 133–149 K. Acham, Vernunftanspruch und Erwartungsdruck. Stuttgart 1989, 27–55. O, Weinberger, Vernunft und Moral auf Abwegen. In: M.W. Fischer/O. Weinberger (Hg.), Entartete Ideale. Graz 1992, 169–172. H. Denzinger/P. Hünermann, Kompendium der Glaubensbekenntnisse 758–767. H. Denzinger/P. Hünermann, Kompendium der Glaubensbekenntnisse 758–767. H. Denzinger/P. Hünermann, Kompensium der Glaubensbekenntnisse 770–780. H. Denzinger/P. Hünermann, Kompendium der Glaubensbekenntnisse 780–796. R. FischerWollpert, Lexikon der Päpste 132–135. H. Denzinger/P. Hünermann, Kompendium der Glaubensbekenntnisse 780–796. Vgl. H. Denzinger/ P. Hünermann (Hg.), Kompendium der Glaubensbekenntnisse 796–810. Vgl. H. Denzinger/P. Hünermann (Hg.), Kompendium der Glaubensbekenntnisse 810–830. Vgl. H. Denzinger/P. Hünermann (Hg.), Kompendium der Glaubensbekenntnisse 830–840. H. Denzinger/P. Hünermann, Kompendium der Glaubensbekenntnisse 870–883. R. FischerWollpert, Lexikon der Päpste 133–135.

Anmerkungen

249

26 H. Denzinger/P. Hünermann, Kompendium der Glaubensbekenntnisse 870–883. R. FischerWollpert, Lexikon der Päpste 133–135. 27 A. Grabner-Haider, Das Laienchristentum. Von den Anfängen bis zur Gegenwart. Darmstadt 2007, 74–83. 28 P. Walter, Neuscholastik. In: LThK VII, Freiburg 2006, 779–782. 29 A. Landersdorfer, Albert Weiß. In: LThK X. Freiburg 2006, 1046. K. Hausberger, Bischof von Keppler. In: H. Wolf (Hg.), Antimodernismus und Modernismus in der katholischen Kirche. Paderborn 1998, 213–217. 30 H. Schwedt, La Mennais. In: LThK VI. Freiburg 2006, 567–569. 31 H. Schwedt, Hermes. In: LThK V. Freiburg 2006, 10ff. 32 M. Weitlauff, Sailer. In: LThK VIII. Freiburg 2006, 1431ff. 33 A.B. Kustermann, Drey. In: LThK III, Freiburg 2006, 373f. 34 H. Wagner, Möhler. In: LThK VII, Freiburg 2006, 374f. P. Neuner/G. Wenz (Hg.), Theologen des 19. Jahrhunderts. Darmstadt 2010, 59–74. W. Fürst, Hirscher. In: LThK, V, Freiburg 2007, 153f. 35 W. Fürst, Hirscher. In: LThK V. Freiburg 2006, 153f. 36 R. Lackner, Frohschammer. In: LThK IV, Freiburg 2006, 164. 37 R. Lackner, Frohschammer. In: LThK IV. Freiburg 2006, 164. 38 V. Conzemius, Döllinger. In: LThK III. Freiburg 2006, 306f. P. Neuner, Ignaz von Döllinger. In: P. Neuner/G. Wenz (Hg.), Theologen des 19. Jahrhunderts 75–93. 39 V. Berning, Schell. In: LThK IX. Freiburg 2006, 122f. 40 P. Walter. Scheeben. In: LThK IX, Freiburg 2006, 116f. W. Müller, Matthias Joseph Scheeben. In: P. Neuner/G. Wenz (Hg.), Theologen des 19. Jahrhunderts 204–218. 41 G. Biemer, Newman. In: LThK VII, Freiburg 2006, 795–797. 42 A. Grabner-Haider, Hitlers mythische Religion 105–107. O. Weiss, Kulturkatholizismus, 29–44. 43 J.D. Durand, Italien zwischen Erneuerung und nationaler Frage. In: J. Gadille/J.M. Mayeur (Hg.), Die Geschichte des Christentums XI, 257–265. 44 J. Gadille, Höhepunkte des Antiklerikalismus. In: J. Gadille/J.M. Mayeur (Hg.), Die Geschichte des Christentums XI, 447–450. 45 A.M. Ferreira, Die iberische Halbinsel. In: J. Gadille/J.M. Mayeur (Hg.), Die Geschichte des Christentums XI, 274–285. 46 A.M. Ferreira, Die iberische Halbinsel 285–294. 47 A.M. Ferreira, Spanien und Portugal. In: J. Gadille/J.M. Mayeur (Hg.), Die Geschichte des Christentums XI, 621–641. 48 J.M. Mayeur, Lateinamerika. In: J. Gadille/J.M. Mayeur (Hg.), Die Geschichte des Christentums XI, 918–940. 49 J.A. Mayeur, Lateinamerika 950–960. 50 J. Gadille/J.F. Zorn, Afrika. In: J. Gadille/J.M. Mayeur (Hg.), Die Geschichte des Christentums XI, 974–994. 51 A. Grabner-Haider, Das Laienchristentum, 147–161. 52 A. Grabner-Haider, Das Laienchristentum, 68–82.

6. Das östliche Christentum 1

C. Simon, Die russisch-orthodoxe Kirche. In: J. Gadille/J.M. Mayeur (Hg.), Die Geschichte des Christentums XI, 714–716. 2 G. Larentzakis, Die orthodoxe Kirche. Graz 2002, 34–47. G. Simon, Die russisch-orthodoxe Kirche, 716ff. 3 C. Simon, Die russisch-orthodoxe Kirche, 716–719. 4 G. Larentzakis, Die orthodoxe Kirche, 45–59. 5 C. Simon, Die russisch-orthodoxe Kirche, 715–720. 6 C. Simon, Die russisch-orthodoxe Kirche, 720–723. Th. Bremer, Orthodoxe Kirchen. In: LThK VII, Freiburg 2006, 1144–1150. 7 G. Larentzakis Die orthodoxe Kirche 129–142. K.C. Felmy, Theologie der orthodoxen Kirchen. In: LThK VIII, Freiburg 2006, 1148–1152.

250

Anmerkungen

8 9 10 11 12 13 14 15 16 17

Th. Bremer, Orthodoxe Kirchen, 1144–1148 C. Simon, Die russisch-orthodoxe Kirche 730–737. K.C. Felmy, Theologie der orthodoxen Kirchen 1148–1152. G. Lemopoulos, Orthodoxe Missionen. In: LThK VII, Freiburg 2006, 1152–1156. C. Simon, Die russisch-orthodoxe Kirche, 750–759. G. Larentzakis, Die orthodoxe Kirche, 56–71. G. Larentzakis, Die orthodoxe Kirche, 67–82. C. Simon, Die russisch-orthodoxe Kirche, 755–765. K.C.Felmy, Theologie der orthodoxen Kirchen, 1148–1152. C. Simon, Die russisch-orthodoxe Kirche, 757–762. G. Lemopoulos, Orthodoxe Missionen, 1152–1156. C. Simon, Die russisch-orthodoxe Kirche, 757–772.

1

P. Meinhold, Kirchengeschichte in Schwerpunkten, 195–214. H. Kinder/W. Hilgemann/M. Hergt, Atlas der Weltgeschichte. München 2000, 635–640. H. Kinder/W. Hilgemann/M. Hergt, Atlas der Weltgeschichte. München 2000, 303–305. J.O. Boudon, Napoleon. In: LThK VII, Freiburg 2006, 635–637. H. Kinder/W. Hilgemann/M. Hergt, Atlas der Weltgeschichte, 307–311. G. Mann, Politische Entwicklungen Europas und Amerikas. In: G. Mann (Hg.), Propyläen Weltgeschichte VIII, Berlin 1988, 371–380. J.O. Boudon, Napoleon 635–637. H. Kinder/W. Hilgemann/M. Hergt, Atlas der Weltgeschichte, 307–311. G. Mann, Politische Entwicklungen, 380–392. H. Kinder/W. Hilgemann/M. Hergt, Atlas der Weltgeschichte 310–318. G. Mann, Politische Entwicklungen, 400–424. G. Mann, Politische Entwicklungen, 367–382. G. Mann, Politische Entwicklungen, 390–411. H. Kinder/W. Hilgemann/M. Hergt, Atlas der Weltgeschichte 318–322. G. Mann, Politische Entwicklungen, 382–386. G. Mann, Politische Entwicklungen, 380–386. H. Kinder/W. Hilgemann/M. Hergt, Atlas der Weltgeschichte, 322–324. G. Mann, Politische Entwicklungen, 455–468. H. Kinder/W. Hilgemann/M. Hergt, Atlas der Weltgeschichte, 380–388. G. Mann, Politische Entwicklungen, 435–449. M. Albert, Frankreich. In: LThK IV. Freiburg 2006, 11–27. H. Kinder/W. Hilgemann/M. Hergt, Atlas der Weltgeschichte, 327–331. G. Mann, Politische Entwicklungen, 482–492. M. Albert, Frankreich, 13–27. H. Kinder/W. Hilgemann/M. Hergt, Atlas der Weltgeschichte, 330–335. E. Gatz, Deutschland. In: LThK III. Freiburg 2006, 136–153. H. Kinder/W. Hilgemann/M. Hergt, Atlas der Weltgeschichte, 335–338. G. Mann, Politische Entwicklungen, 492–503. H. Kinder/W. Hilgemann/M. Hergt, Atlas der Weltgeschichte, 336–340. E. Gatz, Deutschland, 140–153. G. Mann, Politische Entwicklung, 470–492. H. Kinder/W. Hilgemann/M. Hergt, Atlas der Weltgeschichte, 339–341. H. Kinder/W. Hilgemann/M. Hergt, Atlas der Weltgeschichte, 339–341. A. Grabner-Haider, Hitlers mythische Religion, 107–117. H. Kinder/W. Hilgemann/M. Hergt, Atlas der Weltgeschichte, 344ff. G. Mann, Politische Entwicklung, 503–506. H. Kinder/W. Hilgemann/M. Hergt, Atlas der Weltgeschichte, 344ff. G. Mann, Politische Entwicklung, 500–509. H. Kinder/W. Hilgemann/M. Hergt, Atlas der Weltgeschichte, 344–349.

