Kollektivitäten: Population und Netzwerk als Figurationen der Vielheit [1. Aufl.] 9783839430996

With reference to Bruno Latour and Gabriel Tarde, Daniel Falb sketches a process-oriented conception of collectivities,

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German Pages 410 Year 2015

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Inhalt
Vorwort
1. EINLEITUNG
1.1 Das Modell
1.2 Der Themenzusammenhang
2. KOLLEKTIVITÄT UND UNIVERSALISIERUNG
2.1 Die Serie der Abbilder (Platon)
2.1.1 Das Werden der irdischen Welt
2.1.2 Form und Wiederholung I
2.1.3 Die Universalisierung der Form
2.2 Die Immanenz der Universalisierung (Aristoteles)
2.2.1 Wiederholung und Beispiel
2.2.2 Wiederholung und Potentialität
2.2.3 Form und Wiederholung II
2.2.4 Zwischenfazit
2.3 Entwicklungslinien des Mittelalterlichen Universalienstreits
2.3.1 Die Lehre von den drei Zuständen (Albertus Magnus)
2.3.2 Die indifferente Essenz (Avicenna)
2.3.3 Die Collectio-Lehre (Joscelin, Nizolius)
2.3.4 Schlussbemerkung
3. KOLLEKTIVITÄT, PROBABILITÄT UND STATISTIK
3.1 Wahrscheinlichkeitsproblem und Universalienproblem
3.1.1 e???? bei Aristoteles
3.1.2 Moderne Wahrscheinlichkeitstheorien
3.1.3 Universalien und Wahrscheinlichkeiten: Prozessobjekte
3.2 Zur Theorie der konstanten Ursachen
3.2.1 Das Modell Laplaces
3.2.2 Kausalität und kausale Unabhängigkeit (Cournot)
3.2.3 Quetelet und das statistische Gesetz
3.3 Tarde und die Statistik
3.3.1 Soziale Wiederholung
3.3.2 Tardes Theorie der Nachahmung
3.3.3 Statistik und Nachahmung
4. KOLLEKTIVITÄTEN: SPUR, WIEDERHOLUNG, EXTERIORITÄT
4.1 Kollektivität und Spur
4.1.1 ANT und die Entfaltung der Spuren
4.1.2 Artefakte
4.1.3 Lokalisierung und Globalisierung, Kontraktion und Dissemination
4.2 Kollektivität und Wiederholung
4.2.1 ANT und Wiederholung
4.2.2 Wiederholungsordnung und Generizität
4.2.3 Über die Begriffe: „Kollektivität“, „Kollektivierung“
4.3 Prozessobjekt und sozialer Realismus
4.3.1 Durkheim vs. Tarde
4.3.2 Exteriorität vs. Holismus
4.3.3 Prozessobjekt vs. Präsentismus
Schluss
Zitierweise und Siglenverzeichnis
Literatur
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Kollektivitäten: Population und Netzwerk als Figurationen der Vielheit [1. Aufl.]
 9783839430996

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Daniel Falb Kollektivitäten

Kultur und Kollektiv | Band 1

Editorial Die von der Forschungsstelle Kultur- und Kollektivwissenschaft der Universität Regensburg herausgegebene Schriftenreihe »Kultur und Kollektiv« veröffentlicht Monographien im Bereich der Kultur- und Kollektivwissenschaft, die aktuelle Themen auf einem innovativem Theorie-Niveau und in jargonfreier Sprache zur Darstellung bringen. Von der Forschungsstelle wird ebenfalls die Zeitschrift für Kultur- und Kollektivwissenschaft herausgegeben.

Daniel Falb (Dr. phil.) ist freier Autor und lebt in Berlin. Seine Forschungsschwerpunkte liegen im Bereich der Geophilosophie, der radikalen Ökologie und der Kunsttheorie.

Daniel Falb

Kollektivitäten Population und Netzwerk als Figurationen der Vielheit

Die Arbeit an diesem Band wurde gefördert durch ein Elsa-Neumann-Stipendium des Landes Berlin. Die Drucklegung wurde gefördert durch die HansenStiftung sowie durch die Ernst-Reuter-Gesellschaft e.V.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2015 transcript Verlag, Bielefeld

Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Lektorat & Satz: Daniel Falb Printed in Germany Print-ISBN 978-3-8376-3099-2 PDF-ISBN 978-3-8394-3099-6 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

Inhalt

Vorwort | 7  

1. EINLEITUNG  

1.1 Das Modell | 11   1.2 Der Themenzusammenhang | 15  

2. KOLLEKTIVITÄT UND UNIVERSALISIERUNG   2.1 Die Serie der Abbilder (Platon) | 27   2.1.1 Das Werden der irdischen Welt | 31   2.1.2 Form und Wiederholung I | 41   2.1.3 Die Universalisierung der Form | 60   2.2 Die Immanenz der Universalisierung (Aristoteles) | 63   2.2.1 Wiederholung und Beispiel | 64  

2.2.2 Wiederholung und Potentialität | 71   2.2.3 Form und Wiederholung II | 82   2.2.4 Zwischenfazit | 93  

2.3 Entwicklungslinien des Mittelalterlichen Universalienstreits | 96  

2.3.1 Die Lehre von den drei Zuständen (Albertus Magnus) | 96   2.3.2 Die indifferente Essenz (Avicenna) | 106   2.3.3 Die Collectio-Lehre (Joscelin, Nizolius) | 113   2.3.4 Schlussbemerkung | 123  

3. KOLLEKTIVITÄT , PROBABILITÄT UND STATISTIK  

3.1 Wahrscheinlichkeitsproblem und Universalienproblem | 139  

3.1.1 εἰκός bei Aristoteles | 140   3.1.2 Moderne Wahrscheinlichkeitstheorien | 160   3.1.3 Universalien und Wahrscheinlichkeiten: Prozessobjekte | 177  

3.2 Zur Theorie der konstanten Ursachen | 187  

3.2.1 Das Modell Laplaces | 189   3.2.2 Kausalität und kausale Unabhängigkeit (Cournot) | 204   3.2.3 Quetelet und das statistische Gesetz | 212   3.3 Tarde und die Statistik | 222  

3.3.1 Soziale Wiederholung | 223   3.3.2 Tardes Theorie der Nachahmung | 239   3.3.3 Statistik und Nachahmung | 258  

4. KOLLEKTIVITÄTEN : SPUR , WIEDERHOLUNG , EXTERIORITÄT 4.1 Kollektivität und Spur | 273  

 

4.1.1 ANT und die Entfaltung der Spuren | 280   4.1.2 Artefakte | 287   4.1.3 Lokalisierung und Globalisierung, Kontraktion und Dissemination | 299   4.2 Kollektivität und Wiederholung | 315  

4.2.1 ANT und Wiederholung | 316   4.2.2 Wiederholungsordnung und Generizität | 322   4.2.3 Über die Begriffe: „Kollektivität“, „Kollektivierung“ | 334   4.3 Prozessobjekt und sozialer Realismus | 342  

4.3.1 Durkheim vs. Tarde | 345   4.3.2 Exteriorität vs. Holismus | 355   4.3.3 Prozessobjekt vs. Präsentismus | 373   Schluss | 383  

Zitierweise und Siglenverzeichnis | 389 Literatur | 393

Vorwort

Dinge, von denen man sagt, es gebe ihrer viele, können abgezählt werden. Ergibt sich aber die Tatsache, dass man es mit Vielheiten von Dingen zu tun hat, erst daraus, dass man sie abzählt? Oder existieren die Vielheiten als Vielheiten ganz unabhängig davon, ob sie abgezählt werden, – als Bedingung ihrer Abzählbarkeit selbst? Wenn dem so wäre, wie verhält es sich mit der Natur und Existenzweise dieser Vielheiten? Wie existiert etwas als Vieles? Solche Fragen werden in dieser Untersuchung unter dem Begriff der Kollektivität thematisiert. Der Begriff wird so gefasst, dass er die Prinzipien umschreibt, nach denen sich Vielheiten an ihnen selbst als Vielheiten konstituieren. Diese Fassung ist entferntes Resultat meines Interesses am Begriff der multitudo, mittels dessen Baruch de Spinoza seine politische Philosophie auf die Grundlage der Existenzweise von Vielheiten stellt (Spinoza 1994). Da ich den Begriff andernorts ausführlicher behandelt habe (Falb 2007), bleibt er hier unberücksichtigt. Vielmehr verdankt sich der konzeptuelle Zuschnitt einer doppelten Intuition: Man kann Kollektivitäten nicht verstehen, ohne über Populationen von Entitäten und die ihnen zugrundeliegenden Replikationsprozessse nachzudenken; und: Kollektivitäten umfassen nicht allein Menschen, sondern umfassen Entitäten ganz unterschiedlichen Typs, insoweit sie interagieren, insoweit sie Interaktionszusammenhänge ausbilden. Der erste Aspekt findet seine Quelle und sein Material in den Texten des französischen Kriminologen und Sozialtheoretikers Gabriel Tarde (1843-1904); der zweite in den Texten des zeitgenössischen französischen Soziologen Bruno Latour (*1947). Populationen und Interaktionszusammenhänge sind Objekte, die nur existieren, solange die ihnen zu Grunde liegenden Performanzen weiterlaufen, solange also Akte der Replikation und der Interaktion kontinuierlich wiederholt werden. Die Figur der Wiederholung und die Frage nach der Möglichkeitsbedingung von Prozesswiederholungen bilden daher ein Gravitationszentrum der Untersuchung.

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Wenn dem so ist, wird es vielleicht als seltsam erscheinen, dass die vielleicht wichtigste Publikation zum Thema Wiederholung in jüngerer Zeit, Gilles Deleuzes Differenz und Wiederholung (Deleuze 2007), hier nicht rezipiert wird. Mit der Auslassung hat es eine doppelte Bewandtnis. Zum einen liegt, sachlich, der Fokus auf Typen der Wiederholung, von denen sich der spezifisch Deleuze’sche Wiederholungsbegriff gerade abzuheben versucht, nämlich auf Wiederholung als Konstituens des Ähnlichen, des Generischen, des Allgemeinen in der Welt (ebd., 42-45). Zum anderen ist, pragmatisch, die in Differenz und Wiederholung entfaltete Wiederholungstheorie so vielschichtig, dass es kaum angebracht und letztlich fruchtlos wäre, sich nur oberflächlich auf sie zu beziehen. Eine ausführliche Befassung mit dieser Theorie unter dem Gesichtspunkt des hier entwickelten Denkens der Kollektivität bildete aber ein eigenes Forschungsthema. Während die Rezeption Deleuzes gar nicht versucht wurde, war umgekehrt die Rezeption der in Prozess und Realität entwickelten Kosmologie Alfred North Whiteheads (Whitehead 1987) am Beginn des Arbeitsprozesses für die Formulierung der Kernpunkte des hier vorgeschlagenen Modells von Kollektivität wichtig; Whiteheads Buch schärfte meine Sensibilität für den Prozesscharakter auch von Kollektivitäten; trotzdem wurden die ursprünglich aufgenommenen Whitehead’schen Zentralbegriffe der Prehension, des Nexus, des extensiven Kontinuums etc. im Laufe der Ausarbeitung aus dem Text entfernt, weil es auch in diesem Fall eine Überforderung bedeutet hätte, den systematischen Zusammenhang von Prozess und Realität aufzuarbeiten, in dem diese Begriffe allein adäquat erfasst werden können. Auch als Effekt solcher Auslassungen und Verwischungen erscheinen, neben dem konzeptuellen Primat Tarde’schen und Latour’schen Denkens, die aristotelischen Aspekte der Analyse in ungeplant hellem Licht. Sie reichen von Aristoteles’ Modell der immanenten, rein innerweltlichen Replikation von Formen über sein Konzept der Potentialität und seiner Fassung des Wahrscheinlichkeitsbegriffs bis hin zur aristotelischen Abstraktionstheorie. Ich habe die Bearbeitung des Themas der Kollektivität, ausgehend von einer konzeptuellen Modellierung am Anfang, „interdisziplinär“ gestaltet. So werden etwa Fragen zum Status von Universalien und Wahrscheinlichkeiten, zur statistischen Praxis im 19. Jahrhundert, zur Genealogie des Tarde’schen Denkens, zum Begriff der Spur im Kontext der Akteur-Netzwerk-Theorie Bruno Latours und zum Problem des sozialen Realismus behandelt. Der Sachzusammenhang dieser Aspekte wird in Kapitel 1.2 erläutert. Insgesamt steigt der Text mit der Behandlung des Universalienproblems im Genre der theoretischen Philosophie ein, um seinem Charakter nach im Laufe des 3. Kapitels zunehmend und im 4. Kapitel endgültig sozialtheoretisch zu werden. Dabei fand die vorgenommene Behand-

V ORWORT | 9

lung des Universalienproblems ihr initiierendes Moment in Alain Desrosières Buch Die Politik der großen Zahlen (Desrosières 2005). Ausgehend von der Erkenntnis, dass Kollektivitäten aufgrund ihrer territorialen Verstreutheit und ihrer Prozessnatur nicht unmittelbar beobachtbare Objekte seien, stellte sich für mich das Thema ihrer statistischen Erfassung (Kap. 3). Desrosières fundierte Einführung in die konzeptuelle Genese und administrative Geschichte statistischer Praktiken legt andeutungsweise nahe, es bestehe eine gewisse Äquivalenz zwischen der Frage der Realität von statistischen Aggregaten und der Frage der Realität von Universalien bzw. eine gewisse Äquivalenz der respektiven Antworten auf diese Fragen (ebd., 1ff., 77ff.). Von diesen Andeutungen her wurden sowohl der Zusammenhang von Universalität und Kollektivität (Kap. 2) als auch die besagten Äquivalenzen detaillierter herausgearbeitet (Kap. 3.1). Obwohl ich versucht habe, den Zusammenhang der verschiedenen Aspekte des interdisziplinären Themenzuschnitts nicht nur einführend, sondern auch im Laufe der Kapitel immer wieder herauszustellen, kann dieser heterogen bleibende Text je nach Interessenlage auch partiellen Lektüren unterzogen werden. Manche Aspekte werden in mehreren Anläufen aus verschiedenen Quellen erschlossen, so das Thema der Wiederholungsordnung (Kap. 2.1.1, 3.1.1, 4.2.2) und das Thema der Möglichkeitsbedingung von Wiederholungen (Kap. 2.2.2, 3.2.1, 3.2.2, 4.2.2). Andere Aspekte werden kompakter en bloc behandelt. Kapitel 2 lässt sich als prozessphilosophischer Beitrag zum Universalienproblem lesen. Die Sozialtheorie Tardes wird historisch und systematisch in Kapitel 3.3.1 und 3.3.2 rekonstruiert, Aspekte der Latour’schen Sozialtheorie in Kapitel 4.1 (in Pointierung des Begriffs der Spur) und 4.3.3 (in Hinsicht auf die Frage des sozialen Realismus). Die ausführliche Einleitung zu Kapitel 3 entwirft eine Skizze des Zusammenhangs von Kollektivität und Statistik, Kapitel 3.3.1 eine Einführung in das quantitative Denken bei Aristoteles. In Kapitel 4.2.3 werden die diversen Verwendungsweisen der Begriffe Kollektivität und Kollektivierung synoptisch zusammengestellt. Das Schlusskapitel bringt nochmals die Übersicht einiger Hauptergebnisse. Um potentiellen Enttäuschungen vorzubeugen, seien schließlich zwei simple Einschränkungen des hier gewählten Zugangs zum Begriff der Kollektivität genannt. Zum einen handelt diese Untersuchung trotz begrifflicher Nähe an keiner Stelle von „Kollektiven“, verstanden als sozialistischen Produktionseinheiten; und wenn nachfolgend von Prozessen der „Kollektivierung“ die Rede ist, ist nicht die (Zwangs-)Vergemeinschaftung von Privateigentum gemeint. Überhaupt versteht sich die Untersuchung nicht als Beitrag zur politischen Philosophie im

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engeren Sinne, sondern wie angedeutet eher als Beitrag zur theoretischen Philosophie und Sozialontologie. Normative Fragen werden fast ganz ausgespart. Zum anderen erfasst der Begriff der Kollektivität in der vorliegenden Ausarbeitung das Phänomen der „Masse“ und der „Massenpsychologie“ etwa in der Analyse Elias Canettis (Canetti 2003) ebenso wenig wie das Phänomen der „Massenkultur“ oder „Kulturindustrie“ in der Analyse der Kritischen Theorie (Horkheimer/Adorno 2000). Auch revolutionäre Dynamiken und historisch singuläre „Massenbewegungen“ werden nicht nur nicht behandelt, sondern auch konzeptuell nicht erschlossen. Bleibt zu hoffen, dass die durch solche Leerstellen gegebene Schwäche des Zugangs durch das, was er tatsächlich bietet, kompensiert werde. Ich danke Prof. Dr. Frieder Otto Wolf und Prof. Dr. Gunter Gebauer sowie Heinrich Falb, Ulrike Gerhardt, Armin Kyros Marschall, Simon Schleusener und Bastian Ronge.

1. Einleitung

In dieser Einleitung wird ein einfaches Modell der Figur der Kollektivität entwickelt, – ein basales Set von Vorstellungen, ohne die über Kollektivität nicht nachgedacht werden kann. Damit wird der Rahmen der Untersuchung abgesteckt; die thematischen Kapitel 2 bis 4 werden das Modell dann teils erhellen und teils von ihm erhellt werden. Die angeführten Elemente des Modells sind nicht mit einem Beitrag zur allgemeinen Ontologie zu verwechseln und erschöpfen offensichtlich nicht alle Möglichkeiten, über Kollektivität nachzudenken. Kapitel 1.2 entwickelt ausgehend vom Modell den Zusammenhang der sich anschließenden thematischen Kapitel.

1.1 D AS M ODELL (1) Kollektivität ist reale Vielheit. Reale Vielheit kann definiert werden als ein Realzusammenhang von Einzelheiten, der sich weder als übergreifende Einheit oder Ganzheit von Vielem noch als innere Vielheit des übergreifenden Einen oder Ganzen beschreiben lässt. (2) Reale Vielheit impliziert die strenge raumzeitliche Lokalisiertheit der Einzelheiten. Die Einzelheiten sind auf der Erdoberfläche, auf einer Topologie, in einem Territorium lokalisiert und ihre Performanz ist datierbar. Als solche sind sie einander äußerlich. Setzte man sich über den Perspektivismus der Einzelheiten hinweg, geriete reale Vielheit unmittelbar aus dem Blick. (3) Einzelheiten müssen, um eine reale Vielheit zu konstituieren, über Performanzen zusammenhängen. Allein nach der Seite ihres performativen Zusammenhangs konstituieren sie eine Vielheit. Reale Vielheit lässt sich nicht als Klasse von Objekten ad libitum definieren, sondern bringt sich als Realobjekt selbst

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durch den performativen Zusammenhang der Einzelheiten hervor. So definiert die Ähnlichkeit einer Menge von Einzelheiten diese nicht als reale Vielheit, – wenigstens solange die Ähnlichkeit nicht aus ihrem performativen Zusammenhang herrührt und erklärt werden kann. Umgekehrt kann Unähnliches und Heterogenes eine reale Vielheit bilden, sofern es performativ zusammenhängt. (4) Der Grundsatz der strengen raumzeitlichen Lokalisiertheit der Einzelheiten erfordert, dass, soll es nicht bloß Zusammenhänge benachbarter Einzelheiten geben, die Einzelheiten mobil sein müssen. Das Bild der performativen Zusammenhangs voneinander entfernt liegender Einzelheiten qua Mobilität impliziert, dass alle möglichen Interaktionspartner einer Einzelheit in Hinblick auf diese Einzelheit in deren Vergangenheit oder Zukunft liegen, denn Mobilität erfordert Zeit. Da das für alle Einzelheiten bezüglich ihrer möglichen Interaktionspartner gilt, sind alle Einzelheiten, die nicht in einer lokalisierten gemeinsamen Gegenwart momentan zusammenfinden, in Bezug aufeinander ungleichzeitig. (5) Fasst man eine Kollektivität als performativen Zusammenhang von Einzelheiten, wird die Figur der Wiederholung zentral. Denn Performanzen vergehen mit ihrer Ausführung; und wo sie materielle Resultate zeitigen, sind diese endlich. Eine Kollektivität hält sich in der Zeit dann nur unter der Bedingung der Wiederholung der ihren Zusammenhang konstituierenden Performanzen. In diesem Sinne ist sie ein Prozessobjekt, womit hier ein Objekt bezeichnet wird, das sich in der Zeit als Choreografie, Muster oder Charakteristik von Wiederholungen konstituiert. Für ein solches Objekt gilt nicht die Binäropposition von Existenz vs. Non-existenz, – sondern es chronifiziert seine Existenz mit der Häufigkeit und zeitlichen Erstreckung der Wiederholungen. Ein solches Objekt hat keine Existenz in der Aktualität, in einer Gegenwart (welche es auch sein mag), sondern es existiert allein in der zeitlichen Erstreckung – in der Dauer – der Wiederholungen. Seine Existenz setzt also die Dissoziation von Existenz und Aktualität voraus. Reale Vielheiten bzw. Kollektivitäten sind ein Typus von Prozessobjekten. (6) Es gibt nicht Entitäten einerseits und andererseits, diesen bloß hinzugefügt, Performanzen oder Prozesse. Wäre dem so, blieben Prozesse in ihrem Ablauf entweder völlig unbestimmt; oder man müsste annehmen, Prozesse würden sich die Form ihres Ablaufs selbst geben. Vielmehr gilt, dass Prozesse nur unter Einbezug von Entitäten stattfinden und dass sich das Schema ihres Ablaufs aus der Beschaffenheit der einbezogenen Entitäten ergibt. Andererseits ist richtig, dass ein bestimmter Prozess, der unter Einbezug eines Ensembles von Entitäten statt-

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finden kann, nicht jederzeit auch stattfinden muss. Entitäten sind Potentiale oder Prozessoren für bestimmte Prozesse. Wenn dem so ist, dann wird kein bestimmter Prozess sich je wiederholen können, wenn nicht das Ensemble von Entitäten, unter Einbezug dessen er allein ablaufen kann, sich als Selbiges (als ein konkretes „Dieses“) oder Generisches (als ein „Solches“, „Derartiges“) in der Zeit durchhält und sich als Potential bereithält. Entsprechend kann es kein Prozessobjekt – verstanden als Choreografie, Muster oder Charakteristik von Wiederholungen – geben, wenn es nicht eine Potentialität gibt, die es „trägt“. Potentialität kann die Form lokalisierter Prozessoren haben. Sie kann aber auch, als buchstäblich verstandener Möglichkeitsraum, in den topologischen Relationen einer Menge von Dingen liegen. (7) Wenn ein Prozessobjekt in keinem Moment existiert, sondern allein in der Dauer seine Existenz chronifiziert, kann es für einen Beobachter ohne Gedächtnis nicht existieren; denn ein gedächtnisloser Beobachter „sieht“ bloß die ihn je momentan umgebenden Entitäten (er „sieht“ bloß die Prozessoren). Vielmehr kann ein Prozessobjekt nur dem Beobachter erscheinen, der in der Lage ist, Gedächtnisspuren der in der Dauer ablaufenden Wiederholungen in eine Gegenwart seines Bewusstseins hinein zu kontrahieren. Dieses Kontrahieren ist eine (meist informelle) statistische Praxis. Entsprechend existiert auch Kollektivität überhaupt nur für gedächtnisfähige Beobachter, nämlich als kontrahierte Erfahrung vergangener und als (erfahrungsmäßig fundierte) Erwartung kommender Wiederholungen. Zwei Typen von Performanzen, die Realzusammenhänge von Einzelheiten und also Kollektivitäten hervorbringen, können unterschieden werden: replikative und interaktive Performanzen. (8) Replikative Performanzen bringen, wenn sie wiederholt werden, Populationen hervor, verstanden allgemein als Vielheiten ähnlicher Entitäten, die durch genetische bzw. genealogische Beziehungen, also durch Vererbungslinien verbunden sind. Populationen sind ein Typ von Kollektivitäten. Gabriel Tarde inspiriert die Auffassung, es gebe nicht nur Populationen von biologischen Organismen, sondern auch Populationen von kulturellen Formen. Darüber hinaus ließe sich von Populationen von Artefakten sprechen. Diese Auffassung impliziert keinen universellen Darwinismus. Aber sie impliziert, dass, wie die Formen von Organismen mittels biologischer Reproduktion repliziert werden, kulturelle Formen mittels Nachahmung und die Formen von Artefakten mittels Herstellung repliziert werden und dass ähnliche kulturelle Formen und Artefakte ebenso wie

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ähnliche Organismen meist in genealogischer Beziehung stehen, also über Ketten von Replikationen zusammenhängen. Populationen sind Prozessobjekte: Denn da die einzelnen Organismen, kulturellen Formen, Artefakte endlich sind, halten sich die Populationen nur so lange in der Welt, wie die replikativen Performanzen wiederholt werden. (9) Interaktive Performanzen bringen, wenn sie wiederholt werden, Interaktionszusammenhänge von Entitäten aus den verschiedensten Populationen hervor. Insofern Interaktionszusammenhänge nur solange bestehen, wie tatsächlich wiederholt interagiert wird, sind sie Prozessobjekte. Dabei ist der Begriff der Interaktion viel unbestimmter als der der Replikation. Wo die Replikation, wie immer sie sich konkret ausgestaltet, immer durch das funktionale Kriterium der Verdopplung von Formen gekennzeichnet ist, scheint jeder Prozess, in dessen Ablauf mehrere Entitäten einbezogen sind, schon als Interaktion ansprechbar zu sein; und es wird sich kaum ein Prozess finden, bei dem das nicht der Fall wäre. Bruno Latour inspiriert die Auffassung, dass genau diese Unbestimmtheit zumindest für die Gesellschaftswissenschaften von Vorteil sein könnte, indem sie alle Vorannahmen über die Natur der gesellschaftsbildenden Entitäten unterläuft und es erlaubt, die heterogene – nicht nur Menschen, sondern ebenso nichtmenschliche Lebewesen, kulturelle Formen, Artefakte, Materien etc. einbegreifende – Konstitution von Gesellschaften zu analysieren. Entsprechend sind Kollektivitäten als Interaktionszusammenhänge heterogener Entitäten zu verstehen. Heterogene Entitäten haben aber auch heterogene Seinsweisen. Im Besonderen ist es die Ontologie der materiellen Spur, gemäß welcher Latour Artefakte und Medien analysiert und die häufig in Interaktionszusammenhänge einbezogen sind auf eine Weise, dass sie deren zeitliche Bezüge ganz entscheidend verkomplizieren. (10) Population und Interaktionszusammenhang sind die beiden hier interessierenden Dimensionen des Begriffs der Kollektivität. Diese Dimensionen sind interdependent. Nicht nur müssen sich, damit Entitäten aus verschiedenen Populationen Interaktionszusammenhänge ausbilden können, die Verbreitungsgebiete der Populationen überschneiden, – was unmittelbar die Frage nach ihren Verbreitungswegen bzw. ihrer Logistik herausfordert. Sondern indem die Entitäten aller Populationen endlich sind, ist ein Interaktionszusammenhang, will er sich intergenerational durchhalten, auch angewiesen auf die fortlaufende Reproduktion der Populationen bzw. auf den laufenden Einbezug und das laufende Ausscheiden von Entitäten. Fasst man zumal die Konsumption als einen Grenzfall von Interaktion, ist klar, dass diese ohne die fortlaufende Reproduktion von Enti-

1. E INLEITUNG | 15

täten als Populationen von Nachschub nicht wiederholt werden kann. Konsumption ist Konsumption von Generischem als Generischem. Insofern aber auch viele nicht-konsumtive Interaktionen Interaktionen mit Generischem als Generischem sind, bedarf es zu ihrem Verständnis der Einsicht in die populationistische Konstitution des Generischen. (11) Kollektivitäten sind als Prozessobjekte Realobjekte, deren Existenz von jeder Aktualität dissoziiert ist. Sie sind nicht „emergent“ gegenüber der Performanz der Wiederholungen, konstituieren keinen „über“ oder „außerhalb“ der Einzelheiten gelegenen replikativen oder interaktiven Zusammenhang, sondern fallen genau mit der laufenden Performanz des Zusammenhangs in eins. Sie bilden keine Einheiten oder Ganzheiten, weil alle Einzelheiten, als dezentral auf einem Territorium ausgestreute, in ihrem Prozess raumzeitlich streng lokalisierte sind; weil ihre Replikationen und Interaktionen als zu wiederholende temporal offen sind; und weil in gegebene Interaktionszusammenhänge immer neue, bislang nicht kollektivierte Einzelheiten einbezogen werden können. In diesem Sinne sind Kollektivitäten Vielheiten ohne Gegenteil.

1.2 D ER T HEMENZUSAMMENHANG Es wird in der folgenden Untersuchung nicht darum gehen, diese Modellierung von Kollektivitäten bloß Schritt für Schritt zu entfalten. Sondern es wird eine gemischte Strategie gewählt, die darauf abzielt, gewisse philosophische, wissenschaftshistorische und soziologische Theorien und Problemlagen unter Rekurs auf das Modell anzugehen und damit zugleich seine Implikationen herauszuarbeiten. Das sind in Kapitel 2 das Universalienproblem, in Kapitel 3 Aspekte und Problemlagen aus der Geschichte der Statistik und Wahrscheinlichkeitsrechnung und in Kapitel 4 die materialistische Gesellschaftstheorie Bruno Latours, genannt Akteur-Netz-werk-Theorie (ANT). Der interdisziplinäre Charakter der gemischten Strategie birgt die Gefahr, die Konsistenz des Modells aus dem Blick zu verlieren, sich in Teilproblemen zu verlaufen und den diversen Theoriebildungen nicht so gerecht werden zu können, wie das in einem monothematischen Ansatz möglich wäre. Andererseits lassen sich so Zusammenhänge kenntlich machen, die monothematischen Ansätzen entgehen würden; und der Text kann eben auch für diverse Rezeptionen offen gehalten werden. Für die Einführung in den Themenzusammenhang können eine Reihe von Überlegungen Gabriel Tardes herangezogen werden, der in den 1890er Jahren eine Soziologie begründet hat, in deren Zentrum die Figur der Nachahmung als

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einer Form replikativer Wiederholung steht und die bei der Ausarbeitung des Modells eine große Rolle gespielt hat: „Stellen wir uns [...] eine Welt vor, in der es keine Ähnlichkeiten und keine Wiederholung gibt – eine absonderliche, zur Not aber klare Hypothese. Eine Welt, in der alles unerwartet und neu ist, in der dem schöpferischen Einfallsreichtum gewissermaßen ohne jede Erinnerung freier Lauf gelassen wird [...]. In einer solchen Welt spricht trotz allem nichts dagegen anzunehmen, daß jede Erscheinung dieses Phantasiegebildes durch eine andere entstanden, gar determiniert ist und sich selbst darum bemüht, andere hervorzubringen. Es könnte dort sehr wohl Ursachen und Ziele geben. Und dennoch, macht in dieser Welt eine wie auch immer geartete Wissenschaft Sinn? Nein. Weil es dort, wie gesagt, keine Ähnlichkeiten und keine Wiederholungen gibt.“ (GN29) „Ich sagte, daß es bei der Wissenschaft nur um [...] Ähnlichkeiten und Wiederholungen der Phänomene [ginge]. [...] Wenn nämlich Quantität Ähnlichkeit bedeutet und jede Ähnlichkeit aus einer Wiederholung stammt und jede Wiederholung eine Schwingung (oder irgendeine andere gleichmäßig wiederkehrende Bewegung), eine Fortpflanzung oder eine Nachahmung ist, dann folgt daraus, daß es in einer Welt, in der keine Bewegung eine Schwingung wird oder wurde und sich keine erbliche Wirkung zeigte und keine Handlung je gelernt und nachgemacht wäre, auch keine Quantität im Universum gäbe und damit keine mögliche Anwendung oder erkennbare Bestimmung der Mathematik. Bei der umgekehrten Hypothese, wenn nämlich unser physikalisches, lebendes und soziales Universum sein Schwingen, seine Geschlechtsaktivitäten und die Ausbreitung durch Nachahmung noch mehr entfaltete, wäre der Bereich des Berechenbaren noch ausgedehnter und tiefgehender.“ (GN38f.)

Wenn Wissenschaften Regelbildung betreiben und Mathematik ein Werkzeug zur Formalisierung von Regelbildung darstellt, dann haben beide in einem regellos sich verhaltenden Universum nichts auszurichten. Mehr noch, in einem solchen Universum wäre auch jede vorwissenschaftliche Form des Gedächtnisses und der Erfahrungsbildung überflüssig, – wenn man annimmt, der praktische Wert von Erfahrung bestehe darin, in Erwartung konvertierbar zu sein, also in der Erwartbarmachung zukünftigen Geschehens: denn ein solches Universum wäre selbst gedächtnislos. Wichtiger ist eingangs aber das im Zitat anschaulich werdende Prinzip Tardes, die in der Welt erscheinenden Quantitäten (Ähnlichkeiten) nicht bloß zu registrieren und zu klassifizieren, sondern die Analyse insgesamt auf die Betrachtung der Genese, der Mechanismen der performativen Hervorbringung dieser Quantitäten umzustellen. Die Behauptung, alle beobachtbaren Ähnlichkeiten von

1. E INLEITUNG | 17

Phänomenen seien Wiederholungen geschuldet, resultiert dann in der Verzeitlichung aller momentan vorliegenden Ähnlichkeiten. Für Tarde gilt: Alle Ähnlichkeiten in der „Chemie, Physik und Astrophysik“ resultieren aus fortlaufender Schwingung oder zirkulärer Bewegung (z.B. die Bewegung der Elektronen im Atommodell oder die zirkuläre Bewegung der Planeten). Alle Ähnlichkeiten in der Biologie resultieren aus Fortpflanzungsakten. Alle Ähnlichkeiten in der sozialen Welt resultieren aus Nachahmungen (GN 38). Dabei fällt auf, dass die Schwingung oder zirkuläre Bewegung eine andere Form von Wiederholung repräsentiert als Fortpflanzung und Nachahmung; wo diese replikativ im Sinne von #8 sind,1 ist jene non-replikativ. Entsprechend rühren die Ähnlichkeiten in Chemie, Physik und Astrophysik nicht, wie die biologischen und sozialen Ähnlichkeiten, aus Replikationsketten und also aus der genealogischen Beziehung des Ähnlichen her. Sie sind deshalb hier nicht von Interesse. Das sogenannte „Universalienproblem“ bezeichnet eine philosophische Diskursformation, die von den Texten Platons und Aristoteles’ über Neuplatoniker wie Boethius und Porphyrius und die arabische Scholastik (Avicenna, Averroës) bis ins europäische Spätmittelalter reicht und besondere Intensität im 12. bis 14. Jahrhundert erlangt; in ihr steht die Frage nach der Natur und dem ontologischen Status des Universalen, des Allgemeinen, auf dem Spiel. Einfach ausgedrückt, entzündet sich diese Frage genau an der Tatsache der Quantität in der Welt, der massenhaft beobachtbaren Ähnlichkeit von Dingen in der Welt. Ähnlichkeit heißt: die vielen real unterschiedenen (einzelnen und abgegrenzten) Entitäten sind in einem Aspekt ihres Seins anscheinend ununterschieden, kommen in etwas überein, haben etwas gemeinsam. Ist man bereit, dieses Etwas, in dem sie ununterschieden sind und das man (daher) als Universal ansprechen kann, substantivisch als Eines, als ein Etwas, gar als ein Ding zu behandeln, ergeben sich unter anderem folgende Probleme: Wie kann es sein, dass dieses eine Etwas zugleich in den Vielen ist; wie kann es in den Vielen sein und dabei jederzeit ein Eines (Ganzes) bleiben; wie gelangt das eine Etwas in die Vielen; und in welcher Relation steht es zu den Vielen, sofern es in ihnen ist? Konzeptionen des Universalen müssen sich daran messen lassen, in welchem Umfang es ihnen gelingt, Probleme dieser Art plausibel zu lösen. Der Raum möglicher Konzeptionen im Diskurs des Universalienproblems wird seit dem 3. Jahrhundert abgesteckt durch die kanonisch gewordenen Fragen des Porphyrius in seiner Einleitung (Isagoge) zur aristotelischen Kategorienschrift hinsichtlich der Seinsweise der prototypischen Universalien „Gattung“

1

Mit #1 bis #11 wird im Folgenden auf die nummerierten Paragrafen des Modells verwiesen.

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und „Art“. Porphyrius fragt, ob Gattungen und Arten „etwas Wirkliches sind oder nur auf unseren Vorstellungen beruhen, und ob sie, wenn Wirkliches, körperlich oder unkörperlich sind, endlich, ob sie getrennt für sich oder in und an dem Sinnlichen auftreten“ (Isag. 1). Schematisch ließe sich auf dieser Grundlage sagen, dass eine Position, welche Universalien als extramentale Realobjekte auffasst, die unkörperlich sind und vom Sinnlichen abgetrennt für sich existieren, eine platonische sei; dass eine Position, die sie als extramentale Realobjekte auffasst, die körperlich, nämlich im oder am Sinnlichen existieren, eine realistische sei; dass eine Position, die Universalien als extramentale Realobjekte verwirft, insgesamt eine nominalistische sei (welche mit der Position zusammenbestehen kann, von vielen Dingen aussagbare sprachliche Ausdrücke seien universale); während eine Position, die die Realität von Universalien als mentale Objekte (und dabei als Resultat abstraktiver Erfahrungsbildung) akzentuiert, eine konzeptualistische sei. Die in dieser Schematisierung angelegte Unverträglichkeit der Positionen – insbesondere (aber nicht ausschließlich) entlang der Frage, ob es sich bei Universalien um extramentale Realobjekte handele oder nicht – rechtfertigt es dann, von einem „Universalienstreit“ zu sprechen. Die Hauptthese von Kapitel 2 besagt, dass die Figur des Universalen ihren problematischen Charakter verliert und die Unverträglichkeit der respektiven Positionen im Universalienstreit sich löst, wenn man Tardes Diktum ernst nimmt, alle Ähnlichkeiten von Phänomenen seien replikativen Wiederholungen geschuldet, – wenn man also von der Betrachtung von Universalien auf die Betrachtung von Universalisierungsprozessen umstellt. Denn die genannten Probleme und Paradoxien hinsichtlich der Natur und Seinsweise des „einen Etwas“, des Universals, resultieren vor allem daraus, dass seine Theoretiker den Prozesscharakter ihres Gegenstands meist nicht oder nicht ausdrücklich realisieren und daher nicht reflektiert in ihre Theoriebildung einfließen lassen können. Die replikative Wiederholung bildet demnach das meist unbeschriebene Zentrum des Universalienproblems.2 Entsprechend besteht das Projekt des Kapitels darin, den Zusammenhang zwischen Wiederholung und Universalität in einer Auswahl von Texten zum Universalienproblem zu rekonstruieren, d.h. diese Texte auf Symptome und

2

Allerdings ist klar, dass Ähnlichkeit – und entsprechend Universalität – im Feld von „Chemie, Physik und Astrophysik“, von denen Tarde oben sprach, durch diesen Ansatz nicht erfasst werden, da hier keine replikative Wiederholung anzutreffen ist. Das schränkt zwar den Geltungsbereich des Ansatzes insgesamt erheblich ein, zeitigt aber, wie sich zeigen wird, in der Analyse des Universaliendiskurses keine grundsätzlichen Probleme. (vgl. Kap. 2.3.4)

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mehr oder weniger explizite Thematisierungen von Wiederholungsprozessen im Begründungszusammenhang von Figuren des Universalen hin zu analysieren. Dabei wird sich zeigen, dass in den antiken Quellen der Universalienproblematik, bei Platon und Aristoteles (Kap. 2.1., 2.2), dieser Zusammenhang präsenter ist als in den mittelalterlichen Texten, die daher nur sehr selektiv rezipiert werden (Kap. 2.3). Insofern Universalität als populationistisches Phänomen im Sinne von #8 gefasst wird, steht es im Horizont des Modells von Kollektivität: Universalisierung qua Replikation ist genau eine Form von Kollektivierung, eine Form der Konstitution von Kollektivitäten als Populationen. Die Befassung mit dem Universalienproblem ist geeignet, das Verständnis dieser Kollektivitäten zu vertiefen. Darüber hinaus lässt sich unter Rekurs auf Aristoteles’ Denken des Allgemeinen der in #6 konstatierte Zusammenhang zwischen Potentialität und (nicht bloß replikativer, sondern) Wiederholung überhaupt etwas näher herausarbeiten. In Kapitel 3.2 wird dann das Thema der replikativen Wiederholung auf soziologischem Niveau, nämlich in der Analyse der Tarde’schen Soziologie weiterbehandelt. Der Universaliendiskurs ist nicht die einzige historische Disziplin, die mit Ähnlichkeiten von Phänomenen und in diesem Sinne mit „Massenerscheinungen“ (Lexis 1877) befasst ist: Gleiches gilt, wenn auch auf ganz anderem epistemologischen und formalen Niveau, für die Statistik und die Wahrscheinlichkeitsrechnung. Statistik ist eine Praxis, die Ähnliches klassifiziert, Spuren von Ähnlichem kontrahiert bzw. zusammenzählt und diese Kontraktionen ggf. evaluiert und vergleicht. Dabei ist sie nicht, wie der Universaliendiskurs, auf die Erfassung von Ähnlichkeiten von Entitäten konzentriert, sondern erfasst ebenso ähnliche Performanzen, Prozesse oder Ereignisse (und dabei sowohl replikative wie interaktive), sofern diese sich wiederholen und damit einem quantitativen Zugriff grundsätzlich offenstehen. Zum Beispiel erfasst die Einwohnerstatistik eine Menge von Entitäten (Menschen), die Geburtenstatistik eine Menge von replikativen Wiederholungen (Fortpflanzungen) und die Handelsstatistik eine Menge von interaktiven Wiederholungen (Tauschvorgängen). Zudem sind in viele Statistiken, die ihr Objekt nach gewissen konventionellen Merkmalen klassifizieren, Wiederholungen implizit eingehüllt, so etwa in einer Arbeitsmarktstatistik die Zusammenhänge wiederholter Interaktion (#9), die Arbeitsverhältnisse in ihrer Alltäglichkeit konstituieren. Hiermit deutet sich insgesamt an, dass gängige Bevölkerungs- und Sozialstatistiken zwar häufig nicht exklusiv auf die Analyse von Kollektivitäten, nämlich von Populationen und Interaktionszusammenhängen im Sinne des skizzierten Modells gerichtet sind, dass diese ihnen aber meist als Realobjekte zu Grunde liegen. Umgekehrt können Kollektivitäten selbst ausschließlich statistisch erfasst werden, da sie als Prozessobjekte nicht

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unmittelbar in irgendeiner Aktualität beobachtbar sind, sondern sich nur in der Kontraktion der in der Dauer ablaufenden replikativen und interaktiven Wiederholungen zeigen (#5, #7). Dass die Wiederholungen sich fortsetzen, solange Kollektivitäten unverändert existieren, drückt sich dann als relative Stabilität der statistischen Daten in der Zeit aus; und es ist diese Stabilität, die erst jene Konversion von der Erfahrung vergangenen in die Erwartung zukünftigen Geschehens erlaubt, von der oben in Anlehnung an Tarde (sowie in #7) die Rede war. Während die statistische Praxis im engeren Sinne selbst nicht mit dem Problem der Stabilität von Wiederholungen befasst ist, ist genau das für die Theorie der statistischen Wahrscheinlichkeit der Fall. Deren zentrales, zuerst 1713 von Jakob Bernoulli formuliertes Theorem, das (später so genannte) „Gesetz der großen Zahlen“, gibt nämlich an, in welchem Umfang die Erfahrung vergangener Wiederholungen die Erwartung zukünftiger Wiederholungen begründet: Der Begriff der statistischen Wahrscheinlichkeit bezeichnet genau diese (begründete) Erwartung. Insofern also die Wahrscheinlichkeitstheorie ein Modell statistischer Stabilität anzubieten verspricht, und da statistische Stabilität konstitutiv ist für die Existenz des Prozessobjekts Kollektivität, erscheint eine Auseinandersetzung mit der Wahrscheinlichkeitstheorie in diesem Rahmen als vielversprechend. Dabei sollen zunächst die Konnotationen des aristotelischen Wahrscheinlichkeitsbegriffs aufgearbeitet werden (Kap. 3.1.1), die auf vorwissenschaftlichem Niveau die im 19. und 20. Jahrhundert sich entfaltenden divergenten Positionen hinsichtlich der Natur und des Status’ der Wahrscheinlichkeit (Kap. 3.1.2) vorwegnehmen. Das Hauptanliegen von Kapitel 3.1 insgesamt besteht darin zu zeigen, dass diese Positionen wiederum den respektiven Positionen im Universalienstreit überzufällig ähneln. Kapitel 3.1.3 versucht diesen Sachverhalt unter Rekurs auf die Figur des Prozessobjekts (#5) zu begründen. Während die statistische Praxis als solche aufgrund der Diversität ihrer möglichen Gegenstände keine einheitliche statistische Theorie der von ihr jeweils erfassten Realobjekte ausbilden kann, ist in der Wahrscheinlichkeitstheorie sehr wohl versucht worden, ein einheitliches (und entsprechend abstraktes) Modell einer der statistischen Wahrscheinlichkeit bzw. der statistischen Stabilität probabilistischer Phänomene zu Grunde liegenden Kausalordnung zu entwerfen: Das ist das 1814 von Pierre-Simon Laplace skizzierte Modell des Zusammenspiels von konstanten und akzidentellen Ursachen. Kapitel 3.2 geht es insgesamt darum, die Implikationen dieses Modells herauszuarbeiten. Kapitel 3.2.1 stellt das Modell vor und evaluiert die Plausibilität seiner Geltung im Feld gesellschaftlicher Phänomene. Dabei wird gezeigt, dass es sich bei den sog. konstanten Ursachen in Wahrheit um Potentialitäten bzw. Prozessoren handelt (#6). Kapitel 3.2.2 rekonstruiert mit Antoine-Augustin Cournot die Notwendigkeit der Annahme ei-

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ner replikativen Wiederholung der konstanten Ursachen als Bedingung jeder interaktiven Wiederholung (#8, #9) und stellt die topologische Konstitution realer Vielheit (#2) als eine zentrale Bedingung jeder (auch bloß annährungweisen) Geltung des Bernoulli’schen „Gesetzes“ im Feld gesellschaftlicher Phänomene heraus. Und Kapitel 3.2.2 folgt der platonischen Interpretation der Figur der konstanten Ursache bei Auguste Quetelet. Kapitel 3.3 schließt zunächst nicht unmittelbar an Probleme der Statistik und Wahrscheinlichkeitsrechnung an, sondern ist mit Gabriel Tardes Soziologie der Nachahmung befasst. Tarde analysiert die Ausbreitungsbewegung von Populationen von – hier, nicht bei Tarde selbst so genannten – kulturellen Formen, verstanden als mittels replikativer Wiederholung (Nachahmung) erworbene und daher meist genealogisch zusammenhängende Handlungsdispositionen (oder Potentialitäten) von Individuen zur Ausführung kultureller Praktiken im weitesten Sinne, „auf“ Populationen von Menschen. Kapitel 3.3.1 rekonstruiert den Entstehungszusammenhang des Tarde’schen Denkens im 19. Jahrhundert und Kapitel 3.3.2 bietet eine selektive Analyse von Momenten und Problemen dieses Denkens. Kapitel 3.3.3 kehrt wieder zum Thema der Statistik zurück, indem Tardes Projekt nachgezeichnet wird, Statistik zu einem herausragenden Mittel der Erfassung der genannten Ausbreitungsbewegung zu machen. In diesem Projekt wird der – in Kapitel 3.2.2 (und bereits in #10) festgestellte – notwendige Zusammenhang der replikativen und interaktiven „Dimensionen“ von Kollektivitäten für den Fall der kulturellen Formen in exemplarischer Weise evident. Kollektivitäten sind in ihrer interaktiven Dimension Zusammenhänge wiederholter Interaktionen zwischen Akteuren und Entitäten verschiedensten Typs (#9), wobei unter Interaktion ganz allgemein bloß das Eintreten in gemeinsame, mehrere Akteure bzw. Entitäten einbegreifende Prozesse zu verstehen ist. In diesem Sinne sind sie m.E. „Akteur-Netzwerke“ des Typs, wie sie von der AkteurNetzwerk-Theorie (ANT) beschrieben werden, – und nicht bloß Personen einbegreifende „soziale Netzwerke“. Dabei findet gemäß der Analyse Bruno Latours keine aktuelle Interaktion in einer Gegenwart als Gleichzeitigkeit statt. Sondern da die in gemeinsame Prozesse eintretenden Akteure und Entitäten als (Träger) materielle(r) Spuren früherer Prozesse verschiedensten Datums anzusehen sind, ist ihr Prozess ein Prozess von Ungleichzeitigem. In dem Aspekt, dass Spuren (wiederholbare) Prozesse in ihrem bestimmten Ablauf prozessieren, konstituieren sie eine die Prozesse „tragende“ Potentialität (#6). Materielle Spuren sind mit Latour so zu analysieren, dass sie materielle Prozessresultate vergangener Prozesse darstellen, die seiner-

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zeit von angebbaren Akteuren bzw. Entitäten ausgeführt worden sind. Fasst man diese Akteure bzw. Entitäten als „abwesende Andere“, lässt sich sagen, dass in fast jeder aktuellen Interaktion abwesende Andere spurenvermittelt anwesend sind und einen Unterschied machen: Die aktuelle Interaktion ist eine translokale, transtemporale Interaktion mit abwesenden Anderen, schließt unmittelbar an deren – ggf. lange zurückliegenden – vergangenen Prozess an, welcher in der materiellen Spur gleichsam eingefroren und verewigt ist. Das begründet die zeitliche Heterogenität fast jeden aktuellen Geschehens. Nach einer Einführung und dem in Kapitel 4.1 eingangs geleisteten Versuch, die allgemeine Logik der materiellen Spur herauszuarbeiten, klärt Kap. 4.1.1 zunächst die Bedeutung dieser Figur für die Latour’sche Theorie insgesamt. Kapitel 4.1.2 begibt sich dann in die Analyse von Artefakten als materiellen Spuren in den Texten Latours. Dabei stehen sog. „Soziotechniken“, also gezielte dingvermittelte Einwirkungen von Akteuren auf Akteure, im Zentrum des Interesses. Kapitel 4.1.3 wendet sich der Rolle medialer Spuren in der Konstitution von Kollektivitäten zu. Wie für Tarde Gesellschaftlichkeit durch Nachahmung, durch die Ausbreitungsbewegung kultureller Formen definiert ist, so fällt das Soziale für Latour buchstäblich mit einer fortlaufenden Ausbreitungsbewegung medialer Spuren („a certain form of rapid circulation of traces“, PIC 11) zusammen, insofern raumzeitlich weit ausgreifende Interaktionszusammenhänge vieler Akteure und Entitäten nicht nur durch deren Mobilität (#4), sondern ebenso durch die Mobilität medialer Spuren realisiert werden. Entsprechend gilt es, die charakteristischen Formen von Mobilität – nämlich die Kontraktion und Dissemination medialer Spuren in sog. „Oligoptiken“ – bei Latour herauszuarbeiten. Kollektivitäten bilden sich in der Wiederholung replikativer und interaktiver Performanzen (#5, #8, #9). Das Thema der Wiederholung von Interaktionen wurde bereits in der Analyse des Wahrscheinlichkeitsbegriffs mitbehandelt. Kapitel 4.2 wendet sich ihm explizit zu, indem es nach dem Vorkommen der Figur der Wiederholung in der ANT fragt und einige allgemeine Wiederholungsbedingungen von Interaktionen zwischen selbigen Akteuren bzw. Entitäten zu rekonstruieren sucht. Andererseits gibt es, wie weiterhin zu analysieren sein wird, viele gemeinsame Prozesse, für deren Ablauf Akteure bzw. Entitäten nicht als bestimmte selbige, sondern bloß dem Typ nach einen Unterschied machen, so in der wiederholten Konsumption von Generischem als Generischem sowie in der wiederholten Interaktion mit Generischem als Generischem. Wo aber die generischen Akteure bzw. Entitäten Elemente von Populationen sind, spielt die replikative „Dimension“ von Kollektivitäten unmittelbar in diese Formen von Wiederholung hinein (#10). – Am Ende von Kapitel 4.2 steht schließlich eine Synopsis

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der hier anzutreffenden Verwendungsweisen der Begriffe „Kollektivität“ und „Kollektivierung“. Wie sich in Hinsicht auf die Begriffe des Universalen und der Wahrscheinlichkeit die Frage stellte, ob ihre Gegenstände extramentale Realobjekte seien oder nicht, stellt sich diese Frage auch für gewisse Begriffe der Gesellschaftswissenschaften, – so für die Begriffe der „Struktur“ und des „Systems“, aber auch für den Gesellschaftsbegriff selbst. Insofern diese Frage im abschließenden Kapitel 4.3 aufgegriffen wird, lässt sich sagen, das philosophische Thema des „Nominalismus“ vs. „Realismus“ ziehe sich durch die ganze vorliegende Untersuchung. Bruno Latour konkretisiert die genannte Opposition, indem er sie im Konflikt der Soziologien Gabriel Tardes und Emile Durkheims wiederfindet und dabei entschieden dramatisiert. Demgegenüber wird eine entdramatisierende vergleichende Lektüre Tardes und Durkheims vorgenommen (Kap. 4.3.1), in kritischer Auseinandersetzung mit Latours eigener Positionierung die Figur des Prozessobjekts Kollektivität als für die Überwindung der genannten Opposition entscheidend bekräftigt (Kap. 4.3.3; #11) und, vor diesem Hintergrund, der (angesichts seiner eigenen Präsenzkritik paradoxe) Präsentismus des Latour’schen Denkens aufgezeigt.

2. Kollektivität und Universalisierung

Bringt man die oben zitierte porphyrische Frage, ob Gattungen und Arten „etwas Wirkliches sind oder nur auf unseren Vorstellungen beruhen, und ob sie, wenn Wirkliches, körperlich oder unkörperlich sind, endlich, ob sie getrennt für sich oder in und an dem Sinnlichen auftreten“ (Isag. 1), in historischen Kurzschluss mit einem Begriff der Spezies, wie er sich in der Nachfolge Darwins in populationistischen Theorien der biologischen Arten findet, prominent etwa bei Ernst Mayr, dann zeigt sich, dass durch die Einführung von Prozessualität in den Artbegriff die von Porphyrius etablierte Matrix des philosophischen Universalienproblems überschritten wird und dass auf diesem Weg das Problem seinen aporetischen Charakter verliert. Die Spezies ist im populationistischen Denken (Mayr 1988, 199-268; Mayr 1969, 1959) nicht durch eine Art-Form als Klasse ähnlicher Organismen definiert, sondern als Reproduktionsgemeinschaft, als wirkliche, in Raum und Zeit konkrete Population von Organismen, die über Reproduktionsbeziehungen ganz real zusammenhängen. Ihr Zusammenhang ist kein klassifikatorischer, sondern ein generativer, und er ist der Population vollkommen immanent, insofern die Organismen ihn durch laufende Reproduktion selbst herstellen. Die biologische Konsistenz der Art und schließlich auch die relative Ähnlichkeit der ihr zugehörigen Organismen ist dann bloß Effekt des Zusammenhangs: einerseits der in der Reproduktion gelegenen Vererbungsmechanismen und andererseits der reproduktiven Isolation der Art.1 Da der populationistische Artbegriff nicht über die

1

Effekt des generativen Zusammenhangs sind auch die genotypischen Differenzen innerhalb der Population, also die genetische Varietät, welche die evolutionäre Lebendigkeit und Robustheit der Population wesentlich ausmacht. Dabei handelt es sich um eine Varietät, die strikt nur von einem Organismus zum anderen verläuft, denn kein bestimmter Genotyp innerhalb der Population und kein genotypischer Mittelwert kann als privilegierter Ausgangspunkt gelten, von dem ausgehend Differenzen bestimmbar

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von Organismen geteilte Eigenschaften, sondern über replikative Performanzen definiert ist, bekommt er notwendig eine historische Konnotation; von Arten lässt sich ebenso wenig in Absehung von ihrer Entstehung, ihrer Entwicklung und ihrem möglichen Untergang sprechen wie in Absehung von ihrem Verbreitungsgebiet, ihrer Migration und den ihnen begegnenden geographischen reproduktiven Barrieren etc. Arten sind historische und topologische Objekte. Das heißt auch, dass sie, als Objekte, nie voll in einer Gegenwart aufgehen, sondern alle vergangenen Generationen mit umfassen, ohne die sie in ihrer gegenwärtigen Konstitution auch unerklärlich blieben. Andererseits schließt die „Existenz“ einer Art ein, dass sie (mindestens in gewissem Umfang) auch eine Zukunft habe. Der entscheidende Punkt ist aber hier ein anderer. Wenn nämlich die Art populationistisch über replikative Performanzen definiert ist, dann gilt: Je mehr man über Fortpflanzungsvorgänge und ihre Mechanismen weiß, desto durchsichtiger wird auch, wie Ähnlichkeit und damit Universalität wirklich produziert wird. Wenn man etwa weiß, dass die phänotypischen Merkmale von Organismen unter Rekurs auf das Erbgut von Zellen hervorgebracht werden und dass das Erbgut im Rahmen der sexuellen Fortpflanzung – unter Einschluss von Variation qua Rekombination – repliziert wird, dann verliert das Phänomen der Ähnlichkeit von Organismen seinen hervorgehobenen und problematischen Charakter. Vielmehr erschließt sich problemlos, dass das, was die Ähnlichkeit von Organismen begründet, nämlich die Art-Form (verstanden als phänotypische Ausprägung eines spezifischen Genotyps), universal ist als immer vorläufig bleibendes Resultat des vorgängigen und fortgesetzten Universalisierungs- bzw. Replikationsprozesses der Fortpflanzung. Kurz, die Universalität der Art-Form ist eine populationistische. Im Geist dieses populationistischen Ansatzes, der auch über das Feld biologischer Phänomene hinaus fruchtbar zu machen ist (#8), sollen jetzt einige zentrale Aspekte des philosophischen Universaliendiskurses näher untersucht werden. Was nicht geleistet werden kann und auch nicht sinnvoll wäre, ist, den Diskurs in seiner historisch-systematischen Genese insgesamt zu betrachten.2 Statt-

wären. Zur Immanenz des die Art begründenden generativen Zusammenhangs tritt also die Immanenz der Differenzialverhältnisse innerhalb der Art. 2

Die mit Abstand differenzierteste Analyse des Diskurses liefert de Libera 2005a; für einen historischen Überblick siehe auch Stegmüller 1956f., 203-225; HWPh, Bd. 11, 179ff. und Klima 2008; vgl. die Einleitungen in Wöhler 1992, 1994. Auf historische Kontextualisierung teils ganz verzichtende Einführungen in die Problematik liefern Russell 1912, 142-173; Armstrong 1989, 1-7; Loux 2008; Moreland 2009, 3-30. Eine

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dessen sollen vor allem die antiken Texte zur Universalienproblematik hinsichtlich des Zusammenhangs von Wiederholung und Universalität untersucht werden. Ziel des Vorgehens ist es, die verengte Rezeption der antiken Quellen (de Libera 2005a, 53-109; 2005b, 15-21) durch die Protagonisten des mittelalterlichen Universalienstreits im engeren Sinne (ders. 2005a, 139) aufzubrechen und die Problematik soweit möglich unmittelbar auf prozessphilosophischer Grundlage von der Figur der Kollektivität her zu reformulieren. Positionen des mittelalterlichen Streits werden dann nur behandelt, wenn sie sich mit dieser Reformulierung wenigstens mittelbar in Beziehung setzen lassen.

2.1 D IE S ERIE

DER

A BBILDER (P LATON )

Eine der möglichen Antworten im Schema der porphyrischen Frage lautet, das Universal sei ein extramentales Wirkliches, das unkörperlich und abgetrennt für sich existiere. Insofern diese Antwort auf die in den mittleren Dialogen prominent figurierende, wenn auch keineswegs systematisch ausgeführte platonische Lehre von den abgetrennten Ideen bzw. Formen3 als den höchsten Seienden verweist, schreibt Porphyrius diese (retrospektiv, durch die kanonische Zukunft seiner Frage aber auch prospektiv) in die Matrix des Universalienproblems ein. Tatsächlich ist es nicht unintuitiv, die platonischen Formen als Universalien zu verstehen, wenn man liest: „Die Ideen stehen gleichsam als Musterbilder in voller Wirklichkeit da, die Einzeldinge aber sind ihnen ähnlich und sind Abbildungen von ihnen und die Teilnahme der Einzeldinge an den Ideen besteht eben in nichts anderem als in dieser Nachbildung.“ (Prm. 132d Ap.)

Auswahlbibliografie zum Universalienproblem insgesamt findet sich bei De Libera 2005a, 471f. Literatur zu einzelnen Autoren und Problemen wird unten im jeweiligen Zusammenhang gebracht. 3

Nachfolgend wird durchgängig von platonischen Formen gesprochen, was einerseits dem angloamerikanischen Sprachgebrauch entspricht („Platonic forms“), andererseits aber darauf zielt, eine begriffliche Kontinuität zwischen der abgetrennten platonischen (ἰδέα, εἶδος; vgl. zu den übrigen geläufigen begrifflichen Korrelaten der „Ideen“/ „Formen“ im Text Platons HWPh, Bd. 4, 55ff.) und der immanenten aristotelischen Form (εἶδος) herzustellen, die sich als kritische Weiterentwicklung der ersteren darstellt. (vgl. Kap. 2.2)

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Wenn die Einzeldinge eines Typs an einer bestimmten Form teilnehmen und ihr ähneln, insofern sie ihre Abbilder sind, dann ist die Form das, was die Einzeldinge gemeinsam haben, worin sie ununterschieden sind. Dass die Einzeldinge Abbilder der einen bestimmten Form sind oder an sich haben, macht sie dabei genau zu dem was sie sind, macht ihr Wesen aus. (Men. 72a-d; vgl. Prm. 132a) Aristoteles bestätigt den Universaliencharakter der platonischen Formen insoweit, als er deren konzeptuelle Genese wie folgt nachzeichnet: Sokrates habe im Bereich der ethischen Tugenden „als erster versucht, allgemeine Definitionen zu geben“, doch er „setzte die allgemeinen Begriffe und Definitionen nicht als getrennt [von den Einzeldingen] existierende an“. Die Platoniker hingegen „trennten sie ab und bezeichneten solche Dinge als Ideen; so ergab sich für sie, daß es aus demselben Grund so ziemlich von allen Dingen Ideen gibt, die allgemein ausgesagt werden“. (Met. 1078b18-34; vgl. Phd. 75c-d) Wenn demnach die platonischen Formen ontologisierte Allgemeinbegriffe und Definitionen sind, sind sie von ihrer Genese her als Universalien angelegt. Andererseits aber scheint ihre ontologisierende Abtrennung ihren universalen Charakter gerade zu unterminieren: „Bei denen, die die Existenz der Ideen behaupten, sieht man zugleich mit der Art und Weise ihrer Betrachtung auch das damit verbundene Problem. Denn sie setzten die Ideen zugleich als allgemein und wiederum als getrennt existierende Substanzen und zu den Einzeldingen gehörend.“ (Met. 1086a31-34)

Denkt man die Formen, wie Platon, als einfache (Rep. 476a; 507b; 597c), mit den Sinnen nicht zu erfassende, von den endlichen Einzeldingen abgetrennte, zeitlos und unveränderlich für sich existierende (Phd. 78d-79b; Symp. 211a-b), dann lässt sich argumentieren, sie seien viel eher einzelne, durchweg abgetrennt bleibende Objekte als wirklich Universalien. Das umso mehr, als die Figur der Teilhabe, die die Einfachheit und Ungeteiltheit der Form durch alle Partizipationen hindurch zu gewährleisten hat (so dass die eine Form allen Einzeldingen eines Typs gemeinsam ist), nicht in wirklich befriedigender Weise konzipiert werden kann (Prm. 130e-133a). Entsprechend weist Platon selbst im Parmenides auf die Möglichkeit hin, die Formen könnten ganz unbezüglich auf die Einzeldinge der irdischen Welt sein: „Weil ich [...] glaube, daß du und jeder, der ein selbständiges Sein einer jeden [Idee] annimmt, [...] zugeben muß, daß keine dieser Ideen bei uns in der Sinnenwelt ihre Wohnstätte hat. [...] Setze z.B. [...] den Fall, es wäre von uns hier einer Herr über irgendeinen oder Sklave eines anderen, so ist er doch offenbar nicht Sklave des Herren an sich und ebenso-

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wenig Herr eines Sklaven an sich, sondern als Mensch ist er beides im Verhältnis zu einem Menschen. Die Herrschaft an sich dagegen ist, was sie ist, in Beziehung auf die Knechtschaft an sich und ebenso die Knechtschaft an sich: sie ist Knechtschaft im Verhältnis zur Herrschaft an sich, und es steht nicht etwa so, daß die irdischen Dinge ihre Beziehung auf jene oder jene ihre Beziehung auf uns hier haben, sondern, wie gesagt: wie jene sich auf sich selbst beschränken und ihre Beziehungen nur zueinander selbst haben, so beziehen sich auch die Dinge bei uns hier nur aufeinander.“ (Prm. 133c-134a)

Wäre dem so, dann müssten die Formen als bloße Verdoppelung der irdischen Welt gelten, die, selbst wenn es sie gäbe, nichts zur Erklärung der in ihr erscheinenden Phänomene beizutragen hätte. Das ist denn auch ein Kernpunkt der aristotelischen Platon-Kritik: „Am wichtigsten von allen ist die Frage, was die Ideen denn beitragen für die ewigen unter den wahrnehmbaren Dingen oder für die dem Entstehen und Vergehen unterworfenen. Denn sie sind für sie von keinerlei Bewegung oder Veränderung die Ursache. {...} Zu sagen, dass sie Vorbilder (Urbilder, παραδείγµατα, paradeigmata) sind und dass die anderen Dinge an ihnen teilnehmen, heißt leer daherreden und dichterische Metaphern verwenden.“ (Met. 991a9-23; vgl. An. post. 83a)

An dieser Auffassung könnte als problematisch erscheinen, dass Aristoteles den paradigmatischen Charakter der Formen in einem Atemzug mit dem Konzept der Teilhabe (Methexis) verwirft. Denn das Postulat ihres paradigmatischen Charakters zielt auf die Frage, wie denn aus den Formen endliche Dinge entstehen können, während das Methexis-Konzept die Frage lanciert, wie in dem schon entstandenen Ding sein Entstehungsgrund noch enthalten sei. Dass das MethexisKonzept über das Wie des Entstehens keine Auskunft gibt, liegt deshalb in der Natur der Sache. Das heißt aber nicht, und darin wird Aristoteles (und der zitierten Parmenides-Passage) hier widersprochen, dass Platon nichts dazu zu sagen hatte, wie, unter Einbezug von Formen, endliche Dinge entstehen. In dem Maße aber, in dem die wirkliche Entstehung von Dingen von ihnen abhängt, sind die Formen in Hinsicht auf deren Erkenntnis auch bedeutsam. Die Frage nach dem deskriptiven Gehalt eines Modells, das das Existierende in zwei große Abteilungen aufteilt, das unveränderliche Sein der Formen und das ständige Werden der irdischen Welt (Phd. 78c-e; Tim. 27d-28a), stellt sich grundsätzlich so: Welche Eigenschaften der irdischen, sinnlich erfahrbaren Welt sind es, die die Vorstellung einer zweiten Welt unveränderlicher Formen inspirieren und plausibilisieren? Zweifellos nicht die Eigenschaft der irdischen Welt, einem völlig ungeregelten Werden zu unterliegen. Allerdings scheint Platon, un-

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ter Rekurs auf Heraklit, die irdische Welt gelegentlich exakt so zu charakterisieren; und Aristoteles macht aus dieser Charakteristik geradezu das Motiv der Einführung der Zwei-Welten-Lehre: „Es ergab sich die Lehrmeinung von den Ideen {...} für ihre Vertreter daraus, daß sie hinsichtlich der Frage nach der Wahrheit von den heraklitischen Argumenten überzeugt waren, daß alle wahrnehmbaren Dinge stets im Fluß seien – so daß es, wenn es denn gesichertes Wissen von etwas und Einsicht geben solle, bestimmte andere, bleibende Wesenheiten (Naturen, φύσεις, physeis) neben den wahrnehmbaren geben müsse; denn vom Fließenden gebe es kein gesichertes Wissen.“ (Met. 1078b12-18)

Allerdings ist klar, dass, wenn der Fluss der wahrnehmbaren Dinge völlig ungeregelt und chaotisch wäre, das durch das Postulat bleibender Wesenheiten ermöglichte Wissen die irdische Welt in keiner Weise beträfe. Durch das Postulat wäre hinsichtlich der Erkenntnis der irdischen Welt nichts gewonnen. Mehr noch, es ließe sich argumentieren, dass im Szenario ungeregelten Werdens die Vorstellung einer Welt unveränderlicher Formen geradezu eine Denkunmöglichkeit sein müsste, weil es in ihm nichts gibt, was dieser Vorstellung eine Inspiration, einen plausiblen Anlass, eine Richtung geben könnte. Viel eher ist es die gegenteilige Eigenschaft der irdischen Welt, – nämlich in ihrem Werden ein ganz erhebliches Maß an Regelmäßigkeit, an Redundanz, an Wiederholung aufzuweisen, die geeignet scheint, eine zweite Welt zu inspirieren. Einerseits lässt sich die zweite Welt dann als Welt dessen begreifen, was im Werden, im kontinuierlichen Entstehen und Vergehen des Vielen diesem Vielen gemeinsam ist. Andererseits, wenn das Werden der Welt sich als mehr oder weniger identisches Wiederholen gestaltet, bedarf es einer Erklärung dieses Wiederholens: und eine Erklärung könnte besagen, Wiederholung finde maßgeblich als Entstehen „unter Hinblick“ auf ein permanentes Modell, also mimetisch statt. Gäbe es nicht dieses Modell, müsste das Werden tatsächlich ganz ungeregelt ablaufen. Die Arbeitshypothese lautet also, die Zwei-Welten-Lehre Platons sei faktisch eine Antwort auf die Frage: Wie ist Werden als Wiederholung möglich? Hiervon ausgehend ist das Werden der irdischen Welt zu charakterisieren, so wie Platon es repräsentiert (Kap. 2.1.1). Des Weiteren wird von Platos Ontologie des Liniengleichnisses in der Politeia her analysiert, in welcher Weise die Formen vermittelt durch die Replikation ihrer Gehalte einbezogen sind in dieses Werden, insofern es durch Wiederholung gekennzeichnet ist (Kap. 2.1.2). Die Ergebnisse dieser Untersuchungen werden abschließend rückbezogen auf das Problem des Universalen (Kap. 2.1.3).

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2.1.1 Das Werden der irdischen Welt Zur Charakterisierung des Werdens der irdischen Welt bei Platon eignet sich die Lektüre von Passagen des Timaios, des Symposion und des Kratylos, in denen das Werden zunächst als wesentlich wiederholend ausgewiesen wird. Anschließend ist, komplementär, nach der Irregularität im Werden der irdischen Welt zu fragen und eine Einschätzung von Platons vermeintlichem Heraklitismus zu geben. Im Timaios werden die beiden großen Abteilungen des Existierenden bei Platon, Sein und Werden, im Rahmen einer bildhaft vorgetragenen Schöpfungsgeschichte der irdischen Welt eingeführt: „Zuerst nun haben wir, meiner Meinung nach, dies zu unterscheiden: was ist das stets Seiende, das Entstehen nicht an sich hat und was das stets Werdende, aber niemals Seiende; das eine, stets gemäß demselben Seiende ist durch Vernunft und Denken zu erfassen, das andere dagegen durch Vorstellung mittels vernunftloser Sinneswahrnehmung vorstellbar, als entstehend und vergehend, nie aber wirklich seiend.“ (Tim. 27d-28a)

Das Verhältnis der beiden Abteilungen ist de jure das von Urbild und Abbild (29b). Faktisch aber sind sie über eine Tätigkeit verbunden, nämlich über die Tätigkeit eines göttlichen Demiurgen, der die Welt der Abbilder schafft, indem er in seinem Schaffensprozess auf die Urbilder hinblickt (28c-29c). Ohne diese Tätigkeit gäbe es keine Welt der Abbilder. Während die Entgegensetzung von Sein und Werden selbst noch keine Charakterisierung des Werdens enthält, ist in der Bestimmung, das „stets Werdende, aber niemals Seiende“ sei ein Abbild des „stets gemäß demselben Seienden“, bereits eine wichtige Charakterisierung angelegt. So ist das dem Demiurgen zur Verfügung stehende Urbild ein in sich gegliedertes „unvergängliches Lebendes“ (37d) und das Projekt besteht darin, das zu erzeugende Weltganze „so viel wie möglich zu einem solchen [unvergänglichen] zu vollenden. Da nun die Natur dieses Lebenden aber eine unvergängliche ist, diese Eigenschaft jedoch dem Erzeugten vollkommen zu verleihen unmöglich war: so sann er darauf, ein bewegliches Bild der Unvergänglichkeit zu gestalten.“ (37d)4 Dieses bewegliche Bild der Unvergänglichkeit ist für Platon zu-

4

Dass das Erzeugte nicht schlechthin unvergänglich wie das Vorbild sein könne, findet seine Ursache in der Beschaffenheit der dem Demiurgen zur Verfügung stehenden Materie; diese ist grundsätzlich im Ungleichgewicht (52e-53b) und mit sich ungleich (57e-58c) und daher in diffuser Bewegung begriffen. Vgl. insgesamt Tim. 47e ff. und s.u.

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nächst die Zeit, die mit der Erschaffung von Sonne, Mond und den Planeten in die Welt kommt. „So entstand denn die Zeit zugleich mit dem Weltall, auf dass beide, zugleich erschaffen, auch zugleich wieder aufgelöst würden, wenn es jemals zu einer Auflösung derselben kommen sollte: das Urbild für sie aber war die eigentliche Ewigkeit: diesem sollte das Weltall so ähnlich wie nur möglich werden; denn dem Urbild kommt ein schlechthin ewiges Sein zu, das Abbild aber ist der Art, dass es die ganze Zeit hindurch geworden, seiend und sein werdend ist.“ (38b-c Ap.)

Das „schlechthin ewige Sein“ wird nachgeahmt durch das Kontinuum der zyklischen, mit der Zeit in eins fallenden Bewegung von Sonne, Mond und Planeten, in der das Weltall nun befindlich ist. In ihrer endlosen Kontinuität ist diese Wiederholungsbewegung das Werden, das der Ewigkeit des Seins noch am nächsten kommt. Im Anschluss an die Etablierung der temporalen Grundstruktur des erzeugten Weltganzen geht es im Timaios dann um die Erzeugung der vier Gattungen von Lebewesen, als in die gegliedert das eine unvergängliche Lebewesen – das Urbild – erscheint: die himmlische Gattung der Fixsterne, Sterne und Halbgötter einerseits sowie die Gattungen der in der Luft, zu Wasser und zu Land existierenden Lebewesen andererseits (38e ff.). Wie verhält es sich mit diesen letzteren hinsichtlich ihrer Ähnlichkeit mit dem ewigen Sein: in welchem Maße handelt es sich bei ihnen ebenfalls um „bewegliche Bilder der Unvergänglichkeit“? Der Timaios liefert in dieser Sache keine näheren Erkenntnisse, da er mehr mit der einmaligen Schöpfung der Lebewesen, weniger aber mit ihrem Bestand in der Zeit befasst ist (vgl. aber 90e92c). Eine Antwort auf die Frage der Ähnlichkeit des endlichen Werdenden mit dem ewigen Sein und Ansätze zu einer allgemeinen Theorie der Verewigung qua Wiederholung entwickelt Platon hingegen im Symposion. Im Zentrum der hier interessierenden Rede Diotimas (einer Lehrerin des Sokrates in Liebesdingen) über den Eros steht die Frage nach dessen Nutzen für den Menschen (Symp. 201d-212c). Die Arbeitshypothese, Liebe ziele darauf, in den Besitz des Schönen zu kommen, wird im laufe der Argumentation verworfen zugunsten der Auffassung, sie ziele darauf, in den Besitz des glückselig machenden Guten zu kommen – und zwar in den immerwährenden Besitz des Guten (204c-206a). Wie lässt sich dieser Besitz realisieren? Der erste Schritt zu einer Antwort besteht in der Feststellung, die eigentliche Tätigkeit der Liebe sei das leibliche oder geistige Gebären. Das Schöne wird erkannt als das Medium dieses (Zeugens und) Gebärens. Schwangerschaft und Gebären aber sind göttlich, da sie sterblichen und endlichen Lebewesen eine spezifische Art von Unsterblichkeit ermöglichen:

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„Weil eben die Erzeugung [das Zeugen von Nachwuchs] das Ewige ist und das Unsterbliche, wie es in dem Sterblichen sein kann. Nach der Unsterblichkeit zu streben mit dem Guten ist notwendig zufolge des schon Eingestandenen, wenn doch die Liebe darauf geht, das Gute immer zu haben. Notwendig also geht nach dieser Rede die Liebe auch auf die Unsterblichkeit.“ (206e-207a, Kurs. eingef.)

In den immerwährenden Besitz des Guten gelangen kann nur, wer sich selbst verewigt. Das gelingt endlichen Lebewesen, indem sie sich reproduzieren. Das eingeborene Streben nach Selbstverewigung ist der Nutzen, der endlichen Lebewesen aus dem Eros erwächst. Das Streben stellt sich dabei keineswegs als per se vernunftmäßig dar. Gerade wo es die sexuelle Reproduktion betrifft, ist es instinktiv wirksam – wie sich am Fortpflanzungsstreben und an der Brutpflege der Tiere sehr deutlich zeigt (207a-d): auch diese reproduzieren sich so, „dass immer ein anderes Junges statt des Alten zurückbleibt“ (207d). Dieser zentrale Mechanismus, die Ersetzung des Alten durch das (gleichartige) Neue, impliziert für Platon nicht nur, was selbstverständlich ist, dass Eltern in ihren Nachkommen materiell fortleben. Sondern er lädt ein zu einer stärkeren Lesart, nach der sich durch die Wiederholung der quasi-ewig aufeinanderfolgenden Generationen hindurch buchstäblich ein und dasselbe Individuum am Leben hält. Denn Platon sagt: das Gattungsindividuum hält sich auf genau die gleiche Weise als Individuum am Leben wie ein einzelnes Individuum, – durch Wiederholungsprozesse (207d-e): So wird (1) das einzelne Individuum von Geburt bis Tod dasselbe genannt, obwohl nichts an ihm dasselbe bleibt: nicht nur der Körper erneuert sich laufend, indem er Altes abstößt und durch Neues ersetzt. (2) Auch die Seele bleibt dieselbe, indem sowohl ihre Dispositionen (Gewohnheiten, Sitten, Meinungen, Begierden) wie auch ihre Zustände (Lust, Unlust, Furcht) in jedem Moment neu entstehen und reproduziert werden: ein Zustand wird durch den nächsten abgelöst und ersetzt. Das gilt (3) auch für die in der Seele gelegenen Erkenntnisse und die Art, wie diese sich als dieselben durchhalten: in Wahrheit hat man es auch in diesem Fall nicht mit einfachen, bloß selbstidentisch verharrenden Erkenntnissen zu tun. Sondern jede Erkenntnis ist in einem beständigen Prozess des Vergehens (Entfallens, Vergessens) und würde völlig verschwinden, würde man ihr nicht „nachsinnen“. „Nachsinnen“ heißt, sich der Erkenntnis zu erinnern und diese („neue“) Erinnerung an die Stelle der verschwindenden Erkenntnis zu setzen, so dass „sie dieselbe zu sein scheint“ (208a). Auch hier findet man also das Motiv der Ersetzung des Alten durch das gleichartige Neue. Ist damit der Mechanismus des „Liebe“ genannten eingeborenen Strebens nach Selbstverewigung benannt, kann jetzt weiter berücksichtigt werden, dass in

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der Rede Diotimas grundsätzlich zwei Ausprägungen des Strebens, die schon erwähnte sexuelle und aber auch eine seelische, unterschieden werden. Auf seelischem Gebiet artikuliert das Streben sich als „Trieb [...], berühmt zu werden und einen unsterblichen Namen auf ewige Zeiten sich zu erwerben.“ (208c) Bei vielen Menschen scheint das Streben nach unsterblichem Ruhm sogar stärker zu sein als das nach sexueller Fortpflanzung; dem entspricht das Werturteil des Symposion, demzufolge die sogenannten „Kinder der Seele“ tatsächlich weit schöner und unsterblicher seien als die des Leibes, handelt es sich bei ihnen doch um Werke der Tugendhaftigkeit, um herausragende, Zeiten überdauernde Werke der Dichtung, der Wissenschaften und der Politik, deren Schöpfer, etwa Homer, Asklepios und Lykurgos, sich damit einen unsterblichen Namen gemacht hätten.5 Herausragende Werke sind Vehikel der mit ihnen verknüpften Namen, – die Erinnerungswürdigkeit der immer weiter tradierten Werke trägt die Namen ihrer Schöpfer mit sich in Unsterblichkeit. Darüber hinaus versorgen sie die Namen laufend mit dem Glanz der in ihnen – den Werken – verkörperten Tugend. Auf dem Weg der fortgesetzten Erinnerung an ein Werk also überdauert dessen Schöpfer in seinem dem Werk anhaftenden Namen. Die Erinnerung wird, wie man unterstellen darf, in diesem Fall auf die gleiche Weise funktionieren wie im Fall der sich in der Seele eines Einzelnen durchhaltenden Erkenntnis: Dem Werk, das mit der Sterblichkeit der einzelnen Generationen zu vergehen droht, muss „nachgesonnen“ werden, d.h. mittels Erzählung und Erziehung muss in der Seele einer Generation eine Kopie des Gedächtnisses der ihr vorangegangenen Generation erstellt werden, damit die Gedächtnisinhalte, unter anderem die herausragenden Werke, fortexistieren können. Entscheidend ist, dass Platon aus dem Kontext der Liebe als Streben nach dem immerwährenden Besitz des Guten heraus nicht nur eine Theorie der biologischen Reproduktion mittels Wiederholung sowie der Identität von Lebewesen und Erkenntnissen mittels Wiederholung entwickelt. Sondern es wird, als Nebenprodukt der thematischen Fokussierung auf das Streben nach unsterblichem persönlichen Ruhm, eine Perspektive auch auf die Reproduktion der sozialen oder kulturellen Werke gewonnen, die auf dem gleichen Mechanismus beruht, – der Ersetzung eines vergehenden Alten durch ein gleichartiges Neues, der Anfertigung von Kopien. Die übergreifende Geltung dieses Mechanismus rechtfertigt

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Vgl. Rowes Kommentar zu 208c-209d (Platon 1998). Auch diese Werke werden, 208e-209b zufolge, im Schönen als Medium gezeugt, nämlich in dem schönen Gesprächspartner, Schüler oder Liebhaber, der als Geburtshelfer einer „schwangeren“ Seele fungiert.

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es, wie oben geschehen, von Ansätzen einer allgemeinen Theorie der Verewigung qua Wiederholung bei Platon zu sprechen: „Auf diese Weise wird alles Sterbliche erhalten, nicht so, dass durchaus immer dasselbe wäre, wie das Göttliche, sondern indem das Abgehende und Veraltende ein anderes Neues solches zurücklässt, wie es selbst war. Durch diese Veranstaltung [...] hat alles Sterbliche teil an der Unsterblichkeit, der Leib sowohl als alles übrige.“ (208b, Kurs. eingef.)

Dieses Szenario bestätigt, wenn auch aus nochmal anderem Erkenntnisinteresse heraus, der Dialog Kratylos. Gefragt wird nach dem Wesen und richtigen Gebrauch von Wörtern (Namen). So hängt die Richtigkeit einer Benennung (Namensgebung) im Dialog davon ab, wer benennt: Vernünftige oder Unvernünftige, Götter oder Menschen, Männer oder Frauen (Krat. 391d ff.). Der Sohn des Hektor etwa sei von den Troern Astyanax genannt worden, von den Frauen aber Skamandrios; aufgrund der unterstellten vernunftmäßigen Überlegenheit der Männer müsste demnach „Astynax“ der richtigere Name sein. Den Nachweis hierfür liefert Sokrates, indem er ein wichtiges Prinzip entwickelt: Die Dinge werden richtig benannt, wenn sie nach ihrer Herkunft und Abstammung benannt werden. Wo also der Vater Hektor („Inhaber“) heißt, da heißt der Sohn zu Recht Astyanax (Anax – „Herr“), – schließlich bedeutet „Inhaber“ und „Herr“ „fast dasselbe und scheinen beides königliche Namen zu sein.“ (393a) Interessant ist, dass es wiederum die Tatsache der Wiederholung ist, die es erlaubt, jemanden mit einem Namen zu belegen, der schon seinem Herkunftsprinzip dem Typ nach zukam: „Recht ist es wenigstens, wie mir scheint, eines Löwen Abkömmling Löwen zu nennen und eines Pferdes Abkömmling Pferd. Nicht so meine ich es, wenn als ein Wunder, einmal von einem Pferde etwas anderes geboren würde als ein Pferd; sondern was einer Gattung Abkömmling ist der Natur nach, das meine ich. [...] Und ist es nicht mit dem Könige ebenso? Denn von einem König kommt doch ein König, von einem Guten ein Guter, von einem Schönen ein Schöner, und so in allem übrigen, aus jedem von einer Gattung ein ebensolcher Abkömmling, wenn kein Wunder geschieht.“ (393b, 394a, Kurs. eingef.)

Hierzu nur zwei Bemerkungen. Erstens wird die Tatsache der biologischen und auch sozialen Reproduktion im Zitat als Selbstverständlichkeit behandelt, als empirische, nicht näher zu begründende Evidenz; entsprechend wird die Theorie der liebesinduzierten Verewigung mittels Wiederholung an dieser Stelle nicht ins Spiel gebracht (die, gerade mit ihrer Lehre vom Schönen als Medium des Zeugens und Gebärens sowie mit der in der sozialen Replikation implizierten, ewi-

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gen Ruhm begründenden Exzellenz vielleicht zu eng gefasst ist, um ein so allgemeines Faktum zu erfassen). Zweitens kommt in der zitierten Textpassage eine rudimentäre quantitative Gewichtung ins Spiel: In den allermeisten Fällen, nämlich wenn der Prozess naturgemäß abläuft, entspringt „aus jedem von einer Gattung ein ebensolcher Abkömmling“. In Einzelfällen, die naturwidrig ablaufen und einem „Wunder“ gleichkommen, kann es sich aber auch anders verhalten. Diese quantitative Dimension wird hier angedeutet, weil sie später (Kap. 3.3.1) bei Aristoteles näher zu analysieren sein wird. Die Betrachtung der Passagen aus dem Timaios, dem Symposion und dem Kratylos zusammenfassend, lässt sich sagen: Als unvollkommenes Abbild eines vollkommenen, ewigen, lebendigen Weltganzen ist die irdische Welt, so wie Platon sie charakterisiert, tatsächlich in ständigem Werden begriffen, denn die in ihr zu findenden Objekte sind alle endlich und veränderlich und gehören nicht zu ihrem Bestand, indem sie bloß in ihrer Existenz verharren würden. Die Formulierung, nach der die irdische Welt ein Abbild der ewigen ist, signifiziert dann zwar einerseits die ontologische Zweitrangigkeit der irdischen Welt; andererseits signifiziert sie aber auch die Tatsache, dass man in dem Werdenden der irdischen Welt eine Spannung auf das Ewige hin beobachtet, nämlich ein (explizites oder faktisches) Streben des endlichen Werdenden, dem Ewigen so ähnlich wie möglich zu werden. Das sich dem Ewigen annährende Werden ist das Werden als Wiederholung. Das Ewige und Unsterbliche, „wie es in dem Sterblichen sein kann“, besteht darin, dass sich das endliche Existierende einer bestimmen Gattung in einer nicht abreißenden Kette von Reproduktionen quasi-ewig in der Welt hält. Es hält sich also in der Welt dem Typ nach, als Gattungsmäßiges, und nicht als einfache, in ihrer Existenz verharrende Dinge. In Platons Diktion, die Aristoteles unter veränderter Perspektive aufnehmen wird, existieren die endlichen Dinge strukturell nicht als konkrete „Diese“, sondern allesamt als generische „Solche, Derartige, Sobeschaffene.“ (Tim. 49d-50b) Das Konzept des Werdens als Wiederholung erlaubt es zu sagen, dass, obwohl die irdische Welt in permanentem Werden begriffen ist, die Identität der Gattungen wie der Individuen vom Werden nicht prinzipiell unterminiert wird. Die Dinge haben ihr „eigenes bestehendes Wesen [οὐσία]“ (Krat. 386d-e). Sofern sie auseinander hervorgegangen sind („aus jedem von einer Gattung ein ebensolcher Abkömmling“ (Krat. 394a)), weisen sie alle die gleiche Form auf, die mittels sinnlicher Wahrnehmung auch als allen gemeinsame identifiziert werden kann (Men. 72a-d). Teils erscheint diese Identifikation oder Zusammenschau bei Platon als triviale, die Vernunft kaum herausfordernde Selbstverständlichkeit (Rep. 523a-d), teils scheint sie sich aber doch nicht ganz von selbst zu verstehen, – handelt es sich bei ihr doch um eine Schlüsselkompetenz des Dia-

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lektikers (Phdr. 265d-266b) und des politischen Wächters (Nom. 965b-c), die aufwendig erlernt werden muss und zu der sich nicht alle Individuen gleichermaßen eignen (Rep. 537b-c). Vielleicht haben aber die bei dieser Zusammenschau womöglich entstehenden Schwierigkeiten nicht nur mit der verschieden ausgeprägten Eignung zur Dialektik zu tun, sondern auch mit der Tatsache, dass das Werden der irdischen Welt nicht so regulär ist wie bislang dargestellt. Denn je irregulärer und zufälliger die Werdensprozesse und daher die erscheinenden Phänomene sind, desto schwieriger dürfte die Zusammenschau des Gewordenen sein. Tatsächlich bildet das Werden als Wiederholung bei Platon nur einen Aspekt des Werdens, den Aspekt, der sich unter Einbezug von Formen abspielt und der die Wirksamkeit eines Vernunftprinzips in der geschaffenen Natur dokumentiert. Würde es uneingeschränkt gelten, bildete das Weltganze die perfekte Reproduktionsordnung eines seit Anbeginn feststehenden, sich in keiner Weise modifizierenden Bestands und wäre wie die Bewegung der Planeten ein reines Abbild des Ewigen. In anderer Terminologie, die im Timaios (46c-e) und im Phaidon (97c-99d) nahegelegt, wenn auch nicht fix und fertig geliefert wird,6 könnte man sagen, dass sich das Herrschen des Vernunftprinzips im Weltganzen als durchgängiges Herrschen von Zweckursachen über selbst ungerichtete Wirkursachen zeigen würde, – mit dem Effekt, dass Prozesse streng schematisch und immer auf die gleichen Prozessresultat hin ablaufen würden; und zwar auf vernünftige, also bestmögliche Resultate hin. Genau das aber lässt sich real nicht beobachten: die Wirkursachen (Hilfs- oder Mitursachen, Tim. 46c) stehen zwar zum Teil, aber keineswegs vollständig unter der Herrschaft der Zweckursachen. Und indem sie „stets ohne Überlegung und regellos das Zufällige“ bewirken (ebd. 46e), führen sie eine grundlegende Irregularität in die Reproduktionsordnung ein: „[D]as Werden dieser Weltordnung wurde als ein gemischtes aus einer Vereinigung der [bloßen] Notwendigkeit und der Vernunft erzeugt.“ (ebd. 47e) „Bloße Notwendigkeit“ (ἀνάγκη) bezeichnet dabei nicht etwa die starre Regularität eines mechanischen Prozesses im Gegensatz zur freien Willkür der Vernunft; im Gegenteil impliziert der Begriff die Planlosigkeit des unwillkürlich und nach keiner festen ablaufenden Prozesses, wie Platon ihn in den Nomoi beschreibt: „Diejenige Bewegung [...], die sich niemals im selben Sinne noch in derselben Art und Weise noch an demselben Platz noch um dasselbe noch auf dasselbe noch hier noch auf einer einzigen Stelle bewegt noch nach einer Ordnung noch nach einer Regel noch nach

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Vgl. Platon 2004, Bd. 6 (Timaios und Kritias), 168 (Fn. 126).

38 | K OLLEKTIVITÄTEN einem Gesetz, die wäre demnach jeder Art von Unvernunft verwandt? – Das wird wohl völlig wahr sein.“ (898b)

Der Begründungszusammenhang eines dergestalt irregulären Werdens wird in der Schöpfungsgeschichte des Timaios relativ unvermittelt eingeschoben (47e ff., vorbereitet in 46c-e), nachdem die Erzeugung der Zeit, der Gattung der Götter sowie von der Gattung der Menschen die Einpflanzung der Seele in die Anfänge des Körpers schon behandelt worden sind. Platon erkennt jetzt aber: Will man die Entstehung des Weltganzen „dem wirklichen Vorgang gemäß darstellen, so darf man auch den Einfluss der planlos umherschweifenden Ursache in ihrer natürlichen Wirkungskraft nicht übergehen.“ (48a Ap.) Der Ursprung der umherschweifenden Ursache liegt für Platon grundsächlich in der Beschaffenheit des dem Demiurgen bei der Erschaffung des Weltganzen zur Verfügung stehenden Substrats, wobei er sich nicht damit zufrieden gibt, die vier bekannten Elemente als gegeben zu setzen; vielmehr werden diese selbst als aus Elementarteilchen (Elementardreiecken) entstanden aufgefasst. Als äußerstes Medium des Weltganzen erscheint der Raum, verstanden als die „Amme“ (das Aufnehmende) allen Werdens, auch desjenigen der Elemente selbst. Das Substrat, das der göttliche Demiurg vorfindet und mit dem er bei der Erschaffung des Weltganzen zu arbeiten hat, besteht aus dem Raum und ungeordneten Protoeleme4nten, Vorformen der Elemente, die „bereits gewisse Spuren [der fertigen Elemente] in sich selbst besaßen, [sich aber] durchaus in einem Zustande [befanden], wie er bei allem, über welches [noch] kein Gott waltet, sich erwarten ließen“ (53b): Das Substrat ist mit Kräften angefüllt, die weder gleichartig sind noch im Gleichgewicht stehen (52e), ist also in diffuser Zufallsbewegung begriffen (ebd.), vernunftwidrig und maßlos (53a). Im ursprünglichen Substrat des Weltganzen wirken ausschließlich planlos ungeregelte (Verkettungen von) Ursachen, eben die genannten Wirkursachen; wo später auch Zweckursachen wirken, sind sie Effekt des göttlichen Schöpfungsprozesses, wobei sich die Zweckursachen des Substrats und der darin herrschenden Wirkursachen wie erwähnt nie ganz – sondern bloß überwiegend (48a) – bemächtigen zu können scheinen: das „Hintergrundrauschen“ diffuser Zufallsbewegungen bleibt ein wichtiges Charakteristikum des Weltganzen. Damit können jetzt die Stellen im Text Platons fundierter betrachtet werden, die häufig als Ausweis seines Heraklitismus oder zumindest seiner Auseinandersetzung mit demselben verstanden worden sind (Bolton 1975, Irwin 1977, Colvin 2007). Nicht näher untersucht wird, inwieweit Platon die Position Heraklits, soweit aus der Überlieferung überhaupt rekonstruierbar, adäquat darstellt; von

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Interesse ist allein seine Repräsentation der den Herakliteern zugeschriebenen Flußdoktrin. Der Theaitetos (181c-182e) führt eine extreme Version der Flussdoktrin und die ihr korrespondierenden Probleme vor. Es werden, im Rahmen einer breit angelegten Erörterung der These „Erkenntnis ist Wahrnehmung“ (Tht. 151e-187b), zwei Arten von Bewegung unterschieden: die Ortsbewegung und die (qualitative) Veränderung. Gäbe es nur die Ortsbewegung von Dingen, die als solche unverändert blieben, könnte man zumindest sagen, was sich da bewegt, was da „fließt“. Was aber passiert, wenn die Dinge zusätzlich permanenten qualitativen Veränderungen unterliegen? „Da aber auch dieses nicht einmal beharrt, [nämlich:] dass das Fließende [z.B.] als Rotes fließt, sondern [da] es [die Farbe] gleichfalls wechselt, so dass es auch von eben diesem, der Röte, einen Fluß gibt und Übergang zu einer anderen Farbe, damit es nicht auf diese Art als ein Beharrendes ertappt werde; ist es [unter dieser Annahme] nun wohl möglich, dass man als ein etwas eine Farbe benennt, so dass man sie richtig benenne? – Wie sollte man wohl, o Sokrates, und ebensowenig irgend etwas Ähnliches, da ja alles dem Redenden unter den Händen entschlüpft, als immer fließend. – [...] Man darf also nicht mit größerem Rechte etwas ein Sehen nennen, als ein Nichtsehen, und ebenso mit jeder anderen Wahrnehmung, da ja alles auf alle Weise sich bewegt.“ (181d-e, Kurs. eingef.)

Wenn ein Gegenstand sich in jedem Moment in jedem seiner Aspekte verändert und wenn folglich diese Veränderung von keinem Subjekt (keinem Zugrundeliegenden) ausgesagt werden kann, dass sich in ihr durchhält, dann „entschlüpft es dem Redenden unter seinen Händen“, kann nicht als werdendes Etwas angesprochen werden und ist folglich unrepräsentierbar. Auch die bloße Wahrnehmung wird dann buchstäblich „gegenstandslos“. Ein ähnliches Szenario wird im Kratylos (439d-440b) ebenfalls als Position der Herakliteer ausgewiesen. Dass Platon kaum in Erwägung gezogen haben dürfte, sich diese Position zu eigen zu machen, ergibt sich allerdings schon daraus, dass die Herakliteer sowohl im Theaitetos wie im Kratylos parodiert und lächerlich gemacht werden: Zu versuchen, sich mit den Anhängern der Flussdoktrin auf ein ernsthaftes Gespräch einzulassen, ist so, „als wolle man es mit solchen versuchen, die, von bösartigen Tieren zerstochen, nicht einen Augenblick stillstehen können; denn ordentlich wie es in ihren Schriften heißt, fließen auch sie, festen Fuß aber zu fassen bei dem einen Satz und einer Frage und gelassen jeder nach seiner Ordnung zu fragen und zu antworten, davon ist ihnen weniger verliehen als nichts...“

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(Tht. 179e-180a)7 Mehr noch: Die Flußdoktrin entspricht der Auffassung, „es gebe nichts Gesundes an irgend einem Ding, sondern alles fließe wie in reißender Strömung, kurzum, zu glauben, mit den Dingen stünde es ebenso wie mit den an Katarrh leidenden Menschen, alle Dinge nämlich seien der Gewalt des Flusses und des Katarrhs anheimgegeben.“ (Krat. 440c Ap.) Die Schnupfen habende Welt ist nicht Platons Welt. Wäre die Welt in derart allseitiger Veränderung begriffen, ließe sie sich kaum als Abbild des Ewigen, als Vereinigung von (überwiegender) Vernunft und Notwendigkeit etc. beschreiben; es gäbe keine Wahrnehmung bestimmter Objekte und erst Recht keine Möglichkeit einer dialektischen Zusammenschau des Vielen. Trotzdem ist Platons Welt zweifellos eine Welt im Werden. Dass dieses Werden in gewissem Umfang regulär ist und Objekte im Werden als Wiederholung ihre Identität durchhalten, mag dann zu der common-sense-Position führen, dass sie eben teils in Ruhe, teils in Bewegung befindlich seien (Tht. 180d, vgl. Soph. 254d-255b), – eine Position, die Platon pro forma akzeptiert, wobei er dafürhält, dass, weil kein endliches Ding sich in ewig unveränderlicher Ruhe befinden könne, es den Titel „Seiendes“ nicht verdiene, denn „Sein“ im vollen Wortsinn habe nur das Ewige (Tim. 27b-28a). Hierin dürfte insgesamt die Pointe seiner eigenen Positionierung liegen: Wo Platon die gewordene Welt als „stets Werdende, aber niemals Seiende“ bezeichnet (ebd., vgl. Tht. 152d-e), klingt er selbst wie ein Herakliteer; wo er aber das Verewigungsstreben und das Moment der Wiederholung im endlichen Seienden entwickelt, hat er, ohne das Paradigma des Werdens hinsichtlich der gewordenen Welt grundsätzlich aufzugeben, dieses auf die Möglichkeit eines Bestehenden („Seienden“) im Werdenden hin transformiert. Im Einzelnen wird dann gelegentlich verwirren, dass Platon das im Begriff des Werdens gelegene Bedeutungsspektrum – von Werden als Wiederholung bis hin zum ungeregelten Werden mittels bloßer Wirkursache – sprachlich nicht immer sauber handhabt. So heißt es an einer einschlägigen, den radikalen Heraklitismus Platons angeblich belegenden Stelle (Bolton 1975, 82f.): „Wie aber die vielen Dingen, wie Menschen, Pferde, Kleider oder sonst irgend etwas dergleichen, schöne oder gleiche oder sonst einem von jenem [den Formen] gleichnamige, verhalten sich auch diese immer gleich oder ganz jenem entgegengesetzt, weder mit sich

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Schleiermacher übersetzt hier plastischer als üblich, wo es – etwa bei H. N. Fowler (Platon 1921) – heißt: „For it is no more possible [...] to discuss these doctrines [...] with the Ephesians themselves [...] than with madmen.“ (Kurs. eingef.) Griechisch οἰστράω erlaubt beides: Gestochen- wie Verrücktwerden.

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selbst jedes noch untereinander jemals, um es kurz zu sagen, auch nur im mindesten gleich? – Dies wiederum so [d.h., so ist es], sprach Kebes; niemals verhält es sich einerlei.“ (Phd. 78e)

Dabei ist der Widerspruch offensichtlich, dass man es entweder mit repräsentierbaren, in ihrer Beschaffenheit identifizierbaren Menschen, Pferden und Kleidern zu tun hat, oder aber mit Objekten, die „weder mit sich selbst“ noch „untereinander jemals [...] auch nur im mindesten gleich“ sind. Beides zugleich jedenfalls kann nicht gelten, da schon die bloße Rede von „Menschen, Pferden, Kleidern“ die über sie getroffene Aussage, sie verfügten mittels ungeregeltem Werden über keine Identität, dementiert. Die ungenannt bleibende Lösung des Widerspruchs besteht im Konzept des Werdens als Wiederholung: An Leib und Seele hält ein endliches Lebendes niemals dasselbe Material und denselben Seelenzustand an sich, aber obwohl und indem „eins entsteht und das andere vergeht“ (Symp. 207d), bleibt das Lebende als Individuum dasselbe. 2.1.2 Form und Wiederholung I Das „Liniengleichnis“ der Politeia (509c-511e) unternimmt eine Bestimmung des ontologischen Inventars der Welt und unterscheidet dabei, auf Seiten des rein gedanklich zu Erfassenden, Formen und mathematische Gegenstände, und, auf Seiten des Sichtbaren, irdische Lebewesen und Artefakte sowie Schattenund Spiegelbilder (Krämer 1997, 192ff.). Wie Platon im Timaios feststellte, die sichtbare Welt sei das Abbild einer Welt der Formen (29b-d), so deutet er auch im Liniengleichnis eine ontologischen Unterscheidung von Urbildern (Formen und mathematische Gegenstände), Abbildern (irdische Lebewesen und Artefakte) und Abbildern von Abbildern (Schatten- und Spiegelbilder) an (509e, 510b, 510e, 511a), der andererseits eine epistemologische Unterscheidung von Arten des Wissens entspricht (Horn 1997): Vernunft- als Ideenerkenntnis, Verstandesals mathematische Erkenntnis, Glauben als Erkenntnis der irdischen Phänomene und Mutmaßen als Erkenntnis der Schatten- und Spiegelbilder (511d-e). Die jeweils den ontologischen Registern zugeordneten Phänomene lassen ihrer Natur nach einen jeweils spezifischen Grad von Klarheit, Sicherheit und Geltung ihrer Erkenntnis zu. Es geht jetzt um die Frage, welchen Einfluss die Nähe der sichtbaren, endlichen Phänomene zu den Urbildern oder Formen im Schema des Liniengleichnisses auf den Grad der Regularität ihres Werdens hat, also auf das Maß, in dem sich ihr Werden als Ordnung identischer Reproduktion und damit als „bewegli-

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ches Bild der Unvergänglichkeit“ gestaltet. Die Gegenfigur zu dieser Regularität sind eben Werdensprozesse und Prozesse der ständigen Neuentstehung von irdischem Endlichen, in denen sich keine Form geltend macht, Prozesse, die sich gegenüber allen Formen verselbständigt haben und Scheinbilder und Mutationen der Formen hervorbringen. Zum einen ist ganz konkret zu bestimmen, wie die Formen für Platon in die Reproduktion der Abbilder (erster Ordnung) einbezogen sind; zum anderen geht es um die Plausibilisierung einer zunehmenden Irregularität des Werdens mit zunehmender Entfernung der Phänomene von den Urbilden und Formen (Abbilder zweiter und n-ter Ordnung). Mit der Fragestellung ist die Einschränkung verbunden, dass Formen aus der Betrachtung unmittelbar ausscheiden, für die Platon nicht angeben kann, mittels welcher Mechanismen sie einen Unterschied im Werden der irdischen Welt machen. Hierunter fällt vor allem die recht prominent auftretende Gruppe der Formen von Relativa.8 Da Platon für diese keine Verwirklichungsmechanismen angeben kann, trifft auf sie Aristoteles’ Kritik, sie verfügten über keinerlei explanatorische Kraft, ohne Zweifel zu.9 Entsprechend wird sich die Untersuchung an die zwei anderen großen Gruppen von Formen in den Dialogen Platons halten und die Mechanismen des Einbezugs der Formen von Lebewesen und Artefakten und der Formen ethischpolitischer Gehalte („das Gute“, „das Schöne“, „das Gerechte“ etc.) in die Produktion ihrer irdischen Abbilder (erster Ordnung) analysieren. Hinsichtlich der Abbilder zweiter und n-ter Ordnung ist festzuhalten, dass das Liniengleichnis unvollständig ist, da es in diesem Register nicht nur natürliche Schatten- und Spiegelbilder gibt, sondern, in Platons Text selbst, ebenso die schönen Künste – Dichtung, Malerei, Musik – sowie die Sprache, darüber hinaus aber auch insgesamt Modi menschlichen Handelns, die aus Nachahmungen resultieren (vgl. die Assoziation von Nachahmung und Schattenbild in Rep. 598b). Hieran anknüp-

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So etwa („das Große“ und „das Kleine“, „das Schwere“ und „das Leichte“, „das Halbe“ und „das Doppelte“ (vgl. Rep. 479a-c), „das Gleiche“ und „das Ungleiche“, „das Ähnliche“ und „das Unähnliche“ (Phd. 74a-b) „die Stärke“ (und „die Schwäche“) (Phd. 65d), „die Ruhe“ und „die Bewegung“ (Prm. 129d) etc.

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Es kann bezweifelt werden, dass abgetrennt existierende – d.h. nicht-relative – Ideen von Relativa überhaupt sinnvoll gedacht werden können. Denn natürlich tritt Relatives nicht, wie Platon annimmt, als autonom Seiendes zu irgendwelchen Relata hinzu, sondern entspringt bloß deren (realem oder betrachtungsmäßigem) Zusammentreten, auf das es ganz derivativ ist. Wo von Relativa also nicht einmal sinnvoll eine abgetrennt extistierende Idee gedacht werden kann, da ist es erst recht unmöglich, deren Verweltlichungsmechanismus zu bestimmen.

2. K OLLEKTIVITÄT UND U NIVERSALISIERUNG | 43

fend wird abschließend versucht, das in der Politeia thematisierte extreme Regularitätsgefälle zwischen Handeln aus Ideenkenntnis und Handeln aus Nachahmung nachzuzeichnen. (1) Göttliche Herstellungkunst. Das Werden der lebendigen Dinge hat für Platon wesentlich die Form des Werdens als Wiederholung: Das Lebende versucht sich der Seinsweise der Ideen zu verähnlichen, indem es eine irdische Quasi-Ewigkeit mittels Fortpflanzung realisiert. In diesem Sinne können die ewigen Formen als Paradigmen des Lebenden bezeichnet werden. Damit ist noch nicht beschrieben, wie sie in die Reproduktion des Lebendigen konkret einbezogen sind: es fragt sich also, ob Platon über eine Theorie biologischer Schöpfung und Zeugung verfügt, in der die Formen eine konstitutive Rolle spielen. Dass das in gewissem Umfang der Fall ist, ist aus einer näheren Lektüre der Schöpfungsgeschichte des Timaios heraus zu zeigen. Wie festgestellt behandelt der Timaios nach der Schöpfung der Zeit die Schöpfung der „himmlischen“ Gattung der Fixsterne, Sterne und Halbgötter einerseits sowie der Gattungen der in der Luft, zu Wasser und zu Land existierenden Lebewesen andererseits: „Alles andere mit dem Einschluß der Zeit war nunmehr vollendet in Nachahmung des Urbildes, nur in einer Beziehung war die Ähnlichkeit noch nicht erreicht: es waren noch nicht alle die lebendigen Wesen in der Welt entstanden, die ihr zukamen. So machte er sich denn daran, diesen Mangel auszugleichen, indem er sie nach dem ewigen Muster [παράδειγµα] bildete. So viele und so mannigfaltige Formen [ἰδέας] (des Lebendigen) nun der denkende Geist in der lebendigen Geisteswelt [des Urbildes] als ihr zugehörige erblickt, so viele und so mannigfaltige sollte nach seinem Willen auch das Weltall erhalten: erstens das himmlische Geschlecht und die Götter, sodann das geflügelte und die Luft durchkreuzende, drittens das der Wassertiere, viertens das der auf Füßen wandelnden Landtiere.“ (39e-40a Ap)

Dabei wird eine kategoriale Differenz zwischen der ersten Gattung und den drei letzten etabliert, die darin besteht, dass die erste noch vom göttlichen Demiurgen selbst erzeugt wird (40a-41a), während die Erzeugung der letzteren den Halbgöttern überlassen wird (eine Tatsache, in der sich die Sterblichkeit der Lebewesen reflektiert, vgl. 41c). Genauer: Der Demiurg überlässt den Halbgöttern die Erzeugung einer ersten Generation von Menschen männlichen Geschlechts, aus der sich dann im Ablauf einer Verfallsgeschichte die Menschen weiblichen Geschlechts sowie die anderen Gattungen von Lebewesen entwickeln werden (42ac; 90e-92c). Er übergibt den Halbgöttern für die Produktion der Gattung der

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Männer den Keim ihrer Gleichnamigkeit mit den Unsterblichen (41c-d), also die unsterblichen Seelen, die wiederum – über die ausgezeichnete Körpersubstanz des Marks (Gehirn und Rückenmark) – involviert sind in die Produktion des Spermas (73b f.), dass dann die innerweltliche Verewigung der Gattung mittels Reproduktion erlauben wird. Indem die Halbgötter eine erste Generation von Männern hervorbringen, ist ihre Arbeit im Großen und Ganzen beendet; alles andere – Frauen und Tiere – entsteht dem Timaios zufolge aus der Wiedergeburt gefallener Seelen von Männern (42a-c; 90e-92c); die einzige aktiv vorzunehmende Anpassung nach dem Auftreten der Frauen ist die Entwicklung des Geschlechtstriebs zum Zweck geschlechtlicher Fortpflanzung (91a-d), womit die Gattung ihren Reproduktionsmechanismus aber endgültig in sich selbst zu tragen scheint. Wie sich in der Übersicht andeutet, etabliert der Timaios einen Konnex zwischen Beseelung, Formgebung (Gestaltung der Form der irdischen Lebewesen nach einem „ewigen Muster“) und innerweltlicher Fortpflanzung der Lebewesen. Im Rahmen des einmaligen Schöpfungsaktes werden den Halbgöttern dabei zuerst die unsterblichen Seelen der endlichen Geschöpfe übergeben: „Was aber an ihnen gleichen Namen mit den Unsterblichen zu führen verdient, was göttlich genannt wird und in denjenigen unter ihnen waltet, die stets dem Rechte und euch zu gehorchen geneigt sind, dessen Aussaat und Anfänge will ich euch übergeben; das übrige aber gestaltet ihr und erzeugt, das Sterbliche dem Unsterblichen anfügend, die lebenden Geschöpfe.“ (Tim. 41c-d)

Die Seele ist deshalb den gleichen Namen mit den Unsterblichen zu führen berechtigt, weil sie, wie es im Phaidon (80b) heißt, unter allen irdischen Phänomen dasjenige ist, welches „dem Göttlichen, Unsterblichen, Vernünftigen, Eingestaltigen, Unauflöslichen und immer einerlei sich selbst gleich sich Verhaltenden am ähnlichsten ist.“ Bedeutet das, dass die Seelen im Endlichen, Werdenden operierende Abbilder oder Statthalter der ewigen Formen sind? Auch wenn Platon die Seelen nicht so explizit wie Aristoteles unmittelbar als die Substanz, verstanden als die Form, des Lebendigen anspricht,10 lässt sich doch beobachten, dass mit

10 Vgl. Aristoteles, Met. 1035b15ff. „Da aber die Seele der Lebewesen (denn sie ist die Substanz des Beseelten) die Substanz, die durch die Formel ausgedrückt wird und die Form und das „Was es war zu sein“ für einen Körper von dieser bestimmten Beschaffenheit ist [...], so sind die Teile der Seele früher als das konkrete Lebewesen, entweder alle oder einige davon.“ Ganz ähnlich An. 412a: „Notwendig also muss die Seele ein Wesen als Form(ursache) eines natürlichen Körpers sein, der in Möglichkeit Le-

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der Schöpfung der Lebewesen eine Replikation ihrer ewigen Formen einhergeht, die mit Übergabe der Seelen an die Halbgötter und deren Schöpfungsaktivität zusammenhängt. So erweist sich Platon als Anhänger der auf den griechischen Arzt und Philosophen Alkmaion zurückgehenden Lehre, das Mark (Gehirn und Rückenmark) sei die Substanz, aus der der Samen der (menschlichen und tierischen) Lebewesen bestehe.11 Das Mark ist bei Platon aber zugleich die Substanz des Körpers, die in besonders engem Kontakt zur Seele steht, da die Seele regelrecht in es eingewurzelt ist; als ausgezeichnete Körpersubstanz besteht das Mark aus ausgewählten, besonders reinen Elementardreiecken. Der Akt der Schöpfung des Marks erscheint zugleich als ein Akt der Beseelung und Formgebung: „Indem er [der Halbgott] die Elementardreiecke im passenden Verhältnis miteinander mischte, bildete er, eine Mixtur aller Samen ersinnend für jede sterbliche Art, aus ihnen das Mark. Und danach pflanzte er ihm die Arten der Seelen ein und band sie fest, und so viele und so beschaffene (Körper-)Formen den Seelenarten, entsprechend den einzelnen Spezies (der sterblichen Lebewesen), zufallen sollten, in so viele und so beschaffene Formen [σχήµατα] teilte er das Mark selbst gleich bei der anfänglichen Aufteilung.“ (Tim. 73b-c, Übersetzung nach Sier 2009, 208f. (Fn. 47))

12

Das lässt sich zur Verdeutlichung so reformulieren: (1) Indem die Elementardreiecke in passendem Verhältnis miteinander gemischt werden, wird das Mark gebildet, das ein Panspermium (πανσπερµία, panspermia) für jede sterbliche Art ist. (Tim. 91b) (2) Dass das Mark ein Panspermium ist, reflektiert sich darin, dass es unmittelbar in Formen geteilt wird, welche den (Körper-)Formen der diversen einzelnen Spezies entsprechen und damit zugleich den Konfigurationen

ben ist. Das Wesen aber ist Vollendung (Entelechie). Also ist sie Vollendung eines solchen Körpers.“ 11 Vgl. Lesky 1951; Sier 2009, 193, 207 ff. 12 Die Übersetzung Siers steht in der Tradition Cornfords (Platon 1997) und Rivauds (Platon 1963); häufig, so auch bei Müller (Platon 1994, Bd. 4) und Apelt (Platon 2004, Bd. 6), wurde die Stelle dagegen so verstanden, als handelte sie von der Produktion des Samens für bloß eine sterbliche Art, eben diejenige der zuerst geschaffenen Männer. Zur philologischen Begründung der vorliegenden Übersetzung siehe: Sier 2009, 208f. (Fn.4); Platon 1997, 294f. Der Sache nach scheint sie deshalb geboten, weil sie den Gedanken erlaubt, aus der ursprünglich geschaffenen Samensubstanz könnten in der Generationenfolge schließlich alle Arten von Lebewesen hervorgehen (vgl. Platon 1963, 201 (Fn.1)); so nämlich scheint es sich zu verhalten, da Platon die gesonderte Schöpfung der Samen für jede einzelne Art nicht vorsieht.

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der Seelenarten, die den Spezies jeweils zukommen.13 Entsprechend schreibt Kurt Sier: „[W]as [Platon] sagt, wirkt wie eine umrisshaft-spekulative Vorwegnahme des GenomKonzepts. Als Samensubstanz enthält das Mark die Seele in ihren γέυη [Arten] – also je nachdem auch den rationalen, ,göttlichen’ Teil, der im Gehirn angesiedelt ist –, und es enthält, wie es heißt, potentiell alle Formen der sterblichen Lebewesen, in heutiger Redeweise: es birgt den genetischen Code für alles, was entsteht, und erfährt in der Reproduktion der Arten eine je verschiedene Aktualisierung entsprechend den spezifischen Strukturformeln.“ (Sier 2009, 209)

Somit pflichtet Sier Cornfords Rede von einer „`preformist´ determination of the various shapes (types of body) which the souls of all those species (εἴδη) were destined to wear” (Platon 1997, 294) bei Platon zu, weist aber darauf hin, die Formen, als in die geteilt das Mark bzw. der Samen vorliegt, seien den Formen der entsprechenden Lebewesen nicht notwendig ähnlich: „der µνελός [das Mark] beherbergt keinen Miniatur-Zoo, sondern weist eine Strukturierung auf, die den Bauplan der spezifischen Körperformen vorzeichnet und bei der Fortpflanzung zur Entfaltung kommt.“ (Sier 2009, 210) Bedenkt man, dass der die irdische Welt erschaffende Demiurg die „Form und Wirkungsart“ jedes Dinges „im beständigen Hinblick auf das sich immerdar Gleichbleibende, das ihm dabei zum Muster dient“, erschafft (Tim. 29a-b), und dass auch die Halbgötter, die die Lebewesen erschaffen, in derselben Weise operieren (41c), dann ist klar, dass mit der Schöpfung der ersten Generation von Lebewesen eine erste Replikation, eine erste Generation von Abbildern der ewigen Formen erzeugt wird. Des Weiteren sind auch die in Mark bzw. Samen eingezeichneten Formen keimhafte Abbilder der ewigen Formen, so nämlich, dass sie wiederum die Replikation der ersten Generation und damit die innerweltliche Verewigung der Arten erlauben. Die Samensubstanz ist beseelt (Tim. 91b) und wird als Lebensprinzip von Generation zu Generation weitergetragen: „The seed is the means by which the living creature attains to such immortality as the mortal can have by perpetuating its race in generation.” (Platon 1997, 292, vgl. ebd.

13 Beim Menschen sind das drei Seelenarten, eine vernünftige, die unersterblich ist, sowie eine muthafte und eine begehrende, die sterblich sind. (Tim. 69c ff.; vgl. Rep. 439d ff.) Das Vorhandensein dieser Seelenarten reflektiert sich in der Morphologie des menschlichen Körpers. (Tim. 69c-72d; vgl. 73c-d, 44d-45a) Für die Mophologien nichtmenschlicher Lebewesen wird dieser Zusammenhang im Timaios bloß angedeutet, vgl. 91d-92c.

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356) Dabei erscheint als gewöhnungsbedürftig, dass Platon die Entfaltung der Vielfalt der im Panspermium angelegten Arten als einen Verfallsprozess fasst,14 was ihn aber nicht daran hindert, die neben dem Menschen existierenden Verfallsformen des Lebenden (die an Land, zu Wasser und in der Luft existierenden Lebewesen) ebenfalls als Abbilder ewiger Formen im Urbild der Welt zu begreifen (s.o.). Insgesamt erhält man somit das Bild einer einmaligen Replikation der ewigen Formen der Lebewesen in der Schöpfung der Welt, die die Lebewesen als Abbilder erster Ordnung qualifiziert; die endlichen Lebewesen aber halten sich, als Abbilder erster Ordnung, in der Welt, indem „immer ein anderes Junges statt des Alten zurückbleibt“ (Symp. 207d), also durch ihre innerweltliche Reproduktion (Tim. 91b-d), mittels derer sie an der Unsterblichkeit teilhaben (Symp. 208b). Ihre Teilhabe an den ewigen Formen erscheint als eine Herkunftsbeziehung, als Enthaltensein des Ursprungs in dem, was historisch von ihm herkommt. (2) Handwerkskunst. Ein anderer Fall der Einbezogenheit von Formen in die Genese endlicher Objekte findet sich bei Platon im Zusammenhang der handwerksmäßigen Herstellung von Artefakten. Indem das Liniengleichnis Artefakte – genauso wie Lebewesen – als Abbilder erster Ordnung zu fassen erlaubt, gibt es ihnen nicht nur einen festen Platz im Inventar der Welt, sondern legt auch nahe, es gebe ewige Formen von Artefakten. Zwei einschlägige Passagen aus der Politeia bestätigen das: „Setzen wir also auch jetzt irgend eine beliebige Gruppe vieler Einzeldinge; so gibt es z.B. – mit Verlaub – viele Betten und Tische. [...] Aber Ideen [ἰδέαι] gibt es für diese Erzeugnisse der Tischlerkunst nur zwei, eine für das Bett, die andere für den Tisch. [...] Und es ist uns doch geläufig zu sagen, daß der Verfertiger der beiden Gegenstände auf die Idee hinblickt, wenn er, der eine die Betten, der andere die Tische herstellt, die wir benutzen, und ebenso auch das andere?“ (Rep. 596b Ap)

14 Das führt insbesondere zu der Schwierigkeit, wie sich denn die erste Generation von Menschen männlichen Geschlechts reproduziert haben soll, da ja die Zweigeschlechtlichkeit und der Geschlechtstrieb erst nachträglich hinzutreten (s.o.). Cornford stellt fest: „This is not to be taken as historical fact; we are not to suppose that there ever existed a gereration of men before there were any woman or lower animals“ (Platon 1997, 291) und versucht sich an einer – nicht ganz befriedigenden – Erklärung des Sachverhalts aus der Logik des platonischen Eros-Begriffs heraus. (ebd., 292)

48 | K OLLEKTIVITÄTEN „Es ergeben sich uns also folgende drei Arten von Betten: erstens das in voller Wirklichkeit vorhandene, als dessen Schöpfer uns doch wohl Gott gilt. [...] Zweitens dasjenige Bett, das der Tischler herstellt. [...] Drittens dasjenige, das der Maler anfertigt.“ (Rep. 597b Ap)

Während die von der Malerei nachgeahmten Artefakte im Moment nicht von Interesse sind, fragt sich, was unter der Existenz von Formen von Artefakten zu verstehen sei.15 Im Kratylos wird sie wie folgt plausibilisiert: Dinge haben ihr eigenes, für sich bestehendes Wesen (386d-e); auch „Handlungen gehen ihrer eigenen Natur nach vor sich und nicht nach unserer Vorstellung“ (387a). Platon nennt als Beispiel die Handlung des Zerschneidens: wir werden „nur dann, wenn wir jedes nach der Natur des Schneidens und Geschnittenwerdens und mit dem ihm Angemessenen [Werkzeug] schneiden“, es auch „wirklich schneiden und auch einen Vorteil davon haben und die Handlung recht verrichten.“ Postuliert wird also die objektive Natur von Prozessen. Diese wird von den Materialien abhängen, die in die jeweiligen Prozesse einbezogen sind (hier die zu schneidenden Stoffe). Die objektive Natur eines Prozesses lässt es dann als nicht mehr beliebig erscheinen, welches Werkzeug man in seiner Ausführung verwendet. Sondern es gibt ein jedem spezifischen Prozess angemessenes Werkzeug (387a, 389c): verstanden als Prozesselement oder Prozessor (#6) eines Prozesses ist das angemessene Werkzeug genauso objektiv bestimmt wie dieser Prozess selbst.16 Die Beschaffenheit des angemessenen Werkzeugs wird, seiner objektiven Natur gemäß, daher auch nicht erdacht, sondern entdeckt (ἐξευρίσκω) (389c). Seine objektive Natur aber ist genau seine Form, wie Platon am Beispiel des Weberschiffchens ausführt: „Also wenn für dichtes Zeug oder für dünnes, für leinenes oder für wollenes oder wofür sonst eine Weberlade zu machen ist: so müßten diese insgesamt das Bild [die Form, εἶδος] der Weberlade in sich haben, wie sie aber nun für jedes insbesondere am besten geeignet wäre, diese Eigenschaft müßte ebenfalls in jedes Werk hineingelegt werden.“ (389b-c)

15 Dass im vorstehenden Zitat Gott als Schöpfer der Formen gefasst wird, ist inkonsistent mit dem Szenario des Timaios, in dem ein göttlicher Demiurg das Abbild eines ewigen Weltganzen erzeugt, das selbst unerzeugt ist. 16 Vgl. Rep. 601c: „Tüchtigkeit und Schönheit und Richtigkeit jedes Gerätes und jedes Lebewesens und jeder Handlung beziehen sich doch auf nichts anderes als auf den Gebrauch, zu dem ein jedes verfertigt oder von Natur entstanden ist.“

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Das Motiv der durch die Objektivität von Prozessen objektiv bestimmten Formen von Artefakten taucht auch in der Politeia auf, wo nahelegt wird, der Gebrauch eines Artefakts verschaffe dem Gebrauchenden eine Kenntnis seiner optimalen Form: „Unbedingt notwendig also ist es, daß der Gebrauchende, um welchen Gegenstand es sich auch handeln mag, immer der Erfahrenste sei und dem Verfertiger Auskunft gebe, was er richtig oder falsch macht für den Gebrauch des gewünschten Gegenstandes. So gibt z.B. der Flötenspieler dem Flötenmacher Auskunft über die Flöten, sofern sie sich beim Blasen brauchbar erweisen sollen, und wird ihm Anweisung geben, wie er sie machen muß, dieser aber wird sich folgsam danach richten.“ (601d-e)

Dass von der Übermittlung von Formen-Wissen die Rede ist, ist unzweifelhaft, denn der Flötenmacher ist wie der Tischler (s.o.) ein Handwerker, der Gegenstände herstellt, indem er auf ihre Formen hinblickt (596b). Dabei ist klar, dass, wäre der Gebrauchsprozess ein rein partikularer Prozess, aus ihm kein Wissen um die angemessene Form des Instruments schlechthin erwachsen könnte. Vielmehr ist es wiederum die objektive Natur auch des Gebrauchsprozesses, die dieses Wissen ermöglicht, – die Existenz eines Optimums, durch das das Prozesselement (hier die Flöte) in seiner angemessenen Form objektiv bestimmt ist.17 Der Prozess handwerksmäßiger Herstellung besteht darin, dass Hersteller die von ihnen erkannte Form des angemessenen Werkzeugs in eine Materie einbringen und in diesem Sinne ein Abbild bzw. ein Replikat der Form erzeugen; in der

17 Die Fragen, weshalb überhaupt von einer objektiven Natur von Prozessen gesprochen werden kann, die sich in jedem einzelnen Ablaufen des Prozesses als solche zeigt und mit der daher gerechnet werden kann, und ob die objektive Natur eines Prozesses für Platon Effekt der regulativen Kraft von Ideen ist, lassen sich (hier) nicht endgültig beantworten. Zwar ist klar, dass die Rede von der objektiven Natur von Prozessen mit der Feststellung zusammenfällt, in der Natur seien Zweckursachen operativ. Im Timaios wird das welterzeugende Wirken des Demiurgen als zweckhaft ausgewiesen (insofern er das Endliche auf das ewige Vorbild hin, d.h. auch in bestmöglicher Weise einrichtet); darüber hinaus hat dieses Wirken den globalen Effekt, das regellose Spiel der Wirkursachen im Ur-Substrat mittels Vernunft auf reguläre Prozessresultate hin einzuhegen – wie oben beschrieben. Aber Platon erläutert an keiner Stelle, wie man sich das Wirken von Ideen als Zweckursachen im Naturprozess selbst im Einzelnen vorstellen könnte. (vgl. Fine 2003, 369ff.) Wo die Möglichkeit einer näheren Erläuterung bestanden hätte (Phd. 98c-99d), wird bloß wieder das Methexis-Konzept vorgebracht (100b ff.).