7. Politische Entwicklungen 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23 24 25 26 27 28 29 30 31

Anmerkungen

251

32 G. Alberigo, Italien. In: LThK V. Freiburg 2006, 655–680. 33 H. Kinder/W. Hilgemann/M. Hergt, Atlas der Weltgeschichte, 351f. G. Mann, Politische Entwicklung, 534–554. 34 G. Alberigo, Italien, 680–693. G. Mann, Politische Entwicklung, 526–539. 35 E. Gatz, Deutschland, 140–153. 36 G. Mann, Politische Entwicklung, 554–571. E. Gatz, Deutschland, 144–153. 37 E. Gatz, Deutschland, 135–151. 38 P. Leisching, Österreich. In: LThK VII, Freiburg 2006, 1182–1190. 39 H. Kinder/W. Hilgemann/M. Hergt, Atlas der Weltgeschichte, 357f. G. Mann, Politische Entwicklung, 562–577. 40 P. Leisching, Österreich, 1182–1190. 41 G. Mann, Politische Entwicklung, 566–582. 42 G. Larentzakis, Die orthodoxe Kirche, 128–139. G. Mann, Politische Entwicklungen, 575–580. 43 H. Kinder/W. Hilgemann/M. Hergt, Atlas der Weltgeschichte, 359ff. 44 M. Albert, Frankreich, 12–27. 45 H. Kinder/W. Hilgemann/M. Hergt, Atlas der Weltgeschichte, 383–385. 46 G. Mann, Politische Entwicklung, 567–577. 47 D. Bradley, England. In: LThK III. Freiburg 2006, 661–672. 48 H. Kinder/W. Hilgemann/M. Hergt, Atlas der Weltgeschichte, 380–383. 49 E. Gatz, Deutschland, 135–150. 50 H. Kinder/W. Hilgemann/M. Hergt, Atlas der Weltgeschichte, 380–383. G. Mann, Politische Entwicklung, 575–582. 51 W. Wette, Militarismus in Deutschland. Frankfurt 2008, 35–60.

8. Naturwissenschaften und Technik 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23

W. Gerlach, Fortschritte der Naturwissenschaft. In: G. Mann (Hg.), Propyläen Weltgeschichte VIII, Berlin 1986, 240–247. K. Mainzer, Naturwissenschaften. In: LThK VII. Freiburg 2006, 698–701. W. Gerlach, Fortschritte der Naturwissenschaft, 260–276. F. Krafft, Die wichtigsten Naturwissenschaftler im Porträt. Wiesbaden 2007, 139–146. K. Mainzer, Naturwissenschaften 698–701. F. Krafft, Die wichtigsten Naturwissenschaftler, 154–168. C.F. von Weizsäcker, Zum Weltbild der Physik. Stuttgart 1990, 46–62. K. Mainzer, Naturwissenschaften, 698–701. F. Krafft, Die wichtigsten Naturwissenschaftler 183–203. C.F. von Weizsäcker, Die Einheit der Natur. München 1995, 138–145. K. Mainzer, Naturwissenschaften, 698–702. F. Krafft, Die wichtigsten Naturwissenschaftler, 210–224. F. Krafft, Die wichtigsten Naturwissenschaftler, 221–245. C.F. von Weizsäcker, Zum Weltbild der Physik, 144–158. A. Labisch, Medizin. In: LThK VII, Freiburg 2006, 54–58. F. Krafft, Die wichtigsten Naturwissenschaftler, 188–196. E.L. Winnacker. Am Faden des Lebens. München 1993, 66–79. A. Labisch, Medizin, 54–58. G. Rager, Medizin. LThK VII. Freiburg 2006, 58f. K.P. Jankrift. Die großen Ärzte im Porträt. Wiesbaden 2007, 109–149. K. Mainzer, Naturwissenschaften, 698–701. F. Krafft, Die bedeutendsten Astronomen. Wiesbaden 2007, 184–204. K. Mainzer, Naturwissenschaften, 698–701. St. Fröba/A. Wassermann, Die bedeutendsten Mathematiker. Wiesbaden 2007, 92–116. St. Fröba/A. Wassermann, Die bedeutendsten Mathematiker, 124–145. St. Fröba/A. Wassermann, Die bedeutendsten Mathematiker, 144–164. St. Fröba/A. Wassermann, Die bedeutendsten Mathematiker, 166–178.

252

Anmerkungen

9. Literatur und Dichtkunst 1 D. Naumann, Populäre Literatur und literarisches Leben. In: E. Wischer (Hg.), Geschichte der Literatur V. Berlin 1988, 166–180. 2 J. Thiele, Die großen deutschen Dichter und Schriftsteller. Wiesbaden 2007, 48–52. W. Frühwald, Deutsche Klassiker in der Literatur. In: LThK VI, Freiburg 2006, 115f. 3 G. Seubold, Romantik. In: LThK VIII, Freiburg 2006, 1268–1270. 4 Ch. Hubig, Reflexion, Rückzug und Entwurf. In: E. Wischer (Hg.), Geschichte der Literatur V, 50–57. 5 F. Apel, Wandlungen des Romantischen. In: E. Wischer (Hg.), Geschichte der Literatur V, 70–85. 6 Karl Liebknecht in Dresden 1872. 7 F. Mehring, Ästhetische Streifzüge, 1899. 8 Der Schlingel, 1870; Die Gans, 1870. 9 B. Zimmermann, Auf der Suche nach einer literarischen Identität. In: E. Wischer (Hg.), Geschichte der Literatur V, 92–117. 10 W. Karrer, Pressewesen, Karikatur und Photographie. In: E. Wischer (Hg.), Geschichte der Literatur V, 118–139. 11 K. Riha, Politische Lyrik. In: E. Wischer (Hg.), Geschichte der Literatur V, 140–165. 12 G. Bollenbeck, Der Roman als Gesellschaftspanorama. In: E. Wischer (Hg.), Geschichte der Literatur V, 166–193. 13 D. Naumann, Populäre Literatur und literarisches Leben. In: E. Wischer (Hg.), Geschichte der Literatur V, 535–558. 14 J.K. Huysman, La-Bas, 1891. 15 J.M. Fischer, Decadence. In: E. Wischer (Hg.), Geschichte der Literatur V, 559–581. 16 J. Thiele, Die großen deutschen Dichter, 60–88. 17 J. Thiele, Die großen deutschen Dichter, 98–129. 18 J. Thiele, Die großen deutschen Dichter, 130–147. 19 K. Maier, Die berühmtesten Dichter und Schriftsteller Europas. Wiesbaden 2006, 66–72. 20 G. Gerhardi, Realismus und Naturalismus in Frankreich. In: E. Wischer (Hg.), Geschichte der Literatur V, 194–220. K. Maier, Die berühmtesten Dichter, 78ff. 21 G. Gerhardi, Realismus und Naturalismus, 200–219. K. Maier, Die berühmtesten Dichter, 88ff; 101ff. 22 K. Maier, Die berühmtesten Dichter, 107ff; 118ff. 23 K. Maier, Die berühmtesten Dichter, 124–130. G. Gerhardi, Realismus und Naturalismus, 202–217. 24 Ch. Wehr, Paul Verlaine. In: LThK X, 691. K. Maier, die berühmtesten Dichter, 130ff; 141ff. 25 L. Fontanella, Costumbrismo in der spanisch-sprachigen Literatur. In: E. Wischer (Hg.), Geschichte der Literatur V, 335–346. 26 K. Maier, Die berühmtesten Dichter, 57–63. 27 K. Maier, Die berühmtesten Dichter, 72–78. 28 S.H. Rossel, Skandinavische Literatur. In: E. Wischer (Hg.), Geschichte der Literatur V, 279–302. 29 K. Maier, Die berühmtesten Dichter, 91ff; 95ff. 30 K. Maier, Die berühmtesten Dichter, 111ff; 136ff. S.H. Rossel, Skandinavische Literatur, 285–299. 31 U. Schneider, Soziale Realität in der englischen Literatur. In: E. Wischer (Hg.), Geschichte der Literatur V, 223–247. 32 A. Flaker, Russischer Realismus. In: E. Wischer (Hg.), Geschichte der Literatur V, 347–365. K. Maier, Die berühmtesten Dichter 82ff; 93ff. 33 A. Flaker, Russischer Realismus, 350–370. K. Maier, Die berühmtesten Dichter, 104–107. 34 H. Markiewicz, Positivismus und Junges Polen. In: E. Wischer (Hg.), Geschichte der Literatur V, 371–390. K. Maier, Die berühmtesten Dichter, 114ff; 134ff. 35 A. Flaker, Die serbische und die kroatische Literatur. In: E. Wischer (Hg.), Geschichte der Literatur V, 391–412. 36 A. Flaker, Die serbische und kroatische Literatur, 399–410.

Anmerkungen

253

10. Malerei, Baukunst und Musik 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23 24 25 26 27 28 29 30 31 32 33 34 35

J. Pijoan, Die Malerei der Romantik. In: Ders. (Hg.), Kunstgeschichte der Welt IX. Lausanne 1979, 179–186. J. Pijoan, Die Malerei der Romantik, 179–194. Das Ende der romantischen Malerei in England und die Präraffaeliten. In: J. Pijoan (Hg.) Kunstgeschichte der Welt IX, 197–206. J. Krüger, Romantik. In: LThK VIII, Freiburg 2006, 1273f. Das Ende der Romantik und der französische Realismus. In: J. Pijoan (Hg.), Kunstgeschichte der Welt IX, 209–230. M.O. Daydi, Edouard Manet. In: J. Pijoan (Hg.), Kunstgeschichte der Welt IX, 231–254. Der Impressionismus. In: J. Pijoan (Hg.), Kunstgeschichte der Welt X. Lausanne 1979, 9–34. J. Kern, Impressionismus. In: LThK, V, 441. Van Gogh und Toulouse-Lautrec. In: J. Pijoan (Hg.), Kunstgeschichte der Welt X, 57–76. R. Cogmat, Gauguin. In: J. Pijoan (Hg.), Kunstgeschichte der Welt X, 77–90. P. Courthion, Der Symbolismus und die Nabis. In: J. Pijoan (Hg.), Kunstgeschichte der Welt X, 91–111. M. Ragon, Die industrielle Revolution und ihre Architektur. In: J. Pijoan (Hg.), Kunstgeschichte der Welt X, 115–120. M. Ragon, Die industrielle Revolution, 115–120. M. Ragon, Die industrielle Revolution, 116–120. M. Ragon, Die industrielle Revolution, 116–121. H. Wissmann, Amerika-Kulturgeschichte. In: LThK I, Freiburg 2006. 501–503. M. Ragon, Die industrielle Revolution, 120–134. A. Cirici, Der Jugendstil. In: J. Pijoan (Hg.), Kunstgeschichte der Welt X, 135–149. P.P. Kapsar, Die wichtigsten Musiker im Porträt. Wiesbaden 2007, 92–94. G. Massenker, Carl Maria von Weber. In: LThK X, 992. P.P. Kaspar, Die wichtigsten Musiker, 96–98. E. Seidel, Franz Schubert. In: LThK IX, 271. P.P. Kaspar, Die wichtigsten Musiker, 101–105. H. Schick, Felix Mendelsohn-Bartholdy. In: LThK VII, 98. P.P. Kaspar, Die wichtigsten Musiker, 113–115. R. Morsey, Robert Schuman. In: LThK IX, 303. P.P. Kaspar, Die wichtigsten Musiker, 118ff; 121ff. R. Kleinertz, Franz Liszt. In: LThK VI, 954. A. Nowak, Richard Wagner. In: LThK X, 921. P.P. Kaspar, Die wichtigsten Musiker, 125ff. P.P. Kaspar, Die wichtigsten Musiker, 136ff; 140ff. H. Schick, Johannes Brahms. In: LThK II, 628f. A. Gerstmeier, Anton Bruckner. In: LThK II, 710. P.P. Kaspar, Die wichtigsten Musiker, 99ff; 106. M. Marx-Weber, Giuseppe Verdi: In: LThK X, 61f. P.P. Kaspar, Die wichtigsten Musiker, 108; 129f. P.P. Kaspar, Die wichtigsten Musiker, 109f; 116f. G. Bernard-Krauss, Charles Gounot. In: LThK IV, 964. P.P. Kaspar, Die wichtigsten Musiker, 130f. P.P. Kaspar, Die wichtigsten Musiker, 132–134. P.P. Kaspar, Die wichtigsten Musiker, 145f; 147f; 154.I. Forst, Camille Saint-Saens. In: LThK VIII, 1434. P.P. Kaspar, Die wichtigsten Musiker, 112f; 148f; 157. G. Massenkeil, Iljitsch Tschaikowsky. In: LThK X, 277. P.P. Kaspar, Die wichtigsten Musiker, 135f; 152f. P.P. Kaspar, Die wichtigsten Musiker, 155f.