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Politeia hieß es, der Verfertiger der Gegenstände blicke im Herstellungsprozess auf die Formen der entsprechenden Gegenstände hin (s.o.); im Kratylos liest man ähnlich: „Das seiner Natur nach jedem angemessene Werkzeug muß man herausgefunden haben und dann in dem niederlegen, woraus es so gemacht werden soll, nicht wie es jedem einfällt, sondern wie es die Natur mit sich bringt.“ (389c) „Worauf blickt wohl der Tischler, wenn er die Weberlade macht? Nicht auf etwas, dessen Natur und Wesen eben dies ist, das Gewebe zu schlagen? – Freilich. – Und wie? Wenn ihm die Lade während der Arbeit zerbricht, wird er eine andere wieder machen, indem er auf die zerbrochene sieht oder wieder auf jenes selbige Bild [die Form, εἶδος], nach welchem er auch die zerbrochene gemacht hatte? – Auf jenes, dünkt mich.“ (389a-b)

Damit erscheint die Form selbst als ein Werkzeug, das der Handwerker verwendet, um das Artefakt als ihr Replikat herzustellen; in anderer Terminologie könnte man auch sagen, das Wissen um die Form sei eine – durch die Identität der Form normierte – Handlungsdisposition des Handwerkers, die es ihm erlaubt, einen Herstellungsprozess in bestimmter Weise auszuführen. Der Hinblick auf die eine Form leitet den Herstellungsprozess so an, dass er immer wieder auf das gleiche Prozessresultat hin ausgeführt werden kann. Das letztere Zitat deutet an, dass das Werden bzw. die Entstehung der unter Rekurs auf Formen hergestellten Artefakte dieselbe Struktur hat wie die biologische Replikation: sie gestaltet sich als Ersetzung des Alten, dessen Lebensdauer endlich ist, durch ein gleichartiges Neues. Der Einbezug von Formen gewährleistet die Regularität des Werdens der Artefakte.18 Das wäre zu kontrastieren mit einer Produktion, welche die objektive Angemessenheit der Artefakte verfehlte und entsprechend eine kaum zu überblickende Vielfältigkeit suboptimaler Artefakte in die Welt setzte: denn wo die Optimalität als Form einfach ist, sind ihre Verfehlungen zahllos. Wie das ewige Urbild der irdischen Welt im Timaios der Tätigkeit des Demiurgen bedurfte, um nicht abgetrennt, also Vorbild ohne Abbild zu bleiben, so bedürfen die Formen von Artefakten der Tätigkeit der Handwerker, die sie in konkreten Artefakten verwirklichen. Anders als die einmalige Tätigkeit des Demiurgen muss diese Tätigkeit aber laufend wiederholt

18 Dabei schließt die Existenz objektiver Optima hinsichtlich der Form von Artefakten nicht prinzipiell aus, dass in der Geschichte neuartige Artefakte auftauchen, – wenn nämlich zu einem historischen Zeitpunkt eine bestimmte Form erstmals „gefunden“ wird. Platon geht dieser Frage nicht nach.

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werden, damit sich die endlichen Artefakte dem Typ nach in der Welt halten; denn anders als die Lebewesen tragen die Artefakte ihren Reproduktionsmodus nicht in sich. Entsprechend muss das Wissen um die Formen von Artefakten (entweder laufend neu erworben oder aber) sozial tradiert werden. Platon denkt diesen Prozess als nicht formalisierte oder institutionalisierte, sondern zumeist intrafamiliäre soziale Reproduktion von Berufen.19 Bedingung der laufenden Produktion von Abbildern der Formen von Artefakten ist also die laufende soziale Reproduktion des Wissens um sie. Anders gesagt: Platons Diktum „[d]enn von einem König kommt doch ein König, von einem Guten ein Guter, von einem Schönen ein Schöner, und so in allem übrigen“ (Krat. 394a; s.o.) muss (und die nachgeschobene Verallgemeinerung gibt das her) tatsächlich auch für alle Arten von Berufen gelten. (3) Politische Kunst. Neben der Handwerkskunst gibt es eine weitere Kunst, anhand derer deutlich wird, dass Formen und ihre Erkenntnis für Platon einen wesentlichen und wesentlich praktischen Unterschied im Werden der irdischen Welt machen. So besteht ein bekanntes Motiv des in der Politeia vorgezeichneten Idealstaats in der Forderung, die Wahrheitsliebenden sollten die Macht in der Polis innehaben: andernfalls werde es „mit dem Elend kein Ende haben, nicht für die Städte und auch nicht, meine ich, für das menschliche Geschlecht.“ (473d-e; vgl. 500e) Die Besetzung von Regierungsämtern mit Personen, die über ein Wissen um ewige Formen verfügen, erscheint so als einzige Möglichkeit der Beendigung des politischen Elends. Entsprechend dürfte das Wissen um die Formen ein ganz entscheidendes Element im Prozess des politischen Agierens dieser Personen sein. Der politische Akteur, der über ein Formen-Wissen verfügt, ist, wie der Handwerker, ein „Zweiter“ nach der Wahrheit (599d): wo die Form das Erste ist,

19 Vgl. Rep. 466d-467a: „Denn was die Aufgaben des Krieges anlangt, so ist es doch klar, wie sie damit verfahren werden Glaukon. [...] Gemeinsam werden sie zu Felde ziehen und zudem auch alle Kinder, die kräftig genug sind mit in den Krieg nehmen, damit sie, wie die Kinder der anderen Werkmeister, das durch Anschauung kennen lernen, was sie als Erwachsene dann selbst kunstmäßig ausüben müssen. Doch nicht nur zusehen müssen sie, sondern auch alle Dienste und Handreichungen leisten, die der Krieg mit sich bringt, und ihren Vätern und Müttern als Gehilfen zur Seite stehen. Oder hast du nicht bemerkt, wie es die Handwerker damit halten? wie lange z.B. den Töpfern ihre Söhne zusehen und Beihilfe leisten, ehe sie selbst die eigentliche Töpferkunst ausüben?“ Vgl. Rep. 421d-e, Leg. 643b-d und, in aller Ausführlichkeit, Lodge 2000.

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sind das Abbild der Form und sein Hersteller Zweite und die Abbilder der Abbilder sowie ihre Hersteller (die Nachahmer) Dritte (597d-e). Homer etwa wird als Nachahmer ausgewiesen, der über keinerlei Wissen um Formen verfüge. Das zeige sich daran, dass er selbst auf dem Gebiet des „Wichtigsten und Schönsten“, über das er in seinem Werk zu reden unternehme, nämlich auf dem Gebiet des Kriegs, der Feldherrenkunst, der Staatsverwaltung und der Erziehung des Menschen (599c), völlig unbewandert sei: „So sage uns nun, welche Stadt durch dich zu einer besseren Verfassung gekommen ist, so wie Lakedaimon durch Lykurgos, und viele andere große und kleine Städte durch manche andere Männer. [...] Weiß man denn von einem Krieg aus der Zeit des Homer, der unter seiner Leitung oder mit Hilfe seiner Ratschläge glücklich geführt worden ist? [...] Oder sagt man, er sei zu praktischer Arbeit geschickt gewesen, und erwähnt von ihm allerlei sinnreiche Erfindungen auf dem Gebiet der Künste oder anderer Tätigkeiten, so wie vom Milesier Thales oder dem Skythen Anacharsis? [...] Wenn also nicht im öffentlichen Leben, so wird man doch sagen, dass Homer im Leben einzelner Menschen durch sein Vorbild ein Führer in der geistigen Bildung geworden sei, dass diese seinen Umgang hoch geschätzt und dann den Späteren eine homerische Lebensweise überliefert hätten [?]“ (599d600a)

Diese Fragen werden mit Hinblick auf Homer alle negativ beantwortet: ihm habe das entsprechende Formen-Wissen gefehlt, mittels dessen er auf diesen Gebieten praktisch etwas hätte hervorbringen können. Allein dass er sich damit bescheidet, bloß Abbilder von Abbildern (also Dichtung) zu produzieren, spreche bereits für seine Unwissenheit: er sei schlicht unfähig, ein Zweites, eine Sache oder Handlung selbst, hervorzubringen (599a). Damit ist Homer für Platon zu jenen „Schaulustigen“ zu rechnen, die die Politeia ausführlich von den wahren, zum Herrscheramt prädisponierten Philosophen abgrenzt als diejenigen, die bloß die Vielheit der diversen Erscheinungen für wirklich halten und die Existenz von Formen verkennen (474b-485a). Die praktische Inkompetenz der Schaulustigen wird wieder unter Rekurs auf das Modell der Handwerkskunst erklärt: „Meinst du nun, jene Leute [die Schaulustigen] seien etwa besser als Blinde, da sie in Wirklichkeit der Erkenntnis jedes Seienden bar sind und kein klares Urbild davon in ihrer Seele tragen? Sie können also nicht, nach Art der Maler, auf das vollkommen Wahre blicken, um sich immer wieder danach zu richten und es möglichst genau zu betrachten, und um auf diese Weise hienieden die Grundsätze über das Schöne und Gerechte und Gute

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festzulegen, wenn diese festgelegt werden müssen, und können auch das, was einmal festgelegt ist, nicht behüten und unversehrt erhalten.“ (484c-d)20

Wenn die Philosophen-Herrscher ihr Amt „nach Art der Maler“ – unter Hinblick auf transzendente Formen – auszuführen in der Lage sein sollen, erscheint es als folgerichtig, ihnen eine Kunst zuzuschreiben, nämlich eine spezifische Kunst der Staatsführung: das ist die Wächterkunst, die mit dem Problem befasst ist, wie die Stadt insgesamt „sich wohl am besten zu sich selbst und zu den anderen Städten verhalten werde“ (428d-e). Wie die Aufgabe für den Handwerker darin bestand, die Form eines Werkzeugs in eine Materie zu bringen, so besteht sie für den Wächterkünstler darin, die von ihm erkannten Formen „in die Sitten [ἤθη] der Menschen im privaten wie im öffentlichen Leben hineinzutragen“ (500d) (wobei gilt, „daß ein Staat nicht glückselig sein könne, wenn ihn nicht diese des göttlichen Urbildes sich bedienenden Zeichner entworfen haben“ (500e)). Das geschieht, indem sie „ihr Auge fleißig abwechselnd bald auf der einen bald auf der anderen Seite verweilen [lassen], also einmal auf dem wahrhaft Gerechten, Schönen, Besonnenen und was sonst dahin gehört, und dann wieder auf demjenigen, das unter den Menschen ausgebildet worden ist und Geltung erlangt hat, und stellen durch Mengen und Mischen aus den Zielen menschlichen Strebens das Menschenideal her, in dessen Auffassung sie sich leiten lassen von dem, was Homer, wenn es unter den Menschen in Erscheinung tritt, „göttlich“ und „göttergleich“ nannte.“ (501b Ap.)

Es ist hier nicht möglich, dieses Kernmodell einer politischen Kunst genauer zu analysieren (zumal der Politikos und die Nomoi einbezogen werden müssten). Vielmehr soll bloß hingewiesen werden auf zwei mit dem Modell zusammenhängende Ordnungen sozialer Reproduktion.

20 Dabei sollte nicht irritieren, dass der Maler an dieser Stelle als Zweiter nach der Wahrheit angesprochen wird, wo ihn doch Politeia X als Nachahmungskünstler und somit als Dritten fasst. Denn die Bild-Terminologie (Urbilder / Abbilder / Abbilder der Abbilder / Scheinbilder) wird von Platon als ontologische Terminologie beansprucht, weshalb die Figur des Malers denn auch in verschiedenen ontologischen Registern in Anschlag gebracht werden kann: als Hersteller des Urbildes (Rep. 472d), als Hersteller des Abbildes (neben der hier zitierten Stelle vgl. ebd. 500e), als Hersteller des Abbildes des Abbildes (ebd. 596e ff.) sowie als Hersteller des Scheinbildes (Soph. 235d ff.).

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So ist zunächst klar, dass wie im Fall der Formen von Artefakten auch Formen, die in der Polis zur Geltung kommen sollen, wiederholt verwirklicht werden müssen: da die Personen, die die Polis konstituieren, sterblich sind, muss die Verwirklichung Generation nach Generation erfassen. Entsprechend muss auch das Wissen um die Formen intergenerational reproduziert werden; diese Reproduktion aber gestaltet sich hinsichtlich des geforderten philosophischen FormenWissens wesentlich aufwendiger als hinsichtlich des handwerkermäßigen Formen-Wissens (s.o.). So macht Platon deutlich, dass für die philosophische Formen-Erkenntnis nicht jeder gleich geeignet ist, dass umgekehrt aus einer Eignung nicht automatisch Philosophen hervorgehen und dass Philosophen nicht unter allen Umständen willens und in der Lage sind, die Wächterkunst auszuüben. Dieser Problemlage wird in der Politeia dadurch Rechnung getragen, dass sich der Dialog in ganz erheblichen Teilen mit der sozialen Reproduktion des Formen-Wissens, mit der Bildung und Erziehung der zu produzierenden Philosophen-Herrscher befasst. Der im Zuge dessen vorgezeichnete Bildungsgang ist einerseits ein Selektionsprozess, durch den die geeignetsten Naturen ermittelt werden: Der Philosophen-Herrscher ist einer, „der von Natur ein gutes Gedächtnis hat, leicht lernt, großzügig und edel ist, ein Freund und Verwandter der Wahrheit, der Gerechtigkeit, der Tapferkeit und der Besonnenheit.“ (487a, vgl. 490c und insgesamt 485a-487a) Andererseits ist die Bildung von Personen mit guten Anlagen deshalb von besonderer Bedeutung, weil diese Anlagen ohne die ihnen gemäße „Nahrung“ in besondere Schlechtigkeit und Verrufenheit umschlagen können (491d-492d). Und schließlich bereitet der staatlich organisierte Bildungsgang der Philosophen deren spätere Indienstnahme durch den Staat vor, die sich nicht von selbst versteht, wo sich Philosophen selbstständig ausbilden: sie werden sich dann kaum freiwillig von der Ideenschau ab- und den öffentlichen Angelegenheiten zuwenden (520a-e). Wer aber in den Genuss des staatlich organisierten Bildungsgangs gekommen ist, dem mag die spätere Übernahme von Regierungsämtern unter Gerechtigkeitsgesichtspunkten als notwendig erscheinen (520d-e). Und wer dann Regierungsämter übernimmt, ist hierauf wirklich umfassend, und nicht etwa nur einseitig geistig vorbereitet (536d). Dabei fällt auf, dass sich die Politeia, wo sie den höchsten und wichtigsten Abschnitt des Bildungsgangs behandelt – die Lehre des dialektischen Denkens (532a-540b) –, erstaunlich kurz fasst und nicht einmal eine nähere Bestimmung der Dialektik selbst als des „Endziels aller Lehrfächer“ (534e), geschweige denn konkrete Ausführungen zu Lehrmethoden etc. bringt. Dasselbe gilt für das „höchste Lehrstück“ innerhalb der Dialektik, die Erkenntnis des Guten (505a), das zwar im Rahmen der Abfolge von Sonnen-, Linien- und Höhlengleichnis umschrieben wird, ohne dass es aber zu einer Wesensbestimmung käme. Ebenso

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sucht man hinsichtlich der Lehre des dialektischen Denkens vergeblich nach explizit anweisenden Aussagen, welche Formen denn auf dem Lehrplan des zur Staatsführung berufenen Philosophenschülers stehen sollten. Das oben gebrachte Zitat (501b) nennt in loser Folge das Gerechte, das Schöne und das Besonnene; wo zum Gerechten und Besonnenen die anderen Kardinaltugenden (Weisheit und Tapferkeit, 427e ff.) zu ergänzen sind, da auch das Gute als die höchsten Form überhaupt (506d-509d). Hiermit dürfte ein Minimalbestand des FormenWissens der Philosophen-Herrscher abgesteckt sein. Die Form, die nicht nur im Zentrum der Politeia insgesamt steht, sondern deren politischer Gehalt an dieser Stelle von besonderem Interesse ist, ist aber die der Gerechtigkeit. Wo nämlich, wie skizziert, die Verwirklichung von Formen die aufwendige soziale Reproduktion ihres Wissens erfordert, da scheint die Verwirklichung der Gerechtigkeit selbst wiederum auf eine Ordnung sozialer Reproduktion zu zielen. Die Form der Gerechtigkeit kann grundsätzlich gefasst werden als das Prinzip, dass jeder „nur das Seine tut und nicht vielerlei Dinge treibt.“ (433d) Für die Gerechtigkeit gilt, was oben von Prozessen und Werkzeugen gesagt wurde: Sie ist objektiv bestimmt, die gerechte Handlung wie die gerechte Disposition der Seele und der Polis markieren also in der Natur der Dinge gelegene Optima; wobei es sich jetzt nicht um bloß funktionale Optima, sondern um Optima der aus Handlungen und Dispositionen erwachsenden Glückseligkeit handelt (576c590a). In dem Prinzip, dass jeder nur das Seine tue, liegt dann ein grundlegendes Ordnungsmoment einerseits betreffend das Verhältnis der Seelenteile zueinander (434d-444e); andererseits aber betreffend das Verhältnis der Stände in der Polis zueinander (Handwerker / Bauern, Krieger, Herrscher / Wächter; 432b-434d): „Wenn dagegen ein von Natur zum Handwerker oder sonst einem Erwerbsfach Bestimmter, im Verlaufe der Zeit dünkelhaft gemacht durch Reichtum oder Anhang oder Stärke oder sonst etwas dergleichen, sich in den Kriegerstand einzudrängen versucht, oder ein Kriegsmann in den Stand der Ratsleute und Wächter, ohne dessen würdig zu sein, und diese ihre Werkzeuge und Ehren miteinander vertauschen oder wenn ein und derselbe alles dies zugleich zu verrichten sich unterfängt, dann, denke ich, wird auch dir solcher Tausch und solche Vielgeschäftigkeit als verderblich für den Staat erscheinen. [...] Die Vielgeschäftigkeit also der drei verschiedenen Stände und ihr gegenseitiges Übergreifen ineinander dürfte als größter Schaden für die Stadt und mit vollstem Recht als Hauptfrevel bezeichnet werden. [...] Den größten Frevel aber gegen die eigene Stadt, wirst du den nicht Ungerechtigkeit nennen? – Ohne Zweifel.“ (434a-c Ap)

Die richtige und strenge Zuteilung der mit verschieden Naturen begabten Personen an die Typen der zu verrichtenden Tätigkeiten erscheint damit als Kernstück

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der Ordnung der Polis. Das ist wesentlich eine Ordnung sozialer Reproduktion, da sie sich, soll sie Bestand haben, eben intergenerational durchhalten muss. Anders formuliert: Verwirklichte Gerechtigkeit garantiert die Regularität des Werdens der Polis. Diese Regularität lässt sich einem Werden kontrastieren, das sich nicht als Verwirklichung von Formen, sondern als Spiel der Mimesis gestaltet. Der Kontrast soll jetzt ausführlicher vorgeführt werden. Nachahmung ist ein Wiederholungsmodus, der im Gegensatz zur Verwirklichung von Formen vollständig in der Immanenz der menschlichen Angelegenheiten verbleibt. Nachahmung verfügt also nicht über ein transzendent-regulatives Werkzeug zur Prozesswiederholung, das die Identität des Wiederholten sicherstellen würde. Aus diesem Grund vor allem wird sie für Platon zum Problem. Die Grundanlage von Platons Überlegungen zur Mimesis lässt sich knapp in drei Sätzen rekonstruieren. (a) Menschen besitzen ein allgemeines mimetisches Vermögen. (b) Dichtung ist ein Ausdruck oder Aspekt dieses allgemeinen Vermögens. (c) Sofern Dichtungen Diverses darstellen und sofern sie schlechte Vorbilder darstellen, sind sie aus der Polis auszuschließen oder als bloßes Spiel zu rezipieren; andernfalls würden, aufgrund des allgemeinen mimetischen Vermögens, die Diversität und die schlechten Vorbilder auf die Bewohner der Polis (inklusive der Philosophenschüler) überspringen. Die unkontrollierte Mimesis würde also zur Ungerechtigkeit in der Polis wie in den Seelen führen. Das allgemeine mimetische Vermögen erscheint bei Platon als Macht eigener Art, mit der im Rahmen der Staatsutopie der Politeia planvoll umgegangen werden muss: Ahmen die Philosophenschüler „etwas nach, dann soll es schon von Jugend an nur das sein, was sich für sie schickt: tapfere, besonnene, fromme und freie Männer und alles derartige; was aber eines freien Mannes unwürdig ist, das sollen sie weder zu tun noch nachzuahmen geschickt sein, überhaupt nichts Schimpfliches, damit sie nicht infolge der Nachahmung dann wirklich so werden. Hast du nicht bemerkt, dass die Nachahmungen, die man von Jugend an beständig betreibt, zur Gewohnheit und zur anderen Natur werden, ob das nun den Leib oder die Stimme oder die Denkart betrifft?“ (395c-d)

Die Macht der Nachahmung besteht also darin, dass Personen mit der Zeit zu dem werden, was sie nachahmen: während die einzelne Nachahmung die oberflächliche Verdopplung des Verhaltens eines anderen sein mag, gerät das Nachgeahmte in der wiederholten Nachahmung dem Nachahmenden zur eigenen Konstitution. Das Nachgeahmte wird schrittweise zur Sache selbst und wechselt

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somit seinen ontologischen Status: während ihm anfangs der Status eines Abbilds zweiter Ordnung zukommt, kann es sich zu einem Abbild erster Ordnung gleichsam verfestigen. Weil dem so ist und weil das allgemeine mimetische Vermögen nicht automatisch das Vermögen zur Unterscheidung von guten und schlechten Vorbildern einschließt, müssen die Philosophenschüler von schlechten Vorbildern – Nachahmungsvorlagen – ferngehalten werden, um sich nicht mit ihnen zu infizieren. Was umgekehrt die Nachahmung des „tüchtigen [bzw. guten] Mannes [ἀνδρὸς ἀγαθοῦ]“ (396c) angeht, ist zu bemerken, dass Platon nahelegt, es sei möglich, mittels Nachahmung in gewissem Umfang tugendhaft zu werden, also ohne Vernunft und ohne Einsicht in die Ideen der Tugenden. Das ist bemerkenswert deshalb, weil Platon den ontologisch minderwertigen Charakter der Mimesis damit begründet, sie ahme bloß die Erscheinungsbilder der Dinge nach (Abbilder erster Ordnung), nicht aber deren Wahrheit (Urbilder) (598b). Dass Platon sich also damit abfindet, die mimetische Vervielfachung der Erscheinungsbilder der Tugend vor denen der Schlechtigkeit zu privilegieren, ohne den Zusammenhang von Mimesis und Tugend grundsätzlich zu verwerfen, und Erziehung demgemäß als Prozess „durch Vernunft und [gleichermaßen durch] Gewöhnung“ anspricht (606a), scheint nur erklärbar durch Platons Anerkennung der faktischen Macht der Mimesis, die, wenn sie schon nicht ganz ausgeschlossen werden kann, wenigstens dem Erziehungsprozess dienstbar gemacht werden soll. Ohne auf die Mechanismen des planvollen Umgangs mit der Macht der Mimesis – vor allem die Zensur (377b-392c) und den Ausschluss der virtuosen Dichter (397e-398b) sowie die Immunisierung der Rezipienten (Rezeption der Dichtung als bloßes Spiel, 602b, 608a-b) – näher einzugehen, wird jetzt untersucht, wie und weshalb replikative Wiederholung mittels Mimesis die Wiederholung auf die Irregularität des Werdens hin öffnet. Der erste Aspekt besteht darin, wie angedeutet, dass der Nachahmung bzw. dem Nachahmer kein Wissen um das Nachgeahmte zukommt: „So malt uns [...] zum Beispiel der Maler einen Schuster, einen Schreiner oder einen anderen Handwerker, ohne dass er von einem dieser Berufe etwas versteht. Ist er ein guter Maler, so vermag er Kinder und unverständige Menschen trotzdem zu täuschen, indem er einen Schreiner malt und von weitem vorzeigt und so den Eindruck erweckt, als sei es ein wirklicher Schreiner.“ (598b-c)

Der Sachverhalt wird nicht nur für den gemalten Schreiner Geltung besitzen. Sondern er wird auch für jemanden gelten, der einen Schreiner nachmacht, in-

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dem er vorgibt, Schreiner zu sein. Auf den ersten Blick mag er unverständige Menschen darüber täuschen, dass er kein wirklich Schreiner ist, – solange nämlich, wie er seinen Beruf nicht tatsächlich ausübt. Bei genauerem Hinsehen wird sich aber herausstellen, dass er nicht über das Wissen eines wirklichen Schreiners verfügt, dass er infolgedessen wenn überhaupt nur unbrauchbare Artefakte herstellen kann, kurz: dass er kein wirklicher Schreiner ist. Die bei Platon implizit bleibende Pointe des Szenarios legt nahe, dass genau dieser Test und die daraus folgende Entdeckung des Unechten im Feld der mimetischen Phänomene meist ausbleibt, – mit dem Effekt, dass die mimetischen Abbilder ungeprüft fortbestehen und in der Polis zirkulieren. Wie etwa der Maler „durch den Gebrauch“ kein „Wissen davon [erhält], ob das, was er zeichnet, schön und richtig ist oder nicht“ (602a) – einfach weil man z.B. den gemalten Stuhl nicht als echten Stuhl „gebrauchen“ und damit überprüfen kann –, und wie er nicht genötigt ist, nach Art der Tischler oder Flötenbauer das aus dem Gebrauch resultierende Ideen-Wissen sich durch den Umgang mit Wissenden vermitteln zu lassen (602a), so scheint es sich auch im Fall der Nachahmung von Handlungen und Eigenschaften von Personen durch Personen zu verhalten. Menschen verfügen demzufolge in der Regel über kein auf Optimalität und Idealität hinführendes Gebrauchswissen um die von ihnen nachgeahmten Gehalte, und da sie in der Regel auch nicht genötigt sind, Umgang mit Wissenden zu pflegen, verbleiben die mimetischen Phänomene insgesamt auf einem suboptimalen Existenzniveau, eben dem Niveau von Phänomenen und ihren Erzeugern, die dritte, vierte, fünfte etc. nach der Wahrheit sind und in einem Elend (s.o.) und einer Ungerechtigkeit leben, welche nur durch den Kurzschluss mit FormenWissen behoben werden können, den die Politeia mit der Philosophenherrschaft vorschreibt. Derart von regulativem Wissen freigestellt, gibt es in der mimetischen Produktion von Abbildern kein intrinsisches Kriterium für Ähnlichkeit bzw. identische Wiederholung und Reproduktion. So besteht der Unterschied zwischen Abbild und Scheinbild für die Plastik und Malerei darin, dass das Scheinbild die Ähnlichkeit mit seinem Original nur aus einer bestimmten Perspektive (von einem „nicht natürlichen Standpunkt aus“ Soph. 236b Ap.) wahrt, während es vom richtigen Standpunkt aus betrachtet seinem Original durchaus unähnlich ist. Was aber ist dieser „richtige Standpunkt“, wenn man es bei dem Abbild nicht mit einer Sache (einer Malerei, einer Plastik), sondern mit einer nachgeahmten Handlung zu tun hat, zumal, wenn das „Original“ dieser Handlung selbst wiederum eine nachgeahmte Handlung vom Status eines Scheinbilds ist (so dass man es nicht mehr mit Abbildern zweiter, sondern n-ter Ordnung zu tun hat)? Wie ließe sich unter diesen Umständen die „Ähnlichkeit“ seines Abbilds bemessen? Ant-

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wort: Überhaupt nicht. Es sei denn, man verfügte über ein Wissen um Formen als Paradigmen, das in der Tat einen aus der Serie der Abbilder herausgehobenen Standpunkt markierte. Solches Wissen wurde aber für die mimetischen Phänomene gerade ausgeschlossen. Da also auf dem Feld der Nachahmung von Handlungen und Eigenschaften von Personen durch Personen kein „richtiger Standpunkt“ gefunden werden kann, verschwimmt der Unterschied zwischen Abbild und Scheinbild, ereignen sich unbesehen laufend Verformungen und Verschiebungen in der Nachahmung. Das Werden wird irregulär. Ein weiterer Aspekt der Irregularität der Nachahmungsphänome ist neben der beschriebenen Verformung die Vermischung der nachgeahmten Erscheinungen: die Nachahmung überschreitet alle natürlichen oder durch die Idee der Gerechtigkeit gesetzten Grenzen. Platon entwickelt in der Politeia das Szenario einer überbordenden Nachahmungstätigkeit (395c-396e), in dem Philosophenschüler potentiell nicht nur gute und schlechte Männer, sondern auch Handwerker, Sklaven, Frauen, Wahnsinnige sowie Tiere und Naturphänomene („das Tosen des Meeres, den Donner“ (396b)) nachahmen. Solche Grenzübertretungen sind nicht auf Philosophenschüler beschränkt; in seiner stärksten Fassung beschreibt das Szenario eine chaotische Nachahmung aller durch alle, eine universelle Vermischung und Vertauschung, die oben als „Hauptverbrechen“ der platonischen Polis kenntlich gemacht wurde. Die im Vergleich mit dem Erlernen eines Handwerks, einer Wissenschaft oder gar der Philosophie und Wächterkunst eklatante Mühelosigkeit der mimetischen Praxis führt zur unübersehbaren und unkontrollierbaren Vervielfältigung der Abbilder, welche in der Polis wie in einem sophistischen Spiegelkabinett (596d-e) unablässig hin- und herspiegeln. Dieses Szenario ist der Fluchtpunkt der Mimesis. Es bildet für Platon, wie sich leicht nachvollziehen lässt, einen hinreichenden Grund dafür, im Sinne der Verwirklichung der Gerechtigkeit in der Polis die Macht der Mimesis so weit irgend möglich einzuhegen. Göttliche Herstellungskunst, Handwerkskunst und Politische Kunst verweisen auf drei Komplexe von Phänomenen, für die Platon angibt, wie Formen in Werdensprozesse einbezogen sind und so ein Werden als Wiederholung ermöglichen. Vom beseelten Samen, von den Formen von Artefakten und den Formen ethisch-politischer Prinzipien her kommt ein Moment von Regularität in das Werden des Endlichen. Der Komplex der biologischen Reproduktion scheint dabei den größten Grad an Regularität aufzuweisen, da die Wiederholung hier ganz unabhängig ist von menschlichem Zutun, während die anderen beiden Komplexe als Typen kunstgerechten Formengebrauchs relativ sind auf das entsprechende Wissen von Menschen, das jederzeit auch verfehlt werden kann, – so im Fall des

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schlechten Handwerkers und des politischen Tyrannen. Wo in der Polis keine Philosophen-Herrscher anzutreffen sind, die die Form der Gerechtigkeit in ihr Regierungshandeln hinein abrufen, um sie in die Sitten der Menschen hineinzutragen, kann Gerechtigkeit nicht verwirklicht werden; das Werden der Polis wird irregulär. Dann nimmt eine andere Macht der Wiederholung überhand, die nun aber keine identische Wiederholung erlaubt, sondern, als Dritte nach den Formen, zu Mutationen und Vermischungen in der Wiederholung führt, die für Platon schwer zu tolerieren sind: die Mimesis. 2.1.3 Die Universalisierung der Form Nimmt man die Frage danach, ob die platonischen Formen Universalien seien, vor dem Horizont dieser Analyse wieder auf, ist zunächst Aristoteles’ Feststellung beizupflichten, die Formen seien an sich keine Universalien, wenn man unter einem Universal das versteht, was vielen Entitäten gemeinsam ist. Denn an sich sind die Formen einfach und von allen irdischen Entitäten abgetrennt. Gäbe es keinen göttlichen Demiurgen, keinen Handwerker, keinen PhilosophenPolitiker, würden sie auch ewig von der irdischen Welt abgetrennt bleiben. Wenn aber solche Agenten existieren und Formen erkenntnismäßig erfassen, können sie den selbst unbeweglichen Formen eine Bewegung supplementieren, indem sie Prozesse der Realisation bzw. Replikation der eidetischen Gehalte der Formen ausführen. Unter dieser Bedingung lässt sich die platonische Form als ein paradigmatisches Einfaches fassen, das, selbst nicht universell, als entscheidendes Werkzeug oder Prozesselement der Universalisierung, also der vervielfachenden Wiederholung seines eigenen eidetischen Gehaltes fungieren kann. Wenn die Form als Paradigma im Prozess der Herstellung von Abbildern zur Geltung kommt, konterkariert das ihre Einfachheit durchaus nicht: dass sich die irdische Welt im Zuge laufender (biologischer, handwerksmäßiger oder sozialer) Universalisierungsprozesse mit Abbildern von Formen anfüllt, verändert nicht die Formen in dem, was sie ontologisch sind, macht sie nicht selbst zu Universalien. Sondern das Universalisiert-Worden-Sein ihrer eidetischen Gehalte kommt den Formen von den genannten Agenten her zu, die ihnen äußerlich sind und bleiben. Die Rede von der „Universalität“ einer platonischen Form impliziert in Wahrheit nicht eine Aussage über deren Seinsweise, sondern eine Aussage über faktisch bereits stattgefunden habende und dabei jeweils „in Hinblick“ auf die Form ausgeführte Universalisierungsprozesse. Die Sache lässt sich verdeutlichen und problematisieren unter vorgreifendem Rekurs auf ein neuplatonisches Gleichnis für Universalien vor, in und nach den Dingen (der Vielheit), das in Kapitel 2.3 ausführlicher behandelt wird. Das

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Gleichnis entwickelt das Szenario eines einzelnen Siegels (universale ante rem), das sich vielfachen Wachsplatten eindrückt (universale in re), worauf nachträglich die Ähnlichkeit der Eindrücke erkannt und das Universal (die Form des Siegels) im Geist eines Beobachters rekonstruiert werden kann (universale post rem). Man erkennt problemlos, dass es sich bei dem sogenannten Universal um einen einfachen, einzelnen Siegelring und damit ein ganz geheimnisloses Ding handelt; wenn man das Siegel in einer Serie von Wiederholungen in Wachsplatten eindrückt, universalisiert sich zwar seine Form, das Siegel für sich genommen bleibt aber durchgängig das einfache, einzelne Ding, dem die Universalisierung seiner Form als seine Vergangenheit, sein Einbezogensein in bereits stattgefunden habende Universalisierungsprozesse zukommt. Umgekehrt sind die gesiegelten Wachsplatten bezogen auf das Siegel als auf ihre einfache und gemeinsame Herkunft. Daher erscheint es als unangemessen, das Siegel selbst als Universal (ante rem) anzusprechen; vielmehr hat man es bloß mit einem einzelnen Ding zu tun, dessen Form universalisiert werden kann. Ähnliches gilt, wenn man den einzelnen Abdruck als ein Universal (in re) anspricht. Die einzelne gesiegelte Wachsplatte ist bloß ein einzelnes Ding, das an sich sogar ganz unbezüglich auf die Figur des Universalen ist, – es sei denn, der Abdruck des Siegels könnte selbst wiederum als Siegel verwendet werden: dann nämlich ließe sich auch hier sagen, der Abdruck sei ein einzelnes Ding, dessen Form universalisiert werden kann. Die im neuplatonischen Gleichnis vorgenommene Gleichsetzung des Siegels mit der platonischen Form krankt an dem Umstand, dass das Siegel bereits ein Kompositum von Form und Materie ist, während die platonischen Formen als reine, unverkörperte Formen zu verstehen sind. Dem entspricht, dass die platonische Form oben zwar als einfache und abgetrennte, nicht aber als einzelne angesprochen wurde; denn die raumzeitliche Lokalisiertheit eines Objekts, die im Begriff des Einzelnen impliziert ist und die dem Objekt von seiner Materialisiertheit her zukommt, hat für die Figur der unverkörperten Form keine Geltung: sie existiert mittels Unverkörpertheit in gewissem Sinne immer und überall, ist raumzeitlich delokalisiert. Ebenso war es hinsichtlich der platonischen Formen zwar richtig, davon zu sprechen, ihr Universalisiert-Worden-Sein komme ihnen von den genannten Agenten her zu; aber auch wenn der von diesen ausgeführte vergangene Replikationsprozess datierbar sein mag,21 wäre es doch falsch, wie im Fall des Siegels davon zu sprechen, ihr Universalisiert-Worden-Sein komme

21 Insofern der unter Hinblick auf die Formen stattfindende Schöpfungsakt der Lebewesen nach der Schöpfung der Zeit erfolgt (vgl. Kap. 2.1.1), lässt sich auch hier von einer Datierbarkeit dieses Aktes sprechen.

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den platonischen Formen selbst wie ihre Vergangenheit zu: Denn wo das Siegel als Kompositum von Form und Materie eine Vergangenheit hat, sind die unverkörperten Formen ewig, also nicht sinnvoll mit einem Zeitindex zu versehen. Trotzdem ist es mit Bezug auf platonische Formen nicht völlig abwegig, sie als auch zeitlichen Ursprung und Herkunftsgrund ihrer Abbilder zu verstehen; so steht am Anfang der irdischen Welt eine erste Replikation der Formen der Lebewesen, die sich dann in der immanenten Reproduktion der Arten verewigt (ein Prozess, der sich in der Bildlichkeit des Siegelgleichnisses so darstellt, dass die Abdrücke der Siegel dann tatsächlich als Siegel für neue Abdrücke fungieren22). Hinsichtlich der Abbilder von Formen von Artefakten und ethisch-politischen Gehalten, bei deren Produktion immer erneut auf die Erkenntnis der Formen zurückgegriffen wird, die sich qua in der Natur von Objekten und Prozessen gelegener Optima in ihrer Objektivität konstituieren, ist dagegen eher von einer logischen als einer zeitlichen Herkunftsbeziehung zu sprechen. Das Moment der zeitlichen Herkunft kommt hier nur auf der Ebene der sozialen Reproduktion des jeweiligen Formen-Wissens ins Spiel, das sich von den ersten Entdeckern der Formen her historisch tradiert.23 Wollte man, abschließend, den Übergang vom platonischen zum aristotelischen „Universaliendenken“, das im nächsten Kapitel behandelt wird, im Rahmen des neuplatonischen Siegelgleichnisses charakterisieren, würde man sagen, dass einerseits die Konversion von Abdrücken des Siegels in Siegel für neue Abdrücke bei Aristoteles zum Regelfall wird, und dass andererseits es für Aristo-

22 Das Motiv der Konversion vom Abdruck zum Siegel lässt sich bei Platon darüber hinaus auf der Ebene der Mimesis wiederfinden, auch wenn Abdruck und Siegel hier nicht eigentlich als Formen, sondern als Abbilder n-ten Grades zu verstehen sind. 23 Dabei fragt sich, ob etwa die erstmalige Herstellung eines Artefakts strengenommen überhaupt als Produktion eines Abbilds angesprochen werden könne. Denn auch wenn das in der Natur des je zu prozessierenden Prozesses gelegene Optimum die Form des Artefakts objektiv „vorzeichnet“, erscheint die Herstellung des entsprechend geformten Artefakts weniger als Replikation (als Anfertigung des Abbilds eines „schon gegebenen“ Urbilds), sondern eher als Realisation einer in der Natur der Dinge gelegenen Potentialität, der die Realisation durchaus nicht ähnelt. Erst wenn ein Artefakt mindestens einmal gemäß der optimalen Form hergestellt, wenn also diese Form als verkörperte gleichsam expliziert worden ist („logische“ Herkunft), lässt sich im engeren Sinne von der Replikation dieser Form sprechen: Das ausbildungsmäßig tradierte Wissen um diese verkörperte Form fungiert dann seinerseits als Potentialität ihrer wiederholten Replikation. Zum Begriff der Potentialität siehe das folgende Aristoteles-Kapitel.

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teles kein Siegel gibt, das nicht bereits Abdruck wäre. Diese beiden Übergänge charakterisieren das aristotelische Universaliendenken als eines, bei dem die der irdischen Welt immanente Replikation von Formen, die entsprechend niemals unverkörpert vorkommen, im Zentrum steht. Auch wenn das aristotelische Modell seinem deskriptiven Gehalt nach Vorteile gegenüber dem Modell der abgetrennt existierenden paradigmatischen Formen bei Platon hat (wie sich zeigen wird), ist diesem letzteren Modell doch eine erhebliche deskriptive Ladung eigen. So ließe sich mit einigem Abstand sagen, dass überall dort, wo Universalisierungsprozesse von einfachen und exklusiven Quellen her ausfließen, und überall dort, wo eine starke Normiertheit solcher Prozesse zu beobachten ist, das Modell der paradigmatischen Formen der Tendenz nach adäquat ist. Die Abgetrenntheit und Äußerlichkeit der Formen gegenüber den Prozessen ihrer Universalisierung entspricht dann der Tatsache, dass die jeweils entscheidenden Prozesselemente der Vervielfältigung in einem Akt der Generation oder Produktion nicht voll aufgehen, sich in ihm nicht aufbrauchen, sondern mehr oder weniger unverändert zur Verfügung stehen für die wiederholte Ausführung. Diese Struktur wird sich mit Aristoteles als Struktur von Potentialität überhaupt identifizieren lassen.

2.2 D IE I MMANENZ DER U NIVERSALISIERUNG (A RISTOTELES ) Wenn das aristotelische Universaliendenken oben als eines charakterisiert wurde, bei dem die immanente Replikation von Formen im Zentrum stehe, ist zu beachten, dass dieser Charakteristik schon eine bestimmte Lesart des aristotelischen Texts zu Grunde liegt. Aristoteles selbst formuliert den Zusammenhang von Replikation, also Universalisierung, und Universalität nicht systematisch. Vielmehr liefert er, gegen die platonische Annahme transzendenter Formen, gleich eine ganze Reihe von Formulierungen betreffend das Universale und Allgemeine (καθόλου), die sich wie folgt schematisieren lassen: (1) Auf der Ebene der Objekte ist das Allgemeine für Aristoteles das, was „seiner Natur nach mehreren zukommt“ (Met. 1038b11-12), was mehrerem „gemeinsam“ ist (ebd.; PA 644a 27), „ein Eines in der Vielheit“ (An. post. 77a8). Damit ist das Allgemeine etwas, das „immer und überall ist“ (An. post. 87b27-34), es ist zeiträumlich nicht streng lokalisierbar. (2) Auf der Ebene der Wahrnehmung ergibt sich aus der Tatsache, dass das Allgemeine kein konkretes bestimmtes „Dieses“, sondern ein „Solches“ ist (Met. 1039a2, 16), dass es sich der unmittelbaren Wahrnehmung entzieht, denn die

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unmittelbare Wahrnehmung geht bloß auf ein einzelnes „Dieses“. (An. post. 87b27-34) Wenn es sich auch nicht direkt wahrnehmen lässt, so kann das Allgemeine doch mittelbar aus der Wahrnehmung erschlossen werden, nämlich wenn der Wahrnehmung Ähnliches wiederholt begegnet und sich im Gedächtnis aufspeichert. Unter dieser Bedingung kann Wahrnehmung in Erfahrung konvertiert werden – und Erfahrung ist ein allgemeines „Eines außer den vielen.“ (An. post. 100a1ff.; vgl. Met. 981a5-7) (3) Auf der Ebene der Sprache folgt hieraus schließlich, dass der allgemeine sprachliche Ausdruck derjenige ist, der „von mehrerem ausgesagt werden kann.“ (Int. 17b)24 Dieses in der Übersicht gut zusammenstimmende Bild – viele Objekte haben etwas gemeinsam; dieses Gemeinsame kann abstraktiv erfasst werden und reflektiert sich in der Sprache als allgemeine Präzidierbarkeit gewisser sprachlicher Ausdrücke – ist im Einzelnen mit Problemen behaftet, von denen nachfolgend bloß eines herausgegriffen wird, nämlich Aristoteles’ Unentschiedenheit hinsichtlich der allgemeinen oder partikularen Natur der die Substantialität von Substanzen ausmachenden Formen in der Metaphysik. Dabei wird versucht, das Problem eben unter Rekurs auf die Figur der replikativen Wiederholung (#8) soweit möglich zu lösen. Kapitel 2.2.2 analysiert dann den aristotelischen Begriff der Potentialität als Bedingung jeder Wiederholung und Kapitel 2.2.3 wendet sich, komplementär zu Kapitel 2.1.2, der Beschreibung von konkreten innerweltlichen Replikationsprozessen bei Aristoteles zu. 2.2.1 Wiederholung und Beispiel Das Problem des Allgemeinen stellt sich prominent in einem zentralen Abschnitt der aristotelischen Ontologie, in Buch Z der Metaphysik, in dem die Frage „Was ist die Substanz“ als Frage nach dem im höchsten Maße Seienden entfaltet wird (Met. 1028b3-8). Es kann als Reihe sich widersprechender Sätze rekonstruiert werden:25 (1) Die Form (εἶδος) von Entitäten ist ihre Substanz, ist erste οὐσία. (Met. 1032b1-2, 1037a29-30; vgl. Lesher 1971, 169 (Fn. 3)) (2) Die Substanz ist ein bestimmtes Etwas, ein „Dieses“ (τόδε τι). (Met. 1030a6, 1017b27; Cat. 3b10-23)

24 Vgl. zur Relevanz Aristoteles’ für den mittelalterlichen Universalienstreit de Libera 2005a, 75-110. 25 Diese Rekonstruktion ist angelehnt an, aber nicht identisch mit der Rekonstruktion des Problems in Lesher 1971.

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(3) Die Form aber ist ein „Solches“, „Derartiges“, „Sobeschaffenes“ (τοιόνδε) (Met. 1033b23), d.h., sie ist ein Allgemeines (1039a2, 16f.), das mehreren Entitäten gemeinsam ist. (1034a5-9; vgl. Lesher 1971, 169 (Fn. 2)). (4) Wie also kann die Form die Substanz von konkret bestimmten Entitäten sein? Antwort: Als allgemeine kann die Form durchaus keine Substanz sein, denn „die Substanz einer Sache ist die dieser Sache eigene Substanz, die einer anderen Sache nicht zukommt.“ (Met. 1038b 10f.) (5) Ist also die Form etwa doch kein allgemeines „Solches“, sondern ein konkretes „Dieses“? In der Tat: Die Substanz ist „das, was ein bestimmtes Etwas {τόδε τι} und abtrennbar ist; von dieser Art ist aber die Form und die Gestalt eines Dinges.“ (Met. 1017b27-28)26

26 Cohen (2008), der diese Problemlage als „perhaps the largest, and most disputed, single interpretative issue concerning Aristotle's Metaphysics” bezeichnet, gibt eine knappe Übersicht über die von der Literatur vorgeschlagenen Lösungen; ebenso Lesher 1971, 169f., Teloh 1979, 78f., Sirkel 2010, 101. Die aktuellste und ausführlicheste Übersicht bietet Sirkel, der vier in der Literatur anzutreffende Hauptargumentationen bezüglich der Lösung der Problematik herausarbeitet: „According to one (and by far the most radical) line of interpretation, Aristotle intends to deny that any universal is substance. Forms as primary substances are particular, whereas universals (universal forms or universal kinds, either species or genera) lack any ontological status. [...] At the other extreme, there is an interpretation according to which forms are universal (or, alternatively, forms are species), and hence Aristotle does not intend to deny that any universal is a substance. On this line of interpretation, the form or essence of the particular is shared by all particulars of the same species. […] According to one (more subtle) line of interpretation, Aristotle intends to deny that any universal is substance, but this does not mean that universals lack any ontological status. Rather, universals (species and genera) exist as accidents of some sort (or “accidental properties” as we would nowadays call them). […] Another more subtle line of interpretation maintains that particular forms are instances of universals (species or species-forms). It seems that most authors defending the view that forms are particular would not accept the extreme view that forms are particular and universals lack any status, but a more modest view that particular forms are instances of universal forms.“ (Sirkel 2010, 114, 116, 118f., 120) Eine detaillierte Diskussion dieser Positionen würde hier den Rahmen sprengen und zugleich das eigentliche Interesse verfehlen, – insbesondere da die Literatur die Bedeutung der aristotelischen Theorie des Werdens für den Sachverhalt fast durchweg

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Um diese Unentschiedenheit betreffend den Status der Form als Substanz zu erhellen, sollte zunächst festgehalten werden, dass die Form der als Substanzen anerkannten Entitäten (Met. 1042a21-27) für Aristoteles grundsätzlich nicht unverkörpert, jenseits ihres Enthaltenseins in einer Materie vorkommt. (1033b2022, 1071a21-24) „Form“ kann die unbewegliche äußere Gestalt etwa einer Statue sein (1029a5-7); „Form“ kann aber auch die funktionale, an Gebrauch und Zweck orientierte Bestimmtheit von Artefakten sein – so ist etwa ein Haus der Form nach ein „geschlossener Raum als Obdach für Sachen und Personen“ (1043a17, 33-35); und „Form“ kann schließlich die Seele von Lebewesen als deren Substanz bezeichnen (1035b15-20; 1037a6; 1043a35), wobei sie als Entelechie der natürlichen Körper fungiert. (An. 412a1ff.) Wenn Formen jederzeit mit einer Materie zusammengesetzt sind, dann fragt sich, wie ein Beobachter an einem konkreten Objekt überhaupt Form und Materie unterscheiden kann. Stellt man sich eine Situation vor, in der er nur ein einzelnes Ding betrachtet oder es mit einem singulären Ding zu tun hat, so scheint nicht der geringste Anlass zu bestehen, an diesem Ding Form und Materie zu unterscheiden: gegeben ist dem Beobachter bloß das einzelne Ding in seiner konkreten Bestimmtheit und Abgetrenntheit27 als Einfaches und Ganzes, nicht als derartige Zusammensetzung. Die Intuition eines solchen konkreten Ganzen in seiner ontologischen Vollständigkeit bildet in der Tat einen starken Impuls der aristotelischen Dingontologie (Cat. 2a13-15). Anlass zur Unterscheidung von Form und Materie scheint vielmehr erst die Beobachtung zu geben, es gebe viele Objekte, die einem betrachteten Objekt ähneln, mit ihm von gleicher Art sind; diese Beobachtung ist eine, die sich vom einzelnen Objekt ab- und zur vergleichenden Betrachtung einer Vielheit von Objekten hinwendet. Aus der Beobachtung dessen, worin die vielen real unterschiedenen Objekte ununterschieden sind, mag ein Beobachter dann den Begriff einer Form (als dem Grund der Ununterschiedenheit) gewinnen, die nicht exklusiv an ein bestimmtes Substrat gebunden ist, sondern die insofern eine mobile Form ist, als es ihr offensteht, sich in diversen Materien zu verkörpern. Dann fragt sich aber, warum es denn eine Menge gleichartiger Objekte überhaupt gibt. Hält man sich an die Annahme, dass die Form immer nur als mit einer Materie zusammengesetzte vorliegt und unterstellt man, die betrachteten

unterschlägt (vgl. aber Fn. 28, 30), auf die sich die nachfolgenden Ausführungen konzentrieren werden. 27 Gemeint ist hier und im Folgenden nicht eine platonisch-transzendente Abgetrenntheit, sondern eine Abgetrenntheit als reale Unterschiedenheit des wirklichen Objekts von anderen Objekten.

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gleichartigen Objekte seien endlich und somit entstanden, folgt logisch ein Modell, in dem eine bereits verkörperte Form sich in irgend einem Sinne aus ihrer Verkörperung heraus mit einer anderen, von ihrer Materie real unterschiedenen Materie zusammensetzt. Das ist das Modell des Werdens, der Entstehung von Dingen, das in Buch Z der aristotelischen Metaphysik eine oft übersehene Schlüsselstellung einnimmt.28 Aristoteles unterscheidet verschiedene Typen des Werdens: „Was entsteht, entsteht teils von Natur, teils durch Kunst (künstliche Verfertigung), teils von selbst (spontan)“. (1032a13-14) Diese Typen werden später detaillierter betrachtet; vorerst gilt es aufzuzeigen, inwieweit das Modell des Werdens die theoretische Figur ist, mittels derer sich die skizzierte Unentschiedenheit betreffend den Status der Form als Substanz klären lässt. Dazu bietet sich die Lektüre folgender Stelle an: „Gibt es nun eine Kugel neben (außer, para) diesen (sc. den wahrnehmbaren) Kugeln oder ein Haus neben (außer) den aus Backsteinen bestehenden? Oder würde, wenn dem so wäre, ein bestimmtes Etwas nicht einmal entstehen können? Vielmehr bezeichnet {die Form} „Kugel“ oder „Haus“ eine bestimmte Beschaffenheit, aber nicht ein Dieses und Bestimmtes. Vielmehr macht man und erzeugt man aus Diesem {τόδε τι} ein so Beschaffenes {τοιόνδε}, und wenn es erzeugt ist, ist es ein so beschaffenes Dieses {τόδε τοιόνδε}. Das ganze Dieses aber, Kallias oder Sokrates, entspricht dieser bestimmten ehernen Kugel {...}. Bei gewissen Dingen nun ist es auch offenkundig, dass das Erzeugende zwar von derselben Art ist wie das Erzeugte, freilich nicht einfach dasselbe und der Zahl nach eines, sondern der Art (der Form, εἴδει, eidei) nach, z.B. bei den natürlichen Dingen – denn ein Mensch zeugt einen Menschen.“ (Met. 1033b20-34)

Die Stelle lässt sich interpretieren als Skizze der Geburt des Allgemeinen aus dem Geist der Wiederholung. So erzeugt ein Mensch (real sind es natürlich Mutter und Vater, vgl. Kapitel 2.2.3) aus sich ein gleichartiges Objekt, einen neuen Menschen, dessen Materie sich von der des erzeugenden real unterscheidet. Der

28 Harter (1975) erkennt als einziger der Kommentatoren des eingangs gestellten Problems grundsätzlich die Relevanz dieses Modells: „My presentation will differ from those of most of the writers just mentioned in that I shall concentrate upon the relation between εἶδος and Aristotle’s theory of change. I believe that the theory of change is an important key to all this, and I hope that by approaching the question thus, many of the familiar problems of this view can be circumvented.” (ebd., 11) Gleichwohl bleibt seine Behandlung des Zusammenhangs von εἶδος und „theory of change“ letztlich ungenügend, vgl. Fn. 30.

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erzeugende Mensch ist in seiner Substantialität ein konkreter „Dieser“. Der erzeugte Mensch ist real unterschieden von, aber artgleich mit dem Erzeugenden (1032a25), er ist also ein seiner Form nach „so (wie der erzeugende Mensch) Beschaffener“. Für sich betrachtet ist der erzeugte Mensch ohne jeden Zweifel in seiner Substantialität ebenfalls ein konkreter „Dieser“ (z.B. Kallias oder Sokrates); mit seiner Geburt ist er eine bestimmte abgetrennte Substanz. Gleichwohl ist mit der verdoppelnden Erzeugung („denn ein Mensch zeugt einen Menschen“) nicht nur der erzeugte Mensch als Substanz in die Welt gekommen, sondern, zugleich mit ihm, auch die Möglichkeit eines Vergleichs und Verweises. Der erzeugte Mensch ist seiner Form nach „so beschaffen“ wie der erzeugende, – umgekehrt wird mit der Erzeugung aber auch der erzeugende Mensch zu seinem seiner Form nach „so (wie der erzeugte Mensch) Beschaffenen.“ Legt man also zu Grunde, (1) dass „das Allgemeine ein Solches {so Beschaffenes, τοιόνδε}, nicht aber ein bestimmtes Etwas {Dieses, τόδε τι}“ ist (1039a16f.), und (2) dass eine einzelne Substanz ein bestimmtes Etwas, ein „Dieses“ ist (s.o.), dann folgt aus obigem Zitat, dass erst und genau mit der beschriebenen verdoppelnden Erzeugung eines Nachkommens auch das Allgemeine in die Welt kommt. Die nunmehr existierenden zwei Menschen sind einzeln genommen jederzeit „Diese“; insoweit sie aufeinander verweisen, sind sie aber auch „Solche“; kurz, sie sind „sobeschaffene Diese“. Die Figur des „sobeschaffenen Diesen“ ist die Figur des Beispiels. Seine Grundstruktur lässt sich wie folgt kennzeichnen: Das Beispiel ist ein jederzeit konkret bestimmtes Objekt, dass als ein Allgemeinding behandelt werden kann, indem man es willkürlich aus einer Menge gleichartiger Objekt herausgreift und zwischen dem Objekt und der Menge eine Verweisungsrelation etabliert: Die in der Menge enthaltenen Objekte sind „so beschaffen“ wie das eine herausgegriffene Ding und vice versa. Dass das Beispiel willkürlich aus der Menge herausgegriffen wird, heißt: Alle gleichartigen Objekte sind Beispiel für einander, jedes einzelne für jedes einzelne und (deshalb) jedes einzelne für alle: dieser Mensch für diesen Menschen und (deshalb) für alle Menschen.29 Vor dem Hintergrund dieser Figur lässt sich der Zusammenhang zwischen der Geburt des Allgemeinen

29 Dieser Verweis von einem Einzelnen auf ein anderes Einzelnes, nicht auf eine Ganzheit, bildet für Aristoteles in der Rhetorik die wesentliche Struktur des Beispiels (Rhet. 1357b25-35); wenn hier davon gesprochen wird, etwa ein Mensch sei Beispiel für alle Menschen, so ist dies entsprechend nicht unmittelbar als eine Relation zwischen Einzelnem und Ganzem aufzufassen; vielmehr schreitet man gewissermaßen das Ganze aus, indem man immer weiter dem Verweis von einem Einzelnen zum nächsten etc. folgt.

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aus der replikativen Wiederholung und dem „Beispiel-Sein“ als einer Seinsweise des Allgemeinen bei Aristoteles dann wie folgt konstatieren: Der Möglichkeit des beispielhaften Verweises aller gleichartigen Objekte aufeinander entspricht deren ganz reale genealogische Beziehungen untereinander. Indem nämlich alle Objekte als gleichartige auseinander hervorgehen bzw. „in gewissem Sinne alles aus einem Gleichnamigen entsteht“ (Met. 1034a22), sind sie miteinander „verwandt“. Allerdings könnte unmittelbar eingewendet werden: Wenn man das „Beispiel-Sein“ als eine „Seinsweise“ des Allgemeinen auffasst und wenn das Beispiel ein jederzeit bestimmtes konkretes Objekt ist, gerät man in eklatanten Widerspruch zu der eingangs zitierten Aussage, das Allgemeine sei „immer und überall“. (An. post. 87b27-34) Der Einwand trägt aber nicht sehr weit. Zwar ist das als Beispiel genommene Objekt an sich jederzeit ein „Dieses“. Der Umfang, in dem es auch ein „Solches“ ist, wächst aber in dem Maße, in dem Verweisungsrelationen zwischen ihm und anderen gleichartigen Objekten etabliert werden können, in dem also seine Relationalität aufscheint. Insofern diese Relationalität mittels Ähnlichkeit in einem faktisch-historischen Zusammenhang mittels reproduktiver Beziehung fundiert ist (#8), wird das Beispiel umso „beispielhafter“, je mehr „Verwandte“ oder „Artgenossen“ es hat: seine Allgemeinheit hat genau den Umfang seines genealogischen Netzwerks. Das Ding also, dessen Artgenossen immer und überall sind, ist das vollkommen allgemeine Objekt bzw. das vollkommene Beispiel. Insgesamt folgt hieraus, dass sich die Substantialität der aristotelischen Substanz, die Form, ihrem Status nach nicht begreifen lässt, wenn man die Werdensprozesse und die aus ihnen resultierenden genealogischen Beziehungen der Substanzen nicht mitbeschreibt. Das einzelne Objekt als Kompositum von Form und Materie ist ein „Dieses“. Da es keinen Anlass gibt, am einzelnen Objekt, einzeln betrachtet, Form und Materie zu unterscheiden, ist auch seine (unter diesen Bedingungen virtuell bleibende, bloß als bestimmte Konstitution des Objekts zu verstehende) „Form“ eine „Diese“ (vgl. auch Met. 1071a26-29, 1037a6-10). Erst in der Verzeitlichung der Betrachtung zeigt sich dann, dass das Objekt aus der Reproduktion eines gleichartigen Objekts hervorgegangen ist und dass sich im Reproduktionsgeschehen seine Form nach Maßgabe des Umfangs des genealogischen Netzwerks verallgemeinert bzw. universalisiert hat; so dass die Form nun etwas ist, das vielen Objekten gemeinsam ist, – was wiederum die Behandlung jedes einzelnen dieser Objekte als ein Beispiel für alle anderen erlaubt. Die Universalisiertheit der Form ist eine aus dem Realprozess ihrer Reproduktion hervorgehende Realeigenschaft der Form. Dass sie sich Beobachtern nur adäquat erschließt, wenn sie nicht auf einzelne Objekte fokussieren, sondern ihren Blick

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auf eine Vielheit von Objekten öffnen und auf deren Reproduktionsprozesse hin verzeitlichen, macht diese Eigenschaft nicht zu einer, die bloß post rem Existenz hätte (Kap. 2.1.3). Vielmehr ist die Universalisiertheit einer Form eine Realeigenschaft der Form bzw. die Form ist als Universal ein Realobjekt, das aber, da die Form auf die kontinuierliche Reproduktion ihrer endlichen Träger angewiesen ist, in keiner Aktualität – in keiner einzelnen Verkörperung – aufgeht und dessen Existenz daher von jeder Aktualität dissoziiert ist (#5).30 Andererseits kann es nicht darum gehen, das ontologische Primat der abgetrennt existierenden Substanzen bei Aristoteles zu relativieren. Im Gegenteil liegt in der Abgetrenntheit ein Aspekt, der für jedes Denken von Kollektivität als realer Vielheit entscheidend ist und der mit der Materialität der Substanzen zu tun hat. Aristoteles versteht unter Materie das, „was, ohne der Wirklichkeit nach ein bestimmtes Etwas zu sein, der Möglichkeit nach ein bestimmtes Etwas ist.“ (Met. 1042a27). Warum aber ist die Materie selbst kein bestimmtes Etwas der Wirklichkeit nach, das selbständig und abgetrennt existiert (1029a26-30)? Denn auch „ungeformte“ Materie kann portioniert – abgetrennt – werden (z.B. die „Steine, Backsteine, Hölzer“, aus denen man dann ein Haus baut (1043a15)) und besitzt distinkte Eigenschaften (z.B. kann es „keine Säge aus Holz oder Wolle“ geben, weil dieselben nicht die richtige Beschaffenheit zum Schneiden anderer Materialien haben (1044a27-30)). Tatsächlich beziehen viele Dinge noch ihre Definition und Bezeichnung aus den Eigenschaften, der Anordnung und der Zusammensetzung ihrer Materien („Z.B. wenn es gälte, die Schwelle zu definieren, so würden wir sagen, sie sei ein Holz oder ein Stein, der so und so liegt“ (1043a7-8)). Dass Aristoteles diese Eigenschaften nicht als „Form“ oder „Geformtheit“ anspricht, hat unter anderem folgenden Grund: es ist nicht zu beobachten, dass diese ihre Geformtheit an irgend einem Punkt in die Materie „eintreten“ würde – ihre Geformtheit kommt ihr vielmehr immer schon zu; entsprechend wird zumindest die elementare Materie als selbst unentstanden aufgefasst (1033a25ff., 1069b35). Damit hat aber die aristotelische Theorie des Werdens

30 Demgegenüber bleibt Harter (der die wichtige Passage Met. 1033b20-34 nicht rezipiert) dabei stehen, aus Aristoteles’ Theorie des Werdens heraus die Partikularität (Non-Universalität) der Formen abzuleiten, sofern sie in verschiedenen Individuen verkörpert vorliegen. (1975, 14f.) Damit hat Harter zwar nicht unrecht; wenn er aber zugestehen muss: „I am not denying that there remains a sense in which an εἶδος is an universal“ (ebd., 16), und dabei die Frage, in welchem Sinne das εἶδος doch universal sein könne, unbezogen lässt auf das Modell des Werdens, dann entgeht ihm die Hauptsache: dass eine Form universal sein kann in dem Sinne, dass sie qua Werden universalisiert worden ist.

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ebenso wenig Geltung wie die mit ihr zusammenhängende Unterscheidung von Form und Materie. Zwar lässt sich die Geformtheit einer rohen Materie als Ensemble ihrer Eigenschaften abstraktiv und somit allgemein beschreiben; die Unterschiedenheit von Form und Materie hat aber in diesem Fall bloß analytischen Charakter, – sie besitzt keine reale Entsprechung mehr in der Mobilität der Form als einer, der es offensteht, sich in diversen Materien zu verkörpern. Formen setzen sich meist nicht mit ganz beliebigen Materien, sondern nur mit beliebigen Materien oder Materiekombinationen eines je bestimmten Typs zusammen; diese Materien müssen als generischer Bestand der Welt, als erste Allgemeinheit immer schon vorliegen, damit Vervielfältigungs- und Verallgemeinerungsprozesse von Formen stattfinden können. So wenig die Materien dabei auch in einem formalen Sinne „bestimmt“ sein mögen, so sehr zeichnen sie doch dafür verantwortlich, dass Bestimmtes überhaupt entstehen kann und dass in der Welt reale Vielheiten von Bestimmtem, Vielheiten real unterschiedener Dinge anzutreffen sind. (1069b30-32) Die Dinge sind real unterschieden aufgrund ihrer Materialität (1034a5-8); aufgrund ihrer Materialität sind sie aber auch raumzeitlich streng lokalisiert, unhintergehbar ausgestreut in eine Diversität raumzeitlicher Standpunkte, deren „Entfernungen“ voneinander nur überwunden werden können durch den Einsatz von Arbeit: Tradierungsarbeit in der Zeit, Bewegung und Mobilität im Raum (#2, #4). Indem die aristotelische Ontologie die abgetrennt existierenden bestimmten Substanzen ontologisch privilegiert, privilegiert sie auch die Immanenz ihrer raumzeitlichen Ausgestreutheit wie ihrer Werdens-, Lebens- und Gebrauchsprozesse: Wo die Welt strikt aus (Populationen von) Einzeldingen in ihrem Prozess besteht, kann es weder ontologisch noch epistemologisch einen irgendwie erhöhten Standpunkt geben. Das genau unterscheidet die Welt des Aristoteles von derjenigen Platons: sie ist wesentlich „flacher“. 2.2.2 Wiederholung und Potentialität Die Analyse der Geburt des Allgemeinen aus dem Geist der Wiederholung führte zur Figur des Beispiels. Dabei wurde die Wiederholung selbst ihren Voraussetzungen nach nicht näher thematisiert. Das soll jetzt geschehen. So kann ein Mensch als Beispiel für beliebige andere Menschen fungieren, weil er mit diesen in genealogischer Beziehung steht. Die Tatsache, dass es ein genealogisches Netzwerk und also überhaupt viele Menschen gibt, kommt dem einzelnen Menschen zu als das Vermögen, sich zu reproduzieren. Der Tatsache der Universalität der Art-Form des Menschen korrespondiert, am einzelnen Menschen, sein Reproduktionsvermögen. Analog korrespondiert, in der Terminologie des oben

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erwähnten Siegelgleichnisses, der Tatsache der Universalität der Form des Siegels die Möglichkeit, dass jeder einzelne Abdruck wiederum als Siegel verwendet werden kann. So gesehen gründet das Beispiel-Sein des einzelnen Menschen nicht nur darin, dass er ein gezeugter ist, sondern auch darin, dass er selbst zeugen kann: er ist Beispiel nicht nur für seine Eltern und alle vorangegangenen Generationen, sondern auch für seine Kinder und alle kommenden. Ob Mensch oder Siegel, charakteristisch für die reproduktive Wiederholung scheint zu sein, dass die (sich) wiederholende Entität in der Wiederholung nicht aufgebraucht wird, sondern dem Akt der Wiederholung insofern äußerlich bleibt, als sie nach seinem Abschluss mehr oder weniger unverändert fortbesteht und für weitere Wiederholungen zur Verfügung steht. Solche Äußerlichkeit war bereits ein hervorgehobenes Merkmal der platonischen Formen. Sie soll jetzt unter dem Begriff der Potentialität (des Vermögens, der Möglichkeit; δύναµις) als Begründungsfigur jeder Wiederholung mit Aristoteles näher gefasst werden. Einleitend ist anzumerken, dass im aristotelischen Begriff der Potentialität, so wie er in Buch Θ der Metaphysik entwickelt wird, eine implizite Theorie des Werdens und der Veränderung angelegt ist, die umfassender ist als die Theorie des Werdens in der Fassung von Physik Buch Α (7-9) und Metaphysik Buch Ζ (7-9). Wo diese überwiegend auf Prozesse der Entstehung qua Natur oder Kunst fokussieren, wird in Buch Θ zunächst von Potentialen für Prozesse schlechthin ausgegangen. Erst in einem zweiten Schritt (1048b19ff.) wird dann unterschieden zwischen Prozessen, die, auch wenn sie alle unter Einbezug materieller Entitäten stattfinden, an diesen Entitäten keine bleibende Veränderung ihrer Beschaffenheit oder Konfiguration bewirken und solchen, die dies tun, von denen also distinkte und ggf. substanzielle Prozessresultate zurückbleiben: Also zwischen reinen Prozessen (praxis, πρᾶξις) einerseits und hervorbringenden Prozessen (im Fall substanzieller Prozessresultate: poiesis (ποίησις) und biologische Reproduktion) andererseits. (EN 1140a1-2; Pol. 1254a2-9) Erstere sind, wenn sie ablaufen, als solche bereits Aktualität und Wirklichkeit im starken Sinne, letztere finden ihre Wirklichkeit und Vollendung im Prozessresultat, im hergestellten Ding oder im gezeugten Lebewesen.31 (Met. 1050a24-1050b2)

31 Dabei wird der aktuelle poietische Prozess im Prozessresultat gleichsam akkumuliert und aufgespeichert; z.B. ist „das Bauen in dem, was gebaut wird“ (Met. 1050a32), es bewahrt sich also im Gebauten, nachdem der aktuelle Prozess beendet ist. Die Bewahrung des Prozesses gilt dabei nicht nur für poietische Prozesse, sondern für alle Prozesse mit materiellem Prozessresultat überhaupt. Der Sachverhalt wird in Kap. 4.1 unter dem Begriff der „Spur“ näher analysiert.

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Wenn jetzt der Begriff der Potentialität bei Aristoteles untersucht wird, dann wird, weil der Begriff beide genannten Prozesstypen erfasst, der Bereich der replikativen Wiederholung (#8) überschritten, – jener Wiederholung, die als entscheidend zum Verständnis des Universalienproblems anzusehen ist. Insofern interaktive Wiederholungen (#9) nachfolgend stillschweigend mitbehandelt werden, kann dieses Unterkapitel als Beitrag zu einer allgemeinen Wiederholungstheorie betrachtet werden (#5, #6) und damit als ein Vorgriff auf Aspekte von Kapitel 3 und Kapitel 4. Was ist unter Potentialität – einem Potential, einem Vermögen, einer Möglichkeit32 – bei Aristoteles zu verstehen? „Vermögen wird genannt [...] das Prinzip der Bewegung oder Veränderung entweder in einem anderen oder insofern es ein anderes ist.“ (1019a15) Potential ist also immer das Potential einer Entität für eine Veränderung, also für einen Prozess in, an oder mit einer oder mehreren anderen Entitäten. Dem scheint ganz allgemein die Erfahrung zugrunde zu liegen, dass man es in der Welt mit einer Mannigfaltigkeit von mehr oder weniger diskreten Prozessverläufen zu tun hat, die immer wieder neu angefangen, initiiert werden und die entsprechend auf ihre Anfänge, Initiativen oder Ursachen, – kurz, auf ihre Prinzipien hin analysiert werden können. Prinzip als solches ist das Woher eines Prozesses, sei es dem Ort, dem ersten Bestandteil, dem aktiven Entstehungsgrund, der initiierenden Entscheidung nach. (1012b35-1013a24) Prinzip kann sowohl ein aktives Prinzip sein (aktiver Entstehungsgrund und Entscheidung) als auch ein passives Prinzip (im Sinne eines gegebenen Ausgangspunkts oder Materials). Entitäten, die als aktives Prinzip des Prozesses fungieren, lässt sich dann ein wirkendes Vermögen zusprechen, und denen, die als passives Prinzip des Prozesses fungieren, ein leidendes Vermögen. Dabei müssen immer Entitäten beiden Typs in einem Prozess zusammenkommen: wo kein Leidendes, da kein Wirkendes und vice versa. Der obigen Definition ist also implizit, dass Prozesse diverse Entitäten in ihren spezifischen Ablauf hinein versammeln. Die Bestimmung des Vermögens aus dem Definitionskapitel Δ der Metaphysik, die in Buch Θ eingangs wiederholt wird (1046a9-12), bewegt sich noch ganz auf der Ebene der Wirklichkeit, der Aktualität von Prinzipien und sagt mehr über wirkliche Prozesse aus denn über Potentiale. Um über wirkliche Prinzipien und Prozesse zu sprechen, benötigt man aber keinen Begriff von Potentialität, wenn man zugrunde legt, der Begriff sei mit der Dimension des Inaktuellen befasst. Tatsächlich thematisiert Aristoteles diese Dimension kurz darauf in Buch Θ:

32 Im Begriff der δύναµις sind die Konnotationen des Vermögens (der Handlungsmacht) und der logischen Möglichkeit noch nicht unterschieden.

74 | K OLLEKTIVITÄTEN „[S]o ist offenkundig, dass Vermögen (Möglichkeit) und Wirklichkeit Verschiedenes sind [...], so dass es also möglich ist, dass etwas vermögend ist zu sein, aber nicht ist, und vermögend nicht zu sein, aber ist, und ebenso in den anderen Kategorien, dass etwas, das vermögend ist zu gehen, nicht geht, und etwas, das vermögend ist nicht zu gehen, geht. Vermögend (möglich) ist aber das, bei dem sich, wenn ihm die Wirklichkeit dessen zukommt wozu ihm das Vermögen (die Möglichkeit) zugeschrieben wird, nichts Unmögliches ergibt.“ (1047a18-26)

Die grundlegende Struktur der Potentialität ist demnach folgende: Wenn eine Entität einen Prozess aktuell ausführt, ist sie ganz offensichtlich vermögend, ihn auszuführen. Beließe man es dabei, fügte der Begriff des Potentialität dem der Wirklichkeit noch nichts hinzu. Man muss also darüber hinaus sagen: Eine Entität kann das Vermögen haben, einen Prozess auszuführen, selbst wenn sie ihn aktuell nicht ausführt, und sie kann das Vermögen haben, ihn nicht auszuführen, wenn sie ihn gerade ausführt. Aristoteles motiviert diese Struktur mit einem Beispiel aus dem Feld des Handwerks (1046b33-1047a4): das Vermögen, eine bestimmte Kunst auszuüben, muss erlernt werden; hat man die Kunst einmal erlernt, verliert man sie nur durch „Vergessen oder durch eine äußere Einwirkung oder durch die Wirkung der Zeit“ (1047a2). Wollte jemand hingegen behaupten, etwa ein Baumeister sei vermögend zu bauen nur dann, wie er aktuell baut, dann gelangte man zu der absurden Auffassung, eine (dann nicht mehr durchweg als „Baumeister“ ansprechbare) Person erlerne das Vermögen zu Bauen – die Baumeisterkunst – mit jeder aktuellen Ausführung des Arbeitsprozesses von Neuem und vergesse es nach dieser Ausführung sofort wieder. Demgegenüber lässt sich der Sachverhalt, dass jemand einen Arbeitsprozess immer wieder, aber nicht durchweg immer ausführt, besser verstehen, wenn man annimmt, die Person habe ihre Disposition durch einen Lernvorgang dauerhaft so verändert, dass sie aufgrund dieser Disposition jederzeit in der Lage ist, den entsprechenden Arbeitsprozess aktuell auch auszuführen. Ihre erworbene Disposition bleibt durchweg dieselbe, unabhängig davon, ob sie den Arbeitsprozess aktuell ausführt oder nicht. Die zeitlich auseinanderfallenden, wiederholten Aktualisierungen des Prozesses finden dann ihren Grund, ihr Prinzip, in der einen, dem Körper bzw. der Seele zukommenden Disposition, also schlicht in der Tatsache, dass die Person ein Baumeister „ist“ und durchgängig das Vermögen hat zu Bauen. Damit ist klar, dass die Tatsache der Wiederholung ein zentrales Moment des motivationalen Zusammenhangs ist, welcher das Postulat einer Dimension von Potentialität in der Welt herausfordert. Denn wäre einerseits die Welt in unendlicher Starre befindlich, gäbe es keinen Anlass für das Postulat von Potentia-

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litäten: vielmehr wäre das eine vollkommen unvermögende Welt (1047a12-17). Und wäre umgekehrt die Welt eine, „in der alles unerwartet und neu ist, in der dem schöpferischen Einfallsreichtum gewissermaßen ohne jede Erinnerung freier Lauf gelassen wird“ (GN 29), in der es somit keine Wiederholung gibt, dann wäre zwar alles Geschehende offensichtlich auch möglich; die dem Geschehen zu Grunde liegende Potentialität bliebe mangels Wiederholung prinzipiell unerkennbar und wäre deswegen als Konzept wertlos: Wo man schlicht nicht weiß, was kommen wird, lässt sich auch nichts Spezifisches für möglich halten, lässt sich gar nicht von Vermögen für spezifische Prozesse sprechen. Genau das aber ist für die Potentialitäten, die Aristoteles behandelt, der Fall: „Dass {die Wirklichkeit, die wirkliche Tätigkeit} der Formel {dem Begriff} nach früher ist {als das Vermögen}, ist klar. Denn das im primären Sinn Vermögende ist vermögend, weil es wirklich tätig werden kann; z.B. nenne ich baukundig das, was vermögend ist zu bauen {...}; dasselbe gilt von allem anderen, so dass die Formel der Wirklichkeit notwendig vor der Formel des Vermögens (der Möglichkeit) da sein muß, und die Kenntnis der Wirklichkeit vor der Kenntnis des Vermögens (der Möglichkeit).“ (Met. 1049b13-17, Kurs. eingef.)

Das Vermögen bezieht seinen Begriff aus dem Begriff der wirklichen Tätigkeit. Es bezeichnet eine zukünftig eintretende Wirklichkeit, die dem Typ nach schon bekannt ist: Das Vermögen ist, wenn es begrifflich identifizierbar ist, Vermögen zur Wiederholung einer schon bekannten wirklichen Tätigkeit. Wie selbstverständlich stellt Aristoteles somit den Begriff des Vermögens, indem er ihn dem Begriff der wirklichen Tätigkeit nachordnet, in den Horizont der Wiederholung. Dass einmalige Ereignisse möglich waren, wenn sie eintraten, ist klar; in dem Aspekt, dass sich das Vermögen als inaktuelles für wiederholte Aktualisierungen bereit zu halten imstande ist, tendiert der Möglichkeitsbegriff aber eindeutig dazu, mit Wiederholungsphänomenen befasst zu sein: erst im Feld der Analyse des Zusammenhangs von Inaktualität und Wiederholung entfaltet er sein spezifisches analytisches Potential. Nur wo sich Prozesse wiederholen, können sie sinnvoll zur Disposition von Entitäten in Bezug gesetzt werden und kann diese Disposition als Potentialität gefasst werden. Entscheidend und unmittelbar einsichtig ist nun, dass sich, wie eingangs angedeutet, Potentialität in der aktuellen Ausführung der von ihr ermöglichten Prozesse nicht erschöpft: „Auch das Erleiden ist nicht von einfacher Bedeutung, sondern [1] in der einen Bedeutung ist es der Untergang durch das Entgegengesetzte, [2] in der anderen ist es eher die Bewah-

76 | K OLLEKTIVITÄTEN rung des in Möglichkeit Seienden durch das, was in der Vollendung ist und sich ebenso verhält, wie die Möglichkeit (Vermögen) zur Vollendung; denn das, was die Wissenschaft besitzt, wird ein Betrachtendes, was entweder keine Veränderung ist – der Zuwachs erfolgt ja zu ihm selbst hin und zur Vollendung –, oder eine andere Gattung von Veränderung. Daher kann man nicht gut sagen, daß das, was besonnen denkt, sich verändere, wenn es denkt, wie auch der Baumeister , wenn er baut.“ (An. 417b1-9)

Aristoteles diskutiert an dieser Stelle zwei Typen des Übergangs vom Möglichen zum Wirklichen, einmal nämlich zum Wirklichen als einem wirklichen Prozess [2], andererseits aber zum Wirklichen als einem wirklichen Objekt [1]. „{E}inige Dinge sind der Wirklichkeit nach die Bewegung im Verhältnis zur Möglichkeit , anderes wie die Substanz im Verhältnis zur Materie.“ (Met. 1048b8-10) So entsteht eine formal bestimmte Substanz X aus einer Materie, die der Möglichkeit nach X ist, und deren zunächst bestehendes „Fehlen-der-Bestimmtheit“ (Phys. 191a) (deren Ungeformtheit) im Entgegengesetzten (der Geformtheit) „untergeht“, wenn sie ein wirkliches X wird. Je nachdem, ob der Formgebungsprozess irreversibel ist oder nicht, vergeht dann die Möglichkeit, X zu sein, mit dem einmaligen X-Werden. Anders verhalten sich möglicher und wirklicher Prozess zueinander: hier ist der Übergang vom Möglichen zum Wirklichen „eher die Bewahrung des in Möglichkeit Seienden durch das, was in der Vollendung ist“. Der Baumeister verändert sich selbst gerade nicht, wenn er baut; sondern sein Vermögen zu Bauen erhält sich durch jede Aktualisierung dieses Vermögens hindurch. Damit gelangt man zur oben skizzierten Struktur, dass ein Vermögen den Grund multipler Aktualisierungen bildet, d.h. den Grund der Wiederholung.33

33 Giorgio Agamben (2002, 56f.) versucht diese Struktur auch unmittelbar unter Rekurs auf die bereits zitierte Stelle aus Met. 1047b24-26 („Vermögend (möglich) ist aber das, bei dem sich, wenn ihm die Wirklichkeit dessen zukommt wozu ihm das Vermögen (die Möglichkeit) zugeschrieben wird, nichts Unmögliches ergibt.“) herauszuarbeiten, indem er die Übersetzung von ἀδύνατον (1047a26) mit unvermögend / Unvermögendes (gegenüber der üblichen Übersetzung mit „Unmögliches“) favorisiert. Damit würde die Stelle signifizieren, dass sich das Vermögen in der Aktualisierung nicht aufbraucht. Dass diese Deutung nicht richtig sein kann, zeigt jedoch der Kontext des Arguments: „Wenn {...} das Mögliche (Vermögende), wie wir sagten, dasjenige ist, das nichts Unmögliches impliziert, so ist offenkundig, daß es nicht wahr sein kann zu sagen, dies sei zwar möglich (vermögend zu sein), werde aber nie sein – mit der Folge, daß uns

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Nimmt man das als Hintergrund und greift auf, was in #6 über Potentialität gesagt wurde, gelangt man mit und über Aristoteles hinaus zu folgender zentraler Bestimmung: Potentialität ist keine Verdoppelung der wirklichen Welt. Eine Entität verfügt nicht über Aktualität und Potentialität als zwei ihr separat zukommende Dimensionen. Sondern wenn einer Entität die Potentialität zu einem bestimmten Prozess zukommt, so kommt sie ihr zu wie ihre Zukunft. Was mit dieser Entität zukünftig unter Rekurs auf sie oder von ihr ausgehend geschehen kann, wird dabei objektiv begründet und zugleich eingegrenzt durch ihre Konstitution oder Disposition, die als solche jederzeit aktuell ist und die sich für die (mit) ihr möglichen Prozesse bereithält. In welchem Sinne die jederzeit aktuelle Konstitution einer Entität zugleich das inaktuelle Moment der Potentialität begründet, lässt sich anhand zweier Charakteristika der Potentialität nach Aristoteles weiter verdeutlichen: Wechselseitige Potentialisierung. Wie angedeutet, versammeln Prozesse diverse Entitäten in ihren Ablauf hinein, wobei manche als aktive, manche als passive Prinzipien der Prozesse fungieren. Im Prozess des Bauens erleidet eine Materie die formgebende Aktivität des Baumeisters; im Prozess des Sehens erleidet das Auge den Einfall des Lichts. Dazu schreibt Aristoteles: „Es ist {...} offenkundig, dass das Vermögen des Bewirkens und das des Erleidens in gewissem Sinne ein und dasselbe ist (denn vermögend ist etwas sowohl, weil es selbst das Vermögen hat, etwas zu erleiden, als auch, weil ein anderes das Vermögen hat, durch es etwas zu erleiden), in gewissem Sinn aber verschieden.“ (Met. 1046a20-23, Kurs. eingef.)

auf diese Weise das, was unvermögend ist zu sein, entschwinden würde.“ (1047b3-6) Damit ist gesagt: Dass das Eintreten des Möglichen nichts Unmögliches impliziert, heißt, dass das Mögliche irgendwann auch eintreten muss; andernfalls wäre, weil der Begriff des Möglichen dann sowohl das Eintretende wie das niemals Eintretende umfasste, der Begriff des Unmöglichen überflüssig. Im Rahmen dieses Arguments erschiene es aber als sinnlos, das Unmögliche als das Unvermögende zu fassen. Würde man lesen: „Wenn {...} das Mögliche (Vermögende), wie wir sagten, dasjenige ist, das nichts Unvermögendes impliziert...“, ließe sich hieraus kein Argument über das Eintreten des Möglichen schlechthin (bzw. über die Sinnhaftigkeit des Postulats eines Möglichkeitsbegriffs überhaupt) ableiten, sondern bloß ein Argument über die erneute, wiederholte Aktualisierung eines Möglichen, nachdem sich dieses bereits mindestens einmal aktualisiert hat. – Dass sich die Potentialität im Akt nicht aufbraucht, ist vielmehr, wie geschehen, unter Rekurs auf An. 417b1-9 zu erhärten (so auch Agamben 2002, 57).

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Dass das Vermögen zu wirken und das zu erleiden „in gewissem Sinn“ ein und dasselbe sind, wird hier anzeigen, erstens, dass beides Vermögen im eigentlichsten Sinne sind, zweitens, dass beide an ein und demselben Ding vorkommen können. Allerdings, und hierin sind sie „in gewissem Sinn“ wiederum nicht dasselbe, muss eine Entität, die auf sich selbst einwirkt, faktisch mit sich different, in ein Wirkendes und Leidendes unterschieden sein, denn sie kann „durch sich selbst nichts erleiden.“ (1046a29) Es lässt sich aber argumentieren, dass das Vermögen zu Wirken und das zu Erleiden auch insofern „in gewissem Sinn ein und dasselbe“ sind, als diese Vermögen nicht nur einfach komplementär sind, sondern sich gegenseitig konstituieren. Demnach hat man es in Hinsicht auf mögliche Prozesse immer mit Gefügen von Dingen zu tun, die sich – verteilt auf unterschiedliche Rollen: Wirkende und Leidende – wechselseitig potentialisieren. So kann man obige Stelle pointiert lesen: „Vermögend ist etwas [...] weil ein anderes das Vermögen hat, durch es etwas zu erleiden“ (1046a21-23, Kurs. eingef.) und ihr eine Parallelstelle aus Metaphysik Buch Δ hinzufügen: „Denn wir sagen von dem, was eine Einwirkung erfährt, dass es diese zu erfahren „vermögend“ (fähig) ist kraft des Vermögens, kraft dessen es die Einwirkung erfährt.“ (1019a21-23, Kurs. eingef.) Der ersten Stelle zufolge kommt den Entitäten, die als aktives Prinzip eines Prozesses fungieren, ihr wirkendes Vermögen von den Entitäten her zu, die in dem Prozess als passives Prinzip fungieren, bzw. von dem leidenden Vermögen dieser Entitäten her. Erst das Vorliegen eines potentiell Leidenden verschafft also dem Wirkenden seine Möglichkeit, macht es zu einem Wirkenden der Möglichkeit nach. Der zweiten Stelle zufolge kommt den Entitäten, die als passives Prinzip eines Prozesses fungieren, ihr leidendes Vermögen von den Entitäten her zu, die im Prozess als aktives Prinzip fungieren, bzw. von dem wirkenden Vermögen dieser Entitäten her. Erst das Vorliegen eines potentiell Wirkenden verschafft also dem Leidenden seine Möglichkeit, macht es zu einem Leidenden der Möglichkeit nach. Dabei ist nicht so sehr die Unterscheidungen wirkend / leidend und aktiv / passiv von Interesse – denn im Einzelfall wird es nicht immer einfach sein, etwa das aktive Prinzip eines Prozesses exklusiv in einer einzigen Entität situiert zu sehen –, sondern der Sachverhalt der reziproken Potentialisierung von Entitäten in Hinsicht auf Prozesse, in die sie gemeinsam eintreten (können). Aus diesem nämlich folgt, dass Entitäten ihre Potentialität wesentlich von außen her zukommt: ob eine bestimmte Disposition oder Konstitution einer Entität als Potentialität fungiert, hängt davon ab, ob es andere Entitäten gibt, mit denen sie in einen gemeinsamen Prozess eintreten kann derart, dass der bestimmte Ablauf dieses Prozesses von ihrer Disposition oder Konstitution abhängt. Jedes Mal, wenn davon die Rede ist (in den folgenden Kapiteln und überhaupt), eine Entität „ha-

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be“ eine Potentialität, ist das somit als Kurzschrift des Sachverhalts zu verstehen, dass sie von anderen Entitäten her potentialisiert wird. Graduierte Potentialisierung. Spricht man von der Potentialität von Entitäten hinsichtlich der Ausführung bestimmter Prozesse, so ist damit noch nicht gesagt, wann diese Prozesse auch tatsächlich ausgeführt werden können: Manche scheinen unmittelbar, andere aber nur mittelbar möglich zu sein, d.h. manche scheinen sofort, andere erst zu einem späteren Zeitpunkt ausgeführt werden zu können. Dieser Tatbestand lässt sich als graduierte Potentialisierung ansprechen. Aristoteles widmet ihm in der Metaphysik ein eigenes Kapitel (Buch Θ, Kap. 7): „Ist z.B. Erde der Möglichkeit nach ein Mensch? Oder {doch wohl} nicht, sondern vielmehr {erst} dann, wenn sie bereits Samen geworden ist, und vielleicht nicht einmal dann?“ (1049a1) „Z.B. ist der Samen noch nicht (er muss nämlich erst in etwas anderes [nämlich den weiblichen Organismus] gelangen und sich verändern).“ (1049a14-15) „Jenes aber (sc. der Samen) bedarf eines weiteren Prinzips {um der Möglichkeit nach Mensch zu sein}, wie auch die Erde noch nicht der Möglichkeit nach eine Statue ist (durch eine Veränderung nämlich wird sie erst Erz sein).“ (1049a17-18)

Ohne schon auf Details des aristotelischen Modells der biologischen Reproduktion einzugehen (Kap. 2.2.3), ist die Graduierung in diesem Beispiel folgende: Erde ist nicht unmittelbar der Möglichkeit nach ein Mensch, aber sie ist der Möglichkeit nach Samen. Auch der Samen ist nicht unmittelbar der Möglichkeit nach ein Mensch, er kann aber der Möglichkeit nach in den weiblichen Organismus gelangen und sich dort – zum Embryo – „verändern“. Embryo geworden, ist der Same dann der unmittelbaren Möglichkeit nach ein Mensch, er kann seine Potentialität unmittelbar im Prozess der Embryogenese aktualisieren. Dabei wäre es falsch zu sagen, Erde sei schlechthin unvermögend Mensch zu sein. Aber die Möglichkeit Mensch zu sein kommt ihr nur vermittelt zu, vermittelt nämlich durch eine Kette zwischengeschalteter Entitäten, Prinzipien und Prozesse, die sie zum Embryo transformieren so zu einem Menschen „der {unmittelbaren} Möglichkeit nach“ werden lassen, kurz: die sie in Hinblick auf den Prozess der Embryogenese, der Menschwerdung schrittweise potentialisieren. Ein weiteres Beispiel:

80 | K OLLEKTIVITÄTEN „Ebenso ist auch ein Haus der Möglichkeit nach: wenn nichts in diesem Etwas, d.h. der Materie, hindert, dass es ein Haus werde, und es nichts gibt, was hinzukommen oder wegfallen oder sich verändern muss, dann ist dies ein Haus der Möglichkeit nach.“ (1049a9-12)

Ein Ensemble von Baumaterialien ist der unmittelbaren Möglichkeit nach ein Haus, wenn diese Materialien vollständig und in richtigem Zustand vorliegen. Den Materialien kommt die Möglichkeit aber nur zusammen, im Ensemble, zu: wechselseitige Potentialisierung des vollständigen Materials. Angenommenen aber, ein Material fehlte, etwa Holz. Dann kommt einem irgendwo befindlichen Baum mittelbar die Möglichkeit zu, Haus zu sein, – insofern man die Prozesse des Schlagens, Bearbeitens, Herbeischaffens etc. noch dazwischenschalten und über die übrigen Baumaterialien schon verfügen muss, damit ihm die Möglichkeit – im Ensemble – schließlich unmittelbar zukommen kann: schrittweise Potentialisierung des Baums. Umgekehrt kommt den übrigen Baumaterialien, solange das Holz fehlt, die Möglichkeit Haus zu sein ebenfalls nur mittelbar zu, unmittelbar aber erst, wenn man das Herbeischaffen des Holzes dazwischengeschaltet hat: schrittweise Potentialisierung des übrigen Materials. Aristoteles erwähnt einen entscheidenden Spieler im Möglichkeitsensemble des Zitats nicht: den Baumeister. Denn das Ensemble von Baumaterialien ist der Möglichkeit nach ein Haus nur dort, wo auch ein Baumeister existiert, also jemand, der vermögend ist zu bauen: Potentialisierung des vollständigen Materials durch den Baumeister. Umgekehrt ist nur derjenige unmittelbar vermögend zu bauen, der das benötigte Material zu seiner Verfügung hat: Potentialisierung des Baumeisters durch das Material. In diesen sehr simplen Beispielen kommt zum Tragen, was oben festgehalten wurde: Wenn die aristotelischen Substanzen aufgrund ihrer Materialität raumzeitlich streng lokalisiert und damit unhintergehbar in eine Diversität raumzeitlicher Standpunkte ausgestreut sind, dann können Prozesse an bestimmten Orten zu bestimmten Zeiten häufig nicht unmittelbar „der Möglichkeit nach“ stattfinden, denn das Ensemble der in sie einbezogenen Substanzen und Materien ist nicht immer schon fertig versammelt. Man muss daher den Begriff der Potentialität auf eine Graduierung oder Nuancierung hin öffnen, um artikulieren zu können, welche Prozesse jeweils noch vor- und zwischengeschaltet werden müssen, damit eine Potentialität tatsächlich auch aktualisiert werden kann. Sagt man, einer Entität komme eine Potentialität nur mittelbar zu, dann drückt man damit aus, welche Arbeit noch zu leisten, welche Kosten noch zu tragen, welche Räume und Zeiten noch zu überbrücken und welche anderen Spieler noch zu rekrutieren sind, damit ein bestimmter Prozess unmittelbar ablaufen könnte. Ein graduierter

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Möglichkeitsbegriff trägt der je benötigten Arbeit an der Potentialität Rechnung. Entsprechend ist jedes Mal, wenn davon die Rede ist (in den folgenden Kapiteln und überhaupt), eine Entität „habe“ eine Potentialität, zu bedenken, dass diese verschieden graduiert sein kann. Abschließend bleibt festzustellen: Wenn ein Prozess unmittelbar ablaufen könnte und eine unvermittelbare Potentialität vorliegt, heißt das noch nicht, dass er in jedem Fall auch abläuft. Vielmehr unterscheidet Aristoteles diesbezüglich zwischen vernunftlosen und vernünftigen Vermögen: „{Bei den vernunftlosen Vermögen ist es} notwendig, dass, wenn das Wirkende und das Leidende, so wie es ihrem Vermögen entspricht, in Berührung kommen, das eine wirkt und das andere leidet; bei {den mit Vernunft verbundenen} Vermögen ist das nicht notwendig. Denn diese Vermögen (sc. die vernunftlosen) bringen alle jeweils nur eine Wirkung hervor, jene hingegen einander entgegengesetzte Wirkungen, so dass sie gleichzeitig entgegengesetzt Wirkungen hätten; das aber ist unmöglich. Es muss folglich etwas anderes das Entscheidende sein; ich meine damit das Streben oder die Entscheidung. Denn was von zwei Dingen ein solches Vermögen entscheidend erstrebt, das wird es tun, wenn das Leidende so vorhanden ist, wie es dem Vermögen entspricht und es mit ihm in Berührung kommt.“ (Met. 1048a6-13)

Wenn die wirkenden und leidenden Elemente eines vernunftlosen Prozesses so versammelt sind, dass ihnen das unmittelbare vernunftlose Vermögen zu diesem Prozess zukommt, dann läuft dieser Prozess automatisch und notwendig ab – wie eine chemische Reaktion notwendig und immer abläuft dann, wenn die Reagenzien unter den richtigen Bedingungen in Kontakt kommen (1046b7). Solche Vermögen sind also vermögend, einen Prozess auszuführen, aber sie sind nicht vermögend, ihn auch nicht auszuführen. Genau das aber ist bei den mit Vernunft verbundenen Vermögen, so bei „allen Künsten und den hervorbringenden Wissenschaften“ (1046b4), der Fall: sie vermögen etwas zu tun und nicht zu tun. „Die Ursache hierfür ist, dass die Wissenschaft eine begriffliche Formel ist und dass dieselbe Formel die Sache und ihre Privation deutlich macht, nur nicht in derselben Weise.“ (1046b7-9) Z.B. die Arztkunst verfügt über die begriffliche Formel der Gesundheit (und also über das Vermögen des Heilens); damit verfügt sie auch über die Formel der Krankheit (als Privation der Gesundheit), obwohl sie nicht eigens auf Krankheit, sondern auf Gesundheit zielt: das aber eben vom „Boden“ der Privation, der Krankheit her. Da die Arztkunst das Vermögen zu heilen und nicht zu heilen ist, muss auch dort, wo eine unmittelbare Potentialität vorliegt (wo Arzt und Patient zusammenkommen), noch ein Streben oder eine Entscheidung hinzutreten, damit die Aktualisierung einsetzt.

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2.2.3 Form und Wiederholung II Nach der Analyse des Möglichkeitsbegriffs bei Aristoteles wird jetzt die Betrachtung der replikativen Wiederholung im Besonderen fortgesetzt. Es geht darum, Prozesse replikativer Wiederholung – verstanden als entscheidender Mechanismus der Universalisierung und also Kollektivierung von Formen – in größerem Detail zu untersuchen und dabei auch die Ergebnisse des vorigen Kapitels einzubeziehen. So können, die platonische Analyse von Replikationstypen aktualisierend, bei Aristoteles verschiedene Grundtypen von Prozessen unterschieden werden: (1) Prozesse mit formal-substanziellem Prozessresultat (a) Prozesse biologischer Reproduktion. Die Potentialität ihrer wiederholten Ausführung liegt in der Konstitution biologischer Körper qua Natur. Gezeugt werden Körper, die mit den Erzeugern artgleich sind und die selbst die Potentialität für alle Prozesse an sich haben, die sie qua Natur vermögen oder deren Potential sie lernend oder nachahmend erwerben. Zudem liegt in den gezeugten Körpern die Potentialität wiederum ihrer eigenen biologischen Reproduktion. (b) Poietische Prozesse, verstanden als Prozesse der Herstellung von Artefakten. Die Potentialität ihrer wiederholten Ausführung liegt in den erworbenen Dispositionen menschlicher Körper, die ihre Träger als Künstler / Handwerker konstituieren (1046b3-4, 1047b32ff.) und deren zentrales Element die Form der hergestellten Artefakte selbst ist. Es resultieren Artefakte, die Potentiale für die wiederholte Ausführung der mit ihnen möglichen Gebrauchsprozesse sind. Über Aristoteles hinausgehend ließe sich sagen, die Artefakte seien nicht nur Potentiale ihres Gebrauchs, sondern auch Potentiale – nämlich Modelle – ihrer eigenen Replikation: sie können nachgebaut werden. (2) Prozesse ohne formal-substanzielles Prozessresultat (a) Prozesse der Ausbildung von Vermögen / Habitūs mittels Lernen und ggf. Nachahmung. Alle poietischen und viele praktische Prozesse werden ausgeführt und wiederholt als Aktualisierung erworbener Vermögen.34 Diese Vermögen sind Vermögen zur Ausführung der entsprechenden Prozesse, ermöglichen damit zugleich aber auch Lernprozesse, die bei Dritten stattfinden können, wenn die Prozesse aktuell ausgeführt werden. Wenn praktische oder poietische Prozesse im Modus des Nachahmens oder Lernens wiederholt ausgeführt werden, können

34 Praktischen Prozessen liegen teils Vermögen qua Natur (z.B. Sehvermögen, Met. 1050a24-26; Nähr- Wahrnehmungs, Strebungs- und Bewegungsvermögen, An. 414ab; Vermögen des Wärmens, 1046b7) und teils erworbene Vermögen (z.B. Vermögen des Flötenspiels, Met. 1047b33) zu Grunde.

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sie „materielle“ Prozessresultate hervorbringen, – bleibende Dispositionen im Lernenden oder Nachahmenden. Diese Dispositionen sind im Fall poietischer Prozesse insoweit „formal“, als ihr zentrales Element die Form der hergestellten Artefakte ist. Daher involviert Lernen in diesem Fall sehr wohl die Replikation von Formen, jedoch so, dass sich die Lernenden ihrer Beschaffenheit (in der Kategorie des Habens), nicht aber ihrer Substanz nach verändern. (b) Prozesse der Ausbildung von Vermögen / Habitūs sind genaugenommen nur ein – wenn auch prominenter – Spezialfall eines sehr umfassenden Typus von Prozessen, den Aristoteles eher indirekt thematisiert und der Prozesse umfasst, die eben keine Veränderung in der Kategorie der Substanz, sondern bloß in bestimmten andere Kategorien bewirken, so etwa in der Quantität, Qualität und Relation, in der Lokalisiertheit und Lage, im Haben, Wirken und Leiden von Entitäten (Cat., Kap. 4). Dieser letztere Typus von Prozessen wird, da er ganz außerhalb des Bereichs der replikativen Wiederholung fällt, im Folgenden nicht weiter behandelt. (1a) Biologische Reproduktion. Wie für Platon so ist auch für Aristoteles die biologische Zeugung und die aus ihr resultierende Generationenfolge ein Projekt der Annährung des Endlichen an das Ewige bzw. der Nachahmung des Ewigen durch das Endliche (GC 337a3): „What is not eternal does admit of existence and non-existence, and can partake in the better and the worse. And soul is better than body, and the living, having soul, is thereby better than the lifeless which has none, and being is better than not being, living than not living. These, then, are the reasons of the generation of animals. For since it is impossible that such a class of things as animals should be of an eternal nature, therefore that which comes into being is eternal in the only way possible. Now it is impossible for it to be eternal as an individual – for the substance of the things that are is in the particular; and if it were such it would be eternal – but it is possible for it as a species.“ (GA 731b27-3935; vgl. auch GC 338b6-19)

Gesetzt wird ein metaphysisches Prinzip: Seele, beseeltes Leben und Sein sind besser als Körper, Unbelebtes und Nichtsein. Da alle individuellen Lebewesen endlich sind, besteht ihre einzige Chance der Annährung an das Bessere darin, eine Quasi-Ewigkeit, ein quasi-unendliches Sein in Form der Ewigkeit nicht der Individuen, sondern der Arten zu erlangen, und zwar auf dem Weg der biologi-

35 Mangels brauchbarer Übersetzungen ins Deutsche wird GA hier aus der Oxforder Gesamtausgabe der Werke (Aristoteles 1908ff., Bd. 5) zitiert.

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schen Reproduktion (des „natürlichen Werdens“). Dieses Projekt, die Erlangung von Quasi-Ewigkeit mittels biologischer Reproduktion, schließt ein, dass in der Reproduktion eine Art-Form repliziert wird, die sich substanziell gleich bleibt. In der allgemeinen Werdensterminologie der Metaphysik wird die biologische Reproduktion so beschrieben: „Die natürlichen Entstehungsprozesse sind diejenigen, bei denen die Entstehung von der Natur ausgeht, das Woraus der Entstehung aber ist das, was wir Materie nennen, das Wodurch eines der von Natur existierenden Dinge, das Was ein Mensch oder eine Pflanze oder etwas anderes von den Dingen, die wir am ehesten als Substanzen bezeichnen. [...] [W]odurch es wird ist die Natur im Sinne der Form, die artgleich ist {mit dem Entstehenden} (doch diese Natur ist in einem anderen: denn ein Mensch zeugt einen Menschen).“ (1032a17-26, Kurs. eingef.)

Aristoteles’ De Generatione Animalium konkretisiert dieses Schema.36 Das Wodurch des natürlichen Entstehungsprozesses, die Natur im Sinne der Form, liegt zunächst noch nicht in dem Körper, der entstehen wird, sondern im Erzeuger dieses Körpers, für Aristoteles: im Vater. Der Vater ist das Entstehungsprinzip bzw. der Ausgangspunkt des Entstehungsprozesses des werdenden Körpers, dies aber nicht persönlich, sondern vermittelt durch den von ihm ausgeschiedenen Samen, welcher die Bewegung fortsetzt, die jener angefangen hat (734b8). Diese Bewegung operiert in einer Materie, die von der Mutter herkommt. Aristoteles identifiziert das Menstruationsblut der Frau als die Materie, aus welcher der Keimling zunächst entsteht. Hiermit deutet sich an, dass Aristoteles Anhänger der sogenannten „hämatogenen Samenlehre“ ist (Sier 2009, 194), derzufolge die an der Zeugung beteiligten Stoffe, der männliche Same und die Menstruationsflüssigkeit der Frau, Erzeugnisse aus Blut sind („It is plain that [male and female] semen will be a secretion of the nutriment when reduced to blood“, GA 726b 10f). Same und Menstruationsflüssigkeit unterscheiden sich im Grad ihrer Verdautheit oder Ausgereiftheit; da die Menstruationsflüssigkeit beim Weibchen aufgrund seiner „Kälte des Wesens“ weniger ausgereift und daher ein weniger reiner Same ist, bedarf sie der Bearbeitung durch den männlichen Samen, fungiert im Zeugungsprozess also bloß als Materie oder passives Prinzip (GA 726a28-728b13). Das Menstruationsblut hat die Formen des entstehenden Körpers bereits der Mög-

36 Das Folgende orientiert sich wieder eng an der Darstellung von Sier 2009, 202-207; berücksichtigt wird nur die Beschreibung der sexuellen Fortpflanzung der Säugetiere und insbesondere des Menschen.

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lichkeit nach in sich, kann diese aber nicht aus sich selbst heraus verwirklichen (737a7-30); die Embryogenese muss durch das Hinzutreten des Samens initiiert werden. Dabei bewirkt der Samen eine Beschaffenheitsveränderung der Materie mittels Erwärmens (Aristoteles denkt diesen Vorgang analog zu Prozessen der Gerinnung (Lab und Milch) oder der Verfestigung durch Abkühlung von Heißem (737a14-16, 35f.)). Genauer: Der Samen, selbst ein „Werkzeug“ der hervorbringenden Bewegung des Vaters (730b20), operiert wiederum mit dem „Werkzeug“ von Wärme und Kälte (740b31), mittels derer er die Materie bearbeitet: „When it has entered the uterus it puts into form the corresponding secretion of the female and moves it with the same movement wherewith it is moved itself.“ (737a21f., Kurs. eingef.) Anders gesagt, durch die typische Bewegungsform der generativen Wärme reproduziert der Samen die Form des Vaters in der Materie des entstehenden Körpers (734b3-735a5). Allerdings kann auch Aristoteles die Tatsache, dass die Kinder eines Vaters ebenso häufig weiblich wie männlich sind und dass sie der Mutter ebenso häufig ähneln wie dem Vater, nicht ganz übergehen. Er nimmt daher an, dass die formgebende Kraft der generativen Wärme des Samens sich nicht immer ganz dem entstehenden Körper einprägen könne; der altersbedingt oder aus sonstigen Gründen geschwächte Bewegungsimpuls des Vaters lasse dann Raum für das Durchschlagen der mütterlichen, in der Präformation des Menstruationsblutes gelegenen Formprinzipien (767b19-768b36; vgl. Sier 2009 203f.; zu Aristoteles’ Vererbungslehre insgesamt: Henry 2006). Faktisch wird man somit von einem Mix väterlicher und mütterlicher Formprinzipien im entstehenden Körper ausgehen können. Hat jedenfalls die Befruchtung stattgefunden und hat sich der väterliche Bewegungs- bzw. Wärmeimpuls ausgewirkt, entfaltet sich der Keimling selbsttätig zum wirklichen Körper weiter (GA 739b-740a, 741b) und die Replikation der Art-Form, aber auch individueller Form-Merkmale der Eltern ist mit der Geburt des fertigen Lebewesens abgeschlossen. Der knapp skizzierte Vorgang ist ein Vorgang der immanenten Replikation von Formen, – immanent sowohl der physischen Welt insgesamt wie auch der jeweiligen Art; denn das Erzeugende ist „von derselben Art wie das Erzeugte“ (Met. 1033b31f.). Aristoteles setzt den Prozess der immanenten Replikation explizit gegen das platonische Modell: So ist „klar, dass man keinerlei Form (Idee, εἶδος, eidos) als Vorbild konstruieren muss {...}, dass vielmehr das Erzeugende genügt, hervorzubringen und Ursache der Form in der Materie zu sein.“ (1034a2-5) Die Replikation der Art-Form kann dabei nicht, wie es die neuplatonische Terminologie der Siegelungen nahezulegen schien, als ein Vor-

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gang des simplen Eindrückens einer Form in eine Materie gefasst werden.37 Vielmehr muss die Form übersetzt werden in einen komplexen Prozess, hier eben in die Prozessform der generativen Wärme des Samens bzw. der gesamten Embryogenese, damit sie als replizierte im neugeborenen Menschen wirklich werden kann. Dieses Motiv, die Übersetzung einer Form in eine Prozessform zum Zweck ihrer Replikation, findet sich auch bei dem zweiten betrachteten Prozesstypus, den poietischen Prozessen. (1b) Poiesis. Poietische Prozesse, also Prozesse, in denen materielle Artefakte produziert werden, bilden für Aristoteles in Metaphysik Z neben Prozessen biologischer Reproduktion und spontanen Prozessen die dritte große Kategorie der in der Welt anzutreffenden Werdens- bzw. Entstehungsprozesse (1032a13ff.). Sie werden in der Metaphysik behandelt, weil sie ein ontologisches Geschehen einschließen: die Produktion substanzieller Einzeldinge auf dem Weg der immanenten Replikation von Formen. Der Sachverhalt soll am Leitfaden des Verhältnisses von poietischen Prozessen zu Prozessen der biologischen Reproduktion analysiert werden. Für Aristoteles ist klar, dass „in gewissem Sinne alles {alle substanziellen Einzeldinge, vgl. 1070a5} aus einem Gleichnamigen entsteht, wie die von Natur entstehenden Dinge.“ (1034a23) Dass dem in der biologischen Reproduktion so ist, leuchtet ein, denn z.B. „ein Mensch zeugt einen Menschen“ (1033b34) und das gilt offenkundig für alle Arten von Lebewesen. Für kunstmäßige Hervorbringungen ist der Sachverhalt allerdings etwas weniger intuitiv. So hält Aristoteles dafür, „dass in gewissem Sinne {auch} die Gesundheit aus der Gesundheit und das Haus aus dem Haus entsteht, nämlich aus dem Haus und der Gesundheit ohne Materie das Haus und die Gesundheit, die Materie hat; denn die Arztkunst und die Kunst des Hausbaus ist die Form der Gesundheit und des Hauses.“ (1032b 11-13, Kurs. eingef.) Die Form des Hauses und der Gesundheit sind „ohne Materie“, insofern sie zunächst bloß in der Seele des Hervorbringenden vorhanden sind, nämlich genau als seine Kunst: „durch Kunst aber entstehen Dinge, deren Form in der Seele vorhanden ist“ (1032b1, vgl. 1032b6). Wenn aber die Kunst dasjenige ist, wodurch etwas aus etwas zu etwas wird (1032a14f.), wenn weiterhin die Kunst genau die Form in der Seele des Hervorbringenden ist, und wenn schließlich das hervorgebrachte Ding diese

37 In der Analyse der Form-Replikation bei Platon wurde allerdings gezeigt, dass auch die Replikation eidetischer Gehalte faktisch nicht nach diesem simplen Schema abläuft. (vgl. Kap. 2.1.2)

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Form verkörpert, – dann entsteht dieses Ding tatsächlich „in gewissem Sinne“ ebenso aus etwas Gleichnamigem wie das gezeugte Lebewesen. Dennoch bleibt der Unterschied, dass das wirkliche (materiell verkörperte) Haus nicht ein weiteres wirkliches Haus, der wirkliche Mensch aber einen weiteren wirklichen Menschen hervorbringt. Im poietischen Prozess repliziert das Erzeugende in der Erzeugung also nicht seine eigene Form, sondern eine Form, die ihm akzidentell zukommt (die Kunst des Hausbaus ist ein Akzidenz des Menschen, der sie aufweist; im Gegensatz zur menschlichen Art-Form). Die poietischen Entstehung aus Gleichnamigem schließt also einen doppelten Statuswechsel dieses Gleichnamigen – der Form – ein: sie wechselt von einem „immateriellen“ zu einem materiell verkörperten und von einem akzidentellen zu einem substanziellen Modus über (denn die Form des wirklichen Hauses ist die Substanz dieses Hauses). Unter diesem Gesichtspunkt könnte man sagen, viel eher „aus einem Gleichnamigen“ als das wirkliche Haus aus der Kunst des Hausbaus würde aus der Kunst des Hausbaus eine weitere Kunst des Hausbaus, ein weiterer über diese Kunst verfügender Mensch entstehen. Die Replikation der in der Kunst gelegenen Form des Hauses, indem ein Baumeister von einem anderen die Kunst erlernt, käme jedenfalls ohne die genannten Statutswechsel aus (siehe unten). Aristoteles fasst den Unterschied zwischen poietischen Prozessen und Prozessen der biologischen Reproduktion selbst so, dass er sagt: „Die Kunst nun ist ein Prinzip (Ursprung, arche) in einem anderen , die Natur ein Prinzip in ihm selbst (denn ein Mensch zeugt einen Menschen).“ (1070a, 7-9) Dass das qua Natur Hervorgebrachte sein Prinzip, also seinen Entstehungsgrund in sich selbst trage, heißt einfach, dass das Erzeugende, obwohl numerisch vom Erzeugten verschieden, mit diesem doch artgleich ist. (1033b33)38 Im Unterschied hierzu wird das Artefakt zwar „in gewissem Sinne“ von einem Gleichnamigen (Artgleichen), letztlich aber doch von etwas hervorgebracht, das mit ihm nicht artgleich ist, nämlich dem Träger der entsprechenden Kunst. In letzter Instanz ist es, so muss man Aristoteles verstehen, nicht die Kunst, sondern der Künstler, der das Artefakt hervorbringt, denn: „das Prinzip der Dinge, die durch Handeln verwirklicht werden, liegt im Handelnden, die Entscheidung.“ (1025b23-24) Die initiierende Entscheidung zum herstellenden Tätigwerden liegt im Künstler, nicht in seiner Kunst. Insgesamt jeden-

38 Darüber hinaus wurde oben gezeigt, dass das entstehende Lebewesen bloß den einmaligen Bewegungs- bzw. Wärmeimpuls des Samens benötigt, um sich dann selbsttätig weiterzuentwickeln; mithin ist die gesamte weitere Lebenstätigkeit des Lebewesens wesentlich durch es selbst und nicht von außen prinzipiiert. (vgl. 1015a14-16)

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falls ist Aristoteles’ Unterscheidung von (wenigstens der Art nach) selbsterzeugten und selbstbewegten Lebewesen und nicht selbsterzeugten und selbstbewegten Artefakten sehr anschaulich: so bringen Menschen kontinuierlich sich selbst hervor – und ebenso auch ihre Artefakte; die Artefakte aber bringen unmittelbar weder sich selbst noch die Menschen hervor.39 Damit kann das Motiv der Übersetzung von Form in Prozessform wieder aufgegriffen werden. Es findet sich bei Aristoteles am ausdrücklichsten wiederum in De Generatione Animalium, wo es heißt: „No material part comes from the carpenter to the material, i.e. the wood in which he works, nor does any part of the carpenter's art exist within what he makes, but the shape and the form are imparted from him to the material by means of the motion he sets up. It is his hands that move his tools, his tools that move the material; it is his knowledge of his art, and his soul, in which is the form, that moves his hands or any other part of him with a motion of some definite kind, a motion varying with the varying nature of the object made.“ (730b12-19) „This is what we find in the products of art; heat and cold may make the iron soft and hard, but what makes a sword is the movement of the tools employed, this movement containing the principle [besser: Formel (λόγος)] of the art. For the art is the starting-point and form of the product.“ (734b37-735a2)

Was im fertigen Artefakt vom Herstellungsprozess zurückbleibt, ist nicht ein materieller Teil des hervorbringenden Künstlers oder ein Teil seiner Kunst, sondern die Bewegung, die er auf das Material ausgeübt hat. Indem sich die Bewegungen des Herstellungsprozesses im Material aufspeichern, nimmt es schließlich die Form der betreffenden Kunst an: Denn die Bewegungen enthalten die Formel des Wesens dieser Kunst, die Formel (λόγος) ihrer Form. Die Bewegungen sind die prozessförmig gemachte Form der Kunst, welche mittels dieser Bewegung in die bearbeitete Materie übergehen kann. Die ganze Theorie der immanenten Transmission von Formen hängt an diesem doppelten Übergang: (a) von der Form in die Prozessform und (b) von der Prozessform wiederum in die Form etc. Wo Übergang (a) nicht stattfinden kann, bleibt die Form entweder in der Seele oder in einer materiellen Verkörperung eingeschlossen; wo Übergang

39 Die Betonung liegt auf unmittelbar: denn natürlich produzieren Artefakte den Menschen in seiner Lebensweise und Geschichte entscheidend mit (Kap. 4). Sie produzieren ihn aber nur dann, wenn er sie auch tatsächlich produziert, – und diese Relation lässt sich nicht umkehren.

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(b) nicht stattfinden kann, bleibt die Form angewiesen auf die aktuelle Ausführung des Prozesses, kann in keiner Seele oder Materie „abgelegt“ oder als Spur des Prozesses (Kap. 4.1) aufgespeichert werden. (2a) Lernen und Lehre. Die Diskussion poietischer Prozesse soll jetzt unter dem Aspekt, dass sie die Aktualisierung erworbener Vermögen einschließen, weitergeführt werden. Da das auch für viele praktische Prozesse gilt, werden diese implizit mitbehandelt. Aristoteles schreibt: „Da nun alle Vermögen entweder angeboren sind, wie die Wahrnehmungsvermögen, oder sich durch Gewöhnung einstellen, wie das Vermögen des Flötenspiels, oder durch Lernen erworben werden, wie das Vermögen der Künste, so besitzt man die einen, nämlich die durch Gewöhnung und vernünftige Überlegung (λόγῳ, logōi) erworbenen, notwendig nur auf Grund vorhergehender Betätigung.“ (Met. 1047b32-34)

Gewöhnung (ἔθος) und Lernen (µάθησις) (bzw. vernünftige Überlegung) unterscheiden sich nach dem Grad des in ihnen je gelegenen Wissens um die Ursachen und allgemeinen Mechanismen des betreffenden Tätigkeitsfeldes: So verfügt für Aristoteles etwa der einfache Handwerker über die Erfahrung, dass ein poietischer Prozess so und so funktioniert, der Bauleiter aber über das (allgemeine, begriffliche) Wissen, warum er so und so funktioniert (Met. 981a13-b13). Erfahrung stellt sich schon durch Gewöhnung ein,40 Wissen aber durch Lernen und vernünftige Überlegung. Dabei mag die Gewöhnung ein mehr oder weniger mechanischer Prozess sein, sie beinhaltet aber schon eine Zusammenfassung vieler Beobachtungen und Erlebnisse zu jeweils einer Erfahrung (980b26-981a5). Lernen und vernünftige Überlegung steigern den Allgemeinheitsgrad der Erfahrungen, indem sie sie zu einem allgemeinen Begriff abstrahieren. (981a6-13)41 Aristoteles fasst den Prozess wie folgt:

40 Das ergibt sich, wenn man Met. 981a24-26, 981a30-981b1 und 981b5 im Zusammenhang liest. 41 Dabei fragt sich, ob Lernen und vernünftige Überlegung tatsächlich immer dieses Moment der echten Abstraktion an sich haben oder ob Lernen nicht faktisch zumeist selbst als Gewöhnung an schon gegebene allgemeine Begriffe und Wissensbestände bzw. vernünftige Überlegung als Eingewöhnung in die Logiken dieser gegebenen Begriffe und Bestände daherkommen. Im Effekt ergibt sich hieraus allerdings insfern kein Unterschied, als in beiden Fällen, bei Lernen und Überlegung wie auch in der Gewöhnung, der Erwerb des Vermögens die wiederholte Betätigung bzw. das wiederholte Erleben der Betätigung der jeweiligen Kunst erfordert, aus denen auf dem Weg

90 | K OLLEKTIVITÄTEN „Aus der Wahrnehmung entsteht nun das Gedächtnis, wie wir das Beharren nennen, aus dem Gedächtnis, wenn derselbe Vorgang sich ihm oft unterbreitet, die Erfahrung; denn die der Zahl nach vielen Erinnerungen sind eine Erfahrung. Aus der Erfahrung aber oder aus jenem Allgemeinen, das in der Seele zur Ruhe gekommen ist – dem Einen außer den vielen, das als Eines zugleich in allen ist –, stammt das, was das Prinzip der Kunst und der Wissenschaft ist.“ (An. post. 100a1-8)

Über das Prinzip einer Kunst bzw. über ein Vermögen zu verfügen heißt, über eine bestimmte Disposition zu verfügen, die es erlaubt, einen bestimmten Prozess wiederholt auszuführen. Wo die Disposition im Haben einer Erfahrung oder des allgemeinen Begriffs einer Form besteht, ist sie selbst ein im Künstler befindliches allgemeines Objekt in dem bestimmten Sinne, dass es die Struktur „Vieles-in-Einem“ hat.42 In einer Begrifflichkeit, die sich nicht direkt aus dem aristotelischen Text ergibt, lässt sich der Sachverhalt auf den Punkt bringen, indem man feststellt: Die Kontraktion von Wiederholungen eines Prozesses in einer bleibenden Disposition kann als Potential weiterer Wiederholungen dieses Prozesses fungieren. Dann aber stellt sich folgende Frage: Wenn der Erwerb eines Vermögens nur mittels wiederholter Betätigung dieses Vermögens vonstatten geht, geht die Be-

der Zusammenfassung (Kontraktion) oder Abstraktion das Vermögen sich mit der Zeit ausbildet. 42 Das ist das Universal „auf der Ebene der Wahrnehmung“, das eingangs erwähnt wurde, oder das Universal post rem, von dem in Kap. 2.1.3 im Zusammenhang des Siegelgleichnisses die Rede war. Dieses Universale hat nicht, wie das Universal „auf der Ebene der Dinge“, die Struktur „Eines-in-Vielen“, sondern die inverse Struktur „Vieles-in-Einem“. Wie die Figur des Beispiels und des Siegels ist es, aktuell und bloß für sich betrachtet, durchaus kein Universal, sondern wie sein Träger ein raumzeitlich bestimmtes Objekt. Vielmehr wird seine (gegenüber der Struktur „Eines-in-Vielen“ invertierte) „Universalität“ wiederum nur von seinem Konstitutionsprozess her kenntlich. Wie die Form des Siegels Ausgangspunkt eines Realprozesses der Replikation der Form ist, ist das Universal als Vieles-in-Einem Endpunkt eines Realprozesses der Kontraktion der Form des gleichartigen Begegnenden. Die Universalität des Eines-inVielen kommt ihm von dem her zu, was es qua Replikation disseminiert. Die Universalität des Vieles-in-Einem kommt ihm von dem her zu, was es qua Gedächtnis kontrahiert. Es ist, wie Aristoteles im Zitat vermerkt, „in“ allen, weil es von (der Begegnung mit) allen herkommt, ebenso wie das Siegel „in“ allen ist, weil alle von ihm herkommen. Und es ist „außer“ den Vielen, insofern es (zeitlich) nach den Vielen ist, ebenso wie das Siegel „außer“ den Vielen ist, insofern es (zeitlich) vor den Vielen ist.

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tätigung dem Vermögen offensichtlich voraus (Met. 1049b25ff.); wie aber kann die Betätigung wirklich sein, wenn sie nicht vorher schon möglich war? Aristoteles gibt auf diese Frage keine ausdrückliche Antwort; es ergibt sich aber logisch, dass, wenn jemand noch nicht über ein Vermögen verfügt, sich aber schon diesem Vermögen gemäß betätigt, das Vermögen bzw. die Möglichkeit dieser Betätigung außerhalb seiner liegen muss. An diesen Punkt kommen also das Lernen von einem anderen und womöglich auch die Nachahmung ins Spiel. Aristoteles liefert keine systematische Analyse des Zusammenhangs von Lehre und Lernen. Immerhin ist klar: „{S}tets entsteht das der Wirklichkeit nach Seiende aus dem der Möglichkeit nach Seienden durch ein der Wirklichkeit nach Seiendes, z.B. {...} ein Gebildeter durch einen Gebildeten.“ (1049 b25-27). Zudem finden sich in der Politik (1331b23-1342b34) Ausführungen zum Thema Lehre und Lernen, die im Licht genau dieses Schemas gelesen werden können. So gibt es „für alle Fertigkeiten und Künste eine Menge Dinge, in denen man zuvor unterwiesen und geübt werden muss, um ihre Verrichtungen wahrnehmen zu können.“ (1337a18-20) Dabei empfiehlt sich, Kinder zunächst nicht lernen, sondern spielen zu lassen, und zwar Spiele, die eine Nachahmung dessen sind, „womit sich die Kinder dereinst als Männer beschäftigen werden“ (1336a34). Darauf folgt in der Jugend zunächst die Erziehung mittels Gewöhnung (z.B. bei Gymnastik und Ringkunst), dann erst mittels formalen Lernens und Lehre (z.B. Grammatik) (1038b4-8). Man wird trivialerweise annehmen, dass sich in all diesen Fällen Lehrer oder Aufsichtspersonen finden werden, die über die Künste und Fertigkeiten zur Ausführung der entsprechenden Prozesse schon verfügen. Diese sind Potentiale der Ausführung der Prozesse, damit zugleich aber Potentiale der Gewöhnungs- und Lernprozesse der Schüler. Deren Lernvermögen potentialisiert die Lehrer als Lehrer bzw. ihre Künste und Fertigkeiten als replizierbare. Mit der übenden Wiederholung (1340b20ff.) gehen die Vermögen der Lehrenden schrittweise über in eigene Vermögen der Lernenden, so dass die aktuelle Ausübung der Prozesse und Praktiken der Schüler zunehmend zur Aktualisierung ihres eigenen Vermögens und immer weniger vom Vermögen der Lehrenden her prinzipiiert wird. Die Lehrenden haben ihr Ziel erreicht, „wenn sie den Schüler bei der wirklichen Betätigung der Kunst vorführen können“ (Met. 1050a) Bedenkt man, dass die Form eines Prozessresultats (Artefakts) genau die Kunst als Vermögen des Handwerkers ausmacht, dann ist deutlich, dass mit der Verdoppelung des Vermögens des Lehrers im Vermögen des Schülers (Entstehung eines Gebildeten „aus einem Gleichnamigen“) auch eine Replikation der entsprechenden Formen einhergeht (die sich wie erwähnt ohne jenen doppelten Statuswechsel vollzieht, der oben für die Replikation der Form im Herstellungsprozess selbst diagnostiziert wurde).