11. Jüdische Kulturwelten (Klaus S. Davidowicz) 1 2 3

Babylonischer Talmud, Traktat Chagigah 13a. Frank Stern,...dann bin ich um den Schlaf gebracht, ein Jahrtausend jüdisch-deutsche Kulturgeschichte, Berlin: Aufbau-Verlag 2002, 80. Zitiert nach: Stefan Rohrbacher, Michael Schmidt, Judenbilder, Hamburg: Rowohlt 1991, 263.

254 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23 24

25 26 27 28 29 30 31 32 33 34

Anmerkungen

Unterwegs in der Geschichte Deutschlands, hg. von Dorothee Meyer-Kahrweg, Hans Sarkowicz, München: Beck 2014, 162. Michael Brenner, Stefi Jersch-Wenzel, Michael A. Meyer (hgs.), Deutsch-Jüdische Geschichte in der Neuzeit, Band 2, München: Beck 1996, 59. Heinrich Heine an Karl August Varnhagen von Ense, 4. Februar 1830, in: Heine-Säkular-Ausgabe, Berlin: Akademie-Verlag 1970, Band 20, 385. Saul Ascher, Die Germanomanie, Skizze zu einem Zeitgemälde, Berlin: Achenwall 1815, 14–15. Heinrich Heine, Almansor, in: Heine, Werke und Briefe in zehn Bänden. Band 2, Berlin und Weimar: Aufbau Verlag 1972, 489. Vgl. Hartmut Bomhoff, Israel Jacobson – Wegbereiter jüdischer Emanzipation. Berlin: Hentrich & Hentrich Verlag, 2010. Franz Knobler (hg.), Jüdische Geschichte in Briefen aus Ost und West. Das Zeitalter der Emanzipation, Wien: Saturn Verlag 1938, 79. Michael A. Meyer, Von Moses Mendelssohn zu Leopold Zunz, jüdische Identität in Deutschland 1749–1824, München: Beck 1994, 157. Brief vom 19. März 1845 an Leopold Zunz, in: Ludwig Geiger (hg.), Abraham Geigers nachgelassene Schriften, Band 5, Berlin: Louis Gerschel 1878, 181–182. Heinrich Heine an Leopold Zunz am 27. Juni 1823, in: Heine-Säkular-Ausgabe, Berlin: AkademieVerlag 1970, Band 20, 102f. Max Lenz, Geschichte der Königlichen Friedrich-Wilhelms Universität zu Berlin, Band IV, Halle: Verlag der Buchhandlung des Waisenhauses, 1910, 452. Wissenschaft des Judentums im deutschen Sprachbereich, hg. von Kurt Wilhelm, Band 1, Tübingen: Mohr, 1967, 18. Heinrich Graetz, Geschichte der Juden, Leipzig: Leiner, 1897, Band 7, 59–82. Graetz, Geschichte, Band 7, 60. Heinrich Graetz, Geschichte der Juden, Leipzig: Leiner, 1900, Band 11, 100–101. Der Born Judas. Legenden, Märchen und Erzählungen, gesammelt von Micha Josef bin Gorion. Hg. von Emanuel bin Gorion. Frankfurt/Main: Jüdischer Verlag 1993, 773. Ahron Marcus, Hartmann’s inductive Philosophie im Chassidismus, Wien: Waizner 1888, 9. Stefan Zweig, Die Welt von Gestern, Frankfurt a.M.: S. Fischer Verlag 1970 (Stockholm 1942), 38. Robert Weltsch, Die deutsche Judenfrage, ein kritischer Rückblick, Königstein/Taunus: Jüdischer Verlag, 1981, 18. Arthur Schnitzler, Arthur, Der Weg ins Freie, Frankfurt a.M. : S. Fischer Verlag 1961 (1908), 69. Vgl. Heinrich von Treitschke, Unsere Aussichten, in: Preußische Jahrbücher. Bd. 44. 1879, 559– 576; ders., Herr Graetz und sein Judenthum, in: Preußische Jahrbücher. Bd. 44. 1879, 660–670; ders., Noch einige Bemerkungen zur Judenfrage, in: Preußische Jahrbücher. Bd. 45. 1880, 85–95. Treitschkes Aufsätze sind als Sammelband erschienen: Ein Wort über unser Judentum. Berlin: Reimer 1880. Die 2. Auflage 1881 enthält noch die zwei Aufsätze „Notizen zur Judenfrage“ und „Zur inneren Lage am Jahresschlusse“. (Raphael Löwenfeld, im Titel nicht genannt), Schutzjuden oder Staatsbürger? Von einem jüdischen Staatsbürger, Berlin: Schweitzer und Mohr 1893, 8. Nathan Birnbaum: Sprachadel, in: Die Freistatt, 1 (1913–14), Heft 3, 137–138. Der gesamte Artikel findet sich in Heft 2, S. 83–88, und Heft 3, 137–145.  Joseph Roth, Juden auf Wanderschaft, Berlin: Verlag die Schmiede 1927, 23. Gershom Scholem, Judaica 1, Frankfurt a.M. 1963, 215. Leo Pinsker, Autoemanzipation, Manhnruf an seine Stammesgenossen von einem russischen Stammesgenossen, Brünn: Verlag der Kadimah 1903, 16ff. Nathan Birnbaum, Die nationale Wiedergeburt des jüdischen Volkes in seinem Lande, Wien: Selbstverlag des Verfassers 1893, 13. Hannah Arendt, Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft, München: Piper 1986, S.217. Achad Haam, Am Scheidewege, Berlin: Jüdischer Verlag 1913, erster Band, 32–44. Vgl. Edith B. Gelles (ed.), The Letters of Abigaill Levy Franks (1733–1748), New York: Yale University Press 2004. F.D. Lee, Historical Record of the City of Savannah, Savannah: J.H. Estill 1869, 184.

Anmerkungen

255

35 Solomonville: A Jewish Town on the Frontier in Arizona Territory: The Memoirs of Anna Freudenthal Solomon, in: Southwest Jewish History Volume 2, Number 4, Summer 1994. 36 Heinrich Heine, Über Polen, in: Heine, Werke und Briefe in zehn Bänden, Band 3, Berlin und Weimar: Aufbau Verlag 1972, 564. 37 An-Sky im März 1912, zitiert nach Safran, Wandering Soul, 191. 38 An-Sky, zitiert nach Safran, Wandering Soul, 192. 39 Liudmila Uritskaya, Ashkenazi Jewish Collections of the State Ethnographic Museum in St. Petersburg, in: Mariella Beukers, Reneé Waale (Hgs.), Tracing An-sky: Jewish Collections from the State Ethnographic Museum in St. Petersburg, Zwolle: Waanders Uitgevers 1992, 24–57.

12. Islamische Kulturgeschichte (Karl Prenner) 1 R. Schulze, Die islamische Welt in der Neuzeit (16.–19. Jahrhundert), in: A. Noth und J. Paul (Hrsg.), Der Islamische Orient. Grundzüge seiner Geschichte, Würzburg 1998, 386. 2 R. Kreile, Politische Herrschaft, Geschlechterpolitik und Frauenmacht im Vorderen Orient, Pfaffenweiler 1997, 209; vgl. K. Kaser, Balkan und Naher Osten: Einführung in eine gemeinsame Geschichte, Wien u.a. 2011, 165. 3 B. Moran, Der türkische Roman, Bd. 1: Von Ahmet Mithat bis A. H. Tanpinar. Aus dem Türkischen übersetzt von Batrice Hendrich, Wiesbaden 2012, 4. 4 G. Hendrich, Islam und Aufklärung. Der Modernediskurs in der arabischen Philosophie, Darmstadt 2004, 61. 5 R. Schulze, Islam und Herrschaft. Zur politischen Instrumentalisierung einer Religion, in: M. Lüders (Hg.), Der Islam im Aufbruch?, München, Zürich 1992, 114. 6 K. Kaser, Balkan und Naher Osten, 155. 7 R. Schulze, Die Politisierung des Islam im 19. Jahrhundert, in: Die Welt des Islams 22 (1982) 103ff. 8 R. Schulze, Die Politisierung des Islam, 106. 9 R. Schulze, Die Politisierung des Islam, 107. 10 R. Moran, Der türkische Roman, 2. 11 R. Moran, Der türkische Roman, 3. 12 C.V. Findley, The Tanzimat, in: The Cambridge History of Turkey, Vol. 4, ed. by R. Kasaba, Cambridge u.a. 2008, 13. 13 A. Meier, Der politische Auftrag des Islam, Wuppertal 1994, 41. 14 A. Schölch, Der arabische Osten im neunzehnten Jahrhundert 1800–1914, in: U. Haarmann (Hrsg.), Geschichte der arabischen Welt, München 1987, 366; vgl. A. Hourani, Die Geschichte der Arabischen Völker, Frankfurt am Main 1991, 326ff. 15 A. Schölch, Der arabische Osten, 366f; vgl. auch M. Tworuschka, Islam im 19. Jahrhundert, in: A. Noth und J. Paul (Hg.), Der islamische Orient, Würzburg 1998, 409; B. Brentjes, Die Araber 2. Teil: Chane, Sultane und Emire, Wien und München 1975, 116–119. 16 Ch.K. Neumann, Das Osmanische Reich in seiner Existenzkrise, in: K. Kreiser und Ch. K. Neumann, Kleine Geschichte der Türkei, Stuttgart 2003, 292f. 17 C.E. Bosworth, Othmanli, in: The Encyclopaedia of Islam, New Edition, Vol. VIII, Leiden 1995, 190–231. 18 Ch.K. Neumann, Das Osmanische Reich, 311. 19 K. Kreiser, Das letzte osmanische Jahrhundert (1826–1920), in: K. Kreiser und Ch. K. Neumann, Kleine Geschichte der Türkei, Stuttgart 2003, 324ff. 20 B. Abu-Manneh, The Naqshbandiyya-Mujaddidiyya in the Ottoman Lands in the Early 19th Century, in: Die Welt des Islams 22 (1982) 26–27. 21 St.J. Shaw, Das Osmanische Reich und die moderne Türkei, in: G. E. von Grunebaum, Der Islam II: Die islamischen Reiche nach dem Fall von Konstantinopel, Fischer Weltgeschichte, Bd. 15, Frankfurt am Main 1971, 128. 22 St.J. Shaw, Das Osmanische Reich und die moderne Türkei, 130–131. 23 C.V. Findley, The Tanzimat, 11–37. 24 A. Schölch, Der arabische Osten, 384; vgl. C.V. Findley, The Tanzimat, 18.