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Entfernt man sich ein wenig vom aristotelischen Text, lässt sich zusammenfassend sagen: Jeder Prozess besteht in der Aktualisierung einer Potentialität, eines Vermögens. Das Vermögen einer Entität ist ihre aktuelle Konstitution, betrachtet in Hinblick darauf, welche Prozesse sie selbst initiieren oder in welche Prozesse sie, gemeinsam mit anderen Entitäten, einbezogen werden kann. Das Ablaufen möglicher Prozesse ist bestimmt durch die Konstitution der beteiligten Entitäten. Das Sich-Durchhalten der Konstitution begründet das Sich-Durchhalten der Vermögen durch alle Aktualisierungen hindurch, begründet die Wiederholung. Ist die Konstitution die in einer Kunst gelegene Form, dann ermöglicht diese Form nicht nur die Wiederholung eines Herstellungsprozesses, sondern die Form wird im Herstellungsprozess replikativ wiederholt, indem sie zur Form des Artefakts wird. Weiterhin: Die aktuelle Ausführung eines poietischen, aber auch eines praktischen Prozesses bleibt nicht exklusiv gebunden an das Vermögen desjenigen, der sie gerade ausführt; sondern die Vermögen können mittels Lehre und wiederholender Übung repliziert werden. Diese letztere Replikation ist Bedingung dafür, dass sich die Replikation der in Artefakten verkörperten Formen intergenerational fortsetzen kann. Mit Gabriel Tarde würde man schließlich sagen, dass die replikative Wiederholung der Vermögen sich nicht nur auf regelrechte Künste, sondern auf alle denkbaren Typen von Vermögen für alle denkbaren Typen von Praktiken beziehen kann, – ein Sachverhalt, der später (Kap. 3.3) unter der Bezeichnung der Replikation kultureller Formen ausführlicher entwickelt wird.43

43 Von Tarde her würde es sich anbieten, ausführlicher nach der Rolle der Nachahmung auch bei Aristoteles zu fragen. Hat sie die gleiche Tendenz zur „Vermischung“, zur ungeregelten Wiederholung, welche ihr bei Platon zukam? Liegt in ihr, wie dies bei Platon der Fall war, ebenso die „Gefahr“, dass der Nachahmende zu dem wird, was er nachahmt, d.h. führt sie auf feste erworbene Dispositionen und Vermögen? Grundsätzlich gilt, dass Aristoteles in seiner Verwendung des Konzepts Platon wesentlich verpflichtet bleibt; die Mimesis wird bei ihm fast ausschließlich in der Poetik, also im Zusammenhang der Dichtung thematisiert und erlangt darüber hinaus keinen systematischen Stellenwert hinsichtlich der Frage der Ausbildung und Replikation von Vermögen (auch wenn Aristoteles die Dichtung selbst bekanntlich anders bewertet als Platon, insofern ihr bei ihm eine gewisse Nähe zur Philosophie zukommt (Poet. 1451a37-b12)). Deshalb wird sie hier nicht ausführlicher behandelt. Wie für Platon verfügt der Mensch für Aristoteles über ein allgemeines mimetisches Vermögen von Natur aus (1448b4-24), das Ursache sowohl der Produktion wie der Rezeption von Dichtungen ist. Aristoteles analysiert aber nicht, wie sich dieses Ver-

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2.2.4 Zwischenfazit Vorstehend wurden Texte von Platon und Aristoteles in prozessphilosophischer Perspektive auf die Möglichkeit hin untersucht, das Problem der Natur und des Statuts des Universalen als Problem der Universalisierung zu reformulieren. Diesem Ansatz zufolge stellt sich das Universalienproblem vorrangig als das Problem, wie Vielheit, Quantität, Universalität oder Allgemeinheit tatsächlich in die Welt kommen. Bei Platon findet man ein Modell transzendenter, selbst unverkörperter Formen, die, auf dem Weg ihrer Erkenntnis durch göttliche Demiurgen und menschliche Akteure, als Prozessoren der Universalisierung ihrer eigenen eidetischen Gehalte fungieren, wobei sie, ewig unbeweglich und passiv, diesen Universalisierungsprozessen äußerlich bleiben, – denen gegenüber sie ihre Einheit und Abgetrenntheit also bewahren. Bei Aristoteles hingegen findet man ein Modell immmanenter, durchweg verkörpert vorliegender Formen, die sich mittels immanenter Replikationsprozesse universalisieren: in der biologischen Reproduktion, in der Produktion von Artefakten, in der Reproduktion der Vermögen mittels Lernen. Es ist das aristotelische Modell, welches im Grundsatz adäquat beschreibt, wie die Universalität von Formen auf dem Weg ihrer Universalisierung in die Welt kommt. Im Zentrum stehen dort konkrete, datierbare Prozesse der Replikation von Formen, die den rückverfolgbaren genealogischen Zusammenhang derselben begründen und die platonische Figur der Teilhabe konsequent als Figur der zeitlichen Herkunft von einem Gleichartigen reformulierbar machen. Die Form des Erzeugenden ist als Ganze im Erzeugten „enthalten“, indem sie in der Reproduktion in einen Prozess übersetzt wird, an dessen Ende ein formal gleich-

mögen jenseits der Dichtung ausgestaltet. Die Tatsache, dass in Aristoteles’ Politik wie in Platons Politeia darauf Wert gelegt wird, Kindern die geeigneten und schicklichen Nachahmungsvorlagen bzw. nachahmenden Spiele anzuweisen, deutet ihren per se ausgreifenden Charakter an (Pol. 1336a28-34). Und ebenso deutet die Tatsache, dass der Mensch „seine ersten Kenntnisse durch Nachahmung erwirbt“, die Möglichkeit an, die Mimesis könne zur Ausbildung von Dispositionen und Vermögen führen (Poet. 1448b8); so auch der Hinweis der Ethik, man solle die besseren Menschen bzw. nobleren Naturen nachahmen (EN 1171b13) – was sinnlos wäre, wenn der Nachahmende dadurch nicht auch ein Bessererer werden würde. Andererseits finden sich in der Ethik auch Verwendungen des Mimesisbegriffs, die auf einen unechten, bloß vorspiegelnden Charakter der Mimesis abstellen (1115b29-32; 1124b3-5). Das Bild bleibt also uneinheitlich.

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artiges Prozessresultat steht. Auf dem Weg der Verzeitlichung der Problematik wird die für sich genommen unauflösliche, logisch nicht zu befriedende, weil paradoxe, Kernformulierung des Universalen als dem einen, einfachen Etwas, das als Eines in den Vielen ist bzw. das den Vielen gemeinsam ist, unmittelbar entparadoxiert. Die Form des Erzeugenden ist die Herkunft des Erzeugten, sie ist „zugleich“ als Ganze „in“ allem Erzeugten als Konsequenz der konkreten, nacheinander in der Zeit stattfindenden Replikationen der Form dieses Erzeugenden. Hieraus erhellt, dass die Universalität einer Form ein Sachverhalt ist, der in keiner einzelnen, raumzeitlich bestimmten Verkörperung der Form aufgeht, sondern unmittelbar und allein im Gesamtprozess der Universalisierung gelegen ist, der auch ständig weiterlaufen muss, damit die Form sich als universale in der Welt hält. Damit ergibt sich die Situation, dass die in Kapitel 1.1 skizzierten schematischen Positionen des mittelalterlichen Universalienstreits in dem Maße als defizitär erscheinen müssen, in dem sie die genannte Entparadoxierung zu leisten nicht imstande sind. Tatsächlich scheinen diese Positionen, gerade wo sie einander wechselseitig ausschließen, um das von ihnen meist unbeschriebene Zentrum des Problems, – das unablässige Ablaufen mannigfaltiger Universalisierungsprozesse mit dem Effekt der allerorten beobachtbaren Universalität in der Welt –, eher symptomatisch zu kreisen, als dass sie zu seiner Beschreibung einen Beitrag lieferten. Positiv gewendet ergibt sich aus diesem Befund allerdings, dass keine der schematischen Positionen des Streits als buchstäblich falsch anzusehen ist; vielmehr zeigen sie sich als Aspekte des unbeschreibenen Problemzentrums. So liefert der Platonismus ein Modell für Universalisierungsprozesse (replikative Wiederholung), die von einem angebbaben Anfang herkommen (Schöpfung des Timaios), laufend von exklusiven Quellen her ausfließen (Hüter des Ideen-Wissens in der Politeia) und sich durch eine starke (und womöglich objektiv fundierte) Normiertheit des Replizierten auszeichnen (optimale WerkzeugForm im Kratylos). Der Nominalismus hingegen schließt die Existenz eines extramentalen Universalen aus. Diese Haltung findet sich vorgezeichnet in Aristoteles’ Zurückweisung der Auffassung, Substanzen könnten durch Allgemeines als Allgemeines konstituiert sein. Hierin artikuliert sich das Faktum, dass die Dinge in ihrer realen Unterschiedenheit, Vereinzelung und raumzeitlichen Ausgestreutheit nicht zum Verschwinden gebracht werden können in dem Einen, in dem sie ununterschieden sind. Ihre Diversität ist nicht, wie der Platonismus unterstellt, zweitrangig gegenüber ihrer Einheitlichkeit qua Teilhabe, sondern ist ein ontologisches Faktum ersten Ranges.

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Der Realismus trägt die schwerste Last der genannten Paradoxie, da er an der extramentalen Existenz des Universals in res gerade festhält. Ihm stellt sich die Paradoxie als Realproblem. Da es logisch unmöglich ist, das Universal, verstanden als Eines-in-Vielen, als ein raumzeitlich bestimmtes Ding zu denken, sind realistische Theoretiker von Albertus Magnus bis Duns Scotus dazu übergegangen, das Universal-im-Einzelnen nicht als vollbestimmt-aktual, sondern etwa als Prinzip oder als kontrahierten Modus eines selbst statusmäßig indifferenten Allgemeinen zu fassen. Nicht ganz unähnlich wurde hier erkannt, die Universalität einer Form finde ihren Grund im Potential ihrer Träger, sie replikativ zu wiederholen. Umgekehrt wurde auch die Figur des „Vieles-in-Einem“ als invertierte Figur von Universalität erkannt. Konzeptualistische Theorieoptionen schließlich sind, ausgehend von Aristoteles Abstraktionstheorie in der Zweiten Analytik, genau eine Exemplifikationen des letztgenannten Falls: Die Gewinnung von Allgemeinbegriffen (post rem) vollzieht sich wie die Gewinnung von Erfahrung überhaupt mittels gedächtnismäßiger Kontraktion der wiederholten Wahrnehmung von Gleichartigem. Mit der Affirmation dieser Positionen als Aspekten eines realen Universalisierungsgeschehens könnte man das Thema auf sich beruhen lassen. Tatsächlich besteht weder die Möglichkeit noch das Interesse, den Entwicklungsgang und die Systematik des mittelalterlichen Universalienstreits hier angemessen zu rekonstruieren. Die genannten schematisch kategorisierten Positionen lösen sich bei genauerer Analyse selbstverständlich in die unhintergehbare Spezifik der jeweiligen Autoren- und Schulenpositionen auf. Da das Interesse aber darin bestand, einerseits die Figur der Kollektivität in ihrer Dimension, aus Populationen genealogisch verknüpfter endlicher Elemente und somit aus der laufenden Wiederholung von Replikationsprozessen zu bestehen (#8), philosophisch zu fundieren, und andererseits die antiken Grundlagen des Universalienproblems prozessphilosophisch bzw. vom Populationsdenken her aufzuarbeiten, werden die Verläufe des mittelalterlichen Problems nachfolgend nicht detailliert behandelt. Denn die mittelalterlichen Positionen bleiben insofern hinter dem von Aristoteles Erreichten zurück, als sie die fundamentale Rolle von Werdens- bzw. Replikationsprozessen in der Metaphysik nicht (er)kennen und somit außerstande sind, Prozesse der Universalisierung wirklich zu denken.

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2.3 E NTWICKLUNGSLINIEN DES M ITTELALTERLICHEN U NIVERSALIENSTREITS In diesem Kapitel werden drei kurze Exkurse in die mittelalterliche Problematik des Universalen unternommen. Erstens wird die schon erwähnte Figur der drei Zustände des Universals nochmal aufgegriffen und mit Albertus Magnus entwickelt. Zweitens wird der Weg von Avicennas Figur der „indifferenten Essenz“ in Duns Scotus’ Konzept der „natura communis“ hinein verfolgt. Und drittens wird die sogenannte „Collectio-Theorie“ des Universals bei Joscelin sowie, den mittelalterlichen Zeitrahmen sprengend, bei Marius Nizolius analysiert. Diese Theorien versprechen im mittelalterlichen Zusammenhang noch am ehesten, den nicht oder nicht explizit beschriebenen Nexus des Universalienproblems, die Realität mannigfaltiger Universalisierungsprozesse, zu erfassen. 2.3.1 Die Lehre von den drei Zuständen (Albertus Magnus) Die Lehre von den drei Zuständen des Universals erscheint als ein Versuch der Harmonisierung der Lehren von Platon und Aristoteles, der Relationierung und Zusammenführung dieser Lehren in einem einzigen konsistenten Modell: Die abgetrennt existierende Idee Platons, die als Universal aufgefasste immanente Form des Aristoteles und die vornehmlich aristotelische Abstraktionstheorie44 werden zu einem neuen Ganzen arrangiert. Ebenso könnte man aber sagen, die Lehre harmonisiere nicht erst zwischen Platon und Aristoteles, sondern harmonisiere divergierende Positionen bereits innerhalb des platonischen und m.E. auch des aristotelischen Textes. So hat Alain de Libera auf divergierende Konnotationen des εἶδος-Begriffs bei Platon hingewiesen, die als Vorläufer, mindestens aber als latente Ankündigungen der „drei Zustände“ des Universals (ante rem, in res, post rem) angesehen werden können (de Libera 2005a, 59). So bezeichnet εἶδος (1) „eine nichtsinnliche Realität [...], im Hinblick auf welche eine Klasse von Sinnenwesen benannt ist – gleichviel, ob diese Realität nun (1a) „die ganze Realität repräsentiert, die den Sinnenwesen selber abgeht“[45] oder ob sie (1b) keine „ontologische Differenz

44 Zwar gibt es auch eine platonische Abstraktionslehre (vgl. zur Abstraktion als Zusammenschau z.B. Phaidros 265d, Nomoi 965b, Politeia 537c); diese bildet aber nicht das Zentrum der platonischen Erkenntnistheorie, sondern steht noch im Bann der Theorie der Wiedererinnerung. (vgl. Phaidon 72e ff.) 45 De Libera weist dieses Zitat nicht aus. Stellen wie Timaios 27d-27a oder Phaidon 75d treffen den Sachverhalt aber genau.

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bestimmter Natur zu den Einzeldingen aufweist, die ihr ihre Natur und ihre Namen verdanken“[46] –, manchmal aber auch (2) „ein logisches Universale, gewissermaßen eine Gattung im Gegensatz zu den kleineren Arten oder den Besonderen / Einzelnen.“47 Dabei ist klar, dass (1a) bei Platon die dominante Konnotation des εἶδος-Begriffs darstellt; (1b) und (2) werden bloß angedeutet und erst von Aristoteles systematischer entwickelt. Auch bei Aristoteles selbst findet de Libera eine Vielstimmigkeit von Positionen betreffend die Figur des Universalen, die zwar die Lehre von den drei Zuständen des Universals nicht unmittelbar abbildet, sie in gewissem Umfang aber doch in sich begreift. So schreibt de Libera: „Einerseits ist Aristoteles Nominalist: für ihn ist das Individuum das einzig Wirkliche und es wird erfasst durch die Sinne.[48] Aber von der andern Seite zeigt er sich auch als Konzeptualist, denn ihm zufolge erfasst die Sinnenempfindung nicht ein hoc aliquid, ein tode ti, ein schlechthin Individuelles oder Einzelding, sondern ein quale quid, ein toiosde, ein gewissermaßen qualifiziertes Ding.[49] Und ist er schließlich nicht auch noch Realist, wenn er behauptet, die wahre Substanz sei die Form, weshalb er an mehreren Stellen die Form eine „erste ousia“ nennt, wie er sonst (namentlich in der Kategorienschrift) von den einzelnen Individuen sagt? Ja, ist er nicht, was noch mehr heißen will, auch Platoniker,

46 Obwohl de Libera auch dieses Zitat nicht ausweist, ist klar, dass es sich um Men. 72ad handelt, wo es unter anderem heißt: „So ist es nun auch mit den Tugenden, daß, wenn sie auch viele und mancherlei sind, sie doch sämtlich eine und dieselbe gewisse Gestalt [Form: εἶδος] haben, um derentwillen sie eben Tugenden sind, und eben hierauf wird derjenige hinzusehen haben, der in seiner Antwort auf jene Frage richtig angeben will, was die Tugend eigentlich ist.“ (Kurs. eingef.) Die Tugenden wie (an dieser Stelle) die Bienen weisen also in sich ein und dieselbe Gestalt auf, die sie zu dem macht, was sie sind. 47 Vgl. Tht. 178a, Symp. 205b. Auch wenn das εἶδος hier als „logische Gattung“ aufgefasst werden kann, gibt es an diesen Stellen aber keinen Bezug zu irgendeiner Form von Abstraktionstheorie; das universale post rem scheint nur sehr vermittelt auf. 48 Vgl. Kap. 2.2.1, S. 70f. 49 Die Rede von einem aristotelischen „Konzeptualismus” verweist auf die Konstitution des Allgemeinbegriffs qua Abstraktion bei Aristoteles (vgl. An. post. 99b15ff.). Üblicherweise spricht Aristoteles von der Sinneswahrnehmung als einer, die sich streng auf das Einzelne richte – im Unterschied zur Wissenschaft (vgl. ebd. 87b27-34). Tatsächlich aber eröffnet sich für ihn am Ende der Zweiten Analytik die Möglichkeit, das einzelne Objekt unmittelbar als Allgemeines wahrzunehmen – dann nämlich, wenn man über den allgemeinen Begriff des Objekts bereits verfügt (ebd. 100a16-100b5).

98 | K OLLEKTIVITÄTEN wenn er diese Verschiebung damit begründet, dass die Form die gesamte Realität des Individuums ausmacht, in dem sie steckt?[50 ]“ (de Libera 2005a, 77).

Auch wenn man diese Fragen nicht alle positiv beantworten wird, zeigen sie den theoretischen Spielraum an, in dem die neoplatonischen Aneignungen auch der aristotelischen Lehre möglich werden sollten (de Libera 2005a, 83f.). Entscheidend ist aber die Frage, wie die jeweiligen Positionen bei Platon und Aristoteles zusammenhängen; und die in Kapitel 2.2.4 gegebene Antwort, nach der sie über Realprozesse der Replikation und Kontraktion von Formen zusammenhängen, wird auch eine Erklärung für den Zusammenhang der drei Zustände des Universals liefern. Die Lehre von den drei Zuständen des Universals im engeren Sinne findet ihre erste Formulierung beim Neuplatoniker Proklos (412-485) (Sorabji 2005, 133; Arlig 2005, 79 (Fn. 74)).51 Auf die oben erwähnte materialistische Bildlichkeit des Siegels hin weiterentwickelt wird sie im späten 5. und 6. Jahrhundert in den Isagoge-Kommentaren von Ammonius, Elias und David. Auch Simplicius (um 490-um 560) trifft in seinem Kommentar zu aristotelischen Kategorienschrift die Unterscheidung zwischen drei Typen von Universalien. 52 Da die Lehre hier von

50 Aristoteles nennt die Form eine „erste ousia“ z.B. in Met. 1032b2, aber er würde sich zweifellos dagegen wehren, die Form in dieser Funktion als Universal anzusprechen (Kap. 2.2.1). Darüber hinaus: auch wenn es richtig ist, dass für Aristoteles „die Form die gesamte Realität des Individuums ausmacht, in dem sie steckt“, so konstituiert das natürlich noch keinen „Platonismus“ im eigentlichen Sinne; ein solcher läge erst vor, wenn man zudem eine abgetrennte Existenz der Formen annehmen würde, was Aristoteles bekanntlich dezidiert ablehnt. 51 Proklos, in Eucl. 1, 50,16-51,9, zitiert nach Sorabji 2005, 136f.: „Every universal, that is, every One that includes a many, either appears (phantazeisthai) in (en) the particulars and has its existence in them and as inseperable from them, holding its place in their ranks, moving as they move and remaining motionless when they are stationary; or exists prior to (pro) the many and produces plurality by offering its appearances (emphaseis) to the many instances, itself ranged individibly above them but enabling these derivatives to share in its nature in a variety of ways; or is formed from (apo) particulars by thought (epinoia) and has existence as an after-effect (epigennêmatikê), a later-born (husterogenôs) addition to the many. According to these three modes of being, I think we shall find that some universals are prior to their instances, some are in their instances, and some are constituted by virtue of being related to them as their predicate (kata tên skhesin kai katêgorian).” 52 Simplicius, In Cat. 69,19-71,2; 82,35-83-20, nachzulesen bei: Sorabji 2005, 130-36.

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besonderem Interesse ist, insofern sie am Beispiel des Siegels ausgeführt wird, sei zunächst Ammonius zitiert: „Consider some signet ring which possesses a relief of, perhaps, Achilles and many pieces of wax. Now let this signet ring mark all the wax. Later on, someone comes along, considers these wax pieces and thinks that all of them are from one relief. He will have with him the general pattern (tupon), which is the relief in his thought. The mark that is in the signet ring is said to be before the many, the mark in the wax tablets is in the many, and the mark in the thought of the one who has taken on an impression (tou apomaxamenou) is after the many and posterior in generation.“ (In Isag. 41.13-30, zitiert nach Arlig 2005, 79 (Fn. 74); vgl. alternativ Sorabji 2005, 137)

Das Siegel wird in dieser Passage als Universal bzw. als platonische Form aufgefasst (In Isag. 42.6-19, zusammengefasst bei Arlig 2005, 79 (Fn. 74)). Die Figur des Siegelung selbst stammt von Platon und Aristoteles, findet sich im Gleichnis aber transformiert und verallgemeinert, steht sie doch bei diesen noch im Zusammenhang einer Theorie der Wahrnehmung bzw. des Gedächtnisses: Platons Theaitetos behandelt die Hypothese, Sinneswahrnehmungen könnten der Seele eingedrückt werden wie ein Siegel dem Wachsblock, hinterließen also ein manifestes Abbild, auf das zurückgegriffen werden könne, wenn man sich an die gehabte Wahrnehmung erinnern wolle; was sich nicht eingeprägt habe, sei unumkehrbar verloren und vergessen (190e-191e). Aristoteles greift das auf und formuliert in De Anima: „Man muss aber allgemein von jeder Wahrnehmung erfassen: Die Wahrnehmung ist das Aufnahmefähige für die wahrnehmbaren Formen ohne die Materie, wie das Wachs vom Ring das Zeichen (Siegel) aufnimmt ohne das Eisen oder das Gold. Es nimmt das goldene oder eherne Zeichen auf, aber nicht sofern es Gold oder Erz ist. Ebenso erleidet die Wahrnehmung (der Sinn) von jedem Objekt, das Farbe, Geschmack oder Ton hat, aber nicht, sofern es jedes einzelne von ihnen ist, sondern sofern es von solcher Art und gemäß dem Begriff ist.“ (424a18ff.)

Aristoteles fasst Wahrnehmung ganz unspezifisch als einen Fall von Vereinigung von Materie und Form. Dass die Form (hier: die Form der wahrgenommenen Objekte) selbst materielos ist, dass also die Vereinigung nicht als Vereinigung von Materien vor sich geht, ist kein Spezifikum der Wahrnehmung, sondern gilt auch für alle Prozesse mit substanziellem Prozessresultat (s.o.). Diese Sachlage wie die Tatsache, dass die Figur der Siegelung – bzw. die Vereinigung von Siegel und Wachs – an anderer Stelle (An. 412b) ganz selbstverständlich als

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Beispiel für die Vereinigung von Materie und Form allgemein verwendet wird, lässt auch die Verwendung der Siegelungsfigur im Zusammenhang der Lehre von den drei Zuständen des Universals (und nicht zur im Zusammenhang des universale post rem) als selbstverständlich erscheinen: die in der Materie des Siegels (Gold, Erz) gelegene Form vereinigt sich mit der Wachs-Materie und die in der Wachs-Materie gelegene Form vereinigt sich mit der WahrnehmungsMaterie (und wird, wenn sie häufig begegnet, in der Seele des Betrachters schließlich auch als Form, als kontrahiertes bzw. abstrahiertes „general pattern“ handhabbar). So betrachtet zeichnet die Lehre von den drei Zuständen einfach die Universalisierungs- und Kontraktionsprozesse nach, welche die Form gleichsam „auf ihrem Weg durch die Welt“ durchläuft. Allerdings kann nicht verschwiegen werden, dass diese im Kern realistische Lesart der Lehre, die, inspiriert von der Dinglichkeit und Materialität des Universals als Siegel, noch die platonische Figur der transzendenten Formen in eine materialistische Matrix hineinzuziehen versucht, einseitig ist. Die Lehre von den drei Zuständen löst nämlich für sich genommen noch nicht die Spannung zwischen konzeptualistischen und realistischen Theorieansätzen, da sie, obwohl dem neoplatonischen Kontext entstammend, offen ist für zwei divergierende Lesarten: In der ersten bezeichnen das Universale in res, ante rem und post rem drei Möglichkeiten, das Universale zu betrachten – was zu einem ontologischen Vorrang des Universale post rem führt, dessen Begriff in der Tat auch als einziges von anderen Dingen prädiziert werden kann (gemäß des aristotelischen Universalitätskriteriums auf der Ebene der Sprache, vgl. Kap. 2.2.; vgl. Arlig 2005, 79 (Fn. 74)). In der zweiten Lesart hingegen bezeichnen sie drei Möglichkeiten des Universals zu sein. Erst in dieser Lesart gerät das Modell in Bewegung derart, dass die drei Seinsweisen nicht nur logisch-perspektivisch, sondern auch real aufeinander bezogen werden müssen: der Übergang von einem zum anderen muss jetzt als Realprozess gefasst werden. In der folgenden Behandlung der mittelalterlichen Lehre von den drei Zuständen des Universals wird dieser Fokus auf den Realprozess beibehalten. Albertus Magnus (um 1200-1280), in dessen Werk diese Lehre vor allem über Avicenna und Eustratios von Nikaia (um 1050-um 1117) einwanderte (de Libera 2005a, 262-265), ist derjenige, die sie im 13. Jahrhundert entscheidend popularisiert hat: „Die Unterscheidung dreier Sorten von Universalien, im 12. Jh. noch unbekannt, wird in der zweiten Hälfte des 13. Jhs. mit einem Mal zum Gemeinplatz. [...] Der Entdecker der neuplatonischen Universalientheorie [...] ist [...] kein anderer als Albert.“ (ebd., 261) Albert ist hier also (ausschließlich) in seiner Rolle als prominentester Vertreter der Lehre von den drei Zuständen von Interesse. Insbesondere ist zu fragen, wie sich diese Lehre zu den übrigen Ele-

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menten seiner Universalientheorie verhält; dabei beschränkt sich die Rezeption auf einen der Frage des Porphyrius gewidmeten Text, auf die Abhandlung De V universalibus im Liber de praedicabilibus.53 „Wir [...] lösen die Beweisgründe [für oder gegen die extramentale Existenz von Universalien] in für die vorliegende inhaltliche Absicht angemessener Weise auf und sagen, dass das Universale in dreierlei Hinsicht betrachtet wird [triplicem habet considerationem]: einmal insofern es in sich selbst eine einfache und unveränderliche Natur ist; dann insofern es auf eine Intelligenz bezogen wird; schließlich insofern es in diesem oder in jenem ist. In der zuerst genannten Hinsicht ist ein Universale nun eine einfache Natur, die Sein, Wesenscharakteristik [ratio] und Namen verleiht und unter all dem, was existiert, das Wahrste ist [...]. Insofern ein Universale nun aber in diesem oder jenem Bestimmten ist, kommt ihm hinsichtlich des Seins vielerlei zu; dazu zählt erstens, dass es vereinzelt und individuiert ist, zweitens, dass es ein Vervielfältigbares [multiplicabile] oder Vervielfältigtes ist, drittens schließlich, dass es ein Körperhaftes ist [...]. Insofern das Universale nun aber im Denken [intellectus] existiert, wird es in zweierlei Hinsicht betrachtet, nämlich entweder bezüglich der Relation zum Intellekt der Ersten Intelligenz, die das Universale erkennt und verursacht [...] oder bezüglich der Relation zum Intellekt, der ein Universale mittels Abstraktion erkennt. [...] Das fällt mit der Vorstellung der Alten zusammen, dass es Formen in dreierlei Hinsicht gibt [Et hoc est quod dixerunt ANTIQUI triplices esse formas]: die den Dingen vorgeordneten, das sind die Formen, wie sie für sich aufgefasst werden, d.h. die Prinzipien der Dinge; sodann die Formen in den Dingen oder gemeinsam mit den Dingen [...], indem sie über die Anlage verfügen, in vielen und universal zu sein [sunt aptae esse in multis et universales] [...]; ferner gibt es auch die den Dingen nachgeordneten Formen, das sind die Formen, die mittels Abstraktion des Intellekts von den individuierenden Bedingungen abgetrennt worden sind und in denen der Intellekt die Allgemeinheit wirklich werden lässt [in quibus intellectus egit universalitatem]. Die ersten Formen sind damit die substanziellen Prinzipien der Dinge, die zweiten jedoch die Substanzen der Dinge, die dritten endlich sind die Akzidentien und Qualitäten, die man als die in der Seele angenommenen „Zeichen“ [notae] der Dinge und als „Dispositionen“ oder „Habitus“ bezeichnet.“ (De V univ. 15-16, Kurs. eingef.).

Diese (doppelte) Repräsentation der Lehre von den drei Zuständen steht in De V universalibus im Kontext einer realistischen Universalienlehre, die sich durch eine knappe Reihe von Sätzen charakterisieren lässt, die auch als Antworten auf

53 Liber de praedicabilibus. Tractatus II, in: Alberti Magni Opera omni, Vol. 1, ed. A Borgnet, 1890, 17-40, hier zitiert als De V univ., Übersetzung und Seitenzahlen nach Wöhler 1994.

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die von Porphyrius gestellten Fragen hinsichtlich des Status des Universals gelesen werden müssen:54 (1) Das Universal existiert nicht nur im reinen Gedanken, sondern auch in der extramentalen Wirklichkeit (De V univ. 9-18). (2) Das Universal ist (selbst) unkörperlich und unvergänglich (ebd. 23). (3) Das Universal existiert nicht (bzw. nicht ausschließlich) als von den wahrnehmbaren Dingen Abgetrenntes (28). (4) Das Universal ist nicht Materie und nicht ein aus Materie und Form Zusammengesetztes, sondern ist Form (37). Der größten theoretischen Schwierigkeit begegnet Albert beim Nachweis des ersten und dritten Satzes, die zusammengenommen die These ergeben, Universalien existieren als Universalien auch im wahrnehmbaren Einzelding, in res. Seine Diskussion und Lösung dieser Frage soll jetzt nachgezeichnet werden. Die von Albert diskutierten Argumente gegen die Existenz eines Universals in res sind unter anderem folgende (10ff.): In der Natur existieren nur Einzeldinge, Dinge, die der Zahl nach (numerisch) einfach sind. Ihr Einfach-Sein und ihr Sein überhaupt sind untrennbar verbunden. Da Universalien nicht schlechthin einfach sind, sondern in Vielen existieren und von Vielem prädizierbar sind, haben sie kein Sein in der (extramentalen) Natur. Das folgt auch daraus, dass in der Natur existierende Einzeldinge „gewisse Diese“ sind, Universalien aber „Solche“ bzw. Qualitative. Und insbesondere wenn man annimmt, Universalien fungierten als Substanz von Einzeldingen bzw. von einzelnen Materien, dann müssten sie sich zu diesem Zweck selbst partikularisieren derart, dass sie nicht mehr universal sind; auch deshalb können sie kein Sein in der (extramentalen) Natur haben. Alberts Strategie besteht darin, diese Argumente durch eine Ausweichbewegung zu unterlaufen. Auch für ihn ist ganz klar: Universalien existieren „nicht als Dinge, die auf Grund eines letzten Aktes [also der Realunterscheidung, mittels derer Einzeldinge als einzelne in die Welt kommen] in einer Natur von Bestand und vollendet sind.“ (16) Das heißt aber nicht, dass sie nicht doch extramental und in Dingen existieren. Wenn sie in Dingen existieren, dann jedoch nicht so, dass sie ein für allemal in die Dinge gleichsam eingeschlossen sind. Vielmehr muss der Tatsache Rechnung getragen werden, dass das Universale für sich genommen ein „schlechthin Übertragbares“ ist (13). Man trägt ihr Rechnung, indem man bedenkt, dass das Universale in res, verstanden als verkörperte Form, ihre Entstehung und ihr Sein einem „auf die Form gerichteten synonymen

54 Vgl. allgemein zur Universalienlehre des Albertus Magnus: Wieland 1992, 41-46; Noya 2001, 187-193.

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Agens“ verdankt (ebd.), also einem formgebenden Prinzip. Unter dieser Perspektive kann man dann sagen, die verkörperte Form sei im entstandenen Individuum so enthalten wie sein Prinzip: seine Entstehungsgründe oder -quellen bleiben ihm eingeschrieben, solange es existiert.55 Betrachtete man die verkörperte Form ganz isoliert, erscheint sie zwar als Einzelnes, nicht Universales. Richtiger aber ist es, sie von ihrer Entstehung her zu betrachten – und dann erscheint sie als Element eines von einem synonymen Agens ausgehenden Prozesses der Formverdopplung, – als Element eines Universalisierungsprozesses: Sie ist also insofern eine universale, als sie eine universalisierte ist und die Übertragbarkeit des Universals reflektiert sich in ihr insofern, als sie eine übertragene ist. Die universalisierte und übertragene Form ist im verkörperten Zustand aber auch nicht notwendig der Endpunkt des Universalisierungsprozesses: „Obgleich die Form einer Kunst ihre Funktion, ein gemeinsames Urbild zu sein, auf Grund dessen besitzt, dass sie von einem Künstler mit einem bestimmten Talent ausgeht, besitzt sie diese Funktion auch dann, nachdem sie herausgetreten ist, und zwar so lange, wie sie selbst als Form einer Kunst genommen wird. Und diese Funktion besitzt sie in Holz wie in Stein, obgleich sie sie nicht insoweit besitzt, als sie in Holz und Stein existiert.“ (18)56

Die Kunst des Künstlers ist das synonyme Agens der von ihm hervorgebrachten Dinge. Die Form seiner Kunst befindet sich in ihm, auch wenn sie nicht exklusiv in ihm, also von ihm nicht „abhängig“ ist (17, 13), – vielmehr kann er sie eben in die von ihm hervorgebrachten Dinge einbringen. Aber auch sofern die Form in res vorliegt, ist sie, so die Pointe der zitierten Stelle, nicht ein für allemal und exklusiv in das hervorgebrachte Ding gekoppelt, sondern kann wiederum als

55 „Denn das, was in einem Individuum ist, ist in ihm nicht immer dergestalt, dass es das Sein des Individuums ist, sondern bisweilen dergestalt, dass es das Prinzip des Individuums ist.“ (De V Universalibus, 17) („Quod enim est in individuo, non semper est in eo per modum esse individui, sed aliquando per modum principii individui.” Ed. Borgnet (siehe Fn. 53), 25B) 56 „Ad id autem quod sexto inducunt, dicendum quod quamvis forma artis habeat quod exemplar commune est, ab hoc quod a tali exivit artifice: tamen postquam exivit, adhuc habet id quando secundum se ut forma artis accipitur: et habet hoc in lignis, et lapidibus, quamvis hoc non habeat secundum quod existit in lignis et lapidibus. Et similiter de formis naturalibus existentibus ab intelligentia. Et ideo secundum se acceptae sunt communes et universales etiam quae sunt in singularibus, quamvis non secundum quod sunt in singularibus habeant id.” (ed. Borgnet (siehe Fn. 53), 26A)

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Form einer Kunst „genommen“ (accipitur) werden: die Sache kann zum Modell der kunstmäßigen Hervorbringung synonymer Dinge werden und ist also nicht nur eine übertragene, sondern auch eine übertragbare. Damit hat die verkörperte Form ihren Status im Modell der drei Zustände des Universals verschoben, sie ist unter der Hand Form bzw. Universal ante rem geworden, indem sie nämlich „vor“ den nach ihrem Modell hervorgebrachten Dingen liegt. Mit dieser Verschiebung wäre die Ausweichbewegung umschrieben, mit der Albert den Einwänden gegen ein extramentales Universale in res begegnet: dieses wird in Beziehung gesetzt zum Universale ante rem, von dem es herkommt und zu dem es selbst werden kann, wird also in Beziehung gesetzt zum realen Universalisierungsgeschehen, in dem es situiert ist. Tatsächlich ist es das Universale ante rem, dem Alberts Begriff des Universals am bündigsten entspricht, denn Universalien existieren für ihn „als die Prinzipien der Dinge und nicht als die Dinge“ (16). Das Universale ante rem im starken Sinne, von Albert nicht unmittelbar als platonischer Ideenhimmel oder als demiurgische Schöpfungstätigkeit gefasst, sondern als „Licht der Ersten Intelligenz, das die Quelle und die Ursache aller Formen ist“ (33), kann hier nicht im Einzelnen analysiert werden.57 Die Erste Intelligenz wird aber in De V Universalibus in Analogie gebracht zu den Mechanismen kunstmäßiger Hervorbringung: „Wie ein einziger Künstler viele Kunstprodukte hervorzubringen vermag, ist auch die Form im Künstler das gemeinsame Urbild für all das, worin diese Form als Ebenbild eingeprägt ist. [...] Ganz ähnlich ist es nun offenbar bei den natürlichen Formen. Bei ihnen fungiert eine Intelligenz als der Künstler, und die natürliche Form ist ebenso eine Form in den Dingen, wie die Form der Kunst in der künstlerisch gestalteten Materie. Wenn ein Universale also ein Gemeinschaftliches ist und von Natur aus die Veranlagung hat, in vielem zu sein, so kommt ihm das offenbar nur deshalb zu, weil es in einer Intelligenz ist, die ein gemeinschaftlicher Künstler ist.“ (11-12)

57 Siehe de Libera 2005a, 266-270, der Alberts Theologie diesbezüglich als Abwandlung der „demiurgischen Schöpfung nach Platon“ (ebd. 267) versteht und zu folgendem Fazit gelangt: „Verfolgt man die Umdeutung des Platonismus bei Albert, so sieht man, worin sein Universalienrealismus Epoche macht. Mit ihm geht das Universale rückhaltlos vom Gebiet der Logik auf das der „Natur“, d.h. auf Metaphysik und Physik über. Dieser seiner kosmologischen Neuinterpretation der Universalienfrage mitgegebene Impuls geht – über unvermutete, lang(wierig)e und gewundene Wege – auf den Timaios zurück.“ (269).

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Der Text bestätigt die obige Analyse: Albert scheint neben dem Universale ante rem im starken Sinne einen immanenten, innerweltlichen Typus des Universale ante rem wenigstens implizit mitzudenken. Neben der Kunst des Künstlers als Formprinzip der von ihr hergestellten, ihr „nachfolgenden“ Dinge dürfte auch der sich qua biologischer Reproduktion vervielfältigende Körper als Formprinzip seiner Nachkömmlinge ein solches innerweltliches Universale ante rem darstellen, wie Albert (unter Rekurs auf Aristoteles und sehr nebenbei) andeutet.58 Denn was dergestalt als ein Agens existiert, welches sich „gegenüber allem, was ihm als dem Urbild nachgestaltet wird, auf eine und dieselbe Weise verhält [...], das existiert im höchsten Maß in der Wirklichkeit, weil sein Sein von keinem Ding überschattet oder [von keinem Ding] dem Wandel ausgesetzt worden ist. [...] Auf eben diese Weise aber existiert ein Universale.“ (13). Das innerweltliche Universale ante rem hat genau die Struktur des Universale ante rem im starken Sinne, nur dass der Geltungsbereich dieser Struktur historisch und lokal auf die raumzeitliche Lokalisiertheit der endlichen und selbst entstandenen Agenzien oder Prinzipien hin eingegrenzt ist. Dass bei Albert beide Typen des Universale ante rem unverbunden nebeneinander bestehen, ist auch der von ihm vertretenen Lehre von den drei Zuständen des Universals zu verdanken, – in dem Aspekt, dass platonische und aristotelische Motive in ihr „harmonisiert“ werden sollen, so dass schließlich beides, die Transmission von Formen aus der Transzendenz wie auch aus der Immanenz heraus, in ihr Platz findet. Es bleibt festzuhalten, dass das Schema der drei Zustände des Universals bei Albertus Magnus keinen bloß sukzessiven Gesamtprozess beschreibt: Zwar „beginnt“ der im Schema implizite Prozess grundsätzlich mit dem Hervortreten der Formen aus der Ersten Intelligenz und „verläuft“ über die der Vielheit von Dingen immanenten Form weiter bis hin zum „Endpunkt“ der aus der Vielheit abstrahierten Form im Intellekt (wobei die extramentale Existenz der Form so betrachtet nur ein „Durchgangsstadium“ ist). Durch die Konzeption eines immanenten Universale ante rem aber kann der Gesamtprozess eine partielle Schließung erfahren und zirkulär werden, dann nämlich, wenn das Universale post rem selbst wiederum als Universale ante rem fungiert. „Das Universale im Intellekt

58 So schreibt er: „Das Universale [...] wird im Sinne des Nachfolgenden zum naturhaften Sein gebracht.“ „Im Sinne des Nachfolgenden zum Beispiel so, wie ein bestimmtes Erzeugendes ein Mensch ist und daruas folgt, dass ein Mensch einen Menschen erzeugt und dass ein bestimmtes Mensch, Lebewesen und Substanz ist, usw. Analog auch bei jeder substanziellen Prädikation, so dass ein Haus aus einem Haus und Gesundheit aus der Gesundheit ist, und entsprechend bei anderem.“ (36, Kurs. eingef.) (Vgl. Met. 1032a23 – 1032b14)

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[ist] – wie Aristoteles sagt – das Prinzip der Kunst und der Wissenschaft; und es könnte nicht das Prinzip der Kunst und der Wissenschaft sein, wenn es nicht im praktischen und theoretischen Intellekt wäre. Kunst ist nämlich das aktiv handelnde Prinzip von all dem im Verstande Seienden, also ist sie im praktischen Intellekt.“ (31) Die Aristoteles-Stelle, die Albert referiert (An. post. 100a1-8; vgl. Kap. 2.2.3), beschreibt genau die Konversion von Universale post rem in Universale ante rem, im Rahmen derer die qua Kontraktion (Abstraktion) gewonnene Form mittels kunstmäßiger Tätigkeit dann selbst wieder disseminiert wird. 2.3.2 Die indifferente Essenz (Avicenna) Albertus Magnus übernimmt die Lehre von den drei Zuständen des Universals unter anderem von Avicenna (980-1037), der sie im Logikkapitel (Madkhal) seines Hauptwerks, der Kitab aš-šifa („Buch der Genesung der Seele“), im Zusammenhang seiner Kommentierung der porphyrischen Isagoge anführt59 und auf seine Lehre von der „Indifferenz“ der Essenz bezieht. Was besagt diese Lehre und wie ist sie mit der Lehre von den drei Zuständen des Universals verknüpft? Avicenna hat durch die von ihm etablierte Unterscheidung zwischen Essenz und Existenz60, also zwischen dem Wesenswas einer Sache und dem tatsächlichen Vorliegen der so bestimmten Sache in actu, die Möglichkeit, die Essenz einer isolierten Betrachtung zuzuführen, etwa esse equum, „Pferdheit“. Dabei werden alle Eigenschaften und Existenzweisen, die der Essenz über ihr EssenzSein hinaus zukommen können, als ihr bloß akzidentiell zukommend ausgewiesen. So heißt es:

59 Eine englische Übersetzung der Passage findet sich bei Marmura 1979, 47-52 (der Text wird im folgenden nach der dort angegebenen Zählung zitiert; einzelne Stellen werden auch in deutscher Übersetzung nach de Libera 2005a zitiert). Der andere hier relevante Text ist die 5. Abhandlung des Metaphysikkapitels der Kitab aš-šifa, der in der deutschen Übersetzung nach Wöhler 1992, 227ff. zitiert wird. Für beide Texte werden mangels passender Bezeichnung keine Siglen verwendet. 60 Siehe z.B. Wöhler 1992, 237: „Der Natur des Menschen, insofern sie eine universelle Natur ist, kommt es nur akzidenteller Weise zu, real zu existieren. Ferner, der Umstand, dass sie real existiert, ist nicht identisch mit dem anderen, dass sie „Mensch“ ist. Ebensowenig ist der erstere [Umstand, nämlich: dass sie real existiert] ein Teil (Bestandteil) des Menschen [d.h. seiner Natur].“ (Vgl. de Libera 2005a, 193)

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„[Die Definition der ratio (Bedeutung) des esse equum] ist verschieden von der Definition der Universalität, noch hat überhaupt die Definition der letzteren einen Anteil an der Definition des Pferdes. Die Definition der Universalität haftet vielmehr der Natur des Pferdes wie ein Akzidens an; denn diese Natur ist in sich selbst betrachtet wieder ein Einzelding, noch auch eine Vielheit von Dingen, weder in den Individuen existierend noch auch in der (denkenden) Seele, noch ist sie in dieser Beziehung irgend etwas, weder in der Potenz, noch auch aktuell, so dass jenes einen Teil der Definition des Pferdes bilden würde. Die Definition des Pferdes als solche enthält vielmehr nur diesen ihren Inhalt (das esse equum).“ (Wöhler 1992, 228, Kurs. eingef.)

Somit erscheint die Avicenna’sche Essenz zunächst als rein negative Figur, als eine Rückzugsfigur, die nicht das und nicht das und nicht das ist. Worin besteht aber der Sinn dieser negativen Konzeption? Darin, die Widersprüchlichkeit der der Essenz anhaftenden Bestimmungen und Existenzweisen dieser nicht selbst zuschreiben zu müssen, diese Widersprüchlichkeit externalisieren zu können. Da die Essenz selbst nicht zugleich ein einzeln und in der Vielheit Existierendes, ein in den Individuen und in der Seele Existierendes sein kann (und sei es potentialiter oder aktualiter), müssen diese Bestimmungen ihr in akzidenteller, äußerlicher Weise anhaften, damit der Figur der Essenz überhaupt eine Art von Konsistenz zukommen kann. Die Externalisierung verhält sich komplementär zu der Tatsache, dass die Essenz real natürlich als eine angetroffen wird, der jene Bestimmungen alle anhaften und die in solchen Existenzweisen wirklich begriffen ist. Denn die Essenz verfügt nicht an ihr selbst über eine abgetrennte Existenz (sie existiert nicht nach Art der platonischen Ideen (Wöhler 1992, 234f.)). Vielmehr: „Avicenna recognizes that the nature always exists either in the mind or in extramental reality, and, although he does allow an existence to the nature at the level of supersensible reality in the mind of God and the Intelligences, such an existence is not at all like that of mind-independent Platonic Forms.” (Noone 2003, 103f., Kurs. eingef.) Was ihre extramentale Existenz angeht, kann die Essenz keine strikt Einzelne sein, denn dann könnte es nur ein einziges Einzelnes (einer bestimmen Art) geben; wäre sie, umgekehrt, an ihr selbst eine vielfache, so könnte es überhaupt keine Einzeldinge geben (sondern nur universelle Dinge). Ohne also selbst einzeln oder vielfach zu sein, muss die Essenz, insofern sie den Individuen einer Art real und konstitutiv innewohnt, ihre Individualisierung qua Materie ebenso zulassen wie sie es zulassen muss, (zugleich) in Vielen zu sein. (Marmura 1979, 65.12-66.1) Wäre die Essenz weiterhin an ihr selbst allein in den Individuen, könnte sie nicht auch im Geist (mental) sein. Das aber ist der Fall: sie kann nämlich an den

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wahrgenommenen Einzeldingen erkannt werden – und zwar genau in ihrem indifferenten Status (Wöhler 1992, 234; Marmura 1979, 66.17-19). Die Tatsache, dass sie einer Vielheit von Individuen konstitutiv innewohnt, erlaubt dann auch ihr Universell-Werden im Geist: „That one [form {gemeint ist die Essenz „Lebewesen“}] itself would then be correctly related to several things resembling it in that the mind predicates it of each of them [...]. This accidentally occuring thing (al-`ārid) would thus be the generality that occurs to animality.” (Marmura 1979, 66.6-7) Universalität „passiert“ der Essenz bloß, stößt ihr im Geist akzidentell zu. Wäre die Essenz an ihr selbst eine strikt Einzelne, so könnte es keine Universalbegriffe geben (denn entweder gäbe es dann, siehe oben, überhaupt nur Einzeldinge in der extramentalen Realität; oder die Essenz könnte ihr UniversellWerden im Geist nicht zulassen). Wäre sie selbst eine vielfache bzw. universale, ließe sie sich nicht adäquat auf die extramentalen Einzeldinge beziehen (denn auch in diesen ist sie, siehe oben, nicht an ihr selbst universal). Die Indifferenz der Essenz erweist ihren Sinn aber auch und insbesondere dort, wo die Essenz vor der extramentalen Vielheit von Einzeldingen existiert. Dabei findet sich die Analogie zwischen göttlicher und handwerksmäßiger Hervorbringung, die oben bei Albertus Magnus aufgewiesen wurde, bereits bei Avicenna: „Because the relation of all existing things to God and the angels is [the same as] the relation of the artifacts we have to the productive soul, that which is in divine and angelic knowledge of the true nature of what is known and apprehended of natural things exists prior to multiplicity.” (Marmura 1979, 69.10-13) Die „true nature“ – die Essenz selbst – ist, insofern sie von einer göttlichen oder menschlichen Intelligenz in eine Vielheit von Dingen eingebracht wird, weder eine per se einfache noch vielfache, weder eine per se in der Seele noch in den Individuen Existierende: Wäre sie an ihr selbst einfach, könnte sie sich nicht in eine Vielheit von Dingen hinein universalisieren, wäre sie an ihr selbst vielfach (universell), könnte sie sich nicht in die „hergestellten“ Dinge hinein vereinzeln, wäre sie an ihr selbst in der Seele, könnte sie nicht extramental wirklich werden und wäre sie an ihr selbst bloß in den Individuen, könnte keine „productive soul“ sie jemals vervielfachen.61

61 Wobei angemerkt sei, dass neben der Analogie zwischen göttlicher und handwerksmäßiger Hervorbringung auch die bei Albertus Magnus herausgearbeitete Konversion von Universale post rem in Universale ante rem bereits bei Avicenna anzutreffen ist: „The thing, however, that is the nature of the conceived genus [Avicenna verwendet in seinem Isagoge-Kommentar die Essenz eines Genus durchgängig als Beispiel für Essenzialität (Marmura 1979, 65.9); das Folgende gilt also auch für die Essenzialität der Spezies] may exist in two ways. [1] It may be first conceived and then realized in ex-

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Dieser Durchgang durch die Existenzweisen der Essenz wurde bereits am Schema der drei Zustände des Universals orientiert. Avicenna bezieht sich auf dieses Schema unter Verweis auf seine Traditionalität: „It has been custom in the endeavour to understand these five [universals {oder: Prädikabilien des Porphyius (de Libera 2005a, 191)}] to say that some are natural, some logical, and some mental. It is sometimes [also] said that some are prior to multiplicity, some in multiplicity, some after multiplicity.” (Marmura 1979, 65.4-6)62 Dass das Schema aber für Avicenna selbst höchst aktuell ist, lässt sich nach dem Gesagten leicht nachvollziehen. Denn nur wenn man, wie es in der Lehre von den drei Zuständen des Universals der Fall ist, das Gesamtbild der Universalisierungs- und Kontraktionsprozesse im Blick behält, die die Form oder Essenz „auf ihrem Weg durch die Welt“ durchläuft, kann man die Frage stellen, als deren Antwort Avicennas Konzeption erscheint, nämlich: Wie muss die Form oder Essenz beschaffen sein, damit sie den Gesamtprozess des Universalisierungsgeschehens „tragen“, ihm Konsistenz verleihen kann, indem sie das minimale Element darstellt, das sich durch alle Zustände hindurchzieht und das sich in allen Zuständen gleichbleibt? Erst unter dieser Perspektive ist die gegenüber ihren Eigenschafen und Existenzweisen indifferente Essenz nicht mehr bloß eine Rückzugsfigur, sondern eine konstitutive Figur des wirklichen Universalisierungsgeschehens. Die historisch vielleicht bedeutsamsten Positionen des mittelalterlichen Universalienstreits werden, in den klassischen Gegensatz von Realismus und Nominalismus gebracht, von Duns Scotus und Wilhelm von Ockham vertreten. Scotus’ Position kann als Problematisierung und Weiterentwicklung des Avicenna’schen Standpunkts verstanden werden; Ockham entwickelt seine Position in Auseinandersetzung mit Scotus. Der Grund, weshalb diese Positionen hier nicht behandelt werden, liegt darin, dass beide Autoren sich in ihrer Reflexion über Universalien kaum auf in der Welt real stattfindende Universalisierungsprozesse beziehen. Dagegen richtet sich das Augenmerk ausschließlich auf solche Prozesse, insofern sie einen wichtigen Aspekt von Kollektivitäten darstellen: den Aspekt

ternal reality and in external multiplicity. An example of this is when one first conceives some artifact and then manufactures it. […] In brief, sometimes the conceived form is in some manner a cause for the occurrence of the form that exists in external reality.” (Marmura 1979, 69.3-7, Kurs. eingef.) 62 Der Frage, ob beide Formulierungen – mental, natural, logical unversal vs. universal prior, in, after multiplcity (oder: res) – deckungsgleich sind oder nicht, wird hier nicht nachgegangen. Vgl. die unterschiedlichen Auffassungen von Marmura 1979, 39-43 und de Libera 2005a, 191f.

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der Konstitution von Populationen ähnlicher Entitäten mittels laufender Wiederholung replikativer Performanzen (#8). Daher sind die Positionen von Scotus und Ockham hier nicht wirklich von Interesse. Trotzdem so viel: Von Avicenna her betrachtet, sind zwei Aspekte der Scotus’schen Universalientheorie eine Erwähnung wert.63 Erstens problematisiert Scotus Avicennas Diktum, demzufolge der Essenz (in Scotus’ Terminologie: der Natur) an ihr selbst keinerlei Einheit zukommt (s.o.).64 Wenn dem so ist, dann besteht das Problem darin, dass die Natur gewissermaßen keinen eigenen Beitrag leistet zur Einheit des materiellen Einzeldinges, in dem sie (eben in res) vorliegt. Dann aber müsste die einzige Einheit des materiellen Einzeldinges seine ihm qua Materialität zukommende numerische Einheit sein, also eine Einheit, die macht, dass es der Zahl nach eines ist. Die numerische Einheit ist die stärkste Einheit überhaupt, insofern sie die Einheit eines konkreten Dinges, eines „Diesen“ bezeichnet (Scot. Ord. 8); in gewissem Sinne aber auch die leerste, insofern sie von allen besonderen Qualifikationen, die einem Ding zukommen können, absieht: bar jeder weiteren Qualifikation sind alle Dinge bloß „einfache Dinge“, Einheiten. In dem Aspekt, dass sie numerische Einheiten sind, unterscheiden sie sich nicht: ein Mensch und ein Haus sind beides gleichermaßen numerische Einheiten. (ebd., 23) Man benötigt also, so Scotus, „unterhalb“ des absoluten Begriffs der numerischen Einheit, einen „schwächeren“ (in gewissem Sinne aber auch gehaltvolleren) Einheitsbe-

63 Betrachtet wird nur die Ordinatio II, d. 3, Teil 1, Fragen 1-6, die übersetzt in Spade 1994, 57-113, vorliegt und hier zitiert wird als „Scot. Ord. + Nummer des Abschnitts nach der dort verwendeten Zählung“. 64 Owens 1957, 3, beschreibt diese Problematik allgemein wie folgt: „After the development of the general doctrine on the transcendent properties of being that had taken place among the Latin thinkers of the thirteenth century, the avicennian teaching on essence could hardly be left in the status that allowed a nature being but denied it unity. Where being was found, a corresponding unity must also be present. […] A mediaeval latin thinker, working in this Avicennian background after the middle of the thirteenth century and developing the doctrine more profoundly, would have to make his choice. […] This is the point that is crucial in the texts of St Thomas and Duns Scotus as they develop their respective doctrines of essence as such against the common background seen in the Arabian theologian.” Natürlich könnte man fragen, ob Avicenna der indifferenten Essenz nicht doch wenigstens faktisch einen nichtnumerischen Typus von Einheit zuschreibt bzw. vernünftigerweise zuschreiben muss, um sie als Objekt überhaupt in den Blick nehmen zu können. Die Frage bleibt hier offen.

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griff, welche der Natur einer jeden Sache zukommt (vgl. zu Scotus’ übrigen Gründen für die Notwendigkeit dieser „schwächeren“ Einheit: ebd. 11-28). Zum Beispiel muss dem esse equum seinem Gehalt nach eine Einheit zukommen, die es erlaubt, es etwa von einem esse humanum zu unterscheiden, ohne dass diese Einheit aber eine numerische wäre (was verunmöglichen würde, dass diese Natur mehreren Individuen zukommt (ebd. 9)) (Noone 2003, 110).65 Damit kommt ein zweiter Punkt ins Spiel. Dank ihrer „schwächeren“ Einheit ist die Natur an ihr selbst kein „Dieses“, kein konkretes Ding. Vielmehr gilt: there is „such a nature of itself that it is not incompatible with it to be in something else. [...] It is not incompatible with it of itself to be „non-this“.“ (Scot. Ord. 38). Genau dies aber: dass es mit der Natur nicht unverträglich ist, in einem anderen und damit kein strikt „Dieses“ zu sein, qualifiziert sie für Scotus als eine „gemeinsame“ Natur, als eine natura communis. (ebd. 42) Während Scotus sich von Avicenna absetzt, indem er der Natur (im Unterschied zur indifferenten Essenz) eine ihr an ihr selbst zukommende „schwächere“ Einheit und (sich daraus ergebende) Kommunalität zuschreibt, folgt er ansonsten der Avicenna’schen Indifferenzlehre: Der Natur kommt numerische Einheit im Einzelding und Universalität im Intellekt nur akzidentiell zu (ebd., 31-34).66 Wie die an ihr selbst gemeinsame Natur, die Scotus somit etabliert hat,67 in die materiellen Einzeldinge hinein kontrahiert wird – eben mit dem Ef-

65 Diese Lösung findet sich, wenn auch nicht so prominent in Szene gesetzt wie bei Scotus, letztlich schon bei dem anderen hier besprochenen Avicenna-Rezipienten, bei Albertus Magnus. Albert unterscheidet zwischen einer numerischen Einheit des letzten Seins (des aktuellen Einzeldinges) und einer numerischen Einheit des Wesens. Letztere ist kein numerisch Eines im eigentlichen Sinne, sondern trägt starke Züge von Scotus „schwächerer“ Einheit: „Das Universale, das ein zahlenmäßiges Eins ist, [ist] ein zahlenmäßiges Eins des Wesens und nicht zwei oder drei (obgleich die Zahl zur Materie und dem Akzidens gehört) in vielem und über vieles.“ (De V univ., 16f., Kurs. eingef.) D.h. das Universale wahrt seine wesensmäßige Einheit auch da, wo es in den Individuen ist, mit denen es sich zu numerischen Einheiten verbindet, und ebenso da, wo es von diesen Individuen präzidiert wird. 66 Zum somit bei Scotus auftauchenden Unterschied zwischen Kommunalität und Universalität siehe: Scot. Ord. 37-38; vgl. de Libera 2005a, 339. Zur Universalität des Kommunen im Geist vgl. ebd., 343-359. 67 Vgl. dazu Noone 2003, 107: „What is characteristic of the first group of texts referred to [und dazu gehört auch die hier behandelte Ordinatio, siehe Fn. 66] is the trouble Scotus takes to establish that the nature as such is not singular of itself, doubtless ow-

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fekt, dass diese Einzeldinge numerisch ein(fach)e sind – , ist eine Frage, der er große Aufmerksamkeit widmet (ebd., 42ff.) und die jetzt nicht im einzelnen behandelt werden kann. Nur ganz kurz: Nachdem Scotus verschiedene Faktoren, unter anderem auch die Materie (129-141), als kontrahierende Prinzipien ausschließt, findet er eine eigens bestimmte „positive Entität“ (168ff.), aus der heraus sich in Analogie zur spezifischen Differenz (welche das Genus in Arten differenziert) (176-188) die Singularität und numerische Einheit der Einzeldinge realisieren soll – und die er unter anderem mit dem Namen haecceitas belegt (Noone 2003, 118f.). Mit dieser positiven Entität setzt sich die gemeinsame Natur zu einem Einzelding zusammen, so dass in der Zusammensetzung die letzte, aktuelle Realität der Natur (bzw. Form) wirklich wird (Scot. Ord. 180), ohne dass aber, so beansprucht Scotus, die gemeinsame Natur ihre Kommunalität in dieser Zusammensetzung verlieren würde (ebd., 173): vielmehr sind die gemeinsame Natur und die haecceitas real zusammengesetzt, sie bleiben aber jederzeit formal unterschieden (188), wodurch die gemeinsame Natur ihre Eigenschaften („schwächere“ Einheit und Kommunalität) bewahren kann. Dass diese Position im Rahmen der Scotus’schen Darstellung eher schwach bleibt, was Ockham die Gelegenheit geben wird, sie mit einer ganzen Serie von Widerlegungen zu konfrontieren, liegt daran, dass Scotus im Gegensatz zu den Urhebern der Lehre von den drei Zuständen des Universals sowie im Gegensatz zu Avicenna und noch Albertus Magnus die Problematik der Natur und des Status des Allgemeinen oder Kommunen nicht einmal mehr implizit auf die in der Welt anzutreffenden realen Universalisierungsprozesse bezieht. Indem er danach fragt, wie die als kommun gesetzte Natur sich individualisiert (angeblich: ohne ihre Eigenschaften zu verlieren), statt zu fragen, wie sich die Kommunalität der Natur aus Prozessen der Replikation und Universalisierung, also der Vergemeinschaftung der Natur (bzw. Form) des Einzelnen ergibt, muss der kontrahierte (vereinzelte) Zustand der „gemeinsamen“ Natur bei ihm als eine Sackgasse dieser Natur erscheinen: denn es ist bei Scotus schlicht nicht erkennbar, wie die einmal individualisierte Natur realiter ein „non-this“ und also in einem anderen sein könne. Ockhams Scotus-Kritik68 und seine eigene, höchst komplexe Universalienlehre (de Libera 2005a, 360ff.) werden nicht weiterverfolgt. Denn sein nominalistischer Grundsatz: „Nothing outside the intellect is common, since outside the

ing to the suggestion by William Wyre and others that natures are actually singular in their own right and that only universality needs explaining.” (Kurs. eingef.) 68 Siehe Ockhams Ordinatio, d.2, Frage 5-6, übersetzt in Spade 1994.

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intellect everything is singular“69, verunmöglicht es ihm, eine Perspektive auf reale Universalisierungsprozesse in der Welt zu entwickeln. Damit aber kann er hier beiseite gelassen werden. 2.3.3 Die Collectio-Lehre (Joscelin, Nizolius) Von Interesse ist aber eine randständige Position im mittelalterlichen Universalienstreit, die sogenannte Collectio-Lehre. Indem diese Lehre davon ausgeht, der Universalbegriff habe als extramentalen Referenten unmittelbar eine reale Vielheit bzw. Ganzheit von unter ihn fallenden Objekten, liegt sie quer zu einem universalientheoretischen Realismus, der das Universal als Universal in den Einzeldingen auszumachen sucht, wie auch zu nominalistischen Positionen, die die Existenz des Universals als Universal in den Einzeldingen bestreiten. Vielmehr behauptet die Collectio-Lehre eine extramentale Existenz des Universals, erkennt ihm aber einen neuen, andersartigen Existenzmodus zu, da es nicht mehr als einfaches Etwas in der Vielheit, in den vielen Einzelnen angesprochen wird, sondern unmittelbar als Vielheit: das Universal ist ein Ganzes von Vielem. Damit kommt die Collectio-Lehre von der Mereologie (Lehre von den Teilen und Ganzheiten) her, die, fundiert vor allem durch Lektüren der aristotelischen Logik, durch Neuplatoniker wie Porphyrius, vor allem aber durch Boethius systematisiert und für die mittelalterliche Philosophie bereitgehalten wurde. (Arlig 2005, 62-65) Sagt man, ein Universalbegriff habe als seinen Referenten eine reale Vielheit von Objekten insgesamt, so fragt sich, worin denn die Realität dieser Vielheit bestehe. Das ist die hier interessierende Frage, da die Hoffnung besteht, dass in ihrer Beantwortung das reale, Populationen von Objekten konstituierende Universalisierungsgeschehen sichtbar werden könnte. Der bekannteste mittelalterliche Text, der die Collectio-Lehre vertritt und ausführlich verteidigt, ist der Traktat De generibus et speciebus eines anonymen Autors, der im 19. Jahrhundert noch Abelard, im 20. Jahrhundert dann dem französischen Bischof Joscelin von Soissons zugeschrieben und auf 1120-30 datiert wurde. (Arlig 2005, 244f.) Der Autor wird als Joscelin angesprochen70 und der Text in äußerster Verkürzung rezipiert, also ganz ohne den mereologischen Kon-

69 Ockham, Ordinatio, d.2, Frage 6, Nr. 103, vgl. Nr. 104-113. Siehe auch für Ockhams Antworten auf die kanonischen Fragen des Porphyrius: de Libera 2005a, 399f. 70 Der Text wird zitiert nach der deutschen Übersetzung in Wöhler 1992, 104-130 als „Josc. + Seitenzahl in ebd.“. Da diese Übersetzung an zentralen Stellen irreführend ist, werden diese nach der englischen Übersetzung in Arlig 2005 zitiert, wobei auch die entsprechenden Seitenzahlen in Wöhler 1992 angegeben werden.

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text aufzuarbeiten und ohne auszuweisen, in welchem Umfang der Text die üblichen Positionen des Universalienstreits treffend kritisiert und als gelungene Replik auf Abelards Kritik der Collectio-Lehre71 anzusehen ist. (Arlig 2005, 271303) Joscelin bestimmt Einzeldinge als Zusammensetzung aus Materie und Form: „For example, Socrates is composed out of the matter man and the form Socrateity, and Plato from a similar matter (i.e. man) and a different form (i.e. Platonity), and so forth for each man.” (Arlig 2005, 285 (= Josc. 114)) Diese Zusammensetzung ist also nicht aristotelisch als Zusammensetzung von gegenständlicher Materie und immaterieller Form zu verstehen, sondern neuplatonisch als Zusammensetzung der Arten und Gattungen mit den Formen (bzw. Differenzen), welche die Arten individualisieren und die Gattungen spezifizieren.72 Seine gegenständliche Materialität (Körperlichkeit) kommt dem Einzelding Sokrates in diesem Schema dann nicht von seiner (Art-)„Materie“ her, sondern von seiner individualisierenden „Form“, also seiner „Sokratität“ her zu. Dabei gilt weiter: „Just as Socrateity, which constitutes Socrates formally, never exists apart from Socrtes, the essence of a man that sustains Socrateity in Socrates [illa hominis essentia, quae Socratitatem sustinet in Socrate] never exists except in Socrates.” (Arlig 2005, ebd.) Wie seine individuelle Form kommt auch die als Art-Materie gefasste Essenz des Menschen, welche diese individuelle Form „trägt“ (sustinet), jederzeit nur in dem konkreten Einzelding Sokrates vor. Genau in dieser Figur der die individuelle Form tragenden Art-Materie liegt der Schlüssel zu Joscelins Collectio-Lehre. Denn, so muss man fragen, wie sollte die Art-Materie insgesamt in dem konkreten Einzelding Sokrates vorliegen? Die Antwort findet sich in Joscelins Definition der Spezies – bzw. der ArtMaterie insgesamt –, die damit zugleich auch die Definition des Universals ist: „I say that the species is not solely the essence of a man that is in Socrates or in any other individual; it is the whole collection derived from each of these matters. That is, it is one [thing] – a flock so to speak – conjoined from the essence of a man which sustains Socrates plus each of the other [essences] of this nature.” (Arlig 2005, 286 (=Josc. 114f.)) Demnach ist die Spezies nichts anderes als das Gesamt der einzelnen Art-Materien, die in den konkreten Einzeldingen vorliegen und die deren individuelle Formen jeweils tragen. Dass die Spezies das Gesamt der einzelnen Art-Materien ist und als solches ein Ganzes von Vielem, heißt auch: die Spezies ist „portioniert“, sie existiert in diskreten Portionen. Sagt

71 In: Logica „Ingredientibus”. Glossae super Porphyrium, nachzulesen bei Wöhler 1992, 137f. 72 Vgl. etwa Porphrius, Isagoge, Kap. 3 (Porphyrius 1995).

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man nun, die als Spezies gefasste Essenz des Menschen trage etwa die Sokratität, meint man nicht, dass alle diskreten Portionen der Spezies die Sokratität tragen, – vielmehr wird die Sokratität nur von einer einzigen Portion, einem einzigen Teil der Spezies getragen.73 Von hier aus lässt sich weiter fragen, worin denn die Einheit oder Konsistenz der so portionierten Spezies bestehe? Was verhindert, dass die Spezies nicht ein Ganzes von Vielem, sondern eine disparate Vielheit ist? Eine Antwort Joscelins könnte lauten, es sei die Ähnlichkeit ihrer Portionen, welche die Konsistenz der Art-Materie insgesamt gewährleiste. (Josc. 116) Allerdings ist Ähnlichkeit eine Qualität bzw. eine relationale Eigenschaft, die für sich genommen erst aus der Betrachtung der Elemente der Vielheit erwächst und ihnen von außen – eben von der Betrachterperspektive her – zugeschrieben wird. Demgegenüber hat man den Eindruck, dass es für die extramentale Realität der Spezies als Ganzes von Vielem auch ein extramentales, ihr selbst intrinsisches Kriterium geben sollte. Tatsächlich entwickelt Joscelin ein weiteres Kriterium, und zwar in Auseinandersetzung mit möglichen Einwänden gegen die so skizzierte Lehre, von denen nachfolgend zwei herausgegriffen werden. Erstens:

73 Joscelin bringt diesen Sachverhalt in mehrere Bilder. So trägt die Spezies z.B. die Sokratität und die Platonität nur mit jeweils einem ihrer Teile (Portionen), wie eine Materie (z.B. Erz), aus der etwa ein Messer und ein Schreibgerät gefertigt wird, die Form des Messers nicht als ganze, sondern nur in dem Teil, der für die Fertigung des Messers eigens portioniert wurde (Josc. 116). Prinzipiell analog funktionieren die beiden folgenden Bilder: „In ähnlichem Sinne sagt man auch, ich berühre eine Wand: nicht, dass die einzelnen Teile von mir der Wand anhaften, sondern vielleicht nur eine Fingerspitze, so dass man durch ihr Anhaften sagt, ich berühre die Wand.“ (ebd.) Stellt man sich die Spezies Mensch (das Menschentum) als das gegliederte Ganze eines Körpers vor, der eine Wand (d.h. eine individuelle Form, z.B. Sokratität) berührt, dann berührt der Körper die Wand eben nicht als Ganzer, sondern er berührt sie nur mit einem seiner Teile, etwa mit der Fingerspitze. Umgekehrt gilt: Die Wand (Sokratität) berührt nur einen Teil des Körpers (des Menschentums), nur ein Teil des Körpers wird von der Berührung mit der Wand geprägt. Ebenso: „In derselben Weise sagt man auch, ein Heer sitze an einer Mauer oder an einem Ort fest [sei in Stellung gegangen]: nicht dass die einzelnen Personen des Heers dort festsäßen [in Stellung gegangen seien], sondern einer aus dem Heer.“ (Josc. 116f.). Das gegliederte Ganze des Heeres ist die Spezies Mensch, der Ort ist eine individualle Form: Nur ein Teil des Heeres (ein einzelner Soldat=eine einzelne Portion der Spezies) wird durch diese Form geprägt, berührt diese Form etc.

116 | K OLLEKTIVITÄTEN „Ist eine Spezies nichts anderes als das, was sich aus vielen konkreten Dingen [ex multis essentiis, d.h. aus den vielen Portionen der Art-Materie] zusammenfügt, so wird sich eine Spezies genau so oft wie jene Zusammenfügung verändern. Diese verändert sich jedoch zu den einzelnen Zeiten. Nehmen wir z.B. an, [die Spezies Mensch bzw.] das Menschentum bestünde nur aus zehn konkreten Dingen und es würde dann momentan ein Mensch geboren, so würde sich augenblicklich ein anderes Menschentum herausbilden.“ (Josc. 120)

Wenn eine Spezies ein bestimmtes Ganzes von Vielem ist, dann müsste sich die Spezies jedes Mal verändern, wenn Elemente hinzukommen oder wegfallen, – was den Begriff der Spezies destabilisieren und damit unbrauchbar machen würde. Joscelin könnte dagegenhalten: Sofern die neu hinzukommen Elemente den schon existierenden Elementen ähneln, ist die Konsistenz des Ganzen offenkundig gewahrt; ebenso unterminiert der Wegfall von Elementen nicht die Ähnlichkeit der fortbestehenden Elemente, die Konsistenz des Ganzen bleibt also auch insofern intakt. So aber antwortet Joscelin nicht; vielmehr bringt er in seiner Entgegnung ein anderes Kriterium ins Spiel. Bevor das ausgeführt wird, zunächst der zweite Einwand: Wenn die Spezies mehreren konkreten Einzeldingen „materiell innewohnt“, als Materie ihrer individuellen Form fungiert und aufgrund dessen von den Einzeldingen auch prädiziert werden kann; und wenn es „zutrifft zu sagen, dass alles, was in diesem Sinne prädiziert wird, eine Spezies ist, so wird es [...] nicht nur eine einzige Spezies Menschentum geben, sondern viele. Nehmen wir an, es gäbe nur zehn Träger des Menschentums, die diese Spezies ausmachen. Ich sage, dass fünf von ihnen die eine Spezies und fünf die andere sind. Denn dieses aus fünf Zusammengesetzte wird prädiziert, das heißt wohnt materiell mehrerem, das heißt fünf Individuen inne, die eben von diesem materiell bestimmt werden; und in demselben Sinne ist es bei dem, was sich aus fünf anderen ergibt.“ (Josc. 121)

Der Einwand ist klar. Joscelin könnte wieder dagegenhalten: Teilmengen einer Spezies bilden keine eigene Spezies; dass es sich in dem Einwand um bloße Teilmengen handelt, wird aus der Tatsache deutlich, dass sich die Elemente der einen Teilmenge untereinander ebenso ähneln wie den Elementen der anderen Teilmenge; also gibt es nur eine echte Spezies, nicht zwei. Aber auch hier antwortet Joscelin nicht unter Verweis auf das Ähnlichkeitskriterium. Sondern er antwortet unter Verweis auf ein genetisches, auf die Hervorbringung der Spezies als Ganzes von Vielem gerichtetes Kriterium. So weist er darauf hin, das Gesamt der portionierten Art-Materie sei eine „Natur“. Was heißt das?

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„Als „Natur“ bezeichne ich jegliches, das gegenüber allem, was nicht dieses oder von diesem ist, eine verschiedene Herkunft [creatio] besitzt – wie z.B. Sokrates gegenüber allem, was nicht Sokrates ist, eine verschiedene Herkunft besitzt – und zwar ganz gleich, ob es sich um ein einzelnes Ding oder mehrere handelt. Ebenso hat auch die Spezies Mensch gegenüber allen Dingen, die nicht diese Spezies oder ein konkretes Ding aus dieser Spezies sind, eine verschiedene Herkunft. Doch trifft das nicht auf jede beliebige Ansammlung aus einer bestimmten Anzahl von menschlichen Wesen zu [d.h. nicht auf jede beliebige Teilmenge]. Denn diese Ansammlung hat gegenüber den übrigen Dingen, die in dieser Spezies enthalten sind, keine verschiedene Herkunft.“ (Josc. 123)

Damit hat Joscelin das starke intrinsische Kriterium für den Realzusammenhang und also für die Realität des Spezies als Ganzes von Vielem geliefert, sowie das Kriterium für das Vorliegen einer echten Spezies und für die Abgrenzung echter Spezies voneinander: Jede Spezies hat eine nur ihr eigene, daher „spezifische“ Erzeugung, bildet einen „spezifischen“ Erzeugungszusammenhang. Weil sie keinen von der Spezies verschiedenen Erzeugungszusammenhang hat, bildet die Teilmenge einer Spezies keine echte Spezies; aus dem gleichen Grund unterliegt die Spezies auch keiner essenziellen Veränderung, wenn Elemente ab- oder hinzutreten, so dass etwa das Menschentum vor tausend Jahren mit dem gegenwärtigen Menschentum identisch ist, auch wenn seine Elemente nicht dieselben sind wie die heutigen: denn „sie haben keinen verschiedenen Ursprung [creatio, Erzeugung]“ (Josc. 120). Wie die den Angehörigen einer Spezies gemeinsame Erzeugung konkret zu fassen sei, darüber erfährt man von Joscelin allerdings nichts. Arlig legt nahe, dass Joscelin auf ein neoplatonisches Schöpfungsmodell zielt, im Rahmen dessen die irdischen Dinge als nach dem Vorbild göttlicher Ideen Geschaffene vorzustellen sind.74 Damit läge, um dies auf die Lehre von den drei Zuständen des

74 „Joscelin, just as Abelard, assumes that the world divides into natural kinds.These natural kinds are in no way conventional. For theological reasons, conventionalism is neither needed, nor is it attractive. In keeping with their Christian commitments, twelfth-century thinkers assert that the world is a well-ordered creation of God. Many medieval philosophers, furthermore, assent to the neoplatonic doctrine that each occupant of this world is created from a divine paradigm, template, or Idea. All human beings are copies of the divine Idea of human being, all sparrows are copies of the sparrow Idea, and so forth. The individuals copied from these divine templates will be created in a similar manner. Put somewhat anachronistically, they will have the same genetic blueprint, and will thus come to possess resembling features.” (Arlig 2005, 294)

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Universals rückzubeziehen, die Realität des Universals, verstanden mit der Collectio-Lehre als ein Ganzes von Vielem, in der Abkunft jedes einzelnen seiner Elemente von dem selben „Universale ante rem“. Dass sich die Elemente ähneln, wäre dann bloß das Symptom eines tiefer liegenden Zusammenhangs, nämlich des realen Universalisierungsgeschehens, welches die beobachtbaren Ähnlichkeiten erst konstituiert: „It is this similarity in origin that ultimately underwrites qualitative resemblances. Thus, for Joscelin resemblance is not primitive; similarity in creation is the true reason why natural kinds are collections of material essences.” (Arlig 2005, 294) Die Fundierung des Universals vom Realprozess der Universalisierung her, welche die Angehörigen einer Spezies als Population im eigentlichen Sinne ausweist, entspricht dem hier vorgeschlagenen Zugang zum Universalienproblem im Prinzip ziemlich genau. Klar ist aber auch, dass Joscelin kaum, wie Aristoteles, die immanenten Prozesse der Replikation und Vervielfachung von Formen im Blick hat, sondern noch in Kategorien der „Teilhabe“, oder genauer: der „Geteiltheit“ (Portioniertheit) der Art- (oder Gattungs) Materie denkt. Kurz, bei Joscelin taucht ein prozess- bzw. universalisierungstheoretisches Motiv auf, das, obwohl systematisch bedeutsam, nicht zum Fokus seiner Analyse insgesamt wird.

Das gilt auch für den letzten in diesem Zusammenhang zu behandelnden Autor, Nizolius (Mario Nizzoli). Da aber das Motiv der genetischen Konstitution realer Vielheiten bei ihm expliziter als bei Joscelin behandelt wird, lohnt eine kurze Betrachtung. Nizolius (1498-1576), Rhetoriker und Aufbereiter Ciceros (Thesaurus Ciceronianus, Brixen 153575), versucht in seinem philosophischen Hauptwerk De veris principiis et vera ratione philosophandi contra pseudophilosophos (1553) („Vier Bücher über die Wahren Prinzipien und die Wahre Philosophische Methode gegen die Pseudophilosophen“),76 ausgehend von der Kenntnis und den Regeln der klassischen Sprachen und Autoren (Niz. 39-50) eine Neuordnung der Philosophie, und zwar gegen die hergebrachte Dialektik und Metaphysik, namentlich: gegen Aristoteles. Es wird nicht möglich sein, diesem Autor gerecht zu werden.77 Insbesondere kann der Kontext der rhetorischen Tradition, auf die

75 Vgl. Breen 1954. 76 Nizolius 1956. Das Werk wird hier in der Übersetzung von Klaus Thieme (Nizolius 1980) zitiert als „Niz. + Seitenzahl (in ebd.)“. 77 Vgl. die – nur sehr spärlich – vorhandene Literatur: Wesseler 1974; Glossner 1891; Angelelli 1965; 2001; siehe auch das ausführliche Vorwort in: Nizolius 1956.

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Nizolius sich bezieht, nicht aufgearbeitet werden. Vor dem Hintergrund dessen, was oben über Joscelins Collectio-Lehre gesagt wurde, kann aber Nizolius’ Position zur genetischen Konstitution realer Vielheiten trotz aller Selektivität im Zugang nachvollziehbar gemacht werden. Nizolius’ Lehre in De veris principiis unternimmt durchaus nicht den Versuch einer Lösung des Universalienproblems im Sinne der Collectio-Lehre. Vielmehr bezieht sie einen radikal nominalistischen, eigentlich vokalistischen Standpunkt, demzufolge nicht nur die Figur des Universale in res als logische Absurdität zurückgewiesen,78 sondern auch das Vorliegen von durch Abstraktion hervorgebrachten universalen Begriffen und Konzepten bestritten wird (Niz. 337ff.), so dass schließlich nur noch den Stimmlauten der Wörter ein „universaler Charakter“ zukommt (Niz. 116). Trotzdem wirkt die hier interessierende Nizolius’sche Lehre von den realen Vielheiten bzw. diskreten Ganzheiten faktisch wie eine Spielart der Collectio-Lehre, auch wenn sie beansprucht, nicht mehr unter der Bezeichnung „Universalientheorie“ zu firmieren, die sie vielmehr ganz ersetzen zu können glaubt. Was besagt diese Lehre? Nizolius unterscheidet vier „primäre Gattungen“ oder „Seinsweisen“, in denen alle im Universum begegnenden Objekte vorkommen: sie kommen entweder als Substanz oder Qualität79 und entweder als Einzelding oder als Vielheit von Einzeldingen vor. Vielheiten von Einzeldingen „sind z.B. Volk, Heer, Stamm, Teil, Menge, Gattung, Art und überhaupt alles, was man als diskrete Ganzheiten bezeichnet“ (Niz. 57), wobei Nizolius sich überwiegend mit der Gattung als einer Vielheit von Einzeldingen befasst. Den vier Seinsweisen sind vier Wortgattungen zugeordnet, nämlich Substantiv, Adjektiv, Eigenname und Appellativ

78 „Selbst wenn jene realen Universalien, dem Gerede der Pseudophilosophen zufolge, als Gegebenheit begriffen würden, die, in sich von einer Natur, dennoch vielem mittelbar sind, die also trotz ihrer Einheitlichkeit gleichzeitig ganz und ungeteilt in vielen der Zahl nach verschiedenen Arten und Individuen vorhanden sind, selbst wenn sie in diesem Sinne begriffen würden, meine ich doch, dass es derartige Naturen überhaupt nicht geben kann, weil sie weder mit der Natur der Dinge noch mit der Erfahrung der Welt oder der menschlichen Vernunft in Einklang zu bringen sind. Denn wenn es in der Welt irgendetwas gäbe, das von sich selbst vollkommen entfernt und getrennt sein kann, so wäre das genauso absurd, als wäre ein und derselbe Mensch gleichzeitig ganz und ungeteilt in London, Rom, Babylon und anderen räumlich weit voneinander entfernt liegenden Orten.“ (Niz. 116) Vgl. Nizolius’ Antworten auf die Fragen des Porphyrius, die er allesamt verneint, da er die Existenz eines extramentalen Universals – in welcher Form auch immer – strikt ablehnt. (Niz. 120ff.) 79 Nizolius reduziert die Anzahl der Kategorien auf diese zwei. (vgl. Niz. 230-255)

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(Kollektivname) (ebd.), wobei letzteres, das Appellativ, wiederum zerfällt in Kollektivnamen im eigentlichen Sinne (wie: „Volk, Heer, Stamm, Partei, Menge, Gattung, Art“) und Kollektivnamen im übertragenen Sinne (wie: „Mensch, Lebewesen, Baum, Pflanze“), die je nach Gebrauch ein Einzelding oder eine Vielheit bezeichnen können. Betrachtet werden hier Vielheiten von Einzeldingen, die Nizolius als diskrete Ganzheiten anspricht und mit dem Namen „Gattung“ belegt. Diskrete Ganzheiten bestehen für Nizolius aus ihren Teilen80 (den Einzeldingen) und sind abgegrenzt von den kontinuierliche Ganzheiten, welche die Einzeldinge selbst bilden (Niz. 130ff.). Das Wort „Gattung“ bezeichnet eine diskrete Ganzheit, „ein diskretes, aus allen seinen Arten sowie allen unteilbaren und teilbaren Elementen zusammengesetztes Ganzes“ (Niz. 146), wobei dieses Ganze einen von seinem „Laut und Gedanken“ unabhängigen, also extramentalen „Sachzusammenhang“ darstellt (Niz. 148, Kurs. eingef.). Wie oben nach der Konsistenz der portionierten Art-Materie bei Joscelin gefragt wurde, muss jetzt gefragt werden, worin dieser Sachzusammenhang für Nizolius besteht. Nizolius ist mit ähnlichen Einwänden konfrontiert wie oben Joscelin. Wenn die Gattung als Ganzes aus ihren Teilen besteht und diese Teile, wie im Fall einzelner Lebewesen, vergänglich sind, muss dann nicht auch die Gattung ein extrem instabiles Objekt sein? (Niz. 164) Nizolius bestreitet das: „Denn auch wenn es nicht immer {bestimmte} einzelne Menschen und Lebewesen gab, gibt und geben wird, so gab, gibt und wird es doch immer die Gattungen Mensch und Lebewesen {insgesamt} geben.“ (Niz. 94) „Wie jede andere Gattung ist auch die Gattung der Rosen ewig und unsterblich; sie besteht nicht nur aus den gerade gegenwärtigen, sondern auch aus den vergangenen und den zukünftigen Rosen.“ (Niz. 164)

Bedenkt man, dass auch die Gattung Mensch und die Gattung Rose aufhören würde zu existieren, wenn zu irgend einem Zeitpunkt alle einzelnen Menschen oder Rosen unwiederbringlich verschwinden würden (Niz. 62), dann fragt sich, woher Nizolius die Sicherheit nimmt, diese Gattungen seien tatsächlich ewig. Antwort: Diese Sicherheit kommt ihm von der Überzeugung her zu, „die ständige Abfolge und ununterbrochene Regeneration der Einzeldinge“ (Niz. 94, vgl.

80 Nizolius versucht, die Beziehung zwischen der Ganzheit und ihren Teilen einfach zu halten: Ganzheiten bestehen aus ihren Teilen als ihren Konstituenten; Versionen, denen zufolge die Ganzheit vor den Teilen oder in den Teilen existiere, weist er als metaphysische Spekulationen zurück. (Niz. 142-144)

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100) sei so stabil, dass die Gattung dieser Einzeldinge als Ganzes wenn nicht mit ontologischer Notwendigkeit, so doch faktisch bis in alle Ewigkeit fortexistieren werde.81 Anders gesagt: es besteht eine unmittelbare Beziehung zwischen der Ewigkeit der Gattung und der Ewigkeit, dem ewigen Fortgang ihres Reproduktionsprozesses.82 Damit aber scheint der Reproduktionsprozess ein, wenn nicht das konstitutive Moment zu sein, durch das sich die Realität der Gattung bestimmt. Der Sachverhalt wird an Nizolius’ Diskussion der porphyrischen und aristotelischen Definition der Gattung sehr deutlich (Niz. 164-170). Porphyrius gibt in Kapitel 2 der Isagoge eine dreifache Definition der Gattung. Erstens bezeichnet „Gattung“ für ihn „die Gesamtheit {Menge, collectio} derer, die in Bezug auf ein Eines und aufeinander sich in bestimmter Weise verhalten. In diesem Sinne spricht man von der Gattung (dem Geschlecht) der Herakliden wegen des Verhältnisses, das sie durch Einen, Herakles, hat.“ Die zweite Definition bestimmt das Ursprungsprinzip einer Entität als deren Gattung und die dritte Definition fasst die Gattung formell als dasjenige, dem die Arten untergeordnet sind. (Isag. 2) Nizolius affirmiert die erste poryphrische Definition, da sie seinem Verständnis der Gattung als diskreter Ganzheit am nächsten kommt, ohne aber auf die wichtige Qualifikation „...die in Bezug auf ein Eines und aufeinander sich in bestimmter Weise verhalten...“ näher einzugehen. Die anderen beiden Definitionen lehnt er ab. Dabei korreliert Nizolius die porphyrischen Definitionen mit den vier Definitionen der Gattung, die Aristoteles in der Metaphysik (1024a30-b17) gibt und die Nizolius alle ablehnt (Niz. 170). Von entscheidendem Interesse ist aber seine Diskussion der ersten aristotelischen Definition, die als einzige in den porphyrischen Definitionen kein Korrelat findet und folgendermaßen lautet:

81 Die somit konstituierte Ewigkeit der Ganzheiten begründet für Nizolius auch die Möglichkeit von Wissenschaft, die dann ein hinreichend stabiles Objekt hat, ohne sich auf Universalien richten zu müssen. (vgl. Niz. 93-101) 82 Dass die Gattung für Nizolius gleichermaßen die vergangenen, die gegenwärtigen und die zukünftigen Einzeldinge umfasst bzw. dass die zeitlich weit auseinander fallenden Elemente (oder Teile) dennoch derselben Ganzheit angehören, liegt dann genau an der „ununterbrochenen Regeneration“, dem nicht abreißenden Reproduktionsprozess, der den Realzusammenhang der Elemente herbeiführt. Dass auch die zukünftigen Elemente der Gattung zugehören, setzt voraus, dass es zukünftige Elemente überhaupt geben wird. Erklärt man die zukünftigen Elemente für der Gattung zugehörig, gründet dies also in nichts anderem als in der Erwartung, dass der Reproduktionsprozess tatsächlich weitergehen werde.

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„Gattung, Geschlecht wird verwendet [...] wenn kontinuierliche Entstehung von Artgleichem gegeben ist, z.B. sagt man „so lange das Menschengeschlecht besteht“, d.h. so lange die Entstehung der Menschen kontinuierlich fortgeht.“ (Met. 1024a30-2) Nizolius kommentiert: „Dagegen halten wir die von Aristoteles in der „Metaphysik“ an erster Stelle gegebene Gattungsweise (Gattung sei die beständige Erzeugung von gleichartigen Dingen) für falsch, weil die Gattung nicht die beständige Erzeugung gleichartiger Dinge ist, sondern sich nur auf Grund dieser beständigen Erzeugung erhält. Denn die ständige Erzeugung irgendwelcher Dinge ist etwas anderes als die Tatsache, dass sich die Dinge, um nicht völlig zugrunde zu gehen, durch eine beständige Erzeugung am Leben halten. Jenes bezieht sich nämlich auf die Verwandlung und gewissermaßen die Erneuerung selbst; dieses aber auf eine Menge erzeugter und erneuerter Dinge.“ (Niz. 166)

Nizolius’ Kritik ist etwas unglücklich, weil sie Aristoteles etwas zu sagen unterstellt, dass er tatsächlich nicht sagt. Aristoteles sagt nicht: Die Gattung ist (ontologisch) nichts anderes als die beständige Erzeugung..., sondern er sagt: „Gattung“ wird verwendet (oder, von „Gattung“ wird gesprochen), wenn die beständige Erzeugung... gegeben ist. Damit scheinen die Aristotelische Definition und die Nizolius’sche „Kritik“ faktisch auf das Gleiche zu zielen: Die beständige Erzeugung ist konstitutiv für das Objekt, das mit dem Begriff der Gattung bezeichnet wird und ist daher immer zusammen mit ihm anzutreffen, nämlich mit der diskreten Ganzheit von Vielem. Nizolius richtet sich bloß gegen die Verwechselung von Ursache und Wirkung oder von Prozess und Prozessresultat; er will unter Gattung die diskrete Ganzheit selbst verstanden wissen und nicht den Motor der beständigen Erzeugung, mittels dessen sie sich als ewige in der Welt hält, – obwohl klar ist, dass sie ohne diesen Motor nicht fortexistieren könnte. Wollte man, gegen Nizolius’ ausdrückliche Absicht und Terminologie, seine realen Vielheiten oder diskreten Ganzheiten (Gattungen) als Universalien ansprechen, dann wäre man wieder bei der Fundierung der Universalien vom Realprozess der Universalisierung her angelangt, die oben schon bei Joscelin aufgewiesen wurde. Und nichts spricht dagegen, Universalisierung oder beständige Erzeugung bei Nizolius prinzipiell nach dem aristotelischen Modell der immanenten Replikation von Formen aufzufassen und nicht mehr, wie bei Joscelin, nach einem neoplatonischen Schöpfungsmodell. Allein, Nizolius wird in Sachen der Mechanismen der beständigen Erzeugung selbst nicht explizit. Er weist bloß darauf hin, dass mit Gattungen nicht nur „Familien“ (im Sinne des Geschlechts der Herakliden) gemeint sind; vielmehr bezögen sich „die Gattungen natürlicher, mathematischer und anderer Dinge (z.B. die Gattung der Lebewesen, der Bäu-

2. K OLLEKTIVITÄT UND U NIVERSALISIERUNG | 123

me, der Linien und Dreiecke) auf diese Gattungsweise, und es gibt [...] überhaupt keine wahre Gattung in der Natur der Dinge, die nicht eine Menge und ein diskretes Ganzes wäre.“ (Niz. 166). Wie aber vollzieht sich konkret die beständige Erzeugung bei allen nicht-biologischen Objekten, bei den genannten mathematischen Objekten, bei Artefakten, gar bei kulturellen Merkmalen und Praktiken?83 Nizolius gibt keine Antwort und bleibt damit wie die anderen in diesem Kapitel besprochenen Autoren hinter der Differenziertheit und dem Reichtum des bereits von Platon und Aristoteles für eine Theorie der Universalisierung Erreichten zurück. 2.3.4 Schlussbemerkung Kollektivitäten sind in ihrer replikativen Dimension als Populationen von Entitäten zu verstehen (#8), als reale Vielheiten von Entitäten, die durch Prozesse replikativer Wiederholung zusammenhängen und die sich, als Vielheiten, in der Welt halten, nur solange diese Prozesse fortgesetzt werden. Insofern die Entitäten qua genealogischem Zusammenhang einander ähneln, steht ihre Konstitution im Horizont des Universalienproblems, das hier als Frage nach den Mechanismen der Universalisierung, also der replikativen Wiederholung reformuliert wurde. Die Sichtbarmachtung von Universalisierungsprozessen, die die Universalität der formalen Eigenschaften von Entitäten erst hervorbringen und somit das Durchscheinenlassen der kollektiven Konstitution von Universalien konnte bei Platon und Aristoteles ohne größere Schwiergkeiten gelingen. Weniger deutlich wird die kollektive Konstitution in der Diskursformation des mittelalterlichen Universalienstreits im engeren Sinne. Zwar wurde versucht, die Beachtung des realen Universalisierungsgeschehens in der Lehre von den drei Zuständen des Universals, im Konzept der indifferenten Essenz sowie in der Collectio-Lehre nachzuzeichnen, dort also, wo in der Formation noch am ehesten prozessphilosophische Motive anklingen. Auch wenn diese Lehren und Konzepte als Weiterentwicklung des antiken Diskussionsstands anzusehen sind, bieten sie in Hinsicht auf die Frage nach Prozessen replikativer Wiederholung im Begründungszusammenhang des Universalienproblems aber kaum Fortschritte gegenüber den Texten von Platon und Aristoteles. Im Gegenteil sind diese letzteren, wo es um

83 Letztere würden für Nizolius zur „Gattung der Qualitäten“ gehören; auch für diese muss, dem Begriff der Gattung ent-sprechend, eine kontinuierliche Erzeugung angenommen werden, welche aber dort, wo Nizolius die Gattung der Qualitäten abhandelt (Niz. 249ff., 256ff.), enttäuschenderweise keinerlei Erwähnung mehr findet.

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die Konkretion und Welthaltigkeit der Analyse von Prozessen replikativer Wiederholung geht, unübertroffen. Gerade von der aristotelischen Analyse her ergibt sich ein Szenario von Kollektivitäten als Populationen von Lebewesen, Artefakten und Vermögen, die sich allein mittels Wiederholung und daher als Prozessobjekte in der Welt halten. In Kapitel 3.3.2 werden die Populationen von Vermögen, gefasst als mittels Nachahmung replizierte „kulturelle Formen“, mit Gabriel Tarde näher analysiert. Abschließend gilt es, die Grenzen des vorgeschlagenen Zugangs zum Universalienproblem herauszustellen. So ist klar, dass durchaus nicht „alle [in der Welt beobachtbaren] Ähnlichkeiten Wiederholungen geschuldet“ (GN 38) und dass damit auch nicht alle universalen Phänomene populationistische sind. Ganz im Gegenteil. So ähneln sich zwei Atome eines Elements in einem Maße, in dem sich aus Atomen zusammengesetzte makroskopische Objekte und aristotelisch aus Materie und Form zusammengesetzte Objekte niemals werden ähneln können. Nicht nur die physikalische Materie, sondern überhaupt alle physikalischen Phänomene erreichen einen Grad an Universalität, den die betrachteten biologischen und kulturellen Phänomene niemals werden erreichen können. Diese primäre Ähnlichkeit und Universalität gründet aber nicht auf replikativen Wiederholungen, sondern ist völlig anderen Ursprungs und hat daher eine ganz andere Struktur. Nach dem Standardmodell zeitgenössischer Kosmologie haben alle physikalischen Phänomene zwar einen gemeinsamen Ursprung, durchlaufen aber keine gemeinsame Geschichte in dem spezifischen Sinne, dass sie genealogisch zusammenhängen würden. Das ist aber das Kriterium für das Vorliegen von Populationen von Objekten. Somit sind die physikalischen Phänomene zwar universelle, nicht aber populationistische Phänomene. Paradoxerweise führte die Auslassung dieser Klasse von Universalphänomenen nicht, wie vielleicht zu erwarten gewesen wäre, zu größeren systematischen Problemen und erforderte es nicht, wichtige Aspekte der Quellen auszublenden. Denn die behandelten Texte thematisieren physikalische Phänomene ebenfalls nicht im Zusammenhang der Universalienproblematik.84 Genauer: das Motiv der physischen Materie taucht zwar seit Platon in diesem Zusammenhang auf, denn Materie ist das Aufnehmende der sich universalisierenden Formen. Sie wird aber nicht als universale angesprochen, weil sie als selbst ungeformte aufgefasst wird und weil die ihr zukommenden Eigenschaften unbezüglich sind auf die Replika-

84 Eine wichtige Ausnahme ist Aristoteles’ Diskussion der Mondfinsternis als eines hochgradig regulären, daher allgemeinen Phänomens in der Zweiten Analytik (75b3336; 87b39-88a8; 89b36-90a34). Dieses Beispiel ist bei genauerem Hinsehen so verwickelt, dass seine Analyse hier den Rahmen sprengen würde. (vgl. Byrne 1997, 88-92)

2. K OLLEKTIVITÄT UND U NIVERSALISIERUNG | 125

tion von Formen. Daher auch fällt die Universalität von Materien und ihren Eigenschaften aus der vorliegenden Theorie der Kollektivität heraus (siehe aber Kap. 4.2.2, S. 328f.).

3. Kollektivität, Probabilität und Statistik

Die auf den ersten Blick eklektisch anmutende Zusammenstellung der Universalienproblematik mit den quantitativen Methoden der Statistik und Wahrscheinlichkeitsrechnung wurde in der Einleitung insoweit plausibilisiert, als festgestellt wurde, beide teilten m.E. den gleichen Gegenstand, seien nämlich gleichermaßen, wenn auch auf historisch, epistemologisch und methodisch ganz verschiedenen Niveaus, mit quantitativen bzw. Massenerscheinungen befasst. Die Tatsache, dass beide den gleichen Gegenstand haben, wird teils verstellt vom phänomenalen Kontrast im Erscheinungsbild der historischen Episteme, den insbesondere die mathematisch-probabilistische Instrumentierung der Statistik im Vergleich mit den logisch-argumentativen Methoden der antiken und scholastischen Philosophien des Universalen hervorruft. Die gegenwärtige statistische Praxis ist mittelbares Resultat der etwa auf die 1830er Jahre datierbaren historischen Konvergenz einer Wahrscheinlichkeitstheorie, die im 17. Jahrhundert an Fragen des Glücksspiels in Grundzügen entwickelt wurde und Anfang des 19. Jahrhunderts ihren Beitrag zur physikalischen Messtheorie leistete, und einer zunehmend administrativ organisierten quantitativen Erfassung von Bevölkerungen in ihren geographischen, reproduktiven, ökonomischen etc. Aspekten, die im 18. Jahrhundert im Rahmen von Projekten der Rationalisierung des Regierungshandelns der frühkapitalistischen Staaten Europas (besonders in England, Frankreich, Deutschland) initiiert wurde und sich in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts in den Gründungen staatlicher statistischer Ämter verfestigte. Im Werk Adolphe Quetelets (1796-1874) laufen beide Stränge erstmals zusammen, so dass Quetelet unter Rückgriff auf wahrscheinlichkeitstheoretische Überlegungen gesellschaftsstatistische Daten als Gesetzen unterliegend und statistische Agglomerate als Ausweis der Realität gesellschaftlicher, vom Tun der Individuen abgehobener Entitäten sui generis glaubte interpretieren zu können. Die mathematische Statistik im engeren Sinne hingegen verdankt Quetelet nicht viel, sondern entwickelte ihre Methoden zur Evaluation statistischer Samples im späten 19. und der

128 | K OLLEKTIVITÄTEN

ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts so weiter, dass sich „die Sprache der Statistik [heute] auf klar formalisierte synthetische Begriffe [stützen kann]: Mittelwerte, Standardabweichungen, Wahrscheinlichkeit, Äquivalenzklassen, Korrelation, Regression, Stichproben, Nationaleinkommen, Schätzungen, Tests, Residuen, Maximum-Likelihood-Methode, simultane Gleichungen.“ (Desrosières 2005, 2)1 Es ist weder möglich noch wäre es zielführend, dieses Repertoire formalisierter Begriffe und Methoden in den folgenden Überlegungen zu Kollektivität und Statistik auch nur annährend auszuschöpfen. Stattdessen werden bloß einige Grundbegriffe auf rein konzeptuellem Niveau behandelt, was den genannten phänomenalen Kontrast unmittelbar abmildert und es erlauben wird, auch den Sachzusammenhang von Universalienproblematik und quantitativen Methoden in Grundzügen herauszuarbeiten. So lässt sich argumentieren, es gebe – vor und neben dem epistemologischen und administrativen Dispositiv, in dem Statistik im 18. und 19. Jahrhundert entwickelt wird und sich als Methode konsolidiert – ein statistisches Moment jeder Form von Erfahrungsbildung, das im Nexus von Prozessualität und Gedächtnis situiert sei. Der Sachverhalt lässt sich in aller Schlichtheit wie folgt umreißen: Entitäten sind in dem, was sie „sind“, charakterisiert durch das, was sie „tun“, durch ihren Prozess. Unter dieser Prämisse ist es nicht möglich, eine Entität, eine Person etwa,2 zu „kennen“, wenn man nicht weiß, was sie tut, wie sie sich verhält. Erste Strategie zur Erlangung von Kenntnissen bezüglich der Person könnte dann die Narration, die Nacherzählung ihres Prozesses sein. Aber es ist fraglich, ob die Narration die Person schon in dem erfasst, was sie „ist“. Nimmt man eine hypothetische Person an, die sich in dem, was sie tut, an keiner Stelle wiederholt, dann scheint die Narration ewig nachvollziehend fortfahren zu müssen, ohne je dem näher zu kommen, was die Person „ist“. Eine solche Annährung scheint vielmehr zu erfordern, dass die Person sich in ihrem Prozess wiederholt. Dann kann ein Beobachter dazu übergehen, die Narration selektiv und im Modus des Beispiel-Gebens auf Episoden zu richten, die charakterisieren, welches Verhalten für die Person überhaupt oder unter bestimmten Bedingungen typisch (häufig anzutreffen), und umgekehrt, welches Verhalten für sie untypisch (selten anzu-

1

Zur Geschichte von Wahrscheinlichkeitstheorie und Statistik vgl. Daston 1995; Desrosières 2005; Gigerenzer et al. 1990; Hacking 1990, 2006; Heidelberger et al. (Hg.) 1983; John 1884; Krüger et al. (Hg.) 1987; Porter 1986; Stigler 1986; Todhunter 1865. Zu Statistik und Regierungsrationalität siehe insbesondere Foucault 1983, 166ff.; 2001, 285ff.; 2005, 166ff.

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Die folgende Kennzeichnung deckt sich wesentlich mit dem, was Aristoteles über „Charakter“ und „Gewohnheit“ von Personen sagt. (vgl. 3.1.1, S. 144ff.)

3. K OLLEKTIVITÄT , P ROBABILITÄT UND S TATISTIK | 129

treffen) ist. Damit liegen schon zwei Momente jedes quantitativen Zugangs vor, nämlich die Klassifikation von abgegrenzten Episoden, Verhaltensweisen, Ereignissen nach Ähnlichkeit sowie die häufigkeitsmäßige Erfassung und Relationierung des mehr oder weniger wiederholt begegnenden Klassifizierten. Klassifikation und quantitative Erfassung mögen im Einzelnen unscharf sein: sobald sie es aber erlauben, ein Handlungsprofil der Person, ein Profil ihres Prozesses zu erstellen, sind sie bereits Teil einer statistischen Praxis im eigentlichen Sinne. Da ein gedächtnisloser Beobachter ein solches Handlungsprofil zu erstellen nicht in der Lage wäre, ist klar, dass die statistische Praxis immer eine Gedächtnisoder Aufzeichnungsoperation involviert, die Spuren des vergangenen Prozesses kontrahiert, präsent hält und aufeinander bezieht. Neben den genannten lassen sich noch weitere Momente statistischer Praxis aus dieser Herleitung entwickeln. So kann ein Beobachter registrieren, dass bestimmte die Person betreffende Episoden, Verhaltensweisen oder Ereignisse in ihrem wiederholten Auftreten in gewissem Umfang an das Vorliegen bestimmter anderer Episoden oder auch bestimmter „Bedingungen“ oder „Umstände“ gekoppelt sind, mit denen sie zusammen oder nacheinander bestehen, kurz, dass sie mit ihnen korreliert oder assoziiert sind. Auch wird ein Beobachter faktisch zumeist nicht den gesamten Prozess einer Person durch ihre ganze Lebensdauer hindurch im Blick haben, sondern wird nur einen Ausschnitt ihres Prozesses, ihr Verhalten unter bestimmten Bedingungen, aus einer bestimmten Perspektive, kennenlernen, also Samples ihres Gesamtprozesses. Dass er von diesen Samples auf das Handlungsprofil insgesamt schließt, ist dann nur mehr oder weniger berechtigt, produziert mehr oder weniger verzerrte Ergebnisse. Jedenfalls: die Klassifikation des Ähnlichen, die Erfassung des Typischen und Untypischen, die Erfassung von Bezüglichkeiten und das induktive Schließen vom Sample auf ein Gesamt erscheinen gleichermaßen als zentrale Elemente jeder vorwissenschaftlichen Form von Erfahrungsbildung wie jeder statistischen Praxis im engeren Sinne.3

3

Vgl. zu den genannten sowie weiteren zentralen Elementen statistischen Denkens Cuzzort/Vrettos 1996, 7-28, denen die Darstellung im Ansatz folgt. Es wäre interessant und lohnend, die Elemente statistischen Denkens im Rahmen einer Rekonstruktion der philosophischen Vorgeschichte der Statistik als wissenschaftlicher Methode aufzuarbeiten, da eine solche Aufarbeitung, im Gegensatz zur wissenschaftshistorischen Aufarbeitung der Geschichte der Wahrscheinlichkeitsrechung und Statistik bisher aussteht. Diese Arbeit kann hier nicht geleistet werden; immerhin wird in Kap. 3.1.1 das aristotelische Wahrscheinlichkeitsdenken als historische Grundlegung des modernen vorgeführt.

130 | K OLLEKTIVITÄTEN

Greift man obige Formulierung wieder auf, Entitäten seien in dem, was sie „sind“, charakterisiert durch das, was sie „tun“, und behauptet man, ihr Tun lasse sich statistisch als Handlungsprofil erfassen, so fragt sich, wie denn dieses Profil dem, was sie „sind“, korrespondiere. Gemäß der in #6 getroffenen Feststellung, dass Prozesse nur unter Einbezug von Entitäten stattfinden und sich die Form ihres Ablaufs genau aus der Beschaffenheit der einbezogenen Entitäten ergibt, ist zu antworten, Entitäten seien, in ihrer je bestimmten Beschaffenheit, grundsätzlich die Potentiale oder Prozessoren ihres durch Wiederholungen gekennzeichneten Prozesses. Erstellt man also das Handlungsprofil einer Entität, dann heißt, sie in dem, was sie „ist“, zu „kennen“, sie in ihrer Potentialität – in ihren Vermögen, ihren Möglichkeiten – zu kennen. Entsprechend umfasst die vollständige Definition einer Entität die Summe dessen, was sie vermag, was (mit) ihr möglich ist: ihr „Sein“ ist genau ihre Potentialität.4 Die Zuschreibung definierender Merkmale, im Fall einer Person etwa Beruf, Familienstand, Charaktereigenschaften etc., hat dann einerseits das statistische Profil ihres vergangenen Prozesses zum Gegenstand, andererseits aber ihre sich durchhaltende Potentialität und damit auch ihren zukünftigen Prozess: die Prädikation von Seinsbestimmungen markiert, wo sie vom vergangenen Prozess her erfolgt, einen Übergang von Erfahrung zu Erwartung. Diese Darstellung ist insofern verkürzend, als sie den Prozess einer betrachteten Person isolierte. Faktisch gilt aber für alle hier interessierenden Belange, dass Prozesse solche sind, die mehrere Entitäten in ihren Ablauf einbegreifen und demnach diesen Entitäten gemeinsame Prozesse sind, also Interaktionen im Sinne von #9. Damit ergibt sich, dass, wenn man das umfassende Handlungsprofil einer Person statistisch erhebt, man faktisch ein Profil ihres Interaktionszusammenhangs erhebt, des durch ihren Prozess „aufgespannten“ Akteur-Netzwerks, dem alle menschlichen und nichtmenschlichen Akteure angehören, mit denen sie mehr oder weniger regelmäßig interagiert. So gesehen ist, wie Bruno Latour feststellt (NSNG 81f.), die Person in dem, was sie „ist“, letztlich durch das Profil ihres Netzwerks und also ihrer Kollektivität charakterisiert. Entspre-

4

Insofern wäre es teils falsch und teils richtig, als Antwort auf die Frage: Wer ist die Person x? auf x konkret zu zeigen. Es wäre falsch, wollte man damit anzeigen, die Person gehe (in dem, was sie „ist“) auf in dem aktuell anwesenden Objekt: denn die Person „ist“ viel eher ein Handlungsprofil als bloß dieses aktuelle Objekt. Es wäre richtig, wenn man damit anzeigen wollte, dass es die Potentialität dieses aktuellen Objekts sei, die das entsprechende Handlungsprofil hervorgebracht habe. In diesem zweiten Sinne zeigen kann aber nur der, der die Person bereits „kennt“, d.h. ihr Handlungsprofil sowie, ihm korrespondierend, ihre Potentialität kennt.

3. K OLLEKTIVITÄT , P ROBABILITÄT UND S TATISTIK | 131

chend kommt ihr die Potentialität zu ihrem Prozess in Wahrheit auch nicht selbst zu, sondern liegt, verteilt, in der Beschaffenheit der Gesamtheit der in der Kollektivität zusammenkommenden Entitäten (Kap. 2.2.2).5 Wo ihre Kollektivität ein mehr oder weniger konsistentes Profil zeigt, deutet sich zumal an, dass die Person mit ihrem Prozess innerhalb einer weitläufigeren, ihr unmittelbares Netzwerk noch übersteigenden Ordnung von Wiederholungen situiert sein könnte. Wenn die (ggf. vorwissenschaftliche) statistische Praxis unter Verweis auf den Nexus von Prozessualität und Gedächtnis eingeführt wird, könnte dem mit dem zutreffenden Hinweis begegnet werden, Statistik erfasse und zähle grundsätzlich Beliebiges zusammen, so z.B. die Bevölkerung eines Landes oder die Häuser einer Stadt. In diesen Fällen bestehe aber kein Bezug zu irgendeiner Form von Prozessualität, handelt es sich hier doch bloß um einen je synchron vorliegenden quantitativen Bestand von Dingen. Der Einwand wäre triftig, wenn es Beobachter gäbe, die nicht raumzeitlich streng lokalisiert sind; – dem ist aber nicht so (#2). Es folgt, dass nur das momentan von Beobachtern erfasst werden kann, was sie unmittelbar umgibt; selbst das unmittelbar Umgebende muss aber, wenn es mengenmäßig über eine minimale Anzahl von Elementen hinausgeht, zählend erfasst werden; seine Erfassung erfordert einen Prozess. Der Prozesscharakter der statistischen Erfassung wird umso evidenter, je weiter das zu Erfassende räumlich verstreut ist: Wenn Mobilität Zeit erfordert (und entsprechend das räumlich Abwesende aus der Perspektive eines situierten Beobachters in dessen Vergangenheit oder Zukunft liegt), dann hat die unterstellte Synchronizität, die Gleichzeitigkeit eines quantitativen Bestands von Objekten keine Wirklichkeit für irgend einen realen Beobachter (#4). So ist der archetypische Sozialstatistiker zunächst einfach ein Reisender durch eine Gesellschaft. Er verwendet seinen Körper bzw. sein Gedächtnis als einen Aufzeichnungsapparat, mittels dessen er das ihm Begegnende registriert, präsent hält und zu statistisch fundierten Gesamteindrücken synthetisiert: „dieser Landstrich ist dicht besiedelt“, „die Leute pflegen dort x zu tun“, „die Region ist wirtschaftlich stark; hauptsächlich wird dort y hergestellt“, „z ist eine gefährliche Stadt“ etc. Wie der obige Beobachter das gewonnene Handlungsprofil der beobachteten Person dafür nutzte, auf die Beschaffenheit des Prozessors dieses Profils – die Beschaffenheit der Person – zu schließen, so nutzt der archetypische Sozialstatistiker das Profil seines Beobachtungsprozesses dazu, auf einen „synchronen“ quantitativen Bestand

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Somit gestaltet sich das hinweisende Zeigen, von dem in der vorstehenden Fn. die Rede war, in Wahrheit auch als das Zeigen nicht auf ein Objekt, sondern immer auf eine Vielheit von Objekten.

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als dem Prozessor seines Beobachtungsprozesses zu schließen: Die Feststellung dieses Bestands ist Resultat der gedächtnismäßigen Kontraktion von Spuren des Beobachtungsprozesses.6 Damit mag der Nexus von Prozessualität und Gedächtnis in der statistischen Praxis plausibilisiert worden sein. Gleichwohl ist die am einzelnen Beobachter orientierte Darstellung noch weit entfernt vom Charakter dessen, was heute als amtliche Sozialstatistik betrieben wird. Solche Statistik zeichnet panoramische Bilder von Bevölkerungen, von Gesellschaften, von „Massen“, indem sie eine Bevölkerung zählt, ihre Reproduktionsrate, Alterstruktur, räumliche Verteilung, Mobilität etc. ermittelt, ihre familialen Lebensformen, ihre Teilung in Qualifikationen, Berufe, Einkommensklassen und Klassenlagen erfasst, ihre wirtschaftliche und Handelsaktivität nachzeichnet, ihre Gesundheit und Kriminalität vermisst, ihre politischen und religiösen Haltungen und Werte, ihre Wissensbestände, ihr Glücksempfinden abfragt etc. Wo der einzelne Beobachter im Perspektivismus seines lokalisierten Prozesses eingeschlossen ist, scheinen die statistischen panoramischen Bilder deperspektiviert zu sein, scheinen von einem Beobachterstandpunkt her entworfen zu werden, der ebenso überall wie nirgends ist. Tatsächlich ließe sich argumentieren, die administrativ betriebene Statistik versuche gerade, den Beobachter aus seiner Situiertheit herauszuheben und einen Blick von nirgendwo oder überall her zu generieren, der stark dem Blick jener unter dem Titel Laplace’scher Daimon geführten „Intelligenz“ ähnelt, die Laplace (Kap. 3.1.2, 3.2.1) im Rahmen eines Gedankenexperiments zum Aufweis des deterministischen Charakters der Welt konstruiert: „Wir müssen also den gegenwärtigen Zustand des Weltalls als die Wirkung seines früheren und als die Ursache des folgenden Zustands betrachten. Eine Intelligenz, welche für einen gegebenen Augenblick alle in der Natur wirkenden Kräfte sowie die gegenseitige Lage der sie zusammensetzenden Elemente kennte, und überdies umfassend genug wäre, um diese gegebene Größe der Analysis zu unterwerfen, würde in derselben Formel die

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Im Verfahren der Erhebung statistischer Stichproben, des Random Samplings, wird, entsprechend, die bestimmte (nämlich eben zufällig gemachte) Beschaffenheit des Beobachtungsprozesses dazu verwendet, evaluierte Hypothesen über die quantitative Beschaffenheit des Prozessors insgesamt aufzustellen: der Prozess fungiert als Detektor des Prozessors. Man „zieht“ Beobachtungen aus einer Bevölkerung, wie man Kugeln aus einer Urne zieht. Der Prozess der Ziehungen erlaubt evaluierte Rückschlüsse auf die Füllung der Urne (bzw. auf die quantitative Beschaffenheit der Bevölkerung insgesamt), d.h. auf die Beschaffenheit des Prozessors dieses Prozesses.

3. K OLLEKTIVITÄT , P ROBABILITÄT UND S TATISTIK | 133

Bewegungen der größten Weltkörper wie des leichtesten Atoms umschließen; nichts würde ihr ungewiss sein und Zukunft wie Vergangenheit würden ihr offen vor Augen liegen.“ (Laplace 1996, 1f.)

Die delokalisierte Objektivität des Blicks dieser Laplace’schen Intelligenz kann als Paradigma des statistischen Blicks begriffen werden (während die Frage des Determinismus hier nicht von Interesse ist). Die in großem Maßstab betriebene amtliche Statistik hebt sich dementsprechend von der erfahrungsmäßigen Statistik lokalisierter Beobachter dadurch ab, dass sie Daten aus häufig sehr großen Raumbereichen und ggf. aus langen Zeiträumen erhebt, dabei in der Klassifikation und Datenerhebung präziser ist, auf materielle (schriftliche) Aufzeichnungsverfahren setzt und in der Akkumulation, Auswertung und Präsentation der Daten auf standardisierte Verfahren zurückgreift. Sie konstruiert auf diesem Weg eine Beobachterposition, welche die jedes einzelnen lokalisierten Beobachters an Genauigkeit und Reichweite klar übersteigt.7 Gleichwohl bleibt die Delokalisiertheit ihres Blicks letztlich ebenso eine scheinbare wie die Laplace’sche Intelligenz eine offenkundig fiktive Figur ist. Genauer: Statistik betreibt natürlich eine Delokalisierung des Blicks, – aber Delokalisierung ist kein Transport ins Nirgendwo, sondern ein kontrahierender Transport von Daten-Spuren an konkrete Orte. So betreibt bereits der genannte Reisende qua Gedächtnis die Zusammenfassung der von ihm durchlaufenen lokalisierten Stationen (Momente der „Datenerhebung“), ohne noch je an Ort und Stelle zu sein: am Ende seiner Reise an-

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Allerdings bleibt sie hinter der Beobachterposition der Laplace’schen Intelligenz zurück, insofern sie die Delokalisierung ihres Blicks erkauft durch die krasse Oberflächlichkeit ihres Zugriffs auf ihre Gegenstände: statt Anfangsbedingungen und Realprozesse vollständig zu erfassen, wird jeweils nur ein einziger interessierender Aspekt betrachtet, ein einzelnes Datum erhoben: die einzige Spur, die der Prozess in der Statistik hinterlässt, ist dieses Datum. Darüber hinaus kann Statistik aus praktischen Gründen häufig nicht wirklich omnipräsent, nicht vollständig delokalisiert sein: da die volle statistische Aufnahme einer Grundgesamtheit oft zu aufwendig ist, beschränkt sich Statistik auf die Erhebung von Samples, um auf die Verhältnisse der Grundgesamtheit zu schließen. Random Sampling kann als eine Art Zwischenstufe zwischen strenger Lokalisiertheit und Omnipräsenz betrachtet werden: die Beobachterposition ist weder lokalisiert noch omnipräsent, sondern sie springt zu beliebigen Orten. Der Durchgang durch den beliebige Ort ist sozusagen die beste Abkürzung auf dem Weg zur Omnipräsenz. Der Preis für diese Abkürzung besteht darin, dass Randomisierung die völlige Auflösung der gesellschaftlichen Topologie betreibt, Raum und regionale Ordnung überspringt und bloß einen deregulierten Zugriff auf atomisierte Ereignisse bietet.

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dernorts konkret lokalisiert, kann er einen Blick konstruieren, der materiell, nämlich mittels Transport von Gedächtnisspuren genau von überall dort herkommt, wo er gewesen ist, und der in diesem präzisen Sinne delokalisiert ist. Auch wenn die amtliche Statistik die Reise des Beobachters in Person durch die Reise medial transportierter Daten-Spuren ersetzt, gilt für sie das Nämliche: ihr Blick kommt von der Mannigfaltigkeit der raumzeitlichen Punkte her, an denen ihre Daten einzeln, Datum für Datum, erhoben wurden. In diesem Sinne ist er delokalisiert; der delokalisierte Blick aber ist wiederum im statistischen Büro lokalisiert, also an dem Ort, an dem alle Daten-Spuren materiell zusammenlaufen, kontrahiert werden; mit der medialen Veröffentlichung der Statistik wird der delokalisierte Blick schließlich transportabel, wird an beliebigen lokalisierten Punkten verfügbar.8 Gängige Bevölkerungs-, Sozial- und Wirtschaftsstatistiken erfassen Kollektivitäten in der Bedeutung von #8 und #9, verstanden als Populationen und Interaktionszusammenhänge, teils unmittelbar, teils aber nur sehr mittelbar. Bevölkerungsstatistiken erfassen menschliche Populationen unmittelbar in ihrem Umfang, ihrer Reproduktion, ihrer räumlichen Verteilung etc.; Industrie- und Handelsstatistiken erfassen ggf. den Umfang der Produktion und die Reichweite der Distribution bestimmter Artefakte, vermessen die Population dieser Artefakte; Sozialstatistiken erfassen ggf. den Umfang, in dem sich Überzeugungen, Wissensformen, Glaubensrichtungen, – also kulturelle Formen als Populationen in menschlichen Populationen verbreitet haben und intergenerational durchhalten (Kap. 3.3). Dagegen werden Interaktionszusammenhänge in gängigen Statistiken meist nicht so unmittelbar erfasst, wie das in der obigen Einführung der Fall war, in der ein Beobachter einer einzelnen Person folgte derart, dass deren Kollektivität sichtbar werden konnte. Vielmehr sind interaktive Wiederholungen in statistischen Klassifikationen und Kategorien meist eher eingehüllt, als dass sie ihren eigentlichen Gegenstand bildeten. Bereits Kategorien wie Wohnsitz, Beruf, Einkommen, Familienstand, Quartalsumsatz etc. deuten auf Ordnungen interaktiver Wiederholung, die ebenso die Grundlage dieser Kategorien bilden wie das Handlungsprofil einer Person die Grundlage der Prädikation von Seinsbestimmungen. Das wird noch deutlicher, wo Statistik Objekte wie Haushalte, Unternehmen, Vereine, Institutionen etc. erfasst, handelt es sich hierbei doch um Objekte, die nichts anderes sind als Zusammenhänge mehr oder weniger geregelt ineinander greifender, wiederholter Interaktionen einer oft großen Anzahl von Akteuren und Objekten, also um Kollektivitäten. Noch lange vor der Frage, wie sich die Statis-

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Das Thema der Kontraktion und Dissemination von medialen (Daten-)Spuren wird in Kap. 4.1.3 mit Bruno Latour näher behandelt.

3. K OLLEKTIVITÄT , P ROBABILITÄT UND S TATISTIK | 135

tik der so klassifizierten Objekte in der Zeit (in statistischen Zeitreihen) quantitativ entweder reproduziert oder verändert, ist das Thema der Wiederholung also schon auf der Ebene der statistischen Klassifikation selbst virulent. So liegt eine Bekräftigung des behaupteten Zusammenhangs von Prozessualität als Wiederholung und Statistik in Folgendem: Statistische Daten sind datiert, sind in einem bestimmten Beobachtungszeitraum oder auf bestimmte Stichtage hin erhoben worden. Daher fragt sich, ob und inwieweit die Resultate einer statistischen Erhebung einen „Stand der Dinge“ zum Ausdruck bringen, oder ob sie bloß historisch kontingente „Schnappschüsse“ darstellen, die keine Rückschlüsse darauf zulassen, was vor und nach dem Beobachtungszeitraum der Fall ist. Die statistischen Methoden als solche sind mit dieser Frage nicht befasst. Vielmehr können, wenn man es überhaupt mit quantitativen Erscheinungen zu tun hat, auch beliebig schwankende, inkonsistente, chaotische Erscheinungen statistisch erfasst werden. Derartige Statistiken allerdings wären über das kontingente, im Beobachtungszeitraum generierte Resultat hinaus nicht informativ. Wären alle Phänomene inkonsistent und chaotisch, gäbe es keine Motivation für das Betreiben von Statistik. Statistik ist faktisch allein dort sinnvoll, wo mindestens in gewissem Umfang statistische Stabilität bzw. konsistente Häufigkeiten in der Zeit tatsächlich angetroffen werden können, wo also die Wiederholungsprozesse weiterlaufen, die jenen „Stand der Dinge“ überhaupt erst konstituieren. Und statistische Stabilität in gewissem Umfang ist charakteristisch auch für chronifizierte Kollektivitäten als Ordnungen replikativer und interaktiver Wiederholung (#5, #8, #9): sinkt die Reproduktionsrate, verschwindet die Population; sinkt die Interaktionsrate, dechronifiziert sich der Interaktionszusammenhang und hat sich, angewiesen auf laufende Performanz, am Ende ganz verflüchtigt. Fragt man ganz allgemein danach, welche Typen von Phänomenen mindestens ein gewisses Maß an statistischer Stabilität aufweisen, findet man einmal solche, von denen es heißt, sie verhielten sich „naturgesetzlich“ und die in den Bereich der Naturwissenschaften (insbesondere der Physik) fallen. Die „Naturgesetzlichkeit“ solcher Phänomene formalisiert und mathematisiert dabei im Grunde bloß deren große statistische Regularität. Weiterhin findet man Phänomene, die als „probabilistisch“ bezeichnet werden und für die man im Ganzen eine beliebig präzise statistische Regularität feststellen kann, ohne dass sie sich im Einzelnen regulär verhielten, für die sich im Einzelfall also keine Regel angeben lässt. Und schließlich findet man eine große und heterogene Klasse von Phänomenen, die sich weder „naturgesetzlich“ verhalten, noch Wahrscheinlichkeiten im strengen Sinne ausprägen, die sich aber doch mehr oder weniger regulär verhalten, so dass ihre Statistik durchaus noch informativ ist und in gewissem Umfang zur Ausbildung von Erwartungen hinsichtlich ihres zukünftigen Verhal-

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tens berechtigt. Streng probabilistische Phänomene bilden einen Spezialfall dieser Klasse, bei dem durch Standardisierung und Normierung ein Maximum an Präzision der Regularität im Ganzen erreicht wird. Mehr oder weniger reguläre Phänomene hingegen lassen bloß „weiche“ Formen der Quantifizierung zu, wie sie etwa im aristotelischen Begriff der Wahrscheinlichkeit gegeben sind (Kap. 3.1.1). Ebenso verhalten sich versicherbare, also versicherungsmathematisch beherrschbare Phänomene meist nur annährungsweise und nicht streng probabilistisch. Die nächsten Kapitel sind überwiegend mit streng oder annährungsweise probabilistischen Phänomenen und Fragen der statistischen Wahrscheinlichkeit befasst. Dabei wird Wahrscheinlichkeitstheorie als Wiederholungstheorie, als Theorie statistischer Stabilität betrachtet. Sie begreift, dass Wiederholungsordnungen irreduzibel in der Dauer existieren (#5), – was für jeden raumzeitlich lokalisierten Beobachter bedeutet, dass diese Ordnungen seine Vergangenheit ebenso „umfassen“ wie seine Zukunft. Statistik ist mit der Aufzeichnung vergangener Wiederholungen, vergangener Häufigkeiten befasst; insbesondere die Theorie der statistischen Wahrscheinlichkeit hingegen zielt auf einen Schluss von vergangenen auf zukünftige Häufigkeiten, auf eine Konversion von Erfahrung in Erwartung, die oben auch als charakteristisch für die Prädikation von Seinsbestimmungen ausgewiesen wurde. Hume macht im Kapitel „Wissen und Wahrscheinlichkeit“ seines Traktats über die menschliche Natur (1739/40) deutlich, dass diese Konversion einer Letztbegründung entbehrt: „Zunächst wissen wir, dass die Annahme, die Zukunft gleiche der Vergangenheit, nicht durch Argumente irgend welcher Art bewiesen werden kann, sondern einzig und allein der Gewohnheit entstammt, die uns nötigt in der Zukunft die uns einmal geläufig gewordene Folge von Gegenständen wieder zu erwarten. Diese Gewohnheit oder Nötigung, die Vergangenheit auf die Zukunft zu übertragen, ist eine ganze und vollkommene [full and perfect].“ (Hume 1989, 183f.)

Der Formalismus der statistischen Wahrscheinlichkeit, das „Gesetz der großen Zahlen“, versucht, die genannte Gewohnheit quantitativ zu fundieren. Dass er ihre Letztbegründung nicht liefern kann, zeigt sich daran, dass die in ihm gelegene Grenzwertbildung, empirisch verstanden, bedeutet, dass man in die Unendlichkeit der Zukunft vorlaufen muss, um absolut sichere Aussagen über die Zukunft (zukünftige Häufigkeiten von Ereignissen) machen zu können. Da es nichts gibt, was temporal „hinter“ dem Unendlichen liegt, wäre die absolut sichere Voraussage keine Voraussage mehr. Dass vorwissenschaftliche Erfahrungsbildung, statistische Wahrscheinlichkeit und schließlich auch Wiederholungsordnungen und

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Prozessobjekte allgemein angesichts der irreduziblen Offenheit des Zukünftigen der Letztbegründung entbehren, heißt aber nicht, dass sie gänzlich unfundiert wären und mindert, wie in den nachfolgenden Kapiteln deutlich werden wird, weder ihren praktischen Wert noch ihre konzeptuelle Stichhaltigkeit. Fragt man abschließend nach dem Zusammenhang von quantitativen Methoden und Universalienproblematik, lässt sich an dieser Stelle sagen: Die Strategie der Behandlung des Universalienproblems bestand darin, die paradoxale Kernformulierung des Universalen als einem Einen-in-Vielen zu entparadoxieren, indem man auf Realprozesse der Universalisierung fokussiert. Es wurde angenommen, dass, wenn man es dabei beließe, gegebene Objekte bloß unter dem Gesichtspunkt ihrer Ähnlichkeit zu betrachten, also im Durchgang durch das Ähnliche Figuren des Universalen zu generieren, ohne diese auf die Realprozesse der Universalisierung, der replikativen Vervielfachung zu beziehen, denen die Objekte ihre Existenz verdanken, das Universale seinem Status nach rätselhaft bleiben müsse. In der Statistik wird ganz ähnlich so vorgegangen, dass aus dem Realprozess etwa einer Bevölkerung gewisse Momente per Klassifikation ausgeschnitten oder eingefasst und in das Format aggregierbarer Daten-Spuren gebracht werden. Entsprechend sind die statistischen Aggregate ähnlich abgehoben von den ihnen zu Grunde liegenden Realprozessen wie die Universalien (in der üblichen Betrachtung) von den Realprozessen der Universalisierung. Das lässt sich der Statistik aber kaum vorwerfen: denn wo die der Universalität zu Grunde liegenden Realprozesse der Universalisierung funktional durch das Kriterium der Form-Replikation gekennzeichnet und als solche gut zu erfassen sind, liegen den statistischen Aggregaten mit der Diversität ihrer Gegenstände auch so diverse Realprozesse zu Grunde, dass es per se keine einheitliche statistische Theorie dieser Prozesse geben kann. Vielmehr unterhält die Statistik als Methode ein flexibles Verhältnis zu den Theorien betreffend die jeweiligen Realprozesse ihrer Gegenstände, toleriert beliebige Theorien und beliebige Formulierungen zu Grunde liegender Gesetze, zu denen ihre Resultate immer wieder auch Anlass geben mögen, ohne aber von denselben in irgend einer Weise abhängig zu sein. In dem Maße, indem es eine einheitliche Theorie nicht gibt, bleibt dann allerdings aber auch der ontologische Status der statistischen Aggregate unklar: „Die Kontroversen [hinsichtlich ihres Status’] lassen sich in zwei Kategorien einteilen, je nachdem, ob sie sich nur auf die Messung beziehen oder ob sie das Objekt selbst betreffen. Im ersten Fall ist die Realität des zu messenden Dings von der Meßtätigkeit unabhängig. Die Realität wird nicht infrage gestellt. Die Diskussion dreht sich um die Art und Weise, in der die Messung erfolgt und um die „Zuverlässigkeit“ des statistischen Prozesses auf der Grundlage der von den physikalischen Wissenschaften oder von der Industrie

138 | K OLLEKTIVITÄTEN gelieferten Modelle. Im zweiten Fall faßt man jedoch die Existenz und die Definition des Objekts als [bloße] Konventionen auf, über die man diskutieren kann. Die Spannung zwischen diesen beiden Standpunkten – der eine betrachtet die zu beschreibenden Objekte als reale Dinge, der andere hingegen als Ergebnis von Konventionen – ist schon seit langem Bestandteil der Geschichte der Humanwissenschaften, ihrer jeweiligen sozialen Anwendungen und der einschlägigen Debatten.“ (Desrosières 2005, 1f.; vgl. ders., 2001)

Erfasst Statistik Realobjekte oder erzeugt sie konventionelle Objekte, die außerhalb der statistischen Verfahren selbst nicht existieren? Diese Frage, die offensichtlich die gleiche Struktur hat wie die Frage, ob Universalen extramentale Realobjekte sind oder nicht, wird nachfolgend berührt einerseits in Kapitel 3.2.3 in der Behandlung Quetelets. Quetelet assoziiert die Figur des statistischen Mittelwerts mit einem explizit platonischen Modell eines sogenannten „mittleren Menschen“, dem als statistisch konstruiertem wie den platonischen Formen eine Art höhere Realität gegenüber allen Einzelerscheinungen im gesellschaftlichen Prozess zukomme. Andererseits findet sich jene statusmäßige Unklarheit auch in der Wahrscheinlichkeitstheorie wieder, in der die Frage nach dem Status des Wahrscheinlichkeitsformalismus’ und seines Bezugs zur Realität der probabilistischen Massenerscheinungen seit seinem Auftauchen im 18. Jahrhundert bis ins 20. Jahrhundert hinein kontrovers diskutiert worden ist. Dabei ist eine signifikante Analogie zwischen den Positionen des mittelalterlichen Universalienstreits und denen betreffend den Status des Wahrscheinlichkeitsformalismus’ zu beobachten, die schon in den Konnotationen des aristotelischen Wahrscheinlichkeitsbegriffs angelegt ist und die in Kapitel 3.1.3 unter Rekurs auf die Figur des Prozessobjekts (#5) aufgeklärt werden soll. Diese statusmäßige Unklarheit besteht in der Wahrscheinlichkeitstheorie, obwohl im 19. Jahrhundert versucht worden ist, ein Modell zu entwickeln, dass beanspruchen kann, die Phänomenen mit probabilistischer statistischer Stabilität zu Grunde liegende Kausalordnung zumindest auf abstraktem oder formalem Niveau zu erfassen: das Modell des Zusammenwirkens von konstanten und akzidentellen Ursachen (Kap. 3.2). Das Modell selbst tendiert zu einer gleichermaßen „frequentistischen“ wie „dispositionalen“ Wahrscheinlichkeitsauffassung, kann aber den „Wahrscheinlichkeitsstreit“ nicht endgültig befrieden. Es ist hier als Beitrag zu einer allgemeinen Wiederholungstheorie von Interesse und kann ebenso rückbezogen werden auf den mit Aristoteles entwickelten Zusammenhang von Potentialität und Wiederholung (Kap. 2.2.2), wie es im Licht des in #10 angedeuteten Zusammenhangs von replikativer und interaktiver Wiederholung interpretiert werden kann.

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3.1 W AHRSCHEINLICHKEITSPROBLEM U NIVERSALIENPROBLEM

UND

Die Annahme, die Reflexion über das Konzept der Wahrscheinlichkeit finde ihr Paradigma in Glücks- bzw. Zufallsspielen, ist nicht treffend. Vielmehr sind es die vorwissenschaftlich in der Welt auftretenden, bloß mehr oder weniger konstanten relativen Häufigkeiten von Ereignissen bzw. Ereignistypen, die für jedes Wahrscheinlichkeitsdenken paradigmatisch sind und von denen, wie oben angedeutet, die Glücks- bzw. Zufallsspiele nur einen wenn auch wissenschaftshistorisch bedeutsamen Spezialfall bilden. Genauer: Bedenkt man, dass im Zentrum des Wahrscheinlichkeitsdenkens die Konversion von Erfahrung in Erwartung steht, dann ist es die Kenntnis dessen, was sich mit großer Häufigkeit oder meistens in bestimmter Weise verhält (sowie, komplementär, was sich mit geringer Häufigkeit oder selten in bestimmter Weise verhält), welche die Ausbildung informativer Erwartungen erlaubt, – während die Erwartung dessen, was sich indifferent mal so, mal so verhält, in vielen Fällen nicht eigentlich informativ ist. Das aristotelische Wahrscheinlichkeitsdenken erfasst diesen Tatbestand, indem es einen Begriff des Wahrscheinlichen als dem Häufigen entwickelt und feststellt, die meisten Regularitäten der natürlichen wie der gesellschaftlichen Welt seien insofern „weiche“ Regularitäten, als sie ein Geschehen beschrieben, das sich nicht immer und mit Notwendigkeit, sondern eben meistens und mit Wahrscheinlichkeit in bestimmter Weise verhalte. Wenn im Folgenden zunächst die Konnotationen des aristotelischen Wahrscheinlichkeitsbegriffs analysiert werden, dann also deshalb, weil in ihm das eigentliche Paradigma des Wahrscheinlichkeitsdenkens greifbar wird. Andererseits handelt es sich um eine Untersuchung aus eigenem Recht, denn diese Konnotationen sind bisher nicht im Zusammenhang erfasst worden. Und schließlich kann somit die relative Kontinuität von aristotelischem und modernem Wahrscheinlichkeitsdenken herausgestellt werden, dessen Untersuchung sich in Kapitel 3.1.2 anschließt. Das systematische Argument dieses Kapitels 3.1 insgesamt setzt die Konnotationen bzw. die divergierenden Positionen hinsichtlich des Status’ des Wahrscheinlichkeitsbegriffs und -formalismus in Analogie mit den respektiven Positionen des Universalienstreits und sucht diese Analogie unter Rekurs auf die Figur des Prozessobjekts zu erklären (Kap. 3.1.3). Daher ist dieses Kapitel nicht so sehr mit der Konkretisierung der Beschaffenheit von Kollektivitäten im Sinne von #8 und #9 befasst, sondern, allgemeiner, mit der Erhellung eben der Figur des Prozessobjekts (#5), dessen objektive Struktur, durch die Jahrhunderte hin-

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durch, sowohl dem Universalienproblem wie dem „Wahrscheinlichkeitsproblem“ eingeschrieben ist. Wer sich für die wahrscheinlichkeitstheoretischen Details nicht interessiert, könnte unmittelbar ab Kapital 3.1.3 weiterlesen. 3.1.1 εἰκός bei Aristoteles Lässt man die Geschichte der Wahrscheinlichkeitstheorie mit ihrer Mathematisierung im 16. Jahrhundert beginnen (Hacking 1990, 11ff.), ist es richtig, das aristotelische Wahrscheinlichkeitsdenken zur Vorgeschichte der Wahrscheinlichkeitstheorie („Prehistory of the Theory of Probabilities“, Sheynin 1974; vgl. Brakel 1976) zu zählen. Betrachtet man dagegen die konzeptuelle Ebene des Wahrscheinlichkeitsdenkens jenseits mathematischer Formalismen und präziser Quantifizierungen, wird man Aristoteles zur Geschichte dieses Denkens selbst zählen müssen. Denn viele der konzeptuellen Aspekte, die später in den verschiedenen Denkschulen betreffend die Natur und den Status des Wahrscheinlichkeitsbegriffes ausgearbeitet werden sollten und die etwa Gillies (2000) und Weatherford (1982) unter dem Titel Philosophical Theories of Probability / Foundations of Probability Theory schematisch darstellen, klingen bei ihm schon an. Zur Analyse dieser Aspekte sollte man sich eingangs mit der Terminologie vertraut machen, die Aristoteles verwendet, um abgestufte Häufigkeiten zu kennzeichnen, also mit Aristoteles’ statistischer Terminologie, und dabei einige den Häufigkeiten zugrundeliegende Modelle erläutern, um dann die drei Hauptkonnotationen seines Wahrscheinlichkeitsbegriffs rekonstruieren zu können. Die folgenden Passagen lassen sich als Fortsetzung der Rekonstruktion der platonischen Charakterisierung des Werdens der irdischen Welt (Kap. 2.1.1) im aristotelischen Text verstehen. Aristoteles’ Terminologie für abgestufte Häufigkeiten von Ereignissen und Sachverhalten findet sich vor allem in seinen biologischen Schriften, allen voran in der Historia Animalium. Emanuele Sgherri (2002), auf den sich die Darstellung anfangs stützt, zeigt, dass diese Terminologie wesentlich eine aristotelische Aneignung von Begrifflichkeiten der hippokratischen Medizin darstellt (ebd., 623), mit der Aristoteles wahrscheinlich über seinen Vater (Nichomachus, Leibarzt des mazedonischen Königs Amyntas III (393-369)) vertraut geworden ist (ebd., 24). Die Medizin als Herkunftsdisziplin gradueller Häufigkeitsbezeichnungen erklärt sich wie folgt: „Ziel der empirischen Medizin ist die praktische Lösung konkreter Probleme allgemeiner und individueller Natur. Die Behandlung eines bestimmten Patienten setzt einen Zugang zu detaillierten und spezifischen Informationen voraus, die auf einer allgemeinen Ebene

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nicht erfasst werden. Die Generalisierungen sind zwar unerlässlich, müssen jedoch mit den Informationen des vorliegenden Falles so wenig interferieren, dass die Behandlung ohne grobe Fehler erfolgen kann. Generalisierungen müssen daher erstens einen der Sachlage angemessenen Spielraum darstellen und ferner einen weiteren Spielraum zulassen und auf ihn hinweisen, in dem die Variationen z.B. des Krankheitsbildes ihren Ausdruck finden können.“ (ebd., 22)

Demnach sind es vor allem praktische, nämlich behandlungstechnische, sowie durch die nur relative Regularität ihres Gegenstands bedingte Erfordernisse, die die Medizin dazu bringen, von der Formulierung allgemeiner Propositionen und Regeln auf eine Häufigkeitsterminologie umzustellen, die in der Lage ist, Abweichungen, Sonderfällen und regionalen Besonderheiten Rechnung zu tragen. Vor diesem Hintergrund systematisiert Sgherri die Häufigkeitsterminologie der Historia Animalium, wobei sich drei Paare komplementärer Häufigkeiten ergeben (ebd., 30): • (ausnahmslos) alle [άπας] – kein • (praktisch) alle [πας] – einige (wenige) [τιυες] • meistens, in der Regel [ώς έπί τό πολύ] – einige [τιυες, έυίοι], manchmal [έυίοτε], selten [σπάνιον…όλίγοι] Um den Verwendungskontext dieser Begrifflichkeiten zu illustrieren, seien zwei Zitate aus der Historia Animalium unmittelbar angefügt: „Die Teich- und Flussfische haben meistens [ώς έπί τό πολύ] schon Keimlinge im Alter von fünf Monate[n], aber alle [άπαντες] laichen im Laufe des Jahres.“ (568a11-13, zit. nach Sgherri 2002, 25) „Die Rüden heben das Bein beim Harnen meistens [ώς έπί τό πολύ] mit sechs Monaten, einige [τιυες] auch erst später, wenn sie schon acht Monate alt sind, und auch schon vor dem sechsten Monat. […] Die Hündinnen setzen sich alle [πασαι] beim Harnen. Doch hoben auch schon einige [τιυες] von ihnen das Bein.“ (574b20-24, zit. nach Sgherri 2002, 27f.).

Wie sich andeutet, hat es die Biologie wie die Medizin meist mit „weichen“ Regelmäßigkeiten zu tun, für die Aristoteles eine statistische bzw. Wahrscheinlichkeitssprache findet, die, ohne exakt zu sein, quantitative Unterschiede im Rahmen einer vorwissenschaftlichen Statistik differenziert artikulieren kann. Zu dieser Differenzierung gehört auch die Evaluation der jeweiligen Statistik in Hin-

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sicht auf ihren Geltungsbereich: was an einem Ort die Regel ist, muss es an einem anderen noch lange nicht sein.9 Sgherri bemerkt, dass, während die übrigen Häufigkeitsbegriffe in Aristoteles’ Schriften zur Naturforschung jenseits der Historia Animalium sowie in seinen philosophischen Schriften nur noch wenig verwendet werden, der Begriff des Häufigen bzw. dessen, was in der Regel geschieht, weiterhin relativ prominent und geradezu als terminus technicus figuriert (Sgherri 2002, 32). Das erklärt sich daraus, dass der Begriff des Häufigen auf ein – wenn auch unvollkommen verwirklichtes – Allgemeines verweist, das für Aristoteles allein Gegenstand von Wissenschaft sein kann (Met. 982a20-26; An. post 73a21f.; 87b38; PA 663b29f.). So gibt sich im statistisch Häufigen die Ordnung der Natur zu erkennen (Sgherri 2002, 32-42), deren Erkenntnis als ersten Schritt die Erkenntnis des Häufigen voraussetzt, bevor man sich daran machen kann, die je wirksamen Ursachen zu analysieren (ebd., 32, 65). Zur Plausibilisierung von Aristoteles’ Vorstellung einer natürlichen Ordnung sollte erinnert werden, was in Kapitel 2.2.3 im Zusammenhang der Ausführungen zu Prozessen der biologischen Reproduktion bei Aristoteles gesagt wurde: Dass die Werdens- und Entstehungsprozesse in der Welt des Endlichen bzw. dessen, was nicht notwendig ist und sich daher auch anders verhalten kann (GC 335a33-b4), auf eine Nachahmung (GC 337a1-7) des Ewigen qua identischer Wiederholung zielen. Gemeint ist die Nachahmung der unendlich-zirkulären Prozesse der Gestirne durch irdische Kreisprozesse (Kreisprozess der Jahreszeiten, Kreisprozess von Wasser und Luft in der Wolkenbildung (GC 338b3-7)), zu denen Aristoteles auch den Prozess der biologischen Reproduktion zählt. (GC 338b7-19).10 Diese Nachahmung resultiert in einer hohen Regularität der Naturvorgänge: „Alle naturhaften Ereignisse vollziehen sich entweder immer so

9

„Die Hündin wirft höchstens zwölf Junge, meistens [ώς έπί τό πολύ] fünf bis sechs. Es ist schon vorgekommen, dass es nur eines war. Die Lakonischen Hündinnen haben meistens [ώς έπί τό πολύ] acht.“ (574b25ff., zit. nach Sgherri 2002, 31)

10 Man kann fragen, ob es sich bei der Generationenfolge wirklich um einen Kreisprozess handelt, da man hier keine Rückkehr zum Anfang beobachten kann; die Anmutung der Zirkularität wird aber intuitiver, wenn man, wie Aristoteles dies tut, an das jahreszeitlich bedingte Entstehen und Vergehen der Lebewesen denkt. Gleichwohl gilt: die auseinander hervorgehenden Lebewesen sind nicht numerisch, sondern nur der Form nach identisch, – im Gegensatz zu den Planeten, die in Vollendung des Zirkels als numerisch identische zum Ausgangspunkt zurückkehren. Die formale Identität der Angehörigen einer Art begründet für Aristoteles, wie oben angedeutet, die Ewigkeit der Arten.

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[άπας] oder in aller Regel so [ώς έπί τό πολύ], von den Ereignissen infolge von Fügung und Zufall aber keins.“ (Phys. 198b33f.; vgl. GC 333b4ff.) Das immer oder in aller Regel sich in bestimmter Weise Verhaltende verweist auf Regimes zugrundeliegender Ursachen: „Der Wert des Allgemeinen liegt […] darin, dass es die Ursache offenbart.“ (An. Post. 88a 5f.) Aristoteles denkt in diesem Kontext vor allem an den Ursachentyp Zweckursache. Zweckursachen sind verantwortlich für den geführten, Kausalität gleichsam in Drainagen einfassenden Charakter der Prozesse, die sie bewirken. Mindestens erscheinen alle abgegrenzten, hochgradig regulären Prozesse so, als ob sie auf dem immer gleichen Weg auf einen immer gleichen Endpunkt zu und also wegen etwas ablaufen würden (Phys. 198b30). Versucht man einen Überblick über die Wirklichkeitsbereiche zu gewinnen, für die Aristoteles die Wirksamkeit von Zweckursachen annimmt, ergibt sich: (1) In Prozessen biologischer Reproduktion wirken Zweckursachen und fallen dabei mit den Formursachen zusammen: „Then what is the cause determining that man comes-to-be from man, that wheat (instead of an olive) comes-to-be from wheat, either invariably or generally? […] The cause […] of the coming-to-be of the things which owe their existence to nature is that they are in such-and-such a determinate condition: and it is this which constitutes the ‘nature’ of each thing.“ (GC 333b12-17)

Die Natur bzw. das Wesen der Dinge ist ihre Form (Met. 1032b3).11 Die Form eines Organismus ist zugleich Form-, Wirk- und Zweckursache des Prozesses seiner biologischen Reproduktion, an dessen Ende ein artgleicher Organismus steht (GC 335b 3-8; vgl. Phys. 198a 23-30). Wo biologische Werdensprozesse regulär sind, konstituieren sie eine Ordnung der Natur, der eine Ordnung der Zweckursachen zu Grunde liegt, die bewirken, dass Prozesse uniform, gemäß der immer gleichen Ablaufschemata auf die immer gleichen Prozessresultate hin ablaufen. (2) Naturprozesse bzw. Prozesse „aus Natur(anlage)“ umfassen nicht nur Reproduktionsprozesse, Prozesse der Form-Replikation, sondern auch naturgemäßes Verhalten, das ebenfalls von Zweckursachen geleitet ist und eine hohe Regularität aufweist. Im Verhalten der Tiere ist das Weswegen die Funktion des

11 „Natur“ und „Wesen“ sind hier synonym, vgl. Met. 1014b37ff.

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Verhaltens oder des Produkts (etwa des Nestbaus, des Netzbaus, vgl. Phys. 199a20-33).12 (3) Jenseits des Naturprozesses ist auch menschliches Verhalten von Zweckursachen geleitet. Im Feld der Kunstfertigkeit, der planenden Vernunft, ist das Weswegen die Kunst (Phys. 196b 22-27), die, als Vermögen, die Form des Produkts in sich trägt und darauf zielt, dieselbe qua Herstellungsprozess im Produkt zu realisieren: „{Bei regulären Erscheinungen} gibt es [manchmal] Fähigkeiten {Vermögen}, die sie hervorbringen, bei diesen (den akzidentellen Bestimmungen) gibt es keine bestimme Kunst oder Fähigkeit; denn von dem, was akzidentell ist oder wird, ist auch die Ursache akzidentell.“ (Met. 1027a7-9)

Obwohl dieses Zitat sich auf Vermögen als Künste bezieht, deutet sich in ihm ein Sachverhalt von allgemeiner Geltung an: Wenn ein von einer Zweckursache geleiteter Prozess nicht nur einmal, sondern immer wieder in bestimmter Weise ablaufen soll, muss sich die Zweckursache als Vermögen für die Wiederholung der Prozesse bereithalten.13 Denn Zweckursachen als solche sind zunächst bloß für den geführten Charakter von Prozessen verantwortlich, nicht für die Wiederholung der Prozesse; sie garantieren nur, dass, wenn die Prozesse ablaufen, sie immer oder meistens in einer bestimmten Weise ablaufen, so dass in der Wiederholung sich das Bild einer charakteristischen Uniformität und Regularität ergibt. Diese Wiederholung aber muss von Potentialitäten oder Vermögen getragen werden; das in Kapitel 2.2.2 schon behandelte Thema des Vermögens wird explizit in zwei Begriffen, die Aristoteles in der Poetik und der Rhetorik zur

12 Aristoteles begegnet dem Einwand, Naturprozesse könnten nicht teleologisch sein, weil nicht beobachtet werden könne, dass sie geplant seien, wie folgt: „Auch die Kunstfertigkeit überlegt nicht mehr hin und her; und wenn die Schiffsbaukunst in dem Holz läge, dann würde sie ähnlich wie die Natur zu Werke gehen. Wenn es also bei der Kunstfertigkeit das „wegen etwas“ gibt, dann auch in der Natur. Am deutlichsten wird das dann, wenn ein Arzt seine Heilkunst auf sich selbst anwendet: so ähnlich geht auch die Natur vor.“ (Phys. 199b27-31) 13 So ist auch das einschränkende „manchmal“ (ἐνίοτε) im Zitat zu verstehen: manchen regulären Erscheinungen liegen bestimmte Kunst-Vermögen zu Grunde (aber alle regulären Erscheinungen sind an das Vorliegen sich durchhaltender Potentialitäten gekoppelt, vgl. Kap. 2.2.2).

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Analyse des Häufigen im Feld menschlichen Verhaltens in Anschlag bringt, nämlich in den Begriffen des Charakters und der Gewohnheit.14 Er formuliert: „aus Gewohnheit [geschieht] das, was man tut, weil man es schon oft getan hat“ . (Rhet.1369b7, zit. nach Aristoteles 2007a) Gewöhnung ist, wie festgestellt (Kap. 2.2.3), ein Modus der Ausbildung menschlicher Vermögen mittels Wiederholung eines Tuns und dessen Kontraktion in einer erworbenen Beschaffenheit (Poet. 1449 b36-39; 1450a19) oder Handlungsdisposition (EN 1103a14-b1). Die durch Gewöhnung hervorgebrachten Handlungsdispositionen können so eingeschliffen oder artikuliert sein, dass kein prinzipieller Unterschied mehr zwischen einer natürlichen und einer erworbenen Disposition besteht: „[D]as, woran man sich gewöhnt hat, geschieht, als sei es schon von Natur aus so geschehen. Die Gewohnheit ist nämlich in gewisser Hinsicht der Natur ähnlich, denn nahe beieinander liegen „oft“ und „immer“, Natur aber bedeutet in etwa „immer“, Gewohnheit „oft“.“ (Rhet. 1370a6-9, zit. nach Aristoteles 2007a) Disposition mittels Gewöhnung und natürliche Disposition rücken sogar noch näher zusammen, wenn man bedenkt, dass Naturgeschehen, anders als hier suggeriert, selbst nicht unbedingt immer, sondern in vielen Fällen ebenfalls nur meistens so und so abläuft. Gemeint ist jedenfalls, dass sich ein Mensch in einer bestimmten Situation meistens seinen Gewohnheiten entsprechend verhalten, in einer Situation x meistens ein Verhalten y an den Tag legen wird. Einen ähnlichen Zusammenhang stellt der Begriff des Charakters her, der mit dem der Gewohnheit für Aristoteles etymologisch zusammenhängt (EN 1103a17f.) und mit ihm sachlich so verbunden ist, dass der ausgebildete Charakter ebenfalls als Produkt von Übung und Gewöhnung erscheint (EN 1103a14b26). Der Charakter des Protagonisten, verstanden als Disposition zur Ausprägung eines bestimmten Handlungsprofils, ist genau Gegenstand von Dichtung in Aristoteles’ Verständnis: „Aufgrund des Gesagten ist auch klar, dass nicht dies, die geschichtliche Wirklichkeit {einfach} wiederzugeben, die Aufgabe eines Dichters ist, sondern etwas so {darzustellen}, wie es gemäß {innerer} Wahrscheinlichkeit oder Notwendigkeit geschehen würde [oder: könnte], d.h. was {als eine Handlung eines bestimmten Charakters} möglich ist. Denn ein Historiker und ein Dichter unterscheiden sich nicht darin, dass sie mit oder ohne Versmaß schreiben […], der Unterschied liegt vielmehr darin, dass der eine darstellt, was geschehen ist, der andere dagegen, was geschehen müsste. Deshalb ist die Dichtung auch philosophischer und bedeutender als die Geschichtsschreibung. Die Dichtung nämlich

14 Diese sind grundsätzlich ähnlich gelagert wie in der vorstehenden Einleitung zu Kapitel 3 das in Relation zu ihrem Handlungsprofil stehende „Sein“ einer Person.

146 | K OLLEKTIVITÄTEN stellt eher etwas Allgemeines, die Geschichtsschreibung Einzelnes dar. „Etwas Allgemeines“ aber meint, dass es einem bestimmten Charakter mit Wahrscheinlichkeit oder Notwendigkeit zukommt, Bestimmtes zu sagen oder zu tun. Dieses {Allgemeine eines Charakters} versucht die Dichtung darzustellen, die {einzelnen} Namen werden dazugesetzt; „Einzelnes“ meint: das, was Alkibiades getan und was er erlitten hat.“ (Poet. 1451a 36ff., zit. nach Aristoteles 2008b)

Dass es „einem bestimmten Charakter mit Wahrscheinlichkeit oder Notwendigkeit zukommt, Bestimmtes zu sagen oder zu tun“, heißt wiederum, dass eine charakterliche Disposition dazu führt, dass ein Mensch in einer Situation x immer oder meistens ein Verhalten y ausführen wird: sein Charakter begründet die Regularität seines Handelns. Dabei ist nochmal festzuhalten, dass das durch Gewohnheit und Charakter, also durch erworbene Vermögen bedingte Handeln für Aristoteles zumeist implizit oder explizit "zielgerichtet" sein wird, – was faktisch ja nur besagt, dass die Vermögen Vermögen zu spezifischen Prozessen sind, die nicht beliebig, sondern meist in bestimmter Weise und auf das gleiche Ende hin ablaufen. Das ist gerade auch angesichts der Engführung von Gewohnheit und (teleologische Prozesse anleitender) Naturanlage plausibel. Das Vermögen zu zielgerichtetem Verhalten bedingt somit den Sachverhalt, dass im Bereich der menschlichen Angelegenheit ebenso wie im Bereich der Naturprozesse die Regularität des Häufigen (ώς έπί τό πολύ) vorherrscht. Dem entspricht, dass Aristoteles als ein zentrales Mittel der Rhetorik (welche in Form von Gerichtsreden, Reden zur politischen Beratung und Festreden (Rhet. 1358b7) genau die menschlichen Angelegenheiten zum Gegenstand hat) die Schlüsse aus dem, was „in den meisten Fällen [ώς έπί τό πολύ] zutreffend“ ist, bestimmt. (Rhet. 1357a 22-33, zit. nach Aristoteles 2007a) Nach Aristoteles wären, wenn allein Zweckursachen das natürliche und gesellschaftliche Geschehen regulieren würden, nur identische Prozesse in der Welt zu beobachten: alle Prozesse bzw. Prozessresultate eines Typs wären so und nicht anders. Sie wären zwar nicht notwendig im Sinne der ewigen Dinge, die sich als identische ohne Unterbrechung durchhalten, aber doch notwendig in dem Sinne, dass wenn sie ablaufen und vorliegen, sie so und nicht anders ablaufen und vorliegen. „Bei den Naturabläufen (gilt) aber das „immer gleich“, außer wenn etwas störend dazwischentritt.“ (Phys. 199b25f.) Aristoteles erläutert diesen Sachverhalt in Analogie zu Prozessen kunstmäßigen Herstellens, die finalistisch sind, aber gestört werden können:

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„Fehler gibt es sowohl bei den Vorgängen gemäß Kunstfertigkeit – da macht ein Schreiber einen Rechtschreibfehler, und ein Arzt vertut sich bei der Verabreichung eines Heilmittels –: also ist klar, dass so etwas auch bei den Vorgängen gemäß Natur eintreten kann. Wenn es also unter den Erzeugnissen gemäß Kunstfertigkeit welche gibt, bei denen das richtige „wegen etwas“ erreicht ist, bei den mißlungenen Dingen aber das „wegen etwas“ wohl versucht, aber verfehlt worden ist, dann dürfte sich das bei den natürlichen Dingen ähnlich verhalten, und Mißbildungen sind Verfehlungen jenes „wegen etwas“.“ (Phys. 199 a33-b5)

Damit führt Aristoteles ein Schema ein, dass abgewandelt auch für das moderne Wahrscheinlichkeitsdenken wichtig werden wird, nämlich das Schema konstante Ursache – akzidentelle Störung. (Phys. 196b10-197a8; Kap. 3.2) Die aristotelische Zweckursache ist die konstante Ursache der identischen Wiederholung von Werdensprozessen, deren Wirken aber gestört und durchkreuzt wird von irregulären Faktoren, also von Faktoren, die selbst ungeordnet sind und die strenge Notwendigkeit des bestimmten Ablaufens von Prozessen abschwächen: diese laufen nur noch meistens so und so ab. Insgesamt wurde somit plausibilisiert: dass der Begriff des Häufigen (ώς έπί τό πολύ) für Aristoteles die Ordnung der Natur zum Ausdruck bringt und daher das besondere Augenmerk des Naturforschers verlangt; dass die Tatsache, dass ein Prozess häufig in bestimmter Form abläuft, als Indiz für das Vorliegen von Zweckursachen zu werten ist; dass Zweckursachen für Aristoteles nicht nur in der biologischen Reproduktion, sondern bei allen Naturprozessen sowie im Bereich des kunstmäßigen Herstellens und der menschlichen Angelegenheiten insgesamt für die hierin beobachte Regularität verantwortlich sind; dass dem wiederholten Ablaufen zielgerichteter Prozesse Zweckursachen als Potentiale zu Grunde liegen müssen; und dass zielgerichtete Prozesse durch akzidentelle Einwirkungen von notwendig und immer so und so ablaufenden zu nurmehr häufig so und so ablaufenden herabgestuft werden. Vor diesem Hintergrund können die drei Konnotationen des aristotelischen Wahrscheinlichkeitsbegriffs analysiert werden, dessen erste genau über das behandelte Konzept der Häufigkeit definiert ist. Dem Begriff der „Wahrscheinlichkeit“ bzw. des „Wahrscheinlichen“ entspricht im aristotelischen Text der Begriff εἰκός, Partizip Perfekt des Verbs ἔοικα, das in seiner Grundbedeutung „ähneln“, „ähnlich sein“ heißt (etymologisch verwandt mit εἰκών, Abbild) und als Konnotation das „sich ziemen“ (den sozialen Erwartungen ähneln) und das „dicht an der Wahrheit sein“ (der Wahrheit ähneln) hat. (Hoffman 2008)

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(1) Das Wahrscheinliche ist das „in der Regel“ oder „häufig“ (ώς έπί τό πολύ) in bestimmter Weise Eintretende. Obwohl nicht unumstritten ist, ob Aristoteles diese Position zugeschrieben werden kann (Brakel 1976, 125; Hoffman 2008, 5, 23; Kraus 2007), wird die Zuschreibung durchaus vertreten. (Grote 1872, 295f.; Madden 1957)15 Sie ist, insbesondere vor dem Hintergrund der empirischen Einführung des Häufigkeitsbegriffs in der aristotelischen Biologie, eigentlich unabweisbar. Aristoteles schreibt: „Das Wahrscheinliche [εἰκός] nämlich ist {das}, was in der Regel [ὡς ἐπὶ τὸ πολὺ] eintritt, nicht schlechthin aber, wie es manche definieren, sondern was hinsichtlich solcher Dinge, die sich auch anders verhalten können, sich so zu dem verhält, mit Bezug worauf es wahrscheinlich ist [ein in Rede stehendes bestimmtes Ereignis und die Frage seines Eintretens], wie sich das Allgemeine zum Besonderen verhält.“ (Rhet. 1357a34, zit. nach Aristoteles 2002b) „Die von der Wahrscheinlichkeit [εἰκός] abgeleiteten Enthymeme [Wahrscheinlichkeitsschlüsse] rühren von Dingen her, die meistens [ὡς ἐπὶ τὸ πολὺ] zutreffen oder zuzutreffen scheinen.“ (Rhet. 1402b14-16, zit. nach Aristoteles 2007a)16 „[W]ovon man weiß, dass es meistens [ὡς ἐπὶ τὸ πολὺ] so geschieht oder nicht geschieht, so ist oder nicht so ist, das ist wahrscheinlich [εἰκός], z.B. der Satz, dass die Neider hassen oder dass die Geliebten lieben.“ (An. pr. 70a 2ff., zit. nach Aristoteles 1995, Bd. 1)

Demnach wird man, wenn man einen Neider antrifft, mit großer Häufigkeit auch finden, dass er hasst; und wenn man einen Geliebten antrifft, wird man mit großer Häufigkeit auch finden, dass er gegenliebt, d.h. es ist wahrscheinlich, dass dies jeweils der Fall ist. Das im Deutschen als Adjektiv oder Adverb verwendete „wahrscheinlich“ deckt sich wie das englische probable / probably und das französische probable / probablement mit dem aristotelischen Wahrscheinlichkeitsbegriff insoweit, als es die hohe Wahrscheinlichkeit signifiziert. „Das Wahrscheinliche“ ist bei Aristoteles immer die hohe Wahrscheinlichkeit; darin unterscheidet es sich vom modernen Wahrscheinlichkeitsbegriff, der alle möglichen Häufigkeiten zulässt. Die geringe Wahrscheinlichkeit, das selten so und so sich Ereignende kann in der aristotelischen Wahrscheinlichkeitsterminologie dann nur negativ, über sein Komplement des Häufigen erfasst werden: „Wovon man

15 Für weitere Literatur siehe Hoffman 2008, 8. 16 Vgl. zum Wahrscheinlichkeitsbegriff bzw. Wahrscheinlichkeitsschluss in der antiken Rhetorik insgesamt: Hoffman 2008; Gagarin 1994.

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weiß, dass es meistens so […] nicht geschieht, so […] nicht ist, das ist wahrscheinlich“ nicht so, z.B. der Neider wird meistens nicht nicht hassen, also nur selten nicht hassen. Auch wenn das Wahrscheinliche (εἰκός) nicht die Skala aller möglichen Häufigkeiten umfasst, ist Aristoteles doch sensibel dafür, dass das, was als wahrscheinlich und damit als häufig gilt, im Einzelnen unterschiedliche absolute Häufigkeiten bezeichnen kann, so dass ein Ereignis unter einem Gesichtspunkt als häufig, unter einem anderen aber als selten erscheinen kann. „[So gibt es] in der Rhetorik ein scheinbares Enthymem, das sich aus dem nicht absolut Wahrscheinlichen, sondern aus dem nur in bestimmter Hinsicht Wahrscheinlichen ergibt. Diese Wahrscheinlichkeit gilt eben nicht absolut, wie auch Agathon sagt: // Man könnte wohl sagen, wahrscheinlich sei gerade dies, / dass viel Unwahrscheinliches den Menschen widerfährt. // Denn manches ereignet sich wider die Wahrscheinlichkeit, so dass auch das, was gegen die Wahrscheinlichkeit ist, wahrscheinlich ist. Wenn dem so ist, wird auch das nicht Wahrscheinliche als wahrscheinlich zu gelten haben. Aber nicht generell, sondern wie auch bei den Eristikern es ein Redetrick ist, das „im Hinblick worauf“, „worauf bezogen“ und das „wie“ beiseite zu lassen, so geschieht es auch hier [in der Rhetorik], weil die Wahrscheinlichkeit nicht allgemein gilt, sondern nur in einer bestimmten Hinsicht.“ (Rhet. 1402a7-17, zit. nach Aristoteles 2007a)

Das dem attischen Tragiker Agathon zugeschriebene Paradox läuft hinaus auf die Aussage, das Seltene sei häufig. Die Aussage verliert ihren paradoxalen Charakter, wenn man sie so versteht, dass es wahrscheinlich (nämlich der Regelfall) ist, dass Menschen in ihrem Leben auch Unwahrscheinliches erleben. So wird man nur wenige treffen, denen nicht schon Zufälle passiert sind (und Zufälle sind per se selten,17 daher unwahrscheinlich). Die Aussage verliert ihren paradoxalen Charakter aber auch dann, wenn man bedenkt, dass das Seltene zwar insgesamt gesehen selten sein mag, dabei aber immer noch seine eigene, nicht zu vernachlässigende Quantität besitzen kann. Zu sagen, dass den Menschen „viele Zufälle“ widerfahren, geht nicht gegen die Intuition. Denn wenn man den Blick auf die Zufälle allein richtet, wird man feststellen, dass ihr quantitativer Umfang ganz erheblich ist, dass es vor Zufällen eigentlich „nur so wimmelt“. Wenn man das Gesamtbild aus der Betrachtung ausklammert, kann das insgesamt gesehen Seltene als häufig und damit als wahrscheinlich gelten; diese Wahrscheinlichkeit gilt dann aber „nicht allgemein“. Dieses letztere Schema lässt sich auf den oben zitierten Fall einer Statistik mit regionalen Abweichungen anwenden: „Die Hün-

17 Vgl. Met. 1025a15; Phys. 196b10-16, 198b33f.; GC 333b4ff.

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din wirft höchstens zwölf Junge, meistens [ώς έπί τό πολύ] fünf bis sechs. Es ist schon vorgekommen, dass es nur eines war. Die Lakonischen Hündinnen haben meistens [ώς έπί τό πολύ] acht.“ Dass Hündinnen acht Junge haben, ist insgesamt selten und damit nicht wahrscheinlich. In Lakonien trifft man diesen Fall dagegen häufig an: hier ist er wahrscheinlich. Die Aussage „Hündinnen haben meistens acht Junge“ ist also nicht an sich falsch. Sie wird falsch – und kann in der Rhetorik zur Irreführung verwendet werden18 –, wenn man verschweigt, worauf sie bezogen ist: Lakonien. Durch das Verschweigen der Bezüglichkeit kommt das Paradox erst zustande, dass das absolut gesehen Unwahrscheinliche das Wahrscheinliche, das Seltene das Häufige sei. Weil es aber nicht an sich falsch ist zu sagen „Die Lakonischen Hündinnen haben meistens acht Junge“, ist klar, dass der Begriff des Häufigen und damit der des Wahrscheinlichen geeignet ist, ganz unterschiedliche absolute Quantitäten, etwa das Häufige im absolut gesehen Seltenen (in der regionalen Ausnahme), legitimerweise zu bezeichnen.19

18 Vgl. zur rhetorischen Vertauschung von Notwendigem, Häufigem und Zufälligem auch: Top. 112b1ff. 19 Dieses Beispiel aus der Biologie erscheint als weniger verwickelt als das Beispiel, das Aristoteles selbst in der Rhetorik anführt zur Erläuterung des obigen Zitats bzw. der Praxis, durch Unterschlagung der Relativität eines Wahrscheinlichen einen falschen Eindruck zu erzeugen. (Rhet. 1402a7-29) Es lautet: Wenn ein schwacher Mensch angeklagt ist, einen starken geschlagen zu haben, sollte sein Verteidiger darauf verweisen, dass es ist nicht wahrscheinlich sei, dass ein schwacher einen starken Menschen geschlagen habe; vielmehr sei das Gegenteil wahrscheinlich. Wenn nun aber ein starker Mensch angeklagt ist, einen schwachen geschlagen zu haben, sollte sein Verteidiger darauf verweisen, dass es nicht wahrscheinlich sei, dass ein starker einen schwachen Menschen geschlagen habe, gerade weil dies als wahrscheinlich erscheinen müsse (und daher vom Starken vermieden worden sei, um dem begründeten Verdacht und der sicheren Verurteilung zu entgehen). Der Starke aber hat Grund zu seiner Vermeidung nur in genau dem Maße, in dem tatsächlich gilt, dass es wahrscheinlich ist, dass der Starke den Schwachen schlägt. Je mehr Starke das Schlagen vermeiden, desto weniger Grund haben sie für diese Vermeidung: denn in diesem Maße wird es immer weniger wahrscheinlich (immer weniger häufig der Fall) sein, dass der Starke den Schwachen tatsächlich schlägt. Dass Starke das Schlagen vermeiden, mag also wahrscheinlich und häufig der Fall sein – plausiblermaßen aber nur dort, wo es insgesamt nicht wahrscheinlich und selten ist. Indem das Argument des Anwalts zur Verteidigung des Starken diese Relativität (diese entscheidende Hinsicht) unterschlägt, erschleicht sie Plausibilität mittels Irre-

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Eine Graduierung des Wahrscheinlichkeitsbegriffs deutet sich in der Rhetorik auch an anderer Stelle an: Es ist nämlich nicht [...] Aufgabe [des Richters], nur aus dem Notwendigen zu urteilen, sondern auch aus dem Wahrscheinlichen; das meint nämlich auch die Formel „nach bestem Dafürhalten“. Folglich genügt es nicht zu widerlegen, dass etwas notwendig ist, sondern man muss widerlegen, dass es wahrscheinlich ist. Dies aber wird sich ergeben, wenn das, was man einwendet, eher „in der Regel“ [µᾶλλον ὡς ἐπὶ τὸ πολύ] eintritt [d.h., wenn es häufiger eintritt und damit wahrscheinlicher ist als das, was widerlegt werden soll.]. Ein solcher Einwand kann auf zweierlei Weise zustande kommen: entweder durch die Zeit, oder durch die Tatsachen, am besten aber durch beides. Wenn sich nämlich etwas öfters [und] auf diese [d.h., dem behandelten Fall entsprechende] Weise verhält, dann ist dies in höherem Maße wahrscheinlich [τοῦτ᾽ ἐστὶν εἰκὸς µᾶλλον] [d.h., dann ist die Widerlegung wahrscheinlicher als die Behauptung]. (Rhet. 1402b 34- 1403a 3, zit. nach Aristoteles 2002b)

Der Einwand muss also nicht zwingend sein, er muss dem behaupteten Sachverhalt nicht einen alternativen Sachverhalt oder Tathergang entgegensetzen, der notwendig und dem Typ nach streng allgemein wäre. Der alternative Sachverhalt muss aber dem Typ nach häufiger und damit wahrscheinlicher sein als der behauptete. Mit dieser Terminologie hat man die Möglichkeit, nicht nur das Wahrscheinliche vom schlichtweg nicht Wahrscheinlichen (Seltenen) abzusetzen, sondern innerhalb des Wahrscheinlichen auch mehr oder weniger Wahrscheinliches zu differenzieren. Wenn man einer wahrscheinlichen Behauptung einen wahrscheinlicheren Einwand entgegensetzt, dann hat man die Behauptung als im jeweiligen Kontext (vergleichsweise) unwahrscheinlich ausgewiesen.20

führung hinsichtlich dessen, was insgesamt wahrscheinlich ist. (vgl. Sgherri 2002, 107ff.; Madden 1957, 170; Weidemann 1987, 179-180) 20 Hinzu tritt im Zitat die Genauigkeit der Übereinstimmung des jeweils behandelten Falls mit dem Typus von Fällen, mit dessen Wahrscheinlichkeit man argumentiert. Wenn etwa der Einwand den behandelten Fall genauer trifft als die Behauptung (der Anklage), dann ist er – bei gleicher Häufigkeit – wahrscheinlicher; denn seine Genauigkeit schließt aus, dass in seiner Häufigkeit Fälle eingehüllt sind, die „an der Sache vorbeigehen“, während umgekehrt nicht ausgeschlossen werden kann, dass die ungenaue Behauptung ihre Häufigkeit durch den Einbezug andersartiger Fälle auf künstliche und unerlaubte Weise aufbläht und sich damit den Anschein der Wahrscheinlichkeit bloß erschleicht.

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Somit ist es zwar richtig, wenn David C. Hoffman bemerkt: „Nowhere does any ancient Greek writer say anything much like ‚something is eikos when it occures more than five out of ten times’”; und wenn er in Hinsicht auf Aristoteles feststellt, dass, selbst wenn man zugestehe, dass dieser sich zu einem häufigkeitsbasierten Wahrscheinlichkeitsbegriff vortaste, gleichwohl gelte: „he is doing so without any of the matematical concepts upon which modern probability is founded“. (2008, 5) Trotzdem ist kaum zu übersehen, dass Aristoteles einen – unter moderner Perspektive vorwissenschaftlichen – Wahrscheinlichkeitsbegriff liefert, der, obwohl das schlechthin Seltene ausschließend, eine Differenzierung oder Graduierung des Wahrscheinlichen zulässt und, indem er Wahrscheinlichkeit über relative Häufigkeiten von Ereignissen definiert, dem modernen frequentistischen Wahrscheinlichkeitsbegriff nahesteht.

(2) Das Wahrscheinliche ist eine quantifizierte Potentialität. Wenn die Wahrscheinlichkeit von Ereignissen als hohe relative Frequenz ihres Eintretens gefasst werden kann und also Wahrscheinlichkeitsaussagen Aussagen über Ereigniswiederholungen sind, dann setzt Wahrscheinlichkeit gemäß #6 und Kapitel 2.2.2 die Existenz von Potentialitäten voraus, diese diese Wiederholungen tragen. Und da der Wahrscheinlichkeitsbegriff in der Fassung von (1) eine wenn auch inexakte Quantifizierung der Wiederholung einschließt, besteht Anlass zu der Annahme, er sei auch geeignet, die Potentialität „in Möglichkeitsgrade zu unterteilen und damit zu messen“. (Weidemann 1987, 183) Diese Annahme soll jetzt erhärtet werden. Da Aristoteles an keiner Stelle seines Werks explizit sagt: das Wahrscheinliche ist eine nähere quantitative Bestimmung des Möglichen, muss der Nachweis indirekt geführt werden. So schreibt Aristoteles in einer oben bereits ausführlicher zitierten Stelle aus der Poetik: „From what we have said it will be seen that the poet’s function is to describe, not the thing that has happened, but a kind of thing that might happen, i.e. what is possible as being probable or necessary [ἀλλ᾽ οἷα ἂν γένοιτο καὶ τὰ δυνατὰ κατὰ τὸ εἰκὸς ἢ τὸ ἀναγκαῖον].“ (Poet. 1451a36-39)21

21 Gewählt wurde hier die Übersetzung von Ingram Bywater (Aristoteles 1908ff., Vol. 11), da sie, als vergleichsweise einfachste, zugleich die überzeugendste ist. Fuhrmann dagegen übersetzt (Aristoteles 2008a): „…daß es nicht die Aufgabe des Dichters ist mitzuteilen, was wirklich geschehen ist, sondern vielmehr, was geschehen könnte, d.h. das nach den Regeln der Wahrscheinlichkeit und Notwendigkeit Mögliche.“ In dieser Übersetzung stellt sich unnötigerweise das Problem, wie denn der – von Führmann

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Das Mögliche, verstanden als die Potentialität eines bestimmten Charakters, einer bestimmten Figur, ist demnach zentraler Gegenstand der dichterischen Darstellung, – aber nicht das Mögliche schlechthin, sondern das Mögliche als das Wahrscheinliche.22 Es stellt sich dar als Konsistenz des Charakters der in der Dichtung zur Darstellung gebrachen Figuren, die macht, dass sich die Figur in einer Situation x auch konsistent und berechenbar, d.h. in der Regel so und so verhält. Das als wahrscheinlich qualifizierte Mögliche beschreibt die zentralen „Neigungen“ oder Handlungstendenzen der Figuren im Gegensatz zu dem, was sie vermögend wären zu tun, tatsächlich aber nur selten tun.23 Ebenso liegt es in

hinzugefügte – Regelbegriff zu verstehen sei. Schmitts oben (S. 145f.) wiedergegebene (Aristoteles 2008b) ist sehr explikativ und insgesamt erhellend, bringt aber den interessierenden Sachverhalt nicht so bündig wie Bywater auf den Punkt. Vgl. für eine alternative Deutung und Übersetzung des zitierten Passus: Kloss 2003. 22 Bzw. als das bloß uneigentlich „möglich“ genannte Notwendige. Dass das Mögliche das Notwendige einbegreift, insofern das notwendig so und so Geschehende auch möglich sein muss, ist intuitiv. Dieses Mögliche wird in der Aristoteles-Forschung üblicherweise als das „einseitig“ Mögliche bezeichnet, im Gegensatz zu dem „zweiseitig“ Möglichen, dass nicht nur Unmöglichkeit, sondern auch Notwendigkeit ausschließt (s.u.). 23 Nicht unähnlich führt Aristoteles an einer Stelle der Rhetorik den Wahrscheinlichkeitsschluss so ein, dass deutlich wird, dass er das Wahrscheinliche als eine nähere quantitative Bestimmung des Möglichen auffasst: „Da weniges von dem, woraus die rhetorischen Deduktionen gebildet sind, zum Notwendigen gehört – die meisten Dinge nämlich, mit denen die Urteile und Prüfungen befasst sind, können sich auch anders verhalten {ἐνδέχεται καὶ ἄλλως ἔχειν} {…} – und weil die Dinge, die sich in der Regel {ὡς ἐπὶ τὸ πολὺ} so verhalten und nur möglich {ἐνδεχόµενα} sind, notwendig aus anderen derartigen (Sätzen) deduziert werden […,] ist klar, dass die (Prämissen), aus denen Enthymeme formuliert werden, {…} zum größten Teil {…} {nur} in der Regel {ὡς ἐπὶ τὸ πολύ} wahr sein werden. Die Enthymeme werden aus Wahrscheinlichem {εἰκότων} und aus Zeichen [formuliert] […]. Das Wahrscheinliche nämlich ist , was in der Regel eintritt...“ (Rhet. 1357a23-33, zit. nach Aristoteles 2002b) Was nicht notwendig ist und sich auch anderes verhalten kann, ist (bloß) möglich. (vgl. Met. 1050b7ff.) Im Bereich des Möglichen gibt es Dinge (Ereignisse), die sich in der Regel so und so verhalten; auf solche Dinge (Ereignisse) beziehen sich die Prämissen von Enthymemen (rhetorischen Schlüssen). Anders gesagt: Enthymeme werden aus Wahrscheinlichem formuliert. Durch diese Engführung von Möglichkeit, Häufigkeit und dem Wahrscheinlichen wird letzteres als ein Bereich des Möglichen ausgewiesen, nämlich als der Bereich des Möglichen, der neben dem Notwendigen zum Gegenstand

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der qualifizierten Potentialität der Hündin, in der Regel 5-6 Junge zu gebären, und nur selten mehr oder weniger (s.o.). Neben dieser Stelle, die unmittelbar die Begriffe der Möglichkeit und des Wahrscheinlichen engführt, gibt es weitere, die den Möglichkeitsbegriff mit dem terminus technicus des Häufigen bzw. in der Regel sich so und so Ereignenden (ὡς ἐπὶ τὸ πολὺ) verknüpfen. Da dieser selbst eine wichtige Konnotation des Wahrscheinlichkeitsbegriffs darstellt, können diese Stellen ebenfalls als Bekräftigung der These vom Wahrscheinlichen als quantifizierter Potentialität gelesen werden: „Nachdem dies geklärt ist, wollen wir weiter bemerken, dass das Möglichsein [ἐνδέχοµαι] auf zwei Weisen gebraucht wird: Einerseits (bei dem,) was in aller Regel [ώς έπί τό πολύ] so kommt und (dabei) die Notwendigkeit nicht erreicht […]. Andererseits (bei dem,) was nicht festliegt, was sowohl so als auch anders (kommen) kann […]. Nichts (davon) findet nämlich aufgrund einer natürlichen Regelmäßigkeit eher so als nicht so statt.“ (An. pr. 32b4-18, zit. nach Aristoteles 2007b)

Der von Aristoteles verwendete Ausdruck für das Mögliche (das Möglichsein) ist hier ἐνδέχοµαι / ἐνδεχόµενον, dessen Konnotation des Möglichseins zusammen mit den anderen Bedeutungen „auf sich nehmen“, „empfangen“, „erlauben, zulassen“ besteht. (Sgherri 2002, 43f.) Sein Verhältnis zu dem zentralen aristotelischen Möglichkeitsterminus δυνατὸν (vermögend / möglich) bzw. δύναµις (Vermögen / Möglichkeit) ist uneindeutig, insofern die beiden teils bedeutungsmäßig zusammenfallen,24 teils das ἐνδεχόµενον verschiedene Konnotationen von δυνατὸν einbegreift,25 teils das ἐνδέχοµαι nur einen spezifischen Möglichkeitstypus signifiziert, nämlich den der „zweiseitigen“ Möglichkeit, – so wie auch im Fall des vorliegenden Zitats. Die zweiseitige Möglichkeit ist eine, die die Möglichkeit zu etwas und zugleich zu seinem Gegenteil umfasst. Da der Begriff ἐνδεχόµενον seit dem 4. Jahrhundert lateinisch meist mit „contingens“ übersetzt worden ist (HWPh, Bd. 4, 1029), wird die zweiseitige Möglichkeit bei Aristoteles noch heute häufig un-

von Schlüssen werden kann (im Gegensatz zu dem Möglichen, das bloß zufällig geschieht, d.h. selten und irregulär ist, vgl. An. post. 87b19-27). 24 Vgl. etwa Met. 1047a19ff., 1050b11-13 und Beere 2009, 288 (Fn.5). Im HWPh Bd. 4, 1028 liest man: „Das Wort hat bei ARISTOTELES meist dieselbe Bedeutung wie δυνατὸν, möglich“. 25 Vgl. An. pr. 25a37-39 und den Kommentar von Ebert und Nortmann in Aristoteles 2007b, 267f.

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ter der Bezeichnung „Kontingenz“ angesprochen und entsprechend übersetzt. Aristoteles definiert sie wie folgt: „Ich meine dabei mit Möglichsein [ἐνδέχεσθαι] und Möglichem [ἐνδεχόµενον] das, was nicht notwendig ist und wodurch, wenn es als eintretend gesetzt wird, sich nichts Unmögliches ergibt. Vom Notwendigen sagen wir nämlich (nur) aufgrund einer Äquivokation, dass es möglich sei.“ (An. pr. 32a17-21, zit. nach Aristoteles 2007b) Dass das Mögliche α nicht notwendig ist, heißt: non-α ist nicht ausgeschlossen; dass das Mögliche α nicht unmöglich ist, heißt: es ist ausgeschlossen, dass α nicht möglich ist. „Mit anderen Worten: non-α kann sein, und auch α kann sein.“ (Aristoteles 2007b, 471) Dieser Möglichkeitsbegriff setzt sich ab von dem in der Metaphysik (1047a24-26) definierten „einseitigen“ Begriff der Möglichkeit (δύναµις), der nicht die Notwendigkeit, sondern nur die Unmöglichkeit des Möglichen ausschließt; wo aber das Mögliche α notwendig ist, dort ist non-α ausgeschlossen: die Möglichkeit umfasst an ihr selbst nicht mehr die Möglichkeit zu ihrem Gegenteil, wird „einseitig“ (vgl. Aristoteles 2007, 492). So hat etwa das Feuer, wenn es brennt, nur die Möglichkeit zu wärmen und nicht die, nicht zu wärmen; während der Arzt die Möglichkeit hat, zu heilen und nicht zu heilen. (Met. 1046b7; vgl. Int. 22b32-23a5 und Kap. 2.2.2) Zurück zum Zitat: der Begriff des zweiseitig Möglichen (bzw. dessen, was sich auch anders verhalten kann) wird dort verwendet sowohl für Dinge (Ereignisse), die sich in der Regel so und so verhalten, als auch für Dinge (Ereignisse), die sich mal so und mal anders verhalten (nicht eher so als so stattfinden). Im letzteren Fall ist die Möglichkeit gänzlich unqualifiziert, sie erlaubt keinerlei Vorhersage über zukünftige Ereignisse; im ersteren Fall dagegen ist die Möglichkeit eine qualifizierte: sie bezeichnet etwas, das nicht bloß schlechthin möglich, sondern das wahrscheinlich ist, weil es in der Regel so und so eintritt. Insofern eine solche Quantifizierung des zweiseitig Möglichen ein bei Aristoteles mehrfach wiederkehrendes Motiv ist (Int. 19a7-22; 19a29-b1), bekräftigt es die These von der Wahrscheinlichkeit als einer quantifizierten Potentialität. Abschließend sei nochmal daran erinnert, dass „Potentialität“ die Konstitution von Entitäten in Hinblick auf ihre zukünftigen Prozesse meint. Für eine einzelne Entität gilt: ihre durchgängig aktuelle Konstitution ist Bedingung dafür, dass sie Prozesse wiederholt ausführen kann bzw. in die wiederholte Ausführung von Prozessen einbezogen werden kann. Etwa der Mantel, von dem Aristoteles an einer viel diskutierten Stelle aus der Lehre vom Satz (Int. 19a7-22) im Zusammenhang der Wahrheitsfähigkeit von Zukunftsaussagen spricht, kann jeden Tag wieder angezogen und getragen werden, zumindest solange er seine Konstitution mehr oder weniger konstant hält (solange er nicht zerschlissen ist). Das wiederholte Tragen des Mangels ist eine im Ensemble von Mantel und Träger

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(und Jahreszeit) gelegene Potentialität, die solange in Performanzen umgesetzt werden kann, bis sie erlischt (z.B. der Mangel zerschlissen oder der Träger des Mantels überdrüssig ist). Dabei kann man davon ausgehen, diese Potentialität werde durch den Wechsel der Jahreszeiten quantitativ so moduliert, dass es im Winter möglich i.S.v. wahrscheinlich ist, dass der Mantel (täglich) getragen werde (er wird meistens getragen), während das im Sommer zwar auch möglich, aber doch unwahrscheinlich ist.26 Die Idee der quantifizierten Potentialität weist jedenfalls voraus auf moderne sog. dispositionale Wahrscheinlichkeitstheorien. (3) Das Wahrscheinliche ist die anerkannte, autorisierte Einschätzung des Häufigen als Prämisse von Wahrscheinlichkeitsschlüssen. Neben den beiden genannten, auf der Ebene der Dinge und Prozesse selbst spielenden Konnotationen des Wahrscheinlichkeitsbegriffs gibt es eine dritte, epistemologische Konnotation des Begriffs, in der „das Wahrscheinliche“ bzw. „wahrscheinlich“ zur Qualifizierung des Wahrheitsgehalts eines Satzes verwendet wird: „A probability and a sign are not identical, but a probability [εἰκὸς] is a generally approved [ἔνδοξος] proposition: what men know to happen or not to happen, to be or not to be, for the most part thus and thus, is a probability, e.g. ‘the envious hate’, ‘the beloved show affection’.“ (An. pr. 70a 3-6, zit. nach Aristoteles 1908ff., Bd. 1)

Mit dem Wahrscheinlichen als der allgemein anerkannten Proposition bzw. Meinung greift Aristoteles auf eine in der Antike – etwa bei Platon und Anaximander (Hoffman 2008, 7f.) – gängige Konnotation des εἰκὸς-Begriffs zurück. 26 In diesem Beispiel sind die Einheiten der Wiederholung die Tage und die Alternativen „Mantel wird getragen“ (α) und „Mantel wird nicht getragen“ (non-α). Das Beispiel findet sich in dieser Form nicht im Text Aristoteles’ (sondern wurde frei supplementiert). In Aristoteles’ eigenem Mantel-Beispiel verhält es sich vielmehr so: Einheiten der Wiederholung sind die (vielen) Mäntel (das generische Objekt Mantel), (α) ist das Auftragen der Mäntel, (non-α) das Nicht-Auftragen, nämlich das Zerschneiden der Mäntel. Wenn man hier sagte, meistens würden die Mäntel aufgetragen und nur gelegentlich würden sie, ohne aufgetragen zu werden, zerschnitten, dann betrifft die Wiederholung nicht den einzelnen Mantel, denn dieser kann je nur einmal entweder aufgetragen oder zerschnitten werden. Sondern die Wiederholung betrifft zunächst die vorgängige Produktion von Mänteln und dann das „Schicksal“ jedes einzelnen Mantels. Hierin deutet sich an, was in Kap. 3.1.3 unter Rekurs auf Richard Leslie Ellis etabliert wird: dass (trivialerweise) Wahrscheinlichkeitsaussagen über das Verhalten (bzw. die Interaktion) generischer Objekte die replikative Vervielfachung dieser Objekte notwendig vorausgeht.

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„Allgemein anerkannt” heißt in der näheren Bestimmung: „Those opinions are ‘generally accepted’ [ενδοξα] which are accepted by every one or by the majority or by the philosophers – i.e., by all, or by the majority, or by the most notable and illustrious of them.” (Top. 100b21-23; vgl. ebd. 104a7-12; 105a34-37) Wenn alle oder die meisten Menschen oder alle oder die meisten Philosophen (Experten) oder die herausragenden unter ihnen eine Meinung vertreten, kann diese als anerkannt gelten.27 Hieran ist bemerkenswert, dass das AllgemeinAnerkannt-Sein zum epistemologischen Kriterium der Wahrheit einer Proposition werden kann nur dann, wenn man allgemeine Anerkennung nicht für einen konventionellen, bloß den (häufig nicht rationellen) Prozess der Meinungsbildung reflektierenden Sachverhalt hält, sondern eine intrinsische Verbindung zwischen Anerkanntsein und Wahrsein unterstellt. Genau das aber scheint Aristoteles zu tun: „Das Wahre [ἀληθὲς] und das dem Wahren Ähnliche [ὅµοιον τῷ ἀληθεῖ] zu sehen ist nämlich Sache ein und derselben Fähigkeit. Zugleich aber sind auch die Menschen für das Wahre von Natur aus hinlänglich begabt, und meistens treffen sie auch die Wahrheit; die anerkannten Meinungen [ἔνδοξα] zu treffen ist daher die Begabung von einem, der in ähnlicher Weise dazu befähigt ist, die Wahrheit zu treffen.“ (Rhet. 1355a14-18, zit. nach Aristoteles 2002b)28

Wenn der Satz: Man trifft vermittels der gleichen Fähigkeit das Wahre wie das dem Wahren Ähnliche, erläutert wird mit dem Satz: Man trifft vermittels der gleichen Fähigkeit das Wahre wie die anerkannten Meinungen (ἔνδοξα), dann ist impliziert, dass die anerkannten Meinungen das dem Wahren Ähnliche (ὅµοιον τῷ ἀληθεῖ) sind, dass sie nicht weit an der Wahrheit vorbeigehen. Damit gibt der εἰκὸς-Begriff in der Konnotation der anerkannten Meinung Durchsicht auf die oben angeführte Kernsemantik ἔοικα – „ähneln, ähnlich sein“: das Wahrscheinliche („Wahr-Scheinende“) ist, als anerkannte Meinung, das dem Wahren Ähnli-

27 Dabei scheint der Status der Sprecher als Kriterium in gewissem Widerspruch zu dem rein quantitativen Kriterium (die meisten Sprecher) zu stehen. Aristoteles schwächt diesen Widerspruch allerdings ab, indem er das Status-Kriterium unter die Bedingung stellt, die Expertenmeinung dürfe der Meinung der „meisten Menschen“ nicht entgegengesetzt sein (Top. 104a7-12), um als anerkannt gelten zu können: das StatusKriterium bleibt also in letzter Instanz dem quantitativen Kriterium untergeordnet. (vgl. Aristoteles 2002b, 258ff.) 28 Vgl. Aristoteles’ optimistische Position bezüglich der „Weisheit der Menge“: Pol. 1281b1-32.

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che (wie es heute auch noch im englischen likely und besonders im französischen vraisemblable anklingt).29 Indem das Wahre im obigen Zitat (An. pr. 70a3-6) eine Proposition ist, die das, was sich in der Regel in bestimmter Weise verhält (also als das Wahrscheinliche im Sinne von (1)), treffend erfasst, und indem das sich in der Regel in bestimmter Weise Verhaltende das ist, was das Notwendige und Ewige imitiert, sich ihm soweit möglich zu verähnlichen sucht, könnte man in diesem Zusammenhang sogar von einer doppelten „Wahrheitsähnlichkeit“ sprechen: Die anerkannte Meinung ähnelt der treffenden (wahren) Einschätzung des Häufigen und das Häufige ähnelt dem Notwendigen und Ewigen. Obwohl „die Menschen für das Wahre von Natur aus hinlänglich begabt“ sind, drückt sich im Begriff der Wahrheitsähnlichkeit aber doch auch aus, dass sie die Wahrheit nicht immer treffen: Selbst die anerkannte Meinung trifft nicht immer die richtige Einschätzung des Häufigen. Aristoteles deutet diesen Sachverhalt in der Rhetorik an, wenn er schreibt: „Enthymeme [Möglichkeitsschlüsse], die aus dem gebildet sind, was in der Regel [ώς έπί τό πολύ] eintritt, und zwar entweder wirklich oder nur scheinbar [δοκούντων], sind die aus dem Wahrscheinlichen“. (Rhet. 1402b14-16, zit. nach Aristoteles 2002b) Die intersubjektive Anerkennung einer Proposition als wahr kann sich demnach als Fehleinschätzung erweisen. Auf dieser Möglichkeit beruht das oben bereits erwähnte „scheinbare Enthymem“, bei dem der Redner seine Zuhörer täuscht, indem er ihnen einen Sachverhalt, der sich nur selten in bestimmter Weise verhält, als einen ausgibt, der sich häufig in bestimmter Weise verhalte. (Rhet. 1402a2ff.) Während das Wahrscheinliche als allgemein anerkannte Proposition einen hohen Überzeugungsgrad hinsichtlich der Wahrheit dieser Proposition einschließt, ist eine gegebene Proposition nicht immer und überall gleichermaßen „allgemein anerkannt“ und wird faktisch nicht für jedes Publikum den selben Grad an Überzeugung einschließen: „Weil nämlich das Überzeugende [τὸ πιθανὸν] für jemand Bestimmtes überzeugend ist – das eine ist unmittelbar durch sich selbst überzeugend und glaubhaft, das andere aber dadurch, dass es durch Derartiges bewiesen zu sein scheint – und weil keine Kunst auf das den Einzelfall Betreffende abzielt, wie die Heilkunst nicht darauf abzielt, was für Sokrates das Gesunde ist oder für Kallias, sondern darauf, was für den so und so Beschaffenen oder für die so und so Beschaffenen (gesund ist)“, so wird auch die Rhetorik „nicht die im Einzelfall anerkannten Meinungen betrachten, wie etwa (das) für Sokrates oder Hippias (Ak-

29 Vgl. Hoffman 2008, 9; Weidemann 1987, 174; Niiniluoto 1987, 160-164.

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zeptable), sondern das für so und so Beschaffene (Akzeptable), wie es auch die Dialektik tut.“ (Rhet. 1356b27-34, zit. nach Aristoteles 2002b, Kurs. eingef.)

Die Einschätzung der Wahrheit einer Proposition bzw. der in der Einschätzung einbegriffene Überzeugungsgrad ist abhängig von der Disposition ihrer Rezipienten. Tatsächlich werden verschiedene Personengruppen auch verschiedene Erfahrungen des Häufigen haben, also dessen, was sich meistens in bestimmter Weise verhält („to happen or not to happen, to be or not to be, for the most part thus and thus“) und sind daher je anders zu überzeugen, indem man an ihre spezifischen Erfahrungen anschließt. Insofern lässt sich mit Christof Rapp von einer „gruppenrelativen Bedeutung der ἔνδοξα“ sprechen (Aristoteles 2002b, 258; vgl. Kraus 2007, 7-9), wobei das Wahrscheinliche als allgemein anerkannte Proposition eben je nur das „Überzeugtsein“ (und nicht jeden beliebigen Überzeugungsgrad) der Gruppe umfasst, – wie auch der unter (1) dargestellte Wahrscheinlichkeitsbegriff nur das „Häufige“ (und nicht jede beliebige Häufigkeit) umfasste; andernfalls könnte sie eben nicht mehr als εἰκὸς, als in einer Gruppe allgemein anerkannt, bezeichnet werden. Wenn Aristoteles in obigem Zitat davon spricht, dass „das eine […] unmittelbar durch sich selbst überzeugend und glaubhaft [ist], das andere aber dadurch, dass es durch Derartiges bewiesen zu sein scheint“, dann deutet sich darin die Rolle an, welche die „anerkannten Propositionen“ in der Rhetorik spielen, – nämlich, Prämissen von Wahrscheinlichkeitsschlüssen zu sein.30 Wahrscheinlichkeitsschlüsse zielen auf einen Glaubwürdigkeitstransfer von den Prämissen auf die Schlüsse. So ist der Satz: „Dieser Mann hasst, denn er ist neidisch“, nicht an sich selbst glaubwürdig. Bezieht man ihn aber auf den unterstelltermaßen allgemein anerkannten Satz: „Wer neidisch ist, hasst [zumeist]“, dann geht die Glaubwürdigkeit der Prämisse auf den Schluss, also auf den Einzelfall über.31 Moderne sogenannte epistemologische oder subjektive Wahrscheinlichkeitstheorien klingen in diesem Modell sowie in gesamten vorstehenden Abschnitt schon an. Es kann festgehalten werden, dass in einer Welt, deren Werden in vielen Aspekten durch die „weiche“ Regularität des „Häufigen“ gekennzeichnet ist, wie eingangs dargestellt, die vorwissenschaftliche Figur des „Wahrscheinlichen“ ganz selbstverständlich ihren Platz findet. Einerseits verweist sie auf dieses Häufige

30 Rhet. 1357a22ff. und insgesamt 1356b35-58a34. Vgl. zum Wahrscheinlichkeitsschluss in der antiken Rhetorik einführend Kraus 2007 31 Beispiel nach An. pr. 70a2ff. Vgl. Weidemann 1987, 176; Madden 1957, 167

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selbst; andererseits kann sie auf der Ebene der Bedingungen des Häufigen, also auf der Ebene der Potentialitäten in Anschlag gebracht werden. Und schließlich lässt sie sich, reflexiv gewendet, in die Analyse (und rhetorische Instrumentalisierung) des Zusammenhangs von Erfahrung und Überzeugung einbringen, der konstitutiv ist dafür, was Akteuren jeweils als wahrscheinlich erscheint. Kurz, es gibt eine „Welt der Wahrscheinlichkeit“ vor der modernen Wahrscheinlichkeitstheorie.32 3.1.2 Moderne Wahrscheinlichkeitstheorien Wie verhält sich die aristotelische zur modernen Wahrscheinlichkeitstheorie? Da deren Geschichte historisch gut aufgearbeitet ist, kann auf eine ausführlichere Darstellung verzichtet und gleich auf die gängige und daher an dieser Stelle bloß aufgerufene Typologie der modernen Interpretationen des Wahrscheinlichkeitsbegriffs hingeführt werden, die später den Vergleich mit Aristoteles ermöglichen wird. (Nagel 1939, Weatherford 1982, Gillies 2000). Am Anfang ist hier also das sogenannte „klassischen“ Wahrscheinlichkeitsparadigma zu betrachten, das seine erste Kanonisierung in Jakob Bernoullis Ars Conjectandi (1713) erfährt und als dessen Kulminationspunkt Simon de Laplaces Essai philosophique sur les Probabilites (1814) gilt, um dann den Bruch des Paradigmas in den 1840er Jahren und die Aufspaltung und Weiterentwicklung der respektiven Positionen im Verlauf des 19. und frühen 20. Jahrhunderts näher zu verfolgen. Der Beginn des spezifisch modernen Wahrscheinlichkeitsdenkens als eigene Diskursformation wird üblicherweise in den 1650er Jahren angesetzt (Hacking 1990, 11ff., 57ff.; Gigerenzer et al. 1990, 1ff.). Eine hervorgehobene Rolle spielt dabei der Briefwechsel Pascals mit Fermat betreffend Fragen des Glücksspiels (1654), dessen Rezeption durch Christiaan Huygens zur ersten monographischen Publikation zur Wahrscheinlichkeitstheorie führte (De ratiociniis in ludo aleae (1657)). Zum Zeitpunkt der posthumen Publikation von Bernoullis Grundlagenwerk Ars Conjectandi (1713) hat sich der Gegenstandsbereich der Wahrscheinlichkeitstheorie bereits deutlich ausgeweitet: nicht nur Glücksspiele wurden nun probabilistisch behandelt, sondern auch die Wahrscheinlichkeit von Beweisen und Zeugenaussagen in Gerichtsverfahren und die Berechnung von Renten anhand von Sterbetafeln (Hacking 1990, 11f. und passim; Gigerenzer et al. 1990, 6). Trotzdem bleibt der Wahrscheinlichkeitsbegriff bei Bernoulli (wie letztlich noch bei Laplace) vom Paradigma der Zufallsspiele geprägt. Bernoulli definiert:

32 Angelehnt an den Titel von Popper 1995; oder auch an Hacking 1990, 200

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„Die Wahrscheinlichkeit ist […] ein Grad der Gewissheit und unterscheidet sich von ihr wie ein Theil vom Ganzen. Wenn z.B. die volle und absolute Gewissheit, welche wir mit a oder 1 bezeichnen, aus fünf Wahrscheinlichkeiten oder Theilen bestehend angenommen wird, von denen drei für das gegenwärtige oder zukünftige Eintreten irgend eines Ereignisses und die übrigen beiden dagegen sprechen, so soll das Ereignis 3/5a oder 3/5 der Gewißheit besitzen.“ (Bernoulli 1999, 230)

Gewissheit ist die Gewissheit des gegenwärtigen oder zukünftigen Eintretens eines definierten Ereignisses (ebd., 229). Objektiv kommt allen Dingen volle „Gewißheit“ zu (ebd.), – an ihnen selbst existieren die Dinge mit voller Notwendigkeit. Subjektiv hingegen kommt vielen Dingen nur ein Grad oder Teil der Gewißheit zu, deren Ermittlung eben als ars conjectandi, Vermutungskunst, zu betreiben ist. Diese besteht darin, die Zahl der möglichen Fälle des Eintretens der Ereignisse sowie ihrer Alternativen zu bestimmen und zu gewichten; dabei wird die Gewißheit in gleiche Teile unterschieden, also in gleich mögliche Fälle (ebd., 240). Dass diese Unterscheidung von Bernoulli zunächst als apriorische Operation gedacht wird, macht deutlich, dass die Herkunft dieses Wahrscheinlichkeitsbegriffs im Bereich der Glücksspiele liegt, da in diesem Fall die Bestimmung gleich möglicher Fälle problemlos vorgenommen werden kann (die beiden Seiten einer Münze, die sechs Seiten eines Würfels, die Anzahl der Kugeln in einer Urne etc.), – zumindest unter der Annahme, das Spielgerät sei nicht manipuliert. Bernoulli versucht, auch die Wahrscheinlichkeit – im Sinne von: Beweiskraft – von Beweisen oder Indizien für bestimmte Sachverhalte nach diesem Schema zu ermitteln (ebd. 238ff.): In welchem Umfang erklärt etwa die bekannte Trägheit meines Bruders die Tatsache, dass er mir lange keinen Brief mehr geschrieben hat? Man kann z.B. drei gleich mögliche Fälle unterscheiden und sagen, in zwei von drei Fällen schreibe ein träger Mensch aufgrund seiner Trägheit seinem Bruder keinen Brief: die Beweiskraft des Beweisgrundes „Trägheit“ wäre dann 2/3. Allerdings ist die Annahme der Gleichmöglichkeit in diesem Beispiel wenig intuitiv, da sie nicht, wie im Fall der Spielgeräte, durch physische, in der beschriebenen Situation selbst gelegene Symmetrieeigenschaften bzw. durch die in der Sache selbst gelegenen Abgegrenztheit diskreter Fälle gestützt wird. Daher fragt sich, wie hier die gleich möglichen Fälle apriorisch, ohne Rückgriff auf Erfahrungswerte überhaupt bestimmt werden könnten. Bernoulli sieht das Problem sehr klar: „Wir sind also dahin gelangt, dass zur richtigen Bildung von Vermuthungen über irgend eine Sache nichts anderes erforderlich ist, als dass wir zuerst die Zahl dieser Fälle genau

162 | K OLLEKTIVITÄTEN ermitteln und dann bestimmen, um wieviel leichter die einen Fälle leichter als die anderen eintreten können. Und hier scheint uns gerade die Schwierigkeit zu liegen, da nur für die wenigsten Erscheinungen und fast nirgends anders als in Glücksspielen dies möglich ist.“ (ebd., 246)

Dies führt Bernoulli dazu, nach einer alternativen Methode zu suchen, um den Grad der Gewißheit betreffend das Eintreten bzw. Vorhandensein von Objekten und Ereignissen quantitativ präzise zu bestimmen: „Ein anderer Weg steht uns hier offen, um das Gesuchte zu finden und das, was wir a priori nicht bestimmen können, wenigstens a posteriori, d.h. aus dem Erfolge, welcher bei ähnlichen Beispielen in zahlreichen Fällen beobachtet wurde, zu ermitteln. Dabei muss angenommen werden, dass jedes einzelne Ereignis in ebenso vielen Fällen eintreten oder nicht eintreten kann, als vorher bei einem gleichen Stande der Dinge beobachtet wurde, dass es eingetreten oder nicht eingetreten ist.“ (ebd,. 247f.)

Kern dieser Methode ist der Rückgriff auf die Erfahrung und die Konversion von Erfahrung in Erwartung. Dass die gemachte Erfahrung eine Erwartung – einen Grad an Gewißheit hinsichtlich des Eintretens zukünftiger Ereignisse – tatsächlich begründet, „muss angenommen werden“ und gilt nur unter der Prämisse, dass der „Stand der Dinge“ der gleiche bleibe. Bernoullis Verdienst ist es, dieses Vorgehen, das im vorwissenschaftlichen Weltzugang ganz üblich ist („alle Menschen“ befolgen es „im täglichen Leben“ (ebd., 248)) und das er bereits in der Logik von Port Royal (1662) vorgezeichnet findet (o.N. 1850, Teil 4, Kap. 16, 358-362),33 einer Mathematisierung zugänglich gemacht zu haben, indem er einen Zusammenhang zwischen der Anzahl der gemachten Erfahrungen bzw. vorgenommenen Beobachtungen und der Genauigkeit des Grades an Gewißheit herstellt, den diese Beobachtungen fundieren. In der Ars Conjectandi beweist Bernoulli die Geltung des sogenannten (schwachen) „Gesetzes der großen Zahlen“, dessen Gehalt er so fasst, dass „durch Vermehrung der Beobachtungen beständig auch die Wahrscheinlichkeit dafür wächst, dass die Zahl der günstigen zu der Zahl der ungünstigen Beobachtungen [z.B. das Verhältnis von Kopf („günstige Beobachtung“) zu Zahl („ungünstige Beobachtung“)] das wahre Verhältnis erreicht, und zwar in dem Maße, dass diese Wahrscheinlichkeit schließlich jeden beliebigen Grad der Gewißheit übertrifft“, – in dem Maße also, dass man das

33 Zur im Umkreis Pascals wesentlich von Pierre Nicole und Antoine Arnauld verfassten Logik siehe: Hacking 1990, 73ff.

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beobachtete Verhältnis „zwischen zwei Grenzen einschließen [kann], welche aber beliebig nahe bei einander angenommen“, d.h. dem wahren Verhältnis als Grenzwert angenähert werden können. (ebd., 249, 250)

Das „wahre Verhältnis“, dem sich der Beobachter durch Wiederholung seiner Beobachtung beliebig nähern kann, wenn der „Stand der Dinge“ insgesamt unverändert bleibt, ist der wahre Grad an Gewißheit, den er hinsichtlich des zukünftigen Vorhandenseins bzw. Eintretens bestimmter Ereignisse erlangen kann. Die Wahrheit des Gewissheitsgrades liegt aber darin, dass es sich mit dem Ereignis dem Typ nach in Zukunft ebenso verhält wie in der Vergangenheit; sie hängt an der Berechtigung der Konversion von Erfahrung in Erwartung. Damit ergibt sich auch, dass, wo der Gegenstand von Bernoullis Definition des Wahrscheinlichkeitsbegriffs in einem „subjektiven“ Faktum zu bestehen schien, nämlich in den mentalen Zuständen, die unter der Bezeichnung „Grad der Gewißheit“ geführt werden, der Sachverhalt jetzt nicht mehr so eindeutig ist. Denn laut Gesetz der großen Zahlen ist dieser Grad an Gewißheit, sofern a posteriori bestimmt, buchstäblich nichts anderes als das in einer langen Reihe von Beobachtungen beliebig genau ausgeprägte (und in Erwartung konvertierte) quantitative Verhältnis der beobachteten Gegenstände selbst. Indem der Bernoulli’sche Beobachter sich zu einem statistischen Aufzeichnungsapparat macht, ist das Ergebnis seiner Beobachtungen nicht „subjektiv“ in dem Sinne, dass es bloß über ihn etwas aussagen würde. Vielmehr sagt es etwas über die extramentale Welt und ihren Prozess aus, in die er sich als Aufzeichnungsapparat so einschaltet, dass idealerweise allein die beobachteten Objekte und Ereignisse und nicht die Disposition des Beobachters und die Beschaffenheit des Aufzeichnungsprozesses sich im Resultat der Aufzeichnung niederschlagen. Der Wahrscheinlichkeitsbegriff zielt damit auf die Erfassung von zwei Typen von Gegenständen gleichermaßen, nämlich einmal auf die Gewissheitsgrade von Beobachtern als mentale Objekte und zweitens auf die relativen Frequenzen von Objekten und Ereignissen, so wie sie sich extramental im Prozess der Welt darstellen. Die strenge Korrespondenz dieser beiden Gegenstandstypen findet, wie Laurraine Daston darlegt (Daston 1995, 188-225), ihre Grundlage im von Locke und Hume inspirierten Rationalitätsideal einer assoziationistischen Psychologie: „This rationality derived from the very way in which the mind operated upon experience to form judgements: normal psychology was both inherently probabilistic and empirical in its working. Experience generated belief and probability by the repeated correlation of sensations which the mind reproduced in associations of ideas. The more constant and frequent the observed correlation, the stronger the mental association, which in turn intensi-

164 | K OLLEKTIVITÄTEN fied probability and belief. Hence, the objective probabilities and the subjective probabilities of belief were, in a well-ordered mind, mirror images of one another.“ (ebd., 197).

Die Pointe dieses Modells besteht wie erläutert darin, dass die „subjective probabilities“ den „objective probabilities“ genau nicht entgegengesetzt ist. Vielmehr bezeichnen sie nur den erfahrungsmäßig kontrahierten Modus eines objektiven Geschehens. Laplace gibt, ein gutes Jahrhundert nach Bernoulli, in seinem Essai philosophique sur les Probabilites eine Wahrscheinlichkeitsdefinition, die der Bernoulli’schen ähnelt34 und übernimmt auch Bernoullis (von Poisson so genanntes und verallgemeinertes) „Gesetz der großen Zahlen“,35 welches er durch das abstrakte Modell einer Kausalordnung zu fundieren sucht, in dem konstante und akzidentelle Ursachen so zusammenwirken, dass sich auf lange Sicht die Wirkungen der konstanten Ursachen durchsetzen und die relativen Frequenzen der Ereignisse auf feste Grenzwerte zustreben lassen (Kap. 3.2). Die strenge Korrespondenz

34 Vgl. Laplace 1996, 3ff.: „Die Wahrscheinlichkeit steht in Beziehung zum Teil zu [unserer] Unwissenheit, zum Teil zu unseren Kenntnissen. Wir wissen, dass von drei oder mehreren Ereignissen eines eintreten muss, doch veranlasst uns nichts, zu glauben, dass eines eher als die anderen eintreten wird. […] Die Theorie des Zufalls ermittelt die gesuchte Wahrscheinlichkeit eines Ereignisses durch Zurückführung aller Ereignisse derselben Art auf eine gewisse Anzahl gleich möglicher Fälle, d. s. solcher, über deren Existenz wir in gleicher Weise unschlüssig sind, und durch Bestimmung der dem Ereignis günstigen Fälle. Das Verhältnis dieser Zahl zu der aller möglichen Fälle ist das Maß der Wahrscheinlichkeit, die also nichts anderes als ein Bruch ist, dessen Zähler die Zahl der günstigsten Fälle und dessen Nenner die Zahl aller möglichen Fälle ist. […] Wenn alle Fälle einem Ereignis günstig sind, dann verwandelt sich seine Wahrscheinlichkeit in Gewißheit und der Quotient wird gleich Eins. Unter diesem Gesichtspunkt sind Gewißheit und Wahrscheinlichkeit vergleichbar, obgleich ein wesentlicher Unterschied zwischen den beiden Geistesverfassungen besteht, wenn ein Satz in aller Strenge bewiesen ist, oder wenn noch eine kleine Möglichkeit des Irrtums übrig bleibt.“ 35 Vgl. ebd., 45: „Die Wahrscheinlichkeit, dass das Verhältnis der Anzahl der herausgezogenen weißen zur Gesamtzahl aller herausgezogenen Kugeln von dem Verhältnis der Anzahl der weißen zur Gesamtzahl aller in der Urne enthaltenen Kugeln nicht über eine vorgegebene Größe hinaus abweicht, nähert sich bei unbeschränkter Vervielfältigung der Ereignisse der Gewißheit, wie klein man auch jene Größe annehmen mag.“ Bernoulli (1999, 249) hatte sein „Gesetz“ bereits mit dem nämlichen UrnenBeispiel illustriert.

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zwischen der subjektiven und der objektiven Konnotation des Wahrscheinlichkeitsbegriffs wird bei Laplace jedoch in Zweifel gezogen. Zwar changiert auch Laplace zwischen diesen Konnotationen des Begriffs (Hacking 1990, 131-133), aber das Verhältnis der Konnotationen zueinander wird unklar, weil Laplace erkennt, dass der Beobachter durchaus kein reiner Aufzeichnungsapparat ist und der Grad seiner Gewissheit die in der Welt anzutreffenden relativen Häufigkeiten durchaus nicht einfach spiegelt. Laplace ist nicht der erste, dem die Problematik bewusst wird. Jenseits der modernen Diskursformation erkannte Aristoteles, dass man sich über das Wahrscheinliche auch täuschen kann. Und die Logik von Port Royal stellt bereits 1662 fest, dass Menschen beim Schluss von Erfahrung auf Erwartung (bzw. von Häufigkeiten auf Gewissheitsgrade) durch ihr affektives, etwa hoffendes oder fürchtendes Bezogensein auf die respektiven Ereignisse zu gravierenden Fehleinschätzungen hinsichtlich der Gewissheitsgrade kommen, zu denen die Erfahrung sie tatsächlich berechtigt (o.N. 1850, 358-362). Im 18. Jahrhundert sind es vor allem Etienne Bonnot de Condillac und Nicolas de Condorcet, die auf den „pathologischen“, häufig vernunftwidrigen Charakter der Assoziationsprinzipien des menschlichen Geistes hinweisen (Daston 1995, 208ff, 210ff.) und deren Kritik Laplace aufnimmt, wenn er schreibt: „Unsere Leidenschaften, unsere Vorurteile und die herrschenden Meinungen sind dadurch, dass sie die ihnen günstigen Wahrscheinlichkeiten übertreiben und die entgegengesetzten vermindern, reichliche Quellen gefährlicher Täuschungen. Die gegenwärtigen Übel und die Ursache, die sie hervorbringt, machen einen viel größeren Eindruck auf uns als die Erinnerung an die Übel, welche die entgegengesetzte Ursache hervorgebracht hat […]. Dieser lebhafte Eindruck, den wir durch die Gegenwart der Ereignisse empfangen und der die Beachtung der entgegengesetzten von anderen beobachteten Ereignisse kaum zulässt, ist eine Hauptursache des Irrtums [in der aposteriorischen Einschätzung der Wahrscheinlichkeiten], vor dem man sich nicht genug in acht nehmen kann.“ (Laplace 1996, 124)

Vor diesem Hintergrund erscheint Laplaces Behauptung am Ende des historischen Schlussteils seines Essai als zweifelhaft, Wahrscheinlichkeitstheorie sei „im Grunde nur der der Berechnung unterworfene Menschenverstand“ (ebd., 170). Viel eher ist sie ein Mittel der Korrektur eines Menschenverstandes, der für sich genommen nicht vernünftig ist: „Der Verstand ist ebenso Täuschungen ausgesetzt wie der Gesichtssinn, und wie der Tastsinn die Täuschungen des letzteren berichtigt, so berichtigt das Denken und die Rechnung die Täuschungen des ersteren.“ (ebd., 123) Wenn auch die Wahrscheinlichkeitstheorie diesem Verständnis nach Methoden bereitstellt, die geeignet scheinen, den sachlichen Nexus von subjektiven

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und objektiven Konnotationen des Wahrscheinlichkeitsbegriffs durch fortlaufende Korrektur des gesunden Menschenverstandes zu bewahren, kommt es in der Nachfolge Laplaces letztlich zur endgültigen Dissoziation der beiden Konnotationen. Die Dissoziation zeigt sich explizit erstmals in Antoine Auguste Cournots Exposition de la Théorie des Chances et des Probabilités (1843), wo es heißt: „[Es ist] ganz natürlich, wenn man annimmt, daß ein Ereignis um so leichter statt finden kann, oder physisch um so eher möglich ist, je öfterer dasselbe bei einer großen Anzahl von Versuchen wirklich eintritt. Die mathematische Wahrscheinlichkeit wird alsdann das Maß der physischen Möglichkeit, und der eine dieser Ausdrücke kann für den anderen genommen werden. Der Vorzug des Ausdruckes Möglichkeit besteht darin, daß dadurch die Existenz eines zwischen den Dingen selbst stattfindenden Verhältnisses deutlich angezeigt wird, welches nicht von unserem Urtheile oder unserem Gefühle abhängt, das mit dem Individuum, nach den Umständen, worin es sich befindet und dem Maße seiner Kenntnisse veränderlich ist, so dass der Ausdruck Möglichkeit eine objektive Bedeutung hat, während der Ausdruck Wahrscheinlichkeit in seinen gewöhnlichen [d.h. non-mathematischen] Bedeutungen mehr einen subjektiven Sinn hat. Durch Nichtbeachtung dieses Unterschiedes sind eine Menge von Zweideutigkeiten und irrigen Vorstellungen in der Theorie der mathematischen Wahrscheinlichkeiten entstanden.“ (Cournot 1849, 69)

Das subjektive Wahrscheinlichkeitsurteil ist demnach – da es relativ ist auf den Urteilenden, seine Lebensumstände und seine Kenntnisse – schlicht zu kontingent, um als eigentlicher Gegenstand des Wahrscheinlichkeitsbegriffs fungieren zu können. Als sein Gegenstand muss daher die in den Dingen selbst gelegene physische Möglichkeit von Ereignissen genommen werden, die wiederum der Graduierung der relativen Häufigkeit dieser Ereignisse „bei einer großen Anzahl von Versuchen“ entspricht. Aus dieser Korrespondenz zwischen Möglichkeitsgraden und relativen Häufigkeiten sind, nach der weitgehenden Dissoziation von subjektiver und objektiver Wahrscheinlichkeit in den 1840er Jahren (Daston 1994), zwei eigenständige Positionen innerhalb des objektivistischen Spektrums der Wahrscheinlichkeitstheorie hervorgegangen, die sog. frequentistische einerseits und die sog. dispositionale andererseits. Entsprechend werden nachfolgend die frequentistischen, dispositionalen und subjektiven Wahrscheinlichkeitstheorien aus der Zeit nach Cournot skizziert. Da eher die Frage des übergreifenden Zusammenhangs dieser Theorien als die Erfassung ihrer Einzelheiten von Interesse ist, bleibt die Darstellung sehr schematisch.

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(1) Frequentismus. Der frequentistische (oder statistische) Ansatz in der Wahrscheinlichkeitstheorie gründet auf der bereits in Bernoullis Gesetz der Großen Zahlen zum Ausdruck kommenden Eigenschaft von Serien gleichartiger Ereignisse, in ihren relativen Frequenzen umso mehr einem festen Grenzwert zuzustreben, je größer die Serie bzw. die Anzahl der Wiederholungen wird.36 Zwar bleibt die Haltung der wesentlichen Vertreter der frequentistischen Wahrscheinlichkeitstheorie, zu denen Richard Leslie Ellis, John Venn und Richard von Mises gezählt werden, zur Bernoulli’schen Formulierung und Interpretation des „Gesetzes“ aus diversen Gründen ambivalent bis ablehnend.37 Es lässt sich aber nicht leugnen, dass die genannte Eigenschaft ihren Grundansatz fundiert. Nach Richard Leslie Ellis’ erster knapper Formulierung des Ansatzes (Ellis 1849, 1856) und bereits deutlich vor Richard von Mises’ Monografie Wahrscheinlichkeit, Statistik und Wahrheit (1936) (3., erweiterte Auflage 1950 (Mises 1972)), die dem Frequentismus im 20. Jahrhundert einen erheblichen Einfluss sicherte, fasst John Venn das Objekt der Theorie in The Logic of Chance (1866) (3., erweitere Auflage 1888 (Venn 1888)) erstmals systematisch wie folgt: „In [the] classes of things, which are those with which Probability is concerned, the fundamental conception which the reader has to fix in his mind as clearly as possible, is, I take it, that of a series [of events]. But it is a series of a peculiar kind, one of which no better compendious description can be given than that which is contained in the statement that it combines individual irregularity with aggregate regularity.“ (Venn 1888, 4)

Wahrscheinlichkeitstheorie ist mit Massenerscheinungen befasst, die sich dadurch auszeichnen, dass das Verhalten der einzelnen Elemente nicht durch Rekurs auf Gesetzmäßigkeiten sicher antizipiert werden kann, während sie zusammengenommen sehr wohl eine Art Ordnung ausbilden, indem sie in ihrem Auftreten zu festen relativen Frequenzen tendieren: „Within the indefinitely numerous class which composes this series a smaller class is distinguished by the presence or absence of some attribute or attributes […]. These larger and smaller classes respectively are commonly spoken of as instances of the ‘event,’ and of ‘its happening in a particular way.’ Adopting this phraseology, which with proper explanation is suitable enough, we may define the probability or chance […] of the event hap-

36 Vgl. für systematische Darstellungen: Gillies 2000, 88-112; Weatherford 1982, 144218; Nagel 1939, 19-26. 37 Vgl. für einen Überblick: Shafer 1996, 26-28. Im Einzelnen: Ellis 1849; Venn 1888, 91f.; Mises 1972, 123-137.

168 | K OLLEKTIVITÄTEN pening in that particular way as the numerical fraction which represents the proportion between the two different classes in the long run.“ (ebd., 162f.)

38

Demnach ist die Wahrscheinlichkeit, mit der ein Ereignis in bestimmter Art und Weise eintritt, nur zu bestimmen, indem man ermittelt, wie es sich dem Typ nach verhält, indem man also vom Verhalten einer Serie von Ereignissen gleichen Typs auf das Verhalten des Einzelereignisses schließt. Der Grenzwert der relativen Frequenz, mit der das Ereignis in bestimmter Art und Weise eintritt, ist seine Wahrscheinlichkeit.39 Die zuerst bei Ellis auftauchende (Ellis 1849, 3; 1856, 605), von Venn häufig verwendete Wendung „in the long run” verweist demnach auf die Grenzwertbildung („The long run must be supposed to be very long

38 Vgl. die der Sache nach äquivalenten Definitionen bei Ellis (1849, 3) und von Mises (1972, 33f.). 39 Dieses deduktive Vorgehen und die Beziehung von Wahrscheinlichkeit und Einzelereignis bleibt für die frequentistische Theorie aber letztlich problematisch. So ergänzt Venn die zitierte Definition durch folgendes Beispiel, das unmissverständlich klar zu machen scheint, dass auch Einzelereignissen eine Wahrscheinlichkeit zukommt: „Thus, for example let the probability be that of a given infant living to be eighty years of age. The larger series will comprise all infants, the smaller all who live to eighty. Let the proportion of the former to the latter be 9 to 1; on other words, suppose that one infant in ten lives to eighty. Then the chance or probability that any given infant will live to eighty is the numerical fraction 1/10. This assumes that the series are of indefinite extent, and of the kind which we have described as possessing a fixed type.” (1888, 163, Kurs. eingef.) Die Wahrscheinlichkeit, dass dieses bestimmte Kind das 80. Jahr erlebt, ist 1/10. Damit ist die Wahrscheinlichkeit eines Einzelereignisses, das Teil einer probabilistischen Serie gleichartiger Ereignisse ist, durch Rekurs auf die Serie eindeutig definiert. Diese Wahrscheinlichkeit kann dabei gleichermaßen als Glaubensgrad aufgefasst werden wie als Tatsachenfeststellung (ebd., 161). Allerdings geht Venns Auffassung offenbar dahin, die Tatsachenfeststellung betreffe in Wahrheit nicht den Einzelfall selbst, sondern allein den Durchschnitt, d.h. die relative Frequenz, mit der Kinder das 80. Jahr erleben (ebd., 151, 90; vgl. Popper 1959, 29). So lehnt Venn eine der Sache (bzw. dem betrachteten Ensemble von Entitäten) selbst inhärente „objektive“ Wahrscheinlichkeit, die sich dann in relativen Frequenzen zeigen, aber qua Inhärenz in der Sache (bzw. im Ensemble) auch für jeden einzelnen Fall individuell Geltung besitzen würde, klar ab (ebd., 89-93). Auch Richard von Mises nimmt an, der Wahrscheinlichkeitsbegriff besitze allein für Serien von Ereignissen Geltung: dem Einzelfall an ihm selbst irgendeine Wahrscheinlichkeit zuzuschreiben, sei unmöglich. (von Mises 1972, 13, 20f.)

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indeed, in fact never to stop”, Venn 1888, 164), mittels derer in Bernoullis Gesetz der großen Zahlen beobachtete Frequenz und Wahrscheinlichkeitswert konvergieren. (2) Dispositionale Wahrscheinlichkeitstheorie. Neben dem frequentistischen gibt es in der Zeit nach Cournot einen weiteren Ansatz in der Wahrscheinlichkeitstheorie, der den Gegenstand des Wahrscheinlichkeitskalküls nun nicht im Verhalten einer Serie gleichartiger Ereignisse findet, sondern in den physikalischen Eigenschaften derjenigen Ensembles von Entitäten, die den probabilistischen Serien gleichartiger Ereignisse zu Grunde liegen oder konstitutiv in diese einbezogen sind. Insofern die Entitäten als Potentiale für die Ereignisse bzw. Prozesse fungieren, deren relative Frequenzen sich dann statistisch quantifizieren lassen, scheint den Potentialen selbst eine Quantifiziertheit eigen zu sein, welche vom Wahrscheinlichkeitsbegriff erfasst werden kann. Wahrscheinlichkeit ist, wie es bei Cournot selbst heißt (1849, 69, s.o.), als „Maß der physischen Möglichkeit“ zu interpretieren. Diese Interpretation wird Anfang des 20. Jahrhunderts von Charles Sanders Peirce aufgegriffen (Hacking 1990, 207f.; Burks 1964) und seit den 1950er Jahren von Karl Popper konkretisiert (Gillies 2000, 113-136). Die Konzeption der Wahrscheinlichkeit als quantifizierte Möglichkeit ist, allerdings ohne systematisch bedeutsam zu werden, schon vor Cournot in der Wahrscheinlichkeitstheorie anzutreffen. So wird zwar das in der „klassischen“ Wahrscheinlichkeitsdefinition zur Geltung kommende Kriterium der „Gleichmöglichkeit“ der apriorisch bestimmten Wahrscheinlichkeiten üblicherweise auf das bloß relative Wissen eines Betrachters bezogen, der eine bestimmte Anzahl überhaupt (logisch) möglicher Fälle des Ausgangs (etwa eines Münz- oder Würfelspiels) identifizieren kann, diese aber aufgrund fehlenden Zusatz- bzw. Erfahrungswissens apriorisch als „gleich möglich“ setzen muss. Allerdings lässt sich zeigen, dass in dem zu Grunde liegenden Möglichkeitsbegriff eine doppelte Konnotation virulent ist, neben der epistemischen nämlich auch die der objektiven, als Eigenschaft der Sache selbst zukommenden Möglichkeit. So heißt es bei Bernoulli: „Wir nehmen noch an, dass alle Fälle gleich möglich sind, d.h. dass jeder Fall mit derselben Leichtigkeit wie jeder andere eintreten kann“ (1999, 240), – wobei, wie Ian Hacking (1990, 124f.) feststellt, der Begriff der Leichtigkeit (facilitas) mit den Begriffen der Neigung (proclivitas) und des Vermögens (potentia) ein gemeinsames Wortfeld bildet, das sich insgesamt auf die den Dingen eigene Tendenz bezieht, sich in bestimmten Situationen in bestimmter Weise zu verhalten. Entsprechend hat man es hier mit dem Begriff eines graduierten Vermögens zu tun, das etwa bei Leibniz unumwunden das Definiens der Wahrscheinlichkeit bildet (ebd., 125-128).

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Charles Sanders Peirce tendiert in seinen frühen und mittleren Schriften zur Wahrscheinlichkeitstheorie unter dem Einfluss John Venns zu einer frequentistischen Position,40 während er in seinen späten Schriften einen dispositionalen Ansatz skizziert,41 der seinen Frequentismus allerdings eher ergänzt als ersetzt.42 Er schreibt: „I will define [probability] in a particular example. If, then, I say that the probability that if a certain die be thrown in the usual way it will turn up a number divisible by 3 (i.e., either 3 or 6), is 1/3, what do I mean? I mean, of course to state that the die has a certain habit or disposition of behaviour in its present state of wear. It is a would be and does not consist in actualities or single events in any multitude finite or infinite.“ (CP 8.225)

Indem man die Wahrscheinlichkeit, mit einem Würfel eine durch drei teilbare Zahl zu würfeln, mit 1/3 beziffert, quantifiziert man demnach dessen Gewohnheit oder Disposition, nämlich, durchschnittlich in jedem dritten Wurf eine durch drei teilbare Punktzahl anzuzeigen. Diese Gewohnheit oder Disposition ist keine in der Aktualität irgendeines Moments oder Ereignisses ganz aufgehende Eigenschaft des Würfels, sondern sie ist ein would-be, eine ihm zukommende quantifizierbare Potentialität. (CP 2.664f.; Burks 1964, 144-146; Hacking 1990, 207f.) Peirce sieht diese Potentialität, diese Gewohnheit definiert durch das Verhalten des Würfels in einer unendlichen Serie von Würfen: „I must therefore define that habit of the die […] by saying how it would behave if, while remaining with its shape, etc. just as they are now, it were to be thrown an endless succession of times.” (CP 8.2.25) Das für den frequentistischen Wahrscheinlichkeitsbegriff entscheidende Bernoulli’sche Konvergenzkriterium (die relative Frequenz der Fälle strebt in der Unendlichkeit der Wiederholung gegen einen festen Grenzwert) kommt also auch in Peirces dispositionalem Ansatz zum Tragen. Die Konzentration auf den Grenzwert stellt Peirce dabei vor das schon in der frequentistischen Theorie auftauchende Problem (CP 2.652), dass der Wahrscheinlichkeitsbegriff in Hinsicht auf einzelne Ereignisse streng genommen keine Geltung besitzt (Burks 1964, 148).43

40 So in der euphorischen Rezension „John Venn, The Logic of Chance“ (1867) (CP 8.16) sowie in „The Doctrine of Chances“ (1878) (CP 2.645-660). 41 So in „Notes on “The Doctrine of Chance”” (1910) (CP. 2.661-668) und in “To Paul Carus, on “Illustrations of the Logic of Science”” (1910) (CP 8.214-238). 42 Vgl. zur Entwicklung der Peirce’schen Wahrscheinlichkeitstheorie: Burks 1964. 43 Daran ist richtig, dass, wie Peirce bemerkt, die Wahrscheinlichkeitsaussage betreffend einen einzelnen Fall (in einer Serie gleichartiger Ereignisse) durch den „Ausgang“

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Das Problem stellt sich für die dispositionale Wahrscheinlichkeitstheorie Karl Poppers (vgl. z.B. Popper 1959; 1995) in dieser Form nicht;44 denn wo für Peirce die als Disposition bzw. quantifizierte Potentialität verstandene Wahrscheinlichkeit vom Grenzwert der relativen Frequenzen der ihr korrespondierenden Ereignisse her definiert ist (Grenzwert definiert quantifizierte Potentialität), ist umgekehrt für Popper der Grenzwert der relativen Frequenzen durch die den Ereignissen zu Grunde liegenden Dispositionen bzw. durch die sie erzeugenden Bedingungen definiert (quantifizierte Potentialität definiert Grenzwert). Diese Umkehrung ist bedeutsam, weil die erzeugenden Bedingungen damit ganz offen-

dieses Falles weder bestätigt noch widerlegt wird: Sagt man, die Wahrscheinlichkeit mit einem Würfel eine sechs zu würfeln sei 1/6 und macht dann einen Wurf, so hat – egal wie dieser Wurf „ausgeht“ – das Ergebnis keinerlei epistemologischen Bezug zur getroffenen Wahrscheinlichkeitsaussage (CP 2.625). Richtig ist auch, dass ein Potential in letzter Instanz definiert ist durch alles was es ermöglicht: „to define the die’s „would-be“, it is necessary to say how it would lead the die to behave on an occasion that would bring out the full consequence of the „would-be“ […]. Now in order that the full effect of the die’s “would-be” may find expression, it is necessary that the die should undergo an endless series of throws from the dice box”. (CP 2.664-5, Kurs. eingef.) Das Ganze des Potentials – seine „full consequence”, sein „full effect” – kann im Fall probabilistischer Phänomene nur in einer unendlichen Serie von Aktualisierungen ganz ausgeschritten werden. Was Peirce aber nicht zu sehen scheint, ist, dass das Potential nicht allein Potential seiner „full consequence” ist, sondern auch Potential für das, was es bloß „punktuell“ ermöglicht, Potential seines punktuellen Ausdrucks. Die einzelne Aktualität aktualisiert nicht die Möglichkeit als Ganze. Aber zu sagen, sie unterhalte keinerlei Beziehung zur Möglichkeit als Ganzer (zum Möglichkeitsraum), heißt, das Offensichtliche zu leugnen: eben dass sie eine punktuelle, partielle Aktualisierung dieses Möglichkeitsraums ist. Das Ganze des Potentials wird aktualisiert nur durch die unendliche Addition punktueller Aktualisierungen. Wenn das Potential mit seiner spezifischen Tendenz oder Neigung aber nicht schon in den punktuellen Aktualisierungen zur Geltung käme, wäre es kaum durch die unendliche Addition punktueller Aktualisierungen definierbar. Hieraus folgt: Es ist, gegen Peirce, gerade das Potential, verstanden als Gesamt der physikalischen Eigenschaften (eines Ensembles) von Entitäten, insoweit diese für ihren zukünftigen Prozess relevant sind, das es überhaupt erlaubt, hinsichtlich einzelner Aktualisierungen „ontologisch fundiert“ von Wahrscheinlichkeiten zu sprechen. – Siehe die folgende Behandlung Poppers. 44 Für einen Vergleich der dispositionalen Ansätze Peirces und Poppers siehe: Miller 1975.

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sichtlich auch in der einzelnen Aktualisierung des Ereignisses wirksam sind. Popper formuliert: „The frequency interpretation always takes probability as relative to a sequence which is assumed as given; and it works on the assumption that a probability is a property of some given sequence. But with our modification [leading the frequency interpretation of probability towards a dispositional interpretation], the sequence in its turn is defined by its set of generating conditions; and in such a way that probability may now be said to be a property of the generating conditions. But this makes a very great difference, especially to the probability of a singular event (or an `occcurence´). For now we can say that the singular event a possesses a probability p(a, b) owing to the fact that it is an event produced, or selected, in accordance with the generating conditions b, rather than owing to the fact that is a member of sequence b. In this way, a singular event may have a probability even though it may occur only once; for its probability is a property of its generating conditions.“ (1959, 34)

Wahrscheinlichkeiten sind demnach den erzeugenden Bedingungen von Ereignissen inhärent als quantifizierbarer Möglichkeitsgrad, als Neigung (propensity) oder Tendenz (tendency) eines Ereignisses (ebd., 36), sich in einer Gesamtheit von Fällen gemäß einer bestimmen relativen Frequenz zu realisieren. Dem einzelnen, als Effekt dieser Bedingungen eintretenden Ereignis kommt, weil und insofern es Effekt dieser Bedingungen ist, die nämliche Wahrscheinlichkeit zu. Die Wahrscheinlichkeit ist nicht definiert durch die relativen Frequenzen, die sie erzeugt; trotzdem ist die Methode der statistischen Erfassung der relativen Frequenz eines Ereignisses in der Regel die Methode zur Quantifizierung der „Neigung“ seiner erzeugenden Bedingungen: „[T]he greater or smaller frequency of occurrences may be used as a test of whether a hypothetically attributed weight is, indeed, an adequate hypothesis.“ (1995, 11) Die „erzeugenden Bedingungen“ als Träger der Wahrscheinlichkeiten umfassen dabei für Popper immer Ensembles von Entitäten: „Like all dispositional properties, propensities exhibit a certain similarity to Aristotelian potentialities. But there is an important difference: they cannot, as Aristotle thought, be inherent in the individual things. […] they are relational properties of the experimental arrangement – of the conditions we intend to keep constant during repetition.” (1959, 37; vgl. 1995, 12, 14) Da in Kapitel 2.2.2 gezeigt werden konnte, dass, anders als Popper zu glauben scheint, Aristoteles in Wahrheit Potentiale nicht einzelnen Entitäten zuschreibt, sondern von der wechselseitigen Potentialisierung von Ensembles von Entitäten in Hinblick auf bestimmte Prozesse ausgeht, lassen sich die Popper’schen Wahrscheinlichkeit und die aristotelische Potentialität sogar noch ein-

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deutiger miteinander identifizieren: erstere ist in der Tat eine exakt quantifizierbare aristotelische Potentialität. (3) Subjektivismus. Die „subjektive“ Wahrscheinlichkeitstheorie schließlich umfasst als problematischer Überbegriff Theorien verschiedenen Typs, die darin übereinkommen, dass der Gegenstand des Wahrscheinlichkeitsbegriffs in dem Grad der Überzeugung oder Gewißheit zu finden sei, den Subjekte hinsichtlich bestimmter Sachverhalte oder Propositionen ausbilden: Gegenstand des Wahrscheinlichkeitsbegriffs sind mentale Objekte und nicht Ereignisse, Eigenschaften etc. der extramentalen Welt. Aufgabe der Wahrscheinlichkeitstheorie ist es dann, Kriterien anzugeben, nach denen der von Subjekten unterhaltene Überzeugungsgrad als rationell oder konsistent angesehen werden kann. Im Folgenden werden drei Vertreter dieses Grundansatzes behandelt, nämlich John Maynard Keynes, der in seinem Treatise on Probability (1921) die „apriorische“ bzw. „logische“ Wahrscheinlichkeitstheorie im 20. Jahrhundert begründet hat, und Frank P. Ramsey sowie Bruno de Finetti, die, teils in Abgrenzung zu Keynes, eine im eigentlichen Sinne „subjektive“ Wahrscheinlichkeitstheorie etablieren.45 Keynes definiert Wahrscheinlichkeit wie folgt: „The terms certain and probable describe the various degrees of rational belief about a proposition which different amounts of knowledge authorise us to entertain. All propositions are true or false, but the knowledge we have of them depends on our circumstances; and while it is often convenient to speak of propositions as certain or probable, this expresses strictly a relationship in which they stand to a corpus of knowledge, actual or hypothetical, and not a characteristic of the propositions in themselves. […] Let our premisses consist of any set of propositions h, and our conclusion consist of any set of propositions a, then, if a knowledge of h justifies a rational belief in a of degree α, we say that there is a probability relation of degree α between a and h.“ (1921, 3)

Wahrscheinlichkeit ist also der Grad rationalen Glaubens, den ein Subjekt hinsichtlich der Geltung einer Proposition legitimerweise unterhalten kann und der dabei streng relativ ist auf das Vorliegen eines bestimmten Korpus’ von Wissen bzw. auf andere, als Prämissen fungierende Propositionen. Damit erscheint Wahrscheinlichkeit als logische Relation zwischen Propositionen. (Keynes 1921,

45 Es wird also unter einer Überschrift behandelt, was korrekterweise in apriorische und subjektive Wahrscheinlichkeitstheorien unterschieden werden müsste. Vgl. für systematische Darstellungen wieder Weatherford 1982, 75ff., 219ff.; Gillies 2000, 25ff., 50ff.

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3; Weatherford 1982, 79) Als solche umfasst sie auch logische Schlüsse, die Gewißheit vollumfänglich von den Prämissen auf die Konklusionen übertragen; diese sind aber für Keynes im Grunde nur Spezialfälle der allgemeineren Relation: „If logic investigates the general principles of valid thought, the study of arguments, to which it is rational to attach [only] some weight, is as much part of it as the study of those which are demonstrative.“ (Keynes 1921, 3) Obwohl in der Formulierung und in vielen Einzelheiten abweichend, lässt sich die relative Kontinuität der apriorischen mit der „klassischen“ Wahrscheinlichkeitstheorie akzentuieren: „To a great extent, the a priori theory is the inheritor of the tradition of the Classical Theory of Probability.“ (Weatherford 1982, 8) So ist zum einen der Gegenstand des Wahrscheinlichkeitsbegriffs bei Keynes wie bei Bernoulli und Laplace ein mentales Faktum – der Grad an Gewißheit. Zweitens liefert die Keynes’sche Theorie wie die Laplace’sche ein Rationalitätskriterium der unterhaltenen Gewissheitsgrade.46 Und drittens stützt sie sich wie die klassische Theorie auf das Prinzip der Gleichmöglichkeit der Fälle zur Ermittlung der Wahrscheinlichkeiten („principle of indifference“: ebd., 42ff., bes. 55f.; siehe auch Weatherford 1982, 81-83; Gillies 2000, 33ff.; Nagel 1939, 50), wobei Keynes diesen Vorgang als einen wesentlich intuitiven auffasst.47 Dabei entsteht folgendes Problem: während Bernoulli aus der Einsicht, dass das Prinzip der Gleichmöglichkeit die Wahrscheinlichkeitsrechnung fast ausschließlich auf das Feld der Glücksspiele einschränke, die Methode einer aposteriorischen, nämlich empirisch-statistischen Ermittlung von Wahrscheinlichkeitswerten gesehen und theoretisch begründet hat, aus der sich, wie oben dargestellt, im 19. Jahrhundert das frequentistische Wahrscheinlichkeitsparadigma herausentwickeln sollte, lehnt Keynes die empirische Bestimmung der Wahrscheinlichkeiten und daher auch den Frequentismus klar ab.48 Der Preis dieser Ablehnung ist groß, da

46 In diesem Sinne begründet die Theorie denn auch durchaus nicht eine „rein subjektive“ Wahrscheinlichkeit – im Gegenteil: „In the sense important to logic, probability is not subjective. It is not, that is to say, subject to human caprice. A proposition is not probable because we think it is so. When one the facts are given which determine our knowledge, what is probable or improbable in these circumstances has been fixed objectively, and is independent of our opinion.” (Keynes 1921, 3) 47 Vgl. 1921, 18: „Some men – indeed it is obiously the case – may have a greater power of logical intuition than others. […] The perceptions of some relations of probability may be outside the powers of some or all of us.” 48 Allerdings ist Keynes Verhältnis zur statistischen Bestimmung von Wahrscheinlichkeiten mindestens ambilvalent. Zwar lehnt er den Frequentismus Venns ab und entsprechend unterhält seine allgemeine Wahrscheinlichkeitsdefinition keine Beziehung

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Keynes somit zugestehen muss, dass die Bestimmung numerisch präzisier Wahrscheinlichkeiten seinem Ansatz zufolge nur dort möglich ist, wo tatsächlich gleich mögliche Fälle unterschieden werden können; in allen anderen Fällen bleiben die Wahrscheinlichkeitswerte unquantifizierbar (Keynes 1921, 65): „Keynes cannot establish any connection between numerical probabilities and relative frequencies of occurrences. His theory, when strictly interpreted, is incapable of application to the problems discussed in physics and statistics, and at least from this point of view remains a vestal virgin.” (Nagel 1939, 50) Auf dieses und andere Probleme der apriorischen Wahrscheinlichkeitstheorie kann hier nicht näher eingegangen werden.49 Vielmehr soll knapp die im eigentlichen Sinne „subjektive“ Wahrscheinlichkeitstheorie erwähnt werden, die von Frank Ramsey („Truth and Probability“ (1926) (Ramsey 1990)) und Bruno de Finetti („Probabilismo“ (1931) (de Finetti 1989; vgl. ders. 1981)) unabhängig voneinander in den 1920er Jahren entwickelt wurde. (Gillies 2000, 50f.) In gewissem Sinne behandelt die subjektive Wahrscheinlichkeitstheorie die von Laplace beklagte Unfähigkeit von Subjekten zur rationellen Einschätzung von Wahrscheinlichkeiten, die in ihrer Einschätzung zur Geltung kommenden Irrationalitäten und Verzerrungen, welche dann auch zu individuell abweichenden Einschätzungen führen, genau als Ausgangspunkt und grundlegendes Faktum der Wahrscheinlichkeitstheorie insgesamt – mit der Pointe, dass es sich dabei in Wahrheit gar nicht um Irrationalitäten und Verzerrungen handele. Denn da die subjektive Wahrscheinlichkeitstheorie die Existenz objektiver i.S.v. extramentaler Wahrscheinlichkeiten abstreitet, bestreitet sie auch die Existenz von Krite-

zu relativen Häufigkeiten. Dennoch können statistische Daten Teil der Propositionen sein, in Hinblick auf die andere Propositionen mit einem rationellen Grad an Überzeugung ausgestattet werden. Das dabei zur Geltung kommende Prinzip der „negativen Analogie“ (1921, 218f.) stellt sich faktisch als Prinzip der statistischen Kontrolle dar (womit allerdings der rein „intuitive“ Charakter des Überzeugungsgrades in Zweifel zu ziehen wäre). Unter kontrollierten Bedingungen (vgl. das Beispiel in 1921, 397) kann dann sehr wohl aus einer statistischen Häufigkeit auf eine hohe Wahrscheinlichkeit geschlossen werden, dass die Häufigkeit sich auch in Zukunft zeigen werde (ebd., 407). Die Häufigkeiten sind niemals selbst Wahrscheinlichkeiten, aber sie können Wahrscheinlichkeiten fundieren (wie bei Bernoulli, nur dass bei ihm diese Fundierung unmittelbar stattfindet, indem statistische Erfahrung in Grade an Gewißheit und ergo Erwartung konvertiert wird). 49 Vgl. zur Diskussion wesentlicher Kritikpunkte Weatherford 1982, 128-141; siehe für eine insgesamt vernichtende Kritik Nagel 1939, 48-51.

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rien, nach denen Irrationalitäten oder Verzerrtheiten überhaupt konstatiert werden könnten: „Eigentlich ist meine Theorie, paradox und ein wenig herausfordernd ausgedrückt, einfach die folgende: Es existiert keine objektive Wahrscheinlichkeit. […] Wenn wir unsere Gedankengänge und unser Verhalten im Zustand der Ungewissheit auf Rationalität prüfen wollen, so zeigt sich, dass alles, was wir brauchen und vernünftigerweise verlangen können, lediglich Kohärenz in unseren Auffassungen und deren rationale Proportion zu jeglicher Art wichtiger objektiver Daten ist (wichtig in dem Sinne, als sie subjektiv für wichtig gehalten werden). Das ist die Wahrscheinlichkeitstheorie.“ (de Finetti 1981, x; Kurs. eingef.)