256 25 26 27 28 29 30 31 32 33 34 35 36 37 38 39 40 41 42 43 44 45 46 47 48 49 50 51 52 53 54 55 56 57 58 59 60 61 62 63 64 65 66 67 68 69 70 71

Anmerkungen

A. Meier, Der politische Auftrag des Islam, 54. B. Abu-Manneh, The Islamic Roots of the Gülhane Rescript, in: Die Welt des Islams 34 (1994) 201. K. Kreiser, Das letzte osmanische Jahrhundert (1826–1920), 334. St.J. Shaw, Das Osmanische Reich und die moderne Türkei, 121. R. Schulze, Die Islamische Welt in der Neuzeit (16.–19. Jahrhundert), 394. St.J. Shaw, Das Osmanische Reich und die moderne Türkei, 122. J. Matuz, Das Osmanische Reich. Grundlinien seiner Geschichte, Darmstadt 1994, 224. J. Matuz, Das Osmanische Reich, 230. A. Meier, Der politische Auftrag des Islam, 60. J. Matuz, Das Osmanische Reich, 232. S. Faroqhi, Geschichte des Osmanischen Reiches, München 2010, 104–105. A. Schölch, Der arabische Osten, 387. B.C. Fortna, The reign of Abdülhamid II, in: The Cambridge History of Turkey, Vol. 4, ed. by R. Kasaba, Cambridge u.a. 2008, 38–61. A. Meier, Der politische Auftrag des Islam, 72. R. Schulze, Die islamische Welt in der Neuzeit, 400. T. Nagel, Das islamische Recht, Westhofen 2001, 303ff. R. Senturk, Intellectual Dependency: Late Ottoman Intellectuals between Fiqh and social Science, in: Die Welt des Islams 47 (2007) 283–318. St.J. Shaw, Das Osmanische Reich und die moderne Türkei, 126. St.J. Shaw, Das Osmanische Reich und die moderne Türkei, 132–133. .T. Buzpinar, Opposition to the Ottoman Caliphate in the Early Years of Abdülhamid II: 1877– 1882, in: Die Welt des Islams 36 (1996) 89. J. Matuz, Das Osmanische Reich, 226. St.J. Shaw, Das Osmanische Reich, 133. K. Kreiser, Das letzte osmanische Jahrhundert (1826–1920), 345–346. St.J. Shaw, Das Osmanische Reich und die moderne Türkei, 134; vgl. B. C. Fortna, The reign of Abdülhamid II, 40. A. Meier, Der politische Auftrag des Islam, 73. St.J. Shaw, Das Osmanische Reich und die moderne Türkei, 136–138. A. Meier, Der politische Auftrag des Islam, 45. J. Matuz, Das Osmanische Reich, 237. J. Matuz, Das Osmanische Reich, 246–247. K. Kreiser, Das letzte osmanische Jahrhundert, 340, 347f. S. Faroqhi, Geschichte des Osmanischen Reiches, 93. K. Kaser, Balkan und Naher Osten, 371. K. Kaser, Balkan und Naher Osten, 159; Vgl. S. Faroqhi, Geschichte des Osmanischen Reiches, 91. K. Kaser, Balkan und Naher Osten, 140. A. Schölch, Palästina im Umbruch 1856–1882, Stuttgart 1986, 184. B. Abu-Manneh, Jerusalem in the Tanzimat Period: The New Ottoman Administration and the Notables, in: Die Welt des Islams 30 (1990) 1–44. A. Schölch, Palästina im Umbruch, 155. A. Schölch, Palästina im Umbruch, 156; vgl. A. Havemann, Die Entwicklung regionaler Handelszentren und die Entstehung eines Händlertums im Libanongebirge des 19. Jahrhunderts, in: Die Welt des Islams 22 (1982) 51–60. K. Kaser, Balkan und Naher Osten, 169. A. Schölch, Der arabische Osten, 410–411. A. Schölch, Der arabische Osten, 411. A. Schölch, Der arabische Osten, 411. A. Schölch, Der arabische Osten, 389. A. Schölch, Der arabische Osten, 377–378. A. Schölch, Der arabische Osten, 412–413. K. Kaser, Balkan und Naher Osten, 385. A. Schölch, Der arabische Osten, 414; vgl. B. Brentjes, Die Araber, 111.

Anmerkungen

257

72 J. Matuz, Das Osmanische Reich, 221; vgl. R. Schulze, Die islamische Welt in der Neuzeit (16.–19. Jahrhundert), 388–390. 73 M. Tworuschka, Islam im 19. Jahrhundert, 410. 74 R. Kreile, Politische Herrschaft, 210. 75 R. Kreile, Politische Herrschaft, 212–213. 76 R. Kreile, Politische Herrschaft, 213. 77 R. Kreile, Politische Herrschaft, 217. 78 R. Kreile, Politische Herrschaft, 220. 79 H. F. Mervat: The Professionalization of Health and the Control of Women´s Bodies as Modern Governmentalities in Nineteenth-Century Egypt, in: Women in the Ottoman Empire, ed. by Madeline C. Zilfi, Leiden u.a. 1997, 66ff. 80 A. Schölch, Der arabische Osten, 380. 81 A. Schölch, Der arabische Osten, 386–387. 82 A. Schölch, Der arabische Osten, 392. 83 A. Schölch, Der arabische Osten, 394–395. 84 A. Schölch, Der arabische Osten, 397. 85 R. Schulze, Die islamische Welt in der Neuzeit (16.–19. Jahrhundert), 386–388. 86 R. Kreile, Politische Herrschaft, 223. 87 M. Lazreg, Gender and Politics in Algeria: Unraveling the Religious Paradigm. In: Signs 1990, vol. 15, no. 4, 758f; z.n. R. Kreile, Politische Herrschaft, 223. 88 St. J. Shaw, Das Osmanische Reich und die moderne Türkei, 411. 89 St. J. Shaw, Das Osmanische Reich und die moderne Türkei, 415. 90 St. J. Shaw, Das Osmanische Reich und die moderne Türkei, 414–416. 91 R. Kreile, Politische Herrschaft, 223. 92 R. Kreile, Politische Herrschaft, 224. 93 H. Wettig, Selbstbewusst zwischen den Welten. Über 100 Jahre arabischer Feminismus zwischen Moderne und Tradition, in: iz3w 337 (2013) 19. 94 F. Fanon, A Dying Colonialism, 16; z. n. R. Kreile, Politische Herrschaft, 225. 95 R. Kreile, Politische Herrschaft, 225. 96 R. Kreile, Politische Herrschaft, 226. 97 R. Kreile, Politische Herrschaft, 226. 98 R. Kreile, Politische Herrschaft, 231–232. 99 R. Kreile, Politische Herrschaft, 237. 100 R. Kreile, Politische Herrschaft, 240–242. 101 R. Kreile, Politische Herrschaft, 244. 102 Q. Amin, Die Befreiung der Frau, Altenberge 1992. 103 H. Wettig, Selbstbewusst zwischen den Welten. Über 100 Jahre arabischer Feminismus zwischen Moderne und Tradition, in: iz3w 337 (2013), 18. 104 H. Wettig, Selbstbewusst zwischen den Welten, 18. 105 M.L. Meriwether: Women and Waqf Revisited: The Case of Aleppo, 1770–1840, in: Women in the Ottoman Empires, 128ff. 106 R. Peters, Erneuerungsbewegungen im Islam vom 18. bis zum 20. Jahrhundert und die Rolle des Islams in der neueren Geschichte: Antikolonialismus und Nationalismus, in: W. Ende u. U. Steinbach, Der Islam in der Gegenwart, München 1991, 105–106. 107 R. Peters, Erneuerungsbewegungen im Islam, 107. 108 R. Peters, Erneuerungsbewegungen im Islam, 108. 109 R. Peters, Erneuerungsbewegungen im Islam, 108–110. 110 R. Peters, Erneuerungsbewegungen im Islam, 92. 111 Th. Bauer, Die Kultur der Ambiguität. Eine andere Geschichte des Islams, Berlin 2011. 112 R. Peters, Erneuerungsbewegungen im Islam, 95. 113 R.B. Winder, Saudi Arabia in the Nineteenth Century, New York 1965, 60ff; Vgl. C. Holes, Wahhbiyya, in: The Encyclopaedia of Islam, New Edition, Vol. XI, Leiden 2002, 39–47. 114 S. Traboulsi, An Early Refutation of Muammad ibn Abd al-Wahhb´s Reformist Views, in Die Welt des Islams 42 (2002), 373–389.

258

Anmerkungen

115 R.B. Winder, Saudi Arabia in the Nineteenth Century, New York 1965. 116 E. Peskes, Muhammad B. Abdalwahhb (1703–92) im Widerstreit, Beirut 1993. 117 R. Peters, Erneuerungsbewegungen im Islam, 98. 118 R. Peters, Erneuerungsbewegungen im Islam, 103. 119 J.-L. Triand, Al-Sans, in: Encyclopaedia of Islam, Vol. IX, Leiden 1997, 22–23. 120 T. Nagel, Theologie und Ideologie im modernen Islam, in: Der Islam III: Islamische Kultur – Zeitgenössische Strömungen – Volksfrömmigkeit, von Munir D. Ahmad u.a., Stuttgart u.a. 1990, 7. 121 G. Hendrich, Islam und Aufklärung, 47ff. 122 R. Peters, Erneuerungsbewegungen im Islam, 110. 123 G. Hendrich, Islam und Aufklärung, 53. 124 G. Hendrich, Islam und Aufklärung, 51f. 125 G. Hendrich, Islam und Aufklärung, 62. 126 Rifa al-ahw, Ein Muslim entdeckt Europa, hrsg. von K. Stowasser, München1988. 127 Rifa al-ahw, Ein Muslim entdeckt Europa, 21. 128 Rifa al-ahw, Ein Muslim entdeckt Europa, 268. 129 W. Walther, Kleine Geschichte der arabischen Literatur, München 2004, 277. 130 B. Tibi, Der wahre Imam, München 1996, 235. 131 B. Tibi, „Der Traum von der halben Moderne“. Über das schiefe Verhältnis des Islams zu Europa und die Wurzeln des Fundamentalismus, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 19.2.1991, 35. 132 A. Meier, Der politische Auftrag des Islam, 51. 133 A. Meier, Der politische Auftrag des Islam, 51. 134 A. Meier, Der politische Auftrag des Islam, 78; vgl. L.V. Vaglier, Djaml Al-Din Al-Afghn, in: Encyclopaedia of Islam, Vol. II, 1965, 416–419. 135 B. Tibi, Der wahre Imam, 243. 136 R. Peters, Erneuerungsbewegungen im Islam, 120; vgl. A. Meier, Der politische Auftrag des Islam, 79. 137 G. Hendrich, Islam und Aufklärung, 69. 138 G. Hendrich, Islam und Aufklärung, 67. 139 R. Peters, Erneuerungsbewegungen im Islam, 121. 140 G. Hendrich, Islam und Aufklärung, 76. 141 G. Hendrich, Islam und Aufklärung, 76. 142 G. Hendrich, Islam und Aufklärung, 78–79. 143 A. von Kügelgen, Averroes & die arabische Moderne. Ansätze zu einer Neubegründung des Rationalismus im Islam, Leiden 1994, 72ff; vgl. J. Schacht, Muammad Abduh, in: Encyclopaedia of Islam, Vol. VII, Leiden 1993, 418–420. 144 Th. Hildebrandt: Waren aml ad-Dn al-Afn und Muammad Abduh Neo-Mutaziliten?, in: Die Welt des Islams 42 (2002) 207–262. 145 Th. Hildebrandt, Waren aml ad-Dn al-Afn und Muammad Abduh Neo-Mutaziliten?, 262; vgl. L. Berger, Islamische Theologie, Wien 2010, 129; T. Nagel, Theologie und Ideologie im modernen Islam, 29. 146 A. Al-Azmeh, Die Islamisierung des Islam, Frankfurt/Main 1996, 102. 147 T. Nagel, Theologie und Ideologie im modernen Islam, 31; vgl. R. Wielandt, Offenbarung und Geschichte im Denken moderner Muslime, Wiesbaden 1971, 72. 148 R. Wielandt, Offenbarung und Geschichte, 64. 149 R. Wielandt, Offenbarung und Geschichte, 56; vgl. auch A. von Kügelgen, Averroes & die arabische Moderne, 72ff. 150 R. Peters, Erneuerungsbewegungen im Islam, 125. 151 T. Nagel, Theologie und Ideologie im modernen Islam, 18. 152 R. Wielandt, Offenbarung und Geschichte, 72. 153 T. Nagel, Geschichte der islamischen Theologie, München 1994, 245. 154 H. Djait, Das arabisch-muslimische Denken und die Aufklärung, in: Islam, Demokratie, Moderne. Aktuelle Antworten arabischer Denker, hrsg, v. E. Heller u. H. Mosbahi, München 1998, 32. 155 S. Shaw, Iranian relations with the Ottoman Empire in the eighteenth and nineteenth centuries, in: The Cambridge History of Iran, Cambridge 1991, 313.