Wahrscheinlich ist demnach schlicht das, was Individuen für wahrscheinlich halten (ihr „degree of belief“, vgl. de Finetti 1981, 6) in Hinblick auf Daten, die sie für wichtig halten. Die Theorie selbst bietet dann einerseits eine spieltheoretische Methode (ebd., 106-113) zur experimentellen Bestimmung der von Individuen hinsichtlich bestimmter Sachverhalte tatsächlich unterhaltenen Gewissheitsgrade (Wahrscheinlichkeiten), welche mit der Bereitschaft der Individuen arbeitet, auf bestimmte Sachverhalte zu wetten (und postuliert, alle Entscheidungssituationen seien im Grunde als Wett-Situationen beschreibbar (Ramsey 1990, 79)). Und anderseits liefert sie den Individuen ein minimales Rationalitäts- bzw. Konsistenzkriterium (Weatherford 1982, 238) für ihre Gewissheitsgrade in Form des Hinweises, die Übereinstimmung der Gewissheitsgarde mit den Regeln des Wahrscheinlichkeitskalküls könne ein systematisches Verlieren der Wetten bzw. Enttäuschen der Erwartungen verhindern: „We find […] that a precise account of the nature of partial belief reveals that the laws of probability are laws of consistency“ (Ramsey 1990, 78; vgl. Gillies 1990, 58-60). So liefert die subjektive Wahrscheinlichkeitstheorie zwar kein Kriterium gegen die Überzeugung, die Wahrscheinlichkeit, mit einem ungezinkten sechsseitigen Würfel im nächsten Wurf eine sechs zu würfeln, sei ¾ (und, entsprechend, die Wahrscheinlichkeit, keine sechs zu würfeln ¼). Sie rät aber, dass bei einer angenommen Wahrscheinlichkeit für eine Sechs von ¾ die angenommene Wahrscheinlichkeit ihres Ausbleibens nicht z.B. ebenfalls ¾ sein sollte, um, wenn man auf diese Wahrscheinlichkeiten wettet, überhaupt Gewinnchancen zu haben. (Weatherford 1982, 221) Das Problem der subjektiven Wahrscheinlichkeitstheorie besteht natürlich darin, dass sie nicht damit befasst ist, welche Eigenschaften der Welt die subjektive Wahrscheinlichkeit tatsächlich fundieren könnten. Wenn Wahrscheinlichkeiten Verhalten in irgend einem Sinne erfolgreich orientieren sollen, dann müssen sie in Realeigenschaften der Welt begründet sein. Indem die subjektive

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Wahrscheinlichkeitstheorie beliebige Quellen der Wahrscheinlichkeitsschätzung zulässt, ohne anzugeben, in welchem Sinne diese Quellen die Wahrscheinlichkeiten auch begründen können, zerreißt sie das Band zwischen Wahrscheinlichkeitsschätzung und Welt und lässt die Frage, warum es sinnvoll ist, überhaupt zu schätzen, unbeantwortet. 3.1.3 Universalien und Wahrscheinlichkeiten: Prozessobjekte Dieses Kapitel kann jetzt den Ertrag der Schematisierungen der vorangegangenen Abschnitte einfahren. Es widmet sich den metatheoretischen Äquivalenzen (1) zwischen aristotelischer und moderner Wahrscheinlichkeitstheorie und (2) zwischen Wahrscheinlichkeitstheorie und Universalienproblematik. Die Äquivalenzen werden herausgestellt und (3) unter Rekurs auf die Figur des Prozessobjekts (#5, #6, #7) zu begründen versucht. (1) Im Zuge der Darstellung dürfte klar geworden sein, dass die modernen Interpretationen des Wahrscheinlichkeitsbegriffs und -kalküls den Konnotationen des aristotelischen Wahrscheinlichkeitsbegriffs in Grundzügen ähneln. Damit ist noch nicht gesagt, dass der spezifisch moderne Wahrscheinlichkeitsbegriff bereits bei Aristoteles angelegt ist. Das ist nicht der Fall. So bezeichnet Aristoteles’ Begriff vorrangig die hohe Wahrscheinlichkeit, zudem ist ihm die Idee einer exakt quantifizierten Wahrscheinlichkeit fremd. Dem entspricht, dass Aristoteles’ „frequentistische“ Konnotation des Wahrscheinlichkeitsbegriffs – Wahrscheinlichkeit als relative Häufigkeit – ein dem Bernoulli’schen Gesetz der großen Zahlen auch nur entfernt ähnelndes Prinzip nicht aufweist, ihm also die Vorstellung der Wahrscheinlichkeit als einem Grenzwert relativer Frequenzen abgeht. Es kann nicht erschöpfend aufgeklärt werden, warum dem so ist.50 Zwei Faktoren dürften aber eine Rolle spielen. Erstens hat Aristoteles sein Wahrscheinlichkeitsdenken nicht unter Rekurs auf den Referenzfall der Glücksspiele entwickelt, sondern unter Rekurs auf Charakteristika natürlicher und gesellschaftlicher Phänomene: in diesen Feldern hat man es, anders als unter den stark kontrollierten Bedingungen der Glücksspiele, tatsächlich mit bloß mehr oder weniger stabilen Häufigkeiten zu tun, mit „weichen“ Quantitäten. Zweitens ist klar, dass Aristoteles’ Interesse am Wahrscheinlichen als dem Häufigen sich ableitet aus der Vorstellung, man könne vom Häufigen auf eine Ordnung der Natur schließen. Unter diesem Gesichtspunkt ist aber die Erkenntnis des en gros Häu-

50 Vgl. zur Frage nach den Gründen der Abwesenheit eines vormodernen Wahrscheinlichkeitskalküls: Hacking 2006, 1-10.

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figen bedeutsamer als etwa die quantitativ exakte Erkenntnis etwa dessen, was sich indifferent mal so, mal so verhält. Ebenso, wenn Wahrscheinlichkeiten als eine Grundlage des Urteilens und Handelns fungieren sollen, wie es im Kontext der Rhetorik wie der Poetik der Fall ist: auch hier ist die ungenaue Kenntnis der hohen oder niedrigen Wahrscheinlichkeit hinreichend und brauchbarer als etwa die genaue mittlere. Hinsichtlich Aristoteles’ „dispositionaler“ Konnotation des Wahrscheinlichkeitsbegriffs – Wahrscheinlichkeit als quantifizierte Potentialität – wurde bereits in Kapitel 2.2.2 festgestellt, die Potentialität eines Ensembles von Entitäten sei ihre Konstitution, betrachtet in Hinblick auf ihren zukünftigen Prozess. Die Quantifizierung der Potentialität ist zwar bei Aristoteles nur rudimentär ausgeprägt: unterschieden wird ein einseitiges Mögliches, das die Möglichkeit des Notwendigen (des sich immer so und so Verhaltenden) umfasst, von einem zweiseitigen Möglichen, das die indifferente Statistik (des sich mal so, mal so Verhaltenden) ebenso wie die „Meistens“-Statistik begründet. Trotzdem ist die Grundstruktur der modernen dispositionalen Theorie hier schon vorgezeichnet: Den Erzeugungsbedingungen von Prozessen ist eine Potentialität eigen, die unmittelbar den relativen Häufigkeiten dieser Prozesse korreliert ist und vermittelt über diese auch quantifiziert werden kann. Ebenso merklich ist die grundlegende Äquivalenz zwischen Aristoteles’ Wahrscheinlichkeit als anerkannte Einschätzung des Häufigen und den modernen „subjektiven“ Wahrscheinlichkeitstheorien. Zentral für die aristotelische „subjektive“ Wahrscheinlichkeit ist die Erkenntnis, dass sich Beobachter über das Wahrscheinliche im Sinne des Häufigen auch täuschen können, da das Häufige sich Beobachtern nicht direkt darbietet, sondern von diesen als ein solches eingeschätzt werden muss. Den Grad an Gewißheit, den Beobachter hinsichtlich einer Wahrscheinlichkeitsaussage ausbilden („...what men know to happen or not to happen, to be or not to be, for the most part thus and thus“ (An. pr. 70a 36, zit. nach Aristoteles 1908ff., Bd. 1)), hängt daran, in welchem Umfang die Aussage mit ihrer eigenen (statistisch grundierten) Erfahrung in Einklang steht (so dass verschiedene Menschengruppen Verschiedenes für Wahrscheinlich halten). Dabei reserviert Aristoteles den Begriff des Wahrscheinlichen für den hohen Grad an Gewißheit (ebenso wie seine „frequentistische“ Wahrscheinlichkeit nur die große Häufigkeit bezeichnete). Dass der Grad an Gewißheit hinsichtlich einer Wahrscheinlichkeitsaussage von der (statistischen) Erfahrung der Beobachter abhängt, begründet dann auch den eigentlich intersubjektiven Aspekt der aristotelischen „subjektiven“ Wahrscheinlichkeit: Je mehr Beobachter eine Aussage über das Häufige anerkennen, desto größer ist gewissermaßen die statistische Basis, desto sicherer kann man sein, dass man es tatsächlich und nicht nur

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scheinbar mit Häufigem zu tun hat. Wenn somit die aristotelische „subjektive“ Wahrscheinlichkeit sich wesentlich aus dem Abgleich mit der statistischen Erfahrung herleitet, können gleichwohl auch non-quantitative Kriterien ins Spiel kommen, allen voran das soziale Prestige desjenigen, der eine Wahrscheinlichkeitsaussage vorträgt. In dem Maße, in dem non-quantitative Kriterien in die Wahrscheinlichkeitseinschätzung hineinspielen, mag es dann, wie schon von Laplace und dann von den Kritikern des klassischen Wahrscheinlichkeitsparadigmas festgestellt, zu Fehleinschätzungen hinsichtlich des Wahrscheinlichen kommen. Somit sind in der „subjektiven“ Konnotation des Wahrscheinlichkeitsbegriffs bei Aristoteles nicht nur Grundmotive, sondern auch Grundprobleme der modernen subjektiven Interpretation des Wahrscheinlichkeitsbegriffs angelegt. (2) Blickt man vom Wahrscheinlichkeitsdiskurs auf das Universalienproblem zurück, wird augenfällig, dass die in diesem Diskurs sich ausdifferenzierenden Theorieoptionen diejenigen des Universalienstreits in gewissem Umfang ähneln. Im Folgenden ist zu klären, ob diese relative Äquivalenz als Koinzidenz und d.h. als asignifikant anzusehen sind oder ob sie in einer Logik des Gegenstands gründen: ob die Struktur eines gemeinsamen Gegenstands selbst für die Analogien ursächlich ist. Um die Äquivalenzen hervortreten zu lassen, werden die jeweiligen Positionen stark verkürzt zusammengestellt. Im Wahrscheinlichkeitsdiskurs wie im Universalienstreit findet sich zunächst die Unterscheidung in objektive („realistische“, „platonische“) und subjektive („nominalistische“, m.E. auch „konzeptualistische“) Theorien. Die einen finden ihren Gegenstand in der extramentalen Welt („in den Dingen“, „vor den Dingen“), die anderen finden ihn in mentalen Sachverhalten („nach den Dingen“, „auf unseren Vorstellungen beruhend“). Im Feld der objektiven Theorien findet sich einerseits die Äquivalenz von (universalientheoretischem) Realismus und (wahrscheinlichkeitstheoretischem) Dispositionalismus, andererseits die Äquivalenz von Collectio-Lehre und Frequentismus. Der Realismus behauptet grundsätzlich die Inhärenz der Universalien als Universalien in den endlichen Einzeldingen und erkennt, dass die Universalien in den Einzeldingen nicht präsentisch aufgefasst werden können, sondern im Modus der Potentialität vorliegen müssen, nämlich als Potentialität der replikativen Wiederholung ihrer eigenen formalen Gehalte. Ebenso bestimmt der Dispositionalismus die Wahrscheinlichkeit als quantifizierte Potentialität von Dingen in Hinblick auf die Wiederholung bestimmter Prozesse. Dabei ist die dispositional verstandene Wahrscheinlichkeit in der maßgeblichen Popper’schen Theorie auch „in“ jeder einzelnen Wiederholung wirksam. Indem sie als Eigenschaft von Dingen gefasst wird, ließe sich in anderer Perspektive aber auch sagen, die

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Wahrscheinlichkeit liege „vor den Dingen“, nämlich vor den Wiederholungen, da sie ja in keiner Wiederholung ganz aufgeht und sich für alle kommenden Wiederholungen bereithält. Die Collectio-Lehre markiert eine Abweichung vom so verstandenen universalientheoretischen Realismus, insofern sie das Universal als Universal nicht „in“ Einzeldingen, sondern unmittelbar in einer Vielheit (einer Serie, einem Kollektiv) von Einzeldingen ansiedelt. „Realistisch“ bleibt diese Lehre in dem Aspekt, dass sie an der extramentalen Existenz des Universals festhält. Ganz entsprechend findet die frequentistische Wahrscheinlichkeitstheorie ihren extramentalen Gegenstand in einer Serie von Ereignissen – und nur in dieser: Einzelereignissen eine Wahrscheinlichkeit zuzusprechen, ist entweder sinnlos (von Mises) oder nur im übertragenen Sinne möglich (Venn). Im Feld der subjektiven Theorien findet man, weiterhin mit Abstand betrachtet, die Äquivalenz zwischen einem universalientheoretischen Konzeptualismus und einer statistisch bzw. durch die quantitativen Aspekte von Erfahrung begründeten subjektiven Wahrscheinlichkeit (Bernoulli etc.) einerseits und andererseits die Äquivalenz zwischen Nominalismus und einer im engeren Sinne „subjektiven“ Wahrscheinlichkeit, die, indem sie sich aus beliebigen Quellen speist, einen angebbaren und qualifizierten Weltbezug aufgegeben hat (Ramsey, de Finetti). Die Grundfigur des Konzeptualismus ist gegeben mit Aristoteles’ Abstraktionstheorie, wie am Schluss der Zweiten Analytik formuliert: „Aus der Wahrnehmung entsteht nun das Gedächtnis, wie wir das Beharren nennen, aus dem Gedächtnis, wenn derselbe Vorgang sich ihm oft unterbreitet, die Erfahrung; denn die der Zahl nach vielen Erinnerungen sind eine Erfahrung. Aus der Erfahrung aber oder aus jedem Allgemeinen, das in der Seele zur Ruhe gekommen ist...“ (An. post. 100a3-7, Kurs. teilw. eingef.)

Das mentale Universal ist eine Abstraktion oder Kontraktion der erfahrungsmäßig begegnenden Wiederholungen. Das Zitat repräsentiert die Urszene aller Theorien statistischer Erfahrung; das mentale Universal hat zwar keinen konkretgegenständlichen extramentalen Referenten, gleichwohl resultiert es klarerweise aus extramentalem Geschehen. Entsprechend ist erfahrungsmäßig begründete subjektive Wahrscheinlichkeit die Kontraktion der statistischen Erfahrung zum Glaubensgrad hinsichtlich des Eintretens oder Ablaufens eines bestimmten Ereignisses bzw. der Geltung einer bestimmten Proposition. Die im engeren Sinne „subjektiven“ Wahrscheinlichkeitstheorien wiederum sind „nominalistisch“ nicht weil sie die Wahrscheinlichkeit als „bloßen“, referenzlosen Begriff verstehen, sondern in dem Sinne, dass das mentale Faktum, als welches Wahrschein-

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lichkeit sich ihnen darstellt, über keinen qualifizierten Weltbezug verfügt: sie verstehen Wahrscheinlichkeit als ein im schlechtesten Sinne „bloß subjektives“ Faktum.51 (3) Fragt man nach den Gründen der skizzierten Analogien, kommt man zu einer ersten Antwort in Form der Feststellung, Wahrscheinlichkeitstheorie sei mit der quantitativen Erfassung und Relationierung von Universalien befasst. Nimmt man Gattungen und Arten als prototypische Universalien (Porphyrius, 1), findet sich diese Vorstellung in aller Klarheit zuerst 1854 bei Richard Leslie Ellis: „My intention […] is to consider, in what way the proposition, which I consider to be the fundamental principle of the theory [of probability], may be the most clearly and conveniently expressed. This principle may for the moment be thus stated: “On a long run of similar trials, every possible event tends ultimately to recur in a definite ratio of frequency.” […] If we endeavour to translate the proposition just stated into ordinary philosophical language, we may in the first place remark that the phrase “similar trials,” expresses the notion of a group or genus of phenomena to which the different results are subordinated as distinct species. If the trial is the throwing of a die, this may be regarded as the generic

51 Auch Peirce bemerkt in seiner Rezension von Venns Logic of Chance von 1867 (CP 8.1-6), d.h. bevor er seine eigene dispositionale Interpretation des Wahrscheinlichkeitsbegriffs entwickelte (die somit als eigenständige Theorieoption noch nicht zur Verfügung stand), eine grundsätzliche Homologie zwischen wahrscheinlichkeits- und universalientheoretischen Positionen. „Great changes have taken place of late years in the philosophy of chances. Mr. Venn remarks, with great ingenuity and penetration, that this doctrine has had its realistic, conceptualistic, and nominalistic stages.” (8.1) Dabei interpretiert Peirce Bernoullis Rede von einer qua Gesetz der Großen Zahlen zu ermittelnden „wahren Wahrscheinlichkeit“ (bzw. einem „wahren Verhältnis“, s.o.) als realistische, die als Glaubensgrad aufgefasste Wahrscheinlichkeit als konzeptualistische, und Venns Frequentismus als nominalistische Position: „This last is the position of Mr. Venn and of the most advances writers on the subject.“ (8.2) Es würde den Rahmen sprengen, Peirces Zuordnung nachzuvollziehen und im Detail zu kritisieren. Es erscheint aber als evident, dass der wahrscheinlichkeitstheoretische Frequentismus mit dem universalientheoretischen Nominalismus wenig gemein hat, insofern er Wahrscheinlichkeit als Realeigenschaft von Serien von Ereignissen fasst. Darüber hinaus ist davon auszugehen, dass Peirce selbst seine späte dispositionale Theorie der als would-be verstandenen Wahrscheinlichkeit als (universalien-) realistische Position aufgefasst hat (siehe etwa 8.191; 8.216f.; vgl. zum Realismus vs. Nominalismus Peirces auch Mayorga 2004, Lane 2004).

182 | K OLLEKTIVITÄTEN character; the occurrence of ace, deuce, &c. constituting different species. […] [I]t seems to follow that the fundamental principle of the theory of probabilities may be regarded as including the following statement; – “The conception of a genus implies that of numerical relations among the species subordinated to it.”“ (Ellis 1856, 605f.)

Wenn man Wahrscheinlichkeitstheorie dergestalt als befasst mit den quantitativen Verhältnissen von Universalien begreift (und sowohl Venn (1888, 9) als auch Peirce (CP 5.21; 2.674) stimmen darin grundsätzlich mit Ellis überein), dann erscheint es zumindest als folgerichtig, dass sich auch in Hinblick auf den Wahrscheinlichkeitsbegriff das Universalienproblem in analoger Art und Weise stellt: „But in what relation […] do these conceptions stand to outward realities? How can they be made the foundation of a real science, that is, a science relating to things as they really exist? We are by such questions led back to what was long the great controversy of philosophy; – I mean the context between the realists and the nominalists. The former in asserting the reality of universals did not maintain that what we think of when we use a general term is an actually existing thing. Like every one else they admitted, that in one sense nothing can exist but the individual, nevertheless they held that universals are not mere figments of the mind, but that they have a reality of their own which is the foundation of the truth of general propositions. To assert therefore that the theory of probabilities has for its foundation a statement touching genera and their species, and is at the same time a real science, is to take a realistic view of its nature. And this I believe is what, on consideration, we cannot avoid doing.“ (Ellis 1856, 606)

Da der Gegenstand von Wahrscheinlichkeitstheorie in Gattungen und Arten von Ereignissen oder Objekten und also in Universalien besteht, hätte die Theorie keinerlei Wirklichkeitsbezug, wenn man nicht eine universalienrealistische Position als richtig annehmen würde. Dabei stellt sich für Ellis das gleiche Problem wie für die Exponenten der Collectio-Theorie des Universals: wenn die Begriffe der Gattung und der Art eine reale Vielheit von Einzelphänomenen bezeichnen soll, dann reicht es nicht, wenn der Zusammenhang der Einzelheiten bloß vom Beobachter gestiftet wird (Ellis 1856, 606); sondern er muss in der Vielheit selbst liegen. Für Joscelin und Nizolius ergibt sich der Realzusammenhang der als Vielheiten verstandenen Arten und Gattungen aus ihrem „gemeinsamen Ursprung“, aus der Tatsache, dass sie genealogisch, mittels Reproduktionsbeziehungen, zusammenhängen. Ellis seinerseits scheint sich auf ein (wenn auch kaum substantiiertes) platonisches Modell zu verlassen, bei dem die wahrscheinlichkeitstheoretisch erfassten Ideen der Gattungen – einschließlich der numeri-

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schen Proportion der ihnen untergeordneten Arten – genau die Ideen sind, welche auch verantwortlich sind für die Produktion der erfassten Phänomene selbst. Der Wahrscheinlichkeitsbegriff erlaubt die Erfassung der „reinen“ Ideen deshalb, weil in der Unendlichkeit der Wiederholungen, die er impliziert, schließlich alle Zufälligkeiten und Unvollkommenheiten ihrer Realisation verschwinden (ebd.).52 Ein besseres Verständnis des Zusammenhangs dürfte die konkrete Analyse von Ellis’ Beispiel im obigen Zitat erlauben. Dort werden der Würfelwurf als die Ereignisgattung und die je geworfene Punktzahl als die Ereignisarten gefasst, deren quantitatives Verhältnis sich mit einer immer größeren Serie von Würfen immer genauer ausprägt. Geworfen werde immer mit ein und demselben Würfel. Die Zusammenfassung der Würfe und ihrer „Ausgänge“ zu Gattungen und Arten ist dann deshalb nicht bloß arbiträr („…merely a mental act wholly disconnected from outward reality and altogether arbitrary“, ebd.), weil diese über einen „gemeinsamen Ursprung“ verfügen in dem Sinne, dass sie Aktualisierungen des selben Potentials, wiederholter Prozess des selben Prozessors (des Systems Hand – Würfel – Oberfläche) sind. Dabei ist klar, dass dieser wiederholte Prozess ebenso wenig wie seine wiederholten Ausgänge Universalisierungsprozesse oder Universalien im Sinne von Kapitel 2 darstellen. Universalisierung wurde dort grundsätzlich als Universalisierung von Formen gefasst und die Universalität einer Form als Effekt von Universalisierung. Entsprechend würde man nicht sagen, dass die Ereignisse des wiederholten Würfelwurfs bzw. der je geworfenen Punktzahl sich mit zunehmender Wiederholung immer weiter universalisierten. Sondern man würde etwa davon sprechen, die Form des Würfels werde in dem Maße universalisiert, in dem immer mehr Würfel hergestellt werden. Universalisierung kommt in Ellis’ Beispiel also erst dort ins Spiel, wo der betrachtete Prozessor nicht buchstäblich der selbe, sondern bloß dem Typ nach identisch ist, wo also die Aussage über die Gattung der Würfelwürfe und die Arten der jeweils geworfenen Punktzahlen bezogen wird auf beliebige baugleiche Würfel als Elemente des ProzessorenSystems Hand, Würfel, Oberfläche. Nun involvieren nicht alle probabilistisch behandelbaren Gegenstände universalisierte Prozessoren (so etwa die probabilistische Abschätzung der Genauigkeit einer Serie von Messungen eines einzelnen gegebenen Objekts). Wo aber der Gegenstand des Wahrscheinlichkeitsbegriffs in generischen Objekten besteht oder relativ ist auf generische Objekte (wie im Fall der Glücksspiele, wo man eben Aussagen über Ereignisgattungen und -arten

52 Vgl. zu Ellis’ Realismus: Kilinç 2000, 254-263; Daston 1994, 337f.; Krüger 1987, 6870.

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macht, die nicht ein konkretes Spiel betreffen, sondern einen Typus von Spielen wo und wann immer sie auch gespielt werden), da liegen der Wahrscheinlichkeit reale Universalisierungsprozesse zu Grunde und da wird die Konsistenz der betrachteten Quantitäten gewährleistet durch diese Universalisierungsprozesse. In Ellis’ Beispiel: Die Zusammenfassung der Würfe (mit beliebigen Würfeln) und ihrer „Ausgänge“ zu Gattungen und Arten ist nicht bloß arbiträr deshalb, weil sie, als Aktualisierungen seiner Potentialität, relativ sind auf das generische Objekt Würfel, das als generisches in die Welt kommt nur über die wirkliche Universalisierung seiner Form. Der innere Zusammenhang der Elemente von Ellis’ Gattungen und Arten wird gewährleistet schlicht dadurch, dass und wie Würfel standardisiert hergestellt und ausgeliefert werden: Was die Konsistenz der in der Geschichte der Wahrscheinlichkeitstheorie einschlägigen Beispiele aus dem Bereich der Glücks- bzw. Zufallsspiele garantiert, ist die Präzision der Arbeit ihrer Hersteller. John Venn deutet diese reproduktive Grundlage jeder Form von quantitativer Konsistenz an, wenn er schreibt: „In our games of chance of course the same die may be thrown, or a card be drawn from the same pack, as often as we please; but many of the events which occur to human beings either cannot be repeated at all, or not often enough to secure in the case of the single individual any sufficient statistical uniformity. Such regularity as we trace in nature is owing, much more than is often suspected, to the arrangement of things in natural kinds, each of them containing a large number of individuals. Were each kind of animals or vegetables limited to a single pair, or even to but a few pairs, there would not be much scope left for the collection of statistical tables amongst them. […] A large number of objects in the class, together with that general similarity which entitles the objects to be fairly comprised in one class, seem to be important conditions for the applicability of the theory of Probability to any phenomenon.“ (1888, 55f.)

Die als Prämisse der Anwendung des Wahrscheinlichkeitskalküls geforderte Gleichartigkeit der betrachteten Fälle ist, wie nährungsweise für alle nicht rein physikalisch-chemischen Phänomene gesagt werden kann, eine populationistische Gleichartigkeit: ihr liegt ein Reproduktions- bzw. Universalisierungsgeschehens zu Grunde, das Venn hier für die biologischen Formen impliziert, das Tarde für die kulturellen Formen nachzeichnet (Kap. 3.3) und das prinzipiell überall dort angetroffen werden kann, wo man es mit (Ensembles von) generischen Objekten und mit von generischen Objekten prozessierten Prozessen als Gegenstand des Wahrscheinlichkeitskalküls zu tun hat. Dieses Geschehen konstituiert die zumeist unthematisierte Logistik der Wahrscheinlichkeiten.

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Die Feststellung, Wahrscheinlichkeitstheorie sei mit der quantitativen Erfassung und Relationierung von Universalien befasst, ist eine Antwort auf die Frage nach den möglichen Ursachen der Analogie der Interpretationen des Wahrscheinlichkeitsbegriffs- und kalküls und des Universalienproblems. Sie verfügt über eine gewisse Plausibilität, wenn man Ellis’ Ansatz modifizierend feststellt, dass, wenn auch die (interaktiven) Wiederholungen etwa des Würfelwurfs auch selbst keinen Universalisierungsprozess darstellen, sie die Universalisierung ihrer Prozessoren mittels (replikativer) Wiederholung voraussetzen, dass also das raumzeitlich verstreute Auftreten von Gattungen und Arten gleichartiger Ereignisse die raumzeitliche Verstreuung, die universalisierende Produktion und Distribution gleichartiger Prozessoren zur Bedingung hat (#6, #10). Trotzdem scheint noch eine substanziellere Antwort auf die Frage möglich zu sein. Diese nimmt an, Universalien ebenso wie Wahrscheinlichkeiten seien Prozessobjekte (#5). Sie besagt weiter, die respektiven Positionen im Universalienstreit wie die respektiven Interpretationen des Wahrscheinlichkeitsbegriffs spiegelten insbesondere dort, wo diese Positionen und Interpretationen als jeweils ausschließlich begriffen werden, eine grundlegende philosophische Unsicherheit hinsichtlich des ontologischen Status’ von Prozessobjekten wider. Und sie vermutet, diese Unsicherheit finde ihre Ursache in der Tatsache, dass Prozessobjekte relativ sind auf die Wahrnehmung von Beobachtern in einer Weise, wie es für andere Typen von Objekten nicht der Fall ist. Was heißt das? Universalien sind Prozessobjekte, aus Wiederholung „bestehende“, sich in dieser Wiederholung „abzeichnende“ Objekte. Eine Form hält sich als universale in der Welt nur über ihre fortlaufende Universalisierung: Universalität markiert im Bereich der populationistischen Phänomene keinen einmal erreichten und sich dann automatisch fortschreibenden Endzustand, sondern den temporären und jederzeit instabil bleibenden Ausbreitungsgrad einer Form, die mittels replikativer Wiederholung reproduziert werden muss, weil ihre Träger sterblich sind. Universalität bezeichnet den metastabilen „Zustand“ eines laufenden Universalisierungsprozesses, einer Ordnung von Wiederholungen. Umgekehrt gilt für das abstraktiv generierte Universal mit Struktur Vieles-inEinem, dass es sich erst im Prozess der wiederholten Begegnung mit Gleichartigem im Geist eines Beobachters überhaupt als Objekt „abzeichnet“. Es bleibt als Prozessobjekt zudem darauf angewiesen, dass die replikativen Wiederholungen extramental stets weiterlaufen: begegnete ab einem bestimmten Punkt kein Gleichartiges mehr wiederholt, würde das abstraktiv generierte Universal buchstäblich seinen Gegenstand verlieren.

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Das Gleiche gilt für die Wahrscheinlichkeit. Wahrscheinlichkeiten prägen sich als relative Frequenzen von Ereignissen in einer gegen unendlich gehenden Serie von (interaktiven oder replikativen) Wiederholungen aus. Wo Phänomene so irregulär sind, dass bei ihnen keine Wiederholungen gleichartiger Fälle auftreten und wo sie so selten sind, dass die Unendlichkeit der Wiederholung nicht approximiert werden kann, gibt es keine Wahrscheinlichkeit. Die relative Frequenz von (Spezies von) Ereignissen ist vielmehr der metastabile „Zustand“ einer Wiederholungsordnung, der abstraktiv (quantitativ) erfasst werden kann und der als mentales oder statistisch aggregiertes Objekt ebenso wie das Universal erfordert, dass die (interaktiven oder replikativen) Wiederholungen in ihrer gegebenen Ordnung weiterlaufen. Das gilt (abzüglich der Grenzwertbildung) auch für den aristotelischen Wahrscheinlichkeitsbegriff. Prozessobjekte, verstanden als sich in (Serien von) Wiederholungen abzeichnende Choreografien, Muster oder Charakteristika, sind nicht ganz unbezüglich auf Aktualitäten: vielmehr setzen sie gerade voraus, dass Wiederholungen aktuell stattfinden, stattgefunden haben, stattfinden werden. Aber man wird die „Existenz“ oder „Realität“ eines Prozessobjekts niemals in der Aktualität einer einzelnen Wiederholung finden. Es existiert schlicht nicht im Moment, sondern allein in der Dauer seiner zeitlichen Erstreckung. Deshalb kann es keine unmittelbare Wahrnehmung des Prozessobjekts geben. Vielmehr setzt seine Erfassung ein Gedächtnis voraus, das die Wiederholungen registriert und kontrahiert, also in die Gleichzeitigkeit der Gegenwart eines Beobachters bringt. Die einzige Möglichkeit, die Existenz von Prozessobjekten zu erfassen, liegt in dieser Kontraktion, die den vergangenen Prozess präsent macht und präsent hält: Prozessobjekte sind nur als kontrahierte gegenwärtig.53 Weil dem so ist, haben Prozessobjekte von ihrer Existenzweise her einen besonderen Bezug auf die Wahrnehmung, nämlich auf die Gedächtnis- bzw. Kontraktionsfähigkeit des Beobachters. Es mag dem Beobachter dann scheinen, als existierten Prozessobjekte allein in seiner (kontrahierenden) Beobachtung, allein als mentale Objekte: ihnen kommt ja extramental keine aktuelle Existenz zu. Das ist die nominalistische Illusion: Effekt der Unfähigkeit, die Vorstellung der Existenz von der Vorstellung der Aktualität zu dissoziieren. Die Unsicherheit in der Einschätzung von Universalien

53 Zudem ist der Grund dafür, dass sie nur als kontrahierte gegenwärtig sind, nämlich: dass sie irreduzibel in der Dauer existieren, zugleich der Grund dafür, dass ihre Kontraktion ihre Projektion sein kann, dass ihre kontrahierte Erfahrung in die Erwartung ihres kommenden Prozesses konvertiert werden kann: Denn dass ihre Existenz in die Dauer fällt, impliziert, dass diese, von jeder Aktualität her betrachtet, das Zukünftige einschließt. (vgl. aber die Einleitung zu Kap. 3)

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und Wahrscheinlichkeiten und die entsprechenden Schulbildungen dürften wesentlich aus dieser Sachlage herrühren. Allerdings sind im Diskurs des Universalienproblems und in der Wahrscheinlichkeitstheorie, wenn man alle Positionen zusammennimmt, die sachlich zusammenhängenden Begründungsmomente von Prozessobjekten insgesamt durchaus adäquat erfasst. Prozessobjekte existieren irreduzibel in der Dauer der Wiederholungen (Collectio-Theorie, Frequentismus); diese aber werden „getragen“ von einer Ordnung der Potentialitäten und Prozessoren (Realismus, Dispositionalismus) und können von einem gedächtnisfähigen Betrachter in die Gegenwart seiner Betrachtung hinein kontrahiert werden (Konzeptualismus; Beobachter als statistischer Aufzeichnungsapparat / Bernoulli). Das gilt auch für das Prozessobjekt Kollektivität, das aus replikativen und interaktiven Wiederholungen „besteht“, mittels derer sich Populationen von Entitäten in der Welt halten und zu heterogenen Interaktionszusammenhängen verschalten. Entsprechend ist die Frage des sozialen bzw. gesellschaftlichen Realismus (Holismus, Emergentismus) vs. Nominalismus (Individualismus, Reduktionismus), die in Kapitel 3.2.3 bei Adolphe Quetelet berührt und in Kapitel 4 im Kontext der Durkheim’schen Soziologie explizit gestellt werden wird, auch eine, die sich letztlich als Frage der angemessenen Erfassung der Existenzweise des Prozessobjekts Kollektivität stellt.

3.2 Z UR T HEORIE

DER KONSTANTEN

U RSACHEN

Diese Untersuchung überbetont den Aspekt der statistischen Stabilität in der Welt. Damit reproduziert sie ein Vorurteil vieler Statistiker des 19. Jahrhunderts, allen voran Adolphe Quetelets, zugunsten sozialer Ewigkeit; und insofern kann sie als unzeitgemäß erscheinen. Denn zeitgenössische Gesellschaften zeichnen sich gerade durch Dynamiken aus, die sich in deutlichen, teils rasanten Veränderungen in statistischen Zeitreihen niederschlagen, so im Feld von Technologie, Ökonomie und Ressourcenverbrauch, in Mobilität und Medialität, aber auch im Bereich der Bevölkerungsentwicklung. In Begriffen von #8 und #9 lassen sich solche Dynamiken etwa so beschreiben, dass die Weltpopulation der menschlichen Spezies exponentiell anwächst, Populationen vieler anderer Lebewesen hingegen radikal dezimiert werden, und immer neue Populationen von kulturellen Formen und Artefakten in die Welt kommen (und teils als Moden oder als Konjunkturen technischer Entwicklungen rasch wieder vergehen), die den Aufbau neuartiger Interaktionszusammenhänge prozessieren, in die immer neue

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Spieler (Organismen, Artefakte, Materien) einbezogen werden und die räumlich tendenziell immer weiter ausgreifen, – bis hin zum Aufbau globaler, die Erdoberfläche insgesamt übergreifender Zusammenhänge. Trotzdem bewegt sich die Statistik auch von Gegenwartsgesellschaften, in der kürzeren Dauer etwa von Jahr zu Jahr betrachtet, in vielen Aspekten doch mindestens in der gleichen quantitativen Größenordnung. Zwar gibt es in der krisenhaften Zuspitzung von Ereignissen (im Fall von Kriegen, Aufständen, Epidemien, Natur- und Hungerkatastrophen, ökonomischen Krisen etc.) immer wieder statistisch dokumentierte Sprünge und Zusammenbrüche; aber man wird nicht sagen, der Zeitlauf bestehe aus nichts anderem als Sprüngen und Zusammenbrüchen. Hieraus folgt der fundamentale und unbestreitbare Sachverhalt der zumindest relativen Erwartbarkeit des Zukünftigen. Der Sachverhalt liegt nicht nur der Möglichkeit der Versicherbarkeit von Ereignissen zu Grunde, sondern jeder Art menschlicher Praxis. Man könnte sogar argumentieren, bereits der Prozess der biologischen Evolution sei auf den Sachverhalt angewiesen, da nämlich die spezifischen Morphologien von Lebewesen als verkörperte Erwartung des Vorhandenseins der spezifischen ökologischen Nischen bzw. Lebensräume begriffen werden können, in die sie hineingeboren werden und im Rahmen derer sie allein „funktionieren“, also ihren Lebensprozess aufrecht erhalten können. Die partielle Enttäuschung dieser Erwartung setzt dann den evolutionären Drift ins Werk, deren systematische Enttäuschung aber den Evolutionsprozess durch Extinktion zum Erliegen brächte. In jedem Fall ist es die Realität der relativen Erwartbarkeit des Zukünftigen, die die Existenz von Prozessobjekten als Realobjekten beglaubigt. Insofern das auch für das Prozessobjekt Kollektivität gilt, das aus nichts anderem als Wiederholungen besteht (#5), verspricht die Überbetonung statistischer Stabilität zum Zweck ihrer Erklärung dann auch nähere Einblicke in die Konstitution von Kollektivitäten. Daher wird im folgenden eine überhaus marginale Sozialtheorie betrachtet, – die Sozialtheorie der statistischen Wissenschaft und Wahrscheinlichkeitstheorie im 19. Jahrhundert. Obwohl sie heute insgesamt nur noch von historischem Interesse ist, wird diese Sozialtheorie hier einmal mehr als Theorie sozialer Wiederholung rezipiert, d.h. auch als Sozialtheorie der Möglichkeitsbedingungen von Erwartung. Denn indem Wahrscheinlichkeitstheorie Erwartbarkeit formalisiert, stellt sich für sie natürlich ganz zentral die Frage nach dem Geltungsgrund ihres Formalismus’: die Frage nach der ontologischen Konstitution und der kausalen Struktur der sich probabilistisch darbietenden Phänomene selbst. Gibt es ein allgemeines Modell aller Phänomene, die dem „Gesetz der großen Zahlen“ folgen, die also, in der gegen unendlich gehenden Wiederholung betrachtet, beliebig genaue relative Frequenzen aufweisen, die als

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Wahrscheinlichkeiten des Ablaufs zukünftiger Ereignisse interpretiert werden können? Für die Sozialstatistik sind das Wiederholungsphänomene, deren Statistik (handele es sich um relative Häufigkeiten oder absolute Werte) von einem Beobachtungszeitraum zum anderen nur zufälligen Schwankungen unterliegt, – Schwankungen, deren Verteilung durch den Zentralen Grenzwertsatz bestimmt ist. (Stigler 1986, 136-138) Tatsächlich liefert die Wahrscheinlichkeitstheorie im 19. Jahrhundert ein Modell, das die besonderen Merkmale probabilistischer Phänomene durch ein Zusammenspiel konstanter und akzidenteller Ursachen zu erklären versucht (Krüger 1987; Daston 1994). Dem Modell zufolge zeichnen die konstanten Ursachen dafür verantwortlich, dass man es überhaupt mit Serien gleichartiger Phänomene („Fälle“) zu tun hat, während der Wirkung der akzidentellen Ursachen die Tatsache zuzuschreiben ist, dass der Ablauf bzw. die Beschaffenheit der einzelnen Fälle mit objektiver Unsicherheit behaftet ist und sich daher nicht sicher vorherzusagen lässt. Das Modell des Zusammenspiels konstanter und akzidenteller Ursachen findet sich ansatzweise schon bei Aristoteles als Modell zur Erklärung der „Meistens“-Statistik, durch die natürliche und gesellschaftliche Erscheinungen gekennzeichnet seien und welche auf eine Ordnung der Natur hinweise, die realiter als akzidentell gestörte vorliege. Für die moderne Wahrscheinlichkeitstheorie ist hingegen die Laplace’sche Formulierung des Modells entscheidend (Laplace 1996, 44-55), die, entsprechend, von vielen maßgeblichen Autoren in der Zeit nach Laplace aufgegriffen wird.54 Nachfolgend werden schwerpunktmäßig die Ausführungen Laplaces, Cournots und Quetelets behandelt. 3.2.1 Das Modell Laplaces Laplace führt das Modell des Zusammenspiels von konstanten und akzidentellen Ursachen im Kontext seiner Behandlung des Bernoulli’schen Gesetzes der gro-

54 Vgl. Daston 1994, 340f. Das Modell wird aufgegriffen etwa in Siméon Denis Poissons Recherches sur la probabilité des jugements en matières criminelles et matière civile (1837; Poisson 1841, Vff.), in Antoine Auguste Cournots Exposition de la Théorie des Chances et des Probabilités (1843; Cournot 1849, 60-74), in John Stuart Mills System of Logic (1843; Mill 1882, 376f.), in Robert Leslie Ellis’ „Remarks on the Fundamental Principle of the Theory of Probabilities“ (Ellis 1856), in John Venns Logic of Chance (1866; Venn 1888, 53-73) und noch in Emanuel Czubers Wahrscheinlichkeitsrechnung und ihre Anwendungen (1902/3; Czuber 1910, 7ff.).

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ßen Zahlen ein. (Kap. 3.1.2)55 Wo Bernoulli die Geltung des Gesetzes mathematisch beweist, sucht Laplace dessen Geltung unter Rekurs auf ein Kausalmodell sachlich zu fundieren: „Man kann aus dem vorhergehenden [Bernoulli’schen] Theorem die folgende Folgerung ziehen, die als ein allgemeines Gesetz zu betrachten ist, nämlich: dass die Beziehungen zwischen Wirkungen der Natur [die quantitativen Verhältnisse der Naturerscheinungen] sehr nahe konstant sind, wenn diese Wirkungen in großer Zahl betrachtet werden. […] Ferner folgt aus diesem Theorem, dass in einer unbegrenzt fortgesetzten Reihe von Ereignissen die Wirkung der regelmäßigen und konstanten Ursachen [causes régulières et constantes] mit der Länge der Zeit über die unregelmäßigen Ursachen die Oberhand gewinnen muss.“ (Laplace 1996, 46, Kurs. eingef.)

Damit ist gesagt: nimmt man an, dass ein Ereignis dem Typ nach beliebig oft wiederholbar und im Fortgang der Wiederholungen bewirkt ist durch eine Zusammensetzung von Ursachen, die teils konstant, in jedem Einzelfall identisch und teils zufällig, von Wiederholung zu Wiederholung ganz verschieden und wechselnd sind, dann wird das Beobachtungsresultat einer Serie von Wiederholungen umso mehr durch die konstanten und umso weniger durch die akzidentellen Ursachen charakterisiert sein, je größer diese Serie wird. Warum aber ist dem so? Warum verschwindet der Einfluss der akzidentellen Ursachen im Beobachtungsresultat, obwohl ihre Wirkungen doch ebenso in das Resultat eingehen wie die Wirkungen der konstanten Ursachen? Laplace entfaltet die zu Grunde liegende Logik mit Hilfe einer Serie von Beispielen, die als Fälle von Wiederholungsordnungen interpretiert werden können und letztlich anschließen an die platonischen und aristotelischen Charakterisierungen des „Werdens der irdischen Welt“, die in Kapitel 2.1.1 und 3.1.1 bereits rekonstruiert wurden. Ein letzter Anlauf zur Charakterisierung von Wiederholungsordnungen wird später in Kapitel 4.2 gemacht. Laplace beginnt seine Serie typisch mit einem Urnenbeispiel: „[Bsp. 1] Das Verhältnis der Anzahl der herausgezogenen weißen Kugeln zur Anzahl der herausgezogenen schwarzen Kugeln wird in den ersten Zügen zumeist sehr unregelmäßig sein; aber die veränderlichen Ursachen dieser Unregelmäßigkeit bringen Wirkungen hervor, die einmal dem regelmäßigen Gange der Ereignisse günstig, dann wieder entgegen sind und welche, indem sie sich gegenseitig in der Gesamtheit einer großen Zahl von Zü-

55 Laplace übernimmt die Unterscheidung von konstanten und akzidentellen Ursachen aus seiner Analyse der Himmelsmechanik, vgl. Hilts 1973, 210.

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gen aufheben, mehr und mehr das Verhältnis der weißen zu den schwarzen, in der Urne enthaltenen Kugeln oder die bezüglichen [= jeweiligen] Möglichkeiten für das Herausziehen einer weißen oder schwarzen Kugel bei jedem Zuge erkennen lassen.“ (ebd., 45)

Dass das Verhältnis der herausgezogenen Kugeln „in den ersten Zügen sehr unregelmäßig sein“ wird, heißt: Das Verhältnis von weißen und schwarzen Kugeln in verschiedenen kleinen Samples von Ziehungen wird recht unterschiedlich ausfallen, so nämlich, dass man für das jeweils gefundene Resultat keine Regel angeben, es nicht individuell voraussagen kann. Dem dergestalt „unregelmäßigen Gang der Ereignisse“ müssen, wenn man das Prinzip gleiche Ursache, gleiche Wirkung gelten lässt, unregelmäßige, eben akzidentelle Ursachen zu Grunde liegen. Allerdings schreibt Laplace, die akzidentellen Ursachen seien „einmal dem regelmäßigen Gange der Ereignisse günstig, dann wieder entgegen“. Ersteres meint: in einem kleinen Sample von Ziehungen findet sich genau das wahre Verhältnis von weißen und schwarzen Kugeln in der Urne wieder. Auch dieser Fall ist also unmittelbar Effekt akzidenteller Ursachen, nicht einer konstanten Ursache (das „Regelmäßige“ des Falles ist gleichsam ein akzidentelles Regelmäßiges). Und ebenso ist es klarerweise ein Effekt der akzidentellen Ursachen, wenn in kleinen Samples das „wahre Verhältnis“ der Kugeln in der Urne verfehlt wird. Was ist aber in diesem Beispiel die „konstante Ursache“, wie wirkt sie und weshalb ist das Beobachtungsresultat einer langen Serie von Ziehungen umso mehr durch sie charakterisiert, je länger die Serie wird? Die konstante Ursache ist die Füllung der Urne. Sie erklärt nicht die Tatsache bzw. ist als „Ursache“ nicht hinreichend dafür, dass in einem einzelnen Zug diese oder jene Kugel gezogen wird. Aber sie bildet den „Grund“ dafür, dass in einer gegen unendlich gehenden Serie von Ziehungen sich das Verhältnis der gezogenen weißen und schwarzen Kugeln immer mehr dem Verhältnis der in der Urne vorhandenen Kugeln annährt. Somit stößt man auf das zunächst paradox anmutende Faktum, dass, obwohl sie den Ausgang keiner einzigen einzelnen Ziehung bestimmt, das Resultat einer gegen unendlich gehenden Serie von Ziehungen vollständig durch die Beschaffenheit der konstanten Ursache charakterisiert ist. Angesichts dieser Lage ist klar, dass die Laplace’sche „konstante Ursache“ den Begriff der Ursache, verstanden als definierter Vorläuferzustand eines aktuellen Zustands, oder als aktueller Zustand, insofern er der Vorläufer eines folgenden Zustands ist, übersteigt. Denn die „konstante Ursache“ bezeichnet ebenso wenig einen aktuellen Zustand (sie aktualisiert sich in keinem Moment als Ganze) wie das, wofür sie Ursache ist, kein aktueller Zustand ist (denn sie „verursacht“ nicht das Ergebnis der einzelnen Ziehung, sondern bloß das Konver-

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genzverhalten der relativen Frequenzen von Ereignissen in einer gegen unendlich gehenden Serie von Ziehungen). Damit zählt die „konstante Ursache“ eher zu den vorkausalen Bedingungen von Kausalprozessen als dass sie selbst als ein Element derselben anzusehen wäre. (Krüger 1987, 65) Entsprechend ließe sich mit Peirce und Popper argumentieren, die konstante Ursache sei in Wahrheit nichts anders als die sich durchhaltende Potentialität (das „would-be“) aktueller Wiederholungsprozesse und ihres bestimmten quantitativen Verhaltens. (Kap. 3.1.2) Diese Charakterisierung ist in vielen Fällen von „konstanten Ursachen“ tatsächlich treffend. Die „akzidentellen Ursachen“ erscheinen dann eigentlich als die Aktualisierungen der Potentialitäten und ihre „Akzidentalität“ beschreibt den Sachverhalt, dass Potentialitäten häufig nicht bloß einen einzigen Prozess in seinem bestimmten Ablauf zulassen, sondern Möglichkeitsräume bilden, die Spielraum bieten für divergente Aktualisierungen. Vor diesem Hintergrund lässt sich die obige Frage, warum die akzidentellen Ursachen im Beobachtungsresultat einer Serie von Wiederholungen „verschwinden“, wie folgt beantworten: Die akzidentellen Ursachen der Resultate der einzelnen Ziehungen verschwinden im Gesamtresultat durchaus nicht; verstanden als punktuelle, partielle Aktualisierungen des durch die konstante Ursache definierten Möglichkeitsraums werden sie im Gesamtresultat einer relativen Häufigkeit vielmehr kontrahiert, so dass sie das Ganze des Möglichkeitsraums mittels kontrahierter Aktualität seiner Beschaffenheit nach gleichsam „ausleuchten“. Die Unendlichkeit der Kausalprozesse leuchtet ihre vorkausalen Bedingungen unendlich genau aus. Das Vorliegen einer mathematischen Wahrscheinlichkeit in der Welt wäre demnach dreifach bedingt: einerseits müssen die konstanten Ursachen vollkommen konstant sein; dann müssen die akzidentellen Ursachen vollkommen akzidentell und ungerichtet sein; und schließlich setzt die vollendete Realität einer mathematischen Wahrscheinlichkeit in der Welt die Realität einer Unendlichkeit von Wiederholungen der betrachteten gleichartigen Ereignisse voraus. Wo die Unendlichkeit der Wiederholungen nicht realisiert wird, aber die ersten beiden Bedingungen erfüllt sind, hat man es mit einer Realität der mathematischen Wahrscheinlichkeit im Modus der Potentialität zu tun, die über endliche Serien von Wiederholungen für praktische Zwecke hinreichend genau approximiert werden kann. Effekt der Realität der mathematischen Wahrscheinlichkeit in der Welt ist das Vorliegen quantitativer Erscheinungen, die sich durch eine probabilistische statistische Regularität auszeichnen. Andere Formen statistischer Regularität und Irregularität ergeben sich aus dem Modell wie folgt: (1) Der Grenzfall, in dem ausschließlich konstante Ursachen so wirksam sind, dass sie, als mit den Anfangsbedingungen eines Prozesses festgelegte, den

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Ablauf des Prozesses determinieren, führt auf die strenge statistische Regularität des Immer-so-und-so, auf die statistische Regularität „gesetzmäßig“ sich verhaltender Vorgänge.56 (2) Der andere Grenzfall, dass es nur akzidentelle Ursachen gibt, so dass sich keinerlei statistische Regularität ausprägt. (3) In der Regel wird es sich mit allen biologischen und gesellschaftlichen Phänomenen aber so verhalten, dass die konstanten Ursachen nur mehr oder weniger konstant sind und dass die akzidentellen Ursachen nur mehr oder weniger ungerichtet sind, also teils „auf die Seite“ der konstanten Ursachen wandern. Dadurch ergibt sich ein gewisses Maß an statistischer Regularität, ohne dass sich strenge statistische Wahrscheinlichkeiten ausprägen. Laplaces Urnen-Beispiel ist einschlägig für das Modell des Zusammenspiels von konstanten und akzidentellen Ursachen. Wie andere Zufallsspiele zeichnet es sich durch einen hochgradig standardisierten Versuchsaufbau aus: der durch das System Urne – Hand gegebene Möglichkeitsraum für das Ereignis „Ziehung einer Kugel“ ist eindeutig ausdefiniert und lässt nur zwei diskrete Prozessresultate zu (Ziehung weiß, Ziehung schwarz), wenn er auch nicht determinativ ist für den Verlauf der einzelnen Ziehungen, deren Akzidentalität vielmehr eine vollkommene ist (ohne Manipulation des Versuchsaufbaus können die Ergebnisse der Ziehungen nicht beeinflusst, kann ihnen keine „Richtung“ gegeben werden). Laplace beansprucht aber, das Modell sei auch in anderen, weniger artifiziellen Fällen gültig. Dieser Anspruch ist nur folgerichtig, da andernfalls das Bernoulli’sche Gesetz weiterhin nur auf Glücksspiele zu beziehen und somit in seinem Geltungsbereich sehr eingeschränkt wäre. Das ganze Konzept der aposteriorischen bzw. statistischen Wahrscheinlichkeit erwiese sich als weltloses Konzept, das zudem seine eigentliche Motivation verfehlte, nämlich über die Beschränktheit des apriorischen Ansatzes hinauszuführen (Kap. 3.1.2). Andererseits droht die unbedachte Ausweitung des Geltungsbereichs des Modells in Regionen zu führen, in denen seine Geltung nur nährungsweise angenommen werden kann (obiger Fall (3)), in denen das Modell also nicht gerade unplausibel wird, das Gesetz der großen Zahlen aber auch nicht mehr fundieren kann (da die resultierenden relativen Häufigkeiten schlicht nicht mehr beliebig genau auf einen Grenzwert hin konvergieren). Das scheint bei den meisten der von Laplace vorgeführten Beispiele der Fall zu sein.

56 In Termini von Potentialität und Aktualisierung würde man hier davon sprechen, die betreffenden Potentialitäten seien „einsinnig“ und ihre Aktualisierungen mit keinerlei Akzidentalität behaftet (s.o.).

194 | K OLLEKTIVITÄTEN „[Bsp. 2] „So ist trotz der Verschiedenheit der Jahre die Summe des Ertrages während einer beträchtlichen Anzahl von Jahren merklich dieselbe; so zwar, dass der Mensch durch nützliche Vorsichtsmaßregeln sich vor der Unregelmäßigkeit der Jahreszeiten dadurch schützen kann, dass er die Güter, welche die Natur in ungleicher Weise austeilt, auf alle Zeiten gleichmäßig verteilt. [Bsp. 3] Ich nehme von dem vorangehenden Gesetze auch die Wirkungen, die von den moralischen Ursachen herrühren, nicht aus. Das Verhältnis der jährlichen Geburten zur Bevölkerung und das der Ehen zu den Geburten weist nur kleine Schwankungen auf; in Paris ist die Zahl der jährlichen Geburten annährend dieselbe; [Bsp. 4] und ich habe gehört, dass auf der Post in gewöhnlichen Zeiten die Zahl der wegen mangelhafter Adresse unbestellbaren Briefe jedes Jahr sich wenig ändert.“ (Laplace 1996, 46, Kurs. eingef.)

Es ist nicht unplausibel, dass in diesen Fällen annährungsweise ein Zusammenspiel von konstanten und akzidentellen Ursachen am Werk sei soll. So könnte man sagen, dass dem landwirtschaftlichen Ertrag eines Landes ein Ensemble konstanter Ursachen zu Grunde liege, dass also etwa durch die Beschaffenheit der eingesetzten Kulturpflanzen, Nutztiere und Bewirtschaftungstechniken etc. ein Möglichkeitsraum aufgespannt werde, der den unter diesen Bedingungen möglichen maximalen und minimalen Ertrag definiert und der von Jahr zu Jahr ausgeschritten wird, indem je kontingente Faktoren hinzutreten (Klimaschwankungen, politische und ökonomische Verwerfungen etc.). Trotzdem lässt sich kaum behaupten, der landwirtschaftliche Ertrag eines Landes stelle sich tatsächlich als Zufallsvariable dar. Denn weder sind die „konstanten Ursachen“ wirklich konstant (z.B. Innovation der Bewirtschaftungstechniken) noch die „akzidentellen Ursachen“ wirklich ungerichtet (z.B. systematische Klimaveränderungen). Der Ertrag der Landwirtschaft über die Jahre ist nicht, wie Laplace meint, so sicher wie der „Ertrag der Lotterien“ (ebd.). Auch im Fall der jährlichen Geburten zur Bevölkerung ist es nicht unplausibel, von einem System mehr oder weniger konstanter Ursachen auszugehen, von einem etwa durch die biologische Konstitution des Körpers sowie kulturelle, das Fortpflanzungsverhalten regulierende Faktoren, Verhütungstechniken etc. gegebenen Möglichkeitsraum der menschlichen Reproduktion. Angesichts der krassen Veränderung des Reproduktionsverhaltens in der Neuzeit ist es aber faktisch nicht möglich, hier von einem konstanten Ursachensystem auszugehen und die Geburtenraten als Zufallsvariablen aufzufassen. Trotzdem verhalten sich Ernteerträge und die Geburtenraten nicht so irregulär, dass es ganz sinnlos wäre, sie betreffende Erwartungen auszubilden und auf diesen Erwartungen gründende

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Planungen vorzunehmen. Weiter gibt Laplace folgende (problematische) Beispiele: „[Bsp. 5] Da ebenso mit der Beobachtung [Beachtung, Einhaltung] der ewigen Prinzipien der Vernunft, Gerechtigkeit und Humanität, welche die Gesellschaften begründen und aufrecht erhalten, immer zahlreiche günstige Chancen verbunden sind, so bietet es großen Vorteil, sich diesen Prinzipien anzupassen, und ist mit schweren Übelständen verbunden, sie außer acht zu lassen. […] Man bedenke, was für glückliche Erfolge die auf die Vernunft und die natürlichen Menschenrechte begründeten Institutionen den Völkern gebracht haben, welche dieselbe ins Leben zu rufen und zu erhalten wußten. Man bedenke ferner die Vorteile, welche ein redliches Gebahren den Regierungen verschafft hat […]. Man sehe im Gegenteil, in welchen Abgrund von Unglück die Völker oft durch den Ehrgeiz und durch die Treulosigkeit ihrer Führer gestürzt worden sind. Jedesmal wenn eine große Macht, berauscht von Eroberungssucht, nach der Weltherrschaft strebt, bringt das Unabhängigkeitsgefühl unter den bedrohten Nationen eine Koalition hervor, der jene Macht fast immer zum Opfer fällt.“ (Laplace 1996, 46f., Kurs. eingef.)

Wenn Vernunft, Gerechtigkeit und Humanität als Verhaltensprinzipien von Gesellschaften und Regierungen ernst genommen werden, dann wirken diese als konstante Ursachen ihrer „glücklichen Erfolge“. Denn die Prinzipien sind mit „zahlreichen günstigen Chancen verbunden“, – wie die Ziehung einer roten Kugel aus einer Urne mit 90 roten und 10 schwarzen Kugeln mit 90 von 100 „günstigen Chancen“ verbunden ist: sie sind die konstante Ursache einer hohen Wahrscheinlichkeit „glücklicher Erfolge“. Wenn die Völker durchgängig ihnen gemäß handeln, werden sie diese Erfolge wenn nicht in jedem Einzelfall, aber doch „in the long run“ mit einer definierten hohen Wahrscheinlichkeit auch einfahren können. Auch diese Aussage ist nicht ganz unplausibel. Dennoch handelt es sich kaum um einen probabilistischen Sachverhalt. Das zeigt sich schon auf der Ebene der Klassifikation. Nicht nur ist die Formulierung „Beobachtung der ewigen Prinzipien…“ zu wenig kontrolliert, um eine umschriebene konstante Ursache zu bezeichnen, – auch das Verursachte, die „glücklichen Erfolge der Völker“, sind zu wenig kontrolliert, um evaluierbar zu sein. Darüber hinaus fragt sich, ob mit der „Beobachtung“ der genannten „ewigen Prinzipien“ (gesetzt, man würde sie hinreichend präzise bestimmen) tatsächlich schon alle Ursachen etwa des Wohlstands von Völkern benannt sind, oder ob damit nur eine Möglichkeitsbedingung des Wohlstands neben anderen gegeben ist. Das Vorliegen einer Möglichkeitsbedingung nämlich konstituiert noch keinen Möglichkeitsraum im oben skizzierten Sinne: ein solcher wird vielmehr aufgespannt vom Ensemble aller für das in Rede stehende Ereignis relevanten konstanten Ursachen; diese Vollständigkeit

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ist im Modell des Zusammenspiels von konstanten und akzidentellen Ursachen impliziert. Und schließlich ist festzustellen, dass in diesem Beispiel die für die probabilistische Interpretation und Behandlung nötige große Anzahl gleichartiger Fälle nicht vorhanden ist. Die Vorstellung, die Untersuchung einer (auf der Erde gar nicht vorhandenen) beliebig großen Anzahl von Völkern führe auf den Grenzwert einer Wahrscheinlichkeit dafür, dass aus der „Beobachtung der ewigen Prinzipien“ „glückliche Erfolge“ resultieren, ist natürlich abwegig. Die gleichen Einwände gelten auch für die von Laplace unterstellte hohe Wahrscheinlichkeit der negativen Effekte von Ehrgeiz, Treulosigkeit und Eroberungssucht politischer Eliten. In diesen Fällen ließen sich allenfalls statistische Korrelationen herausarbeiten. Das letzte Beispiel Laplaces bleibt im Feld des Politischen, führt aber einen wiederum neuen Typus von konstanter Ursache ein: „[Bsp. 6] In gleicher Weise müssen inmitten der wechselnden Ursachen, welche die verschiedenen Staaten vergrößern oder verkleinern, schließlich die natürlichen Grenzen, die wie konstante Ursachen wirken, den Ausschlag geben. Es ist also für die Stabilität wie für das Glück der Reiche von Wichtigkeit, nicht über jene Grenze sich auszudehnen, in die sie durch die Wirkung dieser Ursachen immer wieder zurückgedrängt werden, geradeso wie auch die Meeresfluten, wenn sie durch heftige Ströme aufgetürmt wurden, infolge der Schwere in ihr Becken zurücksinken. Auch das ist ein durch zahllose verhängnisvolle Erfahrungen bekräftigtes Resultat der Wahrscheinlichkeitsrechnung. […] Es ist z.B. unnatürlich, dass ein Volk von einem anderen, von dem es durch ein weites Meer oder große Entfernung getrennt ist, regiert werde. Schließlich muss diese konstante Ursache, die sich beständig mit den in demselben Sinne wirkenden und in der Folge der Zeiten sich entwickelnden veränderlichen Ursachen verbindet, stark genug werden, um dem unterworfenen Volke seine natürliche Unabhängigkeit zurückzugeben oder es mit einem mächtigen Nachbarstaate zu vereinigen.“ (ebd., 47, Kurs. eingef.)

In beiden Fällen sind es die mit dem Regieren über natürliche Grenzen und weite Distanzen hinweg verbundenen hohen Kosten, die es, so die Hypothese, einzelnen Staaten regelmäßig erschweren, ihre über natürliche Grenzen und weite Distanzen hinweg reichende Herrschaft (Imperien, Kolonialismus) langfristig aufrechtzuerhalten. Dazu ist zu bemerken, dass die räumliche Erstreckung der Erdoberfläche im allgemeinen (#2, #4) und die Beschaffenheit der jeweiligen Territorien im besonderen zwar konstante, auf jegliches Regieren einwirkende „Ursachen“ sind: wenn Regieren das herrschaftsmäßige Erfassen einer räumlich verstreuten Bevölkerung meint und somit, im weitesten Sinne, die Aufrechterhaltung eines Interaktionsnetzwerks einer Vielheit von Personen über große Distan-

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zen hinweg, dann ist die hierfür erforderliche Mobilität (von Personen, Gütern, Informationen etc.) mit gleichbleibend hohen Kosten behaftet. Diese Kosten schließen die räumlich weit ausgreifende Herrschaft nicht aus, aber sie können von keiner Herrschaft umgangen werden, die ausgreifen möchte. Dass diese Kosten so hoch seien, dass sie, wie Laplace annimmt, als konstante Ursache dafür fungieren, dass Staaten sich zumeist nicht im Zustand der Überdehnung und des Kolonialbesitzes befinden, setzt aber eine Annahme über die verfügbaren (ökonomisch, technischen, infrastrukturellen) Mittel voraus: diese reichten im allgemeinen nicht hin zur langfristigen Aufrechterhaltung einer herrschaftlichen Überdehnung. Daher fungieren in Laplaces Beispiel nicht allein die genannten Kosten als konstante Ursache der hohen Wahrscheinlichkeit der NichtÜberdehnung, sondern ebenso die verfügbaren Mittel. Diese sind aber in der historischen Entwicklung nicht konstant. Deshalb repräsentiert Laplaces Beispiel, obwohl die Ausgestrecktheit und Beschaffenheit des Territoriums an sich einen plausiblen Fall von konstanter Ursache darstellt, keinen probabilistischen Sachverhalt und ist ganz sicher kein Beispiel für die Geltung des Bernoulli’schen Gesetzes. Die genannten Beispiele zeigen mit der unterstellen Reichweite des Bernoulli’schen Gesetzes auch ganz verschiedene Typen von konstanten Ursachen und ganz verschiedene Weisen, in den sich das allgemeine Modell des Zusammenspiels von konstanten und akzidentellen Ursachen realisiert. Dabei sind in die unterstellte Stabilität der jeweiligen Statistiken meist Zusammenhänge interaktiver Wiederholung (#9) eingehüllt, also selbst nicht thematisch werdende Kollektivitäten. So ist in Beispiel 4 die Post als Behörde ein Interaktionszusammenhang von menschlichen und nichtmenschlichen Akteuren (Angestellten, Sortiersystemen, Transportmitteln etc.), deren Funktion wiederum darin besteht, mittels Distribution medialer Spuren (Kap. 4.1.3) einen Interaktionszusammenhang räumlich verstreuter Akteuren zu prozessieren. Die ineinandergreifenden Zusammenhänge ergeben dann das statistisch erfassbare, unterstelltermaßen gleichbleibende Aufkommen an Briefen insgesamt, als dessen Nebenprodukt sich das unterstelltermaßen gleichbleibende Aufkommen an unzustellbaren Briefen darstellt (dessen „konstante Ursachen“ in einem etwa gleichbleibenden Maß an Wohnungswechseln, Unaufmerksamkeiten etc. liegen dürften). In Beispiel 3 ist die Statistik replikativer Wiederholungen (Geburten) mit dem Bestehen spezifischer Interaktionszusammenhänge zwischen Akteuren („Ehen“) verknüpft. Und in Beispiel 2 bilden die den Ertrag insgesamt generierenden landwirtschaftlichen Einheiten wiederum Zusammenhänge wiederholter Interaktion menschlicher und nichtmenschlicher Akteure, die in selbiger oder generischer Weise fortbestehen

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müssen, damit sich der Ertrag ungefähr konstant hält. Konstante Ursache ist in einem Sinne das Gesamt dieser Einheiten in ihrer sich durchhaltenden Konstitution; in anderem Sinne zerfällt diese einfache konstante Ursache in die Mannigfaltigkeit von menschlichen und nichtmenschlichen Akteuren, die, in ihren Handlungsdispositionen und spezifischen Eigenschaften, die generischen Prozessoren jener Interaktionszusammenhänge bilden, als deren replikativer Output sich der landwirtschaftliche Ertrag am Ende darstellt. Da diese Prozessoren, wenn allgemein auf der Höhe einer bestimmten Produktionsweise produziert wird, vervielfältigt über ein ganzes Land verstreut vorliegen, stellt sich in Hinsicht auf sie die Frage nach den Modalitäten ihrer vorgängigen Kollektivierungals-Replikation, so wie sich bei Ellis (Kap. 3.1.3) hinsichtlich generischer Würfel die Frage nach deren vorgängiger Universalisierung stellte. Grundsätzlich anders verhält sich Beispiel 6, denn die Topologie der Erdoberfläche, verstanden als konstante Ursache oder als Möglichkeitsraum all dessen, was auf ihr geschieht, ist kein generisches, sondern ein singuläres Objekt. Sie für die Theorie der Kollektivität auch insofern von besonderer Bedeutung, als sie dem Grundsatz Gestalt gibt, alle Einzelheiten einer Kollektivität seien raumzeitlich streng lokalisiert (#2): die Erdoberfläche ist die konstante Ursache jedes kollektiven Geschehens. Im folgenden Kapitel 3.2.2 wird zudem deutlich werden, dass ihre Spartialität notwendige Bedingung jener Unabhängigkeit der Erscheinungen ist, welche die Wahrscheinlichkeitstheorie axiomatisch fordert. Das Thema der topologischen Ursache wird in Kapitel 4.3 im Zusammenhang der Diskussion Durkheims nochmal aufgenommen. In allen bis auf das erste der Laplace’schen Beispiele ist die Verwendung des Begriffs der konstanten Ursachen plausibel, begründet aber keine streng probabilistischen Phänomene. Diese Überdehnung des Geltungsbereichs des Bernoulli’schen Gesetzes ist nicht untypisch für die Wahrscheinlichkeitstheorie im 19. Jahrhundert. Gleichwohl verhalten sich die in Laplaces Beispielen genannten Phänomene nicht gänzlich irregulär. Selbst wenn ihr Mittel in der fortgesetzten Wiederholung keinem festen Wert zustrebt, wird man etwa für die Phänomene aus Beispielen 2 bis 4 das beobachten, was Wilhelm Lexis für die „moralstatistischen Zahlen und Zahlenverhältnisse“ allgemein feststellt und was oben bereits angemerkt wurde, nämlich das „Einhalten derselben Größenordnung, der Hunderte, der Tausende, der Zehntausende“ in der Zeit. (Lexis 1903, 98f.) Dieser nicht probabilistischen, aber unübersehbaren Regularität entspricht ein System nicht ganz, aber doch mehr oder weniger konstanter Ursachen. Umgekehrt gilt dann: „Bedeutende [also über Schwankungen innerhalb einer Größenordnung hinausgehende] Änderungen solcher Größen […] sind unmittelbar symptomatisch für die Änderung des Ursachensystems der betreffenden Erscheinungen.“

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(ebd., 99) Folgt man dem Modell Laplaces, muss der Statistiker, wenn er statistische Wahrscheinlichkeiten ermitteln bzw. deren Vorliegen überprüfen will, den Blick auf möglichst gleichartige Fälle richten, auf Fälle, in denen jeweils ein dem Typ nach identisches System konstanter Ursachen operativ ist. Insoweit das nicht geschieht und ganz verschiedenartige Fälle in statistischen Verhältniszahlen zusammengefasst werden, hat man es keinesfalls mit Zufallsvariablen bzw. Wahrscheinlichkeiten zu tun und kann, entsprechend, keine Aussagen über die Geltung des Bernoulli’schen Gesetzes machen: „Vom Standpunkt der Wahrscheinlichkeitsrechnung müsste man erwarten, dass die Stabilität eines statistischen Verhältnisses, das die Form einer Wahrscheinlichkeitsgröße hat, umso größer sein [wird], je größer die Grundzahl [im] Nenner ist. Für die eigentlichen moralstatistischen Verhältnisse trifft dies aber schon deshalb nicht zu, weil deren Nenner meistens gar keine genetische Beziehung zu dem Zähler, der Zahl der betreffenden Ereignisse, hat und die ganze Bevölkerung oder einen willkürlich abgegrenzten Teil derselben darstellt. Das Verhältnis der jährlichen Zahl der Selbstmorde zu der ganzen Volkszahl z.B. ist zwar der Form nach eine Wahrscheinlichkeitsgröße, hat aber sachlich nicht die Bedeutung einer solchen, sondern nur die einer Reduktionsformel zum Zweck von Vergleichungen. Die Selbstmorde gehen tatsächlich nur aus einer sehr zersplitterten Gesamtheit von Personen mit gewissen Merkmalen hervor und die Zahl derselben ist von der Größenordnung der Zahl der wirklich vorkommenden Selbstmorde.“ (Lexis 1903, 99, Kurs. eingef.)

Demnach haben nicht alle, sondern nur bestimmte Personen (mit „gewissen Merkmalen“) eine Disposition zum Selbstmord, d.h. nur bei diesen sind konstante Ursachen wirksam, die bewirken, dass die Personen sich mit hoher Wahrscheinlichkeit in einem gegebenen Beobachtungszeitraum das Leben nehmen (auch wenn nicht antizipiert werden kann, wer von den Trägern der Disposition sich tatsächlich das Leben nehmen und wer überleben wird). Betrachtet man nur die Träger der Disposition und registriert ihre Selbstmorde im Beobachtungszeitraum, dann erhält der Nenner (die Grundgesamtheit) der resultierenden Verhältniszahl eine „genetische Beziehung“ zum Zähler (dem Ereignis), da sich der eingetretene (oder ausgebliebene) Selbstmord in jedem einzelnen Fall unter den Bedingungen der Wirksamkeit der entsprechenden Disposition ereignet hat (oder nicht). Und je mehr Träger der Disposition man betrachtet, desto mehr wird die ermittelte statistische Verhältniszahl dem wahren Wahrscheinlichkeitswert entsprechen. Umgekehrt sind die Fraktionen der Bevölkerung, die über die Disposition nicht verfügen, „genetisch unabhängig“ vom Beobachtungsresultat und daher aus der Betrachtung auszuscheiden. Mit diesem (für die Moralstatistik des 19. Jahrhunderts einschlägigen, im vorliegenden Kontext kontingenten) Beispiel

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wird deutlich, welchen Problemen sich der Statistiker gegenüber sieht, wenn er versucht, gleichartige Fälle mit identischen zugrundeliegenden Ursachensystemen auszumachen. Nicht nur erschließt sich das Vorliegen des Ursachensystems (der Disposition) häufig erst post faktum. Sondern, entscheidender noch, es fragt sich, welche Dispositionen jeweils zu den konstanten Ursachen zu zählen sind (im Fall des Selbstmordstatistik etwa Depression, Armut, Verschuldung, Alkoholismus?). Diese grundsätzliche Schwierigkeit kann zu der Auffassung führen, die Annahme einer objektiv als Disposition oder Potentialität in konstanten Ursachen gelegenen Wahrscheinlichkeit, die in der Wiederholung dann als relative Frequenz von Ereignissen entfaltet werde, sei aufzugeben: „The observed phenomena are generally the product, in these cases [in which we find statistical uniformity], of very numerous and complicated antecedents. The number of crimes, for instance, annually committed in any society, is a function amongst other things, of the strictness of the law, the morality of the people, their social condition, and the vigilance of the police, each of these elements being in itself almost infinitely complex. Now, as a result of all these agencies, there is some degree of uniformity; but what has been called above the change of type, which it sooner or later tends to display, is unmistakeable. The average annual numbers do not show a steady gradual approach towards what might be considered in some sense a limiting value, but, on the contrary, fluctuate in a way which, however it may depend upon causes, shows none of the permanent uniformity which is characteristic of games of chance. This fact, combined with the obvious arbitrariness of singling out, from amongst the many and various antecedents which produced the observed regularity, a few only, which should constitute the objective probability (if we took all, the events being absolutely determined, there would be no occasion for an appeal to probability in the case), would have been sufficient to prevent any one from assuming the existence of any such thing, unless the mistaken analogy of other cases had predisposed him to seek for it.“ (Venn 1888, 92f.)

Venn hat Recht mit der Feststellung der bloß relativen Regularität sozialstatistisch erfassbarer Phänomene (“some degree of uniformity”). Zutreffend ist auch, dass nicht wenige Phänomene von Ursachen bewirkt sind, die so wechselhaft sind, dass keine von ihnen als „konstante“ anzusprechen ist (oben Fall (2)). Behauptet wird im Zitat aber letztlich, es gebe schlichtweg kein Modell zur Begründung statistischer Stabilität. Wo statistische Stabilität beobachtet werde, könne sie als gegeben bloß hingenommen werden. Man habe nicht nur kein Wissen um den Einzelfall, sondern könne prinzipiell auch keine Kriterien dafür angeben, was den Einzelfall als Element einer probabilistischen Serie konstituiert. – Diese Auffassung ist offensichtlich inakzeptabel. Dass dort, wo statistische

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Stabilität anzutreffen ist, ob probabilistisch oder nicht, konstante Ursachen oder Bedingungen in irgend einem Sinne wirksam sind und „in the long run“ durchschlagen, dass also die Möglichkeitsräume der betreffenden Erscheinungen in einem angebbaren Sinne „definiert“ sein müssen, ist eine so grundlegende Annahme, dass die Konsequenzen ihrer Zurückweisung als kaum tragbar erscheinen. Denn es kann keine statistische Regularität geben, wo nicht in gewissem Umfang auch konsistente, vervielfältigte Bedingungssysteme vorliegen, vervielfältigte gleichartige Fälle. Es kann keine Wiederholung geben ohne die Potentialität, die sie trägt, und keinen Frequentismus ohne Dispositionalismus. (Kap. 3.1.2 und #6) Das Modell des Zusammenspiels von konstanten und akzidentellen Ursachen ist aber nicht nur von Seiten der Bestimmung und des Vorliegens von konstanten Ursachen der Kritik ausgesetzt, sondern auch von Seiten der Wirkungsweise der akzidentellen Ursachen. Insbesondere Laplaces Formulierungen, denen zufolge die Wirkungen der akzidentellen Ursachen „sich gegenseitig in der Gesamtheit einer großen Zahl von Zügen aufheben“, so dass „die Wirkung der regelmäßigen und konstanten Ursachen mit der Länge der Zeit über die unregelmäßigen Ursachen die Oberhand gewinnen muss“ (s.o.) – ein Vorgang, der unter den Bezeichnungen „Ausgleich / Kompensation / Koordination der akzidentellen Ursachen“ angesprochen wird –, haben immer wieder Anlass zu kritischen Nachfragen gegeben: „Since the elements of a statistical aggregate are to be conceived as mutually independent, the coordination problem appears to be unavoidable. It was announced as early as 1795 in Laplace’s account of Bernoulli’s result, in which he says that the variable causes “produce effects alternately favorable and contrary to the regular succession of events,” and that they “destroy each other”. It enters error theory and is made explicit by Hagen and Bessel in their proofs of the law of errors in the 1830s. It is still alive 120 years after its birth when Timerding presents the law of large numbers as still unexplained empirical fact and reviews the long succession of unsuccessful attempts at dealing with it.“ (Krüger 1987, 74)

Heinrich Timerding rekonstruiert die Problematik in seiner Analyse des Zufalls (1915) wie folgt: Konstante Ursachen mögen konstant sein, aber sie sind im Rahmen des Laplace’schen Modells per definitionem nicht determinativ. Entsprechend sind einzelne Wahrscheinlichkeitsereignisse erst durch ein Zusammenwirken von konstanten und akzidentellen Ursachen kausal vollbestimmt: „Wir fügen […] zu den konstanten Bedingungen, die in allen Fällen gleichmäßig erfüllt sind, variable Bedingungen hinzu, die den Erfolg der einzelnen Fälle ent-

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scheiden.“ (Timerding 1915, 39) Wenn aber etwa von den konstanten Ursachen eines bestimmten Typs von Verbrechen keine einzige „mit Notwendigkeit zu dem Verbrechen führt“, dann lässt sich „durchaus nicht einsehen, warum mit Notwendigkeit oder nur mit einer gewissen Sicherheit anzunehmen ist, dass die Schwankungen in der relativen Häufigkeit des Verbrechens unter einer bestimmten Grenze bleibt“ (ebd.). Dieses Problem wird verschärft durch die Beobachtung, dass die einzelnen, durch identische konstante Bedingungen gekennzeichneten Fälle in keiner Weise kausal zusammenhängen: „Wie sollen wir sie dann miteinander in Verbindung bringen? Welchen Grund haben wir, anzunehmen, daß wenn ein Ereignis, z.B. ein Verbrechen wie Diebstahl oder Notzucht, während eines Jahres in Deutschland eine gewisse Anzahl Male eingetreten ist, daß es dann im nächsten Jahre zwar nicht genau, aber doch ungefähr ebensooft eintreten wird? Gewiß können wir rechnen, daß wir in Deutschland eine gewisse Anzahl zu dem Verbrechen disponierte Personen haben, aber da diese Personen doch das Verbrechen nicht jedes Jahr ausführen, so ist gar nicht abzusehen, warum nicht ein Jahr zufällig frei bleiben soll. Wenn Hinz das Verbrechen nicht ausführt, so ist das gar kein Grund für Kunz, seinerseits das Verbrechen zu begehen.“ (ebd., 41)

Wenn die konstanten Ursachen nicht determinativ sind und zudem durch die Unabhängigkeit der Einzelfälle ausgeschlossen ist, dass die akzidentellen Ursachen, die im Einzelfall jeweils hinzutreten und ein bestimmtes Resultat generieren, so koordiniert werden, dass sich in der Summe die Statistik des Ereignisses von Jahr zu Jahr sicher in derselben Größenordnung bewegt, dann fragt sich, warum die statistischen Schwankungen „unter einer bestimmten Grenze“ bleiben sollten? Müssten, diese Sachlage vorausgesetzt, nicht eigentlich beliebige Schwankungen zu erwarten sein, – mit dem Effekt, dass „alles durcheinander geraten“ und „alle Ordnung und Sicherheit verloren gehen“ würde? (ebd., 42) Der Schlüssel zu einer Antwort liegt in der Definition der akzidentellen Ursachen, die Timerding entscheidend missversteht. Akzidentell sind Ursachen, die insgesamt ungerichtet wirken.57 Hat man den Fall, dass man mit einer ungezinkten Münze 100 Mal hintereinander „Kopf“ wirft, was unwahrscheinlich, aber nicht unmöglich ist, und sich diese Serie nicht (auf die Wahrscheinlichkeit 0.5 für „Kopf“ hin) kompensiert, wenn man den Wurf beliebig oft wiederholt, dann waren die akzidentellen Ursachen eben offensichtlich nicht akzidentell, dann gibt es ein unentdecktes „konstantes Element“ in den vermeintlich akzidentellen

57 Der folgende Zusammenhang wird in Kap. 3.2.2 in Termini von Potentialität und Aktualisierung nochmals aufgenommen.

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Ursachen. M.a.W., man wird feststellen müssen, die Münze sei doch gezinkt gewesen. Zu sagen: Weil die Ursachen akzidentell sind, können sie sich auch nicht kompensieren, impliziert einen begrifflichen Widerspruch, verstößt gegen Begriff des Zufalls (liefe nämlich auf die Behauptung hinaus, dem Zufall stehe es frei, qua Zufälligkeit auch nicht-zufällig zu sein). Vor diesem Hintergrund ist dann festzustellen, dass das Zusammenwirken von konstanten und akzidentellen Ursachen nicht zu einer statistischen Regularität mit bloß zufälligen Abweichungen führt, obwohl die akzidentellen Ursachen nicht koordiniert sind und planvoll zusammenwirken, sondern gerade weil sie nicht koordiniert sind. Hierin liegt Timerdings zweites entscheidendes Missverständnis. Weil die akzidentellen Ursachen, als unkoordinierte, ungerichtet wirken, erzeugen sie keine systematischen Effekte: das wird umso deutlicher, je mehr Fälle man betrachtet. Auch zufällige Schwankungen können erheblich sein. Aber die überzufälligen Schwankungen, über deren Ausbleiben Timerding sich verwundert, setzten faktisch voraus, dass das Bedingungssystem der Erscheinungen (das System der konstanten Ursachen) sich von einem Beobachtungszeitraum zum anderen sich radikal veränderte: „In einem Jahre würde der Stand der Unschuld herrschen, im Jahre darauf wäre keiner seines Lebens und seines Eigentums sicher. Die Bevölkerung würde sich nicht gleichmäßig verteilen, in einem Jahre würden fast gar keine, im anderen zu viel Kinder geboren werden, einmal würde es an Arbeitskräften fehlen, dann wären sie wieder im Überfluß da und nähmen sich das Brot weg. Da aber nicht bloß die vom menschlichen Willen abhängigen Vorgänge, sondern auch die Ereignisse der Natur auf einem statistischen Ausgleich beruhen, so würde die Verwirrung sich immer weiter häufen. Während jetzt, von einzelnen Mißernten abgesehen, Jahr für Jahr genügend Nahrung für alle emporwächst, würden dann die fetten und mageren Jahre regellos wechseln, ein- mal würde die Nahrung verderben und das andere Mal würden die Menschen Hungers sterben. So würde alle Ordnung und Sicherheit verloren gehen, alle menschliche Fürsorge würde unmöglich gemacht, der Mensch könnte nur stumpfsinnig in den Tag hineinleben und damit müßte alle Kultur erlöschen.“ (ebd., 42)

Ein solches Szenario müsste unterstellen, dass sich alle gesellschaftlichen und Naturverhältnisse von Jahr zu Jahr radikal umwälzen würden. Angesichts des Aufwands und des Ausmaßes der Einwirkung, die eine derartige Veränderung erforderte, wäre die überzufällige (und nicht die bloß zufällige) statistische Schwankung dann das eigentlich erklärungsbedürftige Faktum. In dem Maße aber, in dem Ensembles von konstanten Ursachen so vervielfältigt vorliegen, dass zu ihnen unkontrolliert eine gegen unendlich gehende Zahl akzidenteller

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Ursachen hinzutreten (oder: dass die durch die konstanten Ursachen definierten Möglichkeitsräume durch die ganz ungerichtete Aktualisierungen ausgeschritten werden), gilt auch das Gesetz der großen Zahlen und unterliegt die Statistik der von den Ensembles hervorgebrachten Erscheinungen nur zufälligen Schwankungen. Unter welchen Umständen das der Fall ist, kann jetzt mit Auguste Antoine Cournot noch etwas weiter entwickelt werden. 3.2.2 Kausalität und kausale Unabhängigkeit (Cournot) Während an Laplace vor allem von Interesse war, wie er die Logik des Modells des Zusammenspiels von konstanten und akzidentellen Ursachen exemplarisch verdeutlicht, welche Arten von konstanten Ursachen er in den Blick nimmt und worin die Probleme im Versuch einer strengen Applikation des Modells liegen, interessiert an Cournot seine spezifische Konzeption von Kausalität überhaupt und die Art, wie er aus dieser Konzeption heraus die Begriffe der konstanten und variablen Ursachen sowie das Modell ihres Zusammenspiels entwickelt. Cournot führt seine Kausalitätskonzeption in der Exposition de la Théorie des Chances et des Probabilités wie folgt ein: „Wir gehen von einer Erscheinung oder Wirkung zu ihrer nächsten Ursache zurück, welche ihrerseits wieder die Wirkung einer anderen Ursache ist, u.s.f. bis in’s Unendliche. Die gerade betrachtete Erscheinung oder Wirkung kann ihrerseits die Ursache einer folgenden Erscheinung oder Wirkung werden, u.s.f. bis in’s Unendliche, so daß diese Aufeinanderfolge von Ursache und Wirkung eine lineare Reihe bildet, wovon die gerade betrachtete Erscheinung ein Glied ist. Es können aber unendlich viele solcher Reihen gleichzeitig statt finden und sich gegenseitig durchkreuzen, so dass dieselbe Erscheinung zu deren Hervorbeugung [=Hervorbringung] zugleich mehrere andere Erscheinungen konkurriren [=zusammenkommen], gleichsam die Wirkung mehrerer verschiedener Reihen allgemeiner Ursachen ist, und ihrerseits mehrere Reihen von Erscheinung hervorbringen kann, welche von dem gemeinschaftlichen Anfangspunkte aus völlig von einander geschieden und getrennt bleiben.“ (Cournot 1849, 61)

Zentral ist für Cournot die Vorstellung von Ereignissen als Nexūs von Kausalreihen: eine große, wenn nicht unendliche (ebd., 62) Anzahl von Kausalreihen läuft in der Hervorbringung eines einzelnen Ereignisses zusammen. Und das Ereignis kann selbst wieder als Ausgangspunkt oder Quelle einer großen Anzahl von Kausalreihen werden, die sich von der gemeinsamen Quelle her unabhängig voneinander ausbreiten.

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Die Vorstellung des Ereignisses als einem Nexus von Kausalreihen ruft hier unmittelbar zwei vorgreifende Bezüge auf: einerseits das Diktum Bruno Latours, demzufolge „jede gegebene Interaktion von Bestandteilen überzufließen scheint, die bereits in der Situation vorhanden sind und aus einer anderen Zeit, von einem anderen Ort stammen und von anderen Existenzformen hervorgebracht werden.“ (NSNG 288; Kap. 4.1.1) Und andererseits Gabriel Tardes Begriff der „Nachahmungsstrahlen“, welche sich in einem Individuum überlagern und dabei mittels Überlagerung gelegentlich Neuerungen hervorbringen, die sich dann wieder mittels Nachahmungsstrahlen in alle Richtungen ausbreiten (Kap. 3.3). Bedenkt man (weiterhin vorgreifend), dass Nachahmungsstrahlen für Tarde genealogische bzw. Fortpflanzungslinen kultureller Formen sind, dann wird das Verständnis der Tarde’schen Nachahmungsstrahlen als Fall Cournot’scher Kausalreihen zusätzlich plausibel dadurch, dass Cournot selbst die genealogischen Linien als Beispiele für Kausalreihen anführt.58 Cournots Figur der Kausalreihe und die in ihr gelegene Konnotation des linearen oder kapillaren Fortschreitens von einem Phänomen zum nächsten deckt vielleicht nicht alle Phänomene ab, die man unter dem Überbegriff der Kausalität thematisieren kann (etwa die von Laplace angeführten „topologischen“ Ursachen); sie steht aber durch die Bezüge zu Latour und Tarde in besonderer Nähe zu einem Denken der Kollektivität. Cournots Aussage, dass „jede Erscheinung […] als von einer Menge verschiedener Ursachen herrührend betrachtet werden“ könne (1849, 62), ist sehr allgemein formuliert, ihrem Gehalt nach aber nicht trivial, da das multiple Verursachtsein von Ereignissen, wie hier nur postuliert werden kann, ein Maximum auf der Erdoberfläche findet. Dass jedes Ereignis von Kausalbeziehungen

58 „Man kann sich von dieser Durchkreuzung und Trennung der verschiedenen Reihen von Erscheinungen durch die Vergleichung mit dem Fortschreiten des Menschengeschlechtes einen einfachen und klaren Begriff verschaffen; denn jeder Mensche hängt durch seine Eltern mit zwei verschiedenen aufsteigenden Reihen zusammen, indem sich die väterliche und mütterliche Reihe gewissermaßen bei seiner Erzeugung durchkreuzen, und er selbst kann seinerseits der gemeinschaftliche Anfang und Urheber mehrerer absteigender Reihen werden, welche, nachdem sie einmal aus dem gemeinschaftlichen Urheber hervorgegangen sind, sich im Allgemeinen nicht mehr, oder nur zufällig, durch Verbindungen aus derselben Familie, durchkreuzen. […] Bei dem eben angeführten Beispiele durchkreuzen sich in der aufsteigenden Ordnung immer nur zwei Reihen; aber man sieht leicht ein, daß sich bei beliebigen Ursachen und Wirkungen sowohl in der regressiven, wie in der progressiven Ordnung auch eine weit größere Anzahl verschiedener Reihen von Ursachen und Wirkungen bei der Hervorbringung eines Ereignisses durchkreuzen können.“ (Cournot 1849, 61f.)

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„überzufließen“ scheint, ist beispielsweise auf unbelebten Planeten oder im Inneren von Sternen nicht zu beobachten. Auf der Erdoberfläche aber, wo jede biologische Form eines konkreten Lebewesens durch eine ununterbrochene Kausalreihe mit den Anfängen des Lebens und jede kulturelle Form, die ein Individuum sich angeeignet hat, durch eine ununterbrochene Kausalreihe mit ihrem Erfinder verbunden (Kap. 3.3) und wo fast jeder beliebige Ort durch die Ensembles einer kaum zu überblickenden Vielzahl heterogener Entitäten gekennzeichnet ist, wird Multikausalität zum Paradigma.59 Das heißt aber auch nicht, wie Cournot zu Recht festhält, dass buchstäblich jederzeit alles unmittelbar mit allem zusammenhinge, wie sich „gewisse Philosophen eingebildet“ haben (1849, 62). Sondern es gilt, „dass es Reihen von Erscheinungen gibt, welche in einem solidarischen Zusammenhange mit einander stehen, und wieder andere Reihen von Erscheinungen, welche gewissermaßen parallel neben einander, oder nach einander statt finden, ohne dass zwischen ihnen irgend eine gegenseitige Abhängigkeit oder ein solidarischer Zusammenhang statt findet.“ (1849, 62)

Das Vorliegen paralleler, einander nicht berührender Kausalreihen lässt sich illustrieren anhand einer Topologie räumlich abgetrennter Orte. Weil diese Orte durch keinerlei Verbindung verknüpft sind, ist das an ihnen stattfindende Geschehen kausal unabhängig. Das lokale Geschehen mag je einen solidarischen Zusammenhang bilden (1849, 163f.), im übergreifenden Szenario aber hat man es mit verinselten lokalen Clustern von Kausalreihen zu tun.60 Das Geschehen wird dann aus seiner Verinselung gehoben allein durch eine reale Mobilität von Kausalreihen (#4), welche die Orte verbinden und sie in einen solidarischen Zusammenhang, in wechselseitige Abhängigkeit bringen. Daher geht Cournots unausgesprochene Intuition dahin zu sagen: Kausalreihe und Bewegungslinie hängen zusammen, – man kann den Begriff der Kausalreihe

59 Der Sachverhalt wird in Kap. 4.1 unter dem Begriff der „Spur“ näher thematisiert. 60 Vgl. Cournot 1956, 40f.: „It is not impossible that an event occurring in China or Japan may some influence upon events happening in Paris or London. But, in general, it is certain that the program a Parisian lays of for his day will not be influenced in the slightest degree by what is then going on in some city of China in which Europeans have never set foot. These are like two little worlds in each of which series of causes and effects can be observed developing simultaneously which are not connected and which exercise no appreciable influence on one another” Cournots Beschreibung mag heute der Lage der Dinge nicht mehr entsprechen; aber das Prinzip ist klar.

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nicht denken, ohne dabei an Entitäten „auf ihrem Weg durch die Welt“ zu denken. So ist ein menschlicher Körper ein kausaler Herd, der auf seinem Weg durch die Welt überall kausale Spuren hinterlässt und kausale Spuren aufnimmt und der, indem er das tut, alles von ihm Bewirkte und Erlittene kausal verknüpft. Umgekehrt fällt der Begriff der kausalen Unabhängigkeit für Cournot mit dem des Zufalls zusammen: „Die Erscheinungen aber, welche durch ein Zusammentreffen oder durch eine Vereinigung mehrerer hinsichtlich ihrer Kausalität voneinander unabhängiger Erscheinungen hervorgebracht werden, nennt man zufällige Erscheinungen oder Wirkungen des Zufalles.“ (ebd., 63) „Man muss sich daher zu einem genauen Verständnis des Begriffes Zufall einzig und allein an die wahre und charakteristische Grundidee, nämlich an die Idee der gegenseitigen Unabhängigkeit der Reihen von Ursachen oder Erscheinungen, welche eine gewisse Erscheinung hervorbringen, halten.“ (ebd., 66)

Gemäß dieser Bestimmung sind alle gleichzeitigen, kausal unabhängigen Ereignisse kontingent in Bezug auf einander. So fasst Cournot z.B. den Sachverhalt, dass zwei Brüder an zwei verschiedenen Fronten am gleichen Tag fallen, als zufälliges Zusammentreffen von Ereignissen. (ebd., 63) Dass zwei räumlich getrennte Ereignisse von zwei unabhängigen Kausalreihen hervorgebracht werden, ist aber der triviale Fall von Zufälligkeit, da die meisten gleichzeitigen und ungleichzeitigen Ereignisse unter diese Definition fallen. Zufällig im engeren Sinne ist dagegen das eine Ereignis, das Effekt des nicht bloß zeitlichen, sondern auch räumlichen Zusammentreffens unabhängiger Kausalreihen ist, z.B. dass ein Mensch im Wald vom Blitz erschlagen wird: zwischen der Kausalreihe, die den Menschen an den Ort führte, an dem er erschlagen wird und der Kausalreihe, die den Blitz an dem nämlichen Ort einschlagen ließ, besteht keinerlei Zusammenhang (ebd., 64). Auch die Ziehung einer Kugel aus einer Urne ist in diesem engeren Sinne ein Zufallsereignis, „weil offenbar zwischen den Ursachen, welche die Hand des Menschen auf diese oder jene Kugel führen, und […] den Farben dieser Kugeln durchaus kein notwendiger Zusammenhang stattfindet“ (ebd., 65): die Ursachenreihe, die zur Position der verschiedenfarbigen Kugeln in der Urne führt und die Ursachenreihe, die zum Herausziehen einer bestimmten Kugel führt, sind bis zum Ergreifen der Kugel unabhängig voneinander, „kreuzen“ sich erst im Akt des Ergreifens.

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Wie für Laplace sind für Cournot probabilistische Phänomene durch ein Zusammenwirken von akzidentellen und konstanten Ursachen gekennzeichnet. Und wie bei Laplace wird dieses Zusammenwirken anhand eines Beispiels aus dem Feld der Zufallsspiele illustriert (wobei sich Cournot, anders als Laplace, weiterer Beispiele enthält): „Wenn man mit einem Würfel von unregelmäßiger Struktur mehrere Würfe hintereinander macht, so ist das Treffen einer gewissen Fläche desselben bei jedem Wurfe eine Erscheinung, welche sowohl von der Richtung und Intensität der Wurfkraft, als auch von der Form und Verteilung der Masse des Würfels abhängt; aber man kann gewöhnlich annehmen, dass die Ursachen völlig unabhängig von einander sind, welche bei den sukzessiven Würfen die Richtung, Stärke und den Angriffspunkt der Wurfkraft bestimmen, während die Unregelmäßigkeiten der Struktur, z.B. die Entfernung des Schwerpunkts des Würfels vom Mittelpunkte der Figur, bei jedem Wurfe auf gleiche Weise wirken, um das Treffen irgend einer Seite des Würfels zu begünstigen. Diese immer vorhandenen Ursachen, deren Einfluß sich auf dien ganze Reihe von Versuchen erstreckt, nennen wir regelmäßige oder permanente, während wir die Ursachen, welche bei jedem Versuche anders wirken und für welche hinsichtlich der Wirkungsart bei den einzelnen Versuchen oder Fällen keine gegenseitige Abhängigkeit statt findet, unregelmäßige oder zufällige nennen.“ (ebd., 148f.)

Demnach sind die akzidentellen Ursachen, welche die „Richtung, Stärke und den Angriffspunkt der Wurfkraft bestimmen“ sowohl von den von der Struktur des Würfels ausgeübten konstanten Ursachen wie auch untereinander unabhängig. Interessant ist jetzt die Frage, wie mit Cournot die Idee einer konstanten Ursache ihm Rahmen einer Kausalitätskonzeption zu denken ist, derzufolge die „Aufeinanderfolge von Ursache und Wirkung eine lineare Reihe bildet, wovon die gerade betrachtete Erscheinung ein Glied ist“ (ebd., 61). Wie verträgt sich die Vorstellung einer linearen Reihe von Ursachen und Wirkungen mit der Vorstellung einer konstanten Ursache? Cournot behandelt diese Frage nicht, aber die Antwort ist klar: Die beiden Vorstellungen finden zusammen in der Forderung, in der Kausalitätsreihe müssten sich bestimmte Glieder oder Elemente entweder als identische oder dem Typ nach wiederholen. Wiederholung ist aber nicht aus der Sukzession von Aktualitäten heraus zu erklären (#5, #6). Vielmehr bedarf sie eines sie tragenden „Grundes“, eben einer Potentialität. Potentialität ist die Eigenschaft von Ensembles von Prozessoren, also von Entitäten, die, wenn sie in Prozesse einbezogen werden, diesen Prozessen eine Form geben, als „prospektiver Speicher“ der Prozessform fungieren. Das Ensemble Würfel – Hand – Ober-

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fläche ist die Potentialität, der Möglichkeitsraum aller Würfelwürfe und des quantitativen Verhältnisses ihrer „Ausgänge“. Mit der Einführung von Entitäten wird aber das Bild der Cournot’schen linearen Kausalreihe notwendig komplexer. Einerseits wird der durchgängigen Aktualität der Kausalreihen eine Potentialität supponiert, Dinge also, deren Existenz sich nicht in der Aktualität kausalen Geschehens erschöpft.61 Andererseits geht die Kausalreihe häufig nicht spurlos von einer aktuellen Ursache zu einer aktuellen Wirkung, die wiederum aktuelle Ursache der nächsten aktuellen Wirkung ist usw.: häufig vergeht die Wirkung genau nicht, sondern bleibt als Prozessresultat erhalten, besteht etwa in der Produktion oder Modifikation von Entitäten, die dann wiederum als konstante Ursache von Prozessen fungieren können. Die konstante Ursache fordert das Vorliegen von Entitäten, die buchstäblich oder dem Typ nach identisch sind. Damit lässt sich auch Cournots Rede vom „solidarischen Zusammenhang“, also der kausalen Abhängigkeit von Kausalreihen (im Gegensatz zu unabhängigen, parallel verlaufenden Kausalreihen) besser verstehen: Cournot geht es mit dem Begriff des „solidarischen Zusammenhangs“ nicht um die kausale Abhängigkeit der Wirkung von der Ursache innerhalb einer Reihe, sondern auf die gegenseitige Abhängigkeit einer Vielzahl von Reihen in Hinblick auf das Eintreten in einem gemeinsamen Prozess. Die Kausalreihen aller an einer Interaktion beteiligten Entitäten, Elemente, Faktoren müssen zusammenkommen („solidarisch sein“), damit der Prozess ablaufen kann.62 Wo diese Elemente regelmäßig zusammenkommen, da fungieren sie als konstante Ursache von ggf. probabilistischen Wiederholungsprozessen. Wo die Kausalreihen von Würfel, Hand und Oberfläche „solidarisch zusammenkommen“, kann wiederholt gewürfelt werden. Während das Zusammenkommen diverser Kausalreihen im aktuellen Prozess als unmittelbare kausale Abhängigkeit der Reihen in Hinblick auf diesen Prozess gefasst werden kann, scheint man einen Begriff mittelbarer kausaler Abhängigkeit zu benötigen, um die kausale Abhängigkeit zu charakterisieren, die zwi-

61 Zwar muss man auch dem bloßen Persistieren von Entitäten (materiellen Dingen) einen fortlaufenden „endogenen“ Kausalprozess unterstellen, insofern auch der Festkörper letztlich nichts anderes ist als die im energetischen Gleichgewicht stattfindende Bewegung molekularer Mikrochoreografien. Diese Persistenz ist aber eine, die sich bereithält für andere Prozesse, Interaktionen mit anderen Entitäten. Vgl. in Kap. 4 (S. 276) den Begriff der „Spur“ in Konnotation (a1). 62 Vgl. auch die aristotelische Figur der wechselseitigen Potentialisierung von Entitäten in Hinblick auf einen Prozess. (Kap. 2.2.2).

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schen Menschen in ihrem Zusammenleben besteht und die wesentlich als aktuelle Rückkopplung mit den Spuren vergangener Interaktionen erscheinen. Ebenso wie man etwa, wenn man ein zu einem früheren Zeitpunkt hergestelltes Artefakt gebraucht, kausal zurückgreift und anschließt an den Punkt, an dem es hergestellt, ausgeliefert und zum Gebrauch bereitgestellt wurde (was als Rückkopplung mit den kausalen Spuren vergangener Prozesse und daher als diskontinuierliche und mittelbare kausale Abhängigkeit zu beschreiben ist), so besteht die mittelbare kausale Abhängigkeit zusammenlebender Menschen darin, dass ihre aktuellen Interaktionen rückkoppeln mit den kausalen Spuren, dem Gedächtnis ihrer gemeinsamen Geschichte. Das ist ein Vorgriff auf Kapitel 4.1. Hier von Interesse ist aber der Begriff der mittelbaren kausalen Abhängigkeit als Konstituens des Bernoulli’schen Gesetzes der großen Zahlen: Wenn nämlich die konstanten Ursachen, die die gleichartigen Fälle jeder probabilistischen Serie von Ereignissen definieren, nicht selbige (z.B. ein Würfel), sondern generische (z.B. viele gleichartige Würfel) sind; und wenn man annehmen muss, dass, wo bestimmte konstante Ursachen massenhaft vorliegen, diese Massenhaftigkeit das Resultat vorgängiger Replikations- und Universalisierungsprozesse ist, – dann hängen alle konstanten Ursachen, alle gleichartigen Fälle, über diese Prozesse genealogisch zusammen und ihre Gleichartigkeit ist eine populationistische. Entsprechend ist es nicht richtig zu sagen, die gleichartigen Fälle einer statistischen Wahrscheinlichkeit seien schlichtweg kausal unabhängig. Vielmehr sind sie nach der Seite der konstanten Ursachen mittelbar kausal abhängig (durch vergangene Kausalreihen verbunden) wie die Elemente jeder genealogischen Kette (vgl. Fn. 58). Wenn also oben davon gesprochen wurde, der Statistiker auf der Suche nach statistischen Wahrscheinlichkeiten müssen seinen Blick auf wahrhaft gleichartige Fälle richten, ist damit eigentlich gemeint: Er muss der Genealoge der gleichartigen Fälle sein, muss erfassen, wie – entlang welcher Routen, Kanäle und geografischen Muster – sich bestimmte Lebensverhältnisse so verallgemeinert haben, dass sie statistisch und ggf. probabilistisch beschrieben werden können. Nach der Seite der akzidentellen Ursachen allerdings sind die gleichartigen Fälle in der Tat idealiter kausal unabhängig. Der entscheidende Punkt dabei ist: Die akzidentellen Ursachen sind akzidentell gerade aufgrund der Universalisierung der konstanten Ursachen. Denn in dem Maße, in dem die konstanten Ursachen sich auf einem Territorium verstreuen, sind sie bloß je lokalen, akzidentellen Einflüssen und Ereignissen ausgesetzt. Die konstanten Ursachen wahren ihre Konsistenz, werden aber moduliert buchstäblich durch eine Unendlichkeit lokaler Akzidenzien. Die Akzidentalität der akzidentellen Ursachen ist dabei ein Effekt des Lokalisiertseins der konstanten Ursachen: Diese sind insoweit einem

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konstanten, systematischen, gerichteten Eingriff und Einfuß entzogen, als sie sich in die Weiten eines Territoriums ausgebreitet und verstreut haben: was an Einflüssen und Ursachen je hinzutritt, ist akzidentell. So machen sich die konstanten Ursachen mittels Universalisierung unverfügbar, verselbständigen sich und werden objektiv, d.h. werden in ihrem Wirken zu einer unverfügbaren Tatsache der Welt, die durch Akzidenzien moduliert, aber durch keine lokale Intervention in ihrem Wirken systematisch transformiert werden können. Diese Struktur bildet die Grundlage jeder statistischen Stabilität und die Grundlage der Geltung des Gesetzes der großen Zahlen, wo sie, im Bereich gesellschaftlichen Statistik, tatsächlich zu beobachten ist. Das Prinzip der territorialen Lokalisiertheit (#2) zusammen mit der Figur der replikativen Wiederholung (#9) fundiert somit in letzter Instanz die Geltung des Bernoulli’schen Gesetzes. Der Sachverhalt lässt sich nochmal etwas anders fassen, wenn man bedenkt, dass die konstanten Ursachen als Potentialitäten verstanden werden müssen, als Möglichkeitsräume, als deren punktuelle Aktualisierungen sich die akzidentellen Ursachen darstellen (Kap. 3.2.1). Dann nämlich sind die territorial ausgestreuten konstanten Ursachen als lokale Möglichkeitsräume zu begreifen, die durch aktuelles Geschehen je nach Spielraum in akzidenteller Weise „ausgeschritten“ werden. Hält man sich vor Augen, dass Potentialitäten eben nicht nur „ermöglichen“, sondern das Mögliche auch eingrenzen, dann ist klar, dass die lokalen Prozesse nur in akzidenteller Weise divergieren und eine Wiederholungsordnung ausbilden werden, deren Statistik nur zufälligen Schwankungen unterliegt. Es fehlen schlicht die Prozessoren, die es erlauben würden, überzufällig andersartige Prozesse auszuführen (#6). Angesichts der Tatsache, dass die konstanten Ursachen territorial ausgestreut sind, bedarf die systematische Umgestaltung der lokalen Möglichkeitsräume einer Logistik, mittels derer andersartige Prozessoren großflächig distribuiert werden können. Ein Beispiel einer solchen Logistik wäre, in krasser Vereinfachung gesagt, ein politisches System, eine funktionierende Regierung.63 Indem politische Systeme aus weitmaschigen, auf das Ganze eines Territoriums ausgreifenden Interaktionszusammenhängen von Akteuren bestehen (dem Ensemble der überregionalen, regionalen und lokalen Administration, Justiz, Polizei etc.), die erwarten, in ihrem Handeln von politischen Funktionsträgern codiert zu werden (häufig mittels Gesetzgebung), vermögen sie es, noch auf jeden einzelnen im Territorium lokalisierten Akteur eine gerichtete und in diesem Sinne systematische Wir-

63 Andere hier auftauchende Beispiele für solche Logistiken wären die Ausbreitung von Nachahmungsstrahlen bei Tarde (Kap. 3.3) und sogenannte „Oligoptiken“ bei Bruno Latour (Kap. 4.2.3).

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kung auszuüben. Damit aber werden die territorial ausgestreuten konstanten Ursachen aus ihrer Unverfügbarkeit und Objektivität zurückgeholt: Regierung ist ein Mechanismus der De-Objektivierung der konstanten Ursachen, der Lebensverhältnisse der Bevölkerung, ein Mechanismus der Verfügbarmachung des Disseminierten und damit ein Mechanismus gegen die Kollektivitäten durchziehenden Äußerlichkeitsverhältnisse (#2 und Kap. 4.3.2). Die effektive Regierung ist idealiter ein Laplace’scher Daimon der Tat. Insoweit Regierung systematisch auf universalisierte, territorial verstreute Ensembles konstanter Ursachen einwirken kann, wirkt sie statistischer Stabilität und der Geltung des Gesetzes der großen Zahlen im Feld der Sozialstatistik entgegen und entzieht Phänomene tendenziell dem Bereich der Wahrscheinlichkeitstheorie. Regierungshandeln ist nicht nur häufig statistisch informiert; sondern es zielt genau auf die Veränderung von Statistiken, hat also nicht individuelle, sondern (die gestaltende Veränderung von) Massenerscheinungen zum Gegenstand. Dabei erscheint das politische System als ein System der Wirkungsverstärkung des Handelns einzelner Akteure oder kleiner Gruppen von Akteuren (Vervielfältigung und Transport von Wirkungen ihres Handelns in das Ganze eines Territoriums hinein, vgl. Kap. 4.1.3). Nun lässt sich der Prozess auch einzelner Akteure, wie in der Einleitung zu Kapitel 3 skizziert, in Handlungsprofilen zusammenfassen, die die Wiederholungsstruktur ihres Prozesses abbilden; der Prozess einzelner Akteure ist nicht, wie etwa Quetelet nahelegen wird, wesentlich akzidentell und irregulär. Gleichwohl ist er, weil raumzeitlich genau lokalisiert (#2), schon durch lokale Eingriffe entscheidend zu beeinflussen und in diesem Sinne doch viel eher einer entscheidenden Akzidentalität ausgesetzt als der Prozess einer verstreuten Vielheit lokalisierter Akteure, dessen statistisches oder Handlungsprofil nicht durch bloß lokale Eingriffe entscheidend und systematisch verändert werden kann (vielmehr bedarf es hierzu der genannten Logistiken). Indem also eine Vielheit von Akteuren ihren kollektiven Prozess qua politischem System an den Prozess einzelner oder weniger politischer Akteure koppelt, führt sie auch deren Akzidentalität in ihren Gesamtprozess ein, bindet ihren Gesamtprozess an Serien von politischen Entscheidungen, die in ihrem Zustandekommen je mit erheblichen Kontingenzen behaftet sind. Kurz: Eine Bevölkerung deprobabilisiert ihren Prozess mittels Regierung. 3.2.3 Quetelet und das statistische Gesetz Das Laplace’sche Modell des Zusammenspiels von konstanten und akzidentellen Ursachen resoniert auch im Werk Adolphe Quetelets, dem Begründer der mathematisch instrumentierten Sozialstatistik in der ersten Hälfte des 19. Jahrhun-

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derts. Während Quetelet unter dem Gesichtspunkt seiner Beiträge zur mathematischen Statistik allein wissenschaftshistorisch bedeutsam ist, bleiben seine Fragen nach den ontologischen Grundlagen statistischer Regularität und seine diesbezügliche Antwort, nämlich seine „realistische“ (oder: emergentische) Position betreffend den Status gesellschaftlicher Phänomene, im Grundsatz weiter diskussionswürdig. Entsprechend werden sich die folgenden Ausführungen auf die Frage nach dem Zusammenhang von statistischer Theorie und sozialem Realismus bei Quetelet konzentrieren und sind somit als Vorgriff auf Kapitel 4.3.3 zu verstehen. Zentrale Figur von Quetelets Hauptwerk Sur l’homme et le devélopement de ses facultés, ou Essay de physique sociale (1835) (Quetelet 1842) ist die Figur des „mittleren Menschen“, das statistische Aggregat der durchschnittlichen Eigenschaften von Menschen einer Epoche, einer Nation, einer „Rasse“ in Hinblick etwa auf ihre Fruchtbarkeit und Sterblichkeit, ihre körperlichen Merkmale und ihre intellektuellen, moralischen und kriminellen Dispositionen (1842, 8f.). Dabei sind neben Epoche, Nation und „Rasse“ noch beliebige andere Kriterien (etwa Geschlecht, Alter, Region etc.) für die Bildung von Menschengruppen als statistischen Grundgesamtheiten denkbar, für die je ein mittlerer Mensch aggregiert werden kann. Daher lässt sich nicht nur ein einziger, sondern lassen sich beliebig viele „mittlere Menschen“ konstruieren. Ian Hacking charakterisiert die doppelte Bewandtnis der Quetelet’schen Figur wie folgt: „First, we see […] that Quetelet was not talking about an average for the human species [as a whole]. He was talking about the characteristics of a people of a nation, as a racial type. Where before one thought of a people in terms of its culture or its geography or its language or its rulers or its religion, Quetelet introduced a new object by its measurements of physical and moral qualities, summed up in the average man of that race. […] In short, the average man led to both a new kind of information about populations and a new conception of how to control them. There is a second, more academic aspect of Quetelet’s homme type […]. We can think of average height as an abstract – the convenient result of an arithmetical operation – but we can also begin to think of it as a ‘real’ feature of a population. In 1988, it was noted that the longevity of Japanese has been increasing every year, to the point where the Japanese are now the most long-lived nation on earth. We find it hard not to think of this as being a real feature of Japanese life and culture, just as ‘real’ as the fact that Japanese corporate entities have among them the world’s largest accumulation of disposable capital for investment.“ (Hacking 1990, 107f., Kurs. teilw. eingef.)

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Die beiden Aspekte hängen zusammen: damit der mittlere Mensch als statistische Kurzschrift für den Vergleich von Menschengruppen sinnvoll verwendet werden kann, muss unterstellt werden, es werde mit der Erstellung und Kombination von Durchschnittswerten etwas über die wirkliche Konstitution dieser Gruppen ausgesagt. Dabei stößt man sofort auf das Problem, dass in ein und demselben Durchschnittswert je nach Verteilung der zugrundeliegenden Daten ganz verschiedene Realverhältnisse eingehüllt sein können (etwa im Wert des Durchschnittseinkommens eine homogene oder inhomogene Einkommensverteilung) (Quetelet 1849, 41-44). Dem Problem versucht Quetelet in Sur l’homme zunächst noch deklaratorisch beizukommen, indem er feststellt: „The average man, indeed, is in a nation what the centre of gravity is in a body; it is by having that central point in view that we arrive at the apprehension of all the phenomena of equilibrium and motion“ (Quetelet 1842, 96). Damit wird behauptet, der mittlere Mensch sei kein bloßes Konstrukt, sondern bringe eine Realtendenz der Population zum Ausdruck, – in der Population selbst auf den Mittelwert hinwirkende Kräfte. Als Graviationszentrum des Verhaltens von Populationen gedacht, können dann das Gleichgewicht und die historische Bewegung des mittleren Menschen im Rahmen einer Pseudo-Physik des Sozialen (physique sociale) untersucht werden. Während er die Realität und damit den deskriptiven Gehalt des mittleren Menschen 1835 noch behaupten musste, glaubt Quetelet ab 1844 diesen Gehalt auch mathematisch fundieren zu können. (Hacking 1990, 108f.) Quetelet geht aus von der ihm aus der Astronomie (Messtheorie) bekannten Gauß’schen Verteilung (Normalverteilung) von Beobachtungsdaten: verfügt man über eine Serie von Beobachtungen einer gegebenen astronomischen Größe und nimmt an, diese seien mit rein zufälligen Beobachtungsfehlern behaftet, dann liegt der Durchschnitt der Beobachtungswerte umso dichter am wahren (gesuchten) Wert der Größe, je mehr Beobachtungen man zur Verfügung hat. Dabei ist der unbezweifelbar reale wahre Wert der betrachteten Größe die konstante Ursache der Ergebnisse der mit akzidentellen Fehlern behafteten Messungen. Der entscheidende Schritt Quetelets besteht darin, diese Operation umzukehren und zu sagen: überall dort, wo man eine Normalverteilung von Daten antrifft, lässt sich das als Nachweis des Vorliegens eines „wahren Wertes“ bzw. einer konstanten Ursache interpretieren. So verliert dann auch der Mittelwert seinen arbiträren Charakter und wird zum „wahren“ Mittelwert (Quetelet 1849, 43, 94), wird unmittelbar zum Ausdruck eines wirklichen Sachverhalts bzw. einer konstanten Ursache, die ihrerseits als das Erzeugende der normalverteilten Daten interpretiert werden kann.

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Diese Idee führt Quetelet weiterhin zu der Überzeugung, den „wahren“ Mittelwert probabilistisch fundiert als erzeugenden Typus und Urbild der in ihm aggregierten Einzelphänomene auffassen und also den Platonismus in die statistische Theorie einführen zu können. So schreibt er in den Lettres à S.A.R. le duc régnant de Saxe-Coburg et Gotha, sur la théorie des probabilités, appliquée aux sciences morales et politiques (1846): „Let us suppose that a thousand sculptors have been employed to copy the [sculpture of the] Gladiator with the greatest care imaginable. It cannot be expected that the thousand copies made would each be an exact reproduction of the original, and that, in measuring them successively, the thousand measurements which would be obtained would agree as well as though all had been taken from the Gladiator itself. To the first chances of error would be added the inaccuracies of the copyists; so that the probable error would perhaps be very great. Notwithstanding this, if the copyists have not worked with preconceived ideas, in exaggerating or diminishing certain proportions, according to the prejudices of their particular school [which would introduce a systematic error in their copies], and if their inaccuracies are but accidental, the thousand measurements grouped in order of magnitude would still present a remarkable regularity, and would succeed each other in the order assigned by the law of possibility [i.e., the Gaussian distribution]. Your Highness smiles. You will doubtless tell me that such assertions will not compromise me, since no one will be disposed to make the required experiment. And why not? I shall perhaps astonish you very much by stating that the experiment has been already made. Yes, surely, more than a thousand copies have been measured of a statue, which I do not assert to be that of the Gladiator, but which in all cases differs but little from it. These copies were even living ones, so that the measurements have been taken with all possible chances of error: I will add more that the copies have been subject to the deformity by a host of accidental causes.“ (Quetelet 1849, 91f., Kurs. eingef.)

Das Experiment ist für Quetelet insofern in vivo schon durchgeführt worden, als er feststellt, die körperlichen Merkmale einer realen Population von Menschen seien ebenso normalverteilt wie die Merkmale der genannten Kopien normalverteilt um die Merkmale ihres Urbilds, des Gladiators, streuten. Quetelet extrapoliert das zunächst aus den ihm verfügbaren Messungen des Brustumfangs von 5738 schottischen Soldaten, die er als normalverteilt erkennt, und schließt sein Ergebnis kurz mit dem Modell der fehlerbehafteten Messung an einem einzelnen Objekt, indem er unterstellt, allein aus der Verteilungsform der Messdaten heraus lasse sich nicht unterscheiden, ob diese Daten mittels wiederholter fehlerbehafteter Messung an einem einzigen Soldaten (mit durchschnittlicher Statur) oder eben mittels Messung an einer Menge verschiedener Soldaten erhoben worden

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seien (ebd., 92f.). Mit diesem Kurzschluss zielt Quetelet darauf, die unterstellte Äquivalenz von fehlerbehafteter Messung eines wahren Wertes und fehlerbehafteter Realisation eines Urbilds greifbar zu machen (ebd., 93). In der zwei Jahre nach den Lettres veröffentlichten Monografie Du système social et des lois qui le régissent (1848) (Quetelet 1856) bekräftigt Quetelet nochmal die Bedeutung des Urbilds für die statistische und Gesellschaftstheorie, indem er schreibt: „Ich zeigte […] in den Briefen über die Wahrscheinlichkeitstheorie, daß diese Einzelergebnisse in gewissen Fällen einer regelmäßigen Ordnung unterliegen, daß sich z.B., wenn es sich um den Wuchs von Menschen derselben Nation handelt, die einzelnen Werthe symmetrisch um den mittleren Werth nach Maßgabe eines Gesetzes gruppiren, das ich das Gesetz der zufälligen Ursachen [Quetelets Bezeichnung der Normalverteilung] nannte. So wurde ich in Stand gesetzt, das, was ich zuerst [in Sur l’homme] nur als Hypothese ausgesprochen, ordentlich nachzuweisen, daß nämlich der mittlere Mensch in einer Nation eine wichtige Rolle spielt; daß er wirklich der Typus oder das Modell ist, und die übrigen Menschen nur durch den Einfluß zufälliger Ursachen, deren Wirkungen bei lange genug fortgesetzten Proben zuletzt berechenbar werden, sich davon in Mehr oder Weniger unterscheiden. In diesem neuen Werke weise ich nun nach, daß das Gesetz der zufälligen Ursachen ein allgemeines Gesetz ist, das auf Völker, wie auch Einzelne Anwendung erleidet, und unsere moralischen und intellektuellen Eigenschaften ganz ebenso beherrscht, wie unsere physischen, so daß das, was als zufällig angesehen wird, aufhört, dies zu sein, sobald die Beobachtung sich über eine beträchtliche Zahl von Fällen erstrecken.“ (Quetelet 1856, IIIf.)

Quetelet verspricht also den Nachweis, der Geltungsanspruch des Modells „Typus – (akzidentell gestörte, daher normalverteilte) Realisation“ lasse sich von den physischen auf die moralischen und intellektuellen Eigenschaften von Menschen verallgemeinern. Dass er diesen Nachweis in Du système social letztlich nicht liefern kann, und dass überhaupt die Einführung platonischer Motivik in die statistische Theorie bei ihm wesentlich ad hoc bleibt, rührt auch daher, dass Quetelet die Implikationen des platonischen Modells nicht beherrscht. Das wird schon an seiner Verwendung des Modells im Kontext der statistischen Erfassung körperlicher Merkmale deutlich. So stellt die platonisch als Urbild verstandene abgetrennte Form das Denken in den Horizont der Problematik der replikativen Wiederholung, der Produktion von „Abbildern“, die genealogisch verknüpft sind und daher in Ähnlichkeitsbeziehungen zum Urbild und untereinander stehen. (Kap. 2.1) Das Urbild bezeichnet so verstanden die gemeinsame Herkunft des Ähnlichen. Dabei lässt es sich zwar als „konstante Ursache“ seiner Abbilder verstehen (als

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konstante Form-Ursache). Aber die hierin einbegriffene Replikationsproblematik wird von der seit Laplace üblichen und Quetelet vertrauten Verwendungsweise des Begriffs der konstanten Ursache nicht erfasst: Die konstante Ursache produziert dort bloß mehr oder weniger konstante Wirkungen, aber keine mehr oder weniger genauen Replikationen ihrer selbst. Diese Unterscheidung entgeht Quetelet. Entsprechend entwickelt er keine Vorstellung davon, welche wirklichen Prozesse auf der Ebene der biologischen Körper denn der differenziellen Vervielfältigung des einen Modells (Gladiator) durch die Künstler im obigen Beispiel entsprechen könnten64 und zieht sich auf eine Position des Als-Ob zurück („Everything occurs then as though there existed a type of man, from which all other men differed more or less“ (1849, 96)), ohne deren Geltungsgründe auch nur zur berühren.65

64 Die platonische Hypothese wäre eben die eines als „historischer“ Ursprung verstandenen Urbildes, dessen fehlerbehaftete Replikation im Laufe der Generationen zur Streuung von Merkmalen führte (Kap. 2.1.2). In der durch die Evolutionstheorie informierten Statistik ist es zuerst Francis Galton, der die Normalverteilung von Merkmalen einer Generation aus der Normalverteilung der Vorgängergeneration heraus entwickelt. (Desrosiéres 2005, 127ff.) 65 Auf dem Feld der „moralischen“ Dispositionen des Menschen (etwa der Heirats- oder Verbrechensneigung), für die er spekulativ sowohl eine diachrone (Neigung im Verlauf der Lebensalter) als auch synchrone (Neigung innerhalb einer Altersklasse) Normalverteiltheit annimmt (1856, 90-97) verabschiedet sich Quetelet faktisch ganz vom Motiv des Typus’ und findet zum üblichen Modell der konstanten Ursachen zurück: „Sein moralisches Verhalten ist wechselweise von seiner Umgebung, seinen Familienbeziehungen, den politischen Institutionen, den politischen Institutionen, der Religion, in der er erzogen ist, und seinen Standespflichten beherrscht.“ (ebd., 97) Das entspricht wesentlich den allgemeinen Aussagen von Sur l’homme: „The laws presiding over the development of man, and modifying his actions, are in general the result of his organisation, of his education or knowledge, means of wealth, institutions, local influences, and an endless variety of other causes, always very difficult to discover, and some of which may probably never be made out.” (1842, 7) Quetelet entwickelt kein belastbares Modell der Replikation und Distribution dieser Ursachen (Kap. 3.2.2). Allein im Bereich Wissen und Bildung – für Quetelet Synonyme von „Zivilisation“ überhaupt (1856, 257) – liefert er die Andeutung des den jeweiligen gesellschaftlichen Zuständen zugrundeliegenden Distributionsgeschehens, wenn er schreibt: „Es konnte dieser gewaltige Strom [der unterstelltermaßen von der griechischen Antike her sich ausbreitenden Zivilisation] zwar von den Schranken, die sich entgegenstellten, in seinem Laufe hin und wieder aufgehalten werden, aber zu seiner Quelle

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Mag sich Quetelets Einführung des Platonismus in die statistische Theorie dem emblematischen Reiz des philosophischen Motivs verdanken (inklusive theologisierender Untertöne: 1856, 36), – sie ist im diesem Kontext doch von Interesse, weil sie symptomatisch ist für die je nach Terminologie realistischen, holistischen oder emergentistischen Züge seiner Gesellschaftstheorie, die sich teils als Motivation, teils als Resultat seines statistischen Denkens darstellen. Als Motivation des statistischen Zugriffs auf gesellschaftliche Phänomene kommt das Motiv der emergenten Ordnung wie folgt ins Spiel: „It is of primary importance to keep out of view man as he exists in a insulated, separate, or in an individual state, and to regard him only as a fraction of the species. In thus setting aside his individual nature, we get quit of all which is accidental […] allowing the observer to seize the general results. Thus to explain our meaning by an example – we may instance the case of a person examining too nearly a small portion of a very large circle, and who, consequently, would see in this detached portion merely a certain quantity of physical points, grouped in a more or less irregular manner […]. But, placing himself at a greater distance, the eye embraces of necessity a greater number of points, and already a degree of regularity is observable over a certain extent of the segment of the circle; and, by removing still farther from the object, the observer loses sight of the individual points, no longer observes any accidental or odd arrangements amongst them, but discovers at once the law presiding over their general arrangements, and the precise nature of the circle so traced.“ (1842, 5, Kurs. eingef.)

Die Erfassung der emergenten Ordnung ist demnach eine Frage der richtigen Perspektivierung des Blicks, und es ist für Quetelet der statistische Zugriff, der die für die Erfassung erforderliche Distanznahme zum Gegenstand vollzieht: Der panoramische Blick der Statistik unterschlägt alle Einzelheiten und gewinnt, in-

kehre er niemals zurück. Man kann auch wohl an der Hand der Geschichte seinen Lauf verfolgen, die Nebenflüsse die er aufgenommen, die Becken in die er sich gestürzt, erfahren, aber welches Auge wäre scharfblickend genug, um voraussehen zu können, welche Wege er nun noch einschlagen […] wird. […] Es kann sein, daß die Erfindung der Buchdruckerzunft kein einziges Genie mehr in’s Leben gerufen hat; aber in dem sie eine Fluth von Bildung unter die Menschen ergoß, hat sie Unberechenbares geleistet. […] Nur durch vielfältigen Verkehr kann die Wissenschaft Ausbreitung unter den Menschen finden und die Zivilisation sich befestigen. Deshalb muss der Anwendung des Dampfes als Beförderungsmittel und der Erfindung der Eisenbahnen einer der ersten Plätze in der Geschichte des menschlichen Fortschritts eingeräumt werden.“ (1856, 256-259)

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dem er das tut, Sicht auf die von den Einzelheiten geradezu verdeckte Regularität des Ganzen. Diese ist eine, die der unterstellten Irregularität und Akzidentalität des Verhaltens der Einzelheiten unvermittelt gegenübersteht: Die Einzelheiten müssen auf das Ganze hin übersprungen werden, weil sie keiner erkennbaren Regel folgen. Die Regularität ist also nur im Ganzen und in diesem Sinne unfundiert. Gerade das weist sie als Phänomen sui generis aus. Entsprechend liest man bei Quetelet: „Jeder Verband schafft einen besonderen Körper [corps distinct], dem ein besonderes Leben [vie particuliere] innewohnt und der seine Geburt, sein Ende und seine Lebensbedingungen hat. Specielle Gesetze liegen der Entwicklung dieser Körper zu Grunde und regeln die Geschicke derselben.“ (Quetelet 1856, VI; vgl. 1848, XII) „From this point of view, the regularity which we note [e.g.] in the formation of marriages ought to be attributed not to the volition of individuals, but to the habits of this concrete being which we call a people [étre concret que nous nommons peuple], and which we regard as endowed with a volition of its own and with habits from which it frees itself with difficulty.“ (Quetelet 1847, 142; englische Übersetzung nach Hankins 1908, 87)66

Man hat es zu tun mit einem Gesellschaftskörper, der wie der Individualkörper geboren wird und stirbt und der in seinem Lebensvollzug „speziellen Gesetzen“ unterliegt. Dieser Körper ist gekennzeichnet durch eine statistische Regularität seiner Prozesse, die nicht in den Individuen und ihren Willensvollzügen begründet liegt, sondern unmittelbar dem als konkretes Seiendes verstandenen Körper selbst zukommt: der Gesellschaftskörper selbst ist mit Willen und Gewohnheiten begabt. Aus diesem Setting folgt logisch, dass die Ursachen der Regularität wie der regionalen Unterschiede etwa der Moralstatistik (Ehen, Verbrechen, Selbstmorde) nicht in den Individuen, sondern außerhalb ihrer gelegen sein müssen: „…moral causes […] exist outside of the individual and […] are peculiar to each people“.67 Damit sieht man sich vor das Problem gestellt, dass, wenn die Handlungsgründe aller Individuen je außerhalb ihrer zu finden sein sollen, ganz unklar wird, wohin man sich denn wenden muss, um jene zu finden. Die Antwort:

66 Vgl. Hankins 1908, 86-88; Porter 1995, 16f. 67 Diese Auffassung nimmt konkret etwa folgende Form an: „It is the social state, in some measure, which prepares these crimes, and the criminal is merely the instrument to execute them. Every social state supposes, then, a certain number and a certain order of crimes, these being merely the necessary consequences of its organisation.” (1842, 6, Kurs. eingef.)

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die Gründe liegen „im Gesellschaftskörper“, bleibt unbefriedigend in dem Maße, in dem nicht spezifiziert werden kann, woraus dieser Gesellschaftskörper als von den Individuen unterschiedener (corps distinct) besteht und wie seine Willensvollzüge und Gewohnheiten ursächlich auf die Individuen einwirken und ihnen zum Handlungsgrund werden. Das Problem wird in Kapitel 4.3 detaillierter aufgegriffen. Die den „Gewohnheiten“ des Gesellschaftskörpers zugeschriebene Tatsache der statistischen Regularität ist von Quetelet auf den Begriff des statistischen Gesetzes gebracht worden: „The idea of „statistical law“, much discussed in the nineteenth century, worked mainly as a contribution to the public rhetoric of statistics. Such a law was merely a statistical regularity, an aggregate number that remained relatively constant from year to year.” (Porter 1995, 16) Quetelet schreibt: „What idea should we have of the mortality of mankind by observing only individuals? Instead of the admirable laws to which it is subject, our knowledge would be limited to a series of incoherent facts, leading to a total misapprehension of the laws of nature. The remarks we make respecting human mortality, may be equally extended to man’s physical and moral faculties. To attain a knowledge of the general laws regulating these latter (moral) faculties, a sufficient number of observations must be collected, in order to bring out what is constant, and to set aside what is purely accidental. […] [E]xperience proves that murders are committed annually, not only pretty nearly to the same extent, but even that the instruments employed are in the same proportions. […] I have never failed annually to repeat, that there is a budget which we pay with frightful regularity – it is that of prisons, dungeons, and scaffolds.” (Quetelet 1942, 6, Kurs. eingef.)

Ob statistische Gesetze oder Budgetierungen in Gesellschaften tatsächlich wirksam sind, ist im 19. Jahrhundert höchst umstritten geblieben und unter dem Gesichtspunkt der Implikationen für den Geltungsanspruch menschlicher Willensfreiheit diskutiert worden. (Hacking 1990, 115ff.) Adolph Wagner zum Beispiel affirmiert den Gesetzesbegriff schon im Titel seiner Abhandlung Statistischanthropologische Untersuchung der Gesetzmässigkeit in den scheinbar willkührlichen menschlichen Handlungen (1864) und entwickelt (1864, 44-46), inspiriert von Jonathan Swifts Gullivers Reisen, das fiktive Szenario eines Staates, der seine komplette Sozialstatistik inklusive Verbrechen und Selbstmorde jeweils zu Jahresbeginn per Gesetzesbeschluss festlegt und im Jahresverlauf konsequent politisch umgesetzt: „Uns schiene der geschilderte Zustand so unerträglicher, so höchst unnatürlicher, unmenschlicher Art, dass wir denselben als schlechterdings unmöglich bezeichnen werden.“ Die große Pointe des Szenarios liegt dann in

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Folgendem: „[W]as auf solche Weise niemals künstlich durch Menschenwille und Menschengewalt durchgeführt werden könnte, das vollzieht sich wunderbarer Weise von selbst in Folge der natürlichen Organisation der menschlichen Gesellschaft.“ (ebd., 46, Kurs. eingef.) Auf der anderen Seite bestreitet etwa Moritz Wilhelm Droibsch in Die moralische Statistik und die menschliche Willensfreiheit (1867) die Geltung vorgängiger statistischer Gesetze und argumentiert, „dass die constante Regelmässigkeit in gewissen willkürlichen Handlungen nicht auf einem Gesetz beruht, das den Handlungen vorausgeht und gebieterisch Vollzug verlangt, sondern dass umgekehrt alle Gesetzlichkeit, welche die moralische Statistik nachweist, das Produkt von relativ constanten, daher auch nicht schlechthin unveränderlichen Verhältnissen und zusammenwirkenden Ursachen ist, neben welchen aber noch unzählig andre variable Ursachen bestehen, die sich jeder Subsumption unter eine Regel entziehen.“ (Droibsch 1867, 18f.; durchgängige Kursivierung entfernt)

Unter Rekurs auf Kapitel 3.2.2 lässt sich die Frage der Angemessenheit des Terminus’ „statistisches Gesetz“ abschließend in einem Satz klären. Das Gesetz ist die objektive (unverfügbare) Regel. Wenn Quetelet von statistischen Gesetzen spricht, die zeitlos und der Einwirkung durch den Menschen entzogen seien („…laws, which exist independently of time and of the caprices of man“ (Quetelet 1849, 178)), hat er also Recht in dem Maße, in dem gewisse statistisch erfassbare Erscheinungen etwa aufgrund der Vervielfachung und der weit ausgreifenden Distribution ihrer Ursachensysteme tatsächlich unverfügbar für systematische Interventionen sind und sich daher in gleicher Größenordung über längere Zeiträume statistisch reproduzieren. Der Bezug des in Kapitel 3.2 Dargestellten zum Modell der Kollektivität lässt sich abschließend in einigen Stichwörtern zusammenfassen: Eingehüllt in die von Laplace mehr oder weniger plausibel illustrierte statistische Stabilität gewisser gesellschaftlicher Phänomene (auf Grundlage der Geltung des Bernoulli’schen Gesetzes) sind meist Ordnungen interaktiver Wiederholung (#9), die gemäß der Reziprozität von Prozess und Prozessor (#6) auf dem Vorliegen von Ensembles von „konstanten Ursachen“ als Prozessoren gründen. Das Vorliegen der Prozessoren konstituiert die statistisch erfassten Fälle erst als gleichartige, deren Quantität (Massenhaftigkeit) somit die vorgängige replikative Wiederholung bzw. Universalisierung (#8) der nämlichen Prozessoren zur Bedingung hat, die, nun als Populationen vorliegend, mittelbar kausal – nämlich: genealogisch – zusammenhängen. Die Prozessoren werden vervielfältigt und dabei, als lokali-

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sierte (#2), auf einem Territorium ausgestreut. Das Territorium ist, in seiner spezifischen Beschaffenheit, selbst konstante Ursache aller auf ihm stattfindenden Prozesse (#2). Die territoriale Ausgestreutheit der Prozessoren setzt diese in eine Äußerlichkeit (#2) und relative Unverfügbarkeit, anders gesagt, erhöht die Kosten eines orchestrierten, gerichteten Zugriffs auf sie. Diese Tatsache ist eine elementare Bedingung jeder statistischen Stabilität im Feld gesellschaftlicher Phänomene, wo sie denn anzutreffen ist. Dabei fragt sich, ob statistische Stabilität auf einem ontologischen Niveau sui generis jenseits der je zu Grunde liegenden Kollektivierungsprozesse (#8, #9) angesiedelt sei (#11).

3.3 T ARDE

UND DIE

S TATISTIK

Im letzten Kapitel wurde gezeigt, wie Wahrscheinlichkeitstheorie im 19. Jahrhundert Wiederholungsordnungen unter Rekurs auf das Modell des Zusammenspiels von konstanten und akzidentellen Ursachen analysiert. Dabei klang an, dass sich in Hinsicht auf konstante Ursachen, die Typen interaktiver Wiederholung prozessieren, die Frage ihrer vorgängigen Vervielfachung und Distribution stellt, – die Frage ihrer Universalisierung. Andererseits wurde schon in der Einleitung zu Kapitel 3 im Rahmen der allgemeinen Herleitung statistischen Denkens die Beschaffenheit eines Akteurs als Potentialität oder Prozessor seines Handlungsprofils (der Ordnung seiner interaktiven Wiederholungen (#9)) ausgewiesen. Von der Wahrscheinlichkeitstheorie her würde man wiederum sagen, die Beschaffenheit des Akteurs, also das Ensemble seiner Handlungsdispositionen, sei genau die konstante Ursache seines Handlungsprofils.68 Indem dieses Kapitel sich der Gesellschaftstheorie Gabriel Tardes und seinem Hauptwerk Die Gesetze der Nachahmung (1890) zuwendet, greift es diese beiden Aspekte zusammen auf und fragt nach den Mechanismen der replikativen Wiederholung von Handlungsdispositionen von Akteuren, die sowohl der statistischen Stabilität wie dann auch der Veränderlichkeit von Ordnungen interaktiver Wiederholung zu Grunde liegen. Dabei wird Tardes statistisches Denken einbezogen. Es ist durch den Grundsatz bestimmt, der Gegenstand der Sozialstatistik sei dasjenige und nur dasjenige, was eine „soziale Gruppe“ (groupe social) als solche auch tatsächlich konstituiere. Eine soziale Gruppe ist eine „Gruppe [collection] von Wesen, die sich gegenseitig momentan nachahmen oder einander ähnlich sind, ohne sich gegen-

68 Vgl. auch nochmals die Figuren des „Charakters“ und der „Gewohnheit“ bei Aristoteles. (Kap. 3.1.1)

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wärtig nachzuahmen, dessen gemeinsame Merkmale aber früheren Nachahmungen desselben Vorbilds entstammen.“ (GN 92) Entsprechend zielt die Sozialstatistik für Tarde darauf, Nachahmungsprozesse und ihre Produkte zu erfassen, nämlich angeeignete Handlungsdispositionen, die hier als „kulturelle Formen“ bezeichnet werden. Wie die Bevölkerungsstatistik Populationen von menschlichen Akteuren in ihrer Quantität, Ausbreitung, Reproduktion etc. erfasst, so sucht die Tarde’sche Sozialstatistik Populationen von kulturellen Formen in ihrer Quantität, Ausbreitung, Reproduktion etc. zu erfassen. Kulturelle Formen bilden, da sie mittels Nachahmung repliziert werden und also genealogisch zusammenhängen, Populationen, die auf Populationen menschlicher Akteure „siedeln“. Insofern Populationen einen Typus von Kollektivitäten darstellen (#8), ist die Tarde’sche Soziologie insgesamt als Analyse von Prozessen der Kollektivierung mittels replikativer Wiederholung im Feld der kulturellen Formen zu verstehen. Kapitel 3.3.1 zielt auf eine historisch-systematische Kontextualisierung des Tarde’schen Denkens. Es kann als Exkurs aufgefasst werden, weil es zum Verständnis der zentralen Aspekte seiner Nachahmungstheorie, die in Kapitel 3.3.2 entfaltet werden, nicht zwingend erforderlich ist. Kapitel 3.3.3 behandelt den Zuschnitt der Sozialstatistik bei Tarde. 3.3.1 Soziale Wiederholung Tardes Theorie gesellschaftsbildender Nachahmung ist zu Vorläufertheorien einerseits und weiterführenden oder ähnlichen Theorien andererseits in Beziehung zu setzen. Die Figur der Nachahmung bzw. der replikativen sozialen Wiederholung wird in den Etappen ihrer kultur- und sozialwissenschaftlichen Thematisierung knapp rekonstruiert, um den historischen und konzeptuellen Kontext von Tardes Denken anzuzeigen. Ohne Anspruch auf Vollständigkeit lassen sich schematisch vier Etappen unterscheiden: (1) In Kapitel 2 wurde der Mimesisbegriff bei Platon (und sehr knapp auch bei Aristoteles) behandelt. Der Begriff erschien dort als „kulturwissenschaftlicher“ Terminus, mit dem sich der zentrale Mechanismus wie der Status dichterischer Erzeugnisse analysieren ließ. Darüber hinaus wird das mimetische Vermögen von Platon implizit, von Aristoteles explizit als ein spezifisches, dem Menschen eigenes Vermögen angesprochen, mit dem in Staatsführung wie Pädagogik planvoll umgegangen werden muss. Es steht aber nicht im Zentrum der entsprechenden politischen und Sozialtheorien. Zudem findet sich vor allem bei Aristoteles eine Theorie mittles Lernen und Gewöhnung erworbener Vermögen, die aber ebenfalls nicht zu einer Theorie sozialer Reproduktion insgesamt ausgebaut

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wird. Wenn es auch nicht unwahrscheinlich ist, dass Tarde mit dem antiken Mimesisbegriff in Grundzügen vertraut war, finden sich in seinen Arbeiten keine expliziten Hinweise darauf, dass er diesen im Besonderen rezipiert hätte, noch ist in der Anlage seiner Theorie ein spezifischer Rekurs auf den antiken Begriff erkennbar.69 Vielleicht hat schlicht der noch wesentlich auf die Dichtung abstellende Zuschnitt des antiken Mimesisbegriffs angesichts von Tardes Interesse an der Formulierung einer allgemeinen Soziologie eine nähere Rezeption verstellt. (2) Vielmehr scheint man unmittelbar ins 19. Jahrhundert springen zu müssen, um die Denkströmungen erfassen zu können, die in Tardes Soziologie aufgegriffen und transformiert werden. So entwickeln sich in Frankreich seit den 1830er Jahren medizinische und dann auch kriminalwissenschaftliche Diskurse, die, parallel und m.E. in Abgrenzung zur Phrenologie als der Vorreiterin in Sachen der Medikalisierung devianten Verhaltens im frühen 19. Jahrhundert (Renneville 1995), um den Begriff der Ansteckung (contagion) kreisen: Nicht nur beginnt man anzunehmen, dass neben den ansteckenden Krankheiten des Körpers auch psychische Erkrankungen durch Ansteckungsprozesse hervorgerufen werden können, sondern man weitet dieses Ansteckungsmodell auf moralisch zweifelhaftes und kriminelles Verhalten (allen voran Selbstmord und Mord) aus: „Si l'existence "d'instincts dépravés" pouvaient être défendue en dehors de toute référence à la phrénologie, celles de contagion et d'hérédité étaient encore plus fréquente. La contagion des crimes par imitation, au sein des prisons ou grâce à la publicité des peines, amplifiée par les canards et les journaux, était un thème commun chez les médecins. On parlait de contagion du crime comme de contagion de la folie ou du suicide et l'on signalait même des mouvements épidémies de ces actes à l'occasion des "grandes commotions politiques".“ (Renneville 1995, 33)

Wichtige Protagonisten dieses Diskurses, meist ausgebildete Mediziner, sind Prosper Lucas, Paul Jolly, Prosper Despine, Paul Moreau de Tours und Paul Aubry.70 Während hier nicht der Ort dafür ist, individuelle Positionen innerhalb

69 Dabei hätte die Möglichkeit bestanden, sich explizit und auch affirmativ auf Aristoteles und Platon zu beziehen. Beide finden in den Gesetzen gelegentlich Erwähnung, aber in anderen Zusammenhängen und meist nur nebenbei. 70 Siehe Lucas 1833; Jolly 1846, 1877; Despine 1870, 1871; Moreau de Tours 1875, 1891; Aubry 1894. Diese Literaturangaben folgen im Wesentlichen den Angaben von Davis 1909, 115-118. Sie entsprechen in etwa den Referenzen, die Durkheim in Der Selbstmord (1897) in seiner Befassung mit dem Thema angibt (SM 124-150).

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des Diskurses herauszuarbeiten, lässt sich feststellen, dass alle genannten Autoren darin übereinkommen, der Mechanismus der „moralischen Ansteckung“ (Despine 1870) sei die Nachahmung. Diese steht als Ansteckungsmechanismus nicht bloß in Analogie zur körperlichen – bakteriellen, viralen – Ansteckung: „L'imitation, comme on l'a dit, est une véritable contagion, une contagion qui a son principe dans l'exemple comme la variole a son contage dans le virus qui la transmet; et de même qu'il existe dans l'intimité de notre organisation, des maladies qui n'attendent pour se développer que la plus légèr cause, de même aussi il est en nous des passions qui restent muettes dans l'exercice de la raison, et qui peuvent s'éveiller et se prononcer par le seul effet de l'imitation.“ (Jolly 1877, 120f.)

Wie die Pocken ihr Ansteckungsprinzip im Pockenvirus haben, so hat die Nachahmung ihr Ansteckungsprinzip im begegnenden Vorbild, verstanden buchstäblich als ein „moralisches“ Virus: „C'est en cela que l'expression de contagion morale n'est plus seulement une vaine image, mais la représentation d'un fait physiologique de la plus haute importance dans l'étiologie de certaines maladies.“ (ebd., 121) Dass das Virus bzw. die Ansteckung, wie es im Zitat heißt, wesentlich auf die menschliche Affektivität, auf menschliche Leidenschaften und Begehren zielt, ist ein Gedanke, den man auch bei Tarde finden wird. Prosper Despine entwickelt ihn wie folgt: „Une question se présente tout d'abord : En quoi consiste la contagion morale? Elle consiste en ceci: que les actes inspirés par les sentiments bons ou mauvais, par les passions, par les bons ou mauvais instincts, donnent aux personnes qui ont connaissance de ces actes, et qui sont susceptibles d'éprouver des sentiments, des passions semblables, le désir de commettre des actes semblables, en excitant en elles ces principes instinctifs. La contagion des bons exemples est un fait trop généralement reconnu pour qu'il soit necessaire d'insister sur sa demonstration. On a même tiré parti de cette connaissance pour exciter, developper et perfectionner les bons sentiments de l'enfant, pour lui donner une éducation morale. C'est principalement par de bons exemples, par la lecture de faits inspirés par de beaux et de nobles sentiments, que l'on eleve sa nature morale, que l'on perfectionne ses bons instincts, autrement appelés: facultés du coeur. Ce qui a lieu pour les bons sentiments a exactement lieu, et par la même raison, pour les mauvais.“ (Despine 1870, 4)

Die „moralische Ansteckung“ besteht also nicht einfach in der Wiederholung einer Handlung, sondern in der Replikation des der Handlung zugrundeliegenden Begehrens. Entscheidend ist, dass die Figur der „moralische Ansteckung“ ausdrücklich nicht auf die Replikation von Pathologien beschränkt bleibt; vielmehr

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wird als bekannt vorausgesetzt, dass die Ansteckung mit dem guten Beispiel ein zentrales Prinzip in der moralischen Erziehung darstelle. Damit scheint es möglich zu sein, das Ansteckungsprinzip von den Phänomenen der Psychopathologie und Kriminalität abzulösen und als allgemeines Prinzip der Replikation von Verhaltensdispositionen überhaupt zu konzipieren – wie von Tarde in Die Gesetze der Nachahmung vollzogen.71 Dabei rezipiert Tarde die genannten medizinischen und kriminalwissenschaftlichen Diskurse selbst nicht vor allem als Soziologe, sondern als Kriminologe.72 So vertritt er in seiner zeitgleich mit Die Gesetze erschienenen Philosophie pénale (1890) (Tarde 1912) eine Theorie der Nachahmung als der eigentlich sozialen Ursache von Verbrechen. Diese Theorie ist bei ihm eingefasst in eine Theorie der Nachahmung als dem sozialisierenden Mechanismus schlechthin: „the powerful, generally unconscious, always partly mysterious, action by means of which we account for all the phenomena in society, namely imitation.“ (Tarde 1912, 322) Vor diesem Hintergrund heißt es weiter: „All the important acts of social life are carried out under the domination of example. One procreates or one does not procreate, because of imitation; the statistics of the birth rate have shown us this. One kills or one does not kill, because of imitation; would we today conceive the idea of fighting a duel or of declaring war, if we did not know that these things had always been done in the country which we inhabit? One kills oneself or one does not kill oneself, because of imitation; it is a recognized fact that suicide is an imitative phenomenon to the very highest degree […] After this how can we doubt but that one steals or does not steal, one assassinates or does not assassinate, because of imitation?“ (1912, 322)

Dass man sehr wohl daran zweifeln kann, dass deviante und kriminelle gesellschaftliche Phänomene wesentlich über Nachahmungsprozesse hervorgebracht

71 Vgl. zum Ansteckungsbegriff bei Tarde GN 40f. 72 Das deckt sich mit Davis’ allgemeiner, vorstehende Skizze gut zusammenfassender Bemerkung: „It is interesting to observe that imitation, as a psychological function, did not come to the attention of the scientific world either through Sociology or through General Philosophy itself. It was the field of abnormal life that imitation was first studied. […] Imitation was first scientifically analyzed as a sort or “mental contagion,” and in this form was early noted by penologists, because phenomena of “moral contagion” are forced upon the attention of those who have to deal with criminals.” (Davis 1909, 117)

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werden, zeigt Durkheim am Fall des Selbstmords.73 Diese Frage kann hier nicht weiterbehandelt werden.74 Vielmehr gilt es, weiterhin eine Reihe von Autoren zu betrachten, die dem Konzept der Nachahmung vor oder gleichzeitig mit Tarde eine allgemeine sozialtheoretische Relevanz zuschreiben oder anderweitig auch für Tarde wichtige Motive behandeln. Zu nennen ist dann Prosper Lucas’ zweibändiger Traite philosophique et physiologique de l´hérédité naturelle (1847/1850), in dem eine Vererbungslehre ausgearbeitet wird, die Darwin beeinflussen sollte (Noguera-Solano/RuizGutiérrez 2009) und den Tarde rezipiert hat (Tarde 1912, 47), auch wenn er in den Gesetzen der Nachahmung unerwähnt bleibt. Obwohl Lucas in Bd. 2 des Traite auch mit der biologischen Vererbung devianter und krimineller Dispositionen befasst ist (Lucas 1850, 507ff.) – ebenso wie in De l'imitation contagieuse (1833) mit der sozialen Vererbung solcher Dispositionen –, bilden kriminalwissenschaftliche Fragen nicht das Hauptinteresse des Texts. Im Zentrum steht eine Theorie „natürlicher“ Vererbung, die auf zwei Prinzipien gegründet ist, die sich in identischer Form auch bei Tarde finden werden: Invention und Imitation. Interessanterweise werden diese Prinzipien von Lucas zunächst als Prinzipien des menschlichen Geistes, der menschlichen Tätigkeit, und erst im Anschluss auch als Prinzipien der Natur gefasst: „Nous sommes ici forcés de nous interroger sur le mode d'agir de la nature en nousmêmes. Il n'y a pour nous que deux procédés de possibles, il n'y en a que deux d'intelligibles, dans la conception et dans l´exécution de nos propres œuvres ; il n'y a que deux lois, que nous appliquions sans cesse, lorsque nous agissons. La première de ces lois est l´invention: c'est celle où notre esprit ne suit aucun modèle, où il improvise, où il compose de soi, où il imagine, en un mot, où il crée. La seconde de ces lois est l´imitation: c'est celle où notre esprit se soumet à l'exemple, celle où il copie, celle où il se souvient, celle où il répète.“ (1847, 23f.)

Die beiden Prinzipen werden von Lucas axiomatisch eingeführt, sind in ihrer Allgemeinheit aber auch intuitiv plausibel: Was immer wir tun, es gibt zwei Möglichkeiten: wir folgen in unserem Tun einem Beispiel; oder wir folgen kei-

73 „Es gibt kaum Dinge, die durch Ansteckung leichter übertragbar sind, als der Selbstmord, und trotzdem haben wir gesehen, dass sie keine sozial spürbaren Wirkungen hat. Wenn Nachahmung hier keinen sozialen Einfluss ausübt, dann kann das woanders sicher auch nicht mehr sein. Ihre angebliche Kraft ist eingebildet.“ (SM 148f., vgl. 124-150) 74 Vgl. aber zum Konflikt zwischen Tarde und Durkheim insgesamt Kap. 4.3.

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nem Beispiel, sondern improvisieren oder erfinden eine neue Art von Tun. Lucas überträgt diese Prinzipien spekulativ auf den Bereich der Natur: „Lorsque, de l'analyse de ces lois intérieures de notre activité, on remonte, dans l'univers, à la recherche mentale de celles de la nature, dans la création, il est au-dessus de toute la divination, il est au-dessus de toute la force de la pensée d'en concevoir d'autres en elle; nous n'imaginons que deux systèmes possibles de composition de ces types infinis qui sortent de ses mains. Le premier est celui de la création libre et insubordonnée, ou de la composition originale des types, celui où elle procède à l'organisation, sans loi de dépendance, ni de conformité de l'être qu'elle engendre avec les autres êtres. Le second est celui de la création réglée et subordonnée ou delà composition analogique des types: c'est-àdire celui où, dans le développement de l'organisation, elle se subordonne à une loi de rapport et de conformité de l'être qu'elle engendre avec les autres êtres. Du plus haut de la sphère où s'élève l'esprit, il nous semble, en un mot, que la vie universelle ne puisse agir en elle-même, selon d'autres lois, que les lois par lesquelles elle agit en nous-mêmes; il nous semble que, pour mettre la matière en œuvre, et pour réaliser spontanément en elle l'organisation, elle n'ait que les deux formes de nos facultés; une d´invention, ou d'imagination, où la nature crée, où elle improvise; une d´imitation et de mémoire en quelque sorte, où elle se souvient et où elle se répète.“ (1847, 24f.)

Biologisch gewendet kündigen sich in den Prinzipien der Innovation und Imitation somit schon die Prinzipien der Variation und Heridität an (NogueraSolano/Ruiz-Gutiérrez 2009, 691ff.). Wichtig in Hinblick auf Tarde ist aber, dass bei Lucas nicht allein die Prinzipien der Innovation und Imitation schon angelegt sind, sondern ebenso die Tatsache, dass Lucas annimmt, dieselben seien im Bereich der Natur ebenso wie im Bereich menschlicher Tätigkeit und Gesellschaftlichkeit am Werk. Tardes konzeptuelle Gleichstellung von biologischer Reproduktion und sozialer Imitation im Rahmen seiner Theorie universeller Wiederholung ist hier schon angelegt. Ein weiteres Werk, dass der Nachahmung eine zentrale, nicht auf die Kriminalistik beschränkte soziale Funktion zuschreibt, ist Arthur Bordiers La vie des sociétés (1887). Ob Bordier, Professor für medizinische Geographie an der Pariser École d´Anthropologie, mit Tardes Aufsätzen aus den Jahren 1883ff. vertraut war, aus denen sich Die Gesetze der Nachahmung zusammensetzen, lässt sich an dieser Stelle nicht klären (sie finden bei ihm keine Erwähnung). Umgekehrt kannte Tarde Bordiers Text (GN 264), der aber offenkundig zu spät kam, um Die Gesetze zu beeinflussen. (Andere Aspekte von Bordiers Denken, so seine Theo-

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rie typischer Schädelformen von Kriminellen, lehnte Tarde ab.75) Wie dem auch sei: Bordier artikuliert einige Ideen, die denjenigen Tardes eklatant ähneln. So ist es für ihn der Mechanismus der ansteckenden Imitation, der verantwortlich ist für die besonderen Charakteristika einzelner Völker oder Nationen: „C'est ainsi, par une véritable contagion s'exerçant dans le milieu social, que se propagent les idées, les découvertes, les çoutumes utiles, les expressions, l'accent, les modes et tout ce qui fait le caractère distinctif d'un peuple ou d'une nation.“ (Bordier 1887, 77). Nachahmung produziert den Nationalcharakter, indem sie Ideen, Gebräuche etc. mittels Vervielfachung vereinheitlicht (ebd., 76). Dass sie für Bordier einen allgemeinen sozialen Mechanismus darstellt, wird an der von ihm skizzierten Doppelnatur der Nachahmung deutlich: sie ist zugleich der Mechanismus, über den sich der Fortschritt, die progressive Idee, ausbreitet und zur politischen Macht wird, und der Mechanismus, der dem genau entgegensteht, da sich qua Nachahmung natürlich ebenso die intergenerationale Reproduktion althergebrachter Sitten und Institutionen vollzieht: „Malheureusement cette tendance à l'imitation n'exerce pas son influence uniquement en faveur du progrès; c'est aussi cette même faculté qui retient les hommes attachés et comme rivés aux coutumes, aux mœurs, aux institutions des époques précédentes, arrêtant ainsi l'humanité sur la route où elle devrait avancer, quand elle ne la force pas à rétrograder.“ (1887, 78)

Bordier spricht althergebrachte Sitten und Gebräuche als soziales Analogon dessen an, was in der Biologie Atavismus (besser: Rudiment) genannt wird: Organe und Fähigkeiten, die nicht mehr auf das aktuell gegebene Milieu passen, nicht mehr angepasst sind. (ebd.) Ohne dass das substanziell ausgeführt wird, deutet sich einmal mehr jener Parallelismus von biologischer und sozialer Welt an, der schon bei Lucas anzutreffen war und den auch Tarde aufnimmt. Dass Bordier den Schlüssel zum Phänomen der Imitation in zeitgenössischen Theorien der Suggestion (Somnambulismus / Hypnose) sucht (ebd., 94-101), macht eine weitere Gemeinsamkeit mit Tarde aus („Die Gesellschaft besteht aus Nachahmung und Nachahmung aus einer Art Somnambulismus.“ (GN 111)). Fast noch etwas weiter als die Gemeinsamkeiten zwischen Tarde und Bordier gehen diejenigen zwischen Tarde und dem britischen Unternehmer und Journalisten Walter Bagehot, dessen Werk Physics and Politics; or, Thoughts on the Application of the Principle of „Natural Selection“ and „Inheritance“ to Po-

75 Vgl. Bordier 1879; zu Tardes Ablehnung: Tarde 1912, 225ff.; Nye 1976, 348.

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litical Society (1872) (Bagehot 1906)76 schon seit 1873 unter dem Titel Lois scientifiques du développement des nations in französischer Übersetzung vorlag (Bagehot 1873). Tarde hat laut Selbstaussage Bagehots Text erst nach der Publikation der Gesetze rezipiert,77 die Parallelen sind aber augenfällig. So begreift Bagehot die menschliche Natur als wesentlich geprägt durch eine Tendenz zur Nachahmung.78 Wie für Platon werden Menschen für Bagehot („ontologisch“) zu dem, was sie zunächst bloß nachahmen (Bagehot 1906, 95), produzieren sich also durch Nachahmungstätigkeit selbst in ihrem Sein bzw. in ihren Gewohnheiten (ebd.). Bagehot fasst Nachahmung als einen ansteckenden Glauben (oder: Überzeugung – engl. belief, creed) bzw. als eine Operation, die mit den Glaubensressourcen von Menschen arbeitet: „the main seat of the imitative part of our nature is our belief.“ (ebd., 93) Während, wie oben angedeutet, die Nachahmung für Jolly und Despine auf die Replikation und Exaltation des Begehrens zielte, so für Bageot also auf die Stimulation und Transmission des Glaubens. Für Tarde schließlich werden die Gegenstände der Nachahmung aus Komplexen von Begehren und Glauben (désir und croyance) bestehen (GN 168, GNog 157). Bagehot trifft sich mit Tarde auch in der Einschätzung der gesellschafts- bzw. nationenbildenden Relevanz der Nachahmung: „I want to bring home to others what every new observation of society brings more and more freshly to myself – that this unconscious imitation and encouragement of appreciated character, and this equally unconscious shrinking from and persecution of disliked character, is the main force which moulds and fashions men in society as we now see it. Soon I shall try to show that the more acknowledged causes, such as change of climate, alteration of political institutions, progress in science, act principally through this cause; that they change the object of imitation and the object of avoidance, and so work their effect.“ (Bagehot 1906, 97, Kurs. eingef.)

Interessant ist der von Bagehot postulierte, angeblich vor allem in frühen Gesellschaften uneingeschränkt durchschlagende (ebd. 100f.) doppelte Mechanismus von Imitation plus Verfolgung / Bestrafung, für den sich in dieser Form bei Tarde kein Analogon finden wird. Dabei handelt es sich um den einzigen Punkt

76 Für Artikel zur Einführung in Aspekte von Bagehots Denken siehe: Westwater 1977; Easton 1949. 77 So Tarde in einem Brief an Giulio Fioretti vom August 1891, nachzulesen in: Borlandi 2000, 43-47. 78 „The truth is that the propensity of man to imitate what is before him is one of the strongest parts of his nature.” (Bagehot 1906, 92)

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in Politics and Physics, an dem Bagehot sein Programm – eben: Thoughts on the Application of the Principle of „Natural Selection“ and „Inheritance“ to Political Society – auf der Ebene der Nachahmungsgegenstände selbst, also auf der Ebene der nachgeahmten Glaubensinhalte konkretisiert. So weist er zunächst die Annahme zurück, Imitation und Verfolgung / Bestrafung bildeten gegenläufige Prinzipien, indem der Impuls zur Imitation selbst wesentlich in Richtung der Nachahmung neuartiger Glaubensinhalte neige, während der Impuls zur Verfolgung und Bestrafung gerade auf die Verhinderung dieser Imitation gerichtet sei. Vielmehr setze der doppelte Mechanismus auch eine doppelte Selektivität zugunsten der sozialen Reproduktion traditionaler Gehalte ins Werk. Denn einerseits gelte: „There is a strong tendency to copy the most common thing, and that common thing is the old habit“ (ebd., 103). Andererseits aber treibe – so muss man Bagehot verstehen – die Sanktionierung der Imitation des Neuen deren Preis so weit nach oben, dass sie faktisch sehr unwahrscheinlich wird. Damit ergibt sich: „The imitative and persecuting tendencies make all change in early nations a kind of selective conservatism” (ebd.). Abgesehen von diesem hier forciert gelesenen Fall begreift Bagehot die Prinzipien der „natürlichen Auslese“ und „Vererbung“ durchweg als Prinzipien des Überlebenskampfes der Rassen, Stämme und Nationen, nicht der Nachahmungsgegenstände selbst. (ebd. 24, 51, 108f., 114)79 An diesem Punkt enden denn auch die Gemeinsamkeiten mit Tarde, der gegenüber dem Rassismus Bagehots die Vorstellung präsozialer, also rein biologisch zu fassender „Urrassen“ ablehnt und dessen Fortschrittsdenken in der Idee einer universellen Weltgesellschaft konvergiert. (GN 18f.; vgl. ebd. 15-19) Unabhängig davon, ob im Einzelnen eine Rezeption Tardes nachgewiesen werden kann, sind vorstehend Denkfiguren vorgeführt worden, die zu den zentralen Motiven der Gesetze der Nachahmung und des Tarde’schen Denkens insgesamt gehören werden: Die Annahme, Nachahmung konstituiere ein, wenn nicht das

79 Bagehot entwirft ein rassistisches Szenario, in dem gilt: „The problem of `nationmaking´ – that is, the explanation of the origin of nations such as we now see them, and such as in historical times they have always been – cannot, as it seems to me, be solved without separating it into two: one, the making of broadly marked races, such as the negro, or the red man, or the European; and the second, that of making the minor distinctions, such as the distinction between Spartan and Athenian, or between Scotchman and Englishman” (Bagehot 1906, 86). Die „Rassen” repräsentierten dabei verschiedene evolutionäre Stufen, wobei die „höheren“ Rassen als Resultate eines längeren, härteren Selektionsprozesses anzusehen seien (108) – eine Theorie, die noch von den Eugenikern der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts vertreten wird, etwa von Karl Pearson. (Pearson 1912, 6-9)

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wichtigste Prinzip der Produktion (Reproduktion und Transformation) von Gesellschaften; der Ausgang vom doppelten Prinzip der Innovation und Nachahmung (die Innovationen transmittiert und Gesellschaften homogenisiert); die Äquivalenz zwischen biologischer Reproduktion und sozialer Imitation, und zwischen körperlicher Ansteckung und sozialer Nachahmung; das Verständnis der Nachahmung als einer Form von Suggestion (Somnambulismus / Hypnose); und das Verständnis der Gegenstände der Imitation als (Komplexe von) Begehren und Glauben. Diese Motive werden unten näher behandelt. Vorerst aber ist die Nachzeichnung der Etappen der sozial- bzw. kulturwissenschaftlichen Thematisierung des Begriffs der Nachahmung bzw. der replikativen sozialen Wiederholung fortzusetzen. So findet man im 20. Jahrhundert zwei abgegrenzte, mit sozialen Wiederholungsphänomenen befasste Forschungspradigmen: ein unter dem Überbegriff Diffusion of Innovations geführtes sozialwissenschaftliches Paradigma einerseits und ein naturalistisches Paradigma andererseits, das unter Begriffen wie Sociocultural Evolution, Population Thinking oder Memetics auftritt und auf die Analogie von sozialer und biologischer Evolution abstellt. Beide sind wesentlich USamerikanischer Provenienz. (3) Das Paradigma der Diffusion of Innovations ist mittelbar mit dem Denken Tardes verknüpft. Nach der New Yorker Übersetzung der Gesetze der Nachahmung von 1903 (Tarde 1903) lässt sich eine Rezeption Tardes insbesondere in der amerikanischen Sozialpsychologie – prominent etwa bei E. A. Ross (Ross 1908) und Michael M. Davis (Davis 1909) (Ellwood 1901; Bogardus 1922, 366388) – sowie in ethnologischen und anthropologischen Zusammenhängen beobachten. (Lowie 1937) Den Ausgangspunkt und Kernbestand des DiffusionParadigmas bildet aber eine Reihe von Artikeln aus den 1940er und 1950er Jahren, die, unter dem Dach diverser Disziplinen, wesentlich empirisch orientierte Analysen sozialer Diffusionsprozesse vornehmen.80 Diese sind meist so spezifisch und praxisorientiert gehalten, dass man hier eine Rezeption Tardes oder seiner US-amerikanischen Mediatoren nicht als Regelfall annehmen darf. Katz et al. charakterisieren die Analysen in diversen Disziplinen wie folgt: „The most conspicuous case is that of rural sociology which has accumulated, over the last two decades, several hundred studies of the communication and acceptance of new farm

80 Vgl. aber zu den historischen Vorläufern dieser Analysen: Katz et al. 1963, 237-239, die sehr ausführliche Literaturangaben bieten.

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practices. Similarly, researchers in the field of education have tried to understand the rate of acceptance of innovations by school systems and have looked at such things as the spread of the kindergarten or supplementary reading. Public health is interested in the acceptance of new health practices – the Salk vaccine, for example. Marketing researchers, of course, are interested in the spread of acceptance of new products (although they have done far less work on this problem than one might imagine); folklorists have documented the extent to which children's games, for example, have spread from region to region; and so on.“ (Katz et al. 1963, 239).

Als unter methodischen Gesichtspunkten besonders einflussreich wird häufig eine von Bryce Ryan und Neal C. Gross durchgeführte Studie zur Adoption neuartigen hybriden Saatguts für Maispflanzen durch Farmer zweier Dörfer in Iowa in den Jahren 1924-41 gewertet (Rogers 2003, 35; Kunninen 1996, 437), die den Prozess der Informationsgewinnung in Sachen des neuartigen Saatguts und dann den Prozess seiner Adaption in statistischen Zeitreihen nachzeichnet und dabei auch die für die Entscheidung zur Adoption relevanten Faktoren auswertet (Ryan/Gross 1943). Diese Studie kommt gänzlich ohne theoretische Vorüberlegungen aus. Insgesamt scheinen die einzelwissenschaftlichen Studien der 40er und 50er Jahre noch nicht durch ein übergreifendes Theorieparadigma zusammengehalten zu werden: „The fact is that hardly anybody […] has taken charge of claiming, collecting, and cataloguing these disparate cases for comparison.“ (Katz 1999, 145) Vielmehr ist ein übergreifendes Theorieparadigma im eigentlichen Wortsinn im Feld der Diffusion of Innovations-Forschung erst durch Everett Rogers’ 1962 erstmals und bis 1995 in mehrfach erweiterter Fassung publizierte gleichnamige Monografie (Rogers 2003) entstanden. Hierin versucht Rogers, seinerzeit Agrarsoziologe an der Iowa State University, die vorhandenen einzelwissenschaftlichen Studien auf theoretische Verallgemeinerungen hin auszuwerten (zum Entstehungsgang der Monografie vgl. Rogers 2003, xv ff.; Kinnunen 1996, 437). Diese Verallgemeinerungen stimmen in erheblichem Umfang mit den Theorien Tardes überein: „Rogers was well aware of the writings of Tarde. Many of his generalizations are in harmony with Tarde’s principles“. (Kinnunen 1996, 437) Ohne Rogers’ Rezeption Tardes genauer nachzuzeichnen, sollen einige Übereinstimmungen bloß genannt werden. (ebd., 436ff.; Katz 1999) Zunächst definiert Rogers den Gegenstand der Diffusion of InnovationForschung wie folgt: „Diffusion is the process in which an innovation is communicated through certain channels over time among the members of a social system. It is a special type of communication, in that the messages are concerned with new ideas. Communication is a process in

234 | K OLLEKTIVITÄTEN which participants create and share information with one another in order to reach a mutual understanding.“ (Rogers 2003, 5; vgl. für eine ähnliche Definition Katz et al. 1963, 240 und ff.)

Ausgangspunkt ist also wie bei Tarde eine Innovation und ihre Ausbreitung („Diffusion“)81 mittels Prozessen der Imitation („Kommunikation“). Dabei stellt Rogers ein für den Ausbreitungsprozess typisches, schon von Ryan/Gross 1943 festgestelltes Muster heraus, demzufolge der Prozess verschiedene Stadien durchlaufe: „The S-shaped adopter distribution rises slowly at first, when there are only a few adopters in each time period. The curve then accelerates to a maximum until half of the individuals in the system have adopted. Then it inreases at a gradually slower rate as fewer and fewer remaining individuals adopt the innovation.“ (2003, 272; vgl. insgesamt 267ff.)

Dieses Muster, dem Rogers eine Typologie von „adopters” zuordnet (ebd., 282ff.), findet sich in Grundzügen schon in den Überlegungen Tardes, der von „drei Altersstufen dieser wirklich sozialen Wesen, die ich Erfindungen oder Entdeckungen nenne“, ausgeht, nämlich einem „langsamen Fortschritt zu Beginn, der sich in der Mitte gleichmäßig beschleunigt und gegen Ende wieder langsamer wird, bis er schließlich zum Stillstand kommt. Kein soziales Wesen entzieht sich dieser Entwicklung.“ (GN 150). Darüber hinaus finden sich die beiden Typen von „Gesetzen“, die Tarde hinsichtlich der Nachahmungsprozesse ausarbeitet – nämlich die „logischen“, d.h. den Nutzen oder die Wahrheit der Erfindungen selbst betreffenden (GN 163ff), sowie die „außerlogischen“, d.h. die sozialen Modalitäten der Verbreitung betreffenden Gesetze der Nachahmung (GN 213ff.) –, in Umrissen auch bei Rogers wieder, etwa dort, wo er einerseits den relativen Nutzenvorteil, die Kompatibilität und die Komplexität von Innovationen als Parameter ihrer Ausbreitung untersucht (2003, 219ff.) oder wo andererseits die Rolle von Meinungsführerschaften und Sozialprestige in DiffusionsNetzwerken analysiert.82 Obwohl es interessant wäre, solche Gemeinsamkeiten und dann auch die Unterschiede zwischen Tarde und Rogers genauer zu analysieren, soll hier abschließend bloß obige Bemerkung einmal mehr in Erinnerung gerufen werden:

81 Der Begriff der Diffusion findet sich auch bei Tarde (z.B. GN 42 (GNog 19)) und Bordier (1887, 76). 82 Rogers 2003, 308ff., 316ff.; vgl. zum Verhältnis von Überlegenheit / Sozialprestige und Nachahmung bei Tarde: GN 238ff.

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Bei dem unter dem Begriff der Diffusion of Innovations geführten Paradigma handelt es sich um ein sozialwissenschaftliches Paradigma. Damit ist gesagt, dass es keine biologischen Motive in die Analyse von Prozessen sozialer Diffusion einbringt. (4) Das letzte zu erwähnende Forschungsparadigma, das etwa seit den 1960er Jahren unter dem Überbegriff der Soziokulturellen Evolution (und später: Memetics) existiert, unternimmt hingegen genau das: es beansprucht, die Geschichte menschlicher Gesellschaften sinnvoll als Evolution analysieren zu können, also buchstäblich als einen Prozess, der durch das Zusammenspiel der Faktoren Heredität, Variabilität und Selektivität begriffen werden kann. Dabei gründet sich das Paradigma auf eine doppelte Abgrenzung: Einerseits grenzt es sich ab von Modellen, die die Geschichte menschlicher Gesellschaften als Evolution im Sinne einer durch Entwicklungsgesetze geleiteten linearen Abfolge mehr oder weniger abgegrenzter globaler Entwicklungsstufen versteht (Comte, Spencer, Marx, Morgan, Durkheim etc.83). Und andererseits vom klassisch-rassistischen „Sozialdarwinismus“ (Galton, Pearson), den der Spencer’sche Grundsatz des „survival of the fittest“ dazu inspirierte, soziales und politisches Geschehen unter den Primat der „Eugenik“ (der genetischen „Verbesserung“ der „Rassen“ bzw. der Menschheit insgesamt) zu stellen, also innergesellschaftliche Überlebenskämpfe zum Zweck der Erhaltung oder Steigerung der biologischen „fitness“ von Gesellschaften zu inszenieren, das Verhältnis zwischen Gesellschaften als Rassenkampf zu interpretieren und ggf. mörderische „eugenische“ Programme aufzulegen. (Campbell 1965, 20) Demgegenüber geht es dem vorliegenden Paradigma darum, nicht die Entstehung und Entwicklung der über biologische Mechanismen vererbten Formen und Merkmale von Organismen, sondern die Entstehung und Entwicklung der über soziale Mechanismen reproduzierten kulturellen Formen („cultural forms“, ebd. 26) zu erklären, indem man die Faktoren Heredität, Variabilität und Selektivität ins Spiel bringt. Das setzt grundsätzlich voraus, dass die Ebene kultureller Formen von der Ebene biologischer Organismen insoweit unabhängig ist, als kulturelle Tatbestände über eigene – soziale, nicht biologische – Reproduktionsmechanismen verfügen. So schreiben Cavalli-Sforza und Feldman: „We accept as culture those aspects of „thought, speech, action, and artefact“, which can be learned and transmitted.“ (1981, 10). Sie fahren fort:

83 Vgl. Campbell 1965, 21f.; Stebbins 1965, 3; Fraccia/Lewontin 1999, 64-67.

236 | K OLLEKTIVITÄTEN „This encompasses a large and heterogenous collection indeed, and at first glance it may seem futile to look for the common properties of such a diverse group. […] The feature common to all the above “cultural entities” is that they are capable of being transmitted culturally from one individual to another. Transmission may imply copying (or imitation); copying carries with it the chance of error. Thus we have in cultural transmission the analogs to reproduction and mutation in biological entities. Ideas, languages, values, behavior, and technologies, when transmitted, undergo “reproduction,” and when there is a difference between the subsequently transmitted version of the original entity, and the original entity itself, “mutation” has occurred. Whether this change is a result of random copying error or has been intentionally made does not determine its subsequent fate, since the altered cultural entity, rather than its progenitor, is now the model for other individuals who will transmit it.“ (ebd., 10)

Wenn zu diesem Prozess der Reproduktion unter Einschluss von Variationen (Mutationen) noch das Moment der Selektivität hinzukommt, das mittels differenzieller Reproduktion die Anpassung kultureller Formen oder Entitäten an ihre jeweilige Umwelt bewirkt, dann hat man es, so die Überlegung, mit einem echten kulturellen Evolutionsprozess zu tun. (ebd. 11ff.) Wenn auch Campbells Artikel „Variation and Selective Retention in SocioCultural Evolution“ von 1965 den Diskurs zur Darwin’schen Evolution kultureller Formen für die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts eröffnet (vgl. aber Stebbins 1965), so gibt es auch hier wichtige Vorläufer (Reisman 2005, 17ff.). Schon in Walter Bagehots Physics and Politics von 1872 (Bagehot 1906) fand sich der Fall einer auf kulturelle Formen bezogenen Selektivität im Sinne Darwins. Vor allem aber ist es Albert Galloway Keller, der in seiner Studie Societal Evolution (1915) (Keller 1920) die Faktoren der Heredität, Variabilität und Selektivität erstmals auf die sozialen Formen anwendet, und zwar explizit unter der Prämisse der Unabhängigkeit von biologischer und kultureller Evolution.84 Er schreibt:

84 Diese Unabhängigkeit drückt sich in dem von Keller diagnostizierten Faktum aus, dass Menschen sich in kultureller Hinsicht radikal unterschieden, während sie sich biologisch in einem Maße ähnelten, das bei anderen biologischen Arten so nicht zu beobachten sei. „Viewed as an animal, man shows two striking phenomena: first, dispersal over all the varieties of earthly environment as no other animal is dispersed; and, second, a homogeneity so thoroughgoing that it is impossible to distinguish human species, let alone genera and other wider categories. The widest diversity of environment; the narrowest similarity of structure. At best only sub-species or varieties are definable, and even here there is such disagreement among classifiers as to lend great confusion to the study of ethnology. And the likenesses between men which baffle the

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„It is evident that the salient features of Darwinian evolution are variation, heredity, and selection; and that out of the operation of these three comes the fourth, which is really the result of the process – adaption. […] It is clear enough that the idea of taking the issue up as it is done here – of exploring the nature of social variation, social selection, social transmission, and social adaptation – was suggested by the Darwinian system. […] I shall be charged, doubtless, with “reasoning from analogy," but I do not feel that the charge is deserved. I find a something in the social field which is variation, whether or not it may be like what is called variation in the organic field; similarly social selection is selection and not merely like it. In the social field, also, there is a means of transmission having the essential attributes of heredity in nature; and adaptation occurs in one range of phenomena as in the other. These factors have their societal mode as they occur in the life of society, just as they have their organic mode when they appear in the life of organisms.“ (Keller 1920, 14f.)

Gegenstand von Variation, Selektion und sozialer Transmission sind dabei Traditionen und Sitten („folkways“ und „mores“), deren Begriffe Keller von seinem Lehrer William Graham Sumner aufgreift. (ebd., 30f.) Vergleicht man dieses Zitat mit dem davor gebrachten Zitat von Cavalli-Sforza und Feldman, erkennt man eine bemerkenswerte Konsistenz in der Grundanlage des Modells einer Darwin’schen soziokulturellen Evolution über Jahrzehnte hinweg.85 Diese Konsistenz erstreckt sich auch auf einen einflussreichen Text Richard Dawkins’ von 1976 (Dawkins 2006, 189-201), der dem Forschungsfeld der Sociocultural Evolution einen neuen (und dann populärwissenschaftlich angeeigneten) Begriff, nämlich den des Mems hinzufügen sollte. Das Mem ist Dawkins’ Äquivalent zu Kellers „folkways“ und „mores“, zu Campbells „cultural forms“ und Cavalli-Sforza/Feldmans „cultural entities“: Er definiert es in

classifier are not alone to be found as between human beings separated in space over the earth, but also as between those existing in different epochs of time.” (Keller 1920, 17) Keller erklärt den Sachverhalt – kurz gesagt – so, dass die kulturelle Evolution die weitere biologische Evolution bzw. biologische Ausdifferenzierung des Menschen überflüssig gemacht habe (ebd., 18; vgl. ders. 1923, 132ff.). Gleichwohl zeigt Keller in seinem Denken durchaus auch Rassismen (vgl. 1908, 145) und kritisiert eugenische Programme – wenn überhaupt – nur unter praktischen bzw. Machbarkeitsgesichtpunkten. (vgl. 1920, 193ff.; 1914) 85 So auch Fraccia/Lewontin 1999, 69: „Beneath all the differences in details, there is a paradigmatic unity among Darwinian theories of cultural evolution based on the assumption that cultural evolution can and must be explained in terms isomorphic with the three principles of Darwin’s variational scheme.”

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Analogie zum Gen als den eigentlichen Gegenstand der soziokulturellen Evolution und damit als Replikator (ebd., 192). Ein Replikator kann verstanden werden „als jegliche Einheit von Information […], die mit Variationen und Fehlern kopiert wird und deren Beschaffenheit einen Einfluss auf die Wahrscheinlichkeit der eigenen Replikation hat“, deren Beschaffenheit also zum Gegenstand von Selektionsprozessen wird. (Blackmore 2003, 50; vgl. Dawkins 2006, 194f.) Das Zusammenwirken von Heredität, Variabilität und Selektivität bildet also auch bei Dawkins den Ausgangspunkt des Modells. Hier wie in den vorstehenden Abschnitten kann nicht ins Detail gegangen und können die verschiedenen Positionen innerhalb des naturalistischen Paradigmas nicht herausgearbeitet werden.86 Mindestens hinzuweisen ist aber auf einige Fragen und Probleme, die diesem Paradigma eignen. So stellt sich die Frage nach der Beschaffenheit und Abgegrenztheit der „kulturellen Formen“ als den Gegenständen soziokultureller Evolution, – insbesondere dort, wo diese Formen als „Meme“ unmittelbar nach dem Modell der genetischen Erbinformation gefasst werden (Gil-White 2008); es stellt sich die Frage nach den verschiedenen Mechanismen der sozialen Heredität und der spezifischen Effekte dieser Mechanismen (Cavalli-Sforza/Feldman 1981); es stellt sich hinsichtlich der Variabilität und Selektivität die Frage ihrer Intentionalität / Non-Intentionalität; es stellt sich die Frage, ob sinnvoll von einer „Angepasstheit“ kultureller Formen gesprochen werden kann; und es stellt sich die Frage, ob das Geschehen der sozialen Reproduktion angesichts der tiefgreifenden Strukturiertheit menschlicher Gesellschaften überhaupt ein populationistisches Phänomen im engeren Sinne ist, auf welche aber der Darwin’sche Formalismus allein sinnvoll angewendet werden kann (Reisman 2005, 43, 239).87

86 Vgl. für eine Übersicht Darwin’scher Theorien soziokultureller Evolution: Reisman 2005, 17-23; Fraccia/Lewontin 1999, 67ff. 87 Vgl. Fraccia/Lewontins Kritik am Paradigma der Darwin’schen soziokulturellen Evolution: „However accomplished, the dissolution of societies into populations or, as in more nuanced approaches, the reduction of differential social power to the status of a subordinate variable, precludes the possibility that social systems might have properties unique to them as organized systems, that is, that social relations might be characterized by structures of unequal power that affect individual social behavior and the fitness of cultural traits. This dissolution means, in turn, that social hierarchy and inequality are explained as just the consequence of the differential cultural fitness of individuals or of the cultural traits they bear, rather than, say, as a consequence of antagonistic and expoitative social relations.” (1999, 70) Für ihre diesbezügliche Kontroverse mit Dunciman, siehe: Runciman 2005a, Fraccia/Lewontin 2005, Runciman

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Die Sozialtheorie Gabriel Tardes ist unter anderem deshalb interessant, weil in ihr Elemente aller skizzierten Diskurszusammenhänge zu finden sind, ohne dass sie auf einen dieser Zusammenhänge festzulegen wäre. So lassen sich, wie vertraut auch immer Tarde mit der antiken Mimesislehre gewesen sein mag, die Gesetze der Nachahmung als ein Versuch lesen, jene ungeregelte Vermischung von allem mit allem, die Platon als Wirkungstendenz der Mimesis unterstellt, auf die ihr doch eigenen „Gesetze“ hin zu durchleuchten. Weiter ist Tarde vertraut mit dem Diskurs der „moralischen Ansteckung“ qua Imitation, den er als Kriminologie aufgreift, als Soziologe aber so verallgemeinert, dass das Verknüpftsein durch Nachahmung für ihn zum Definiens von Sozietäten überhaupt wird. Ohne dass sie diese Verallgemeinerung notwendig mitträgt, kann dann die Diffusion of Innovations-Forschung in ihrer theoretischen Aufbereitung durch Rogers insbesondere an Tardes Beispiele der Diffusion technischer Innovationen anknüpfen. Und schließlich findet sich bei Tarde die Parallele zwischen biologischer und sozialer Wiederholung, die die nämliche Parallele im Sociocultural EvolutionParadigma vorwegnimmt, ohne dass aber Trade im Darwin’schen Formalismus von Heredität, Variabilität und Selektivität sein zentrales analytisches Werkzeug finden und sich in seiner Theoriebildung durch einen allzu engen Abgleich mit der biologischen Vererbung einengen lassen würde. 3.3.2 Tardes Theorie der Nachahmung Die Figur der Nachahmung bildet den Kern von Tardes Sozialtheorie. So definiert er die „soziale Gruppe“, wie eingangs zitiert, als Gruppe von Akteuren, die sich aktuell nachahmen oder deren Ähnlichkeiten aus früheren Nachahmungen herrühren. (GN 92) Tarde bemerkt, dass mit dieser Definition eher das Faktum der Soziabilität als wirklich eine Gesellschaft erfasst ist (s.u.). Vollkommene Soziabilität bestünde in der ständigen und jeweils ohne Zeitverzug eintretenden Nachahmung aller durch alle: „Sie bestünde [etwa] in einem derart dichten städtischen Leben, dass sich eine irgendwo innerhalb eines Gehirns entstandene gute Idee auf alle Gehirne der Stadt unverzüglich übertragen würde.“ (GN 94, Kurs. eingef.) Effekt der Hypersoziabilität wäre die vollkommene Ähnlichkeit aller an ihr teilhabenden Personen hinsichtlich der Handlungsdispositionen, die sie von anderen Personen her erworben haben. Tarde gibt selbst keine einschlägige Definition dessen, was unter Nachahmung zu verstehen sei. Wollte man eine Definition ergänzen, würde man sagen:

2005b. Eine frühe Kritik des Paradigmas liefert (als Reaktion auf Stebbins 1965) Nisbet 1965.

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„Nachahmung“ bezeichnet einen Prozess, in dem eine Person eine Handlungsdisposition erwirbt, wenn in diesen Prozess mittelbar oder unmittelbar eine Person kausal einbezogen ist, die über die nämliche Handlungsdisposition schon verfügt. „Nachahmungsgegenstand“ im engeren Sinne ist dann die Handlungsdisposition, im weiteren Sinne aber die der Disposition entsprechende Handlung der anderen Person: Denn nachgeahmt werden Handlungen und nicht unmittelbar die ihnen zugrunde liegenden Dispositionen. In der Terminologie von #8 und #9 könnte man sagen: Nachahmung ist eine replikative Performanz, die eine interaktive Performanz zum Gegenstand hat. Denn die replizierte Handlungsdisposition ist darauf gerichtet, den sie erwerbenden Akteur zu bestimmten Typen von Interaktion mit anderen menschlichen oder nichtmenschlichen Akteuren zu disponieren. Die Definition schließt an Aristoteles’ Figur des erworbenen Vermögens an. (Kap. 2.2.3) Sie umfasst vielleicht mehr, als man intuitiv mit dem Begriff der Nachahmung (gerade in den Konnotationen des bloßen „Nachmachens“, „Nachäffens“) in Verbindung bringt. Tatsächlich umgreift der Nachahmungsbegriff bei Tarde eine Vielzahl verwandter Einzelphänomene. Trotzdem hat er einen funktionalen Kern, indem er auf Prozesse der Replikation von Formen zielt. So lassen sich mit Tarde alle so erworbenen Handlungsdispositionen als Formen in der Materie von Überzeugungen und Begehren analysieren: „Die Erfindung und die Nachahmung sind die elementaren sozialen Akte, wie wir bereits wissen. Was aber ist der soziale Stoff oder die Kraft, aus denen ein solcher Akt gemacht ist, von denen der Akt nur die Form ist? Anders gesagt, was ist es, dass erfunden oder nachgeahmt wird? Das, was erfunden, das, was da nachgeahmt wird, ist immer eine Idee oder ein Wollen, ein Urteil oder eine Absicht, in denen sich eine bestimmte Dosis von Überzeugung und Begehren ausdrückt, welche tatsächlich die ganze Seele der Wörter einer Sprache ausmacht, die ganze Seele der Gebete einer Religion, der Behörden eines Staates, der Artikel eines Gesetzbuchs, der Pflichten einer Moral, der Arbeiten einer Industrie und der Techniken einer Kunst. Überzeugung und Begehren sind also der Stoff und die Kraft [nach denen hier gefragt wurde]; sie sind auch die beiden psychologischen Quantitäten, welche die Analyse auf dem Grund aller Empfindungsqualitäten wiederfindet, mit denen sie sich verbinden. Wenn die Erfindung und dann die Nachahmung sich ihrer bemächtigen, um sie zu organisieren und zu nutzen, sind diese ebenfalls echte soziale Quantitäten […] Diese Überzeugungen und diese Bedürfnisse, die von Erfindung und Nachahmung spezifiziert und in diesem Sinne erst geschaffen werden, die es aber virtuell

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vor deren Einwirkung bereits gab, haben ihre tiefere Quelle unterhalb der sozialen Welt, nämlich in der Welt des Lebendigen.“ (GN 168, Übersetzung verändert)88

Das ist so zu verstehen, dass Überzeugungen und Begehren zunächst virtuelle und vorsoziale Quantitäten sind,89 dass sie aber aktualisiert und sozialisiert werden können, indem Erfindungen und Nachahmungen sich ihrer bemächtigen, ihnen eine Form geben. Eine sprachliche Neuerung, ein bisher ungehörtes Gebet, die Idee einer administrativen Neuerung, ein neues Gesetz usw. sind zu verstehen als neuartige formale Ausgestaltung der Überzeugungs- und Begehrensmaterie ihrer Erfinder, als neuartige, zu ihrem bestehenden Repertoire hinzutretende Handlungsdispositionen. Wenn das entsprechende Handeln dann gezeigt und die entsprechenden Ideen und Überzeugungen geäußert werden, können sie wiederum von anderen nachgeahmt werden, d.h. andere können sich die Handlungsdisposition selbst aneignen: Die als Form in der Materie von Überzeugung und Begehren ansprechbare Disposition wird repliziert.90

88 Die Übersetzung von Jadja Wolf war an dieser Stelle zu unpräzise. Der Originaltext lautet: „L'invention et l'imitation sont l'acte social élémentaire, nous le savons. Mais quelle est la substance ou la force sociale dont cet acte est fait, dont il n'est que la forme? En d'autres termes, qu'est-ce qui est inventé ou imité? Ce qui est inventé, ce qui est imité, c'est toujours une idée ou un vouloir, un jugement ou un dessein, où s'exprime une certaine dose de croyance et de désir, qui est en effet toute l'àme des mots d'une langue, des prières d'une religion, des aministrations d'un Etat, des articles d'un code, des devoirs d'une morale, des travaux d'une industrie, des procédés d'un art. La croyance et le désir: voilà donc la substance et la force, voilà aussi les deux quantités psychologiques que l'analyse retrouve au fond de toutes les qualités sensationnelles avec lesquelles elles se combinent; et lorsque l'invention, puis l'imitation s'en emparent pour les organiseret les employer, ce sont là, pareillement, les vraies quantités sociales. […] Ces croyances et ces besoins, que l'invention et l'imitation spécifient et qu'en ce sens elles créent, mais qui virtuellement préexistent à leur action, ont leur source profonde au-dessous du monde social, dans le monde vivant.” (GNog 163f.) 89 Diesem Verständnis nach ist Tarde nicht ganz konsistent, wenn er bereits im zweiten Satz des vorstehenden Zitats von dem „sozialen Stoff“ spricht; vielmehr sind Überzeugung und Begehren, als welche dieser Stoff identifiziert wird, selbst nicht immer schon sozial – wie in der zweiten Hälfte des Zitates deutlich wird. 90 Tarde entwickelt die Begriffe von Überzeugung und Begehren bereits in seiner ersten wissenschaftlichen Publikation (Tarde 1880, engl. Übers. in Tarde 1969, 195-206, vgl. Tarde 1898c, engl. Übers. in Tarde 1969, 73-105), wobei der Rekurs auf ihre Repli-

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Diese Replikation wird hier als Nachahmung „kultureller Formen“ angesprochen,91 wobei darauf hinzuweisen ist, dass, auch wenn Tarde die FormTerminologie nahelegt, sie für ihn selbst keine systematische Bedeutung hat.92

zierbarkeit qua Nachahmung noch sehr knapp ausfällt (Tarde 1969, 199, 204). Dass Überzeugung und Begehren die Materie der nachgeahmten Formen bilden und dabei untrennbar zusammengehören, ist aber sehr plausibel. Ob, wie Tarde annimmt, dabei „das endgültige Objekt des Begehrens […] die Überzeugung“ ist (GN 171; vgl. Tarde 1969, 197), bleibe hier dahingestellt. Klar ist aber, dass die nachgeahmte Form das Begehren als seine Materie benötigt, um von ihrem Träger in Verhalten umgesetzt zu werden. Eine Form bar jeden Begehrens bliebe mangels Antrieb latent und könnte nicht weiter nachgeahmt werden, da Nachahmung in letzter Instanz die Nachahmung eines dargebotenen Verhaltens (inklusive der bloßen sprachlichen Artikulation) ist. 91 Der Begriff der „kulturelle Formen“ wird also zur Bezeichnung solcher Handlungsdispositionen verwendet, die nicht auf genetischem Wege – also über biologische Reproduktionen – von Personen auf Personen übertragen werden. Das deckt sich ungefähr mit der oben zitierten Bestimmung Cavalli-Sforzas und Feldmans: “The feature common to all the above “cultural entities” is that they are capable of being transmitted culturally from one individual to another” (1981, 10; vgl. auch die entsprechenden Überlegungen bei Reisman 2005, 37ff.) – wobei deren evolutionsbiologisch inspirierter Theorierahmen ausdrücklich nicht en bloc mitgetragen wird. 92 Der Formbegriff findet im Zusammenhang der übertragbaren, von einem Bewusstsein zum anderen kommunizierbaren Elemente der Nachahmung („…des èlèments, transmissibles et communicables d’une conscience á d’autres…“ SGog 96) bei Tarde gelegentlich Erwähnung, rückt aber nicht ins Zentrum seiner Analyse. So liest man weiter in den Sozialen Gesetzen: „Alles, was zwei Menschen einander mitteilen können, mit dem Bewusstsein, es sich mitzuteilen, um sich dadurch einiger und gleicher zu fühlen, das sind ihre Begriffe, ihre Wollungen, ihre Urteile und ihre Absichten, alles Formen, die ungeachtet des Verschiedenheit ihres Inhalts die gleichen bleiben können, alles Produkte der geistigen Verarbeitung irgendwelcher sinnlicher Empfindungen. Es ist dabei fast gleichgültig, welcherart die letzteren sind…“ (SG16, Kurs. eingef.; „…formes qui peuvent rester les memes malgré la différence de leur contenu, produits de l’élaboration spirituelle qui s’exercise sur n’importe quels signes sensitivs qresque indifféremment.“ SGog 30) Später heißt es: „Endlich, von meinem Standpunkt aus gesehen, ist es eine Konkurrenz von Wünschen und Wertungen, die man in dem sehen muss, was die Ökonomen Konkurrenz der Konsumenten oder Konkurrenz der Mitproduzenten nennen; und wenn man diesen Kampf verallgemeinert, ihn wie auf die industriellen, so auch auf alle linguistischen, religiösen, politischen, künstlerischen, moralischen Formen ausdehnt [„…, l’entendent à tous les formes linguistiques…“

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Wenn nachfolgend auf dieser Terminologie insistiert wird, dann deshalb, weil sie es erlaubt, Aristoteles’ Formbegriff mit der Tarde’schen Nachahmungstheorie in Beziehung zu setzen. Allerdings ist die Replikation von Formen ein Motiv, dass Aristoteles bloß für die Bereiche der biologischen Reproduktion und der kunstmäßigen Herstellung von Artefakten ausarbeitet. Die von Person zu Person verlaufende soziale Replikation von Formen kommt bei ihm nur in einem uneigentlichen Sinne vor, da nämlich, wo Personen poietische Vermögen von anderen Personen lernend erwerben (so dass „ein Gebildeter durch einen Gebildeten“ (Met. 1049b27) entsteht): Wer von einem anderen etwa die Kunst des Hausbaus erlernt, repliziert dessen Vermögen zu Bauen, das von Aristoteles zugleich als die („immaterielle“) Form des Gebauten gefasst wird. Diese Form ist zwar substanziell in Hinblick auf das Produkt, aber akzidentell in Hinsicht auf den Hersteller. Dass Aristoteles Prozesse des Lernens und der Nachahmung insgesamt nicht als Prozesse der Form-Replikation anspricht, liegt genau an dieser Akzidentalität, denn Formen sind für ihn durchweg substanzielle Formen. Greift man also hinsichtlich des Tarde’schen Nachahmungsbegriffs auf die Terminologie der Form-Replikation zurück, dann entlässt man die Form aus ihrer Kopplung mit der Substanz und richtet seinen Blick auf die Replikation und Zirkulation akzidenteller Formen. Trotzdem bleiben die wichtigsten Charakteristika der aristotelischen Formen erhalten: Dass Formen nicht exklusiv mit konkreten einzelnen Materien (Materieportionen) verbunden, sondern von ihnen unabhängig sind, ohne allerdings jemals jenseits ihrer materiellen Verkörperungen vorzukommen; dass Formen aus ihrer Verkörperung heraus repliziert werden können, ohne dass dabei die replizierte Form wie auch die aus der Replikation resultierende Form ihre Konkretion verlieren würden; dass also den Formen selbst keine Universalität zukommt, während man sehr wohl beobachten kann, wie sie in den Prozess ihrer eigenen Universalisierung einbezogen sind; dass dabei die replizierte zur resultierenden Form in einem Verhältnis des Beispiel-Seins steht und vice versa; und dass diesem wechselseitigen Verhältnis die reale genealogische Beziehung zu Grunde liegt, die replizierte und resultierende Form verbinden. All das gilt, ohne von Tarde benannt zu werden, auch für die akzidentellen kulturellen For-

SGog 68], so wird man auch sehen, dass der wahre soziale Grundgegensatz in Innern selbst eines jeden Individuums zu suchen ist…“ (SG 41, Kurs. eingef.). In den Gesetzten der Nachahmung werden alle drei Figuren von Tardes Theorie der universellen Wiederholung, nämlich die biologischen Arten, die (nachgeahmten) Ideen und die Schwingungen als Formen angesprochen (GN41; da die dortige Übersetzung irreführend ist, siehe besser GNog 19).

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men, als die die mittels Nachahmung erworbenen Handlungsdispositionen hier gefasst werden.93 Wie angedeutet fällt unter den so bestimmten Nachahmungsbegriff eine Vielzahl von Phänomenen, deren Zusammenhang durch das Kriterium der FormReplikation gewährleistet ist. Da Tarde selbst die verschiedenen Typen und Modalitäten von Nachahmung nicht systematisch zusammengestellt hat, muss eine Übersicht rekonstruiert werden. Vielleicht lassen sich entlang der Frage, was für Prozesse von Tarde als Nachahmungsprozesse entweder selbst angesprochen werden oder aus seinen Ausführungen heraus als solche identifiziert und ergänzt werden können, folgende (sich teils überschneidende) Kategorien bilden: (1) Nachahmung im Rahmen von Erziehungs- oder Sozialisationsprozessen. Tarde begreift Kinder als den „Rohstoff der Gesellschaft“, als Materie, in die Nachahmungsgemeinschaften ihre kulturellen Formen einzeichnen (GN 94). Dabei sieht er das neugeborene Kind als eine soziale tabula rasa (GN 270), die sich durch eien maximale Tendenz zur Nachahmung auszeichne: „When he is born, the infant, it is true, is almost an automaton and resists imitative suggestion no more than the savage.“ (Tarde 1969, 98f.)94 Indem das Kind sich kulturelle Formen mittels Nachahmung aneignet, wird es schrittweise autonomer und auch wählerischer in der Aneignung weiterer kultureller Formen, da alle hinzutretenden Formen mit den schon angeeigneten zusammenstimmen müssen (ebd.). Tarde versteht die Familie als "Wiege" der Imitation: „The family is thus the cradle of imitation because the first and always the principle motivation of imita-

93 Immerhin liest man bei Tarde: „Übrigens entsteht diese eigentümliche [Nachahmungs-]Beziehung [zwischen zwei Subjekten] nicht durch einen erhaltenen oder gegebenen Impuls […] sondern durch die Übermittlung von etwas Innerem, Geistigen, das von einem der beiden Subjekte zum anderen übergeht, ohne seltsamerweise irgendwie für das erstere verloren zu gehen oder vermindert zu werden.“ (SG 16) Damit ist klar, dass die Nachahmung kultureller Formen eine immaterielle Übertragung immaterieller Elemente bezeichnet, die eben nicht exklusiv an bestimmte Materien gekoppelt sind, sich vielmehr in diversen Materien verkörpern können ohne ihre Identität oder Bestimmtheit zu verlieren und dabei wie die aristotelischen Formen selbst keiner materiebedingten Knappheit unterliegen. 94 Der zeitgenössisch-rassistische Vergleich von „Wilden“ mit Kindern widerspricht gerade auch in der vorliegenden Variante – „Wilde“ im Besonderen seien in ihrem Verhalten so imitativ wie Kinder – Tardes eigenem Diktum aus den Gesetzen der Nachahmung, demzufolge Nachahmung durchaus nicht um so freiwilliger, bewusster und überlegter werde, je „kultivierter“ ein Volk sei (GN 216).

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tion is the confident and credulous attraction which would not exist were it not for filial piety, maternal devotion, and domestic tenderness.“ (ebd., 130) Das Bild der „Wiege der Imitation“ ist aber auch historisch zu verstehen, insofern laut Tarde Imitation in frühen Gesellschaften noch wesentlich in Engführung mit der biologischen Reproduktion abgelaufen sei, also wesentlich innerhalb von Familienverbünden (s.u.). (2) Nachahmung im Rahmen von Lernprozessen (Schule, Ausbildung, Universität etc.). Tarde fasst Belehrung und Ausbildung („imitation-instruction“ und „imitation-èducation“, GNog 15) ganz selbstverständlich als Typen von Nachahmung und sieht sich daher nicht zu näheren Ausführungen genötigt. Klar ist aber: Die Schule ist neben der Familie ein herausgehobener Ort institutionalisierter Nachahmung (Tarde 1969, 99), der Lehrer ein Multiplikator von kulturellen Formen bzw. „Nachahmungsstrahlen.“ (SG 51) „Alles […] was in der Elementarschule gelehrt wird, […] war am Anfang nichts weiter als das Geheimnis eines einzelnen Gehirns, aus dem heraus dieses kleine, flackernde, schüchterne Licht [einer Neuerung] geleuchtet hat […], bis dass es, stärker geworden, je weiter es drang, eine blendende Leuchte“ und also Allgemeingut geworden ist. (SG 94; vgl. GN 33) Eine kulturelle Form, die im Grundschulunterricht gelehrt wird, ist maximal verallgemeinert, aber auch maximal standardisiert und kanonisiert. (SG 88f.)95 Während Familie und Schule mit der Performanz intergenerationaler Nachahmung befasst sind, gibt es auch Mechanismen der intragenerationalen, je zeitgenössischen Nachahmung neuartiger Nachahmungsgegenstände. Dazu gehören die Nachahmung auf dem Weg des Handels, die Nachahmung im Gefolge von Kriegen, die durch Medien vermittelte Nachahmung und die Nachahmung mittels Befehl und Gesetzgebung. Diese Felder sind für sich so vielschichtig, dass sie je eigene Abhandlungen rechtfertigen würden; stattdessen werden hier nur Andeutungen geliefert. (3) Der nationale und internationale Handel ist für Tarde ein wichtiger Modus der Ausbreitung von Neuerungen mittels Nachahmung. „Im Handel […] hatte die Nachahmung, sobald er nicht mehr behindert wurde, nicht nur in unserem Jahrhundert eine hohe Geschwindigkeit, sondern schon immer.“ (GN 393) Tarde

95 Das im Gegensatz etwa zum (universitären) Gelehrtendiskurs, der viel widersprüchlicher und viel weniger kanonisiert sei und dessen Gegenstände noch darauf warteten, im Elementarschulunterricht wahrhaft verallgemeinert zu werden.

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denkt dabei an den Handel mit gegenständlichen Produkten, Artefakten.96 Grundsätzlich ist zu beachten, dass Handel nicht automatisch Nachahmungen hervorbringt; sondern er ist bloß ein Modus, gemäß dem mögliche Nachahmungsgegenstände distribuiert und bereitgestellt werden. Unter Nachahmungsgegenständen sind dabei gemäß obiger Definition nicht etwa neuartige Artefakte selbst zu verstehen, sondern die Handlungsdispositionen von Akteuren, sie zu gebrauchen und herzustellen.97

96 Ein historisches Beispiel bringt Tarde etwas ausführlicher zur Darstellung: „Stellen wir uns das Mittelmeerbecken im 8. Jahrhundert v. Chr. vor, zur Zeit des großen Tyrischen und Sidonischen Wohlstands, als die Phönizier, diese europäischen Hausierer von ägyptischer und syrischer Kunst, bei den Griechen und vielen anderen Völkern die Vorliebe für Luxus und Schönheit erweckten. Diese Händler breiteten an den Küsten nicht etwa gewöhnliche und billige Stoffe aus wie die Engländer heutzutage, sondern eher wie die Venezianer des Mittelalters verfeinerte Produkte, die sich an die Reichen aller Länder richteten: Kleider aus Purpur, Parfums, goldene Kelche, Figürchen, kostbare Rüstungen, Votivbilder, Schmuckstücke von reizender Anmut und Leichtigkeit. So trugen damals überall, in Sardinien, Etrurien, Griechenland, im Archipel, in Kleinasien und sogar in Gallien, also von einem Ende dieses breiten Gebiets zum anderen die obersten Klassen, diese kleine Elite, ganz ähnliche Helme, Schwerter, Armbänder, Tuniken usw.“ Tarde bringt auch zeitgenössische Beispiele, so etwa die Verbreitung des Kaffee- und Tabakkonsums und der Eisenbahn (GN 44), die Steigerung der Ölproduktion im 18. und 19. Jahrhundert und der Produktion des Zuckerrübenzuckers in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts (GN 127). 97 Wie Platon gebrauchende und herstellende Künste unterschied (Rep. 601c-d), so muss – auch über Tarde hinaus – grundsätzlich von zwei Typen von auf Artefakte gerichteten Handlungsdispositionen ausgegangen werden: Solchen ihres Gebrauchs und solchen ihrer Herstellung. Dass ein Artefakt über den Handel eingeführt und die kulturelle Form als Handlungsdisposition seines Gebrauchs dann auch nachgeahmt wird, heißt offensichtlich noch nicht, dass man sich damit auch schon das Vermögen seiner Produktion angeeignet hätte. In kaum arbeitsteilig organisierten Gesellschaften mögen die Dispositionen von Herstellung und Gebrauch häufig noch personal zusammenfallen; je arbeitsteiliger aber die Gesamtproduktion und je zusammengesetzter die Produkte, desto mehr erscheinen diese Dispositionen als getrennte. Die Nachahmung von Dispositionen der Produktion wird dann über ganz andere Mechanismen verlaufen als diejenige von Dispositionen des Gebrauchs; wo letztere sich etwa über Nachahmung innerhalb sozialer Netzwerke, mittels Marketing, Werbung, Lobbyismus etc. verbreiten, werden erstere eher über Systeme institutionalisierter Lehre sowie in der akademisch unterfütterten Produktentwicklung in Unternehmen (generiert und) verbreitet.

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(4) Auch der Krieg ist ein Distributionsmodus möglicher Nachahmungsgegenstände. Im Kontext des Kriegs hat man es mit diversen Nachahmungsmechanismen zu tun, die Tarde in ihrer Breite nicht en detail analysiert. Vielmehr schreibt er: „Was die Grenzen zwischen den Familien, Stämmen oder Völkern angeht, dringen Kenntnisse, Institutionen, Überzeugungen oder Industrien einer Gruppe, wenn diese siegreich und mächtig ist, auch mühelos zu den besiegten und erniedrigten Nachbargruppen. Die Vorbilder der Besiegten und Schwachen jedoch sind für die Sieger und Starken so, als gäbe es sie überhaupt nicht; es sei denn, die Überlegenheit ihrer Kultur ist offensichtlich. Daraus folgt, in Klammern gesagt, dass der Krieg für den Besiegten viel mehr an zivilisatorischer Wirkung entfaltet als für den Sieger. Denn dieser geruht nicht, bei jenem in die Schule zu gehen. Der unter dem Einfluß des Siegers Stehende hingegen entlehnt zahlreiche fruchtbare Ideen von seinem Feind und fügt sie seinen nationalen Grundlagen hinzu.“ (GN 391)

Auch wenn man die Vorstellung einer positiv konnotierten „zivilisierenden“ Wirkung des Krieges ablehnen wird, ist es nicht falsch, Krieg als gewaltförmigen Distributionsmodus von Nachahmungsgegenständen zu verstehen. Dabei kann die Nachahmung diverse Formen annehmen; Tarde nennt die aus rationellem Kalkül erfolgende Aneignungen überlegener Technologien des Siegers und die opportunistische Übernahme bestimmter Moden und Gebräuche des Siegers als Orientierung am „Überlegenen“. (GN 238-267) Auch wäre an die erzwungene Schaffung neuartiger politischer Institutionen, die Heranbildung neuartiger Eliten, an politische Umschulungen, repressive Kultur- und Sprachpolitiken, die Öffnung der Märkte des Besiegten für die Produkte der Sieger etc. zu denken. Es könnte als seltsam erscheinen, solche Prozesse als Typen von Nachahmung anzusprechen; tatsächlich aber kann das funktionale Kriterium der Nachahmung, die Replikation kultureller Formen, in ihnen problemlos erfüllt sein: das Kriterium schließt ja nicht aus, dass die Replikation erzwungen ist. (GN 26 und s.u.) (5) Nachahmungsprozesse verlaufen nicht in jedem Fall unmittelbar von Person zu Person, setzen nicht in jedem Fall die face-to-face-Präsenz von Nachahmendem und Nachgeahmtem voraus. Vielmehr können auch Prozesse des Mediengebrauchs als Nachahmungsprozesse gefasst werden. Kommunikations- bzw. Informationsmedien sind, in der Terminologie Tardes, Neuerungen (Erfindungen), die Nachahmungsprozesse katalysieren und dabei selbst wiederum nachgeahmt werden können. Das gilt insbesondere für die Sprache, die als gesprochene allerdings noch auf face-to-face-Präsenz angewiesen ist. Die Sprache ist für Tarde

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der „große Träger aller Nachahmungen“ (GN 39). Umgekehrt ist sie in ihrer je gegenwärtigen Gestalt selbst Produkt generational ausgreifender Nachahmungsketten und dabei in ihren historischen Transformationen und Amalgamierungen Produkt von Myriaden von „anonymen Erfindungen“, kleinsten Veränderungen, die sich mittels Nachahmung in der Sprache halten und akkumulieren (ebd.). Offensichtlich sind nicht alle Nachahmungen durch Sprache vermittelt (so die Nachahmung von Moden, Gestiken, Posen, Körperhaltungen etc.), wohl aber alle Nachahmungen, die einen Informationsübertrag einschließen, der nicht allein durch körperliche Zeichen realisiert werden kann. Sprache, als Schrift der Notwendigkeit der face-to-face-Präsenz enthoben, fundiert auch die Informationsmedien, die für Tarde eine wichtige Rolle in der Formierung zeitgenössischer Nachahmungsgemeinschaften spielen: „Ist es nicht klar, dass in jeder Epoche zwischen den Völkern, die regelmäßiger Verbindung stehen […] überall die gleichen sozialen und politischen Auseinandersetzungen auf der Tagesordnung stehen? Und rührt diese Ähnlichkeit nicht aus einem Nachahmungsfluss, der sich seinerseits wiederum aus einer vorgängigen Verbreitung von Bedürfnissen und Ideen durch ansteckende Nachahmung erklären lässt? Ist das nicht genau der Grund, warum in ganz Europa die Arbeiterfrage gerade diskutiert wird? – Und täglich […] wird die Öffentlichkeit durch irgendeine von der Presse in Umlauf gebrachte Ansicht in zwei Lager gespalten: Die einen „sind dieser Meinung“, die anderen „sind dagegen“. Weder diese noch jene lassen jedoch zu, dass man sich im Moment mit etwas anderem als mit der ihnen so gestellten und auferlegten Frage beschäftigen könnte.“ (GN 14)

Demnach betreibt die Tagespresse Agenda-Setting, formiert den Raum möglicher Meinungen, die von der Leserschaft nachgeahmt werden. Konkret: der Leser ahmt den Journalisten nach, indem er „wiederholt, was er in dessen Zeitung gelesen hat“ (GN 217). Dass veröffentlichte Meinung von Leserschaften nachgeahmt wird, mag plausibel sein; Tardes funktional definierter Nachahmungsbegriff erstreckt sich aber auch auf einen Fall, in dem die Rede von „Nachahmung“ zunächst weniger einleuchtend ist, nämlich auf die Replikation einer bloßen Information. Erfährt eine Medienöffentlichkeit durch die Presse etwa von einem politischen Tagesereignis, so ist die Verbreitung dieser Information mit Tarde schon als ein Nachahmungsprozess anzusprechen. Warum? Weil die Verbreitung einer Information die Verbreitung einer Handlungsdisposition ist. Das kann bedeuten, dass die Information den Informierten zu einem bestimmten Handeln anreizt (politische Reaktion, Protest etc.). Häufiger aber wird es sich bei der in der Information gelegenen Handlungsdisposition einfach um die Disposition handeln, die Informa-

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tion selbst weiter zu verbreiten: die nachgeahmte Information konstituiert dann in erster Linie die Disposition ihrer eigenen Wiederholung. Über Tarde hinausgehend kann man sagen, dass das Moment der Schriftlichkeit die Beziehung von Nachahmung und Aktualität grundsätzlich lockert. Nicht nur können mittels Schrift räumlich abwesende und persönlich unbekannte Zeitgenossen nachgeahmt werden, sondern Schrift ermöglicht auch die Nachahmung von Toten durch Lektüre ihrer schriftlichen Zeugnisse. Damit ist eine grundlegende Diskontinuität in das Nachahmungsgeschehen eingeführt, indem Nachahmung nicht mehr durch die Kohärenz des generationalen Geschehens, also durch die Bedingung, eine gemeinsame Gegenwart zu teilen, eingehegt wird, sondern sich willkürlich mit Vergangenem kurzschließen kann, sofern es Spuren im Medium der Schrift hinterlassen hat. (Kap. 4.1) (6) Der letzte Aspekt, die Nachahmung mittels Befehl und Gesetzgebung, ist der einzige, in Hinsicht auf den bezweifelt werden kann, ob die so bezeichneten Prozesse tatsächlich Nachahmungsprozesse sind und die Replikation kultureller Formen einschließen. Tarde schreibt: „Ein energetischer und autoritärer Mensch besitzt über schwächere Naturen eine unwiderstehliche Kraft. Er bietet ihnen, was ihnen fehlt, nämlich eine Richtung. Ihm zu gehorchen ist keine Pflicht, sondern ein Bedürfnis. Damit beginnt jedes soziale Band. Der Gehorsam ist der Bruder des Glaubens. Die Völker gehorchen aus dem gleichen Grund, aus dem sie glauben. Wie ihr Glaube nur die Nachahmungsstrahlen des Glaubens eines Apostels sind, so sind ihre Handlungen nur die Ausbreitung des Willens eines Herren. […] Die Personen oder Klassen, die man am meisten nachahmen möchte, sind nämlich die, denen man am willigsten gehorcht.“ (GN 222)

Tarde stützt diese Analyse durch den Verweis auf eine Stelle seiner Logique sociale (Tarde 1895, VII), an der er die Figur des Befehls oder der Anweisung aus der Figur des Vorbilds rekonstruiert. Der Prozess, in dem ein Anführer seinen Untergebenen befiehlt, habe sich aus dem Prozess entwickelt, in dem die Untergebenen den Anführer in seinem Tun nachahmen: der Befehl sei letztlich die zur Chiffre geronnene Aufforderung des Anführers, ihn nachzuahmen. Tatsächlich ließe sich, wenn dem so wäre, der Akt des Gehorsams als Akt der Nachahmung auffassen. Für Sklaverei und Knechtschaft im starken Sinne, aber auch für formalisierte hierarchische Systeme, die durch das Zusammenspiel verschiedener Hierarchiepositionen und weit ausgreifende Befehlsketten gekennzeichnet sind, ist Tardes Analyse aber nicht triftig. In diesen Fällen ahmt der Gehorchende den Befehlenden nicht nach: der Gehorchende repliziert mit seinem

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Gehorsam nicht den Willen des Befehlenden bzw. es ist nicht die Handlungsdisposition des Befehlenden, die auf ihn übergeht. Vielmehr funktioniert der Befehl als Prozessor innerhalb einer Koordination oder Interaktion (#9) von Akteuren, nicht als Verdopplung ihrer respektiven Dispositionen. Das ist unmittelbar einsichtig: der Akt des Gehorsams ist kein Akt der Verähnlichung von Befehlendem und Gehorchendem, sondern im Gegenteil ein Akt der Affirmation und Vertiefung ihrer Verschiedenheit. Wirkliche Nachahmung liegt in diesem Kontext nur dort vor, wo jemand lernt zu befehlen oder zu gehorchen, wo also jemand die kulturelle Form hierarchischer Koordinationsverhältnisse zwischen Akteuren lernend repliziert. Das ist auch die Nachahmung, die bereits vorausgesetzt werden muss, damit eine hierarchische Koordination von Akteuren überhaupt ablaufen kann, innerhalb derer Befehle gegeben, verstanden und ausgeführt werden. Ähnlich gelagert ist der Fall des Gesetzes. Im Kontext des Szenarios der Hypersozialität bemerkte Tarde, neuartige kulturelle Formen würden sich „augenblicklich in allen […] Gehirnen verbreiten“, wäre die Kommunikation zwischen ihnen ganz unbehindert (GN 138). Für legislative Neuerungen sei ein solches Szenario schon fast Realität: „Auf dieses glücklicherweise unerreichbare Ideal bewegen wir uns mit großen Schritten zu […]. Und bei den legislativen Neuerungen, den Gesetzen oder Erlassen, wurde es schon fast erfüllt. Sie wurden zu anderen Zeiten nur mühsam und allmählich in den verschiedenen Provinzen jedes Staates angewendet, während ihnen jetzt noch am Tag ihrer Verkündung von einem Ende des Gebiets zu anderen nachgekommen wird.“ (ebd.)

Damit ist eine Situation beschrieben, in dem ein administrativer Apparat, ein Gefüge staatlicher Behörden inklusive Justiz- und Polizeiapparat, eine legislative Neuerung ohne Zeitverzug implementiert, seinen eigenen Prozess der Neuerung gemäß umstellt und versucht, das Handeln der Bürger-Adressaten durch Sanktionen auf die Übereinstimmung mit der Neuerung hin zu beeinflussen. Das ist gut nachvollziehbar. Der Prozess, in dem ein Akteur eine legislative Neuerung in sein Handeln hinein aktualisiert, sich also der neuen Handlungsrichtlinie entsprechend verhält, ist aber entgegen Tardes Annahme kein Nachahmungsprozess. Denn es ist nicht so, dass, indem sich ein Akteur gesetzestreu verhält, er das Gesetz repliziert; er leistet ihm bloß Folge. Ebenso wenig wie der Gehorchende mittels Gehorsam dem Befehlenden ähnlich wird, wird der Gesetzestreue mittels Gesetzestreue dem Gesetzgeber ähnlich. Vielmehr ist das Gesetz ebenso wie der Befehl schlicht ein Prozessor innerhalb einer Koordination, eines Interaktionsgeschehens (#9) von Akteuren. Im Gegensatz dazu fände Nachahmung statt, wenn etwa eine Menschengruppe (freiwillig oder erzwungenermaßen) ihre

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Gesetzgebung nach dem Vorbild der Gesetzgebung einer anderen modellierte, oder wenn ein Akteur die Disposition der Gesetztestreue von anderen Akteuren übernähme, die über sie schon verfügen. Die Übersicht der verschiedenen Typen von Nachahmungsprozessen bei Tarde lässt sich zusammenfassen, indem man bekräftigt, dass alle genannten Prozesse solche der Replikation von kulturellen Formen, also von Handlungsdispositionen sein müssen, um sich als Nachahmungen im Sinne Tardes zu qualifizieren. Dann gilt: „Alle Ähnlichkeiten sozialen Ursprungs, die der sozialen Welt angehören, sind Früchte jedweder Art von Nachahmung, also der Nachahmung von Gebräuchen oder Moden, durch Sympathie oder Gehorsam, Belehrung oder Erziehung, der naiven oder überlegten Nachahmung usw.“ (GN 38) Und ebenso: „Die Nachahmung kann erzwungen werden oder spontan sein, gewählt oder unbewußt, mehr oder weniger schnell“ (GN 26, Kurs. eingef.), – all das ergibt keinen Unterschied in Hinblick darauf, dass sie im Effekt als Prozess der Replikation von Handlungsdispositionen analysiert werden kann. Angesichts der Fülle und Heterogenität der mit der funktionalen Definition von „Nachahmung“ erfassten Prozesse ist es aber kaum verwunderlich, dass sich schon Tarde selbst dem Vorwurf ausgesetzt sah, er habe die Bedeutung des Terms überdehnt (GN 9-11). Tatsächlich würden Begriffe wie soziale Wiederholung oder soziale Replikation das Gemeinte vielleicht besser erfassen; das ist aber eher eine begriffliche als eine konzeptuelle Frage. Problematischer ist angesichts der Heterogenität der Nachahmungsprozesse Tardes Versuch, diese allesamt unter Rückgriff auf zeitgenössische Theorien des Somnambulismus und der Hypnose psychologisch und physiologisch zu fundieren. Wenn er schreibt: „Der soziale wie der hypnotische Zustand sind nur eine Art Traum, ein gelenkter Traum und ein Traum aus Handlungen. Die Illusion des Somnambulen [= Hypnotisierten] wie des sozialen Menschen ist es, Ideen, die er ausschließlich suggeriert bekommt, für spontan zu halten“ (GN 101); und, das Automatische der Suggestion unterstreichend, fortfährt: „Befiehlt der Hypnotiker dem Somnambulen zu weinen, weint dieser. Nicht nur die Person gehorcht hier, sondern der ganze Organismus. Der Gehorsam der Massen gegenüber bestimmten Tribunen oder in der Armee gegenüber bestimmten Offizieren ist fast genauso erstaunlich, und ihre Leichtgläubigkeit ist es nicht weniger“ (GN 105); – dann mag das für die genannten Beispiele plausibel sein. Die ganze Breite der im Nachahmungsbegriff zusammentreffenden Phänomene wird aber mit der Analogie zu Somnambulismus und Hypnose nicht treffend erfasst. Bevor in Kapitel 3.3.3 Tardes Ideen zur statistischen Erfassung des Nachahmungsgeschehens diskutiert werden, sind noch zwei die Tarde’sche Nachah-

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mungstheorie und überhaupt jede Theorie sozialer Wiederholung grundsätzlich betreffende Fragen zu klären, erstens nämlich die Frage der Abgegrenztheit der Nachahmungsgegenstände und zweitens die Frage des Zusammenhangs von Nachahmungsgeschehen und Gesellschaftsstruktur. (1) Das mit Tarde ausgearbeitete Szenario diverser Typen und Modalitäten von Nachahmung beansprucht implizit die Prämisse der Abgegrenztheit der kulturellen Formen: Es werden immer einzelne Formen übertragen, und zwar von einem Einzelakteur zum anderen.98 Diese Abgegrenztheit mag für die aristotelischsubstanziellen Formen intuitiv sein. Für die akzidentellen kulturellen Formen dagegen ist der Sachverhalt weniger klar. Hinzu kommt, dass der Prozess ihrer Replikation häufig viel weniger fokussiert und zeitlich eingegrenzt ist als etwa die Replikation einer biologischen Form mittels Zeugung und Geburt. Schon der Erwerb eines aristotelischen „Vermögens“ involviert einen Übungs- und Wiederholungsprozess, der kaum als instantane Replikation gefasst werden kann (Kap. 2.2.3). Tarde äußert sich nicht explizit zur Frage der Abgegrenztheit. Man gewinnt aber den Eindruck, dass das Maß, in dem kulturelle Formen als diskrete Einheiten angesprochen werden können, faktisch sehr variabel ist. Im Ablauf von Sozialisationsprozessen etwa scheinen Ensembles von kulturellen Formen en bloc transmittiert zu werden, die nicht einfach aus einer Menge abgegrenzter Formen zusammengesetzt sind, sondern in denen die Formen verschwimmen, ineinander übergehen. Gerade im Bereich der Replikation milieuspezifischer Weltbilder, Haltungen, Wertungen und Normen wird man es meist mit Ensembles zu tun haben, die, zumal von ihren Trägern, nur schwer in diskrete Teile analysiert werden können, – was nicht verhindert, dass solche Ensembles oft mit großer Präzision repliziert werden. Auch der Erwerb der Muttersprache als eines komplexen Ensembles impliziter Regeln stellt sich nicht dar als Replikation diskreter Formen, sondern als Replikation unmittelbar des komplexen Ganzen.

98 Nachahmung verläuft für Tarde vom Einzelnen zum Einzelnen, nicht von einer Kollektivität insgesamt oder einer sozialen „Umwelt“ (Tarde 1969, 124) zum Einzelnen: „Bevor wir […] sprechen, denken, handeln, wie „man“ spricht, wie „man“ denkt, wie „man“ handelt in unsrer Welt, haben wir angefangen zu sprechen, denken, handeln wie „er“ oder wie „sie“ denkt, spricht, handelt. Und dieser „Er“ und diese „Sie“ ist einer unserer nächsten Angehörigen. In dem „Man“ würde man bei noch so gründlicher Untersuchung niemals etwas anderes finden als eine gewisse Anzahl dieser „Er“ und dieser „Sie“, die sich bei ihrer Vervielfältigung vermengt und verschmolzen haben.“ (SG 23)

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Die Sprache ist aber ein gutes Beispiel dafür, dass die Elemente einer komplexen kulturellen Form je nach Kontext und Bedarf unterschiedlich stark artikuliert und abgegrenzt sein können. So folgt der Fremdsprachenerwerb einem ganz anderen Modus als der Erwerb der „Muttersprache“. Der Unterricht gründet meist auf der vorgängigen analytischen Zerlegung der Sprache in ihre grammatikalischen Regeln, Wortarten und Vokabeln, die, als einzelne kulturelle Formen, gemäß Lehrplan dann wieder zu einem Ganzen, zur Handlungsdisposition „Sprachkompetenz“, zusammengesetzt werden. Aber auch im Rahmen von Sozialisationsprozessen insgesamt können einzelne kulturelle Formen durchaus als einzelne, handlungsmäßig klar artikulierte und abgegrenzte identifiziert werden, solche etwa, die die Ausbildung des Vermögens zur Nutzung von Artefakten und Technologien mittels Übung und disziplinarischer Wiederholung betreffen. Überhaupt dürften die kulturellen Formen der Herstellung und des Gebrauchs von Artefakten durch den diskreten Charakter derselben ebenfalls tendenziell diskret sein: jedes Artefakt kann prinzipiell als einzelnes begehrt und gebraucht werden. Vor diesem Hintergrund lässt sich verallgemeinern: Das Maß, in dem kulturelle Formen als diskrete Einheiten ansprechbar sind, hängt wesentlich von dem Umfang ab, in dem sie zum Gegenstand expliziter Normierungs- und Standardisierungsbemühungen werden. Standardisierung richtet das Augenmerk notwendig auf die einzelne kulturelle Form und bemüht sich, ihren Umfang und ihre Grenzen so genau wie möglich zu artikulieren und festzulegen. Hand in Hand mit der Standardisierung der Form geht in der Regel die ggf. sanktionsbewehrte Überwachung und Korrektur ihrer Replikation. Das ist evident in Extremfällen von Standardisierung, etwa der militärischen Disziplin und Dressur des Körpers. (Foucault 1994, 173ff.) Aber auch schulisches Wissen ist hochgradig standardisiertes Wissen. Als solches ist es zumal stark kompartmentalisiert: nicht nur wird es in einzelne Fächer unterschieden, sondern innerhalb der Fächer wird der „Stoff“ so eingeteilt, dass er sich lehrplanmäßig in die Halbjahre, Unterrichtseinheiten, Schulstunden und Stundenabschnitte einfügt, so dass letztlich noch die einzelne mathematische Formel und die einzelne grammatikalische Regel als diskrete kulturelle Formen artikuliert werden (deren Replikation in standardisierten bzw. standardisierenden Unterrichtsprozeduren herbeigeführt und auf ihren Erfolg hin in standardisierten und standardisierenden Prüfungen getestet wird).99

99 Man könnte die Frage der Abgegrenztheit kultureller Formen auch auf dem Niveau ihrer hirnphysiologischen Einschreibung diskutieren. Tarde bringt in diesem Zusammenhang das Bild der hirnphysiologischen Fotokopie: „Ich habe ihm [dem Nachahmungsbegriff] aber stets einen sehr präzisen wie eigentümlichen Sinn gelassen, näm-

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(2) Macht man wie Tarde die Figur der Nachahmung zur Zentralfigur einer Soziologie, dann stellt sich die Frage nach dem Verhältnis von Nachahmungsprozessen und Sozialstruktur. Emil Durkheim stellt die Frage mit kritischem Impetus und erweist sich in Der Selbstmord (1897) als scharfer Gegner der Begründung von Sozialität und Gesellschaft durch Nachahmung (Kap. 4.3.1). Hauptargument seiner Kritik ist dabei gerade die Behauptung, der Nachahmungsbegriff sei wertlos zur Analyse sozialstruktureller Phänomene. Laut Durkheim „darf man eine soziale Tatsache nicht als ein verallgemeinertes Einzelgeschehen sehen. Besonders unhaltbar ist die Verallgemeinerung, die von irgendeiner zufälligen Ansteckung [Nachahmung] ausgeht: Man wundert sich mit Recht, warum man überhaupt eine Hypothese diskutiert, die, ganz abgesehen von wichtigen Einwänden gegen sie, nicht einmal den Anfang eines experimentellen Beweises für sich hat. Denn noch nie konnte man eine bestimmte soziale Ordnung durch Nachahmung erklären und schon gar nicht durch sie allen.“ (SM 149)

Man kann Durkheims Einschätzung folgen, soziale Ordnung lasse sich nicht allein durch Nachahmungsprozesse erklären; andererseits scheint soziale Ordnung auch nicht erklärbar, wenn man von Nachahmungsprozessen ganz absieht. In dieser Beziehung wertlos wären Nachahmungsprozesse nämlich nur dann, wenn sie tatsächlich so charakterisiert wären, wie Durkheim hier andeutungsweise unterstellt, nämlich als zufällig (weder gerichtet noch organisiert) und unwillkürlich (bloße Ansteckung). Tarde mag diese Charakteristika gelegentlich nahelegen, etwa dort, wo er Nachahmung und Somnambulismus engführt (GN 98ff.) oder wo er die Stadt als Raum hypersozialer, hypnotischer Nachahmungen aller durch alle skizziert (GN 108). Allerdings wurde gezeigt, dass Tardes Nachahmungsbegriff auf diese Charakteristika nicht reduzierbar ist. Vielmehr ist die Nachahmung ein ganz zentraler Mechanismus der Produktion und Reproduktion von Gesellschaftsstruktur, wenn man hierunter die Tatsache versteht, dass in den meisten Gesellschaften heute mehr oder weniger stark abgegrenzte „soziale Milieus“ oder „Klassen“ anzutreffen sind: die Tatsache sozialer Ausdifferenzierung. Dass Milieus und Klassen nicht intergenerational bestehen können, wenn sie, als spezifische Sets von kulturellen Formen, nicht durch Nachahmung im Rahmen von Erziehungs- und Sozialisationsprozessen

lich den der Fernwirkung eins Geistes auf einen anderen, die in der quasi fotografischen Reproduktion eines zerebralen Negativs durch die fotografische Platte eines anderen Gehirns besteht.“ (GN 10) Die Physiologie der Nachahmung kann hier nicht behandelt werden; vgl. Hurley/Chater 2005.

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reproduziert werden, ist offensichtlich. Wie angedeutet, besagt Tardes historische These betreffend die Nachahmung (GN 269-280), diese sei in frühen Gesellschaften in enger Verknüpfung mit der biologischen Reproduktion abgelaufen, sei also, als Nachahmung von Traditionsbeständen, zunächst in ihrem Wirkungsraum auf die genealogisch definierten Personengruppen Familie und Clan beschränkt gewesen. Erst im Laufe der Geschichte (für die Tarde keine Details liefert) habe sich die Nachahmung aus ihrer Verknüpfung mit der biologischen Reproduktion, aus ihrer Einbannung in das Flussbett der Familie befreit und habe Nachahmungsgemeinschaften von Personen hervorgebracht, die nicht unmittelbar über biologische Genealogien zusammenhängen (etwa „Nationen“, aber auch internationale, durch Handel, Migration und Krieg hergestellte Nachahmungsgemeinschaften).100 Die Entgrenzung des Bereichs der Nachahmung mag dann bis an die globale Zirkulation und Vermischung von Nachahmungsgegenständen reichen, wie man sie heute beobachten kann. Trotzdem bleibt die Nachahmung im Rahmen von Erziehungs- und Sozialisationsprozessen ein, wenn nicht der weiterhin bedeutendste Distributionsmodus von Nachahmungsgegenständen, der „unterhalb“ aller anderen Nachahmungstypen und -richtungen weiter operativ ist. Ohne diese Nachahmungen jedenfalls sind Klassenverhältnisse, wie sie etwa Pierre Bourdieu für die 1960-1970er Jahre in Frankreich analysiert hat (Bourdieu 1982), gar nicht zu denken. Umgekehrt stellt sich die Frage nach der sozialen Durchlässigkeit einer Gesellschaft als Frage des Zugangs zu und der Distribution von Nachahmungsgegenständen, als Frage danach, wie die Macht der Nachahmung im Rahmen familialer Erziehungs- und Sozialisationsprozesse zu brechen sei. Obwohl Nachahmung im Rahmen von Erziehungs- und Sozialisationsprozessen rigide Strukturmomente in Populationen einführen und reproduzieren kann, wirkt sie ihrem Mechanismus nach doch letztlich dezentral. Ihre Reichweite bleibt jeweils auf die Nachkommen einer Familie oder eines Clans beschränkt. Anders verhält es sich mit Nachahmungsmechanismen, die über Zentralisierung und hierarchische Organisation weiter ausgreifende Distributionen von Nachahmungsgegenständen realisieren. Das staatliche Bildungswesen, die Tagespresse,

100 „Am Anfang hängt die Nachahmung noch schüchtern an der Zeugung, wie die Tochter an der Mutter. So ist in allen sehr frühen Urgesellschaften das Privileg, Gehorsam und Glauben zu erwirken und ein Vorbild abzugeben, an die Zeugungsfähigkeit gebunden. Man ahmt den Vater nach, weil er der Erzeuger ist […]. Von Anfang an jedoch fühlt sich jede Entdeckung und Erfindung von den Grenzen der Familie, des Stammes und sogar der Nation beengt und sucht sich schneller zu verbreiten, als die Nachkommenschaft wächst.“ (GN 275)

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aber auch mächtige Marktteilnehmer etablieren sich als zentrale Quellen oder Verstärkersysteme von Nachahmungsgegenständen. Tarde nennt als gerade im französischen Kontext sehr plausibles Beispiel auch das Nachahmungsgefälle zwischen Stadt und ländlichem Raum: „Die verschwenderische Vermehrung und das übermäßig Wachstum der großen Städte und vor allem der Hauptstadt, in denen sich die ungerechtfertigen Privilegien [privilèges abusifs, GNog 253] vermehren und verwurzeln, während die letzten Spuren der früheren Privilegien ausgelöscht werden, ist genau die Art von Ungleichheit, nach der die neuen Zeiten streben. Sie ist für diese nämlich unabdingbar, um den breiten Fluß ihrer industriellen Produktion und Konsumption, d.h. der Nachahmung im außerordentlich großen Maßstab, aufrechtzuerhalten und weiter zu entfalten. Der Verlauf eines solchen Weges erfordert einen ebensolchen Himalaya. Der Himalaya von Frankreich ist Paris. Paris thront königlich und richtungsweisend über der Provinz, und das sicher dominanter, als je der Hof über der Stadt thronte. Jeden Tag beschickt es ganz Frankreich mittels der Bahn oder dem Telegraphen mit seinen Ideen, Wünschen, Gesprächen, vorgefertigten Revolutionen, Kleidern und Möbeln.“ (GN 251)

Dass Paris als „Himalaya“ apostrophiert wird, hat Tarde vorbereitet, indem er eingangs schrieb: „Im Sozialen geschieht alles als Erfindung und Nachahmung, wobei die Nachahmungen die Flüsse bilden und die Erfindungen die Berge.“ (GN 27) Um im Bild zu bleiben: Je höher der Berg, desto exponierter die jeweiligen Nachahmungsgegenstände, desto ausgreifender ihre Distribution. Eine „bergige“ Nachahmungstopologie bezeichnet demnach ein eher zentralisiertes, eine „flache“ dagegen ein eher dezentral ablaufendes Nachahmungsgeschehen. In einem stark zentralisierten Nachahmungsgeschehen ist dann auch die Richtung der Nachahmungsstrahlen klar definiert (von den „Bergen“ zu den „Tälern“), in einem dezentralen System dagegen wird man mehr reziproke Nachahmungen beobachten können. Mit Blick auf Kapitel 2.2.4 lässt sich sagen: Je zentralisierter die Distribution von Nachahmungsgegenständen, je zentralisierter also die Nachahmungstopologie ist, desto mehr gewinnt das platonische Modell der von zentralen Quellen her ausfließenden Universalisierungsprozesse an Plausibilität. Sieht man, indem man vereinheitlichend den Begriff der kulturellen Formen einführt, davon ab, dass die Replikation von Formen im Text Platons gerade abgehoben wird vom tendenziell ungeregelten Nachahmungsgeschehen, dann entspricht die zentralisierte Nachahmungstopologie dem, was oben als die „deskriptive Ladung“ des platonischen Modells bezeichnet wurde. Andererseits ist das Modell nicht bloß deskriptiv, sondern auch normativ insofern, als die Politeia im Namen der Gerechtigkeit eine maximal „bergige“, nämlich eingipfelige

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Nachahmungstopologie skizziert, in der die Nachahmungsgegenstände der ganzen Stadt von einer einzigen Quelle, eben der die Wahrheit innehabenden Kaste, herkommen, deren Aufgabe wie zitiert darin besteht, die von ihnen erkannten Formen „in die Sitten der Menschen im privaten wie im öffentlichen Leben hineinzutragen.“ (Rep. 500d) Die Nachahmung im Rahmen von Erziehungs- und Sozialisationsprozessen und die in Verstärkersysteme eingeschaltete Nachahmung bilden zwei Momente dessen, was insgesamt als die Organisiertheit, also Gegliedertheit, Selektivität und Gerichtetheit des Nachahmungsgeschehens angesprochen werden kann. Diese Organisiertheit bildet das Kriterium für die eingangs erwähnte Unterscheidung von Soziabilität und Gesellschaft: Gesellschaft besteht für Tarde aus „der Organisation der Nachahmungstätigkeit“ (GN 94), wobei das französische „l’organisation“ (GNog 77) eben als Organisiertheit gelesen werden sollte, da der Begriff nicht nur aktives Organisieren (wie im Fall des Schulwesens), sondern auch das Organisiert-Sein qua Selbstorganisation umfasst (wie im Fall des Stadt-Land-Verhältnisses oder der Milieubildung). Die Organisation der Nachahmungstätigkeit beinhaltet die Reproduktion der Gesellschaft in ihrer gegebenen Struktur, dort nämlich, wo traditionale Gehalte zur Nachahmung bereitgestellt werden. Andererseits kann „Organisation“ auch die typischen Distributionswege neuartiger Nachahmungsgegenstände bezeichnen, z.B. wo neuartige Produkte oder (via Presse, Buch und visuelle Medien) neuartige Ideen, Haltungen, Werte etc. marktmäßig distribuiert werden. Die Distribution neuartiger Nachahmungsgegenstände involviert offenkundig noch nicht die neuartige Organisation der Nachahmungstätigkeit selbst. Veränderungen in der Nachahmungstopologie treten vielmehr erst dort ein, wo, häufig auf dem Weg der alten, neue Distributions- und Verstärkersysteme in Gebrauch kommen, wo etwa neue Institutionen gegründet, neue Medien verwendet und neue Mobilitäten erschlossen werden. Abschließend bleibt anzumerken, dass Tarde ein Bild des Nachahmungsgeschehens zeichnet, dass es schwierig macht, dasselbe in strenger Analogie zur biologischen Reproduktion zu beschreiben und in der kulturellen Vererbung mittels Nachahmung wesentlich bloß das Zusammenspiel der Mechanismen von Heredität, Variabilität und Selektivität am Werk zu sehen, wie es das SocioculturalEvolution-Paradigma unternimmt. Das wäre vielmehr annährungsweise nur dort möglich, wo Nachahmung und biologische Reproduktion parallel verlaufen, was Tarde aber allein für frühe Gesellschaften annimmt. Wo neben der intergenerationalen Nachahmung auch eine intragenerationale Nachahmung ins Spiel kommt; wo man es mit komplexen, gegliederten Nach-

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ahmungstopologien zu tun hat, die durch das Vorliegen von Verstärkersystemen gekennzeichnet sind; und wo man Kommunikations- und Speichermedien antrifft, die eine fundamentale Ungleichzeitigkeit in das Nachahmungsgeschehen einführen – da leidet der deskriptive und explikativen Wert des Darwin’schen Formalismus (Reisman 2005, 239f.) und es stellt sich die Frage, ob es sinnvoll ist, ihn überhaupt als Theorierahmen zu verwenden. 3.3.3 Statistik und Nachahmung Gabriel Tarde war kein Statistiker. Vielmehr scheint er bloß mit dem Gebrauch von Statistiken vertraut gewesen zu sein durch seine Beschäftigung kriminologischen Fragen während seiner Einstellung als Richter in seinem Geburt- und Heimatort Sarlat (1869-1894) (Tarde 1969, 2ff.). Vereinzelte, offizielle Kriminalstatistiken kommentierende Veröffentlichungen finden sich seit den frühen 1880er Jahren.101 Dass Tarde 1894 zum Leiter des Statistischen Büros im französischen Justizministerium berufen wurde, verdankt sich wohl eher seiner Reputation als Kriminologe denn der als Statistiker; so spart sein kriminologisches Hauptwerk, La philosophie pénale (1890), statistische Fragen vollständig aus. Überhaupt hat sich Tarde an keiner Stelle mit Problemen der mathematischen Statistik befasst. Das statistische Denken Tardes ist hier also nicht unter dem Gesichtspunkt der Innovation statistischer Methoden von Interesse; sondern das Interesse liegt allein bei seiner zugespitzten und neuartigen Definition des Gegenstands von Sozialstatistik, die eng mit seiner Soziologie insgesamt verknüpft ist. So kümmert sich der Sozialstatistiker für Tarde „nicht um die einzelnen, um Hinz und Kunz, sondern um deren Werke oder besser um jene Handlungen, die ihre Bedürfnisse und Ideen offenbaren.“ (GN 126) Er kümmert sich aber nicht nur nicht um einzelne Akteure, sondern ebenso nicht um Populationen von Akteuren. Populationen von Akteuren oder Personen sind für Tarde vielmehr Gegenstand der anthropologischen und Bevölkerungsstatistik. (GN 131, 133f.) Sondern der Sozialstatistiker kümmert sich allein um kulturelle Formen und die ihnen je korrespondierenden Handlungen, also um die Gegenstände der Nachahmung: „[Nichts ist] aufschlußreicher als die chronologischen Tabellen der Statistiker, die uns Jahr für Jahr die zunehmende Hausse und Baisse des Konsums oder eines speziellen Produkts eröffnen, einer bestimmten, in Wahlergebnisse übersetzten, politischen Meinung oder eines gewissen Sicherheitsbedürfnisses, das sich in Feuerversicherungsprämien oder

101 Vgl. die Literaturliste in Borch/Stäheli 2009, 419ff.

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in Sparbüchern ausdrückt usw. Im Grunde handelt es sich dabei also immer um die Geschicke einer importierten und nachgeahmten Überzeugung bzw. eines ebensolchen Begehrens.“ (GN 128, Kurs. eingef.)102

Sozialstatistik hat es mit der neuartigen kulturellen Formen eigenen „Nachahmungskraft“ (GN 134) zu tun, also mit dem Grad ihrer Verbreitung in einer Population von Akteuren und den raumzeitlichen Mustern bzw. der Nachahmungstopologie dieser Verbreitung. Wie in Kapitel 2.3.1 mit Bezug auf die Lehre von den drei Zuständen des Universals festgestellt wurde, diese zeichne die Stationen nach, welche die Form auf ihrem „Weg durch die Welt“ durchlaufe, so kann man (alle Differenzen beiseite gelassen) das Projekt der Tarde’schen Sozialstatistik als Projekt der Nachzeihung der Ausbreitungslinien kultureller Formen fassen, wobei mit dem „Weg durch die Welt“ die mehr oder weniger weit gehende Universalisierung (Kollektivierung) solcher Formen in einer Population von Akteuren gemeint ist. Dabei ist klar, dass die so bestimmte Sozialstatistik keinen unmittelbaren Zugang zu ihrem Gegenstand hat. Hierin liegt eine erste prinzipielle Grenze der Konzeption. Denn insofern kulturelle Formen Handlungsdispositionen sind, sind sie nur anhand der durch sie disponierten Handlungen beobachtbar. Entsprechend schreibt Tarde: „Statistik [zählt] Handlung, die die größtmögliche Ähnlichkeit haben.“ (GN 126) Die Ähnlichkeit der Handlungen lässt aber, so die implizite Prämisse, auf die Ähnlichkeit der kulturellen Formen schließen.103 Und wo ähnliche kulturelle Formen vorliegen, kann (gemäß dem Satz, dass „alle Ähnlichkeiten Wiederholungen geschuldet sind“ (GN 38)) schließlich auch von vorgängig stattgefunden habenden Nachahmungsprozessen ausgegangen werden, also von der genealogischen Beziehung sowie von der populationistischen Natur des Ähnlichen. Nun fragt sich, wie Sozialstatistik beschaffen sein muss, um ihr Objekt auch treffend erfassen zu können und zu bewahrheiten, was Tarde ihr bescheinigt: die „soziologische Methode par exellence“ zu sein (GN 129). Grundsätzlich muss Tarde feststellen, dass zu seiner Zeit keine einzige Statistik erhoben wird, die ausschließlich auf die Analyse der Ausbreitungs- und Verallgemeinerungsprozesse neuartiger Nachahmungsgegenstände gerichtet wäre (vgl. die Einleitung zu Kap. 3), zumal überhaupt die Statistik als Disziplin insgesamt noch sehr jung sei

102 „…les destinées d’une croyance et d’un désir importés et copiés.” (GNog 114) „Importer“ meint hier allgemein das erstmalige Einführen bzw. Auftauchen einer Neuerung; das kann, muss aber nicht durch Import geschehen. 103 Das ergibt sich auch aus dem in #6 eingeführten Bedingungsverhältnis von Prozess und Prozessor.