Anmerkungen

259

156 A. Pistor-Hatam, r in Istanbul. Religiöse Feierlichkeiten als Ausdruck Persisch-Schiitischen Selbstverständnisses am Ende des 19. Jahrhunderts, in: Die Welt des Islams 38 (1998) 95–119. 157 A. Pistor-Hatam, r, 97–98. 158 A. Pistor-Hatam, r, 100. 159 S. Faroqhi, Kultur und Alltag im Osmanischen Reich, München 1995, 280 160 S. Faroqhi, Kultur und Alltag im Osmanischen Reich, 278. 161 W.G. Lerch, Zwischen Steppe und Garten. Türkische Literatur aus tausend Jahren, München 2008, 52. 162 W.G. Lerch, Zwischen Steppe und Garten, 53. 163 C.V. Findley, The Tanzimat, 31. 164 K. Kaser, Balkan und Naher Osten, 306; vgl. The Beginnings of Printing in the Near and Middle East: Jews, Christians and Muslims, ed. by Lehrstuhl für Türkische Sprache, Geschichte und Kultur, Universität Bamberg, Staatsbibliothek Bamberg, Wiesbaden 2001, 13ff. 165 C.V. Findley, The Tanzimat, 31; vgl. The Beginnings of Printing in the Near and Middle East, 13ff. 166 W.G. Lerch, Zwischen Steppe und Garten, ab S. 53ff. 167 S. Faroqhi, Geschichte des Osmanischen Reiches, 107–108. 168 W. Walther, Kleine Geschichte der arabischen Literatur, 280. 169 B. Moran, Der türkische Roman, 2. 170 B. Moran, Der türkische Roman, 6. 171 B. Moran, Der türkische Roman, 8–9. 172 B. Moran, Der türkische Roman, 9. 173 W.G. Lerch, Zwischen Steppe und Garten, 54–55. 174 W.G. Lerch, Zwischen Steppe und Garten, 57. 175 W.G. Lerch, Zwischen Steppe und Garten, 58. 176 W.G. Lerch, Zwischen Steppe und Garten, 60. 177 B. C. Fortna, Education and Autobiography at the End of the Ottoman Empire, in: Die Welt des Islams 41 (2001) 30. 178 K. Kaser, Balkan und Naher Osten 351. 179 W.G. Lerch, Zwischen Steppe und Garten, 61. 180 W.G. Lerch, Zwischen Steppe und Garten, 62. 181 W.G. Lerch, Zwischen Steppe und Garten, 62. 182 W.G. Lerch, Zwischen Steppe und Garten, 65. 183 C.V. Findley, The Tanzimat, 33–35 184 E.S. Ülker, Divanliteratur. Osmanische Literatur im 16.–19. Jh., Berlin 2010, 11. 185 W.G. Lerch, Zwischen Steppe und Garten, 58. 186 C. F. Findley, The Tanzimat, 35. 187 B. Tibi, Kreuzzug und Djihad, München 1999, 227. 188 B. Tibi, Kreuzzug und Djihad, 227. 189 B. Tibi, Kreuzzug und Djihad, 228–229. 190 K. Merten, Untereinander, nicht nebeneinander. Das Zusammenleben religiöser und kultureller Gruppen im Osmanischen Reich des 19. Jahrhunderts, Berlin 2014, 479. 191 K. Merten, Untereinander, 486. 192 K. Merten, Untereinander, 487. 193 Vgl. B. Brentjes, Die Araber 2. Teil: Chane, Sultane und Emire, Wien und München 1975,240f. 194 D. Arnold, Südasien. Aus dem Englischen von M. Bischoff, Neue Fischer Weltgeschichte, Bd. 11, Frankfurt am Main 2012, 337. 195 D. Arnold, Südasien, 302f. 196 D. Arnold, Südasien, 388. 197 D. Arnold, Südasien, 389. 198 D. Arnold, Südasien, 399–403. 199 D. Arnold, Südasien, 403. 200 D. Arnold, Südasien, 404; vgl. M. Mann. Geschichte Indiens. Vom 18. bis zum 21. Jahrhundert, Paderborn u.a. 2005, 277–309. 201 M. Mann, Geschichte Indiens, 139–206; D. Arnold, Südasien, 406. 202 D. Arnold, Südasien, 407–411.

260

Anmerkungen

203 Indien, hrsg. u. verfasst v. A.T. Embree u. F. Wilhelm, Fischer Weltgeschichte, Bd. 17, Frankfurt am Main 1967, 303–306. 204 D. Arnold, Südasien, 337–339. 205 D. Arnold, Südasien, 341. 206 Indien, hrsg. u. verfasst v. A.T. Embree u. F. Wilhelm, 308–309. 207 D. Arnold, Südasien, 323–324. 208 Indien, hrsg. u. verfasst v. A.T. Embree u. F. Wilhelm, 310–311; vgl. A. Schimmel: Im Reich der Großmoguln: Geschichte, Kunst, Kultur, München 2000. 209 D. Ludden, Geschichte Indiens. Aus dem Englischen übersetzt von M. C. Arora, Essen 2006, 144–146. 210 D. Ludden, Geschichte Indiens, 145. 211 A. Schimmel, Der Islam im Indischen Subkontinent, Darmstadt 1983, 103–104. 212 A. Schimmel, Der Islam im Indischen Subkontinent, 104. 213 A. Schimmel, Der Islam im Indischen Subkontinent, 100–101. 214 D. Arnold, Südasien, 362; vgl. D. Arnold, Science, Technology and Medicine in Colonial India, in: The New Cambridge History of India III.5, Cambridge 2004, 19–56. 215 D. Arnold, Südasien, 363. 216 D. Arnold, Südasien, 365. 217 D. Arnold, Südasien, 367ff 218 D. Arnold, Südasien, 368–369. 219 D. Arnold, Südasien, 371. 220 D. Arnold, Südasien, 372. 221 D. Rothermund (Hrsg.), Indien. Kultur, Geschichte, Politik, Wirtschaft, Umwelt. Ein Handbuch, München 1995, 96. 222 A. Schimmel, Der Islam im Indischen Subkontinent, 95–96. 223 D.S. Powers, Orientalism, Colonialism, and Legal History: The Attack on Muslim Family Endowments in Algeria and India, in: Comparative Studies in Society and History 31 (1989) 535–571. 224 A. Schimmel, Der Islam im Indischen Subkontinent, 96. 225 A. Schimmel, Die schönsten Gedichte aus Pakistan und Indien, München 1996, 47. 226 J. Malik, Islam in Südasien, in: A. Noth und J. Paul (Hrsg.), Der Islamische Orient. Grundzüge seiner Geschichte, Würzburg 1998, 517. 227 W.R. Roff, Customary Law, Islamic Law and Colonial Authority, in: Islamic Studies 49 (2010) 455–462. 228 T. Nagel, Das islamische Recht, 309. 229 R.S. Khare (ed.), Perspectives on Islamic Law, Justice, and Society, New York, Oxford 1999, 84. 230 S. Malik, The social transformation of the ´ulama´ in British India during the 19th century, in: Journal of Islamic Law and Culture 12 (2010) 48ff. 231 A. Schimmel, Der Islam im Indischen Sukkontinent, 96; vgl. A. Ahmad, Indien, in: Der Islam II: Die islamischen Reiche nach dem Fall von Konstantinopel, Frankfurt am Main 1971, 282ff; D. Arnold, Südasien, 433f; K.W. Jones, Socio-religious reform movements in British India, in: The New Cambridge History of India III.1, Cambridge 2006, 53–57. 232 A. Ahmad, Indien, 284. 233 D. Arnold, Südasien, 433. 234 R. Peters, Erneuerungsbewegungen im Islam, 112; vgl. W.C. Smith, Modern Islam in India, New Delhi 1999, 6–23; J.M.S. Baljon, Amad Khn, in: Encyclopaedia of Islam, Vol. I, 1960, 287–288; K.W. Jones, Socio-religious reform movements in British India, in: The New Cambridge History of India III.1, Cambridge 2006, 63–72; D. Arnold, Südasien, 435–436. 235 A. Schimmel, Der Islam im Indischen Subkontinent, 106. 236 A. Schimmel, Der Islam im Indischen Subkontinent, 108. 237 R. Peters, Erneuerungsbewegungen im Islam, 114; vgl., W. C. Smith, Modern Islam in India, 23–41. 238 R. Peters, Erneuerungsbewegungen im Islam, 114. 239 G. Hendrich, Islam und Aufklärung, 66. 240 G. Hendrich, Islam und Aufklärung, 66. 241 A. Schimmel, Der Islam im Indischen Subkontinent, 111. 242 A. Schimmel, Der Islam im Indischen Subkontinent, 115.