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(GN 131). Welche der ihm vorliegenden Statistiken wären aber geeignet, solche Prozesse mindestens indirekt anzuzeigen? „In der wirklich und ausschließlich soziologischen Statistik […] müssen wir uns bisher mit der Industrie- und Handelsstatistik und der juridischen Statistik begnügen, abgesehen von einigen gemischten Statistiken, in denen sich die physiologische und soziologische Welt überlappen wie bei der Bevölkerungsstatistik, der Statistik der Geburten, Ehen und Todesfälle sowie der medizinischen Statistik usw. Und von der politischen Statistik haben wir nur einen Keim in Form von Wahlkarten. Bei der Religionsstatistik, die graphisch die relative jährliche Ausbreitung der verschiedenen Sekten sowie die „Temperaturschwankungen“ des Glaubens ihrer Anhänger darstellen müsste, und bei der linguistischen Statistik, die nicht nur die vergleichende Ausdehnung der verschiedenen Mundarten in Zahlen erfassen müsste, sondern auch innerhalb jeder einzelnen Mundart das Aufkommen oder Verschwinden jedes Wortes und jeder Redewendung, bei diesen beiden hypothetischen Statistiken müssen wir fürchten, wenn wir länger darüber sprechen, den Leser zum Schmunzeln zu bringen.“ (GN 131f., Kurs. eingef. und teils gelöscht)

Der Grad, in dem diese Statistiken, seien sie bereits gängige Praxis oder erst in Ansätzen verfügbar, kulturelle Formen selbst erfassen, ist je sehr verschieden. Keine der Statistiken erfasst unmittelbar kulturelle Formen, verstanden als mittels Nachahmung erworbene Handlungsdispositionen von Personen. Manche der Statistiken erfassen ein Handeln, dass als Effekt solcher Dispositionen verstanden werden kann, so die Religions-, politische und linguistische Statistik. Industrie- und Handelsstatistik erfassen weder Dispositionen noch Handeln, sondern bloß die produzierten und distribuierten Artefakte, von denen auf ein entsprechendes Handeln (Produktion, Gebrauch) geschlossen werden kann, dass sich dann wieder als Effekt kultureller Formen interpretieren lässt. Sieht man von der Mittelbarkeit der Erfassung der kulturellen Formen ab, ist darüber hinaus klar, dass die einzelne, in einem bestimmten Beobachtungszeitraum erhobene Statistik selbst noch kein Nachahmungsgeschehen erfasst. Dieses kommt erst dort in den Blick, wo die synchronen Statistiken eines Gegenstands zu Zeitreihen kombiniert und graphisch als Verlaufskurven aufbereitet werden, wie oben zitiert: „nichts [ist] aufschlussreicher als die chronologischen Tabellen der Statistiker“ (GN 128). Denn Zeitreihen stehen, wo sie quantitative Zunahmen im Gegenstand dokumentieren, „in Beziehung zum Wachstum der Nachahmung […], auch wenn es zahlreiche Ausnahmen gibt.“ (GN 129, Kurs. eingef.) Das Vorliegen dieser Beziehung ist der Dreh- und Angelpunkt von Tardes statistischem Denken insgesamt. Allerdings gesteht er zahlreiche Ausnahmen zu. Diese werden nicht benannt. Es ist aber deutlich, dass die exklusive Beziehung zwi-

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schen quantitativen Zunahmen in Zeitreihen und Nachahmungsgeschehen unterlaufen wird durch die Tatsache, dass Nachahmungsgeschehen auch dort stattfindet, wo keine quantitative Zunahme in statistischen Zeitreihen vorliegt, und dass andererseits quantitativen Veränderungen in statistischen Zeitreihen nicht immer Veränderungen der Intensität des Nachahmungsgeschehens zu Grunde liegen. Was heißt das? Indem Tarde das Augenmerk auf quantitative Veränderungen in statistischen Zeitreihen legt, grenzt er sich von Quetelet ab, der vor allem mit der Erklärung und unterstellten Gesetzmäßigkeit der Konstanz statistischer Daten befasst war (Kap. 3.2.3).104 Tarde leugnet nicht, dass Konstanz immer wieder zu beobachten ist. Vielmehr ist er der Ansicht, sie sei soziologisch nicht von größerem Interesse.105 So nimmt er wie in Kap. 3.3.1 erwähnt an, dass der Ausbreitungsprozess einer Neuerung mittels Nachahmung idealtypisch in drei Phasen verläuft. Es gelte, „dass sich jede Überzeugung und jedes Bedürfnis mit diesem sozialen Ursprung erst mühsam durch das Netz ihm widersprechender Gewohnheiten und Überzeugungen hindurcharbeiten muss und sich dann erst [beschleunigt] auszubreiten vermag, bis von seinem Triumph erregte neuartige Gegner ihm den Weg versperren und schließlich eine unüberwindliche Grenze darstellen.“ (GN 149)

Demnach wird etwa ein neuartiges Artefakt erst von wenigen Innovatoren in Gebrauch genommen, worauf man einen rapiden Anstieg seiner Distribution bzw. seines Gebrauchs beobachten kann, bis schließlich Sättigung eintritt und sich sein Gebrauch auf bestimmten Niveau einpegelt. Dieser letztere Zustand ist dann als ein Gleichgewicht zu beschreiben, in dem eine kulturelle Form bzw. die

104 „Nach Quételet und seiner Schule müßten die Plateaus der vortrefflichste Ort der Statistiker sein; sie zu entdecken wäre sein größter Triumph, er müßte ständig danach streben. Nichts eignet sich ihm zufolge mehr zur Gründung der Sozialphysik als die gleichmäßige Herstellung der gleichen Zahlen über einen beträchtlichen Zeitraum, und zwar nicht nur in bezug auf die Anzahl von Geburten und Eheschließungen, sondern auch in bezug auf die Zahl der Verbrechen und Prozesse. Daher die [...] Illusion, daß diese letzteren Zahlen tatsächlich immer gleichblieben.“ (GN 138) 105 „Wenn sich jedoch der Leser die Mühe gemacht hat, uns zu folgen, wird er erkennen, daß man, ohne im geringsten die Wichtigkeit der horizontalen Linien [Zeitreihen ohne quantitative Veränderungen] zu schmälern, den steigenden Linien als Zeichen der regelmäßigen Ausbreitung einer Art von Nachahmung einen theoretisch höheren Wert beimessen muß.“ (GN 138)

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Begehrensintensität, die sie als ihre Materie in sich begreift (das Begehren, das Artefakt zu besitzen und zu gebrauchen), ihre Grenze an den Begehrensintensitäten anderer, konkurrierender kultureller Formen findet. Es handelt sich um ein Gleichgewicht „konkurrierender Kräfte“, das immer temporär bleibt und durch andere temporäre Gleichgewichte abgelöst werden kann. (GN 139f.) Ein solches Gleichgewicht entspräche, in der Terminologie von Kapitel 3.2, einem System konstanter Ursachen bzw. einer temporären statistischen Stabilität der Interaktionszusammenhänge und Praktiken, die von den jeweiligen kulturellen Formen prozessiert werden. Umgekehrt würde man die zweite Phase, für die Tarde die größte Intensität des Nachahmungsgeschehens annimmt, in der Terminologie so beschreiben, dass in ihr durch die replikative Wiederholung konstanter Ursachen die bestehenden Systeme konstanter Ursachen transformiert werden. Deshalb kommt dieser zweiten Phase für Tarde auch die größte soziologischen Relevanz zu und ist sein Interesse wesentlich auf die sie reflektierenden Steigungen in den statistischen Zeitreihen gerichtet. Was Tarde in diesem Zusammenhang nicht klar artikuliert, ist das Faktum, dass auch in einem Szenario, in dem sich eine Gesellschaft insgesamt oder in Aspekten über mehrere Generationen hinweg nicht signifikant verändert, in dem kulturelle Formen längerfristig miteinander im Gleichgewicht stehen, auch eine permanente Nachahmungstätigkeit stattfindet und sogar genau Bedingung dieses Gleichgewichts ist. So muss die intergenerationale Nachahmung weiterlaufen, um den gesellschaftlichen Zustand als identischen zu reproduzieren. Richtig ist, dass in diesem Szenario keine zeitgenössischen Neuerungen nachgeahmt werden, sondern Neuerungen, deren erstmaliges Auftauchen womöglich schon Generationen zurückliegt und die daher als Traditionen bezeichnet werden. Tarde erkennt, dass Traditionen nichts anderes sind als alte Neuheiten. Trotzdem scheint er sich von der Traditionalität alter Neuheiten wie etwa der „christlichen monogamen Ehe“ gelegentlich täuschen zu lassen, wenn er schreibt, diese seien „ins Blut eines Volks übergegangen“, und wenn er ihren Einfluss bzw. die Gleichmäßigkeit, mit der sie sich in der Zeit durchhalten, mit dem Einfluss natürlicher Gegebenheiten wie Klima und Jahreszeit vergleicht. (GN 140f.) Diese Naturalisierung verkennt, dass die ältesten Neuerungen die im Tarde’schen Sinne soziologisch virulentesten, vitalsten sind: Weit entfernt davon, sich auf natürlichem Wege automatisch fortzuschreiben, sind das Neuerungen, auf die sich immer ein Maximum an Nachahmungsaktivität gerichtet hat und die durch Nachahmung immer wieder „neu belebt“ worden sind. Tradition ist entweder durchgängig die Tradition der jungen Leute, oder sie ist nicht. Somit lässt sich argumentieren, dass Tarde, indem er Nachahmungsgeschehen und quantitative Zunahmen in statistischen Zeitreihen in exklusive Beziehung setzt, die zeitge-

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nössischen Nachahmungen gegenüber den intergenerationalen Nachahmungen in sachlich unbegründeter Weise privilegiert. Das Thema der alten Neuerungen („Traditionen“) aufgreifend ist auch festzuhalten, dass statistische Zeitreihen dort, wo die betrachteten Nachahmungsgegenstände schon seit längerem eingeführt sind, viel weniger direkten Aufschluss über ein aktuell ablaufendes Nachahmungsgeschehen liefern als dort, wo es sich um zeitgenössisch neuartige Nachahmungsgegenstände handelt. Gerade in der Industrie- und Handelsstatistik, die für Tarde „die Hauptgrundlage aller anderen aller anderen“ Statistiken ist (GN 136)106, sind die Schwankungen in der Produktion und Distribution bestimmter, längst in den Markt eingeführter Güter häufig z.B. konjunktureller Natur und können im Einzelnen auf so komplexen Zusammenhängen beruhen, dass es abwegig wäre, hier schlicht Schwankungen der Nachahmungskraft zu Grunde zu legen. Plausibler wird das genannte Verhältnis, wo man mit zeitgenössischen Neuerungen befasst ist und etwa die Markteinführung neuartiger Produkte statistisch begleitet: Hier kann man tatsächlich davon ausgehen, dass eine scharf ansteigende Produktion und Distribution mit der ausgreifenden Nachahmung von Aneignung und Gebrauch dieser Produkte einhergeht. Grundsätzlich gilt: Tarde versucht zwar, die ihm vorliegenden Statistiken auf Symptome von Nachahmung hin zu analysieren, er ist aber nicht kreativ hinsichtlich des Entwurfs von statistischen Fragestellungen und Untersuchungsanordnungen, die geeigneter wären, Nachahmungsprozesse zielführend abzubilden. Dabei lässt er ganz naheliegende Fragestellungen aus. So ließe sich die Nachahmungstopologie, das raumzeitliche Muster der Ausbreitung einer bestimmten neuartigen kulturellen Form, nachzeichnen, indem man die Zeitreihen für verschiedene Länder vergleicht; indem man die räumliche Auflösung erhöht, also Zeitreihen für einzelne Regionen, schließlich für einzelne Städte und Dörfer aufnimmt,107 dürfte die Nachahmungstopologie mit ihren Hauptwegen, Verästelun-

106 Man findet bei Tarde keine brauchbare Begründung für diese wenig plausible Privilegierung. Zwar könnte man der Industrie- und Handelsstatistik gewisse praktische Vorsteile unterstellen, insofern die Einheiten der Produktion und des Konsums leichter statistisch zu erfassen sind als andere Nachahmungsgegenstände; aber das begründet nicht ihr soziologisches Primat. 107 Tarde hat die Vision einer „genauen und vollständigen Untersuchung, Haus für Haus, des gesamten Mobiliars eines Landes und der zahlenmässigen Schwankung jedes einzelnen Stücks Jahr für Jahr.“ (GN 136) Er bezieht dies aber nicht explizit auf die Nachzeichnung raumzeitlicher Nachahmungstopologien, sondern stellt bloß

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gen und Verzögerungen fast beliebig feinkörnig darstellbar sein. Auch das Ausmaß der intergenerationalen Nachahmung ist mit relativ einfachen Mitteln rekonstruierbar, wenn man das Vorhandensein einer kulturellen Form in Abhängigkeit von den Altersgruppen der betrachteten Personen untersucht. Diese Möglichkeit scheint Tarde auch nicht zu sehen. Die einzige Stelle, an der Tarde eine avancierte statistische Fragestellung annonciert, ist die, an der er nach der Korrelation der Ausbreitung oder des Rückgangs zweier oder mehrerer kultureller Formen mittels Nachahmung fragt. So gelte es, „durch die geschickte Gegenüberstellung der […] erhaltenen [Zeit-]Reihen bzw. durch die Hervorhebung der sie begleitenden Schwankungen die mehr oder weniger großen bzw. nicht vorhandenen Hindernisse und gegenseitigen Unterstützungen zu kennzeichnen, die diese verschiedenen Bedürfnisse und Ideen ihrer Ausbreitung und Verwurzelung durch Nachahmung gegenseitig bieten oder die sie einander entgegenstellen (je nachdem, ob sie aus impliziten Behauptungen bestehen, die sich gegenseitig mehr oder weniger und in mehr oder weniger großer Zahl bestätigen, oder aus Behauptungen, die einander entgegengesetzt sind – den sie bestehen immer aus impliziten Behauptungen).“ (GN 134)

Korrelation ist ein Maß dafür, wie sich die Variabilität einer Variable (hier: Anzahl der kulturellen Formen y für alle Zeitpunkte t der Zeitreihe) vermindert, wenn man sie auf die Werte einer anderen Variable bezieht (hier: Anzahl der kulturellen Formen z für alle Zeitpunkte t der Zeitreihe). Die geschickten Gegenüberstellungen („rapprochements habiles“, GNog 123), von der Tarde spricht, zielen genau auf die positive oder negative Korrelation der Ausbreitung zweier kultureller Formen, die dann so interpretiert werden können, dass sich diese kulturellen Formen in ihrer Ausbreitung entweder unterstützen oder behindern. Die Vorstellung eines solchen Verfahrens ist insofern avanciert, als der Korrelationskoeffizient in der Statistik erstmals 1888 durch Francis Galton mathematisiert und 1896 durch Karl Pearson in einer auch heute noch gültigen Fassung formuliert worden ist (Stigler 1986, 297ff.; 342ff.), während Tarde seinen Aufsatz zur Statistik 1883 erstmals veröffentlichte (Tarde 1883). Obwohl also Tarde kaum an eine „Gegenüberstellung“ mit mathematischen Mitteln gedacht haben konnte, scheint sie doch im Horizont seines Denkens gelegen zu haben.108

fest: „Dies ergäbe eine ausgezeichnete Abbildung des gesellschaftlichen Zustands…“ (ebd., Kurs. eingef.) 108 Natürlich bezieht sich Tardes zitierte Formulierung auf die von ihm formulierten „logischen“ Gesetze der Nachahmung, nämlich auf die logischen Zweikämpfe (GN 178ff) und logischen Vereinigungen (GN 197ff.) von kulturellen Formen. Logische

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Abschließend ist eine grundlegende Beschränkung von Tardes Exposition kenntlich zu machen. So konzentrierte sich obige Darstellung ganz auf den Zusammenhang von Nachahmung und Statistik. Nachahmung ist aber in Tardes Soziologie das Komplement seines zweiten Fundamentalbegriffs, der Neuerung. Dieser Begriff ist bislang nur sehr gelegentlich gefallen. Den Zusammenhang von Wiederholung und Neuerung etabliert Tarde schon auf der Ebene seiner Theorie universeller Wiederholung: „Jede Wiederholung, egal ob sie nun im Sozialen, Organischen oder Physikalischen, also durch Nachahmung, Vererbung, oder Schwingung stattfindet […] entspringt einer Neuerung so wie jedes Licht einer Quelle.“ (GN 32, vgl. 35) Im Sozialen ist die Neuerung entweder als kreative Kombination vorhandener kultureller Formen (Schaufelrad plus Mahlstein ergibt Mühle, GN 176, vgl. 162) oder als infinitisimale Mutation kultureller Formen (z.B. Lautverschiebungen in der Sprache, GN 164f.) zu verstehen. Obschon im Rahmen seiner ontologischen wie soziologischen Systematik zentral, ist aber die Neuerung aus Tardes Konzeption der Statistik ausgeschlossen. Das ist die zweite prinzipielle Grenze seiner Konzeption. Wie oben zitiert: die Statistik zählt „Handlungen, die die größtmögliche Ähnlichkeit zeigen. Die Kunst hierbei ist die Wahl der Einheiten, die umso besser getroffen wurde, je ähnlicher und deckungsgleicher die Einheiten untereinander sind“, je weniger innere Variabilität die Einheiten aufweisen. (GN 126) Sie erfasst also schon per Definition nicht die Verformungen und Amalgamierungen, die kulturelle Formen im Laufe ihrer Geschichte erleiden, wenn sie massenhaft nachgeahmt werden. In der Tat: „[W]ir wissen […] dass die Statistik dem Feld der Nachahmungen zugehörig ist und das ihr das Feld der Erfindungen verwehrt wird. Die Zukunft ist, was die Erfinder

Zweikämpfe werden zwischen kulturellen Formen ausgefochten, die nicht zusammen bestehen können, weil sie sich widersprechen (z.B. gegensätzliche politische Ideen, GN 181) oder weil sie um die Befriedigung des „gleichen Bedürfnisses“ (GN 184) konkurrieren (z.B. zwei Schriftsysteme, GN 178): der Aufstieg der einen (an einem Ort, zu einer Zeit) zieht notwendig den Abschwung der anderen nach sich. Umgekehrt bezeichnet die logische Vereinigung die Akkumulation zusammenstimmender kultureller Formen (z.B. zwei korrespondierende wissenschaftliche Theoreme, GN 201), die, wenn sie aufsteigen, zusammen aufsteigen. Dabei stellt sich im Einzelnen immer die Frage, ob eine beobachtete Korrelation ursächlich auf „logische“ Zweikämpfe und Vereinigungen zurückzuführen ist; es springen aber, gerade auf dem Gebiet der Technologie, unmittelbar Fälle ins Auge, für die eine derartige Ursächlichkeit sehr intuitiv ist, etwa bei der Ablösung der Schreibmaschine durch den Personal Computer oder bei der Ablösung der Schallplatte durch die Compact Disc etc.

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sind, die [die Statistik] nicht kennt und deren Abfolge nicht in echte Gesetze gefasst werden kann.“ (GN 160, vgl. 127)

4. Kollektivitäten: Spur, Wiederholung, Exteriorität

Kollektivitäten werden hier als reale Vielheiten gefasst, als Vielheiten von Elementen, die real verknüpft sind. Sie können einerseits verknüpft sein mittels genealogischer Relationen: Da ihre Elemente endlich sind, halten sich Kollektivitäten in der Welt nur als Prozess der laufenden Wiederholung replikativer Performanzen, die Entitäten erzeugen, deren Ähnlichkeit genau aus ihrer Genealogie herrührt. Kollektivitäten sind Populationen ähnlicher Entitäten, etwa Populationen biologischer oder kultureller Formen. Andererseits können die Elemente von Kollektivitäten real verknüpft sein über Interaktionen. Mit dieser Dimension, die in den vergangenen Kapiteln angeklungen ist, ohne thematisch zu werden, sind die folgenden Ausführungen befasst. Der relativ unspezifische Charakter des Interaktionsbegriffs erlaubt es, ihn im Sinne einer zweiten Bestimmung zu verwenden: Kollektivitäten sind die Choreografien oder Muster der wiederholten Interaktion von Entitäten. Dabei wird angenommen, dass nicht nur Entitäten bestimmten Typs regelmäßig interagieren und so performative Zusammenhänge ausbilden, sondern dass Kollektivitäten meist Entitäten ganz verschiedenen Typs (also Angehörige verschiedenster Populationen) einbegreifen. Diese Vorstellung verdankt sich der Akteur-Netzwerk-Theorie (ANT) und vor allem den Texten Bruno Latours. Die ANT bildete sich in den frühen 1980er Jahren als neues Theoriepradigma der Wissenschafts- und Technikforschung heraus (Callon et al. 1986) und hat ihren Gegenstandsbereich seitdem so erweitert, dass sie heute als neues Paradigma der Gesellschaftswissenschaften insgesamt auftreten kann.1 In der Retrospektive (NSNG 161ff.) ergibt sich das Paradigma aus der Feststellung, es sei

1

Vgl. den deutschsprachigen Titel von Bruno Latours jüngster „Einführung“ in die ANT: Eine neue Soziologie für eine neue Gesellschaft.

268 | K OLLEKTIVITÄTEN

unmöglich, Prozesse wissenschaftlicher Forschung und technologischer Innovation in „rein soziologischen“ Termini zu beschreiben bzw. „rein soziologischen“ Erklärungen zuzuführen, da die konstitutive Rolle, die wissenschaftlichen und technologischen Objekten selbst in diesen Prozessen zukommt, durch die seinerzeit gängigen mikro- und makrosoziologischen Terminologien und Theorien nicht angemessen erfasst werden kann. Wenn aber, so die weitere Feststellung, gesellschaftliche Phänomene insgesamt in ihrer Struktur und in ihrem Prozess in erheblichem Umfang durch Wissenschaften und Technologien geprägt sind, dann stellt sich grundsätzlich die Frage nach der Adäquanz von Gesellschaftsund Sozialtheorien, die wissenschaftliche und technologische Objekte in die Randbereiche ihrer Theoriebildung abdrängen, um sie dort als „Teilgebiete“ zu behandeln. Daher die Notwendigkeit einer „neuen Soziologie“. Die Erweiterung des Gegenstandsbereichs der Wissenschafts- und Technikforschung zeigt sich schon früh in der Hinwendung von ANT-Theoretikern zu Fragen der gesellschaftlichen Machtausübung bzw. der Herausbildung großräumiger gesellschaftlicher „Strukturen“ bzw. „Makro-Akteure“.2 Darüber hinaus stellt Bruno Latour, nachdem er zunächst mit Studien zur Laborarbeit (Latour/Woolgar 1986) und zu Motiven und Logistiken wissenschaftlicher Forschung allgemein (Latour 1987) hervorgetreten ist und sich in dem Traktat Irreductions (Latour 1988) an einer Ontologie des neuen Paradigmas versucht, die ANT in seiner programmatischen Schrift Wir sind nie modern gewesen (Latour 1995) in den Kontext einer Theorie der Moderne. Dieser zufolge ist das moderne Denken durch eine ebenso produktive wie fatale Unterscheidung von Natur und Gesellschaft gekennzeichnet, eine Unterscheidung, deren Aufhebung für die ANT gerade konstitutiv ist, die somit den Übergang zu einer – im affirmativen Sinne – nichtmodernen Konstitution einzuleiten beanspruchen kann. In Das Parlament der Dinge (Latour 2001) analysiert Latour die (Un)Möglichkeit einer politischen Ökologie unter den Bedingungen der modernen Unterscheidung von Natur und Gesellschaft und skizziert neuartige Formen der Repräsentation der hybriden, aus Menschen und Nichtmenschen zusammengesetzten Objekte im Zentrum jeder ökologischen – und letztlich: jeder politischen (Latour 1995, 7ff.) – Problematik. Nach unzähligen verstreuten, teils in Sammelbänden (Latour 1996a, 2002a) zusammengefassten und bearbeiteten Publikationen legt Latour 2005 mit Eine neue Soziologie für eine neue Gesellschaft ein Grundlagenwerk vor, dass das Forschungsprogramm der ANT zunächst als Serie methodischer Fokussierungen des Blicks bzw. des forschenden Vorgehens entfaltet,3 um an-

2

Vgl. Law 1986, 1991a, 2006; Callon/Latour 2006; Latour 2006a, 2006c.

3

Vgl. NSNG 55ff., 92ff., 136ff., 206ff., 232ff.

4. K OLLEKTIVITÄTEN : S PUR , W IEDERHOLUNG , E XTERIORITÄT | 269

schließend einige Leitmotive jeder ANT-Analyse einzuführen: „das Soziale flach halten“ (NSNG 286ff.), „das Globale lokalisieren“ (299ff.), „das Lokale neu verteilen“ (329ff.), „Orte verknüpfen“ (378ff.).4 Unternommen wird eine Aneignung der ANT, die nicht darauf zielt, das Paradigma vollständig nachzuzeichnen. Auch geht es nicht darum, divergierende Auffassungen der Protagonisten der ANT – neben Bruno Latour werden vor allem John Law und Michel Callon rezipiert – innerhalb des Paradigmas herauszuarbeiten. In gewissem Sinne profitiert diese Untersuchung mehr von der ANT, als sie ihr in Form konzeptueller Innovation zurückerstatten kann. Andererseits geht es aber doch darum, die ANT in origineller Weise zu akzentuieren und sie mit Konzepten und Theoremen zu konfrontieren, die im Laufe der vorangegangenen Kapitel herausgestellt wurden: mit der Unterscheidung von replikativen und interaktiven Performanzen, mit der Figur der Wiederholung und mit dem Konzept der Potentialität, ohne das Wiederholung nicht gedacht werden kann. Darüber hinaus wird die durch Spuren vergangener Interaktionen vermittelte Interaktion, die Interaktion zwischen Abwesenden, als Grundmotiv der ANT herausgestellt (Kap. 4.1). Dass die ANT dem Problem der Wiederholung keinen systematischen Ort gibt, wird als entscheidende Unterlassung gewertet, da ohne ein Verständnis von Wiederholungsprozessen ein Verständnis von Kollektivitäten unmöglich ist (Kap. 4.2). Die mangelnde Einsicht in die Konstitution von Prozessobjekten grundiert auch Latours dezidierte Ablehnung von Soziologien, die mit Begriffen wie „Gesellschaft“, „Milieu“, „soziales Feld“, „System“ und „Struktur“ operieren, also mit Begriffen, die, wie Latour nicht zu Unrecht unterstellt, großflächige und komplexe Aggregationen von Phänomenen häufig eher unbefragt voraussetzen als zu ihrer Erklärung beizutragen. Die Problemlage wird exemplifiziert am Fall des von Latour entschieden dramatisierten Konflikts der Soziologien Tardes und Durkheims. Abschließend wird versucht, aus dem Den-

4

Mit den hier genannten Werken ist nur ein Ausschnitt von Latours Produktion erwähnt. Für eine vollständige Publikationsliste siehe http://www.bruno-latour.fr/. Für Einführungen in das Denken Latours siehe Schmidgen 2011; Ruffing 2009; Krauss 2006. Eine Einführung in die ANT bieten etwa Law 2006, Schulz-Schaeffer 2000 und Belliger/Krieger 2006, 13-50, die zudem einige Grundlagentexte der ANT in deutscher Übersetzung liefern. Für die deutsche Rezeption Latours in jüngerer Zeit siehe Kneer et al. 2008 sowie, anschließend an ANT-Ideen, Rammert 2007. Im Laufe der Jahre sind eine Reihe von ANT-Sammelbänden erschienen, so, nach Callon et al. 1986, etwa Law 1986, 1991, Law / Hassard 1999.

270 | K OLLEKTIVITÄTEN

ken der Kollektivität heraus eine schlüssige Position zur Frage des „sozialen Realismus“ zu gewinnen (Kap. 4.3). Das reicht als Einführung aber noch nicht aus. Bevor der Text Latours näher betrachtet werden kann, müssen die interessierenden Themen noch genauer hergeleitet werden aus dem eingangs präsentierten Modell von Kollektivität. Damit wird nicht behauptet, dieses Modell formuliere auch die Prämissen der ANT. Vielmehr wird die ANT bloß in Bezug gesetzt zum Theorierahmen dieser Untersuchung, der seinerseits wiederum von einer Rezeption vor allem Latours inspiriert ist. Es bietet sich an, zunächst von der Vorstellung von Interaktionszusammenhängen auszugehen, in denen ausschließlich selbige menschliche Akteure wiederholt miteinander interagieren, – wie familiale, professionelle, politische oder Freundschaftsnetzwerke. Auch für diese sozialen Netzwerke gilt, dass sie, als Interaktionszusammenhänge, natürlich Kollektivitäten darstellen (#9), deren Elemente raumzeitlich lokalisiert (#2) und mobil sind (#4) und allein über wiederholte Performanzen zusammenhängen (#3). Soziale Netzwerke sind wie alle Kollektivitäten Prozessobjekte (#5). Die Vorstellung sozialer Netzwerke ist aber mit Latour (1997, 2) als in mehrfacher Hinsicht unzureichend zu kennzeichnen: (1) Interaktionszusammenhänge begreifen faktisch nicht nur Personen, sondern immer auch heterogene Elemente ein, nämlich insbesondere Artefakte und Medien,5 deren Seinsweise von einer Ontologie der materiellen Spur her zu analysieren ist. (Kap. 4.1) (2) Die Vorstellung von Interaktionszusammenhängen selbiger Elemente, so heterogen sie auch sein mögen, ist ungenügend, weil sie Phänomene der Konsumption von Generischem als Generischem und der Interaktion mit Generischem als Generischem nicht erfasst. (Kap. 4.2.2)

5

Die Heterogenität der Elemente von Interaktionszuammenhängen ist für die ANT prinzipiell unbeschränkt: „In genau dieser Annahme, dass nämlich das Soziale nichts anderes als strukturierte Netzwerke heterogener Materialien umfasst, besteht der wesentliche analytische Schritt der Akteur-Netzwerk-Theorie. Das Radikale dieser Perspektive ist, dass die Netzwerke nicht nur aus Menschen, sondern auch aus Maschinen, Tieren, Texten, Geld, Architekturen – faktisch aus jedem gewünschten Material – bestehen können. Der Hauptpunkt ist also, dass der Stoff des Sozialen nicht nur das Menschliche, sondern auch all diese anderen Materialien umfasst.“ (Law 2006, 431f.) Trotzdem spielen – mit einigen Ausnahmen (Latour 2002a, 137-174) – in den Analysen Latours meist technische Artefakte und Medien eine herausragende Rolle.

4. K OLLEKTIVITÄTEN : S PUR , W IEDERHOLUNG , E XTERIORITÄT | 271

(3) Die Vorstellung von Interaktionszusammenhängen selbiger Elemente verstellt den Blick auf die Mechanismen der Konstitution intergenerationaler Interaktionszusammenhänge, deren Bestand voraussetzt, dass Elemente laufend ausgeschieden und andere Elemente neu einbezogen werden. (Kap. 4.2.2) Diese Aspekte werden in Kapitel 4 unterschiedlich eingehend behandelt. Während der erste Aspekt mit Latour ausführlich entwickelt wird, wird der zweite Aspekt über Latour hinaus immerhin systematisch skizziert; der dritte Aspekt wird nur angedeutet. An dieser Stelle wird überblicksweise in den ersten Aspekt eingeführt. Wollte man soziale Netzwerke analysieren, also Netzwerke, die nur Personen einbegreifen, würde man allen interessierenden Akteuren „folgen“ und aufzeichnen, wie sich deren Bewegungslinien zu zirkulären Choreografien verschalten, im Rahmen derer die Akteure wiederholt die selben Lokalitäten durchlaufen, an denen sie sich als selbige wiederholt treffen und interagieren. Im Einzelnen lässt sich dann etwa untersuchen, mit welchen anderen Akteuren eine bestimmter Akteur mehr oder weniger regelmäßig interagiert (Rekonstruktion der durch ihn definierten Kollektivität). Oder man kann, indem man in der Betrachtung von einem Interaktionspartner zum nächsten „springt“, Netzwerke von Interaktionen zwischen mitunter sehr großen Mengen von Akteuren nachzeichnen. Dabei lässt sich analysieren, wie regelmäßig Akteure jeweils interagieren (starke vs. schwache Bindungen), welche Akteure mit vielen anderen und welche mit wenigen anderen interagieren (zentrale vs. marginale Akteure) etc.6 Wendet man sich andererseits Akteur-Netzwerken zu, also Netzwerken, die nicht nur Personen, sondern insbesondere auch Artefakte und Medien einbegreifen, ist zunächst der Interaktionbegriff zu modifizieren (#9). „Interaktion“ meint dann allgemein bloß, dass Entitäten in einen raumzeitlich lokalisierten gemeinsamen Prozess eintreten. „Gemeinsam“ signifiziert nicht mehr als den Sachverhalt, dass alle in den Prozess eintretenden Entitäten für den Ablauf des Prozesses signifikant sind, so dass, fehlte eine Entität, der Prozess nicht oder anders ablaufen würde (NSNG 123). Dieser von allen spezifisch soziologischen Konnotationen gereinigte Interaktionsbegriff enthält keine Vorannahmen über die Natur der jeweils beteiligten Entitäten mehr. Ebensowenig enthält er Vorannahmen über die relative Bedeutsamkeit der beteiligten Entitäten für das Ablaufen des gemeinsamen Prozesses, – er unterstellt, anders als im intuitiven Begriffsverständnis, keine Reziprozität der Interaktionspartner.

6

Da Theorien sozialer Netzwerke nicht näher behandelt werden können, sei exemplarisch bloß verwiesen auf Jansen 2003. Für eine Genealogie des Netzwerkbegriffs siehe Schüttpelz 2007.

272 | K OLLEKTIVITÄTEN

Über die Modifikation des Interaktionsbegriffs hinaus legt Latour nahe, dass man in der Analyse von Akteur-Netzwerken grundsätzlich anders vorgehen sollte als in der Analyse sozialer Netzwerke. So empfiehlt es sich hier, einschlägige Lokalitäten als Stätten von Interaktionen darauf hin zu untersuchen, was für Artefakte und Medien im Vorlauf gewisser aktueller Interaktionen an diesen Stätten bereits zusammengezogen, kontrahiert worden sind, und was für Artefakte und Medien diese Stätten als Effekt gewisser aktueller Interaktionen wiederum verlassen, von diesen Stätten ausgehend disseminiert werden. In allgemeinen Begriffen: Es ist die Kontraktion und Dissemination materieller Spuren an und ausgehend von den Stätten aktueller Interaktion zu analysieren – eine Operation, die diesen Stätten in der Visualisierung ein „sternförmiges“, eben netzwerkhaftes Aussehen verleiht. Auf diesem Weg generiert man ausgreifende Topologien von Stätten, die über den einseitigen oder reziproken Austausch von Spuren verknüpft sind. Weil keine Stätte ganz abgeschnitten von ihrer Umgebung ist, hat auch die über wenige Spuren mit anderen Stätten verknüpfte Stätte ein gleichsam „sternförmiges“ Aussehen. Von besonderem Interesse sind aber solche Stätten, an denen viele Spuren kontrahiert oder disseminiert werden, die also mit vielen anderen Stätten verknüpft sind und die Latour als „globale Orte“ oder „Oligoptiken“ bezeichnet. Die in Oligoptiken stattfindenden Interaktionen sind spurenvermittelt stark beeinflusst von früheren Interaktionen an vielen anderen Stätten, und / oder sie beeinflussen selbst spurenvermittelt die Interaktionen an vielen anderen Stätten. Die analytische Berücksichtigung von als Spuren vorangegangener Prozesse verstandenen Artefakten und Medien bewirkt eine tiefgreifende Transformation der Vorstellung von Interaktionszusammenhängen. Nicht nur werden Artefakte und Medien, wenn sie regelmäßig einbezogen werden, selbst zu vollwertigen Elementen von Kollektivitäten. Sondern indem sie materielle Spuren vorangegangener Prozesse sind, schließt ihr Gebrauch die vermittelte Interaktion mit denjenigen menschlichen und nichtmenschlichen Akteuren ein, die seinerzeit in der Produktion dieser Spuren engagiert und wirksam waren und jetzt abwesend sind. Die Feststellung ist trivial für den Fall medialer Spuren und insbesondere der Schrift, deren ganzer Sinn darin besteht, Interaktionen zwischen abwesenden Akteuren zu vermitteln, also translokale und transtemporale Interaktionen. Sie gilt aber auch für den Fall von Artefakten, deren regelmäßiger Gebrauch analog die regelmäßige Transinteraktion mit ihren Herstellern oder Entwicklern einschließt. Dabei gewinnt die Transinteraktion eine historische Tiefendimension, die nicht aufgeht zumindest in der kurzfristigen Nachzeichnung jener Topologie von Stätten, von denen die gebrauchen Artefakte als selbige herkommen; denn indem

4. K OLLEKTIVITÄTEN : S PUR , W IEDERHOLUNG , E XTERIORITÄT | 273

Spuren generische sein können, schließt sich der sie Gebrauchende nicht bloß an den Prozess ihrer unmittelbaren Hersteller an, sondern letztlich noch an den Prozess ihrer Erfinder, der zu diesem Zeitpunkt bereits viele „Generationen“ von Herstellungsakten zurückliegen kann. Ähnliches würde für die x-te Neuauflage eines historischen Textes gelten. In diesen Ausführungen deutet sich an, dass das komplexere Bild, welches sich im Übergang von sozialen Netzwerken zu Akteur-Netzwerken im Sinne der ANT ergibt, wesentlich auf den ontologischen Eigenheiten der Figur der materiellen Spur beruht. Entsprechend bildet der Begriff der Spur den Ausgangspunkt aller weiteren Überlegungen.

4.1 K OLLEKTIVITÄT

UND

S PUR

(1) Eine Grundfigur des Latour’schen Denkens, von der her eine ganze Reihe wichtiger Motive der ANT entwickelt werden können, lässt sich wie folgt umschreiben: In einer aktuellen Interaktion treten heterogene Entitäten in einen gemeinsamen Prozess ein, die materielle Spuren vergangener Prozesse sind oder enthalten.7 Die an den vergangenen Prozessen beteiligten Entitäten haben sich in den materiellen Spuren dieser Prozesse verewigt, insofern – gemäß #6 – ihre Beschaffenheit und Disposition für den Ablauf der vergangenen Prozesse verantwortlich zeichnete. Somit kann argumentiert werden, diese anderen, jetzt abwesenden Entitäten würden, vermittelt durch die Spuren ihres vergangenen Prozesses, in der aktuellen Interaktion „anwesend sein“ und an ihr „teilnehmen“, insofern sie in ihr einen Unterschied machten. Die von ihm erzeugte Spur sei dabei buchstäblich die einzige Möglichkeit eines aktuell Abwesenden, anwesend zu sein. Dieser Sachverhalt lässt sich in zwei Richtungen auslegen: (2) Einmal könnte man von einer echten translokalen und transtemporalen Interaktion sprechen, oder kurz von einer Transinteraktion, in die aktuell anwesende mit aktuell abwesenden Entitäten gemeinsam eintreten: „[W]e can act at a distance.“ (Latour 1996b, 239) Damit hätte man einen Begriff von Interaktion ge-

7

Es wäre reizvoll, das hier entwickelte Denken der Spur mit dem Spurbegriff Jaques Derridas abzugleichen (Derrida 1983), auch wenn aufgrund divergenter Interessenlagen eine unmittelbare Aneignung des Derrida’schen Spurbegriffs als wenig fruchtbar erscheint. Ähnliches gilt für einen Sammelband jüngeren Datums zum Thema: Krämer et al. 2007.

274 | K OLLEKTIVITÄTEN

wonnen, der die Bedingung der Kopräsenz der Interaktionspartner abgestreift hat. Allerdings werden hierbei die aktuell tatsächlich anwesenden Entitäten so auf ihr Spur-Sein reduziert, dass ihre eigene irreduzible Anwesenheit bloß als Vermittlung der Anwesenheit eines Abwesenden begriffen und in diesem Sinne übersprungen wird. Die Kritik an dieser Reduktion lässt sich zu dem Satz verallgemeinern, dass keine Entität ein reines Medium (eines abwesenden Anderen) sein kann: Vielmehr kann sie nur Medium sein, wenn sie selbst etwas ist. (3) Andererseits könnte man darauf hinweisen, dass überall dort, wo man von „aktuellen Interaktionen“ spricht, in die Entitäten gemeinsam eintreten, wo also die Interaktion unter den Bedingungen der Kopräsenz der beteiligten Entitäten der Ausgangspunkt einer Betrachtung ist, übersehen wird, dass „in“ der irreduziblen Anwesenheit der beteiligten Entitäten tatsächlich noch ganz andere (jetzt in persona abwesende) Entitäten anwesend sind. Die Feststellung läuft auf die Dekonstruktion der Figur der Anwesenheit hinaus: jede Interaktion unter Bedingungen der Kopräsenz ist in Wahrheit eine Transinteraktion. Entsprechend kann man verallgemeinern, dass es keine Entität gibt, die nicht auch Medium (eines abwesenden Anderen) wäre: Sie ist nur selbst etwas, wenn sie die Spur eines vergangenen Prozesses ist. (4) Die beiden verallgemeinerten Sätze zusammengenommen zeigen dieselbe Struktur wie ein früher behandeltes aristotelisches Problem: Ist das konkrete Ding ein „Dieses“ oder ein „Solches“? (Kap. 2.2.1) Es ist beides, nämlich ein „solches Dieses“. Es ist ein Dieses, weil es ein konkretes Ding und, für Aristoteles, ontologisch vollständig ist. Und es ist ein Solches, weil es ein entstandenes Ding ist, dass seine Form einem anderen, gleichartigen Ding verdankt, von dem es herkommt. Ganz ähnlich verhält es sich hier. Die vorliegende Formulierung ist aber allgemeiner als die aristotelische: Eine Entität ist an ihr selbst irreduzibel anwesend, ist kein bloßes Derivat eines abwesenden Anderen. Andererseits aber ist sie die Spur vorangegangener Prozesse und kommt von diesen Prozessen her. Die Figur des „solchen Diesen“ erscheint hier als die Figur der zusammengezogenen Spitze oder der Kontraktion: Die irreduzibel aktuelle Entität ist die Gegenwart ihrer ganzen Vergangenheit. Wäre sie nicht Gegenwart, könnte sie das Vergangene, das abwesende Andere, nicht vergegenwärtigen. Wäre sie bloße Gegenwart, müsste sie unentstanden in die Existenz getreten sein und wäre somit ein unmögliches Ding. (5) Der Einbezug materieller Spuren vergangener Prozesse hat eine fundamentale Bedeutung für die Zeitstruktur von Prozessen überhaupt. Diese Bedeutung re-

4. K OLLEKTIVITÄTEN : S PUR , W IEDERHOLUNG , E XTERIORITÄT | 275

sultiert aus der eklatanten Äußerlichkeit der materiellen Spuren gegenüber den Prozessen, die sie hervorbringen. Das lässt sich am Beispiel der Bewegung verdeutlichen. Geht jemand von A über B nach C, dann ist die Zwischenposition B in der Endposition C objektiv „enthalten“. Wenn man, um das Prinzip klar zu machen, alle äußeren und Gedächtnisspuren ausschließt, dann ist das, was von B „bleibt“, aber die bloße Tatsache, dass sich die Person nun bei C befindet. Die Zwischenposition B ist in der aktuellen Position C enthalten, ebenso wie in allen zukünftigen Positionen D, E, F etc.: Position B verliert im Laufe der Zeit nicht an „Relevanz“, kann aus keiner zukünftigen Position „weggedacht“ werden. Aber obwohl Position B in jeder zukünftigen Position enthalten ist, ist sie – und das ist der entscheidende Punkt – zukünftig nicht mehr verfügbar. Diese Struktur besitzt Geltung für Bewegungsprozesse, im Grunde aber für alle Formen reiner Praxis im aristotelischen Sinne (Kap. 2.2.2). Anders, wenn jemand an Position B eine sichtbare Spur hinterlassen hat (z.B. eine Höhlenmalerei, eine Feuerstelle, eine Flagge). Dann nämlich ist Position B nicht nur als Zwischenstation in der aktuellen Position enthalten, sondern aus der früheren Anwesenheit der Person in B ist etwas zurückgeblieben, das genau so bleibt, wie es zurückgelassen wurde (wenn man, wiederum um das Prinzip klar zu machen, alle Verwitterungen, Verwischungen und Überlagerungen ausschließt). Wenn die Person zu einem beliebigen späteren Zeitpunkt zu Position B zurückkehrt, ist es buchstäblich so, als habe sie B gerade erst vor einem Moment verlassen. Der Unterschied zum ersten Szenario ist folgender: Der vergangene Prozess an Position B – der jetzt allerdings ein anderer ist als der bloße „Durchgang“ (die Bewegung) durch diese Position – ist in dem gegenwärtigen Prozess der Person nicht mehr nur enthalten, sondern unabhängig von diesem Enthaltensein bleibt dieser Prozess als Spur selbst durchgängig gegenwärtig. Die Spur ihres vergangenen Prozesses kann der Person nun als Zukunft entgegenkommen, da sie dieser Spur zukünftig „wieder begegnen“, „auf sie zurückkommen“ kann. Es ist diese Möglichkeit der zukünftigen Rekursion mit den Spuren des vergangenen Prozesses, des zukünftigen (kausalen und temporalen) Kurzschlusses mit dem vergangenen Prozess, welche das entscheidende Surplus markiert, das mit der Produktion materieller Spuren in die Welt kommt und das im Effekt eine Akkumulation des Vergangenen erlaubt: Die Ansammlung von immer mehr Spuren und die Kombination von Spuren zu immer komplizierten Ensembles kommt Akteuren als eine Zukunft entgegen, in der – entsprechend – immer mehr und diversere Rekursionen und – allgemein – immer mehr und diversere Prozesse möglich werden. Die Fülle der Spuren stellt sich dar als die Fülle des Zukünftigen. Das ist das Prinzip der Potentialität aller entstandenen Dinge.

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Der Sachverhalt ist so grundlegend, dass seine Entfaltung als Trivialität erscheinen muss. Andererseits führt seine konsequente Beachtung auf ein m.E. kontraintuitives Verständnis von Zeitlichkeit. So etwa auf die Einsicht, dass es gerade die technologisch avanciertesten Gesellschaften sind, die, mittels Spuren, vergangenen Prozessen ein Höchstmaß an Aktualität zumessen: sie sind in ihrem alltäglichen Vollzug „der Vergangenheit viel mehr verhaftet“ (mobilisieren viel mehr und diversere Spuren) als „traditional orientierte“ Gesellschaften. Insgesamt impliziert, wie Latour deutlich machen wird (Kap. 4.1.1), der Begriff der Spur die Unmöglichkeit, Gegenwart als Gleichzeitigkeit zu denken. (6) Wenn alle Entitäten, die als Resultat von Prozessen entstanden sind, als „Spuren“ dieser Prozesse bezeichnet werden können, wird man fast alle lebensweltlich anzutreffenden Entitäten als Spuren bezeichnen zu können. Die Möglichkeit seines inflationären Gebrauchs scheint einen Begriff aber zu entwerten; so auch im Fall des Begriffs der Spur. Der Wert des Begriffs liegt aber darin, dass entstandene Entitäten üblicherweise nicht als Spuren angesprochen werden und dass die Verwendung des Begriffs somit einer nicht-trivialen Fokussierung des Blicks entspricht: Bezeichnet man eine Entität als „Spur“, pointiert man ihre Herkunft und betrachtet ihre Gegenwart – und ihr Einbezogensein in gegenwärtige Prozesse – als die Zukunft ihrer Vergangenheit. Ihre Gegenwart ist, aus der pointierten Perspektive ihrer datierbaren Entstehung betrachtet, ihre Zukunft. Symmetrisch zum Begriff der Spur verhält sich der Begriff des Prozessors bzw. der Potentialität: Bezeichnet man eine Entität als Prozessor / Potentialität, pointiert man ihre Zukunft und betrachtet ihre Gegenwart als die Vergangenheit ihrer Zukunft. Ihre Gegenwart ist, aus der pointierten Perspektive ihres zukünftigen Prozesses betrachtet, ihre Vergangenheit. Beide Begriffe haben denselben Gegenstand: Eine Entität ist als materielle Konfiguration in einem datierbaren Prozess entstanden und hält sich als Potential für (den Einbezug in) zukünftige Prozesse bereit. Das Moment, dass sie sich in der Zeit durchhält und in diesem Sinne bereithält, ist das konstitutive Moment sowohl ihres Spur-Seins wie ihres Potential-Seins (Kap 2.2.2). Die Frage nach der Natur dieses „Sich-Durch-haltens“ regt eine zweifache heuristische Unterscheidung in Sachen des Spurbegriffs an. (a1) Als Spur lässt sich verstehen eine bleibende Konfiguration von Materie im physikalischen Gleichgewicht (als Resultat eines vergangenen Prozesses). Dabei scheint klar zu sein, dass unter „Konfiguration“ auf mikroskopischem Niveau letztlich immer die molekulare Choreografie einer Unzahl zusammenhängender Teilchen zu verstehen ist, die sich makroskopisch als Ding- oder Objekthaftigkeit von Entitäten darstellt. Beispiele: Artefakte, Schriften.

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(a2) Spur als bleibende Konfiguration von Materie jenseits des physikalischen Gleichgewichts. Auch diese Konfiguration ist mikroskopisch als Choreografie von Teilchen zu verstehen, jedoch so, dass sich diese Choreografie nur erhält, wenn fortlaufend Materie oder Energie nachströmt. Beispiele: Gedächtnisspuren, Körper.8 – Eine zweite Unterscheidung liegt quer zu dieser ersten: (b1) Spuren sind selbige (identische), insoweit sie sich als selbige in der Zeit durchhalten. Dabei wird nicht zwischen unbelebten Dingen und belebten Körpern (oder Eigenschaften derselben) unterschieden.9 Beispiele: die einzelne Handschrift, solange sie existiert; das einzelne Artefakt als Resultat seines Herstellungsprozesses, das seine Konfiguration aufrechterhält, solange es existiert; die Mutation im Erbgut eines Körpers als Resultat seiner Zeugung, die sich durch dessen ganze Lebensdauer erhält; die Gedächtnisspur in einem Gehirn als Resultat eines Erlebens, so lange sie sich erhält. (b2) Spuren sind generische, insoweit sie sich dem Typ nach in der Zeit durchhalten. Eine generische Spur perpetuiert die „erste“, selbige, datierbare Spur eines vergangenen Prozesses, indem sie die Replikation dieser Spur ist. Beispiele: die abgeschriebene Handschrift; das Artefakt dem Typ nach, das von seiner ersten Herstellung an in identischer oder ähnlicher Weise repliziert wird; die Mutation eines Körpers, die vor zehntausenden von Jahren erstmals stattgefunden hat und sich durch alle Replikationen erhält; die Gedächtnisspur (die kulturelle Form), die, zu einem datierbaren Zeitpunkt entstanden, von Generation zu Generation als „Tradition“ weitergegeben wird. Generische Spur und selbige Spur sind keine Gegensätze: Jede generische Spur ist für sich betrachtet eine selbige (eine „solche Diese“), sonst wäre sie gar nichts. Das Thema der generischen Spur schließt an die Universalisierungsproblematik des zweiten Kapitels an. Denn die generische Spur ist die – im aristotelischen Sinne oder im Sinne Tardes – geformte Spur, die sich replizieren oder die

8

Die Unterscheidung reflektiert den grundsätzlich ganz verschiedenen Modus des SichDurchhal-tens einer Spur bei belebten oder unbelebten Entitäten. Sie geht zurück auf die Unterscheidung Ilja Prigogines und Isabelle Stengers’ zwischen Gleichgewichtsund Non-Gleichgewichtssystemen. Da es hier weder möglich und sinnvoll ist, die Unterscheidung detailliert auszuarbeiten, noch, sie ganz zu unterdrücken, sei schlicht verwiesen auf: Prigogine/Stengers 1981, 148-154, bes. 152.

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Somit wird unterschlagen, dass sich eine Spur als Lebendiges oder im Lebendigen nie als identische durchhält, sondern nur als Formation eines Stoffwechsel-Stroms. Die Redeweise des „Sich-Durchhaltens“ ist aber insoweit gerechtfertigt, als dieser Strom nicht abreißt, solange die Spur sich durchhält.

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repliziert werden kann. Insgesamt ist aber die überwältigende Mehrheit aller Spuren ungeformt. Das wird klarer, wenn man bedenkt, dass es fast keinen Prozess oder keine Interaktion gibt, die nicht irgendwelche – und sei es minimale – Spuren hinterlässt (...dieser Sachverhalt bedingt die Unmöglichkeit des „perfekten“, also vollkommen spurlosen Verbrechens) und dass andererseits replikative Prozesse nur einen Bruchteil dessen ausmachen, „was passiert“. Die meisten der hier und bei Latour interessierenden Spuren aber sind geformte und fallen in drei Kategorien: Gedächtnisspuren;10 mediale Spuren im engeren Sinne (Symbole, Zeichen, Schriften); Artefakte (hergestellte materielle Objekte). Damit ist klar, dass die allgemeine Figur der „materiellen Spur“ im Einzelnen sehr unterschiedliche Phänomene bezeichnet, die alle eigenen Logiken folgen, so etwa Spuren evolutionärer Prozesse, Gedächtnisspuren (ungeformt oder geformt), Schriften und (allgemein) Medien, Artefakte vom einfachen Handwerkszeug über Maschinen, Architekturen und großtechnische Anlagen (etwa Marx’ industrielle Produktionsmittel: „tote Arbeit“) bis hin zu autonomen Rechensystemen etc. Wenn hier die allgemeine Figur der Spur ins Spiel gebracht wird, ist es also unmöglich, die sprach-, medien- und technikphilosophischen Probleme und Paradigmen, die mit diesen Typen von Spuren und ihrer Analyse verknüpft sind, auch nur halbwegs angemessen zu behandeln. Das muss den Einzeldisziplinen vorbehalten bleiben. Andererseits erlaubt es der Zugriff über die allgemeine Figur, Zusammenhänge zu sehen, die in der Diversität der Phänomene verloren zu gehen drohen. Die Behandlung der verschiedenen Typen von Spuren wird hier je gerade so weit gehen, wie es zur Verdeutlichung der Struktur von Kollektivierungsprozessen nötig ist. Im unter Paragraph ##511 gebrachten, grundsätzlich ausgelegten Beispiel rekurriert bzw. interagiert die Person auf die bzw. mit den Spuren ihres vergangenen Prozesses. Für eine Theorie der Kollektivität ist hingegen der Fall wichtiger, dass Entitäten mit den Spuren von Prozessen interagieren, in die andere Akeure und Entitäten einbezogen waren; der Sachverhalt lässt sich wie folgt konkretisieren: (7) Paragraph ##2 handelte von der Transinteraktion von Entitäten. Interaktion zwischen raumzeitlich entfernten Entitäten wird möglich entweder durch die

10 Diese werden hier nur nebenbei behandelt, weil auch Latour sie thematisch bloß streift. Das Thema der geformten Gedächtnisspuren ist mit der Tarde’schen Theorie kultureller Formen, verstanden als tradierbare Gedächtnisspuren (erworbene Handlungsdispositionen), schon ausreichend behandelt worden. (Kap. 3.3) 11 Diese nummerierten Paragraphen werden nachfolgend als ##1 bis ##8 bezeichnet.

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Mobilität der Entitäten selbst, die sich somit in die Kopräsenz, in eine gemeinsame Gegenwart bringen; oder durch die Mobilität von materiellen Spuren ihres Handelns, welche die Entitäten hin- und herschicken, untereinander zirkulieren lassen. Allgemein scheint zu gelten: Mit je mehr und je entfernteren Entitäten eine Entität interagieren will, desto mehr andere Entitäten (Spuren) muss sie als Transport- und Speichermedien mobilisieren und zirkulieren lassen. Der Sachverhalt verweist auf den enormen materiellen, logistischen und medialen Aufwand, dessen es bedarf, wenn man, in der Terminologie Latours, „globale Orte“ oder „Makro-Akteure“ konstruieren möchte, also lokalisierte (Gruppen von) Entitäten, die mit sehr vielen anderen, womöglich weit entfernten Entitäten interagieren, in deren Prozess einen Unterschied machen: logistischer Aufwand jeder Zentralisierung. Der Satz, dass Entitäten keine reinen Medien sein können, heißt für Latour, dass sich die Spuren nicht immer als eigenschaftslose Transportmittel der abwesenden Anderen verhalten (in Latours Terminologie: als bloße „Zwischenglieder“), sondern dass sie immer wieder oder sogar in der Regel mittels Eigensinnigkeit und Dysfunktionalität darauf aufmerksam machen, dass sie selbst etwas sind (in Latours Terminologie: „Mittler“). (8) Paragraph ##3 handelte davon, dass „in“ den Entitäten, die in einer scheinbar lokalen Interaktion zusammenkommen, in Wahrheit noch ganz andere Entitäten, vermittelt durch die Spuren ihres vergangenen Prozesses, immer schon anwesend sind. Das gilt nicht nur für explizit als „Medien“ apostrophierten Spuren, sondern insbesondere auch für Artefakte, d.h. für Prozessresultate, die eher „gebraucht“ werden, als dass sie eigens dafür angelegt wären, eine translokale Interaktion vermitteln. Allgemein scheint zu gelten: Je mehr, je diversere und je kompliziertere Entitäten in einen gemeinsamen Prozess eintreten, desto mehr abwesende andere Entitäten sind spurenvermittelt in diesem Prozess anwesend, z.B. eben die Hersteller aktuell gebrauchter Artefakte. So wird man in Gegenwartsgesellschaften kaum eine Interaktion finden, in denen nicht dergestalt unzählige abwesende Andere spurenvermittelt anwesend sind: denn es gibt keine Entität, die nicht auch Medium wäre. Ein zweites grundsätzliches Surplus der spurenvermittelten Anwesenheit von abwesenden Anderen neben dem in ##5 genannten besteht dann darin, dass mit diesen Anderen, vermittelt über ihre Spuren, wiederholt interagiert werden kann, ohne dass sie wiederholt persönlich anwesend sein müssen. Das Surplus liegt auf der Hand: Der einmalig aufgespeicherte Prozess lässt sich als Spur wiederholt in neue Prozesse einbeziehen. Der wiederholte Gebrauch einer Sache erfordert, weil diese Sache eine bleibende Potentialität des wiederholten Gebrauches ist, nicht die wiederholte Herstellung dieser Sache. Im Gegenteil kann die „Wir-

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kung“ des einmaligen Herstellungsprozesses durch wiederholten Gebrauch der hergestellten Sache fast beliebig (nach Maßgabe der Haltbarkeit der Spur) potenziert werden: Die materielle Spur als Wirkung eines Prozesses kann die entferntere Wirkmacht dieses Prozesses (den späteren Gebrauch des hergestellten Objekts) beliebig aufschieben, damit aber erhalten und für beliebige Wiederholungen bereithalten. Im Gegensatz zum Prozess, der mit seiner Ausführung vergeht, kann der spurenproduzierende Prozess eine ganz erhebliche Verstärkung seiner Wirkungen oder Konsequenzen erfahren. Jeder Prozess, der keine oder keine signifikante Spur hinterlässt, wird für alle Zeiten ein rein lokaler gewesen sein. In welchem Sinne auch immer ein Prozess über seine raumzeitliche Situiertheit hinauswirkt, immer verdankt sich die überlokale Wirkung der Mobilität einer Spur dieses Prozesses. Die Wirkungsverstärkung des spurenproduzierenden Prozesses wird umso eklatanter dort, wo man von der selbigen zur generischen Spur übergeht, wo also das erste – selbige – Exemplar einer Spur vervielfacht wird: Denn damit wird auch der Unterschied, den diese erste Spur macht, vervielfacht. 4.1.1 ANT und die Entfaltung der Spuren Im Folgenden wird die Behauptung, spurenvermittelte Interaktion mit abwesenden Anderen markiere ein Grundmotiv des Latour’schen Denkens und der ANT überhaupt, im Grundsatz plausibilisiert. Als Einstieg bietet sich ein längeres Zitat aus NSNG an, in dem Latour in allgemeinen Termini die Möglichkeit einer rein lokalen und rein aktuellen Interaktion ausschließt: „Keine Interaktion ist […] isotopisch. Was im gleichen Moment an irgendeinem Ort agiert, kommt von vielen anderen Orten, vielen entfernten Materialien und vielen weit entfernten Akteuren. Wenn wir auf einer gewöhnlichen geographischen Karte die Verbindungen projizieren wollten [z.B.] zwischen einem Vorlesungssaal und all den Orten, die in ihm zur gleichen Zeit wirksam sind, müssten wir Bündel von Pfeilen zeichnen, um beispielsweise den Wald einzuschließen, aus dem der Tisch stammt, das Managementbüro der Hochschule, von dem die Raumbelegung geplant wurde, die Werkstatt, die den Stundenplan gedruckt hat, mit dessen Hilfe wir den Raum fanden, den Pförtner, der sich um das Gebäude kümmert, und so weiter. Und dies wäre keine müßige Übung, denn jeder dieser weit entfernten Orte hat, in irgendeiner unentbehrlichen Weise, diesen Vorlesungssaal vorweggenommen und vorformatiert, indem er durch viele verschiedene Medien die Masse von Formatierungsschablonen transportiert hat, die aus dem Saal eine geeignete Lokalität machen – und die ihn immer noch stützen.

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Zweitens: Keine Interaktion ist synchron. Der Tisch ist vielleicht aus einem Baum gemacht, der in den fünfziger Jahren des letzten Jahrhunderts gepflanzt und vor zwei Jahren gefällt wurde; das Tuch des Kleids der Dozentin wurde vor fünf Jahren gewoben, während das Feuern von Neuronen in ihrem Kopf eine Millisekunde alt ist und der Bereich des Gehirns, der sich mit der Sprache beschäftigt, seit gut hunderttausend Jahren existiert […]. Was die Wörter, die sie verwendet, angeht, so wurden manche vor vierhundert Jahren aus anderen Sprachen in das Englische eingeführt, während die benutzte grammatische Regel noch älter sein dürfte; die Metapher wiederum die sie gebraucht, ist gerade einmal sechs Jahre alt, und jene rhetorische Figur stammt direkt von Cicero, doch die Computertastatur, auf der sie ihre Vorlesung getippt hat, ist frisch von Apple geliefert worden, während die Schwermetalle, die für die Koordination einiger der Kontakte im Rechner sorgen, so lange dauern werden wie das Universum. Zeit ist immer gefaltet.“ (NSNG 344ff., Kurs. teilw. eingef.)12

In die aktuelle, lokale Interaktion einbezogen sind materielle Spuren, die datierbar und mobil sind, – denen sich ein Alter zuordnen lässt und die sich, ohne ihre Bestimmtheit zu verlieren, transportieren und an anderen Orten zu lokalen Gefügen arrangieren lassen. Dabei findet man, wenn man die diversen Elemente von Latours Beispiel durchgeht, die beiden Typen von Spuren wieder, die in ##6 unterschieden wurden: Einmal solche, die als selbige aktuell vorhanden sind, die zu einem datierbaren Zeitpunkt entstanden sind oder hergestellt wurden und als selbige an den Schauplatz einer Interaktion verbracht worden sind: Holz, Tisch, Stundenplan, Kleid, Computertastatur. Und zweitens solche Spuren, die nicht als selbige, sondern dem Typ nach aktuell vorhanden sind: Die Sprache verarbeitenden Teile des Gehirns, das Wort, die grammatische Regel, die Metapher, die rhetorische Figur. Die Frage der Datierbarkeit ist in diesem Fall deutlich voraussetzungsreicher. So wird davon ausgegangen: dass ein datierbarer Prozess zu einem bestimmten Zeitpunkt (bzw. innerhalb eines eingegrenzten Zeitraums) eine Spur erzeugt hat (hier nämlich z.B. ein evolutionärer Sprung die Beschaffenheit des sprachfähigen Gehirns oder der Import eines Wortes die Disposition von Sprechern zu seinem Gebrauch), die sich dem Typ nach in der Zeit durchhält, indem sie sich fortlaufend mehr oder weniger identisch reproduziert (die Reihe der sprachfähigen Körper, die Reihe der Sprecher (Nachahmer), die zum Gebrauch

12 Vgl. für Parallelstellen etwa Latour 1996b, 229; 2002b, 249; 1995, 102f. Latours engführende Darstellung von aus Elementen verschiedensten Datums zusammengesetzten heterogenen Gefügen dürfte inspiriert sein von Michel Serres, vgl. Serres/Latour 2008, 70.

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eines Wortes, einer rhetorischen Figur etc. disponiert sind).13 Die Datierbarkeit der generischen Spur ist dabei nur in dem Maße plausibel, in dem sich die Reproduktion tatsächlich identisch vollzieht. Je mehr Differenzen sich im Laufe der Zeit in die Reproduktion einschreiben und sich selbst als Spuren weitertradieren, desto weniger scheint die Zuweisung eines Datums möglich zu sein (z.B. im Fall des kontinuierlichen etymologischen Drifts einer Wortbedeutung). Wo ein Datum zugewiesen werden kann, handelt es sich um das Datum des Ursprungs eines Universalisierungsprozesses im Sinne von Kapitel 2, etwa um das Herstellungsdatum des Siegels im neuplatonischen Siegelgleichnis. Nimmt man ernst, dass in strenger Allgemeinheit keine Interaktion isotopisch und synchron (und also jede Interaktion eine Transinteraktion) ist, dann verbietet sich die Vorstellung einer Gegenwart als Gleichzeitigkeit; dann kann Gegenwart nur als die Gegenwart des Ungleichzeitigen, des mit divergenten Datierungen Versehenen gedacht werden. Diese Sachlage führt Latour in Wir sind nie modern gewesen zur radikalen Ablehnung einer von ihm diagnostizierten spezifisch „modernen“ Form der Zeitvorstellung, derzufolge die Zeit ein „irreversibler Lauf“ oder „Pfeil“ von Gleichzeitigkeiten sei (Latour 1995, 98, 94), der durch revolutionäre Ereignisse so unterbrochen werden könne, dass sich auf einem solchen radikalen, durchgreifenden Bruch mit der Vergangenheit eine „neue Zeit“ gründen lasse.14 Wenn nämlich die Gegenwart keine Gleichzeitigkeit ein-

13 Die von Latour gewählten Beispiele zeigen an, dass, wie oben gesagt wurde, jede generische Spur auch eine selbige ist (und viele selbige Spuren auch generische). Da Latour selbst über diese Unterscheidung nicht verfügt, verwendet er hier relativ wahllos Datierungen von Spuren, die diese mal als selbige und mal als generische auffassen, während jeweils auch die gegenteilige Auffassung möglich wäre: So spricht er etwa das Holz des Tisches als selbiges an und datiert sein Alter auf etwa 50 Jahre, während er ebensogut das Datum des evolutionären Entstehungszeitraums der Baumsorte angeben, d.h. das Holz als generisches auffassen könnte. Umgekehrt spricht er eine rhetorische Figur als generische an und datiert ihr Alter auf die Lebenszeit Ciceros, während er ebensogut das Datum angeben könnte, an dem der konkrete Sprecher diese Figur erstmals gehört und als Gedächtnisspur behalten hat, d.h. die Gedächtnisspur der rhetorischen Figur als selbige auffassen könnte. 14 Vgl. Latour 1995, 93: „Die Modernen haben die Eigenart, den Lauf der Zeit so zu verstehen, dass er tatsächlich die Vergangenheit hinter sich abschafft. Sie halten sich alle für Attila, hinter dem kein Gras mehr wächst. Sie fühlen sich vom Mittelalter nicht um einige Jahrhunderte entfernt, sondern getrennt durch kopernikanische Revolutionen, epistemologische Einschnitte, Brüche mit früheren Wissensformen, die derart radikal sind, dass von dieser Vergangenheit nichts mehr in ihnen fortlebt – nichts mehr fortle-

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schließt und die Vorstellung der Gleichzeitigkeit auf einer problematischen Vergleichzeitigung aller Entitäten in der Betrachtung beruht (98), kurz, wenn es „die Gegenwart“ schlechthin nicht gibt: – dann kann es auch keinen radikalen Bruch mit „der Vergangenheit“ schlechthin geben. Die „moderne“ Zeitlichkeit bricht zusammen (100), Ungleichzeitigkeit wird zum Regelfall: „Nicht bloß die Beduinen oder die Kung vermengen Transistorradios und traditionelle Verhaltensweisen, Plastikeimer und Tierhautschläuche. […] Wir sind alle dabei, die Zeiten zu vermengen“ (102; vgl. Latour 2005b, 73ff.) – wobei „die Zeiten“ nichts anderes heißt als: materielle Spuren verschiedenen Datums. Der Sachverhalt der Gegenwart des Ungleichzeitigen wird bei Latour, wie sich hier andeutet, gelegentlich in der Terminologie der Faltung der Zeit formuliert.15 Diese Terminologie leitet sich von der Zeittheorie Michel Serres’ her, der die Vorstellung einer zerknitterten, gefalteten Zeit-Topologie entwickelt (Serres/Latour 2008, 92f.; vgl. Connor 2004), in der zwei Zeitpunkte, die in einer linearen Zeitvorstellung – auf einer flachen Zeit-Topologie – als zeitlich weit entfernt erscheinen (etwa die Lukrez’sche Physik und die moderne Strömungslehre (Serres/Latour 2008, 89)), in Wahrheit mittels Faltung benachbart sein können. Es kann hier zeitphilosophisch nicht bewertet werden, ob die Aussage, die Zeit selbst sei „gefaltet“, überhaupt als sinnhaltig betrachtet werden kann (insbesondere in ihren Konsequenzen für das Konzept der Datierung); vielmehr wird einfach die Redeweise beibehalten, nach der Prozesse datierbare materielle Spuren hinterlassen können. Die topologische Annährung entfernter Zeitpunkte, die genau die Pointe der Vorstellung einer gefalteten Zeit-Topologie bildet, stellt sich dann als der oben geschilderte „Kurzschluss“, die Rekursion eines gegenwärtigen Prozesses mit den materiellen Spuren vergangener Prozesse dar. Bei Latour deutet sich an, dass mit dem Begriff der Falte letztlich eben die Zeitstruktur der Rekursion gemeint sein könnte, wenn er nämlich von der „irreversible trace of the fold“ spricht, also die Falte selbst als irreversible Spur anspricht (2002b, 249). In jedem Fall ist der Begriff der Spur bei Latour auch als konkreter Begriff von großer Signifikanz: „Yes, we are mad about traces“ (PIC 30). Denn das Soziale bzw. die Akteur-Netzwerke bestehen für ihn wesentlich aus der Zirkulation von Spuren, also aus der spurenvermittelten Transinteraktion von Entitäten: „There is not exactly an outside to the social, if by this word […] we mean a

ben darf.“ Es ist hier nicht der Ort, eine differenzierte und ggf. kritische Einschätzung der Latour’schen Diagnose der „modernen“ Zeitvorstellung zu gewinnen. 15 Vgl. NSNG 252, 300; Latour 2008, 156; 1994, 45; 2002b

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certain form of rapid circulation of traces.” (ebd. 11)16 Diese allgemeine Definition lässt ermessen, wie weit sich der kollektive Prozess für Latour vom Prozess bloß sozialer Netzwerke abhebt, für deren Analyse es des Spurbegriffs gar nicht bedürfte. Ganz ähnlich liest man: „Ein Netzwerk besteht nicht aus Nylonfäden, Wörtern oder irgendeiner dauerhaften Substanz, sondern es ist die Spur, die ein sich bewegendes Transportmittel hinterlässt.“ (NSNG 230) Entsprechend ergibt sich die allgemeine Charakterisierung der ANT als einer „network-tracing activity“ (Latour 1997, 11): „Wenn das Soziale eine Reihe von Spuren ist [is a trace], dann kann es nachgezeichnet werden [it can be retraced]“. (NSNG 223) Es ist nicht übertrieben zu sagen, dass die Vokabel „to trace“ die Leitvokabel von Eine neue Soziologie ist, die in unablässiger Wiederholung bemüht wird, um die analytische Aktivität der ANT zu charakterisieren.17 Allerdings ist deutlich, dass Latour den Begriff der Spur zumindest überwiegend als Rekurs auf solche materiellen Spuren verwendet, die klassischerweise als „Medien“ gefasst werden und die unter diversen Bezeichnungen (Inskriptionen, tokens, immutable mobiles, Quasi-Objekte etc.) einen konstanten Fokus seiner Publikationen seit Laboratory Life bilden. Da Transinteraktionen, wie in ##6 angedeutet, aber letztlich durch jede Art von Spuren vermittelt werden können, wird diese Eingrenzung des Spur-Begriffs hier nicht mitgetragen. Das lässt sich unter Verweis auf Latours eigene Texte insofern rechtfertigen, als die spurenvermittelte Anwesenheit abwesender Anderer bei Latour faktisch eben auch eine bestimmende Eigenschaft aller Arten von Artefakten und Technologien ist. Latour macht das in dem Aufsatz On Technical Mediation (1994) deutlich, wenn er allgemein schreibt:

16 Die Definition erinnert an diejenige Tardes, der die soziale Gruppe als Nachahmungsgemeinschaft fasste; demgemäß würde man aus Tarde’scher Perspektive nicht sagen können, die Nachahmungsgegenstände disseminierten sich (qua Replikation) „in“ der sozialen Gruppe: vielmehr wird die Gruppe als „soziale“ durch diese Disseminationsbewegung erst konstituiert. Ebenso Latour: „Die Gesellschaft ist nicht das Ganze, „in dem“ alles andere eingebettet ist, sondern das, was „durch“ alles zirkuliert“. (NSNG 415; vgl. SA 257) Trotz dieser strukturellen Übereinstimmung versteht Latour besagte „Zirkulation“ nicht genau als Disseminationsbewegung kultureller Formen im Sinne Tardes, sondern als Bewegung materieller medialer Spuren (vgl. Kap. 4.1.2, 4.1.3). 17 Vgl. NSNG passim, PIC passim. „To trace“ wird in der deutsprachigen Übersetzung mit „nachzeichnen“ wiedergegeben, sollte aber buchstäblich als „einer Spur folgen“ gelesen werden.

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Technical action is a form of delegation that allows us to mobilize, during interaction, moves made elsewhere, earlier, by other actants. It is the presence of the past and distant, the presence of nonhuman characters, that frees us, precisely, from [merely lokal and actual] interactions (what we manage to do, right away, with our humble social skills). (Latour 1994, 52) „An action in the distant past, in a faraway place, by actors now absent, can still be present, on condition that it be shifted, translated, delegated, or displaced to other types of actants, those I have been calling nonhumans.“ (ebd, 50) „The relative ordering of presence and absence is redistributed – we hourly encounter hundreds, even thousands, of absent makers who are remote in time and space yet simultaneously active and present.“ (ebd., 40) „How far back in time, away in space, should we retrace our steps to follow all those silent entities that contribute peacefully to your reading this article at your desk? […] Most of these entities now sit in silence, as if they did not exist, invisible, transparent, mute, bringing onto the present scene their force and their action from who knows how many million of years past. They have a peculiar ontological status, but does this mean that they do not act, that they do not mediate action? [No.]“ (ebd., 37)18

In diesen Passagen versucht Latour, die Relation von vier Elementen zu bestimmen: (a) eine aktuelle Interaktion, in die (b) materielle Spuren vergangener Prozesse einbezogen sind („nonhumans“), (c) die vergangenen Prozesse und (d) die Entitäten, die seinerzeit in sie einbezogen waren. Die Beziehung der Elemente wird einmal ganz unproblematisch so formuliert, dass die vergangenen Prozesse („moves made elsewhere“, „an action in the distant past…“), vermittelt über ihre materiellen Spuren, in der aktuellen Interaktion gegenwärtig sein, in dieser Interaktion mobilisiert werden können (Zitat 1 und 2). In einer stärkeren Formulierung (Zitat 2 und 3) wird davon gesprochen, dass die an vergangenen Prozessen beteiligten Entitäten vermittelt durch die materiellen Spuren dieser Prozesse in der aktuellen Interaktion gegenwärtig und dabei aktiv und handelnd sein können („absent makers who are […] active and present“, „they have a peculiar ontological status, but…“). Diese Formulierung begründet die Vorstellung einer wirklichen Transinteraktion im Sinne von ##2. Dabei ist sich Latour der genannten

18 Kurs. alle eingef. – Der Artikel (Latour 1994) ist in überarbeiteter Form übersetzt abgedruckt in 2002a, 211-264; da in der Überarbeitung manche wichtige Stelle weggefallen ist, wird hier das englische Original verwendet.

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Gefahr bewusst, die materiellen Spuren (Artefakte, Technologien) könnten somit als bloße Medien einer Interaktion erscheinen, die wesentlich nur zwischen Menschen ablaufe, und positioniert sich als vehementer Kritiker von – ungenannt bleibenden – Theoretikern, die dieser Auffassung seien: „It is us, the human makers (so they say), that you see in those machines, those implements, us unter another guise, our own hard work. […] A fine story, but too late. Humans are no longer by themselves.” (1994, 41). In der Tat wäre es, erstens, wenig plausibel zu sagen, in einem Artefakt hätten sich ausschließlich seine menschlichen Hersteller vergegenständlicht. Wenn man summarisch annehmen kann, dass in jeden Produktionsprozess eine oft unübersehbare Vielzahl verschiedener Entitäten (Werkzeuge, Technologien, Materien etc.) einbezogen ist, dann ist das hergestellte Artefakt die materielle Spur eines Prozesses, dem eine verteilte Handlungsträgerschaft zu Grunde liegt, die nicht sinnvoll auf ein einziges Element, den menschlichen Hersteller, reduziert werden kann. Zweitens wären Artefakte, wie oben dargelegt, in Wahrheit auch gar nicht zu gebrauchen, wenn sie auf menschliche Hersteller „reduzierbar“ wären, da ihr ganzes Surplus nur genau daraus herrührt, dass sie nicht auf etwas anderes reduzierbar sind, d.h., dass sie selbst etwas sind. Anders könnten sie die Anwesenheit von abwesenden Anderen (Menschen und Nichtmenschen) nicht vermitteln und keine translokale und transtemporale Interaktion ermöglichen. Kurz, die Rede von der Transinteraktion schließt das scheinbare Paradox ein, dass Spuren Medien sind, dass sie aber nur Medien sein können, indem sie keine (bloßen, reinen) Medien sind. Behält man diese beiden Aspekte im Kopf, dann dürfte auch jene stärkere Formulierung (Zitat 2 und 3) grundsätzlich tragbar sein. Zusammengefasst entwirft Latour ein Szenario der Gegenwart des Ungleichzeitigen, des Einbezogenseins von Spuren verschiedensten Datums in aktuelle Interaktionen, der spurenvermittelte Anwesenheit von abwesenden Anderen, das er in Wir sind nie modern gewesen unter den Begriff einer „Transzendenz ohne Gegenteil“ bringt: „Wer hat uns gesagt, dass die Transzendenz ein Gegenteil haben muß? Wir sind, wir bleiben – wir haben die Transzendenz nie verlassen, nämlich das Gegenwärtigsein durch die Vermittlung einer Sendung. […] Diese Transzendenz ohne Gegenteil nenne ich Delegation. Der Ruf oder die Delegation oder Sendung einer Botschaft oder eines Botschafters erlaubt es, präsent zu bleiben, gegenwärtig, d.h. zu existieren.“ (1995, 171f.) Demnach gibt es keine Immanenz, kein In-sich-selbst-Enthaltensein des Gegenwärtigen; sondern das Gegenwärtige wird begründet durch die Transzendenz der Spur der abwesenden Anderen, die sich mittels Spur präsent halten, damit aber die Präsenz selbst transzendieren: Man kann „durchaus sagen, dass jede gegebene Interaktion von Bestandteilen überzufließen scheint, die bereits in der Situation vorhanden sind

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und aus einer anderen Zeit, von einem anderen Ort stammen und von anderen Existenzformen hervorgebracht werden.“ (NSNG 288; vgl. ebd., 334f., 348) 4.1.2 Artefakte Artefakte sind nicht in erster Linie Medien: die Herstellung der meisten Artefakte hat nicht den Sinn, translokale und transtemporale Interaktionen zu vermitteln. Vielmehr zielt der Einbezug von Artefakten in menschliche Praxis üblicherweise darauf, Prozesse zu ermöglichen, die nur genau von den Artefakten mit ihrer spezifischen Form und Materialität und nicht von Menschen alleine prozessiert werden können: Je mehr und diversere Artefakte vorhanden sind, desto mehr und diversere Prozesse werden möglich. Fasst man Artefakte als materielle Spuren vergangener Prozesse (##8), lässt sich das also nicht immer und ausschließlich mit dem Wunsch begründen, sie als Mittel translokaler und transtemporaler Interaktionen auszuweisen. Vielmehr rechtfertigt sich die Spur-Terminologie dadurch, dass Artefakte in dem, was sie jeweils sind, nur verstanden werden können, wenn man sie konsequent als Spuren oder Einfaltungen vergangener Prozesse begreift. (Latour 2002b, 248ff.) Das wird insbesondere dort einsichtig, wo man es mit komplizierten, aus vielen und diversen Elementen zusammengesetzten technischen Artefakten zu tun hat: Ihre Kompliziertheit entspricht dem, was in sie eingefaltet, in ihnen zusammengefaltet ist, nämlich dem Prozess ihrer Entwicklung und Herstellung, der im wissenschaftlich-technischen Vorlauf Jahrzehnte oder Jahrhunderte umfassen und unzählige Akteure und Hersteller sowie diverse, von räumlich weit auseinander liegenden Orten herstammende Materien einbegreifen kann. Die technische Spur ist die zusammengezogene Spitze, die Kontraktion eines ggf. globalen Prozesses, der als Ganzes im Prozessresultat erhalten bleibt. Derjenige, der das technische Artefakt schließlich gebraucht, wird in den Stand gesetzt, sich mit seinem aktuellen Prozess unmittelbar an diesen Spur gewordenen Prozess als Ganzen anzuschließen. Die Spur-Terminologie pointiert dabei die „Entsprechung“, also den wenn nicht linearen, so doch proportionalen Zusammenhang zwischen der Kompliziertheit des Artefakts und dem Umfang der entsprechenden Entwicklungs- und Herstellungsprozesse. Das als Wunder der Technik erscheinende fertige Artefakt erweist sich als Erstaunlichkeit einer fast beliebig umfassenden, vielteiligen, verschachtelten, raffinierten Koordination der

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Akkumulation von Spuren,19 von materiellen Resultaten kleiner und kleinster Teilprozesse und Arbeitsschritte, die alle raumzeitlich verortbar sind und deren Agenten sich prinzipiell alle ganz konkret benennen lassen, – mögen sie von Schauplatz des fertigen Artefakts raumzeitlich auch noch so weit entfernt sein. Mit dem fertigen Artefakt verschwindet die Koordination, der es sich verdankt; indem sich seine Urheber vom Schauplatz entfernen, erscheint es in seiner ganzen Selbstständigkeit (derer es auch bedarf, um brauchbar zu sein). Das kann aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass es sich mit Artefakten grundsätzlich so verhält wie etwa mit „wissenschaftlichen“ Texten: Wie jedes aus Elementen zusammengesetzte Artefakt, so ist heute jede „wissenschaftliche“ Arbeit in erheblichem Umfang nichts anderes als eine Assamblage von Spuren, eben den Zitaten und dem Gedankengut abwesender Anderer. Anders als beim Artefakt ist in der wissenschaftlichen Arbeit aber idealiter jede Spur signiert: Die Reihe der Referenzen ist die Reihe der Signaturen, mit denen die Spuren vergangener Prozesse abwesender Anderer versehen sind. Ebenso trägt jedes einzelne Element eines Artefakts und jede einzelne Zusammenfügung von Elementen die virtuelle Signatur derjenigen menschlichen und nichtmenschlichen Akteure, die die kleinen und kleinsten Teilprozesse ins Werk setzten, denen sich insgesamt das Artefakt als Spur verdankt. Jedes Artefakt ist nach Maßgabe seiner Kompliziertheit mit virtuellen Signaturen von abwesenden Anderen übersäht. Wenn also der Sinn von Artefakten meist nicht primär darin besteht, translokale und transtemporale Interaktionen zu vermitteln, gilt faktisch, dass der Gebrauch von Artefakten Transinteraktionen notwendig einschließt.20 Artefakte sind die Spur ihres Entwicklungs- und Herstellungsprozesses. Andererseits ist das fertige Artefakt ein Prozessor mehr oder weniger spezifischer Prozesse, es ermöglicht Prozesse, deren Form mehr oder weniger definiert und eingegrenzt ist: Das Artefakt kommt dem, der im Begriff ist, es zu gebrauchen, als bestimmte Zukunft entgegen, zeichnet seinen zukünftigen Prozess in gewissem Umfang vor. Diese Sachlage scheint in der aristotelischen Poiesis-Lehre dort auf, wo die formale Bestimmtheit von Artefakten zugleich als ihre funktio-

19 Latour spricht von „[t]he very complexity of the apparatuses, which is due to the accumulation of folds and detours, layers and reversals, compilations and reorderings”. (2002b, 251, Kurs. eingef.) 20 Wie oben bereits zitiert: „…we hourly encounter hundreds, even thousands, of absent makers who are remote in time and space yet simultaneously active and present.” (1994, 40) Vgl. auch Latour 2002b, 252: „Without technologies, human beings would not be as they are, since they would be contemporaneous with their actions, limited solely to proximal interactions.”

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nale Bestimmtheit erscheint. So wurde in Kapitel 2.2 festgestellt, eine Bedeutung des Formbegriffs bei Aristoteles sei die funktionale, an Gebrauch und Zweck orientierte Bestimmtheit von Artefakten. Es wurde auf Met. 1043a17 verwiesen, wo die Form eines Hauses als „geschlossener Raum als Obdach für Sachen und Personen“21 bestimmt wird. Die funktional verstandene Form einer Sache definiert, welche Prozesse sie vermag oder ermöglicht. Ein Haus gibt – seiner Form nach – seinen Bewohnern Obdach, beschützt sie vor Außeneinflüssen (Feuchtigkeit, Temperatur, Stürmen, Eindringlingen etc.), ermöglicht somit den Lebensprozess der Bewohner als ein geschütztes „Wohnen“.22 Der Formbegriff bei Aristoteles umfasst in dieser Bedeutung zweierlei: Die Prozessform (der spezifische Prozess des „Wohnens“) und die materielle Form (des Hauses: „Obdach aus Backsteinen, die so und so liegen“, Met. 1043a32f.). Dass Prozessform und materielle Form bei Aristoteles zusammenfallen, ergibt aus dem Prinzip der Reziprozität von Prozess und Prozessor (#6): Der Prozess gewinnt seine Form nur durch den Einbezug von Prozessoren, also von Entitäten, die als seine Potentialität fungieren. Allerdings ist klar, dass spezifischer Prozess und Prozessor nicht automatisch und immer schon zusammenfallen. Denn zum einen ist eben nur mehr oder weniger festgelegt, in welche Prozesse ein Objekt einbezogen werden, welche Prozesse es prozessieren kann; neue Verwendungsmöglichkeiten ergeben sich immer wieder mittels Versuch und Irrtum. Zum anderen ist denkbar, dass ein Hersteller sich eine Funktion, einen spezifischen Prozess, eine Prozessform vorstellt, ohne schon die materielle Form gefunden zu haben, die diese Funktion ausüben bzw. diesen spezifischen Prozess prozessieren könnte. In diesem Fall wird nicht einfach die funktional verstandene Form in der Seele des Herstellers (Kap. 2.2.3) in die bewährte, im Artefakt materialisierte, realiter funktionierende Form übersetzt, sondern es muss eine Funktion in eine materielle Form übersetzt werden, die funktioniert: es muss eine Form gefunden werden, die die vorgestellte Funktion prozessieren kann. Von Interesse ist jetzt die soziotechnische Umwendung dieses Motivs bei Latour und damit die nähere Bestimmung dessen, was es heißt, zu transinteragieren („to act a distance“). So gibt es eine Reihe Latour’scher Texte, die im Effekt als Bejahung der inzwischen fast klassischen Frage Langdon Winners aufgefasst werden können: „Do Artifacts have Politics?“ (Winner 1980; vgl., Joer-

21 W.D. Ross übersetzt: „a receptacle to shelter chattels and living beings“. (Aristoteles 1908ff., Vol. 8) 22 Was ein Haus seiner Form nach ermöglicht, wird ganz deutlich, wenn man betrachtet, wie sich ein Leben gestaltet, dem die Behausung fehlt, wenn man also das „obdachlose“ Leben betrachtet.

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ges 1999a, 413f., Latour 2004) Winner fragt nach den politischen Bedingungen und Effekten der Einführung und des Gebrauchs bestimmter Artefakte (Technologien) sowie nach der Möglichkeit einer durch Artefakte vermittelten politischen Einwirkung von Menschen auf Menschen. Sein prominentestes Beispiel ist das von Robert Moses, einem herausragenden New Yorker Stadtplaner, in den 1920er Jahren entworfene Verkehrssystem von Long Island; durch ungewöhnlich niedrige Überführungen an Zugangsstraßen sei die Durchfahrt der Busse des öffentlichen Nahverkehrs verhindert worden. Warum? „According to the evidence provided by Robert A. Caro in his biography of Moses, the reasons reflect Moses’s social-class bias and racial prejudice. Automobile-owning whites of `upper´ and `comfortable middle´ class, as he called them, would be free to use the parkways for recreation and commuting. Poor people and blacks, who normally used public transit, were kept of the roads because the twelve-foot tall buses could not get ghrough the overpasses.” (Winner 1980, 123f.)

Vermittelt durch die Form des Verkehrssystems hätte Moses somit politisch (diskriminatorisch) eingewirkt auf die Verteilung und Mobilität verschiedener Bevölkerungsgruppen im öffentlichen Raum. Obwohl Winners konkretes Beispiel in jüngerer Zeit erheblich in Zweifel gezogen worden ist,23 erscheint grundsätzlich als plausibel, dass Akteure vermittelt durch Artefakte auf andere einwirken können in einer Weise, dass sie deren zukünftigen Prozess nicht bloß ermöglichen, sondern gemäß bestimmter politischer oder moralischer Programmatiken auch vorschreiben.24

23 Bernward Joerges (1999a) zeigt, dass die Moses’schen niedrig überführten Zugangsstraßen nicht die einzigen zu den Erholungszonen Long Islands waren und sind (1999a, 417f.), dass Moses zumindest keine explizit rassistischen Politiken verfolgte (418f.) und dass die von ihm gewählte Höhe der Überführungen seinerzeit standardmäßig verwendet wurde (419). Damit bricht Winners Argument zusammen (vgl. zur Disskussion auch den Kommentar von Woolgar/Cooper 1999 und Joerges Antwort (1999b)). Die Validität des Arguments und der Gegenargumente kann hier nicht inhaltlich überprüft werden. 24 Es wird an dieser Stelle kein elaborierter Politikbegriff zu Grunde gelegt. Gemeint ist bloß die gezielte, interessegeleitete Einwirkung von Akteuren auf Akteure im Modus einer Vorschrift bzw. eines Sollens. Dass mit dieser Bestimmung „politische“ und „moralische“ (Latour 2002b, 253; 2008, 152, 157) Einwirkungen kaum unterschieden werden können, ist unbefriedigend, hier aber hinzunehmen.

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Das wird besonders deutlich, wenn es um Fragen des Zugangs zu Gütern und Orten bzw. der Verfügung über Güter (Eigentumsfragen) geht. Artefakte wie Türen, Schlösser und Schlüssel, Mauern, Zäune und Schranken, Safes, elektronische Sicherheitssysteme, Zugangssperren bei (z.B. Getränke-, Geld) Automaten, Zugangssperren (coderegulierter Zugang) im Internet, Verschlüsselungstechniken in der Telekommunikation etc. sind, wie Latour betont,25 nicht vor allem Ausdruck von Ordnungen des Zugangs und des Eigentums, sondern sind selbst Produzenten dieser Ordnungen, indem sie die Kosten unberechtigter Zugänge und Aneignungen erhöhen und den Bruch mit den Ordnungen wenn nicht verunmöglichen, so doch unwahrscheinlicher machen. „We have been able to delegate to nonhumans not only force as we have known it for centuries but also values, duties, and ethics. It is because of this morality that we, humans, behave so ethically, no matter how weak and wicked we feel we are. The sum of morality does not only remain stable but increases enormously with the population of nonhumans.” (Latour 2008, 157)26 Das kann sicher nicht heißen, dass etwa die Eigentumsordnung eigens von den genannten Artefakten produziert wird; aber in Absehung von ihnen könnte sie in ihrer bestehenden Form tatsächlich kaum aufrecht erhalten werden (ebd., 152).27 Die Frage „Do Artifacts have Politics?“ hat bei Langdon Winner aber noch weitere Bedeutungsdimensionen. So fragt er (1980, 125ff.) am Beispiel des in den späten 1940er Jahren entwickelten mechanischen Tomatenpflückers nach den sozialen Konsequenzen der Einführung neuartiger Technologien, nach den sozioökonomischen Gewinnern und Verlierern dieses Prozesses (im seinem Beispiel: Agro-Industrie vs. rurale Gemeinden). Und er fragt danach, inwieweit die Handhabung bestimmter Technologien eine bestimmte, etwa hierarchische soziale Organisation verlangt oder begünstigt,28 sei es innerhalb eines technischen

25 Vgl., in anderen Zuammenhang, Latour 2000, 18f. 26 Vgl. Latour 2002b, 253: „[W]e should recognize that a substantial part of our everyday morality rested upon technological apparatuses.” 27 Vgl. Latour zum Beispiel des Berliner Schlüssels: “The very notion of discipline is impracticable without steel, without the wood of the door, without the bolt of the locks. The proof? Owners did not succeed in constructing a social relation solidly established on dicipline, on verbal coercion, on printed notices, on warnings or the gentleness of customs.” (2000, 19) 28 „Alfred D. Chandler in The Visible Hand […] presents impressive documentation to defend the hypothesis that the construction and day-to-day operation of many systems of production, transportation, and communication in the nineteenth and twentieth centuries require the development of a particular social form – a large-scale centralized,

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Systems (Form des Unternehmens) oder in seiner gesellschaftlichen Umwelt (Form der politischen Organisation) (ebd., 128ff.). Das sind Fragen, die grundsätzlich in den Themenbereich einer Theorie der Kollektivität fallen, insofern sie zu bestimmen versuchen, wie der Einbezug neuartiger Artefakte in einen gegebene Interaktionszusammenhänge die Relationen aller anderen Elemente transformieren bzw. wie solche Zusammenhänge um „zentrale“ Artefakte herum aufgebaut werden können. Aufgrund der eklatant empirischen Natur dieser Fragen wie aufgrund der Tatsache, dass die ANT diesbezüglich kaum verallgemeinerbares Material liefert, werden sie hier aber nicht weiter behandelt. Stattdessen ist Latours Beitrag zur Analyse einer Politik der Artefakte zu untersuchen. So fällt auf, dass die Artefakte und Technologien, denen sich Latour in Aufsätzen eingehender widmet, fast durchgehend soziotechnischen Charakter haben. Versteht man, in Anschluss an Aristoteles’ Begriff der funktionalen Form, die Funktion von Artefakten nicht als einen zu ermöglichenden, sondern als einen vorzuschreibenden Prozess, dann wird die Übersetzung der Vorschrift in eine materielle Form zu einem Akt sozialer Poiesis: Akteure wirken darauf hin, dass ein spezifischer Prozess von anderen Akteuren an anderen Orten zu anderen Zeiten verbindlich ausgeführt wird, indem sie eine Spur produzieren, die als Prozessor dieses Prozesses fungiert. Dieses Vorgehen beschreibt Latour mit einer ganzen Reihe mehr oder weniger synonymer Begriffe wie „Delegation“, „Verschiebung“, „Trans-kription“ und „Vermittlung“,29 unter denen der Begriff der „Übersetzung“ (translation) hervorsticht. Inspiriert von Michel Serres hat Michel Callon den Übersetzungsbegriff Anfang der 1980er Jahre in das sich entfaltende ANT-Paradigma eingebracht.30 Der Begriff hat seitdem erhebliche Bedeutungsverschiebungen erfahren, die zur Folge haben, dass er hier nur in Aspekten aufgegriffen werden kann. Die interessierende Definition lautet: „[T]ranslation, the means by which we inscribe in different matter features of our social order.“ (Latour 1994, 46) Akteure realisieren, nochmal, soziale Ordnung nicht allein in face-to-face-Interaktionen, sondern auch dadurch, dass sie Vorschriften erwünschten Verhaltens31 in die Funktion von Artefakten übersetzen. Die im Kontext der ANT einschlägigen – an sich

hierarchical organization administered by highly skilled managers. Typical of Chandler’s reasoning is his analysis of the growth of the railroads.” (Winner 1980, 131) 29 Vgl. Latour 2008, 154 (siehe dort auch Fn. 6); 1994, 31ff. 30 Callon verweist (2006, 65, Fn.8) ohne nähere Angaben auf Serres 1992. Vgl. Callon 1986 31 Latour spricht auch von „Handlungsprogrammen“ (vgl. 1994, 34) oder, unter Rückgriff auf Madleine Akrich (1992, 208; vgl. Latour 1994, 31), von „Skripten“.

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schlichten, von Latour aber minutiös analysierten – Beispiele sind etwa folgende: Das Skript des Hausbesitzers „Please bolt the door behind you during the night and never during the day“ (2000, 17) wird übersetzt in die Disposition des „Berliner Schlüssels“, der erzwingt, dass, wenn man beim Betreten oder Verlassen seinen Schlüssel nicht in der Tür steckenlassen möchte, die Tür hinter sich jeweils wieder abschließen muss. – Das Skript des Autoherstellers und Gesetzgebers „IF a car is moving, THEN the driver has a seat belt“ (2008, 152) wird übersetzt in die Disposition des Fahrzeugs, den Schriftzug „FASTEN YOUR SEATBELT“ im Armaturenbrett anzuzeigen und einen Warnton erklingen zu lassen, sobald der Fahrer unangeschnallt losfährt, und das ihn somit dazu bringt, sich anzuschnallen. – Das Skript der Universitätsleitung Drive slow on campus (1994, 38) wird übersetzt in die Beschaffenheit der Straßenschwelle aus Beton, die den Fahrer dazu bringen, langsam zu fahren, um das Auto nicht zu beschädigen. – Das Skript des Hoteliers „Bitte lassen Sie Ihren Zimmerschlüssel an der Rezeption, bevor sie das Hotel verlassen“ (2006c, 370) kann realisiert werden durch persönliche Hinweise und Schilder, oder es kann (zusätzlich) übersetzt werden in einen schweren, unförmigen Schlüsselanhänger, der die Gäste dazu bringt, den Schlüssel beim Verlassen des Hotels gerne abzugeben. – Das Skript der Instituts-Mitarbeiter „Keep The Door Closed“ (2008, 152) wird übersetzt in die Funktion eines automatischen Türschließers. Schlüssel, Anzeigen und Warntöne, Straßenschwellen, Schlüsselanhänger, Türschließer: Eine Latour’sche Galerie von Spuren, in deren Disposition Skripte als Potentialitäten übersetzt worden sind. Die Planung und Herstellung solcher Spuren sind ein Weg, Transinteraktionen zu realisieren. Trotz ihrer Schlichtheit fordern die Beispiele zwei Bemerkungen heraus: (1) Gewählt werden ausschließlich Skripte, die auch durch menschliches Handeln allein realisiert werden könnten. Das ist nicht der Regelfall, da die von Artefakten prozessierten Prozesse zumeist gerade nicht von Menschen allein zuwege gebracht werden können. Die Wahl der Beispiele erlaubt es aber, die Logik und das Surplus der Übersetzung von Skripten in die Potentialität von Artefakten klar herauszustellen. Dabei ist festzuhalten, dass ein Skript auf verschiedenen Wegen, mittels verschiedener Übersetzungen und dabei mit unterschiedlichem Erfolg realisiert werden kann, Wege, die aber alle die Produktion von Spuren einbegreifen. Dieser Punkt wird bei Latour selbst nur implizit deutlich. (Latour 2008, 159) So können alle gewünschten Adressaten eines Skripts unter Bedingungen der Kopräsenz (ggf. unter Androhung von Sanktionen) aufgefordert werden, sich in

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bestimmter Weise zu verhalten. Man generiert so in den Adressaten eine Gedächtnispur als Handlungsdisposition, welche die korrekte Ausführung des Skripts in gewissem Umfang gewährleisten kann. Dieser Umfang ist häufig gering. Eine weitere Möglichkeit besteht darin, die Realisation des Skripts an einzelne, mit dieser Realisation beauftragte Personen zu delegieren. Der Delegierte wird mit Gedächtnisspuren (von Instruktionen, Lehren, Lehrgängen etc.) ausgestattet, die ihn dazu bringen sollen, vermittelt durch seinen Prozess das Skript insgesamt zu realisieren. Eine dritte Möglichkeit besteht darin, Zeichen, Schriften, Schilder am Ort eines Geschehens anzubringen, die das gewünschte Skripte artikuliert. Diese materiellen Spuren fungieren – wenn sie denn wahr- und ernstgenommen werden – als extramentales Gedächtnis des Skripts und steigern die Chancen seiner Realisation. Und schließlich besteht die beschriebene Möglichkeit, die Handlungsprogramme unmittelbar in die materielle Spur von Artefakten als deren Potentialität zu übersetzen. Latour charakterisiert diese Übersetungs- oder Delegationstypen, indem er zwischen der Delegation an Gedächtnisspuren und der Delegation an Artefakte unterscheidet: Die Gedächtnisspur erweist sich als weniger datierbar, weniger dauerhaft und weniger handlungswirksam als die extramentale materielle Spur. So besteht zwar der Vorteil der Delegation eines Handlungsprogramms an einen einzelnen menschlichen Delegierten gegenüber der „Delegation“ an alle Adressaten, einzeln genommen, in der Möglichkeit, die Arbeit der Delegation zu konzentrieren: „The advantage is that you have to discipline only one human and may safely leave the others to their erratic behavior.“ (2008, 156) Aber auch die Einsetzung von Delegierten bleibt mit dem Problem der Unsicherheit behaftet: „[N]othing can be done to prevent the groom who has been reliable for two months from failing on the sixty-second day.” (ebd.) Das ist bei der Delegation an extramentale materielle Spuren so nicht der Fall, wie sich an der Gegenüberstellung der Delegation an Nichtmenschen und der an Menschen verdeutlichen lässt: „Although they appear to be similar delegations, the first one is concentrated at the time of installation, whereas the other is continuous; more exactly, the first one creates clear-cut distinctions between production, installation, and maintenance, whereas in the other the distinction between training and keeping in operation is either fuzzy or nil. The first one evokes the past perfect (‘‘once hinges had been installed…’’), the second the present tense (‘‘when the groom is at his post…’’). There is a built-in inertia in the first that is largely

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lacking in the second. The first one is Newtonian, the second Aristotelian (which is simply a way of repeating that the first is nonhuman and the other human). A profound temporal shift takes place when nonhumans are appealed to; time is folded.“ (2008, 156)

Demnach erfordert die Gedächtnisspur zur Aufrechterhaltung ihrer Handlungswirksamkeit laufende Investitionen, ihre Installation ist weniger einmalig (und daher weniger eindeutig datierbar) als die einer extramentalen materiellen Spur. An dieser letzteren hingegen zeigt sich, was oben allgemein über Spuren gesagt wurde: Ihre Gegenwart ist die Zukunft ihrer Vergangenheit („past perfect“) (##6); sie erlauben die wiederholte Rekursion mit dem einen Resultat vergangener Prozesse (##8), sind in diesem Sinne als „gefaltete“ Zeit aufzufassen (Kap. 4.1.1) und erlauben die Realisation von Transinteraktionen. (2) In Latours Beispielen tritt der instrumentelle Charakter von Artefakten stärker hervor als in anderen Fällen, wo die Neuartigkeit und Irreduzibilität der von Artefakten ermöglichten Prozesse diese viel eher nicht als Mittel, sondern selbst als Zwecke, als Inventionen zumal situativ im Gebrauch immer weiter auszuforschender Möglichkeiten erscheinen lässt. Hierin liegt eine gewisse Ironie, ist Latour doch erklärter Gegner einer instrumentellen Technikauffassung: „If we are not careful, we would reduce technologies to the role of instruments that ‘merely’ give a more durable shape to schemes, forms, and relations which are already present in another form and in other materials. To return to an example which has been very useful to me: traffic calming devices are not ‘sleeping policemen’ simply made of concrete instead of flesh and bone. If I consider calming devices as mediators properly speaking, it is precisely because they are not simple intermediaries which fulfil a function.” (2002b, 250)

Genau das, vor dem Latour hier warnt, dürfte aber gerade im Fall der von ihm analysierten Soziotechniken sehr wohl der Fall sein, – wenigstens dort, wo diese die gewünschten Prozesse tatsächlich prozessieren. Anders lässt sich die Redeweise von der „Übersetzung” definierter, vorweg bestehender „Skripte“ in „andere Materien” kaum verstehen. Es ist nicht zu leugnen, dass Latour sich schwertut, die Kategorie der Instrumentalität und das Verständnis von Technologien als Mittel („Zwischenglieder“) nachhaltig und begrifflich schlüssig abzustreifen. So liest man etwa: „It seems to me that it is more adequate to speak about technologies in the mode of the detour than in that of instrumentality.” (ebd., 251) Und wenige Zeilen später, den Eindruck illustrierend: „When we say there is a technical problem to resolve, we precisely wish to introduce the ad-

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dressee to the detour, to the labyrinth that he will have to confront before pursuing his initial objectives.” (ebd.) Dass man den Umweg über die Lösung eines technischen Problems gehen muss, um sein „ursprüngliches Ziel” zu erreichen, ist aber gerade keine Abkehr von einer instrumentellen Technikauffassun: Umweg und Instrumentalität sind hier keine Gegensätze. Vielmehr gilt, dass erst wenn der Umweg sich verliert, endgültig zum Abweg wird, das Modell der Instrumentalität in sich zusammenfällt. Latour schreibt denn auch ganz richtig: „If we fail to recognize how much the use of a technique, however simple, has displaced, translated, modified, or inflected the initial intention, it is simpliy because we have changed the end in changing the means, and because, through a slipping of the will, we have begun to wish something else from what we at first desired. If you want to keep your intentions straight, your plans inflexible, your programmes of action rigid, then do not pass through any form of technological life. The detour will translate, will betray, your most imperious desires.” (ebd., 252)

In seinen konkreten Analysen der genannten Soziotechniken allerdings vermag es Latour nicht, diese Verschiebungen und Abwege wirklich deutlich zu machen.32 Das Problem der Instrumentalität von Artefakten ist rückführbar auf die oben getroffenen zweideutigen Aussagen zu Spuren als Medien (##2, ##3). Es wurde dort gesagt: (a) es gibt keine Spur, die nicht ein Medium (ein Mittleres, ein Mittel) von abwesenden Anderen (mit ihren Dispositionen, Intentionen und Zielen) ist, und (b) es gibt keine Spur, die nur ein Medium von abwesenden Anderen ist, – was weiter zu dem Paradox verschärft wurde, dass etwas (a) ein Medium nur ist (sein kann), indem es (b) kein Medium ist. Diese Beschreibung aber lässt aber leicht entparadoxieren mittels Beschreibung des zu Grunde liegenden Gesamtprozesses: Spuren sind Resultate von Prozessen, in die jetzt abwesende andere Entitäten seinerzeit einbezogen waren. Pointierung (a) fokussiert auf den vergangenen Prozess und hierin auf die an ihm beteiligten Entitäten und defokussiert das Prozessresultat. Pointierung (b) fokussiert auf das Prozessresultat in seiner materialen Anwesenheit in der gegenwärtigen Interaktion und defokussiert den vergangenen Prozess und die an ihm beteiligten Entitäten. Aber diese Fokussierungen und Defokussierungen sind Blicke auf ein und denselben Prozess, eben auf die materiale Vorgeschichte einer aktuellen Interaktion. Das Para-

32 In dieser Hinsicht gelungener ist Latours Analyse des Schusswaffengebrauchs in Latour 1994, 30ff.

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dox entsteht nur durch die Vergleichzeitigung der Vorgeschichte. Latour müht sich an diesem Punkt: „[W]e cannot fall back on materialism either. In artifacts and technologies we do not find the efficiency and obdurancy of matter, imprinting chains of cause and effect onto malleable humans. The speed bump is not made of matter, ultimately. It is full of engineers and chancellors and lawmakers, commmingling their wills and their story lines with those of gravel, concrete, paint, and standard calculations. The mediation, the technical translation, that I am trying to understand resides in the blind spot where society and matter exchange properties.“ (1994, 41)33.

Dass die Straßenschwelle in letzter Instanz nicht „aus Materie besteht“, dass sie voll von Ingenieuren, Universitätspräsidenten und Gesetzgebern sei, muss als Rückfall hinter die Präzision der Beschreibung des Sachverhalts gesehen werden, die man, wie zitiert, bei Aristoteles findet: „No material part comes from the carpenter to the material, i.e. the wood in which he works, nor does any part of the carpenter's art exist within what he makes, but the shape and the form are imparted from him to the material by means of the motion he sets up. It is his hands that move his tools, his tools that move the material; it is his knowledge of his art, and his soul, in which is the form, that moves his hands or any other part of him with a motion of some definite kind, a motion varying with the varying nature of the object made.“ (GA 730b12-19)

Das ist die korrekte Beschreibung: An dem Prozess, dessen materielle Spur das Artefakt ist, sind Entitäten beteiligt, die durch ihre Konstitution, ihre Interessen, ihre Intentionen etc. den Ablauf des Prozesses – the „motion“ that is „set up“ – beeinflussen. Das heißt nicht, dass sie am Ende als Entitäten „im“ Artefakt „enthalten“ wären. Sondern das Artefakt ist die Spur ihres Wirkens, das von ihrer Konstitution prozessiert wird. Ob sich dann im Gebrauch des Artefakts durch Dritte ein Skript realisiert, das bereits in der Intention seiner Hersteller lag, ob also das Artefakt als instrumentell in Hinblick auf diese Intention angesehen werden kann oder nicht, ist eine rein empirische Frage, die nicht prinzipiell, sondern nur von Fall zu Fall entschieden werden kann.

33 Vgl. The Berlin Key, 10: „Things do not exist without being full of people, and the more modern and complicated they are, the more people swarm through them.“

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Die von Latour analysierten Soziotechniken verdeutlichen, wie abwesende Andere vermittelt durch die Spuren ihres vergangenen Prozesses auf den aktuellen Prozess von Akteuren einwirken können. Was im Fall der Soziotechniken besonders greifbar ist, gilt tatsächlich für die Herstellung und den Gebrauch jeder Art von Artefakten. Dieser Sachverhalt kann nicht nachdrücklich genug betont werden. Er kann heute zu dem Satz verallgemeinert werden, dass die Form, unter der einem Akteur andere Akteure erscheinen, zumeist die des abwesenden Anderen bzw. die der materiellen Spur seines vergangenen Prozesses ist.34 In abwandelnder Aneignung Marxens würde man von einem wesentlich „durch Sachen vermittelten gesellschaftlichen Verhältnis zwischen Personen“ (Marx 1962, 793) oder von den wesentlich „sachlichen Verhältnissen der Personen“ (ebd., 87) sprechen.35 Ebenso würde man die „allseitige Abhängigkeit in Produktion und Konsumption“, die Marx (1974, 78) herausstellt, als „llgegenwärtige Anwesenheit abwesender Anderer in der Konsumption bzw. im Gebrauch der von ihnen produzierten Artefakte reformulieren, wobei die Marx’sche Diagnose, die allseitige Abhängigkeit bestehe faktisch „zugleich mit der Unabhängigkeit und Gleichgültigkeit der Konsumierenden und Produzierenden zueinander“ (ebd.), sich als die Diagnose darstellte, bei der spurenvermittelten Anwesenheit von abwesenden Anderen handelte es sich um einen weithin verkannten, unbegriffenen Sachverhalt. Für eine Theorie der Kollektivität hingegen wäre klar, dass abwesende Andere Kollektivitäten in ihrem Prozess in dem Maße mitkonstituieren, in dem routinemäßig Spuren vergangener Prozesse in Interaktionen von Akteuren einbezogen werden. Es bleibt zu bekräftigen, dass mit „allseitiger Abhängigkeit“ oder „allgegenwärtiger Anwesenheit...“ nicht gemeint sein kann, dass einfach alles mit allem zusammenhängt. Ebenso reicht es in Sachen einer Politik der Artefakte nicht, etwa festzustellen, Artefakte spielten eine „wichtige Rolle“ bei der „Aufrechterhaltung gesellschaftlicher Ordnung“ (auch wenn das nicht falsch ist). Denn aus der Perspektive einer Theorie der Kollektivität sind alle Entitäten raumzeitlich

34 So explizit auch Latour: „Most of the inhabitants present [in Paris] are not in human form; most human actants disappeared long ago. Yet no transcendent form binds them; it's just that objects transport the action given to them through time“. (PIC 73). Ähnlich heißt es bei John Law (2006, 432): „Wenn man die materielle Welt aus diesem Blickwinkel [der Analyse heterogener Akteur-Netzwerke] betrachtet, bedeutet dies, dass wir nicht nur essen, in unseren Häusern Schutz finden und mithilfe von Maschinen Objekte produzieren, sondern auch, dass nahezu alle unsere Interaktionen mit anderen Menschen durch die eine oder andere Art von Objekt vermittelt werden.“ 35 Ohne den Rahmen der Marx’schen Theorie bleibt diese Aneignung oberflächlich.

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genau situiert; entsprechend ist jedes Artefakt die Spur eines raumzeitlich genau situierten Prozesses, in den konkrete und durchweg individuell benennbare Akteure und Entitäten einbezogen waren: Die abwesenden Anderen bleiben, so viele es auch sein mögen, so weit sie raumzeitlich auch entfernt sein mögen und selbst wenn sie individuell nicht mehr existieren, konkrete Einzelne. Ihre Konkretion und Einzelheit verliert sich nicht mit der Zeit, sondern bleibt in ihren Spuren erhalten, so lange diese bestehen; und es sind wiederum konkrete und einzelne Akteure, die diese Spuren in ihre je gegenwärtigen Prozesse einbeziehen. Und genau das meint Latour, wenn er davon spricht, das Soziale sei „flach zu halten“ (NSNG 286ff.) 4.1.3 Lokalisierung und Globalisierung, Kontraktion und Dissemination Oben wurde die Vorstellung einer Topologie von Stätten entwickelt, die über den Austausch von Spuren, genauer: über Prozesse der Kontraktion und Dissemination von Spuren zusammenhängen.36 Diese Vorstellung sei als analytische Voreinstellung der ANT zentral. Bedenkt man, dass die Bewegungslinien selbiger menschlicher Akteure mindestens unter der Bedingung des Vorliegens sesshafter Lebensformen meist einer zirkulären Choreografie folgen, bei der wiederholt die selben Orte durchlaufen werden (typischerweise etwa Wohn- und Arbeitsstätten), dass also die Zirkulation die charakteristische Bewegungsform menschlicher Alltäglichkeit unter Bedingung der Sesshaftigkeit ist, dann signalisiert schon die Vorherrschaft der gegenüber der Zirkulation andersartigen Bewegungsformen der Kontraktion und Dissemination, dass es der ANT nicht allein um menschliche Tätigkeit, sondern um Menschen und Nichtmenschen einbegreifende Prozesse zu tun ist: Menschen zirkulieren, Artefakte und Medien aber werden kontrahiert und disseminiert. Vor diesem Hintergrund nimmt Latour eine Neubestimmung der Begriffe des Lokalen und Globalen, der Lokalisierung und Globalisierung vor. Diese Begriffe, deren Explikation dieses Kapitel gewidmet ist, bleiben bei Latour teils implizit, sind mehrdeutig und werden in ihren Konnotationen häufig nicht explizit voneinander abgegrenzt: (1) Zum einen sind zu nennen lokale vs. globale Stätten. Erstere hängen mittels Kontraktion und Dissemination von Spuren mit vergleichsweise wenigen

36 Die Verwendung der Terme Kontraktion und Dissemination ist ein Resultat der Analyse von Eine neue Soziologie und Paris Invisible City (PIC), in denen die Terme selbst nicht vorkommen.

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anderen Stätten, letztere ebenso mit vergleichsweise vielen anderen Stätten zusammen. Die Lokalität vs. Globalität einer Stätte bezeichnet also den Grad ihrer Verknüpftheit mit anderen Stätten. (2) Zum anderen lassen sich Prozesse der Lokalisierung und Globalisierung unmittelbar als Prozesse der Kontraktion und Dissemination von Spuren identifizieren. Unabhängig von ihrem Verknüpfungsgrad ist jede konkrete Stätte Effekt von Lokalisierungsprozessen, Effekt der vorgängigen Kontraktion von Spuren an Ort und Stelle. Umgekehrt meint Globalisierung die von konkreten Stätten ausgehende Dissemination von Spuren. Hiervon leitet sich eine weitere Bestimmung des Globalen als dem ab, was weithin disseminiert worden ist. Das Globale in diesem Sinne ist m.E. das Universale im Sinne von Kapitel 2. Der Bezug zur Bedeutung (1) des Globalen besteht darin, dass von einer Stätte aus umso mehr Spuren disseminiert werden können, je besser diese mit anderen verknüpft ist. (3) Schließlich gibt es bei Latour eine Identifikation des Globalen mit Begriffen wie Sozialstruktur, Milieu, Kontext etc., also mit den raumzeitlichen Mustern kollektiver Prozesse. Latour hält das so verstandene Globale als Explanans soziologischer Theorie für unbrauchbar, da sich nicht angeben lasse, wie es auf lokalisierte Interaktionen einwirken, in diesen Interaktionen einen Unterschied machen könne. Es sei denn, und das ist der entscheidende Punkt, Spuren der kollektiven Prozesse werden wiederum lokal kontrahiert und auf diesem Weg zu Gesamtbildern, Strukturen oder allgemein: zu empirischen Aussagen über das kontrahierte Geschehen weiterverarbeitet. Damit gelangt man zum epistemologischen Begriff eines kontrahierten und konstruierten Globalen bzw. zu einem Begriff von Globalisierungsprozessen als erkenntnisorientierten Kontraktionsprozessen von Daten-Spuren. Dieses Globale charakterisiert nicht nur die soziologische Erkenntnis, sondern letztlich die Resultate jeder Art von empirischer Erkenntnis, die Latour in seinen frühen Schriften exemplarisch auf Prozesse der Produktion und Kontraktion von DatenSpuren hin untersucht. Der Bezug zur Bedeutung (1) des Globalen besteht wiederum darin, dass in einer Stätte umso mehr Daten-Spuren kontrahiert werden können, je besser diese mit anderen verknüpft ist. Diese Punkte sind jetzt etwas ausführlicher zu entwickeln: (1) Latour lässt seine Analyse des Globalen und Lokalen systematisch beginnen mit einem Szenario, in dem alle Orte oder Stätten gleichermaßen als Kontrakto-

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ren und Disseminatoren von Spuren auftreten (Kap. 4.1.1) und in diesem Sinne als „sternförmig“ zu beschreiben sind.37 „Let us remember that any site will be taken as an actor network if it is the source of what acts at a distance on other sites – hence giving it a star-like shape – and is the end point of all the transactions leading to it – hence giving it the same star-like shape.“ (NSNGog 222, Fn. 304)

38

„[D]ie graphische Darstellung von Netzwerken [bietet] ein rohes, doch getreues Äquivalent für diese Assoziationen – gesehen als sternförmige Verzweigungen, deren Linien zu anderen Punkten führen, die wiederum aus nichts als aus neuen Verbindungen bestehen.“ (NSNG 230)

Betrachtet man Stätten als Quellen und Senken von ihnen weg- oder auf sie zulaufender Bewegungen, werden sie in der Repräsentation netzwerkförmig. Beispiel: „Auf diese Weise gesehen, beginnt jedes akademische Büro [...] im Bericht des Beobachters eine sternförmige Gestalt anzunehmen, es wird zu einem Zentrum umgeben von vielen strahlenförmig davon ausgehenden Linien mit verschiedenen in beiden Richtungen verlaufenden Kanälen. [...] Die durch die Feldforschung gelieferte Antwort lenkt die Aufmerksamkeit wieder zurück auf eine lokale Situation, die sich als Reihe sternförmiger Verbindungsnetze beschreiben lässt, auf denen Transportmittel verkehren (die bestimmte Typen von Dokumenten, Inskriptionen und Materialien transportieren).“ (NSNG 306)

Stätten, an denen vergleichsweise viele Spuren kontrahiert und disseminiert werden, können dann als globale oder „Makro-Orte“ (NSNG 306, 304) gefasst werden. Latour bezeichnet solche Stätten auch als „Oligoptiken“ (312) oder „Rechenzentren“ (307); wie alle Stätten konkret lokalisiert (309), sie sind globale oder makroskopische nur in genau dem Sinne, dass sie stark verknüpft sind (310, 308). Stätten hingegen, an denen vergleichsweise wenige Spuren kontrahiert und disseminiert werden, oder an denen eher kontrahiert als disseminiert

37 Latours englischer Originalbegriff ist, in NSNGog passim, meist „site“, was in der Übersetzung überwiegend mit „Ort“ wiedergegeben wird. „Site“ hat aber v.a. die Konnotation von „Schauplatz“ (eines Geschehens, einer Interaktion), weshalb hier von „Stätten“ und nicht von „Orten“ gesprochen wird. 38 Die Fußnote wurde in der deutschen Fassung an der entsprechenden Stelle (NSNG 386) aus unbekannnten Gründen unterdrückt.

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wird, sind tendenziell als lokale oder „Mikro-Orte“ (304) aufzufassen. Beide Typen von Stätten werden jedoch vom Szenario der „Sternförmigkeit“ grundsätzlich erfasst: „Kontextbauende Stätten [also globale Stätten] sehen nun aus wie die Schnittpunkte vieler Fährten von Dokumenten, die hin und her reisen, aber auch die lokalen Baustellen [also die lokalen Stätten] sehen aus wie vielfältige Kreuzungen, zu denen Schablonen und Formate hin zirkulieren.“ (NSNG 353; vgl. PIC 43ff.)

Blickt man von hier auf die Analyse von Artefakten als Spuren zurück (Kap. 4.1.2), erhält man zumindest für Industriegesellschaften das Bild einer Topologie von globalen Orten, nämlich von zentralen Produktionsstätten und Fabriken, die in der massenweisen Produktion und Dissemination von Artefakten engagiert sind, welche an vielen anderen Orten (etwa Haushalten) zu lokalen Ensembles kontrahiert und arrangiert werden. Produktionsstätten sind globale Orte im Sinne der Latour’schen Definition.39 Allerdings ist deutlich, dass Latour seine Analyse von Kontraktions- und Disseminations-prozessen nicht vor allem auf Spuren als Artefakte richtet, sondern auf andere Typen von Spuren: die obigen Zitate nennen etwa „Dokumente“, „Inskriptionen“, „Schablonen“ und „Formate“. Das weist darauf hin, dass Latour an der Analyse der Kontraktion und Dissemination medialer Spuren im engeren Sinne40 interessiert ist. (Kap. 4.1.1) Sein Hauptaugenmerk liegt dabei allerdings nicht auf den Topologien klassischer Nachrichten- und Informationsmedien, auch wenn diese Erwähnung finden. (NSNG 314) Sondern Latour konzentriert sich, von der Wissenschaftssoziologie herkommend, auf die Rolle medialer Spuren als Transportmittel für Objekte und Prozesse beliebigen Typs, die, übersetzt in „Inskriptionen“, an anderen Orten und zu anderen Zeiten verfügbar werden (NSNG 386). Sein Fokus liegt damit genau auf der medialen Ermöglichung der Anwesenheit und Verfügbarkeit von Abwesendem. Der Sachverhalt wird unten deutlicher werden. Es bleibt grundsätzlich festzuhalten, dass, wo dem Begriff der Spur ein Aspekt von Medialität intrinsisch ist, Medialität sich mit dem Aufkommen elektronischer Medien von ihrem Angewiesensein auf die Produktion von Spuren emanzipiert hat. Bei elektronischen Medien steht nicht mehr die Aufspeicherung

39 Indem Produktionsstätten zentrale Orte der Form-Replikation sind (vgl. Kap. 2), könnte man sie auch als Universalisierungszentren bezeichnen. 40 Im weiteren Sinne hat jede materielle Spur bereits strukturell eine mediale Dimension, vgl. ##1-##3.

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von Prozessen in Spuren im Zentrum, die einen gewissen Grad an Festigkeit haben und dabei mobil und replizierbar sind, sondern auf Seiten der Sender die Übersetzung von Prozessen in andere Prozesse (eben: in elektronische Übertragungsprozesse), die sich auf Seiten der Empfänger in wieder andere Prozesse (rück-)übersetzen lassen: So in der Telegrafie, der (Video-)Telefonie und in der Live-Schaltung im TV. Der Vorteil der Telekommunikation gegenüber spurbasierten Medien (die immer einen Zeitverzug einschließen, prinzipiell „Botschaften aus der Vergangenheit“ vermitteln), nämlich die Möglichkeit eines die Geschwindigkeit der elektronischen Übertragung ausnutzenden Transports von Daten fast ohne Zeitverzug,41 erweist sich dabei zunächst als der Nachteil, Sender und Empfänger auf eine Quasi-Kopräsenz zu verpflichten, von der die spurenbasierten Medien sie gerade befreit hatten. Dieser Nachteil lässt sich allerdings durch die dem elektronischen Übertragungsprozess vor- und nachgeschalteten Speichermedien weitgehend kompensieren. Der Telekommunikation gelingt es so, die Vorteile der elektronischen Übertragung mit denen der Spur zu kombinieren. Latour verhält sich nicht aktiv zur Unterscheidung von spurbasierten und elektronischen Medien. Es ist aber klar, dass sein überwiegendes Interesse Medien als Spuren gilt (Schriften, Zeichen, Symbolen auf Papier). Dabei legt sein gelegentliches Überwechseln zu Beispielen, die elektronische Medien einbegreifen, nahe, dass die – unter analytischen Gesichtspunkten zwingende – Unterscheidung zwischen spurbasierten und elektronischen Medien für ihn irrelevant ist. (2) „Lokalisierung“ bezeichnet auf einer zweiten Bedeutungsebene des Wortfelds die Kontraktion von Spuren früherer Prozesse an den Schauplatz einer lokalen Interaktion, die zur Konsequenz hat, dass keine solche Interaktion als „isotopisch“ oder „synchron“ anzusehen ist:

41 Telekommunikation arbeitet unter größtem wissenschaftlichen, technischen und infrastrukturellen Aufwand an der Illusion der Gleichzeitigkeit ggf. räumlich weit entfernt liegender Orte und Prozesse. „Illusion“ deshalb, weil die elektronische Übertragung ebenso wie der Transport medialer Spuren selbstverständlich Zeit braucht; nur in Relation zur zeitlichen Auflösung der menschlichen Wahrnehmungsfähigkeit und zumal unter der Bedingung der im kosmologischen Maßstab verschwindend kurzen terrestrischen Übertragungswege erscheint die Übertragungsdauer als praktisch vernachlässigbar. Ein Telefonat zur Sonne hingegen erforderte mindestens etwa acht Minuten zwischen Frage und Antwort, Rede und Gegenrede, und ähnelte daher kaum noch dem, was hier und jetzt unter Telefonie zu verstehen ist.

304 | K OLLEKTIVITÄTEN „Was mit dem Ausdruck „lokale Interaktion“ bezeichnet wurde, ist die Versammlung all der anderen lokalen Interaktionen, die woanders in Zeit und Raum verteilt und dazu gebracht worden sind, durch das Relais verschiedener nicht-menschlicher Akteure auf den Schauplatz einzuwirken. Diese transportierte Präsenz von Orten an andere Orte will ich als 42

Artikulatoren oder Lokalisatoren bezeichnen.“ (NSNG 334f.)

Dass jede lokale Interaktion sich als Kontraktion eines vorlaufenden Geschehens darstellt, artikulierte schon Cournot in seiner Formulierung des Zusammenlaufens einer Quasi-Unendlichkeit von „Kausalreihen“ im einzelnen, raumzeitlich situierten Ereignis (Kap. 3.2.2). Latour reformuliert dies als Produktion von Lokalitäten, als Kontraktion selbiger oder generischer Spuren verschiedensten Datums am Schauplatz jeder lokalen Interaktion. Die Kontraktion begründet seine Vorstellung von der Ungleichzeitigkeit des Gegenwärtigen, die oben ausführlicher dargestellt wurde und die den Kern seiner Ablehnung gegenüber Soziologien bildet, die rein aktuelle Face-to-face-Interaktionen zwischen Menschen zum Ausgangspunkt ihrer Analysen machen. (NSNG 343ff.) „Globalisierung“ hingegen meint den Prozess der von konkreten Lokalitäten ausgehenden Dissemination von Spuren. Je mehr Spuren von einer Stätte her disseminiert werden, desto mehr spurenvermittelten Einfluß hat die Stätte auf das Geschehen an anderen Stätten. Handelt es sich bei den disseminierten Spuren um generische Spuren gleichen Typs, ist der Globalisierungprozess als Universalisierungsprozess anzusprechen. Hieraus leitet sich ein Verständnis des „Globalen“ ab, das darauf hinausläuft, das als „global“ anzusehen, was weit verbreitet ist, etwa gewisse kulturelle Formen. So nimmt Latour etwa wissenschaftliche Theorien und Erfindungen als „die extremsten Beispiele dafür, wie kleine Innovationen schließlich zu einer „Makro“-Eigenschaft der „ganzen Welt“ werden können“ (NSNG 311), und bezieht sich dabei explizit auf Tardes Konzept der Nachahmungsstrahlen (ebd.). Da Latour das Thema nicht elaboriert, sei für ein näheres Verständnis des Globalen als dem Universalen bloß auf Kapitel 2 und 3.3 verwiesen.

42 Diese letztere Formulierung erscheint als etwas unglücklich (ebenso im Original: „It is the transported presence of places into other ones that I call articulators or localizers.” NSNGog 194). Denn ein Lokalisator ist – semantisch betrachtet – etwas, das lokalisiert, das den Prozess der Lokalisierung ausführt, während die „transportierte Präsenz“ bereits das Ergebnis der Lokalisierung ist. Daher wird hier schlicht von Lokalisierungsprozessen gesprochen.

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(3) Latours Begriffsbestimmungen des Lokalen und Globalen, der Lokalisierung und Globalisierung sind explizit gegen die in der Soziologie des 20. Jahrhunderts prominent figurierende Unterscheidung zwischen akteurs- bzw. interaktionszentrierten Ansätzen einerseits und systemischen bzw. strukturalistischen Ansätzen andererseits gerichtet. (NSNG 12ff.) Die Vorstellung, lokalisierte Interaktionen zwischen kopräsenten Akteuren einerseits fänden innerhalb eines „globalen Rahmens“, innerhalb von „Strukturen“ und „Kontexten“, innerhalb einer „Makro-Dimension“ und gar innerhalb einer „Gesellschaft“ andererseits statt, wird von ihm abgelehnt. Denn: „Wenn man irgend eine lokale Stätte „innerhalb“ eines größeren Rahmens situiert, ist man gezwungen, [vom einen zum anderen] zu springen. Damit gibt es einen Abgrund zwischen dem, was einschließt, und dem, was eingeschlossen wird, zwischen dem Globaleren und dem Lokaleren.“ (NSNG 300)

Latour hält diesen „Abgrund“ aus prinzipiellen Gründen für unüberwindbar (Latour 1996b, 232) und setzt gegen die hergebrachte Unterscheidung die Analyse dessen, was, von konkreten, einzeln nachverfolgbaren anderen Orten und Zeiten herkommend, in einer gegebenen Interaktion einen Unterschied macht. „[W]ir [dachten uns] zwei Lösungen aus, um den Drang zu unterbrechen, der den Beobachter von der lokalen Interaktion zum Kontext springen ließ oder von der Struktur zur situierten Praxis. Der erste Schritt verlegte das Globale, Kontextuelle und Strukturelle in winzige Orte hinein; er erlaubte uns herauszufinden, durch welche Zirkulation in beiden Richtungen diese Orte eine Relevanz für andere [Orte bzw. für das an anderen Orten stattfindende Geschehen] erlangen konnten. Der zweite Schritt transformierte jede Stätte in den provisorischen Endpunkt einiger anderer Stätten [bzw. der von anderen Stätten ausgeübten Wirkungen], die in der Zeit und im Raum verteilt waren; jede Stätte wurde so zur Resultante von Existenzformen, die von ferne agieren.“ (NSNG 378f.)

Das zu Grunde liegende Problem lässt sich noch etwas genauer fassen. Es entzündet sich letztlich daran, dass aus der Perspektive einer raumzeitlich lokalisierten Interaktion allein die in sie einbegriffenen Akteure, Entitäten und Spuren unmittelbar anwesend sind, alle anderen, an anderen Orten und zu anderen Zeiten auf der Erdoberfläche stattfindenden Interaktionen hingegen abwesend (#2, #4). Das ist der rein logische Grund dafür, warum kein „globaler Rahmen“ etc. auf eine lokalisierte Interaktion einwirken kann: Die abwesenden anderen Interaktionen mögen zwar, wenn man ihrer Performanz über die Zeit folgt, raumzeitliche Muster und in diesem Sinne „Strukturen“ zur Geltung bringen, die man zu-

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sammengenommen als ihre „globalen“ Eigenschaften ansprechen könnte; aber indem diese Interaktionen jederzeit raumzeitlich verstreute bleiben, wirken sie unmöglich als globale, als Strukturen etc. auf eine gegebene lokalisierte Interaktion ein.43 Es sei denn – und hier kommt Latours dritte Konnotation des Globalen ins Spiel –, Spuren der abwesenden anderen Interaktionen werden an einem raumzeitlichen Punkt kontrahiert. Dann nämlich können in der Tat die in der Kompilation (im „Gesamtbild“) der Spuren sich zeigenden Strukturen und globalen Eigenschaften dieser Interaktionen in toto in einer gegebenen lokalen Interaktion einen Unterschied machen. Zudem kann, und das ist entscheidend, das Globale einzelnen lokalisierten Akteuren somit überhaupt erst als solches erscheinen. In diesem Sinne existiert das Globale für Akteure nur als kontrahiertes. Latour entwickelt diesen Zusammenhang nicht ganz explizit,44 es ist aber klar, dass er für ihn entscheidend ist, wenn er bemerkt: „[W]ir müssen die praktischen Wege berücksichtigen, auf denen das Wissen über das Handeln der anderen tagtäglich produziert wird“ (NSNG 303) und an anderer Stelle fortfährt: „Selbst wenn die Frage recht seltsam – wenn nicht gar von schlechtem Geschmack zu zeugen – scheint: Wann immer jemand von einem „System“, einer „globalen Eigenschaft“, einer „Struktur“, einer „Gesellschaft“, einem „Imperium“, einer „Weltwirtschaft“, einer „Organisation“ spricht, sollte der erste ANT-Reflex darin bestehen zu fragen: „In welchem Gebäude? In welchem Büro? Durch welchen Korridor erreichbar? Welchen Kollegen vorgelesen? Wie zusammengetragen?““ (NSNG 315; vgl. ebd. 302)

Diese Fragen werden u.a. wie folgt konkretisiert: „Beispielsweise brauchen selbst Linguisten ein Zimmer, ein Büro, eine Institution, eine Abteilung, Archivkästen, einen Aufenthaltsort, eine Kaffeetasse und einen Fotokopierer, um all die aus Tausenden lokaler Interaktionen und Millionen von Sprechakten extrahierten Elemente zu sammeln und sorgfältig eine sprachliche Struktur zu fabrizieren.“ (NSNG 302)

43 Vgl. NSNG 291: „Struktur ist [...] zu schwach und zu weit entfernt [von lokalisierten Interaktionen], um irgendeine Wirksamkeit zu besitzen.“ 44 Vgl. aber Latour 1996b, 233: „[W]e actively globalize successive interactions through use of a set of instruments, tools, accounts, calculations and compilers. […] In the evening, the post office official can do her accounts and compile summaries which enable an overview of the interesting parts of all the framed interactions”. (Kurs. eingef.)