Anmerkungen

261

243 K.A. Nizam, Deoband, in: Encyclopaedia of Islam, Vol. II, 1965, 205; vgl. K.W. Jones, Socioreligious reform movements in British India, 57–63. 244 A. Schimmel, Der Islam im Indischen Subkontinent, 112–113 245 Sh. Inayatullah, Ahl-i Hadith, in: Encyclopaedia of Islam, Vol. I, 1960, 259–260. 246 A. Schimmel, Der Islam im Indischen Subkontinent, 113. 247 M. Backhausen (Hrsg.), Die Lahore – Ahmadiyya – Bewegung in Europa, 2008; H. Schröter, Ahmadiyya-Bewegung des Islam, Frankfurt/Main u.a., Dritte Auflage 2003; S.R. Valentine, Islam and the Ahmadiyya jama´at: history, belief, practice, London 2008; vgl. K.W. Jones, Socio-religious reform movements in British India, 115–121. 248 A. Schimmel, Der Islam im Indischen Subkontinent, 109ff. 249 A. Schimmel, Der Islam im Indischen Subkontinent, 110. 250 Indien, hrsg. u. verfasst v. A.T. Embree u. F. Wilhelm, 309. 251 A. Schimmel, Die schönsten Gedichte, 48–50. 252 A. Schimmel, Der Islam im Indischen Subkontinent, 110. 253 N. Keddie, Iran under the Later Qjrs, 1848–1922, in: The Cambridge Histoy of Iran, Vol. 7, Cambridge u.a. 1991, 174ff. 254 R.L. Riahi, Der Iran von den Qajaren bis zur Islamischen Republik, Lübeck und Marburg 2010, 63. 255 G.R.G. Hambly, Iran during the reigns of Fat Al Shh and Muhammad Shh, in: The Cambridge History of Iran, 144–173. 256 N. Keddie, Iran und Afghanistan, in: Der Islam II, Fischer Weltgeschichte, Bd. 15, Frankfurt am Main 1971, 179ff. 257 N. Keddie, Iran und Afghanistan, 180; vgl. F. Kazemzadeh, Iranian Relations with Russia and the Soviet Union, to 1921, in: The Cambridge History of Iran, 314–349; R. Greaves, Iranian Relations with Great Britain and British India, 1798–1921, in: Cambridge History of Iran, 374–425. 258 V. Martin, An Evaluation of Reform and Development of the State in the Early Qajar Period, in: Die Welt des Islams 36 (1996) 1–24. 259 N. Keddie, Iran und Afghanistan, 180f. 260 R.L. Riahi, Der Iran von den Qajaren bis zur Islamischen Republik, 96. 261 R.L. Riahi, Der Iran von den Qajaren bis zur Islamischen Republik, 105. 262 R.L. Riahi, Der Iran von den Qajaren bis zur Islamischen Republik, 105ff. 263 R.L. Riahi, Der Iran von den Qajaren bis zur Islamischen Republik, 109. 264 N. Keddie, Iran und Afghanistan, 182. 265 J. Calmard, Mudjtahid, in: Encyclopaedia of Islam, Vol. VII, Leiden 1993, 295–304. 266 M Gronke, Geschichte Irans. Von der Islamisierung bis zur Gegenwart, München 2003, 92. 267 A. Johardelvari, Iranische Philosophie von Zarathustra bis Sabzewari, Frankfurt am Main u.a. 1994, 127ff.; K. Ekbal, Der Messianismus des frühen 19. Jahrhunderts und die Entstehung der Bah´-Religion, in: J.Ch. Bürgel und I. Schayani, Iran im 19. Jahrhundert und die Entstehung der Bah´-Religion, Hildesheim u.a. 1998, 164ff. 268 N. Keddie, Iran und Afghanistan, 182f. 269 M. Hutter, Handbuch Bah´. Geschichte – Theologie – Gesellschaftsbezug, Stuttgart 2009, 26. 270 N. Keddie, Iran und Afghanistan, 183. 271 M. Hutter, Handbuch Bah´, 29. 272 M. Hutter, Handbuch Bah´, 29. 273 M. Hutter, Die Baha´i. Geschichte und Lehre einer nachchristlichen Weltreligion, Marburg 1994, 14ff. 274 N. Keddie, Iran und Afghanistan, 184f. 275 M. Hutter, Handbuch Bah´, 18. 276 J. Rypka, Iranische Literaturgeschichte, Leipzig 1959, 324; vgl. R.L. Riahi, Der Iran von den Qajaren bis zur Islamischen Republik, 117; vgl. P. Avery: Printing, The Press and Literature in Modern Iran, In: The Cambridge History of Iran, 815–836. 277 M. Gronke, Geschichte Irans, 89. 278 H. Ebrahimnejad: Medicine, Public Health and the Qjr State, Brill 2004, 135–137. 279 N. Keddie, Iran und Afghanistan, 185.

262

Anmerkungen

280 N. Keddie, Iran und Afghanistan, 185–186. 281 M. Gronke, Geschichte Irans, 91. 282 N. Keddie, Iran und Afghanistan, 187. 283 H. Halm, Die Schia, Darmstadt 1988, 132. 284 H. Halm, Die Schia, 133. 285 H. Halm, Die Schia, 134. 286 H. Halm, Die Schia, 135. 287 H. Halm, Die Schia, 136. 288 H. Halm, Die Schia, 139. 289 R.L. Riahi, Der Iran von den Qajaren bis zur Islamischen Republik, 126. 290 R.L. Riahi, Der Iran von den Qajaren bis zur Islamischen Republik, 129. 291 R.L. Riahi, Der Iran von den Qajaren bis zur Islamischen Republik, 129. 292 R.L. Riahi, Der Iran von den Qajaren bis zur Islamischen Republik, 130. 293 H. Halm, Die Schia, 142. 294 H. Halm, Die Schia, 142. 295 R.L. Riahi, Der Iran von den Qajaren bis zur Islamischen Republik, 133. 296 R.L. Riahi, Der Iran von den Qajaren bis zur Islamischen Republik, 138–139. 297 N. Keddie, Iran under the Later Qajars, 1848–1922, in: The Cambridge History of Iran, 174–212. 298 M. Gronke, Geschichte Irans, 91. 299 N. Keddie, Iran und Afghanistan, 189. 300 R.L. Riahi, Der Iran von den Qajaren bis zur Islamischen Republik, 162. 301 N. Keddie, Iran und Afghanistan, 191. 302 N. Keddie, Iran und Afghanistan, 192. 303 H. Halm, Die Schia, 145. 304 R.L. Riahi, Der Iran von den Qajaren bis zur Islamischen Republik, 221. 305 N. Keddie, Iran und Afghanistan, 193. 306 R.L. Riahi, Der Iran von den Qajaren bis zur Islamischen Republik, 202–203. 307 R.L. Riahi, Der Iran von den Qajaren bis zur Islamischen Republik, 211. 308 R.L. Riahi, Der Iran von den Qajaren bis zur Islamischen Republik, 225. 309 J. Rypka, Iranische Literaturgeschichte, 315. 310 J. Rypka, Iranische Literaturgeschichte, 316–317. 311 J. Rypka, Iranische Literaturgeschichte, 331. 312 The Beginnings of Printing in the Near and Middle East, 18. 313 P. Avery, Printing, The Press and Literature in Modern Iran, 820. 314 P. Avery, Printing, The Press and Literature in Modern Iran , 823. 315 P. Avery, Printing, The Press and Literature in Modern Iran, 826. 316 P. Avery, Printing, The Press and Literature in Modern Iran, 824. 317 P. Heine, Ross ohne Reiter. Überlegungen zu den Ta´ziya-Feier der Schiiten des Iraq, in: Zeitschrift für Missionswissenschaft und Religionswissenschaft 63 (1979) 25; H. Halm, Die Schia, 181–183; D. Monchi-Zadeh, Ta´ziya, das Persische Passionsspiel, mit teilweiser Übersetzung der von Litten gesammelten Stücke, Stockholm 1967. 318 E. Neubauer, Muharram-Bräuche im heutigen Persien, Der Islam 49 (1972) 249–272. 319 N. Green, A Persian Sufi in British India: The Travels of Mrz asan af Al Shh (1251/1835– 1316/1899), in: Iran: Journal of the British Institute of Persian Studies 42 (2004) 201–218. 320 N. Green, A Persian Sufi in British India, 201ff. 321 N. Green, A Persian Sufi in British India, 208. 322 M. Müller-Wiener, Die Kunst der islamischen Welt, Stuttgart 2012, 296ff. 323 M. Müller-Wiener, Die Kunst der islamischen Welt, 298. 324 M. Müller-Wiener, Die Kunst der islamischen Welt, 299. 325 L. Korn, Geschichte der Islamischen Kunst, München 2008, 126. 326 M. Müller-Wiener, Die Kunst der islamischen Welt, 300–301. 327 M. Müller-Wiener, Die Kunst der islamischen Welt, 303.

Anmerkungen

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328 L. Korn, Geschichte der Islamischen Kunst, 125; vgl. A. Renz, Geschichte und Stätten des Islam von Spanien bis Indien, München 1977, 586f. 329 M. Müller-Wiener, Die Kunst der islamischen Welt, 312. 330 M. Gronke, Geschichte Irans, 86; vgl. A. Renz, Geschichte und Stätten des Islam von Spanien bis Indien, 644f. 331 M. Müller-Wiener, Die Kunst der islamischen Welt, 313. 332 M. Müller-Wiener, Die Kunst der Islamischen Welt, 314. 333 L. Korn, Geschichte der Islamischen Kunst, 124. 334 S. Faroqhi, Geschichte des Osmanischen Reiches, 95.

Zeittabelle Napoleonische Zeit Kaiserreich Napoleons (1804–1814) – Code civil in Frankreich (1804) – Konkordat mit dem Papst (1801) – Reichsdeputationshauptschluss im Heiligen Römischen Reich (1803) – Gründung des Rheinbundes (1806) – Auflösung des Heiligen Römischen Reiches deutscher Nation (1806) – Schlacht bei Jena und Auerstädt (1806) – Friede zu Tilsit (1807) – Schlacht bei Aspern (1809) – Friede von Schönbrunn (1809) – Spanienfeldzug Napoleons (1808/09) – Russlandfeldzug Napoleons (1812) – Völkerschlacht bei Leipzig (1813) – Ludwig XVIII. als König (1814–1824) – Schlacht bei Waterloo (1815) – Wiener Kongress (1814/15) – Deutscher Bund (1815–1866) – Zar Alexander I. (1777–1825)

Zeit der Restauration Heilige Allianz zwischen Preußen, Österreich und Russland (1815–1848) – Ideen der politischen Restauration (ab 1792) – Liberalismus in England (ab 1812) – Demokratische Bewegungen (ab 1789) – Nationale Bewegungen (ab 1806) – Gründung der Universität Berlin (1810) – Prozesse der Industrialisierung – Freiheitskampf der Griechen (1821–1829) – Gründung der Deutschen Burschenschaften (1815) – Deutscher Zollverein (ab 1834) – Friedrich Wilhelm III. in Preußen (1798–1840) – Friedrich Wilhelm VI. in Preußen (1840–1861) – Kaiser Franz I. in Österreich (1792–1830) – Kaiser Ferdinand I. in Österreich (1830–1848) – Konservative Regierungen in England (1815–1830) – Liberale Regierungen in England (ab 1830) – Königin Victoria in England (1837–1901) – Karl X. in Frankreich (1824–1830) – Juli-Revolution in Frankreich (1830) – König Luis Philippe in Frankreich (1830–1848) –Aufstand in Warschau (1830) – Zar Nikolaus I. (1825–1855)

Entwicklungen nach 1848 Revolution in Paris (1848) – Revolution in Italien (1848/49) – Revolution in Berlin und Wien (1848) – erstes Parlament in der Frankfurter Paulskirche (1848/49) – Kaiser Franz Josef in Österreich (1848–1916) – Slawenkongress in Prag (1848) – Wiederherstellung des Deutschen Bundes (1850) – Konkordat Österreichs mit dem Papst (1855) – Zar Alexander II. (1855–1881) – Beendigung der Leibeigenschaft in Russland (1861) – Napoleon III. in Frankreich (1848–1870) – Bau des

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Zeittabelle

Suezkanals (1859–1869) – Krimkrieg (1854–1856) – Trennung der Lombardei von Österreich (1859) – Schlacht bei Sadowa/Königsgrätz (1866) – Österreich verlässt den Deutschen Bund – Deutsch-Französischer Krieg (1870/71) – Dritte Republik in Frankreich (ab 1871) – Proklamation des Deutschen Reiches (1871) – Errichtung des Königreichs Italien (1861) – Auflösung des Kirchenstaates (1870)

Entwicklungen nach 1870 König Wilhelm I. in Preußen (1861–1888) – als Deutscher Kaiser (ab 1871) – Kulturkampf mit katholischer Kirchenleitung in Preußen (1871–1879) – Verbot der Sozialistischen Partei (1878) – Sozialgesetze durch Otto von Bismarck (1888/89) – Kaiser Wilhelm II. (1888–1918) – Entlassung Otto von Bismarcks (1890) – Ausgleich zwischen Österreich und Ungarn (1867) – Österreichisch-Ungarische Monarchie (1867– 1918) – Gründung der Sozialdemokratischen Partei (1889) – Alldeutsche Partei (ab 1897) – Krieg am Balkan (1875–1878) – Berliner Kongress (1878) –Neuordnung des Balkan – Zweibund Deutsches Reich und Österreich-Ungarn (1879) – mit Italien zum Dreibund erweitert (1882) – Rückversicherungsvertrag Deutsches Reich und Russland (1887) – Bündnis zwischen Frankreich und Russland (1894) – Flottenbauprogramm des Deutschen Reiches (ab 1898) – Bürgerkrieg in den USA (1861–1865) – Sklavenbefreiung in den USA (1863) – britisches Protektorat Ägypten (ab 1882)

Protestantische Lebenswelten Friedrich Schleiermacher (1768–1834) – Johann Hinrich Wichern (1808–1881) – Gründung der Inneren Mission (1841) – erster Deutscher Evangelischer Kirchentag (1848) – Diakonissenhaus in Kaiserswerth (ab 1836) – Einführung der Zivilehe in Preußen (1875) – staatliche Schulaufsicht in Preußen (ab 1872) – Ende des Kulturkampfes in Preußen (1879) – Sozialvereine und Missionsgesellschaften – Berliner Hofprediger Adolf Stoecker (1835–1909) – Bewegung Deutsches Christentum (ab 1880) – Friedrich Naumann (1860–1919)

Katholische Lebenswelten Papst Pius VII. (1800–1823) – Konkordat mit Napoleon (1801) – Gefangenschaft des Papstes (1809–1814) – Wiedererrichtung des Kirchenstaates (1815) – Konkordat mit Bayern (1817) – Werke der Glaubensverbreitung (ab 1822) – Papst Leo XII. (1823–1829) – Papst Gregor XVI. (1831–1846) –Kampf gegen die Ideen der Französischen Revolution – Papst Pius IX. (1846–1878) – Ende des Kirchenstaates (1870) – I. Vatikanisches Konzil (1870) – Papst Leo XIII. (1878–1903) – Sozialenzyklika „Rerum novarum“ (1891) – Orientierung an neuscholastischer Philosophie – Demokratie als Staatsform in USA anerkannt (1892) – erste Deutsche Bischofskonferenz (1848) – Dogma der Unbefleckten Empfängnis Mariens (1854) – Syllabus der Irrtümer der Zeit (1864) – Erklärung der Unfehlbarkeit des Papstes (1870)

Zeittabelle

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Naturwissenschaften und Medizin Polarisation des Lichtes (1808) – Elektrolyse (1833) – Spektralanalyse (1859) – Röntgenstrahlen (1895) – Uranstrahlen (1896) – Quantentheorie (1900) – Entdeckung der weiblichen Eizelle (1826) – Entdeckung der Zellteilung (1852) – Gesetze der Vererbung (1865) – Äthernarkose (1846) –Blinddarmoperation (seit 1848) – antiseptische Wundbehandlung (seit 1867) – Tuberkulosebazillus entdeckt (1882) – Diphteriebazillus (1883) – Pesterreger entdeckt (1894) –Atomgewichte errechnet (1818) – Entdeckung des Radium (1898) – Analyse des Benzolringes (1865) – Erfindung des Elektromotors (1834) – Dynamo-Maschine (1867) – Viertaktmotor entwickelt (1876) – Benzinmotor (seit 1884) – Kraftwagen (1885) – Dieselmotor (seit 1897) – Luftschiffe gebaut (1900) – Schreibtelegraph (1837) – Fernsprecher (seit 1861) – Telefon (seit 1876) – Drahtlose Telegraphie (1897) – Fotographie (seit 1839) – Kinematograph (seit 1895) – Revolver (1835) – Zündnadelgewehr (1836) – erste Tauchboote (1850) – Torpedoboote (1866) – Dynamit als Sprengstoff (1867) – Maschinengewehr (seit 1883)

Literatur und Dichtkunst William Blake (1757–1827) – Johann Wolfgang von Goethe (1749–1832) – Friedrich Schiller (1759–1805) – Friedrich Hölderlin (1773–1843) – Heinrich von Kleist (1777–1811) – Franz Grillparzer (1791–1872) – Heinrich Heine (1797–1856) – Theodor Fontane (1819–1898) – Stendhal (1783–1842) – George Lord Byron (1788– 1824) – Honore de Balzac (1783–1842) –Alexander Puschkin (1799–1837) – Victor Hugo (1802–1885) – Charles Dickens (1812–1870) – Ivan Turgenjew (1818–1870) – Charles Baudelaire (1821–1867) – Fedor Dostojewski (1821–1881) – Gustave Flaubert (1821–1880) – Henrik Ibsen (1828–1906) – Leo Tolstoj (1828–1910) –Jules Verne (1828–1905) – Emile Zola (1840–1902) – Oscar Wilde (1854–1900) – Anton Tschechow (1860–1904)

Jüdische Kultur Jüdische Aufklärung (Haskala; ab 1760) – Deutsch als Pflichtfach an Jüdischen Schulen in Österreich – Religionsbücher in deutsch und hebräisch – Judenedikt in Preußen (1812) – freier Zugang zu Universitäten für Juden – Reform des Gottesdienstes – Deutsch als Gebetssprache – Reformer Samuel Holdheim (1806–1860) – Rabbinersynoden (ab 1844) – Raphael Hirsch (1808–1888) – Briefe über das Judentum (1836) – Zeitschrift Reschurun (ab 1854) – Isrealitische Religionsgesellschaft in Frankfurt (1851) – Öffnung zu den Wissenschaften – Trennungsorthodoxie (ab 1870) – orthodoxe und liberale Gemeinden – Hermann Cohen (1842–1918) – Leo Baeck (1873–1956) – Abraham Geiger (1810–1904) – Jüdische Hochschule in Breslau (1854) – Theodor Herzl (1860–1904) – Zionistenkongress in Basel (1897)

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Zeittabelle

Islamische Kultur Napoleon erobert Ägypten (1801) – Ägypten mit Osmanischen Reich verbunden (ab 1802) – Wahabiten überfallen Kerbala (1801) – Bündnis Persien mit England (1814) – Franzosen besetzen Algerien (1830) – erste Zeitung im Osmanischen Reich (1832) – Muhammad Ali als Vizekönig in Ägypten (ab 1841) – Krimkrieg Osmanisches Reich gegen Russland (1853–1856) – Krieg Persien gegen England (1856) – England baut Telegraphennetz in Persien (ab 1864) – Amerikanische Universität in Beirut (1866) – Eröffnung des Suezkanals (1869) – Staatsbankrott des Osmanischen Reichs (1873) – Verfassung für das Osmanische Reich (1876) – Berliner Kongress (1878) – Ägypten unter britischer Herrschaft (ab 1881) – Frankreich erobert Tunesien (1881) – Opposition der Jungtürken im Osmanischen Reich (ab 1889) – Befreiung Kretas aus türkischer Herrschaft (1898) – Beginn der Salafiten–Bewegung (1898) – Bau der Eisenbahn nach Mekka (1900)

Weiterführende Literatur Alter, P., Nationalismus. Frankfurt 1985. Bergson, H., Materie und Gedächtnis. Frankfurt 1964. Buchmann, A.M., Die Grenzen der Freiheit. Tübingen 1984. Comte, A., Die Soziologie. Stuttgart 1974. Denzinger, H./Hünermann, P. (Hg.), Kompendium der Glaubensbekenntnisse. Freiburg i.Br. 1991. Fichte, J.G., Reden an die deutsche Nation. Werke VII. Berlin 1980. Fischer, M./Weinberger, O. (Hg.), Entartete Ideale. Graz 1992. Fischer-Wollpert, R., Lexikon der Päpste. Wiesbaden 2004. Fröba, St./Wassermann A., Die bedeutendsten Mathematiker. Wiesbaden 2007. Furger, F., Sozialethik und Ökonomie. Münster 1984. Gadille, J./Mayeur, J.M. (Hg.), Die Geschichte des Christentums XI. Freiburg 1997. Grabner-Haider, A. (Hg.), Ethos der Weltkulturen. Göttingen 2007. – (Hg.), Kulturgeschichte der Bibel. Göttingen 2008. – (Hg.), Philosophie der Weltkulturen. Wiesbaden 2007. –, Das Laienchristentum. Darmstadt 2007. –, Hitlers Theologie des Todes. Kevelaer 2010. –, Kritische Religionsphilosophie. Graz 1995. – /Maier, J., Kulturgeschichte des frühen Christentums. Göttingen 2010. – /Maier, J./Prenner, K., Kulturgeschichte des frühen Mittelalters. Göttingen 2011. – /Maier, J./Prenner, K., Kulturgeschichte des späten Mittelalters. Göttingen 2012. – /Strasser, P. Hitlers mythische Religion. Wien 2009. – /Weinke, K. (Hg.), Fanatismus und Massenwahn. Graz 1989. Graf, F.W., Protestantismus. Geschichte und Gegenwart. München 2006. Greschat, M., Protestantismus in Europa. Darmstadt 2005. Höffe, O. (Hg.), Klassiker der Philosophie II. München 2008. James, W., Der Pragmatismus. Hamburg 1977. Jankrift, K.P., Die großen Ärzte im Porträt. Wiesbaden 2007. Kaspar, P.P., Die wichtigsten Musiker im Porträt. Wiesbaden 2007. Kinder, H./Hilgemann, W./Hergt, M., Atlas der Weltgeschichte. München 2000. Koslowski, P., Prinzipien der Ethischen Ökonomie. Tübingen 1988. Krafft, F., Die wichtigsten Naturwissenschaftler im Porträt. Wiesbaden 2007. –, Die bedeutendsten Astronomen. Wiesbaden 2007. Larentzakis, G., Die orthodoxe Kirche. Graz 2002. Maier, K., Die bedeutendsten Dichter und Schriftsteller Europas. Wiesbaden 2007. Mann, G. (Hg.), Propyläen Weltgeschichte VIII. Berlin 1986. Meinhold, P., Kirchengeschichte in Schwerpunkten. Graz 1987. Nell-Breuning, O. von, Wirtschaftsethik. Stuttgart 1992. Neuner, P./Wenz, G. (Hg.), Theologen des 19. Jahrhunderts. Hamburg 2010. Pijoan, J. (Hg.), Arte Kunstgeschichte der Welt. Lausanne 1979.

270

Weiterführende Literatur

Plongeron, B. (Hg.), Die Geschichte des Christentums X. Freiburg i.Br. 2000. Rich, A., Wirtschaftsethik I. Göttingen 1984. Röd, W., Der Weg der Philosophie II. München 1996. Salamun, K. (Hg.), Aufklärungsperspektiven. Tübingen 1989. Schmidt, K., Religion, Versklavung, Befreiung. Stuttgart 1978. Thiele, J., Die großen deutschen Dichter und Schriftsteller. Wiesbaden 2007. Ulrich, P., Integrative Wirtschaftsethik. Berlin 1997. Weizsäcker, F. von, Zum Weltbild der Physik. Stuttgart 1990. Wette, W., Militarismus in Deutschland. Darmstadt 2005. Wischer, E. (Hg.), Geschichte der Literatur V. Berlin 1989. Wolf, H. (Hg.), Antimodernismus und Modernismus in der katholischen Kirche. Paderborn 1998.

Personenregister

Abd al Wahhab 214f Abduh, M. 218f Abdülhamid II. 204f Abel, N. 138 Adorno, Th. 41 Ahmad Khan, S. 229f Airy, G. 137 Aksakov, K. 107 Al Afghani, D. 217f Alexander I. 103 Alexander II. 104, 122 Alexander III. 104f Ali as Sanusi, M. 215 Ali, M. 209 Amer, S. 230 Andersen, H.Ch. 150 Apelt, E.F. 65 Arnim, A. von 49 Arnim, B. von 142 Ascher, S. 171 Austen, J. 148 Babeuf, F. 51 Baer, E. von 135 Bakunin, M. 47 Balzac, H. de 146 Bangs, H. 145 Baudelaire, Ch. 147 Baur, Ch. 72 Bebel, A. 16, 47, 143 Beer, J.H. 172 Beethhoven, L. von 161 Behring, E. von 136 Bellini, V. 164 Benedikt XVI. 58 Berardinelli, F. 58f Bergson, H. 37 Berlioz, H. 164 Berzelius, J. 133 Bessel, F.W. 137 Beyle, H. 146 Bismarck, O. von 16, 63, 90, 123, 127 Bizet, G. 165 Blake, W. 149 Blumenhardt, F. 48 Bodelschwingh, F. von 77

Bogardus, J. 159 Bois-Reymond, E. 134 Bolivar, S. 117 Bonald, L. de 43 Börne, L. 171 Boullainvielliers, A. de 60 Bousset, W. 73 Bradlaugh, Ch. 79 Brentano, C. von 49 Bruckner, A. 163 Büchner, G. 145 Büchner, L. 145 Bunsen, R. 134 Burke, E. 20, 114 Byron, G. 149 Caillaux, J. 15 Campanella, T. 51 Capellari, B.A. 43, 86 Carly, A. 138 Carlyle, Th. 127 Caudy, A. 138 Cavour, C. 122 Chamberlain, St.H. 61f, 185 Chateuabriand, R. de 20, 43 Chopin, F. 164 Claudel, P. 89 Clausius, R. 134 Colmar, J.L. 89 Comte, A. 31f Condorcet, A. de 19, 41 Consalvi, E. 85f Corot, J.B. 156 Courbet, G. 156 Couvier, G. 135 Dalton, J. 132f Darwin, Ch. 90, 135f Döllingher, I. 91 Dedekind, J. 139 Delacroix, E. 155 Donizetti, G. 163 Dewey, J. 40 Dickens, Ch. 127, 143, 150 Diltheyx, W. 36f Dirichlet, L. 138 Disraeli, B. 127 Dohm, Ch.W. 121

Doppler, Ch. 134 Dorner, J.A. 72 Dostojewski, F. 107, 152 Drey, S. 95 Droysen, J.G. 55 Dühring, E. 184 Dumas, A. 146 Dvorak, A. 166 Ehrenberg, F. 55 Ehrlich, P. 136 Eichendorff, J. von 49 Eiffel, G. 159 Enard, P. 132 Engels, F. 30f, 41f, 52 Fallersleben, Hofmann von 55 Faraday, M. 133 Ferdinand III. 98 Feuerbach, L. 28f Fichte, J.G. 21f, 54f Flaubert, G. 147 Fourier, Ch. 45 Frank, C. 165 Franz Joseph I. 119, 124 Friedrich Wilhelm III. 74 Friedrich Wilhelm IV. 75, 89, 119 Friedrich, C.D. 155 Frohschammer, J. 96 Gaois, E. 138 Garibaldi, G. 123 Gaudi, A. 160 Gaughin, P. 157 Gauss, C.F. 137 Geiger, A. 174 Genz, F. 114 Gioberti, V. 43f Gladden, W. 82 Glinkas, M. 165 Gobineau, A. de 60f Goethe, J.W. von 141 Gogh, V. van 157 Goudin, A. 94 Gould, B. 137 Gounod, Ch. 164 Graetz, H. 177 Gregor XVI. 44, 87, 92, 108

272 Grieg, E. 166 Grillparzer, F. 145 Güdemann, S. 181 Habsburg, J. von 118f Hahnemann, S. 136 Haller, K.L. von 114 Hamilton, W. 137 Harnach. A. von 72 Hauptmann, G. 143 Hauy, R. 132 Hebbel, F. 145 Hegel, G.W.F. 24f, 50 Heine, H. 144f Helmholtz, H. von 134 Hengstenberg, E. 67, 70 Hermes, G. 89, 95 Hermite, Ch. 138 Herschel, W. 137 Hertz, H. 135 Herzl, Th. 188ff Hilgenfeld, A. 72 Hirsch, S. 181 Hirscher, J.B. 95 Hoffmann, E.T.A. 49, 145 Hofmann, J.Ch. 71 Hofmann, W. 134 Hofmannsthal, H. von 143 Hölderlin, F. 143 Honorius I. 64 Horkheimer, M. 41 Huggins, W. 137 Hugo, V. 143, 146 Ibn Saud 214 Ibsen, H. 150 Jacobi, C.G. 138 Jacobson, J. 172 James, W. 38ff Jenny, W. 159 Jost, M. 177 Kähler, M. 72 Kamiakow, A. 107 Karl X. 117 Kegel, M. 143 Keler, G. 146 Kemal, M.N. 222 Keppler, W.von 95 Kierkegaard, S. 34f Kleist, H. von 145 Kley, E. 173 Klopstock. F. 49 Koch, R. 136 Kolping. A. 90 Kotzebue, A. von 74 Krochmal, N. 178 Kronecker, L. 138 Kropotkin, P. 47 Kummer, E. 138 Kutter, H. 48 Lamennais, R. de 87

Personenregister Lasalle, F. 143 Lebruste, H. 157 Lenau, N. 145 Lenin, V.I. 52 Leo XII. 86 Leo XIII. 48, 93, 108, 126 Levinas, E. 62 Lie, J. 139 Liebermann, F.L. 89 Liebig, J. 133 Lorentz, H. 135 Lister, J. 136 Liszt, F. 162 Löbe, W. 77 Ludwig XVIII. 86, 115 Loisy, A. 90 Lokkyer, N. 137 Lortzing, A. 162 Ludwig II. 124 Lueger, K. 58, 182 Lyell, Ch. 133 Mahmud II. 202 Maistre, J. de 20, 86 Mallarme, S. 148 Manet, C. 157 Manzoni, A. 98, 146 Marcus, A. 180 Marheineke, Ph. 71 Marr, W. 183 Mathus, Th. 12 Maximilian II. 118 Maxwell, J.C. 134 May, K. 144 Mazzini, G. 90, 122 Metternich, K. von 54, 119 Meyer, C.F. 146 Meyer, J. 195 Meyer, L. 135 Meyerberr, G. 161 Mill, J.St. 32f Millais, J. 156 Monet, E. 156 More, Th. 51 Mrax, K. 11, 29f, 47f, 51f, 53, 78 Müller, J. 71 Mussorgski, M. 180 Napoleon I. 85f, 111ff, 118 Napoleon III. 87, 103f, 118, 122, 126 Nasir ad Din 241 Neander, J. 71 Nietzsche, F. 35ff Nikolaus II. 105 Oberlin, F. 68 Offenach, J. 164 Olbers, W. 137 Oppenheim, M. 171 Owen, R. 45f Paganini, N. 161

Pasteur, L. 136 Paulus, H. 70 Peirce, Ch.S. 37f Perl, J. 179 Pickering, E. 137 Pinsker, L. 189 Pinto, J. 190 Pius IX. 44f, 87, 92f Pius VII. 85 Proudhon, P. 46f Pushkin, A. 151 Ragatz, L. 48 Raiffeisen, F.W. von 121 Ratzinger, G. 58 Rauschenbusch, W. 82 Renan, E. 90 Ribinovich, S. 197 Riemann, G. 139 Rifa at Tahtwi 216 Rimbaud, A. 148 Rimski-Korsakow, N. 165 Ritschl, A. 72 Rodin, A. 157 Rohlinh, A. 183 Röhr, J.F. 70 Röntgen, C. 135 Roselli, S.M. 94 Rosmini-Sabthier, A. 95, 98 Rossini, G. 163 Rousseau, J.J. 47 Runge, O. 156 Sailer, M. 89, 95 Saint-Hilaire, E. 135 Saint-Simon, E. de 44 Scheeben, M. 95 Scheibel, J. 75 Schelling, C. 142 Schelling, F.W.J. 22f Schiller, F. von 141 Schlegel, D. 142 Schleiermacher, F. 66f Schönerer, G. von 58, 185 Schopenhauer, A. 26f Schubert, F. 162 Schulz-Delitsch, H. 121 Schumann, R. 162 Schwann, Th. 135 Scott, W. 149 Secci, A. 137 Semmelweis, I. 136 Shelly, M. 149 Sienkiewicz, H. 152 Sieyes, E. 42 Smith, A. 20 Spencer, H. 33f Stirner, M. 47 Stoecker, A. 58f Strauß, D.F. 72f Strindberg, A. 150