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„Die Millionen von Sprechakten [...], aus denen ein Wörterbuch, eine Grammatik oder eine Sprachstruktur in einem Linguistik-Institut besteht, sind aus lokalen Sprechakten extrahiert worden, die vorher auf verschiedene Weise aufgezeichnet, transkribiert, verglichen und klassifiziert worden sind, unter Zuhilfenahme vieler verschiedener Medien.“ (NSNG 305)

Eine „Sprachstruktur“ existiert demnach überhaupt nur am Ort ihrer Kontraktion, wobei sie, etwa als wissenschaftliche Publikation oder Lehrbuch der Grammatik, dann wiederum disseminiert und in toto an anderen Orten verfügbar gemacht werden. Das dürfte sich für Latour in Hinsicht auf jede Form von – empirisch generierten45 –„Strukturen“ oder „globalen Eigenschaften“ entsprechend verhalten: „You can't make a social structure without this compilation [i.e., contraction] work.” (Latour 1996b, 240) Im Besonderen findet man hier eine Denkfigur, die, obwohl nicht mit der gleichen Explizitheit vorgetragen, derjenigen stark ähnelt, die oben (Kap. 3.1.3) mit Bezug auf die Existenzweise von Prozessobjekten überhaupt entwickelt wurde: Prozessobjekte existieren für Beobachter allein in der gedächtnismäßigen bzw. statistischen Kontraktion von Spuren vergangener Prozesse (#7). War das Motiv der Kontraktion oder Lokalisierung) von Spuren in (2) im Register der Analyse von Realprozessen angesiedelt, so findet es sich jetzt im epistemologischen Register wieder. In diesem Register tauchte das Motiv bereits in der Behandlung der aristotelischen Abstraktionslehre des Universals post rem auf, das sich als Kontraktion des wiederholt begegnenden Ähnlichen im mit Gedächtnis begabten Geist des Beobachters konstituierte. (Kap. 2.2.3, 3.1.3) Diese Kontraktion stellte sich als vorwissenschaftliche Form statistischer Praxis überhaupt dar, als Ausbildung von (nicht episodischer, sondern synthetischer) „Erfahrung“, die sich von der statistischen Praxis im engeren Sinne dadurch unterschied, dass sie auf materielle Aufzeichnungs- und Speichermedien verzichtete, welche letztere dazu nutzen konnte, den quantitativen Umfang wie die Normiertheit – daher Vergleichbarkeit und Kontrahierbarkeit – der erhobenen Daten wesentlich zu steigern (Kap. 3. (Einleitung)).

45 Latour beschreibt auch einen nicht im gleichen Sinne empirisch vorgehenden Typus der lokalen Produktion von Gesamtbildern, sogenannten Panoramen (NSNG 316ff.). „Wo können wir sie heute finden [...]? Überall. Sie werden jedesmal gemalt, wenn ein Zeitungskommentator mit Autorität die „Gesamtsituation“ Revue passieren läßt; wenn ein Buch die Ursprünge der Welt vom Big Bang bis zu Präsident Bush erzählt; wenn ein Handbuch der Sozialtheorie die Neuzeit aus der Vogelperspektive berachtet“ etc. (NSNG 324)

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Auch Latour behandelt das Motiv der Kontraktion von Spuren im epistemologischen Register nicht erst im sozialwissenschaftlichen Kontext. Vielmehr steht es bereits in seinen frühen wissenschaftssoziologischen Arbeiten im Fokus. So ist eines der hervorstechenden Merkmale von Laboratory Life – einer dem Anspruch nach „anthropologisch“ orientierten Studie (Latour/Woolgar 1986, 27ff.) von Praktiken der Laborarbeit am Beispiel des Labors des Biochemikers und Medizin-Nobelpreisträgers Roger Guillemin am kalifornischen Salk-Institut – der Befund einer herausragenden Bedeutung von Schriftlichkeit und Diagrammatikalität für die wissenschaftlichen Praxis. „Our anthropological observer is […] confronted with a strange tribe who spend the greatest part of their day coding, marking, altering, correcting, reading and writing.“ (ebd., 49)46 Der Umgang mit Codes, Markierungen und Texten dient dabei einmal der Koordination des komplizierten, also viele Elemente und Einzelschritte einbegreifenden Arbeitsabläufe im Labor. Latour zeigt aber, dass darüber hinaus die Arbeit an und mit Inskriptionen auch im Zentrum der Erkenntnisproduktion selbst steht. Ein präpariertes Objekt oder ein kontrollierter Prozess löst, als Untersuchungsobjekt, in einer Apparatur einen Prozess aus, den diese in die Spur eines Messwerts übersetzt: sie produziert „Daten“ – Latour spricht auch von „Sublata“47 –, die schließlich als Inskriptionen auf Papier verfügbar gemacht werden.48 Beispiel:

46 Es ist genau diese Charakteristik des „seltsamen Stammes“ der Wissenschaftler, die Latour für einen entscheidenden Schlüssel zum Verständnis der Heraufkunft der „moderne[n] wissenschaftliche[n] Kultur“ (Latour 2006b, 259) hält: die „einfache Modifikation der Art, wie Personengruppen miteinander argumentieren und dabei Papier, Zeichen, Drucke und Diagramme verwenden.“ (ebd., 261; vgl. auch SA 258, 7th Rule of Method) Die Evaluation dieses wissenschaftshistorischen Arguments kann hier nicht geleistet werden. 47 Denn die Ehtymologie des Begriffs „Datum“ sei irreführend; die Spuren seien nicht bloß gegeben (lat. datus), sondern würden erhoben (lat. sublātus), daher „Sublata“. 48 Entsprechend nennt Latour derartige Apparaturen „inscription devices“: “It is clear, then, that particular significance can be attached to the operation of apparatus which provides some kind of written output. Of course, there are various items of apparatus in the laboratory which do not have this function. Such "machines" transform matter between one state and another. […] By contrast, a number of other items of apparatus, which we shall call "inscription devices," transform pieces of matter into written documents. More exactly, an inscription device is any item of apparatus or particular configuration of such items which can transform a material substance into a figure or diagram which is directly usable by one of the members of the office space.” (Latour/Woolgar 1986, 51; vgl. SA 68)

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„The samples extracted from rats are put into one of the pieces of apparatus and undergo a radical transformation: […] the machine produces a sheet of figures.“ (Latour/ Woolgar 1986, 49) Sich von der Sphäre der Laborwissenschaft im engeren Sinne lösend definiert Latour den Zentralbegriff der „Inskription“ wie folgt: „Dieser allgemeine Begriff bezeichnet all jene Transformationen, durch die eine Entität [oder: ein Prozess] in einem Zeichen, einem Archiv, einem Dokument, einem Papier, einer Spur materialisiert wird. In der Regel, wenn auch nicht immer, sind Inskriptionen zweidimensional, überlagerbar und kombinierbar. Immer sind sie mobil, d.h. sie ermöglichen neue Übersetzungen und Artikulationen, während sie gleichzeitig einige Typen von Relationen unverändert lassen. Daher werden sie auch „unveränderliche mobile Elemente“ (immutable mobiles) genannt, womit die Betonung auf die Bewegung der Ortsveränderung und die widersprüchlichen Anforderungen der Aufgabe gelegt wird. Werden unveränderliche mobile Elemente geschickt angeordnet, so bringen sie zirkulierende Referenz hervor.“ (2002a, 375)

Dass es sich bei Inskriptionen um „unveränderliche mobile Elemente“ (Latour 2006b; SA 227; NSNG 286ff.) handelt, besagt, dass die in Papierform verfügbar gemachten Spuren nicht nur transportabel werden, sondern dass sie weiterprozessiert und mit anderen Spuren kombiniert oder überlagert werden können, ohne ihren Charakter als Spuren der untersuchten Objekte oder Prozesse verlieren. Die Inskription wird an keiner Stelle ihrer Weiterverarbeitung zu einem bloßen Zeichen der Untersuchungsobjekte, das willkürlich mit diesen assoziiert werden würde (Latour 2002a, 36); vielmehr stellt sich jede Weiterverarbeitung als Produktion von Spuren von Spuren, d.h. von Spuren n-ter Ordnung dar. (SA 233f.) Das gilt ebenso für die Kette von Spuren, die das präparierte Labortier mit einem Graphen in einem wissenschaftlichen Artikel der Arbeitsgruppe von Roger Guillemin verbinden (Latour/Woolgar 1986, 49f.), wie für die Kontraktion von Spuren, als welche sich jede statistische Erhebung in ihrem Gegenstandsbezug konstituiert. Latour thematisiert die statistische Kontraktion von Spuren in seinen Texten mehrfach (SA 227, 233f.; PIC 23, 47ff.; NSNG 282-288; 2006b, 278); dabei stellt er die einzelnen Schritte der Inskription bzw. Kontraktion klar heraus: „You cannot bring the people to the Census Office, but you can bring the questionnaires [first degree inscription]; you cannot display al the questionnaires, but you can show a tally where each answer to the questionnaire is represented by a tick in a column [i.e., a second degree inscription] for sex, age etc. Now, a new problem will emerge if the tallies are

310 | K OLLEKTIVITÄTEN carefully done: you will obtain too many marks on too many columns for even the best mind to embrace them all at once. […] A third degree paper form is now necessary to record not the marks any more, but the totals at the bottom of each row and column. Numbers are one of the many ways to sum up, to summarise, to totalise […]. The phrase `1,456,239 babies´ is no more made of crying babies than the word `dog´ is a barking dog. Nevertheless, once tallied in the census, the phrase establishes some relations between the demographers’ office and the crying babies of the land. […] New fourth degree inscriptions (percentages for instance or graphs or pie charts) have to be devised to mop up the totals again, to mobilise them in a displayable form whilst still remaining some of their features.“ (SA 234)

Die Tatsache, dass der Übergang von einer Ebene der Inskription zur nächsten bzw. die stufenweise Kontraktion der Spuren zur endgültigen Präsentationsform ohne radikalen Einschnitt abläuft,49 so dass man sich jederzeit von der letzten Präsentationsform zum Urheber jeder einzelnen Spur, die in ihr kontrahiert ist, zurückbewegen kann, führt Latour unter der Bezeichnung der „zirkulierenden Referenz“ ein (Latour 2002a, 84ff.). Die Rückverfolgbarkeit der „Kaskade der Inskriptionen“ wird dabei nicht etwa beeinträchtigt durch die progressive Formalisierung der Spuren von einer Ebene zur Anderen (im Beispiel: Antwort auf Fragebogen – Strich in Liste – Element einer Summe / Ziffer – Miterzeugende eines Graphen). Denn: „Forms do not distort or misrepresent anything“. (SA 246; vgl. NSNG 390f.) Vielmehr erhöhen sie den Grad der Mobilisierbarkeit und Kombinierbarkeit einer großen Anzahl von Spuren: „[T]hey accelerate still more the movement of accumulation and capitalization.“ (SA 246) So werden im statistischen Graphen ggf. tausende von Spuren transportabel und mit anderen Spuren – anderen Graphen – vergleichbar und kombinierbar, während der Fragebogen als solcher unmittelbar nur mit einer geringen Anzahl anderer Fragebögen praktisch vergleichbar und kombinierbar ist. Im Graphen sind schlicht mehr Spuren von Abwesendem kontrahiert als im einzelnen Fragebogen.50

49 Das heißt nicht, dass zwischen den Inskriptions- bzw. Kontraktionsebenen Ähnlichkeitsbeziehungen bestünden: „To be sure, the cascade of inscriptions is a practical and concrete manipulation of paper all along, but each endproduct is a form that does not resemble anything on the level below”. (SA 246) 50 Der Aspekt der Formalisierung kommt, wie anzumerken ist, bei Latour nicht erst auf der Ebene der Weiterverarbeitung von Spuren ins Spiel. Vielmehr ist die Formalisiertheit bzw. Standardisiertheit schon der ersten Inskriptionen und letztlich der Untersuchungsobjekte selbst Bedingung ihrer Kontrahierbarkeit.

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Mit einigem Abstand könnte man sagen, dass das, was Aristoteles hinsichtlich der mentalen Kontraktion und Kombination von Gedächtnisspuren schreibt: „Aus der Wahrnehmung entsteht das [...] das Gedächtnis, [...] aus dem Gedächtnis, wenn derselbe Vorgang sich ihm oft unterbreitet, die Erfahrung. Aus der Erfahrung aber oder aus jenem Allgemeinen, das in der Seele zur Ruhe gekommen ist [...] stammt [...] das Prinzip [...] der Wissenschaft“ (An post. 100a3-8), – dass genau das von Latour jetzt auf dem Niveau der extramentalen Kontraktion und

Das führt auf das Thema der Metrologie (SA 247ff.; NSNG 391ff.; PIC 79ff.): Allein die vorgängige Dissemination von physikalischen Konstanten und Maßen erlaubt es den Naturwissenschaften, kalibrierte Apparaturen (eben: „inscription devices“) zu konstuieren, die Spuren (Messwerte, Daten, Sublata) erzeugen, welche so standardisiert sind, dass sie sinnvoll aufeinander bezogen und kontrahiert werden können. „We live among irreducible entities bound by no particular measure – except, sometimes, the fine line of a costly standardization whose luminous course makes their trails easy to track.” (PIC 80) Dabei sind die „metrologischen Ketten“ („metrological chains“, SA 251) prinzipiell so zu beschreiben wie die Nachahmungsstrahlen Tardes bzw. wie die Replikation von Formen von Artefakten bei Platon und Aristoteles: Eine lückenlose Kette von Replikaten verbindet das Modell eines Maßes (zum Ur-Kilogramm vgl. NSNG 392, PIC 81; zur Standard-Zeit vgl. PIC 81f.) mit allen Orten und Situationen, an denen eine Messung vorgenommen oder ein Meßgerät kalibriert wird (vgl. PIC 83f.) – ein Sachverhalt, den Latour entsprechend als Universalisierungsgeschehen fasst. (NSNG 396) Allerdings ist bei genauerer Überlegung klar, dass die metrologische Dissemination von Maßen und Standards letztlich nicht in Termini der Form-Replikation beschreibbar und deshalb nicht wirklich als Universalisierungsprozess anzusprechen ist. Denn obwohl etwa die Anfertigung von Kopien des Pariser Urkilogramms auf den ersten Blick als Replikationsvorgang erscheint (und einem solchen Vorgang in Hinblick eben auf die Lückenlosigkeit der genealogischen Kette der Kopien auch tatsächlich strukturell ähnelt), handelt es sich tatsächlich nicht um eine Replikation: nichts, was in irgend einem Sinne als „Form“ zu beschreiben wäre, wird vervielfacht. Vielmehr wird bloß eine „formlose“ Materieportion kontingenterweise zum Maß anderer Materieportionen gemacht. Quantität als solche ist aber keine im aristotelischen Sinne „formale“ Eigenschaft von Objekten; im Gegenteil ist eine Quantität wie das Kilogramm vollkommen indifferent gegenüber den formalen und sonstigen Eigenschaften der Gegenstände, für die es als Maß fungiert. Ob diese Abgrenzung hinsichtlich aller möglichen Maße und Standards gilt, wäre ein Gegenstand einer näheren Untersuchung, die hier nicht geleistet werden kann. Vgl. zu Latours nicht durchgängig überzeugender Erweiterung des Metrologiebegriffs über physikalische Standards hinaus: NSNG 391-396.

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Kombination von Spuren mit Blick auf die entsprechenden formalen, materialen und logistischen Techniken und Modalitäten reformuliert werde. Die obige Analyse zielte darauf, konzeptuell Klarheit in die Latour’schen Konnotationen der Begriffe des Globalen und Lokalen zu bringen. Das wurde mit einem Mangel an Anschaulichkeit bezahlt, die jetzt zumindest hinsichtlich des wichtigen Begriffs der „globalen Stätte“ nachzuliefern ist. Dabei ist zu bemerken, dass die Stätten, an denen „das Globale“ mittels Kontraktion produziert wird, wie erwähnt selbst wiederum globale bzw. „Makro-Orte“ im Sinne von Bedeutung (1) des Globalen sind; jedenfalls können diese Stätten umso mehr kontrahieren, je besser sie vernetzt sind; und wo viele Spuren kontrahiert werden, werden zumeist auch viele disseminiert.51 Der allgemeine Begriff, den Latour für globalen Stätten prägt, ist wie erwähnt der des „Oligoptikums“. Ein Oligoptikum ist eine institutionalisierte Stätte der Kontraktion und Dissemination von Spuren und Informationen.52 Mit dieser Figur grenzt Latour sich ab von dem von Michel Foucault popularisierten (Foucault 1994) Bentham’schen Panoptikum als einem Paradefall von Überwachungsarchitekturen: während das Panoptikum dem Begriff nach alles in seiner Umgebung „sehen“ kann, „sieht“ das Oligoptikum von seiner Umgebung nur wenig (oligo-). „Von Oligoptiken aus sind robuste, aber extrem schmale Ansichten des (verbundenen) Ganzen [also des „Ganzen“, mit dem sie verbunden sind] möglich – solange die Verbindungen halten.“ (NSNG 313) Ein Oligoptikum registriert von seiner Umgebung nur das, was in Form von Spuren in ihm kontra-

51 Entsprechend ist auch die doppelte Konnotation mitzulesen, wenn Latour etwa schreibt: „[W]enn man [...] einen strukturbildenden Ort von seinen Verbindungen abschneidet, kann er ganz einfach nicht länger irgend etwas strukturieren.“ (NSNG 304) Ein von seinen Verbindungen abgeschnittener Ort kann keine gezielten (strukturierenden) Wirkungen mehr auf andere Orte ausüben; und er kann keine Spuren mehr kontrahieren und dabei ihre Struktur konstruieren. 52 Die Unterscheidung von Spuren und Informationen wird an dieser Stelle rein provisorisch dazu verwendet, die Kontraktion und Dissemination materieller Spuren im Sinne von Kap. 4.1 von der Kontraktion und Dissemination von Informationen mittels elektronischer Medien abzugrenzen. Bei letzteren handelt es sich um die Kontraktion und Dissemination von informativen (elektronischen Übertragungs-) Prozessen, nicht von Spuren. Die Unterscheidung ist allein deshalb provisorisch, weil Spuren natürlich selbst auch informativ sein können. Da in den nachfolgend gebrachten Beispielen häufig beide Formen der Kontraktion und Dissemination anzutreffen sind, ohne dass dies jeweils näher betrachtet wird, bleiben hier erhebliche Unschärfen bestehen.

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hiert wird. Die „Ansichten“, die es von seiner Umgebung produziert, sind umso „schmaler“, je schlechter es vernetzt ist, je weniger Spuren es zu kontrahieren vermag. Es lassen sich, auch wenn Latour diese Unterscheidung selbst nicht trifft, zwei Typen von Oligoptiken differenzieren: (a) Einerseits Oligoptiken, die („schmale“, spezifische) Gesamtbilder, Strukturen, Lagebilder, Synopsen, empirische Aussagen etc. mittels Kontraktion von Spuren / Informationen produzieren mit dem Zweck, diese Gesamtbilder wiederum in ihre Umgebung zu disseminieren. Beispiele: Redaktionen von Tageszeitungen kontrahieren die Spuren („Informationen“) ausgewählter Tagesereignisse in Form von Berichten und Fotografien zu synoptischen Zusammenstellungen des Tagesgeschehens und disseminieren die tausendfach replizierten Synopsen, liefern sie regional oder überregional aus (NSNG 314). – Im Pariser Büro des Service Technique de la Documentation Foncière werden laufend alle Änderungen im Straßenbild von Paris kontrahiert; der jeweils aktualisierte „offizielle“ Stadtplan wird, in Form seiner von beliebigen Kartenherstellern produzieren Kopien, wiederum disseminiert (PIC 11-16; vgl. zur Kartografie SA 215ff.). – Die Vorhersage des Pariser Wetters wird, mittels Kontraktion tausender Daten, täglich konstruiert in den Gebäuden des staatlichen Wetterdienstes Météo France und von dort wiederum an Zeitungen, Radiostationen etc. disseminiert (PIC 9f.). – Die Spuren tausender Befragungssituationen im Rahmen von Meinungsumfragen werden kontrahiert in den Räumen des Meinungsinstituts TNS Sofres und, als Statistiken und Grafiken, wiederum qua Medien disseminiert (PIC 23-25; vgl. die Statistik zur Bestimmung des Marktpreises: PIC 37-40). – Am Wahltag werden (idealiter) alle einzelnen abgegebenen „Stimmen“ (Spuren / Markierungen auf Wahlzetteln) stufenweise kontrahiert und schließlich in den Büros des Wahlleiters zum amtlichen Endergebnis zusammengefasst, das dann wiederum qua Medien disseminiert wird (und entsprechende Prozeduren der Regierungsbildung anleitet). (NSNG 382-386) (b) Andererseits Oligoptiken, die ebenso Spuren („Informationen“) aus ihrer Umgebung kontrahieren, aber mit dem Zweck, auf ihre Umgebung mittels Dissemination von Spuren gezielt und gestaltend einzuwirken; sie können allgemein auch als Steuerungszentren bezeichnet werden.53 Beispiele:

53 Hiervon ausgehend wäre es interessant, die Beiträge Latours bzw. der ANT allgemein zur Frage von Machtphänomenen näher zu betrachten und ihre Machtanalyse in den Kontext der Entwicklung des Machtbegriffs im 20. Jahrhundert (etwa: von Max Weber bis Michel Foucault) zu stellen. Eine solche Kontextualisierung kann hier nicht geleistet werden. Für einen kurzen historischen Rekurs auf den Machtbegriff aus der Perspektive eines ANT-Analytikers siehe Law 1991b.

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In der militärischen Kommandozentrale – die tausende Kilometer vom Kampfplatz entfernt sein kann – werden Informationen bezüglich des Kampfgeschehens zu Lagebildern kontrahiert und, auf dieser Grundlage, Informationen (nämlich Einsatzbefehle) zurück an die Front geschickt. (NSNG 313f.) – Großtechnische Systeme und Infrastrukturen werden in ihrem Betrieb reguliert mittels Kontraktion von Informationen hinsichtlich des laufenden Geschehens in Steuerungszentren und Dissemination entsprechender Steuerungsbefehle: „Water, electricity, telephony, traffic [...]: all have their oligopticon, a huge control panel in a closed control room.“ (PIC 32) (vgl. das Beispiel der Pariser Wasserzentrale: PIC 26f.; das Beispiel der zentralen Verkehrsüberwachung und -regulation: PIC 77f.) – In der Informations- und Kommandozentrale der Pariser Polizei werden Informationen bezüglich der aktuellen Aufenthaltsorte der Polizeistreifen, Bilder von hunderten von Überwachungskameras, aktuelle Nachrichten der Polizeistreifen etc. kontrahiert und entsprechende Einsatzbefehle an Polizisten disseminiert (PIC 51-57): „So, in the end, one hundred and thirty people [in the control center] coordinate seventeen thousand [policemen] who police five million“ (PIC 56). – In Behörden und Bürokratien werden Spuren in Form von Dokumenten und Formularen zu „Akten“ kontrahiert (SA 254f.), die dazu verwendet werden, „Fälle“ zu prozessieren und ggf. andere Dokumente (als Spuren administrativer Akte) wiederum zu disseminieren, z.B. Personaldokumente, Ausweise etc. (PIC 16f.)

Summarisch lässt sich festhalten, dass die ANT geeignet scheint, mindestens zur Analyse der Logistiken von Machtausübungen beizutragen. So gilt, dass „mächtige“ Akteure für Latour „globale“ oder „große“ Akteure in Bedeutung (1) des Globalen sind, dass sie also mit sehr vielen anderen Akteuren verknüpft sind und in ihrem Prozess einen Unterschied machen können (vgl. Callon/Latour 2006, 77). Könnte ein Akteur nur auf Akteure einwirken, mit denen er sich jeweils in einer gemeinsamen Gegenwart befindet (Interaktion unter Bedingungen der Kopräsenz), wäre sein Wirkungshorizont notwendig beschränkt. Der Akteur bliebe eine bloß lokale „Macht“. Wahrhaft mächtige Akteure verfügen demgegenüber über Zugang zu Mechanismen der Vervielfachung und Dissemination von Spuren (ihres Handelns, ihrer Imperative etc.): Keine signifikante Macht ohne Spuren, Oligoptiken, Transinteraktionen. Die Transinteraktion ist nicht nur der Mechanismus, über den die Macht lebender Akteure potenziert werden kann, sondern zumal der Mechanismus, über den Akteure auch über ihren Tod hinaus „mächtig“ bleiben, spurenvermittelt Wirkung erzeugen können. Von der „Macht der Toten“ zu sprechen ist somit keine figurative Redeweise, sondern bezeichnet eine konkrete Tatsache.

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Es ist eine solche Topografie „sternförmiger“ Oligoptiken, durch die Latour die hergebrachte Vorstellung des „Globalen“ ersetzt: Vielheit partieller, jeweils höchst spezifischer Totalitäten qua Kontraktion, auf die, als partielle, wiederum qua Dissemination eingewirkt werden kann. Ergo: „The totality doesn’t present itself as a fixed frame, as a constantly present context; it is obtained through a process of summing up, itself localized and perpetually restarted, whose course can be tracked.” (PIC 51) Die partiellen Totalitäten finden nicht zusammen zu einem Gesamtbild, Kontraktion aller Kontraktionen: „In every case the oligopticon captures a different matter, different aggregates, different behaviours, a different physics. All these aggregates aren't plunged into a common matter of which each oligopticon seizes only an aspect. There's no more common medium in the social world than ether in the physical world.“ (PIC 79) „If we’re able to study the oligopticons, it's thanks to the tracks they leave behind them, both there and back again, and to the closed premises that our interlocutors' friendliness enabled us to visit and to photograph. This allowed us to situate, to locate the whole, or the small wholes that each form a bit of Paris. So we learned how to visit the capital without ever going by that view from nowhere that could be called Society, whose obsessive presence cooled down the big city.“ (PIC 45)

Spricht man davon, Akteure seien innerhalb von jederzeit und an jedem Ort gleichermaßen präsenten „Strukturen“, „Kontexten etc. als Totalitäten situiert, begeht man demnach den gleichen Fehler wie Laplace mit der Figur des „Daimons“: Der „Blick von Nirgendwo“ existiert nicht, alle kontrahierten Totalitäten sind raumzeitlich genau lokalisiert. Die Frage der Bewertung dieses Szenarios wird in Kapitel 4.3.3 wieder aufgegriffen.

4.2 K OLLEKTIVITÄT

UND

W IEDERHOLUNG

Die interaktive Dimension des Kollektivitätsbegriffs (#9) ist hinsichtlich des Problems der Wiederholung genauer zu fassen. Zunächst wird nach einem Modell von Wiederholungsphänomenen bei Bruno Latour gefragt, wobei Latours implizit bleibenden Befunde durch die Befunde der Wiederholungstheorie des statistisch-probabilistischen Denkens ergänzt werden. Dann werden verschiedene Typen von Wiederholungsbedingungen differenziert, wobei insbesondere die Wiederholungsbedingungen von Konsumptionen und von Interaktionen mit Generischem als generischem zu betrachten sind. Und schließlich werden synop-

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tisch alle hier herausgearbeiteten Konnotationen der Begriffe „Kollektivität“ und „Kollektivierung“ zusammengestellt. 4.2.1 ANT und Wiederholung Wiederholung kann sich als Problem nur dort stellen, wo die Analyse von Phänomenen deren Zeitlichkeit bzw. Prozessualität als zu ihrem Verständnis relevant anerkennt. Das ist, wie vor allem John Law deutlich herausgestellt hat, für die ANT grundsätzlich der Fall: „[T]he semiotic approach tells us that entities achieve their form as a consequence of the relations in which they are located. But this means that it also tells us that they are performed in, by, and through those relations. A consequence is that everything is uncertain and reversible, at least in principle. […] Performativity, then, this is the second name, the second story about actor-network theory. Performativity which (sometimes) makes durability and fixity.“ (Law 1999, 4; vgl. Law/Urry 2004)54

Latour affirmiert diesen Ansatz: “Für Soziologen der Assoziationen ist die Regel Performanz, und das zu Erklärende, die erstaunlichen Ausnahmen, besteht in jeglicher Art von Stabilität über einen längeren Zeitraum hinweg und in einem größeren Maßstab. [...] Wenn Trägheit, Dauer, Reichweite, Festigkeit, Verpflichtung, Loyalität, Zusammenhalt etc. zu erklären sind, so muss man

54 Law führt in Organizing Modernity (Law 1994, 15) aus: „[A] modest sociology will seek to turn itself into a sociology of verbs rather than becoming a sociology of nouns. […] [T]he social is a set of processes, of transformations. These are moving, acting, interacting. They are generated by themselves. But here’s the trick, the crucial and most difficult move that we need to make. We need to say that the patterns, the channels down which they flow, are not different in kind from whatever it is that is channelled by them. […] Movement and the organization of movement are not different.” Diese letztere Figur formuliert die von Law angenommene (Selbst-) Rekursivität des sozialen Prozesses. – Das vorliegende Kapitel nimmt das Thema der Rekursivität auf (vgl. allgemein zum Zusammenhang von Rekursivität und Spur Kap. 4.1), aber in anderen Termini als Law, nämlich in Termini betreffend die Möglichkeitsbedingungen von Wiederholungsprozessen.

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nach Trägern, Werkzeugen, Instrumenten und Materialien Ausschau halten, die eine solche Stabilität gewährleisten können.“ (NSNG 63f.)55

Trotz der Pointierung von Performativität bzw. Prozessualität im Grundansatz der ANT findet sich weder bei Law noch bei Latour eine explizite Behandlung von Wiederholungsprozessen und ihren Mechanismen. Vielmehr erscheint das Motiv der Wiederholung in der ANT eingehüllt zu sein in eine Reihe anderer Begriffe, unter denen eben die der „Dauer[haftigkeit]“ und der „Stabilität“ besondere Beachtung verdienen. Wenn nämlich Latour in Bezug auf „Gesellschaft“ feststellt: „[I]hre Dauerhaftigkeit verweist nicht auf ihre Materialität, sondern nur auf ihre Bewegung“ (NSNG 114, Fn. 7), dann dürfte hiermit eine Bewegung gemeint sein, die nicht endlos von Neuheit zu Neuheit fortschreitet, sondern die in gewissem Umfang durch Wiederholung gekennzeichnet ist. Obwohl sich die Stabilität von Assoziationen demnach nicht nach dem Modell der Persistenz materieller Objekte verstehen lässt, so spielt doch, wie zu zeigen sein wird, die Materialität von Objekten für Latour eine Schlüsselrolle bei der Ausbildung von Wiederholungsmustern in der Performanz. Bedenkt man zunächst, dass jeder Prozess (jede Interaktion) ein raumzeitlich streng situierter und als laufend Vergehender nicht über seine raumzeitliche Situiertheit hinaus wirksam ist, dann gilt, „dass jedesmal, wenn wir die Ausdehnung einer beliebigen Interaktion in der Zeit und im Raum erklären wollen, die praktischen Mittel für diese Ausdehnung aufspüren müssen“. (NSNG 114) Der allgemeinste Begriff für solche praktischen Mittel ist der Begriff der materiellen Spur. Das ist offensichtlich bei Prozessen, die eigens auf die Produktion von (selbigen oder generischen) Spuren abzielen (Herstellungsprozesse, Schriftgebrauch etc.), hat aber auch Geltung für alle anderen Prozesse: es muss eine Spur (Gedächtnisspur oder extramentale Spur jeder Art) von ihnen zurückbleiben, damit sie zu anderer Zeit an anderem Ort wirksam sein und sich in diesem Sinne „ausdehnen“ können. Versteht man dann die „Ausdehnung einer beliebigen Interaktion in der Zeit und im Raum“ noch einmal anders, nämlich so, dass ein Typus von Interaktion sich in Zeit und Raum ausdehnt, zu vielen Zeitpunkten an vielen Orten an-

55 Vgl. auch Latours Aussagen zum performativen Charakter von Gruppen: Es gibt „keine Gesellschaft, kein Reservoir von Bindungen, keinen großen Topf mit Klebstoff, um alle diese Gruppen zusammenzuhalten. Wenn man das Fest nicht jetzt durchführt oder die Zeitung nicht heute druckt, so verliert man ganz einfach die Gruppierung, die kein zu restaurierendes Gebäude ist, sondern eine fortzusetzende Bewegung.“ (NSNG 67)

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zutreffen ist und also die Interaktionen wiederholte sind,56 dann stellt sich die Frage der Mittel bzw. der Logistik dieser Wiederholungen als Frage nach der Replikation und Distribution der (Ensembles von) Prozessoren, welche die Interaktionen je ermöglichen. Die Frage stellt sich in ähnlicher Weise schließlich auch dort, wo man von der Betrachtung eines Typs von Interaktion zur Betrachtung mehr oder weniger abgegrenzter Akteur-Netzwerke übergeht und nach der Möglichkeitsbedingung der Wiederholungschoreografien fragt, aus denen sie bestehen: Was konstituiert die Logistik dieser Choreografien, was gewährt ihnen „Stabilität“ in der Zeit? Zu den Bedingungen von Wiederholungsprozessen wurde in Kapitel 2.2.2 mit Aristoteles allgemein festgestellt, dass Wiederholungen getragen werden von Potentialitäten, welche als die in Hinblick auf ihren zukünftigen Prozess betrachteten, sich durchhaltenden Dispositionen von Entitäten gefasst wurden: die Gesamtheit dessen, was unter Rekurs auf oder ausgehend von einer Entität in Zukunft geschehen kann, macht die Potentialität dieser Entität aus (die in diesem Sinne als Prozessor verstanden werden konnte). Diese Vorstellung wurde dahingehend präzisiert, dass nicht einzelnen Entitäten selbst Potentialität zukommt, sondern dass Ensembles von Entitäten sich in Hinblick auf den Eintritt in bestimmte gemeinsame Prozesse wechselseitig potentialisieren. Prozesse werden wiederholbar, wenn die an ihnen beteiligten Entitäten sich entweder als selbige in der Zeit durchhalten oder als generische fortlaufend reproduziert werden. Sie werden an verschiedenen Orten zu verschiedenen Zeiten wiederholbar, wenn die beteiligten Entitäten als generische an diesen raumzeitlichen Punkten je auch tatsächlich vorliegen. Die „kanonischen“, mit Aristoteles in Hinblick auf jedes gegebene Wiederholungsphänomen zu stellenden Fragen sind demnach: Was ist das Ensemble von Prozessoren, das es prozessiert? Hält sich der Prozessor als selbiger oder generischer in der Zeit durch? Und wenn als generischer, wie wird er repliziert und disseminiert? Mit dem aristotelischen Szenario konvergiert das in Kapitel 3.2 erarbeitete Wiederholungsmodell der Theorie statistischer Wahrscheinlichkeit. Wahrscheinlichkeitstheorie denkt über Wiederholung in Termini des Zusammenspiels von konstanten und akzidentellen Ursachen nach. Die konstanten Ursachen sind notwendige aber nicht hinreichende Bedingung einer beobachteten Wiederholung. (Sie müssen vorliegen, damit der Prozess stattfinden kann, garantieren aber nicht, dass er in jedem Fall auch tatsächlich stattfindet; das entscheidet sich

56 Ein solches Szenario greift John Law auf, wenn er feststellt, „dass manche Netzwerkmuster häufig und überall anzutreffen sind, dass sie öfters ausgeführt werden als andere“. (Law (2006, 436)

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vielmehr mit den in jedem Einzelfall wirksamen akzidentellen Ursachen (Aktualisierungsmodalitäten), die sich, qua Akzidentalität, der systematischen Erfassung entziehen). In der Auswertung der Laplace’schen Beispiele wurde gezeigt, dass es sich bei den konstanten Ursachen um Ensembles von generischen Entitäten handelt, die als Prozessoren der jeweiligen Prozesse fungieren (Kap. 3.2.1). Insbesondere dort, wo man in der probabilistischen Betrachtung über die klassischen Beispiele aus dem Bereich der Glücksspiele hinausgeht und sich gesellschaftlichen Phänomenen zuwendet, stellt sich dann wiederum die Frage nach der vorgängigen Vervielfältigung der konstanten Ursachen. Insofern die statistisch betrachteten „gleichartigen Fälle“ durch identische Ensembles von konstanten Ursachen definiert sind, muss nämlich deren vorgängige Vervielfältigung als Tatsache vorausgesetzt werden. Die Sozialtheorie Gabriel Tardes allgemein und dann auch seine Bestimmung von Gegenstand und Aufgabe der Statistik im besonderen kann in diesem Zusammenhang genau als der Versuch interpretiert werden, die „vorgängige Vervielfältigung“ von Prozessoren (als konstanten Ursachen) nicht vorauszusetzen, sondern selbst zum Untersuchungsgegenstand zu machen. Im Zentrum steht für ihn die Erfassung der Ausbreitung von Nachahmungsstrahlen, der Replikation und Dissemination von Nachahmungsgegenständen; aufgrund der „Immaterialität“ der Nachahmungsgegenstände und den damit einhergehenden Schwierigkeiten ihrer Erfassung schlägt Tarde aber vor, sich auf die Industrie- und Handelsstatistik zu konzentrieren, um von dieser auf die Ausbreitung von Nachahmungsgegenständen rückzuschließen, als deren Symptom diese ihm erscheint: „Die Industrie- und Handelsstatistik ist also die Hauptgrundlage aller anderen.“ (GN 136) Da es im Feld gesellschaftlicher Phänomene kaum Prozesse gibt, die nicht von (warenförmigen) materiellen Objekten mitprozessiert werden, regt Tarde mit dieser Fokussierung faktisch eine – über die Analyse unmittelbar des Nachahmungsgeschehens hinausgehende – Analyse der Logistik von Prozessen an, also eine Analyse der Replikation und Dissemination der ihre wiederholte Ausführung erlaubenden Prozessoren. Nimmt man diese Rückschau als Matrix, wird Bruno Latours nicht systematisch ausgearbeitete Lösung des Problems der Wiederholung (alias „Dauerhaftigkeit“ und „Stabilität“) leicht einleuchten, da sie mit dem Gesagten zusammenstimmt: Sucht man nach den „Trägern, Werkzeugen, Instrumenten und Materialien“, die „Stabilität gewährleisten können“ (NSNG 63f.), wird man sich Objekten, Artefakten, Spuren zuwenden müssen. „Sobald man beginnt, Zweifel an der Fähigkeit sozialer Bindungen zu hegen, sich von selbst dauerhaft auszudehnen, lässt sich eine plausible Rolle für Objekte erkennen“ (NSNG 121), nämlich: „In der Praxis sind es stets Dinge – und ich meine das letzte Wort jetzt buchstäblich

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–, die ihre „stählerne“ Eigenschaft der fragilen „Gesellschaft“ leihen“ (NSNG 117). Diese Vorstellung findet sich auch bei anderen ANT-TheoretikerInnen, so wiederum bei John Law: „Wenn Menschen ein soziales Netzwerk bilden, tun sie dies nicht, weil sie mit einem anderen Menschen, sondern weil sie mit Menschen und einer Vielzahl anderer Materialien interagieren. [...] Maschinen, Architekturen, Kleider, Texte – sie alle tragen zur sozialen Musterbildung bei. Meiner Ansicht nach würde mit dem Verschwinden dieser Materialien auch die so genannte soziale Ordnung verschwinden.“ (Law 2006, 433) „Is it possible to say anything about network-stabilizing regularities, or are we simply left with describing cases, case by case? Actor network theory […] responded to this challenge in the only non-foundational way it could, by exploring the logics of network architecture and looking for configurations that might lead to relative stability. […] There is a straightforward way in which some materials last longer than others. It is easier to imprison people if there are prison walls while, unlike traffic patrols, sleeping policemen are never off duty. So the first argument is that social arrangements delegated into non-bodily physical form tend to hold their shape better than those that simply depend on face-toface-interaction. But note the caveat, “tend to”: everything is a relational effect. Prison walls work better if they are part of a network including guards and penal bureaucracies.“ (Law 2008, 148)

Law und Annemarie Mol verdichten diesen Befund zu der Formel: „[S]tability resides in material heterogeneity“ (Mol/Law 1995, 276). Die Formel ist ihrem Gehalt nach besonders intuitiv im Bereich der Soziotechniken (ebd., 280f.), von denen mit Latour bereits gesagt wurde, sie spielten etwa in der Reproduktion von Ordnungen des Zugangs und Eigentums eine herausgehobene Rolle (Kap. 4.1.2). Dabei greifen zwei Typen von „Dauerhaftigkeit“ ineinander, die von Latour und Law analytisch nicht hinreichend unterschieden werden: einmal das DauerhaftWerden von konkreten (vergangenen) Prozessen (bzw. der in sie einbezogenen Akteure) mittels Produktion materieller Spuren und andererseits, über die materielle Dauerhaftigkeit der Spuren hinaus, das Dauerhaft-Werden der durch sie vermittelten (Trans-)Interaktionen (das „social arrangement“). Dieses letztere Dauerhaft-Werden wird aber nur erreicht, wenn die Spuren tatsächlich wiederholt in je aktuelle Interaktionen einbezogen werden. Im von Law aufgerufenen Beispiel der Straßenschwelle („sleeping policeman“) gilt: Die Straßenschwelle bleibt relativ dauerhaft bestehen als materielle Spur eines vergangen (mit bestimmter Steuerungsabsicht ausgeführten) Prozesses; wäre die Straße aber gänzlich unbefahren, fände keine Transinteraktion statt und die Wirkung der Schwel-

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le wäre nicht nur nicht „dauerhaft“, sondern es gäbe schlicht keine Wirkung. Law deutet die Unterscheidung der beiden Typen von „Dauerhaftigkeit“ an, wenn er feststellt: „prison walls work better if they are part of a network“. Das ist die unscharfe Formulierung folgender Tatsache: Die „Dauerhaftigkeit“ der Figuration des Gefängnisgebäudes fällt nicht zusammen (ist nicht identisch) mit der „Dauerhaftigkeit“ des Wiederholungsregimes des alltagsmäßigen Funktionierens einer Gefängnisinstitution.57 Sondern sie ist (bloß) ein notwendiges Element des heterogenen Ensembles von Prozessoren, das es insgesamt erlaubt und ermöglicht, dieses Wiederholungsregime und seine „Dauerhaftigkeit“ zu prozessieren. Alle in Kapitel 4.1.2 genannten soziotechnischen Beispiele ließen sich in analoger Weise analysieren.58 Da die Bedingungen von („Dauerhaftigkeit“ als) Wiederholung im Rahmen der ANT über das Skizzierte hinaus nicht näher behandelt werden,59 sind nachfolgend einige Überlegungen diesbezüglich zu ergänzen.

57 Dass „Dauerhaftigkeit“ als materielle Insistenz und „Dauerhaftigkeit“ als Serie von Wiederholungen nicht zusammenfallen, zeigt sich auch in Mol/Laws Bemerkung über die soziotechnischen Brücken Langdon Winners: „Nowadays many blacks in the United States have cars, and those who do can cruise the Long Island Parkway. So we are reminded again that durability is a relational effect. Though the bridges haven’t gone […] most of the buses have: the bridges have lost some of their strategic significance.” (Mol/Law 1995) Die Brücken erzielen keine „dauerhafte” – d.h., kontinuierlich wiederholte – Wirkung mehr. (vgl. aber, die Valenz des Beispiels grundsätzlich in Zweifel ziehend, Kap. 4, Fn. 23) 58 Zu nennen wäre hier auch Latours positiver Rekurs auf Durkheims Feststellung, die Dauerhaftigkeit von Clanstrukturen werde durch den Einbezug dauerhafter materieller Ressourcen („Flaggen, Farben, Namen und Tätowierungen“) gewährleistet (Latour 2006a, 207; vgl. NSNG 68f.). Vgl. auch das Beispiel des Postschalters, bei dem eine bestimmte Form der Interaktion zwischen Kunde und Angestelltem durch das materielle Arrangement des Schalters präformiert und somit wiederholbar gemacht wird: „How could you conceive of a counter without a speaking grill, a surface, the door, walls, a chair? Do not these, literally, shape the frame of the interaction?” (Latour 1996b, 235) „I was inscribed there as a category of user, and today I have just carried out this role and have actualized the variable with my own body.” (ebd., 238) 59 Der Vollständigkeit halber sei angemerkt, dass Wiederholungsphänomene auch einer bestimmten Verwendung des Begriffs der „Black-Box“ immanent sind, den Latour üblicherweise für die Funktionsweise von Artefakten verwendet, die, obwohl aus vielen Teilen bestehend, als einfache funktionieren (Latour 1994, 36ff.; m.E. synonym wird auch der Begriff der „Punktualisierung“ verwendet, vgl. Law 2006, 435). Offen-

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4.2.2 Wiederholungsordnung und Generizität Denkt man über Wiederholungsprozesse auf der Erdoberfläche in allgemeinsten Begriffen nach, wird man nicht umhinkommen, den Wiederholungscharakter des Sonnensystems insgesamt sowie die aus ihm resultierende, das Geschehen auf der Erdoberfläche elementar betreffende, rhythmisierende Zyklizität von Jahresund Tageszeiten zu bemerken. Weiter wird man den elementaren Wiederholungscharakter des Lebendigen bemerken, der nicht nur in der Figur der durch fortlaufende Reproduktion sich in der Zeit erhaltenden Populationen von Lebewesen hervortritt, sondern auch in der Prozesshaftigkeit jedes einzelnen Lebewesens, das sich nur durch ständig wiederholte Aufnahme von Materie und Energie für eine gewisse Zeit als Prozess aufrecht zu erhalten in der Lage ist. Die wiederholte Herbeischaffung von Nahrungsmitteln ist (neben Atmung, Herzschlag und dem Wechsel von Wach- und Schlafzuständen) ein elementarer Typ von Wiederholung auch im Prozess menschlicher Tätigkeit, der zumal über die längste Zeit der Menschheitsgeschichte hinweg den größten Teil der Tätigkeit der meisten Menschen beansprucht und in schier endloser Wiederholung und Veralltäglichung der Herbeischaffung „gebunden“ hat (in voragrarischen und agrarischen Gesellschaften; erst mit der Herausbildung stark arbeitsteiliger Gesellschaften und dann mit der Industrialisierung der Landwirtschaft sind in größerem Umfang, für immer größere Teile von Bevölkerungen auf immer mehr Erdteilen, Zeitressourcen für andere, nicht direkt mit der Aufrechterhaltung des bio-

bar können aber nicht nur Objekte, sondern auch Prozesse „geblackboxt“ werden, wie Callon und Latour in ihrer Diskussion der Konstitution von „Makro-Akteuren“ ausführen: „Ein Akteur wächst mit der Anzahl von Beziehungen, die er oder sie in so genannten „Black Boxes“ ablegen kann. Eine Black Box enthält, was nicht länger beachtet werden muss – jene Dinge, deren Inhalte zum Gegenstand der Indifferenz geworden sind. Je mehr Elemente man in Black Boxes platzieren kannn – Denkweisen, Angewohnheiten, Kräfte und Objekte –, desto größer sind die Konstruktionen, die man aufstellen kann.“ (Callon/Latour 2006, 83) Davon ausgehend würde man das Black-Boxing von Prozessen als Routinisierung, als Einrichtung von Wiederholungsordnungen fassen: Es ist die routinemäßige Verfügung über die routinisierte Tätigkeit von „nachgeordneten Stellen“, „Unterabteilungen“ etc., die etwa den Funktionsträger einer formalen Organisation als „groß“ oder „mächtig“ erscheinen lassen. (Law 2006, 442) Leider wird solches Black-Boxing von Prozessen in der ANT nicht eingehender analysiert.

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logischen Lebensprozesses befasste Tätigkeiten frei geworden60). Unterstellt man dies, dann ist der elementare Typus von Wiederholung im Prozess auch der menschlichen Tätigkeit die Wiederholung von Akten der Konsumption. Vielleicht das intuitive Empfinden lässt sich die Konsumption fassen als eine Interaktion (einen gemeinsamen Prozess), die aber dadurch gekennzeichnet ist, dass einer der Interaktionspartner im Prozess einen substanziellen Formwandel erleidet und in diesem Sinne „aufgebraucht“ wird. Wie erwähnt konstituiert dieses Aufbrauchen eine notwendige Verbindung zwischen wiederholter Interaktion als Konsumption und der laufend wiederholten Reproduktion des Konsumierten: Der Prozesscharakter jedes einzelnen Lebewesens ist mit dem Populationscharakter seiner Beute verflochten, welcher das ständige Nachströmen von Nachschub mittels Reproduktion garantiert und sich in der Ausbildung komplexer Nahrungsketten und Ökologien stabilisiert. Auf das Problem der Konsumption wird unten noch näher eingegangen; die planetarischen Wiederholungen werden im Folgenden nicht näher behandelt, sondern waren bloß als Hintergrundprozess der jetzt interessierenden Wiederholungen zu nennen. Es werden drei Typen betrachtet, für die sich die Frage nach den Wiederholungsbedingungen – „Was sind die selbigen oder generischen Ensembles von Prozessoren, die sie prozessieren?“ – je etwas anders beantwortet: (1) Wiederholungen von Interaktionen zwischen (selbigen) menschlichen Akteuren, (2) Wiederholungen von Interaktionen zwischen (selbigen) menschlichen Akteuren und (selbigen) Objekten und (3) Wiederholungen von Interaktionen zwischen menschlichen Akteuren und Objekten sowie anderen Lebewesen als Konsumptionen einerseits und als wiederholte Interaktionen mit Generischem andererseits. (1) Wiederholte face-to-face-Interaktion setzt die wiederholte Anwesenheit von Interaktionspartnern in raumzeitlich lokalisierten Stätten voraus: Die Interaktionspartner müssen sich in einer gemeinsamen Gegenwart „treffen“, um in einen gemeinsamen Prozess eintreten zu können. Dichte Interaktionszusammenhänge, die durch häufig und regelmäßig wiederholte Interaktionen gekennzeichnet und die oft bei auch genealogisch zusammenhängenden Akteuren zu beobachten sind, realisieren sich daher praktischerweise meist mittels Konzentration der Akteure an einem Ort, in gemeinsamen Wohnstätten. Da sich die Akteure aber fak-

60 Dass dieses Freiwerden nicht mit einem Mehr an „Freiheit“ und / oder „Freizeit“ zu verwechseln ist, zeigt sich daran, dass auch in arbeitsteilig organisierten Gesellschaften die Aufnahme einer spezialisierten Arbeitstätigkeit für die Individuen eine Frage des nackten Überlebens sein kann.

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tisch nie durchgehend gemeinsam in den Wohnstätten, durchgehend in einer gemeinsamen Gegenwart aufhalten, sondern ihr Prozess durch wiederholtes Verlassen dieser Stätten (in Richtung anderer Orte, etwa Arbeitsstätten) und wiederholte Rückkehr gekennzeichnet ist, schließt ihre wiederholte Interaktion an diesem Ort bereits zirkuläre Choreografien ihrer hin- und wegführenden Bewegungen ein, für die die Wohnstätte gewissermaßen nur ein privilegierter Durchgangspunkt ist. Bereits die wiederholte Interaktion als „Zusammenleben“ erfordert somit ein Ineinandergreifen der zirkulären Choreografien der Bewegungslinien der Akteure. Die Konzentration von Akteuren an einer Stätte kennzeichnet nicht nur familiale Interaktionszusammenhänge, sondern auch andere Formen dichter Interaktion, so im Bereich der „Arbeitswelt“, wo die Arbeitsstätten privilegierte Durchgangspunkte der zirkulären Choreografien bzw. der ineinandergreifenden Routinen der Akteure darstellen; während wiederholte Interaktionen zwischen „Freunden“, „Bekannten“ etc. häufig durch eine weniger klare Lokalisation und weniger starke Routinisierung gekennzeichnet sind: auch hier sind die wiederholten Begegnungen Durchgangspunkte der zirkulären Choreografien der Akteure, das „Treffen“ in gemeinsamen Gegenwarten kann aber an diversen Orten stattfinden und muss je aktiv koordiniert werden. Aus der im Einzelnen kaum zu überblickenden Zahl der Wiederholungsbedingungen, der Potentialitäten oder Prozessoren wiederholter face-to-faceInteraktion lassen sich völlig schematisch drei Typen von Prozessoren herausstellen: Erstens, wie bei Aristoteles etwa der Handwerker über ein sich durchhaltendes Vermögen zur wiederholten Ausübung seines Handwerks verfügt, das unabhängig ist von der aktuellen Ausübung dieses Handwerks, so gibt es auch für die wiederholte Interaktion von Akteuren ein unabhängig von der je aktuellen Interaktion sich durchhaltendes Vermögen, eine Disposition: Sie umfasst, neben vorgängig erworbenen kulturellen Formen (gelernte Beziehungsschemata, konventionelle gemeinsame Tätigkeiten etc. (Kap. 3.3.2)), konkret zunächst das Gedächtnis, verstanden als Spur vergangener Interaktionen, die als Prozessor der kommenden Interaktionen fungiert. Das Gedächtnis einer Interaktionsbeziehung prozessiert ihre Zukunft. Das wird deutlich, wenn man erkennt, dass Akteure ohne Gedächtnis ihrer vergangenen Interaktionen von sich aus nicht in der Lage wären, auch zukünftig miteinander zu interagieren. Zweitens gilt, dass, wenn wiederholte Interaktionen Durchgangs- bzw. Kreuzungspunkte der zirkulären Choreografien der Akteure sind, sich die Prozessoren der Bewegungschoreografien als selbige oder generische in der Zeit durchhalten müssen. In ##7 wurde darauf verwiesen, dass mit je mehr und je entfernteren Akteuren ein Akteur regelmäßig interagiert, umso mehr Transportmedien rekru-

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tiert werden müssen, um die Interaktionen zu prozessieren. Der Individualverkehr in seinem Wiederholungscharakter wird prozessiert von der durchgängigen Potentialität der den Individuen zur Verfügung stehenden Vehikel und Verkehrsinfrastrukturen.61 Der öffentliche Verkehr und die Luftfahrt in ihrem Wiederholungscharakter werden prozessiert von der durchgängigen Potentialität der Maschinenflotten, Infrastrukturen sowie von den diversen Prozessoren der Routinen der sie betreibenden, in Großunternehmen verdichteten Akteure.62 Brechen die Prozessoren des Verkehrs zusammen, brechen die zirkulären Bewegungschoreografien der Akteure zusammen. Wie in die regelmäßige Interaktion selbiger Akteure durch den Gebrauch von Transportmedien zahllose andere menschliche und nichtmenschliche Akteure laufend einbezogen werden, so gilt dasselbe, drittens, für die regelmäßige Interaktion selbiger Akteure mittels Kommunikationsmedien, insofern sie die regelmäßige Performanz von Post- und Telekommunikationseinrichtungen zur Voraussetzung haben, die wiederum prozessiert wird von der Potentialität der Infrastrukturen und von den diversen Prozessoren der Routinen der sie betreibenden, in Großunternehmen verdichteten Akteure. Kein Brief, keine Email, kein Telefonat ist eine spuren- oder prozessvermittelte Interaktion bloß zwischen zwei

61 Die hier hineinspielende Frage der Konsumption nicht-erneuerbarer Ressourcen wird unten in Kapitel 4.2.2 berührt. 62 Diese Andeutungen verlangen nach einer organisationssoziologischen Fundierung, die hier nicht geleistet werden. Vielmehr soll, unfundiert, noch Folgendes angemerkt werden: Gerade Transportunternehmen realisieren eine aufgrund ihres extremen Charakters faszinierende Form der Berechenbarmachung des Zukünftigen. Mit dem Kauf eines Zugtickets z.B. sind bereits Wochen oder Monate im voraus Tag, Stunde und Minute des Ereignisses der Abfahrt eines Zugs vorgezeichnet, d.h., die Pünktlichkeit des Zugs ist (wenn sie denn zu beobachten sein wird) gewissermaßen „heute schon da“ als definierte Potentialität des nämlichen Ereignisses. Sie ist „heute schon da“ in Form von Kalendern, synchronisierten Uhren, in Form der Disposition der Angestellten zum geregelten Arbeitstag, zur Unterwerfung unter Regimes der Zeitdisziplin, in Form von Fahrplänen, die, als konkret ausgedruckte und vervielfältigte, im Unternehmen disseminiert werden etc. (vgl. Latours Beispiel des Stundenplans in PIC 6-8): solche Potentialität trägt das im Pünktlichkeitsregime berechenbar gemachte Zukünftige. Im Fahrplan, der jede Woche identisch von vorne beginnt, findet die Berechenbarmachung ihr Extrem und ihr Motto: Möge jeder Montag wie jeder andere Montag sein, jeder Dienstag wie jeder andere Dienstag etc. Die Berechenbarmachung des Zukünftigen konstituiert sich so als praktische Überwindung jedes übergeordneten Zeitindex’.

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selbigen Akteuren; sondern immer nehmen unzählige andere menschliche und nichtmenschliche Akteure an der Interaktion teil,63 indem sie diese ermöglichen und durch ihre sich durchhaltende Potentialität und Konstitution zu wiederholen erlauben. (2) Auch die wiederholte Interaktion von menschlichen Akteuren mit dinglichen Objekten und Artefakten setzt die wiederholte Anwesenheit der Interaktionspartner in einer raumzeitlich lokalisierten Stätte voraus. Trotzdem ist die Logik der Prozessoren hier eine etwas andere, weil dingliche Objekte und Artefakte im Gegensatz zu menschlichen Akteuren meist nicht selbstbewegt sind. Die Bewegungslinie eines Artefakts beschreibt typischerweise keine zirkuläre Choreografie. Vielmehr werden idealiter am Produktionsort Materien zusammengezogen und in die Form des Artefakts gebracht, das dann einmalig transportiert und distribuiert wird, um seine gesamte „Lebensdauer“ hindurch an einer Stätte zu verbleiben. (Diese Figur bildet der Grund dafür, dass Latour die Analyse von Akteur-Netzwerken auf die Kontraktion und Dissemination von Spuren an Stätten fokussiert. (Kap. 4.1.3)) Offensichtliche Ausnahmen sind zirkulierende Transportmedien selbst sowie explizit transportable Artefakte. Für alle anderen Artefakte gilt tendenziell, dass sie, nach einmaliger Produktion und Distribution, lokalisierte Prozessoren ihres wiederholten Gebrauchs sind.64 Ihre Distribution erweist sich als je einmalige Distribution von Potentialitäten (zur Ausführung der jeweils von ihnen prozessierten Prozesse), die an Ort und Stelle bestehen und fortbestehen. Auch lassen sich, wie oben ausführlicher beschrieben, diverse Artefakte an einzelnen Orten – etwa an Wohn- oder Arbeitsstätten – so kontrahieren und arrangieren, dass die Orte dann buchstäblich als Möglichkeitsräume erscheinen: als Topologien von Potentialitäten von Prozessen, die ganz unmittelbar ausgeführt werden können. Je mehr Artefakte als Prozessoren an einer Stätte zu-

63 Mit Latour könnte man auch sagen, die anderen Akteure seien in die Interaktion eingefaltet, oder die Interaktion würde einen Umweg durch diese anderen Akteure nehmen (Latour 2002b). Er illustriert das, thematisch anders gelagert, am Fall des Stromkonsums: „Between the gesture of switching on my computer and what I write on the screen, I can either ignore the nuclear industry which enables me to work this morning, or find myself immersed in the uncertain destiny of that same industry which forces me to take account of the burial in deep silos of the waste from its stations that the French do not support.” (ebd., 255) 64 Dass ein einmalig ausgeführter Prozess vermittelt über die von ihm generierte Spur zukünftigt wiederholt einen Unterschied im Prozess anderer Akteure machen kann, wurde in ##7 als ein elementares Surplus der Spurenproduktion ausgewiesen.

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sammengezogen werden, desto mehr ist an Ort und Stelle möglich, – und bleibt möglich: Solange sich die Möglichkeitstopologien durchhalten, können die diversen Prozesse wiederholt werden. Menschliche Akteure interagieren wiederholt mit den selben lokalisierten Objekten, indem sie in ihren zirkulären Choreografien immer wieder dieselben Stätten passieren und die in den lokalen Topologien gelegenen Möglichkeiten realisieren. Die auf Seiten der menschlichen Akteure sich durchhaltenden Prozessoren dieser Wiederholung sind, wie sich hier nur summarisch festhalten lässt, vor allem die kulturellen Formen des Gebrauchs der entsprechenden Objekte (Kap. 3.3.2). (3) Kollektivitäten sind in ihrer interaktiven Dimension Choreografien der wiederholten Interaktion heterogener Akteure. Einige Momente der Potentialität, die diese Wiederholungen tragen, wurden vorstehend skizziert. Wiederholte Interaktion ihrerseits ist als ein Modus der Performanz realer Vielheit zu identifizieren (Kap. 1.1). Das Viele konstituiert sich als an ihm selbst Vieles durch den Realzusammenhang der Elemente, den die wiederholte Interaktion stiftet: Reale Vielheit existiert als Prozessobjekt. Aus diesem über die Figur der realen Vielheit ausgespielten Ansatz ergibt sich das gravierende Problem, dass, wenn eine Entität mit anderen Entitäten individuell oder als selbigen nur einmalig, mit diesen Entitäten dem Typ nach oder als generischen aber regelmäßig interagiert, dieser Tatbestand jenseits des Bereichs der realen Vielheit und damit der Kollektivität zu fallen scheint. Die Interaktion mit Generischem als Generischem, bei der es schlichtweg keinen Unterschied macht (beliebig ist), ob man mit diesem oder jenem Exemplar interagiert, umfasst aber unter anderem auch die Figur der Interaktion als Konsumption. Dass das allgegenwärtige Phänomen der Konsumption – das als Phänomen der Konsumption von Universalien (Generischem als Generischem) gedacht werden muss – von einer Theorie der Kollektivität nicht erfasst werden könnte, wäre jedoch unakzeptabel. Zumal gibt es über den Typ Konsumption hinaus noch einen weiteren prominenten Typ von Interaktion mit Generischem als Generischem, den eine Theorie der Kollektivität ebenfalls erfassen sollte, – bei dem nämlich der individuell nur einmalig, dem Typ nach aber wiederholt einbezogene Interaktionspartner nicht konsumiert wird. Im Folgenden soll skizziert werden, inwieweit diese beiden Typen der Interaktion mit Generischem als Generischem womöglich doch von der vorliegenden Theorie der Kollektivität erfasst werden. (a) Konsumption von Universalien. Zur Beantwortung der Frage, ob ein Akteur mit den Entitäten, die er individuell einmalig, dem Typ nach aber wiederholt konsumiert, eine reale Vielheit und in diesem Sinne eine Kollektivität bildet, muss zunächst zwischen – im aristotelischen Sinne – geformten und ungeform-

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ten konsumierten Dingen unterschieden werden, also zwischen Lebewesen und Artefakten einerseits und Materien andererseits. Diese Unterscheidung verweist hier und überhaupt weniger auf einen Unterschied zwischen mit distinkten Eigenschaften behafteten und eigenschaftslosen Entitäten, sondern auf einen Unterschied in den Entstehungsmodalitäten von Entitäten: Die geformten Entitäten sind über Prozesse der Replikation bzw. Universalisierung von Formen entstanden (und bilden daher Populationen); die ungeformten nicht (sondern, allgemein, über andersartige Prozesse). Geformte Konsumgüter. Geformte Entitäten bilden Vielheiten mittels Replikation. Eine Population mittels Replikation zusammenhängender Entitäten ist eine Kollektivität. Das, was mittels Replikation universalisiert bzw. kollektiviert wird, ist jeweils eine Form. Ohne die laufende Kollektivierung-als-Universalisierung kann die Konsumption von Entitäten eines Typs nicht wiederholt werden. Umgekehrt kann aber, wo eine Kollektivierung-als-Universalisierung laufend stattfindet, auch eine laufende Kollektivierung-als-Konsumption stattfinden. Denn konsumiert ein Akteur wiederholt ein bestimmtes geformtes Gut (etwa einen Typ von Lebewesen als Nahrungsmittel), bildet er zwar keine Vielheit mit den einzelnen, in den Akten der Konsumption aufgebrauchten Exemplaren dieses Gutes, wohl aber mit der in jedem Exemplar gleichartigen Form dieses Gutes. Er bildet mit dieser Form eine Vielheit (mittels wiederholter Konsumption) deshalb, weil die in den Exemplaren verkörperte Form selbst eine Vielheit (mittels wiederholter Replikation) bildet. Anders gesagt, seine wiederholten, dabei je einmaligen Konsumptionen einzelner Exemplare des Gutes bilden einen Realzusammenhang, weil diese Exemplare selbst einen (genealogischen) Realzusammenhang bilden.65 Beispiel: jemand konsumiert regelmäßig eine bestimmte Getreidesorte; noch jedes einzelne von ihm konsumierte Korn hängt durchgängig mit jedem anderen über mehr oder weniger verzweigte Abstammungslinien zusammen. Oder: jemand konsumiert regelmäßig ein bestimmtes kurzlebiges Artefakt, etwa eine Batterie bestimmten Typs; jede einzelne Batterie, die er aufbraucht, hängt durchgängig mit jeder anderen gleichartigen Batterie über mehr oder weniger verzweigte Abstammungslinien zusammen, – sei es, dass die Exemplare aus dem gleichen Werk oder vom gleichen Hersteller kommen, sei es, dass sich die Kompetenzen zur Realisation ihrer Form vom Erfinder dieses spezifischen Batterietyps her mittels Tarde’scher Nachahmung ausgebreitet haben). Ungeformte Konsumgüter. Hinsichtlich ungeformter Konsumgüter, die grob als Materien wie Bodenschätze, Wasser, Luft, Chemikalien etc. zu fassen sind,

65 Die genealogischen Linien sind Linien der Ausbreitung der generischen Spur der Form (die verkörperten Formen sind die generische Spur der genealogischen Linien).

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ist eingangs daran zu erinnern, dass die idealiter gegebene völlige Gleichartigkeit einer Portion eines solchen Gutes mit jeder anderen Portion und der in diesem Sinne generische, also universale Charakter jeder Einzelportion ganz anderen Ursprungs ist als der universale Charakter geformter Konsumgüter: Die Universalität (der Eigenschaften) ungeformter Konsumgüter ist keine populationistische. Daher stellt sich die Frage, ob und auf welcher Grundlage sich davon sprechen ließe, die jeweils konsumierten Einzelportionen solcher Güter würden einen Realzusammenhang, eine Vielheit bilden. Das nämlich ist auch hier Bedingung dafür, dass wiederum die wiederholten, dabei je einmaligen Konsumptionen einzelner Portionen einen Realzusammenhang bilden, dass also in Hinblick auf ein ungeformtes Konsumgut eine Kollektivierung-als-Konsumption stattfinden kann. In Kapitel 2.3.4 wurde angedeutet, dass alle Materie real zusammenhängt, weil sie, nach dem Standardmodell der Kosmologie, eine gemeinsame Entstehung hat. Obwohl das ein Zusammenhang weder durch wiederholte Replikation, noch durch wiederholte Interaktion ist (so die engen, auf die Definition von Kollektivitäten abstellenden Kriterien für reale Vielheit in Kapitel 1.1), erschiene es an diesem Punkt als problematisch, den Zusammenhang nicht als solchen anzuerkennen. Ob es aber über diesen absoluten und äußersten Zusammenhang hinaus sinnvoll ist, von einer „gemeinsamen Entstehung“ spezifischer Materien (etwa von Öl und Kohle) zu sprechen, die die Rede von einem Realzusammenhang bzw. einer Vielheit der einzelnen Materieportionen in einem stärkeren Sinne rechtfertigen würde, muss hier offen gelassen werden. Vielleicht ist es akzeptabel, provisorisch anzunehmen, dass die Portionen von Materien zwar Vielheiten bilden, dass sie aber einen Typus von Vielheit repräsentieren, der nicht mit Vielheit als Kollektivität zusammenfällt. Auf dieser Grundlage ließe sich dann folgende Formulierung treffen: Konsumiert ein Akteur wiederholt Portionen eines ungeformten Gutes, dann bildet er zwar keine Vielheit mit den einzelnen, in den Akten der Konsumption jeweils aufgebrauchten Portionen, aber doch mit den in jeder Portion gleichartigen Eigenschaften des Gutes. Beispiel: indem Leute regelmäßig Benzin in Verbrennungsmotoren verfeuern, kollektivieren sie nicht diesen oder jenen irreversibel aufgebrauchten Liter Benzin; sondern die Eigenschaften des Benzins bilden ein wichtiges Element in den von Menschen und ihren Artefakten konstituierten Kollektivitäten; die Eigenschaften des Benzins werden laufend kollektiviert. Eine letzte Bemerkung zu ungeformten Konsumgütern, nun verstanden als nicht-erneuerbaren, terrestrischen Materie-Ressourcen. Die Tatsache, dass alle Einzelportionen von Ressourcen idealiter dieselben generischen bzw. universalen Eigenschaften aufweisen, sowie die Praxis, diese Portionen peu à peu zu konsumieren, können darüber hinwegtäuschen, dass die nicht-erneuerbaren Res-

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sourcen insgesamt, als Gesamtportionen betrachtet, keine generischen, universalen Objekte darstellen. So groß diese Gesamtportionen auch sein mögen, an ihnen selbst sind sie Singularitäten. Jeder Liter Öl ist ein „solcher“, aber die Gesamtportion Öl auf der Erde ist eine „diese“ (Kap. 2.2.1). Hinsichtlich der Wiederholungsbedingungen der wiederholten Konsumption geformter und ungeformter Konsumgüter lassen sich wiederum völlig schematisch etwa folgende Aspekte nennen: Wiederholungsbedingung des Konsums geformter Konsumgüter ist die fortlaufende Reproduktion dieser Güter. Das Element, das in der als Serie von Form-Replikationen verstandenen Reproduktion als ihr sich durchhaltender Prozessor fungiert, ist genau die Form. In der Reproduktion von Lebewesen als Nahrungsmitteln würde man heute das Erbgut als den formalen Prozessor ausmachen, der seine eigene Replikation etwa in der Bildung von Keimzellen und anschließend embryogenetische und allgemein Wachstumsprozesse prozessiert; in der Reproduktion kurzlebiger (wie überhaupt aller) Artefakte ist der durchgängige Prozessor deren jeweilige, im Vermögen der Hersteller (Kap. 2.2.3) bzw. in der Einrichtung von Produktionsanlagen verkörpert vorliegende Form. Wiederholungsbedingung des Konsums ungeformter Konsumgüter ist entweder schlicht deren Vorhandensein in gewissen Quantitäten, die die Dauer der Wiederholungen absolut definieren, oder (etwa im Fall der chemischen Industrie) die fortlaufende Synthetisierung der Materien. Hinzuweisen ist in diesem Zusammenhang auch auf die sich durchhaltenden Transportmedien und Verkehrsinfrastrukturen als den Prozessoren der fortlaufenden Distribution der Konsumgüter und, konsumentenseitig, auf die durch den Prozesscharakter der Körper gegeben oder als kulturelle Formen angeeigneten Dispositionen ihres regelmäßigen Konsums. (b) Interaktion mit Universalien. Das Modell der Kollektivität, verstanden als Performanz realer Vielheit mittels wiederholter Interaktion selbiger menschlicher und nichtmenschlicher Akteure, wird, wie schematisch vorgeführt, transzendiert durch Phänomene der Konsumption. Nichtsdestoweniger konnte gezeigt werden, dass Konsumptionsphänomene in Termini realer Vielheit zu erfassen sind und somit grundsätzlich in den Bereich einer Theorie der Kollektivität fallen. Darüber hinaus bestätigt das Motiv der Konsumption die hier getroffene Wahl des Theoriedesigns, indem es die enge Verzahntheit der replikativen und interaktiven Dimension von Kollektivitäten und daher die Notwendigkeit einer integralen Behandlung kenntlich macht. Das Modell der wiederholten Interaktion selbiger Entitäten wird transzendiert aber auch durch einen Typ von Interaktion, in dem sich generische Akteure als generische individuell einmalig oder selten, dem Typ nach aber wiederholt einbeziehen, der aber keine Konsumption

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einschließt. Da dieser Interaktionstypus weniger klar eingegrenzt ist als die Interaktion als Konsumption, liegt ein Zugang über eine Reihe von Beispielen nahe: „Staatliches Handeln“, hier ganz verkürzt begriffen als legislative Codierung der Praktiken einer Vielzahl von über ein Gebiet verstreuten exekutiven Institutionen, Behörden und Verwaltungen (eben mittels Produktion, Publikation, Vervielfältigung und Distribution von jeweils in Dienstvorschriften etc. umzusetzenden Gesetzestexten), ist zu verstehen als Versuch der gezielten Einwirkung nicht auf selbige („diese“), sondern auf generische Individuen („solche“). Zuständigkeit vorausgesetzt, ist es für eine Behörde idealiter völlig unerheblich, ob ihr Handeln auf dieses oder jenes Individuum gerichtet ist; die konkreten staatlichen Angestellten und Sachbearbeiter interagieren mit beliebigen Individuen, mit generischen Individuen als generischen. Umgekehrt interagiert ein konkretes Individuum mit beliebigen Repräsentanten des Staates. Nimmt man den artifiziellen, aber im vorliegenden Zusammenhang charakteristischen Fall, dass jemand in einer bestimmten Sache wiederholt mit Angestellten einer Behörde interagiert, mit jedem Angestellten aber nur einmalig, dann stellt sich hier wie oben im Fall der Konsumption die Frage, ob er mit diesen Angestellten eine reale Vielheit und in diesem Sinne eine Kollektivität bilde oder nicht; und die Antwort scheint analog zu sein, dass er nicht mit den einzelnen Angestellten, sondern mit der (von den in seiner Sache geltenden Gesetzen und Vorschriften informierten) Form ihres Handelns eine Vielheit bilde, also unmittelbar mit einem Typus von Handeln, nicht mit den einzelnen Individuen, die dieses Handeln unterschiedslos zur Geltung bringen und insofern bloße Handlungsträger sind. Man ist versucht zu sagen: Der Bürger begegnet in diesem Beispiel wiederholt ganz unmittelbar dem Gesetz selbst. Die Formulierung wird gedeckt durch den Sachverhalt, dass es tatsächlich der eine, in Deutschland etwa im Bundesgesetzblatt veröffentlichte Gesetzestext ist, der, vervielfältigt und distribuiert, das Handeln der Staatsrepräsentanten seiner Form nach prozessiert: was das Handeln der einzelnen Repräsentanten prozessiert, ist die generische Spur dieses einen, mit seinem Abdruck im Gesetzblatt Geltung besitzenden Texts.66 Zweites Beispiel: Ein globaler Handelsreisender übernachtet immer in Hotels derselben Kette; idealisierend wird angenommen, er übernachte in jeder Dependance je nur einmal. Dann gilt nicht nur, dass er für die jeweiligen Hotelangestellten ein beliebiger Gast ist. Sondern auch, dass jede Dependance für ihn eine beliebige ist, dass es für ihn also keinen Unterschied macht, in welcher er sich

66 Das Beispiel greift Max Webers Analyse der Formalisierung legaler Herrschaft auf, vgl. Brubaker 1984, 16ff.

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gerade aufhält: denn die Dependancen ähneln sich – von der Architektur über die Inneneinrichtung bis hin zum Umgang und Service des geschulten Personals –, indem sie alle ein bestimmtes Corporate Design realisieren. Wieder bildet der Reisende keine Vielheit mit den einzelnen, einmalig besuchten Dependancen; aber das identische Corporate Design der Hotelkette gehört zweifellos zu seinem Akteur-Netzwerk, zu seiner Kollektivität, denn es macht in seinem Prozess regelmäßig einen Unterschied. Und wieder ist es die vorgängige Vervielfältigung dieses Designs, der genealogisch zusammenhängenden Instantationen der Design-Form, die diesen Effekt erzeugt. Das Beispiel lässt sich auf alle Arten von standarisierten Dienstleistungen hin öffnen. Mehr noch: Ökonomische Tätigkeit insgesamt scheint in erheblichem Umfang die Interaktion von generischen Akteuren als generischen einzuschließen. Die Figur des Kunden ist in Marktökonomien (im Gegensatz zu familialen und mafiösen Ökonomien, bei denen die Akteure tendenziell und auch über ihren ökonomischen Zusammenhang hinaus als selbige miteinander interagieren) eine generische Figur: Alle Akteure sind in ihrem Kunde-Sein identisch und austauschbar. Für die Verkäufer macht die kulturelle Form der ökonomischen Transaktion regelmäßig einen Unterschied, nicht aber ihre individuellen Träger. Ähnlich ließe sich im Fall des Arbeitsmarkts in idealisierender Verkürzung sagen: Jobs werden für generische Akteure als generische ausgeschrieben (denn nicht integrale Personen werden eingekauft, sondern die Arbeitszeit von Personen bloß als Träger überpersönlicher Kompetenzen oder kultureller Formen) und umgekehrt bieten sich die Individuen durch die Standardisierung ihrer Abschlüsse potentiellen Arbeitgebern als generische dar. Drittens eine Liste von Beispielen, deren Präsentation noch weiter von der strengen Figur der individuell einmaligen, dem Typ nach aber wiederholten Interaktion von generischen Akteuren abgelöst ist und die auf eine Phänomenologie des Generischen zielen: Jemand nimmt das Phänomen „belebte Straße“ en passant wahr, das er durch seine Anwesenheit mitkonstituiert; selbst wenn er niemals die selben Passanten trifft, ist es immer das gleiche Phänomen: die Passanten machen als selbige für ihn keinen Unterschied. – Ein Tourist stellt fest, dass „die Leute hier die Mode x tragen“; wäre sein Aufenthalt auf einen anderen Tag gefallen, würde er ebenfalls feststellten, dass „die Leute hier die Mode x tragen“, obwohl er keinen einzigen der x-Träger als selbigen wiedertrifft: die xTräger machen als selbige für ihn keinen Unterschied. – Der Stadtplan, die Figuration der Straßen und Gebäude einer bestimmten Stadt ist eine raumzeitliche Singularität, ein „Dieses“ und Selbiges; aber für den unaufmerksamen Passanten wird die Straße bloß von „Häusern“ gesäumt – es macht für ihn weder einen Unterschied, welchen Typs die Häuser sind, noch machen die selbigen Häuser für

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ihn einen Unterschied. Für den architekturinteressierten Passanten macht etwa das Jugendstilgebäude, auf das er stößt, vielleicht dem Typ nach, als generisches einen Unterschied, nicht aber als selbiges: es könnte unterschiedslos auch ein anderes Jugendstilgebäude sein. Selbst dort, wo es ihm um dieses selbige Gebäude geht (ein bekanntes bauhistorisches Monument), ist das Gebäude aus generischen Materialien als generischen zusammengesetzt: es macht für ihn keinen Unterschied, aus welchen selbigen Bausteinen, aus welcher selbigen Portion Mörtel die Architektur besteht. – Bei einem „Gang durch die Natur“ und noch bei einer biologischen Exkursion macht es für die Akteure keinen Unterschied, welche selbigen Pflanzen und Tiere sich am Wegesrand zeigen, welchen selbigen Schmetterling man zur Bestimmung einfängt (geht es doch um die Bestimmung der Spezies). Dasselbe gilt im Bereich naturwissenschaftlicher Forschung überhaupt. Diese Beispiele – und die Liste ließe sich beliebig verlängern – zeigen an, dass auch über das Thema der Konsumption generischer Entitäten hinaus die Netzwerke oder Kollektivitäten von Akteuren, oder noch allgemeiner: ihre Welten, in großem Umfang von generischen Entitäten als generischen bevölkert und zusammengesetzt werden. Für jeden einzelnen Akteur scheinen andere menschliche und nichtmenschliche Akteure nur in leicht abzählbar Anzahl als selbige je einen Unterschied zu machen, mit denen er ggf. regelmäßig und als selbigen interagiert. Jenseits dieses Bereichs öffnet sich eine Quasi-Unendlichkeit von Akteuren, die nur dem Typ nach ggf. regelmäßig einen Unterschied machen und als selbige beliebig und austauschbar sind. Hier, im Feld der Konsumption von, Interaktion mit, Begegnung mit Generischem, wird überraschenderweise Platons Diktum von der stärkeren Realität der Formen gegenüber ihren Abbildern oder Verkörperungen zu einer nachgerade praktisch-empirischen Tatsache, – zumindest wenn man bereit ist, das Diktum in aristotelischen Termini zu rekonstruieren: Replikationsseitig sind die Formen, obwohl sie niemals unverkörpert vorkommen, gegenüber jeder einzelnen Verkörperung eine stärkere Realität, weil es ihnen zukommt, sich in beliebigen Materien zu verkörpern, während jede einzelne Verkörperung auf ihre Selbigkeit zurückgeworfen ist: die Form kann idealiter immer und überall sein, während die Verkörperung endlich und lokalisiert ist. Interaktionsseitig bzw. konsumptionsseitig sind die Formen gegenüber jeder einzelnen Verkörperung eine stärkere Realität, weil die einzelne, selbige Verkörperung keinen praktischen Unterschied in der Interaktion mit Generischem als Generischem macht, beliebig durch andere Verkörperungen der gleichen Form ersetzbar ist: den Unterschied macht allein das Vorliegen der Form (in einem beliebigen Exemplar), nicht das Vorliegen dieses oder jenes Exemplars. Die praktische Realität von Universalien in der

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Welt ist die praktische Beliebigkeit der Interaktion mit diesem oder jenem Exemplar der universalisierten Formen. Diese letztere Beliebigkeit erweist sich als Funktion der replikationsseitigen Ausbreitung der Form (die auch die starke Bedingung der Wiederholung jeder Interaktion mit, und jedes Konsums von, Generischem als Generischem ist): Im Überfluss kauft man ein beliebiges Exemplar einer bestimmten Art von Nahrungsmittel; in der Knappheit würde man „sein Leben dafür geben“, dieses – das letzte vorhandene – Exemplar eben noch zu ergattern. Im Überfluss stellt man einen beliebigen Arbeitnehmer mit einer bestimmen Qualifikation ein; in der Knappheit würde man „alles dafür tun“, diesen einen, der allein über die nötigen Fertigkeiten verfügt, für sich zu gewinnen, etc. Anders gesagt, im Überfluss sind Form und Verkörperung maximal dissoziiert; in der extremen Knappheit sind sie maximal assoziiert; und im singulären Objekt fällt die Unterscheidung von Form und Materie ganz in sich zusammen. (Kap. 2.2.1) 4.2.3 Über die Begriffe: „Kollektivität“, „Kollektivierung“ In diesem Abschnitt werden die hier vorgeschlagenen Verwendungsweisen der Begriffe „Kollektivität“ und „Kollektivierung“ synoptisch zusammengestellt. Das mehrfach Gesagte wird zusammenfassend wiederholt. Darüber hinaus wird eine heuristische Einschätzung der Frage gegeben, ob politische Gebilde wie „Staaten“ sich als reale Vielheiten konstituieren. Und schließlich ist das Phänomen der Intergenerationalität etwas näher zu betrachten als das bisher geschehen ist. (1) Allgemein bezeichnet „Kollektivität“ eine „reale Vielheit“. „Kollektivieren“ meint dann: „eine reale Vielheit hervorbringen, konstituieren“. Es wurden zwei Dimensionen dieser Begriffe unterschieden: In der replikativen Dimension des Begriffs heißt „kollektivieren“: replizieren, vervielfältigen, universalisieren. Das, was kollektiviert wird, ist je eine Form. Behandelt wurden biologische Formen, Formen von Artefakten und kulturelle Formen. Alle geformten Entitäten bilden Populationen von formal gleichartigen, weil genealogisch zusammenhängenden Entitäten: „Kollektivitäten“ in diesem Sinne sind Populationen. Kollektivitäten sind je Kollektivitäten formaler Gehalte. Alle geformten Entitäten sind, obwohl sie im Einzelnen sehr verschiedene Lebensdauern haben, endlich. Daraus folgt, dass Prozesse der Kollektivierung als Vervielfältigung laufend ausgeführt werden müssen, damit sich die Kollektivität einer Form in der Welt halten kann. Für die Verwendung des Begriffs der

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Kollektivität heißt das: eine biologische Art etwa ist eine Kollektivität ihrer ArtForm, solange sie sich als Reproduktionsgemeinschaft durchhält. Nimmt man dagegen etwa den Text und das Layout eines Flugblatts als eine Form, dann bilden die einmalig tausendfach vervielfältigten Exemplare desselben zwar in gewissem Sinne eine Kollektivität dieser Form, aber doch eine, die sozusagen im Keim erstickt ist. Denn indem sie nicht laufend weiterkollektiviert wird, vergeht die Form mit ihren einzelnen endlichen Exemplaren. Die in Archiven vorfindlichen wenigen Exemplare des Flugblatts dokumentieren die Kollektivität nach ihrem Ende. Ganz ähnlich bilden die in einem bestimmten historischen Stil errichteten Gebäude eine Kollektivität, stellen aber, „weil heute so nicht mehr gebaut wird“, auch bereits eine Kollektivität nach ihrem Ende dar: Fundstücke einer ausgestorbenen Art. Kollektivitäten als Populationen existieren nicht im Modus des Seins vs. Nichtseins, sondern im Modus der Chronifizierung. Zwei Achsen von Chronifizierung können unterschieden werden: synchrone Quantität und diachrone Insistenz. Eine kulturelle Form, die alle Menschen aufweisen, und ein Typus von Artefakt, den alle Menschen gebrauchen, sind maximal kollektiviert. Der Grad der Kollektivierung ist hier genau der Verbreitungsgrad. In diesem Sinne können die Begriffe „Kollektivierung“ und „Dekollektivierung“ auch Schwankungen und Tendenzen im Verbreitungsgrad einer Form bezeichnen. „Kollektivierung“ mag auch schlicht den Ausgangspunkt oder das Bestreben einer Vervielfältigung bezeichnen: die Markteinführung eines Produkts ist der Versuch der Kollektivierung seiner Form. Im Fall von Artefakten und kulturellen Formen ist die Quantität der menschlichen Population das Maß der Chronifizierung ihrer respektiven Kollektivitäten. Im Fall der biologischen Formen gibt es kein absolutes Maß; vielmehr können bloß die Änderungen im Verbreitungsgrad von einem kontingenten historischen Ausgangspunkt aus betrachtet werden: z.B. eine aussterbende Tierart ist in Dekollektivierung begriffen, wird dechronifiziert. Diachron wiederum kann unter Chronifizierung die lange zeitliche Erstreckung der eine Kollektivität konstituierenden Replikationsprozesse verstanden werden, also das, was Platon und Aristoteles als die „Ewigkeit“ der biologischen Arten fassen. Das Problem dieser Verwendung besteht darin, dass die Chronifizierung hier nur post faktum festgestellt werden kann. Das Beispiel der aussterbenden Arten zeigt klar, dass das, was über eine lange Geschichte verfügt, deshalb nicht automatisch auch Zukunft hat. Trotzdem gehört die Erwartung einer Zukunft, die Veranschlagung einer zukünftigen Bewahrheitung der Annahme ihrer Chronifiziertheit, notwendig zum Begriff der Kollektivität als einem Prozessobjekt: Spricht man davon, eine Kollektivität „existiere“ (wie chronifiziert auch immer), meint

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man nicht nur, sie habe eine Vergangenheit, sondern notwendig auch, sie habe noch Zukunft. In der interaktiven Dimension des Begriffs heißt „kollektivieren“: Mit anderen menschlichen oder nichtmenschlichen Akteuren wiederholt interagieren. Ein Akteur kollektiviert andere Akteure in dem Maße, in dem er mit ihnen wiederholt interagiert. Dabei liegt keinerlei Emphase auf der Unterscheidung aktiv / passiv (kollektivieren / kollektiviert-werden): Die Akteure kollektivieren sich faktisch immer wechselseitig, indem sie wiederholt interagieren. Eine „Kollektivität“ kann dann das Interaktionsnetzwerk eines Akteurs sein; in dieser Bedeutung ist die Kollektivität klar abgegrenzt, selbst wenn sie sehr viele Interaktionspartner des Akteurs umfasst. Weiterhin kann, wenn man die Perspektive eines einzelnen Akteurs verlässt, eine Kollektivität auch einen Zusammenhang wiederholter Interaktionen insgesamt bezeichnen. In dieser Bedeutung ist die Kollektivität üblicherweise nicht klar abgegrenzt: Wenn nicht eine Menge von Akteuren von der umgebenden Welt ganz abgeschnitten ist, greift die Kollektivität immer weiter aus, – ein Akteur interagiert wiederholt mit einem anderen Akteur, der wiederum mit einem dritten Akteur wiederholt interagiert usw. Bis hierher hat man es, in der interaktiven Dimension, mit Kollektivitäten selbiger menschliche oder nichtmenschlicher Akteure zu tun. Ein solcher Begriff greift aber wesentlich zu kurz. Denn zum einen scheint, wie oben ausgeführt, der Realzusammenhang selbiger Akteure nur einen kleinen Ausschnitt des Realzusammenhangs insgesamt zu erfassen und zum anderen schließt die Konzentration auf selbige Akteure die Erfassung der ggf. intergenerationalen Konstitution von Kollektivitäten aus. Bleibt man zunächst noch bei der wiederholten Interaktion selbiger Akteure, so wird der somit konstituierte Realzusammenhang bereits überschritten, wenn man den Blick auf die dabei stattfinden Transinteraktionen hin öffnet. Der wiederholte Gebrauch eines Artefakts schließt jedesmal wieder unmittelbar an seinen Spur gewordenen Herstellungsprozess an, der, mit allen Akteuren, die ihn seinerzeit bewerkstelligten, im Artefakt kontrahiert ist und sich in ihm erhält. Die am einmaligen Herstellungsprozess beteiligten menschlichen und nichtmenschlichen Akteure können somit in toto spurenvermittelt wiederholt einen Unterschied im Prozess anderer Akteure machen, werden mit dem wiederholten Gebrauch des Artefakts „mitkollektiviert“. Orientiert man sich am Begriff der Transinteraktion, könnte man auch von „Transkollektivierung“ sprechen. Wo, wie häufig anzutreffen, die Produzenten eines Artefakts und die Erfinder seiner Form nicht zusammenfallen, greift die Transinteraktion noch weiter aus, greift nämlich bis zu den Erfindern zurück, deren längst vergangener Prozess spurenvermittelt transkollektiviert wird. Ähnlich verhält es sich im Fall der die wieder-

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holten Interaktionen jeweils mitprozessierenden kulturellen Formen; betrachtet man diese als Spuren von Nachahmungsprozessen und letztlich als Spuren längst vergangener Prozesse ihrer „Neuerer“, dann werden diese Neuerer in dem Maße laufend transkollektiviert, in dem sie in den wiederholten Interaktionen spurenvermittelt anwesend sind. Transkollektivierung von abwesenden Anderen ist aber letztlich auch auf der Ebene der biologischen Körper selbst anzusetzen. Jeder Körper ist Spur seiner Erzeugung; und da sich die Körper, mehr noch, als spurenmäßige Kontraktion der ganzen genealogischen Linie darstellen, aus der sie hervorgehen, werden in der regelmäßigen Interaktion von Akteuren zumal die Elemente ihrer genealogischen Linien in toto transkollektiviert.67 Hiermit sind allgemeine Formen der Transkollektivierung abwesender Anderer mittels Transinteraktion benannt; dabei gilt, dass bereits mit der Logistik der wiederholten Interaktion selbiger Akteure, also mit dem regelmäßigen Gebrauch von Transport- und Kommunikationsmedien, sich die Interaktionen selbiger Akteure faktisch meist als Transinteraktionen darstellen. Andererseits wird der Begriff der Kollektivität als regelmäßige Interaktion selbiger Akteure überschritten eben durch die Figuren der Konsumption von und der Interaktion mit Universalien. Klammert man die Konsumption von Ungeformtem aus, lässt sich sagen: Die wiederholte Konsumption von und Interaktion mit Universalien ist unmittelbar die Kollektivierung von Formen, nämlich von Formen in beliebiger Verkörperung. Kollektivierung-als-Interaktion und Kollektivierung-als-Replikation greifen hier unmittelbar ineinander, was zu der terminologischen Festlegung berechtigt, man habe es mit einer Kollektivierung-alsInteraktion zu tun, die unmittelbar eine Kollektivierung-als-Replikation, nämlich die Kollektivität einer Form kollektiviere.

67 Dass das Postulat der Transkollektivierung im Fall der biologischen Körper u.U. weniger intuitiv ist als im Fall von Artefakten und kulturellen Formen liegt daran, dass insbesondere der menschliche Körper zwar seiner Form nach klarerweise die Spur seiner Zeugung ist, dass er aber – in dem was er ist – nicht nur substanziell, sondern ganz wesentlich auch akzidentell bestimmt ist; d.h., mit der Aussage, der menschliche Körper sei die Spur seiner Zeugung, ist die Konstitution eines Menschen mitnichten vollständig erfasst; während mit der Aussage, etwa eine Partitur sei die Spur eines Kompositionsprozesses, die Partitur – in dem was sie ist – sehr wohl vollständig erfasst ist: denn es lagern sich, wenigstens wenn der Urtext als selbiger oder generischer erhalten bleibt, nicht laufend neue Spuren an.

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(2) Die synoptische Zusammenstellung der Terminologie bietet den Anlass, zu Illustrationszwecken die simple Frage zu stellen: Sind politische Gebilde wie „Staaten“ Kollektivitäten? Die Frage kann, summarisch gestellt, nur verneint werden. Sie lässt sich aber schrittweise beantworten. Ein „Staat“ ist eine Menge von menschlichen und nichtmenschlichen Akteuren, verteilt auf einem historisch kontingenten Segment der Erdoberfläche. Für Prozesse der Kollektivierung hängt vieles davon ab, nicht nur, wie dieses Territorium topologisch beschaffen ist und wie die Akteure darauf verteilt und verdichtet sind, sondern, hiermit zusammenhängend, welche Transportmedien, Verkehrsinfrastrukturen und medialen Infrastrukturen jeweils verfügbar sind. (a) In dem Maß nämlich, in dem Medien und Infrastrukturen verfügbar sind, können Akteure (als selbige oder generische) Zusammenhänge wiederholter Interaktion ausbilden, die das Territorium im Ganzen übergreifen. Sind sie wesentlich unverfügbar, bleiben die Akteure auf bloß lokale Interaktionszusammenhänge zurückgeworfen. (b) Von der Verfügbarkeit von Medien und Infrastrukturen hängt auch ab, in welchem Umfang die Akteure unmittelbar eine Population bilden, in welchem Umfang sich die auf dem Territorium befindlichen Akteure also „alle mit allen“ biologisch reproduzieren, oder nur lokal untereinander reproduzieren. (c) Von der nämlichen Verfügbarkeit hängt weiter ab, in welchem Umfang sich Populationen kultureller Formen auf der Population der menschlichen Körper ausbreiten können. Ohne Medien und Infrastrukturen bleibt die Reproduktion kultureller Formen wesentlich an die Reproduktion der biologischen Formen geknüpft; die innerfamiliale Nachahmung bleibt vorherrschend.68

68 Die Existenz eines „Staates“ setzt selbst extra- oder transfamiliale Nachahmungsprozesse voraus, da ja „Staat“, „Nation“ etc. selbst auch kulturelle Formen sind. Nur wo diese Formen sich als Populationen auf einer – über einzelne Familien oder Clans hinausgehenden – Population menschlicher Körper ausbreiten, können letztere das politische Gebilde „Staat“ überhaupt performativ hervorbringen. Zu solchen kulturellen Formen gehören nicht nur Konzepte der Staatlichkeit selbst, sondern auch (meist eklektisch kompilierte) kanonisierte Bestände von „nationaler Kultur“ sowie (häufig fingierte) „Nationalgeschichten“, die, zu kulturellen Formen kanonisiert, weitererzählt und zur Interpretationsmatrix des je gegenwärtigen Geschehens werden können. Hinsichtlich der Reproduktion und Ausbreitung kultureller Formen ganz generell gilt es, Folgendes in aller Klarheit festzuhalten: Für Tarde konstituiert sich die „soziale Gruppe“ als Menge von Individuen, die einander nachahmen, d.h. als Nachahmungsgemeinschaft (Kap. 3.3.2). Heißt das, dass Individuen, die einander nachahmen, auch

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(d) Die Verfügbarkeit von Transportmedien und -infrastrukturen bedingt schließlich auch, in welchem Umfang sich Populationen von Artefakten auf einem Territorium ausbreiten können, bedingt also, in welchem Umfang Akteure einander spurenvermittelt bzw. durch wiederholte Transinteraktionen transkollektivieren (etwa als Warenproduzenten weiträumig zusammenhängen). Für alle Aspekte dürfte gelten, dass das mit ihnen bezeichnete kollektivierende Geschehen teils „lokaler“, teils „globaler“ ist als mit der Figur des „Staats“ konzeptuell vorgegeben: Einerseits „füllt“ das Geschehen seiner Bewegung nach das jeweilige Segment auf der Erdoberfläche „nicht aus“, andererseits „übersteigt“ es das Segment. Insofern ist die Figur des „Staats“ für eine Theorie der Kollektivität eine arbiträre Figur. Allerdings sind es gerade die politischen und medialen Oligoptiken, deren Kontraktions- und Disseminationsbereich sich in gewissem Umfang bloß auf das Geschehen innerhalb bestimmter Territorien erstreckt. Hieran anschließend kann, was in Kapitel 4.1.3 unterlassen wurde, etwas genauer nach ihrer Funktion im Kollektivierungsgeschehen gefragt werden. Akteure, die in Oligoptiken tätig sind, ihren Prozess in institutionalisierte Stätten der (Kontraktion und) Dissemination von Spuren eingeschaltet haben, können stark kollektivierte Akteure sein, – in einem doppelten Sinne: Einerseits werden Spuren ihres Handelns vervielfacht und in dieser Bedeutung kollektiviert; andererseits machen sie, als selbige, im Prozess vieler Anderer spurenvermittelt regelmäßig einen Unterschied (wobei diese Anderen für sie häufig bloß generische sind) und werden in dieser Bedeutung kollektiviert bzw. bilden mit vielen Anderen mittels Transinteraktion eine Kollektivität. Konkret konstituieren sich etwa politische Akteure auf zwei Weisen als stark kollektivierte: Einerseits werden Spuren ihres Handelns täglich mittels vervielfachter medialer Spuren vom Ort des jeweiligen Geschehens her weithin auf einem Territorium disseminiert. Dabei wird die einzelne mediale Spur kaum kollektiviert in dem Sinne, dass sie von einzelnen Akteuren wiederholt in deren Prozess einbezogen werden würde: die einzelne mediale Spur ist so haltbar eben

eine Kollektivität im vorliegenden Sinne bilden? Das lässt sich nur beantworten unter Verweis auf die Unterscheidung von Substanzialität und Akzidentalität. Biologische Formen sind substanzielle Formen. Körper, die qua Form-Replikation genealogisch zusammenhängen, bilden eine substanzielle Kollektivität. Menschen bilden, als biologische Körper, eine substanzielle Kollektivität. Kulturelle Formen hingegen sind – in Hinsicht auf ihre Träger – akzidentelle Formen. Eine Nachahmungsgemeinschaft von Menschen bildet dann eine akzidentelle Kollektivität. Analytisch ist es meist sinnvoller, unmittelbar von einer Kollektivität kultureller Formen und nicht von der akzidentellen Kollektivität ihrer Träger zu sprechen.

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wie die Tageszeitung. Aber indem politische Akteure regelmäßig Spuren absondern, machen sie im Prozess vieler anderer Akteure regelmäßig einen Unterschied. Andererseits produzieren sie, indem sie sich als Autoren von Gesetzestexten betätigen, Spuren, die ihrer Form nach teils viel haltbarer sind als die tagesaktuellen medialen Spuren und die als generische, in vielen Auflagen vervielfältigte und disseminierte, im Prozess vieler andere Akteure auf lange hin wiederholt einen Unterschied machen können bzw. den Prozess dieser anderen Akteure in Aspekten prozessieren. So mag das „Erbe“ von politischen Akteuren in einem von ihnen miterzeugten Stand der Dinge, im Geschichtsbuch und im Gedächtnis einer Menge anderer Akteure zu finden sein. Es liegt aber, noch greifbarer, in den Zeilen eines Gesetzestextes, den sie mitverfassten und der unter anderem von immer neuen Generationen von Studierenden der Jurisprudenz rezipiert wird und ihren Prozess regelmäßig anleitet, – so dass politische Akteure noch lange nach ihrem Tod mittels spurenvermittelter Interaktion aktive Elemente von Kollektivitäten sein können. Analog ließe sich die starke Kollektiviertheit der in medialen Oligoptiken tätigen Akteure beschreiben: Durch die tägliche Kontraktion, Produktion und Vervielfachung von Spuren (die ja dem Anspruch nach nicht Spuren ihres Prozesses sind, sondern, vermittelt durch ihren Prozess, Spuren von Prozessen anderer Akteure) werden sie laufend kollektiviert, machen im Prozess etwa der Abonnenten regelmäßig einen Unterschied. In dem Maß, in dem politische und mediale Oligoptiken Spuren von innerhalb des gesamten Territoriums eines „Landes“ stattfindenden Prozessen kontrahieren und gesetzesförmige und massenmediale Spuren wiederum in dieses Territorium disseminieren, kann davon gesprochen werden, sie arbeiteten an der Konstitution von Kollektivitäten in „nationaler“ Dimension. Dadurch wird nicht der „Staat“ schlechthin zu einer Kollektivität; aber Prozesse der Kollektivierung übergreifen spurenvermittelt das ganze Territorium und die meisten der darin situierten Akteure. (3) Die Konzentration auf die wiederholte Interaktion selbiger Akteure verstellt den Blick auf die transgenerationale Konstitution von Kollektivitäten. Das Phänomen der Generationalität bildet das Zentrum jeder Kollektivierung-alsReplikation. Im Fall der biologischen Replikation folgen die Generationen als Eltern, Kinder, Enkel usw. aufeinander. In der Replikation kultureller Formen bildet die Kette der Nachahmer eine generationale Kette, wobei alle kulturellen Formen, die mittels Nachahmung desselben Vorbilds repliziert werden, eine Generation bilden. Im Fall der Replikation der Form von Artefakten bilden, etwas

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komplizierter, beispielsweise alle in einem Werk produzierten formgleichen Artefakte eine Generation: die nächste Generation sind dann die in einem anderen Werk, von anderen Herstellern produzierten formgleichen Artefakte (etwa wo ein Artefakt den Markt erobert und fortan von immer mehr Herstellern mehr oder weniger gleichartig produziert wird). Für die Kollektivierung-als-Interaktion steht Generationalität hingegen nicht im Zentrum. Gleichwohl gibt es transgenerationale Interaktionszusammenhänge: Ihr Paradigma ist das Modell der Familie. Familien sind, in der schematischen Betrachtung, transgenerationale Zusammenhänge regelmäßiger Interaktion, bei denen durch Geburt und Heirat laufend Interaktionspartner hinzukommen und durch Tod entfallen, ohne dass die Kontinuität der Interaktionen intergenerational jemals unterbrochen werden würde. Wie die Generationen einer Familie durch eine ununterbrochene Kette von biologischen Replikationen zusammenhängen, so hängen sie auch durch eine ununterbrochene Kette von Interaktionen zusammen. Diese Interaktionen gewährleisten auch die inter- und transgenerationale Weitergabe gewisser Ensembles von kulturellen Formen mittels ununterbrochener Nachahmungskette. Transgenerationale Interaktionszusammenhänge setzen, allgemein, nicht unbedingt die familial ununterbrochene Kette biologischer Replikationen voraus, auch wenn das laufende Hinzukommen von Interaktionspartnern das Weiterlaufen der biologischen Replikation insgesamt zur Bedingung hat. In jedem Fall aber erfordern sie ununterbrochene Ketten von Interaktionen und Nachahmungen. Dieses Erfordernis ist bei vielen Formen von Interaktionszusammenhängen nicht erfüllt, so etwa bei „Freundeskreisen“: Diese Interaktionszusammenhänge erlöschen mit dem Ableben der selbigen Akteure, die sie zusammensetzen, da sie über keine eigenen Mechanismen der Produktion oder des Einbezugs von generischem „Nachschub“ verfügen – wie das bei Familien, aber auch bei anderen transgenerationalen Institutionen der Fall ist. Transgenerationale Institutionen nach dem Modell der Familie zu denken, heißt konkre: Institutionen existieren als ununterbrochene Kette von Interaktionen zwischen Akteuren, die laufend hinzukommen und entfallen und dabei eine ununterbrochene Nachahmungskette bilden. Bei staatlichen Organisationen oder langlebigen Unternehmen etwa kommt, vielleicht noch stärker als bei Familien, das Moment der transgenerationalen Kontinuität und Wirksamkeit extramentaler Spuren hinzu: Ein Bestand von Architekturen und Artefakten, schriftlichen Satzungen, gewährten Patenten, fortbestehenden Verträgen etc. liegt beim Eintritt von Akteuren in den Interaktionszusammenhang, den diese Spuren mitprozessieren, bereits vor, und überdauert ihre Teilnahme am Interaktionszusammenhang. Die Spuren konstituieren den Interaktionszusammenhang über Interaktion und Nachahmung unter der Bedin-

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gung der Kopräsenz der jeweiligen Akteure hinaus als einen Zusammenhang spurenvermittelter Transinteraktionen. Bleibt anzumerken, dass nach dem Modell der Familie gedachte transgenerationale Institutionen einen weiteren praktischen Fall dessen bilden, was oben als die stärkere Realität der Formen gegenüber ihren Verkörperungen bezeichnet wurde. Denn zumindest in dem Maße, in dem, während in 120 Jahren kaum ein heutiger menschlicher Akteur noch als selbiger auf der Erdoberfläche anzutreffen sein wird, es weiterhin „Menschen“ gibt, gewisse Institutionen fortbestehen, manche kulturelle Formen ungefähr identisch die Interaktionen von Akteuren prozessieren, die x-te Neuauflage der Aristotelischen Metaphysik rezipiert wird etc., – in diesem Maße sind die Formen und die generischen Spuren tatsächlich ganz praktisch in höherem Maße seiend als die beliebigen menschlichen Akteure, die sie tragen.

4.3 P ROZESSOBJEKT

UND SOZIALER

R EALISMUS

Die Frage des Realismus vs. Nominalismus zieht sich durch diese ganze Untersuchung. Sie betrifft nicht nur, klassisch, das Universalienproblem in der Philosophie, sondern auch den Diskurs der Wahrscheinlichkeitstheorie. Und sie betrifft die Frage der Existenzweise von Kollektivitäten. Als das der Opposition zugrunde liegende Kernproblem wurde die Frage der Existenzweise und des Status’ von Prozessobjekten ausgewiesen. In den Gesellschaftswissenschaften formuliert sich der Realismus als Annahme einer von den „Individuen“ abgehobenen „Gesellschaft“. Die gesellschaftliche Entität sei eine Entität „sui generis“, sei entsprechend „nicht reduzierbar“ auf die „Individuen“, sondern sei „mehr als die Summe ihrer Teile“; „über“, „unter“ oder „hinter“ den „Individuen“ gelegen, seien diese „in“ die gesellschaftliche Entität als ihre Teile „eingebettet“ oder „Ausdruck“ der ihnen äußerlichen gesellschaftlichen Realität.69 In Kapitel 3.2.3 wurde die Position Adolphe Quetelets als eine klassisch realistische skizziert. Quetelet modellierte nicht nur das statistische Konstrukt des „Durchschnittsmenschen“ nach dem

69 Diese Charakterisierung stellt schon auf den gesellschaftstheoretischen Realismus Emile Durkheims im Besonderen ab, siehe unten. Eine umfassend kontextualisierende Darstellung der Divergenz akteurszentrierter vs. strukturalistischer (oder, je nach Spielart: systemischer, holistischer, emergentistischer) Ansätze in der Gesellschaftstheorie kann hier nicht geliefert werden. Vgl. exemplarisch und für weiterführende Literatur Martin/Dennis 2010.

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Modell der platonischen Formen als ein Urbild, sondern ging auch von der Existenz eines transindividuellen „concrete being which we call a people“ aus, welches mit eigenem Wollen und eigenen Gewohnheiten begabt sei. In diesem Kapitel wird die Frage der Triftigkeit der Annahme eines gesellschaftlichen Realismus von der Figur des Prozessobjekts her zu beantworten versucht (Kap. 4.3.3). Ausgangspunkt ist dabei Latours Position. Latour bezieht sich in dieser Sache seinerseits auf den zeitgenössischen Konflikt zwischen den Positionen Gabriel Tardes und Emile Durkheims, der von Tarde selbst wesentlich als Konflikt zwischen Nominalismus und Realismus in der Gesellschaftstheorie gefasst wurde: „Between us is the debate between nominalism and scholastic realism. I am a nominalist. There can only be individual actions and interactions.” (Tarde 1969, 140) Anders als Latour, der diesen Konflikt entschieden dramatisiert, wird hier nach der Anschlußfähigkeit der respektiven Positionen gefragt (Kap. 4.3.1); und gegen Latours fast durchgängig negative Rezeption Durkheims wird nicht nur die Adäquatheit der Durkheim’schen Beobachtungen und Befunde herausgestellt, sondern auch aufgewiesen, dass Durkheim Aspekte von Kollektivitäten erfasst, die Latour und Tarde entgehen (Kap. 4.3.2). Latour beansprucht, mit der ANT die Opposition zwischen Nominalismus und Realismus in der Gesellschaftstheorie im Ansatz zu unterlaufen (Kap. 4.1.3), indem nicht von „Individuen“ „in“ „Gesellschaften“ ausgegangen wird (NSNG 372), sondern unmittelbar von Akteur-Netzwerken, deren Konstitution, Ausbreitung und Verzahnung konkret analysiert werden kann. „Individuen“ sind nicht gleichsam nackt und interagieren nicht in rein präsentischen face-to-faceInteraktionen; diese Vorstellung weist Latour als „Abstraktion“ (NSNG 292) und „nicht existierende Position“ (NSNG 293) aus. Sondern heterogene menschliche und nichtmenschliche Akteure treten in gemeinsame Prozesse ein, die ggf. weit ausgreifen können (Dissemination), andererseits aber immer schon Spuren anderer, an anderen Orten und Zeiten stattgefunden habender Prozesse einbegreifen (Kontraktion). Während vor diesem Hintergrund ein Begriff des „Globalen“ als Topologie von „Makro-Orten“, als lokale Kontraktion und strukturierende Zusammenstellung von Spuren oder als weiträumige Ausbreitung kultureller Formen gefunden werden kann, erscheinen die Begriffe der „Gesellschaft“, der „Struktur“, des „Systems“, des „Kontexts“ etc. Latour als eigentlich unbrauchbar. Wie zitiert: „Struktur ist [...] zu schwach und zu weit entfernt [von lokalen Interaktionen], um irgendeine Wirksamkeit zu besitzen“ (NSNG 291), ist also eine „mysteriöse“ (NSNG 309) und letztlich fiktive Figur wie „Merlins Schloß“ (NSNG 300, vgl. 292f.), markiert (wie die präsentische face-to-face-Interaktion) eine „nicht existierende Position“ (NSNG 293), einen Rückzugsort der Ignoranz („refuge of ignorance“, PIC 90).

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Wenn sich Latour somit der Opposition zwischen Nominalismus und Realismus zu entziehen sucht, kommt die Opposition bei ihm doch insoweit ins Spiel, als er das Projekt der ANT als ein Projekt in der Nachfolge Tardes und damit als eine gegen Durkheim gerichtete Soziologie in Stellung bringt: „Was ist eine Gesellschaft? Was bedeutet das Wort „sozial“ [d.h., „gesellschaftlich“]? [...] Die erste Lösung bestand darin, die Existenz eines spezifischen Typs von Phänomenen zu postulieren, die abwechselnd als „Gesellschaft“, „Gesellschaftsordnung“, „gesellschaftliche Praxis“, „gesellschaftliche Dimension“ oder „gesellschaftliche Struktur“ bezeichnet wurde. [...] Sobald diese soziale Sphäre einmal, wie vage auch immer, definiert war, ließ sich mit ihrer Hilfe Licht auf spezifisch soziale Phänomene werfen – das Soziale konnte das Soziale erklären – und konnte ein bestimmter Typ von Erklärung für etwas bereitgestellt werden, das die anderen Bereiche nicht erklären konnten [...]. Es gibt aber einen zweiten Ansatz, der die Grundannahmen des ersten nicht für selbstverständlich hält. Er behauptet, daß es nichts Spezifisches gibt, was die Gesellschaftsordnung auszeichnet; daß es keine „soziale Dimension“ irgendeiner Art gibt, keinen „sozialen Kontext“ [...]; daß keine „sozialen Kräfte“ zur Verfügung stehen, um die residualen Eigenschaften anderer Bereiche zu „erklären“ [...]; daß Akteure niemals in einen sozialen Kontext eingebettet sind und daher mehr sind als „bloße Informanten“ etc.“ (NSNG 12-15)

Diese beiden Ansätze ordnet Latour paradigmatisch Durkheim (erster Ansatz) und Tarde (zweiter Ansatz) zu und identifiziert den Konflikt der Ansätze entsprechend als „nicht neu“: „Es gab ihn bereits in den Anfangstagen dieser Disziplin (zumindest in Frankreich), und zwar im Disput zwischen dem älteren Gabriel Tarde und Émile Durkheim, aus dem letzterer als Gewinner hervorging.“ (NSNG 30) So gesehen weist sich Latours vernichtende Kritik Durkheims als historische Wiedergutmachung eines an Tarde begangenen Unrechts aus. Latour dramatisiert den Konflikt zwischen Tarde und Durkheim ganz buchstäblich, indem er 2007 / 2008 einen historischen, 1903 an der Ecole Pratique des Hautes Etudes stattgefunden habenden Disput zwischen Tarde und Durkheim wiederaufführt, wobei das erhaltende Protokoll dieses Disputs (Tarde 1969, 136ff.) durch Textstellen aus den Schriften Tardes und Durkheims ergänzt wird (Vargas et al. 2008). Da Steven Lukes (1973, 302-313) den Textzusammenhang des historischen Streits zwischen Tarde und Durkheim – von Tardes Kritik an Durkheims Über soziale Arbeitsteilung bis zum genannten Disput 1903 – bereits nachgezeichnet hat, kann sich das Folgende, der Fragestellung gemäß, auf Tardes Reaktion auf Durkheims Regeln der soziologischen Methode (1895) konzentrieren. Dabei bleibt die Auseinandersetzung mit Durkheim auf ausgewählte

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Aspekte seiner Soziologie beschränkt, die als Ganze weder erfasst noch eingeschätzt wird. 4.3.1 Durkheim vs. Tarde Durkheim versucht in den Regeln – seiner zweiten großen monographischen Publikation nach Über soziale Arbeitsteilung (1893) –, die Soziologie als eigenständige Wissenschaft zu begründen, indem er einen Realitätsbereich herausarbeitet, der als genuin gesellschaftlich gefasst wird, als solcher irreduzibel auf andere Realitätsbereiche ist und entsprechend nach einer spezifisch soziologischen Analyse und Erklärung verlangt.70 Er beginnt die Analyse dieses Realitätsbereichs, den er als Ensemble „soziologischer Tatbestände“ fasst, sehr intuitiv wie folgt: „In Wahrheit gibt es in jeder Gesellschaft eine fest umgrenzte Gruppe von Erscheinungen, die sich deutlich von all denen unterscheiden, welche die übrigen Naturwissenschaften erforschen. Wenn ich meine Pflichten als Bruder, Gatte oder Bürger erfülle, oder wenn ich übernommene Verbindlichkeiten einlöse, so gehorche ich damit Pflichten, die außerhalb meiner Person und der Sphäre meines Willens im Recht und in der Sitte begründet sind. [...] [N]icht ich habe diese Pflichten geschaffen, ich habe sie vielmehr im Wege der Erziehung übernommen. [...] Daß sie vor [dem einzelnen Menschen] da waren, setzt voraus, daß sie außerhalb seiner Person existieren. Das Zeichensystem, dessen ich mich bediene, um meine Gedanken auszudrücken, das Münzsystem, in dem ich meine Schulden zahle, die Kreditpapiere, die ich bei meinen geschäftlichen Beziehungen benütze, die Sitten meines Berufes führen ein von dem Gebrauche, den ich von ihnen mache, unabhängiges Leben. Das eben Gesagte kann für jeden einzelnen Aspekt des gesellschaftlichen Lebens wiederholt werden. Wir finden also besondere Arten des Handelns, Denkens, Fühlens, deren wesentliche Eigentümlichkeit darin besteht, daß sie außerhalb des individuellen Bewußtseins existieren.“ (RSM 105f.)

70 Hiermit bringt sich Durkheim von Beginn an in scharfen Gegensatz zu Tarde, der den Gesellschaftsbegriff gerade nicht auf einen Realitätsbereich einschränkt, sondern entgrenzt bzw. im Prozess der Entgrenzung begriffen sieht: „Dies setzt aber voraus, dass jedes Ding eine Gesellschaft ist und dass alle Phänomene soziale Tatsachen sind. Auffallend ist, dass die Wissenschaft [...] dazu neigt, den Gesellschaftsbegriff ganz erstaunlich zu verallgemeinern. [...] Alle Wissenschaften scheinen dazu bestimmt, Zweige der Soziologie zu werden.“ (Tarde 2009, 51; vgl. NSNG 16-19, 32)

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Einzelne Akteure engagieren sich in Typen des Handelns, Denkens und Fühlens, die sie nicht selbst erfunden, sondern von früheren Generationen übernommen haben und die, wie die Beispiele nahelegen, in der sie umgebenden Gesellschaft weit verbreitet sind. Dass diese Typen „außerhalb des individuellen Bewußtseins“ existieren, folgt aus ihrem ererbten Charakter, ihrer quantitativen Verbreitung sowie aus der Tatsache, dass sie sich der Veränderung durch individuelle Willensentscheidungen entziehen: der einzelne Akteur mag sie aufgreifen oder nicht, – sie bestehen unabhängig von ihm. Wenn im Zitat von „Pflichten“ gesprochen wird, deutet sich an, was Durkheim unmittelbar ausführt: Dass diese Typen des Handelns, Denkens und Fühlens mit einer „gebieterischen Macht ausgestattet [...] sind, kraft deren sie sich einem jeden aufdrängen.“ (ebd., 106) Dieses Sich-Aufdrängen wird merklich im Widerstand, dem sich Akteure gegenüber sehen, die von diesen Typen abweichen. „Widerstand“ kann etwa die rechtliche Sanktion oder die soziale Ächtung abweichenden Verhaltens sein, ebenso aber in Formen praktischen Scheiterns zu Ausdruck kommen: „Ich bin nicht gerade verpflichtet, mit meinen Landsleuten französisch zu sprechen, auch nicht, die gesetzliche Währung zu gebrauchen. Und doch ist es unmöglich, daß ich anders handele. [...] Nichts hindert den Industriellen daran, mit den Methoden eines anderen Jahrhunderts zu arbeiten. Er soll es aber nur tun. Sein Ruin wäre sicher.“ (ebd.) Ihre Äußerlichkeit und ihr gegenüber den Individuen ausgeübter Zwang reichen Durkheim für eine erste Definition der soziologischen Tatbestände: „[S]ie bestehen in besonderen Arten des Handelns, Denkens und Fühlens, die außerhalb der Einzelnen stehen und mit zwingender Gewalt ausgestattet sind, kraft deren sie sich ihnen aufdrängen.“ (ebd., 107) Insbesondere das Charakteristikum der Äußerlichkeit der sozialen Tatbestände scheint Durkheim zu einer Konsequenz zu nötigen, die Tardes schärfsten Widerspruch auf sich ziehen wird: Wenn die sozialen Tatbestände den Individuen äußerlich sind, können diese nicht ihre eigentlichen Träger, ihr Substrat sein; also bleibt für die sozialen Tatbestände „kein anderes [Substrat] als die Gesellschaft, sei es die staatliche Gesellschaft als Ganzes, sei es eine der Teilgruppen, die sie einschließt“. (ebd., 107) Der gesellschaftstheoretische Realismus Durkheims präsentiert sich so wesentlich als Konsequenz der festgestellten Äußerlichkeit der sozialen Tatsachen. „Ihr Inhalt sind die Glaubensvorstellungen, die Neigungen, die Gebräuche einer Gruppe als Ganze genommen. Die Formen, die die kollektiven Zustände annehmen, sofern sie sich in den Individuen widerspiegeln, sind Dinge [...] anderer Art.“ (ebd., 109) Die Widerspiegelungen oder „individuellen Inkarnationen“ (ebd.) sind eben dies: (bloße) Inkarnationen oder Instantationen der sie übersteigenden Realität eines „Ganzen“. „Es ist ein Zustand der Gruppe, der sich bei den Einzelnen wiederholt, weil er sich ihnen aufdrängt.

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Er ist in jedem Teil, weil er im Ganzen ist, und er ist nicht im Ganzen, weil er in den Teilen ist.“ (ebd., 111) Auf dieses Szenario reagiert Tarde (1898d, engl. Übers. Tarde 1969, 112-135) wie folgt: „But how could [the social fact] be refracted before it exists, and, to speak intelligibly, how could it exist outside of all individuals? The truth is that any social thing, a word in language, a religious rite, a trade secret, an artistic process, a legal provision, a moral maxim, is transmitted and passed not from the social group taken collectively to the individual, but from individual – parent, teacher, friend, neighbor, comrade – to another individual [...]. Like all reality, this reality changes by imperceptible nuances, but this does not preclude that from the individual variants there emerges a collective result which is almost constant, and which first strikes our attention and gives rise to Mr. Durkheim’s ontological illusion. For there is no doubt that it is a veritable scholastic ontology that the learned writer is undertaking to inject into sociology.“ (Tarde 1969, 115) For [Durkheim], I repeat, the individual facts which we call social are not the elements of the social fact but only its manifestation. As for the social fact itself, it is the superior model, the Platonic Idea, the model. (ebd., 117)

Tardes Widersprüche lassen sie wie folgt reformulieren (Lukes 1973, 305ff.): (1) Wenn sich die soziologischen Tatbestände, deren Träger allein das Ganze ist, in den Individuen widerspiegeln, dann setzt das logisch voraus, dass sie ihren Widerspiegelungen vorgängig sind. Diese Vorgängigkeit verlangt, dass das Ganze außerhalb und unabhängig vom Gesamt seiner Teile existiert – so dass es selbst dort noch existieren müsste, wo es gar keine Teile mehr gibt: was absurd ist. Die Absurdität lässt sich als „scholastische“ bzw. „platonische“ Ontologie identifizieren. (2) Wenn die soziologischen Tatbestände als ihren Träger das Ganze haben, wie könnten sie sich dann überhaupt in den Teilen widerspiegeln? Das würde verlangen, dass die Tatbestände unmittelbar vom Ganzen auf die Teile übergehen – was aber nicht zu beobachten ist. Vielmehr werden sie bloß von einem Individuum zu anderen transmittiert. (3) Durkheims „ontologische Illusion“, die soziologischen Tatbestände existierten außerhalb aller Individuen, erklärt sich aus der Einförmigkeit und weiten Verbreitung bestimmter als Gegenstände der Nachahmung begriffener soziologischer Tatbestände. Dass diese Tatbestände als eminent überpersönlich erscheinen, verdeckt bloß den Sachverhalt, dass es sich bei ihnen um akkumulierte und verallgemeinerte „individuelle Varianten“ oder Neuerungen handelt.

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Ohne jetzt schon die Hauptfrage zu berühren – was Durkheim nämlich genau meint, wenn der vom „gesellschaftlichen Ganzen“ spricht – lassen sich die Konfliktpunkte erheblich entdramatisieren (ohne sie wegreden zu wollen), wenn man von der abstrakt-terminologischen auf eine eher deskriptive Ebene im Denken Durkheims und Tardes überwechselt. Dann ist ad (1) zu bemerken, dass Durkheim üblicherweise von der Allgemeinheit, der weiten Verbreitung soziologischer Tatbestände ausgeht: „Man wird [...] einwenden, ein Phänomen könne nur kollektiv sein, wenn es allen Mitgliedern der Gesellschaft gemeinsam ist oder wenigstens einer Mehrzahl von ihnen, also wenn es allgemein ist. Zweifelsohne“. (RSM 111) Zwar sind die Tatbestände nicht durch ihre Allgemeinheit definiert, sondern durch ihren obligatorischen Charakter, den Durkheim auch als Ursache ihrer Verallgemeinerung ausmacht (ebd.). Aber der von Tarde als absurde Konsequenz unterstellte Fall, dass ein soziologischer Tatbestand nur im Ganzen und nicht in den Teilen ist, kommt in Durkheims Szenario gar nicht vor. Man kann Tarde hier sogar eine gewisse polemische Unredlichkeit vorhalten, da er Durkheims Satz „Kommt nun das Individuum nicht in Betracht [zur Erklärung des Zwangscharakters der soziologischen Tatbestände], so bleibt nur die Gesellschaft übrig“ (ebd., 186)71 dekontextualisiert und entstellend (nämlich ontologisierend) wiedergibt mit: „Individuals aside, only society remains“ (1969, 120)72, – während Durkheim bereits in Über soziale Arbeitsteilung sehr deutlich gemacht hatte, dass „die Gesellschaft ohne die Individuen nichts ist“ (auch wenn „jedes Individuum viel eher ein Produkt der Gesellschaft als ihr Schöpfer“ ist). (AT, 417f., Fn. 16) Ähnlich heißt es auch in den Regeln: „Zweifellos kann keine kollektive Erscheinung entstehen, wenn kein Einzelbewußtsein vorhanden ist“ (auch wenn „diese notwendige Bedingung allein nicht ausreichend“ ist). (RSM 187) Insbesondere wenn man feststellt, dass Tarde selbstverständlich anerkennt, dass, wenn ein soziologischer Tatbestand bzw. eine kulturelle Form in einer Gesellschaft weit verbreitet ist, sie von allen Individuen, einzeln genommen, äußerlich ist in dem Sinne, dass diese Tatbestände / Formen mit dem Verschwinden einzelner oder weniger Individuen nicht auch verschwinden (1969, 119f.), ist deutlich, dass es sich um einen in seiner Schärfe von Tarde überpointierten Konfliktpunkt handelt.

71 “Ce n’est pas de [l’individu] que peut venir cette pousée extérieure qu’il subit; ce n’est donc pas ce qui se passe en lui pui la peut expliquer. […] Or, l’individu écarté, il ne reste que la sociéte.” (RSMog 125) 72 Tarde 1895, VI: „[L]es individus écartés, il reste la Societé”.

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Das gilt – ad (2) – auch für die Frage, ob sich soziologische Tatbestände unmittelbar aus einem gesellschaftlichen Ganzen heraus den Individuen übermitteln („aufdrängen“) oder ob sie, als Gegenstände der Nachahmung, von Individuum zu Individuum transmittiert werden. Zwar ist der soziologische Tatbestand für Durkheim im Teil, weil er im Ganzen ist. Konkret jedoch sind es auch bei ihm immer Einzelpersonen, die ihn übermitteln: Die „kollektive Gewohnheit [...] wird [...] ein für allemal in einer Form ausgedrückt, die von Mund zu Mund geht, durch Erziehung sich fortpflanzt und sogar durch die Schrift festgehalten wird.“ (RSM 109f.) Durkheim nennt in diesem Zusammenhang etwa die Kindererziehung, welche „die Herausbildung des sozialen Wesens“, also die Übermittlung soziologische Tatbestände (Arten „zu sehen, zu fühlen und zu handeln“, ebd. 108) zum Gegenstand hat, was selbstverständlich durch „Eltern und Lehrer“ bewerkstelligt wird (auch wenn diese bloß als „Stellvertreter und Vermittler [ihres] Milieus“ gefasst werden). (RSM 108f.) In Über soziale Arbeitsteilung sind es die „Alten“, die mit ihrem hohen Sozialprestige die „Kraft der Tradition“ geradezu „ausmachen“ (AT, 355) und den intergenerationalen Bestand der sozialen Tatbestände (bzw. „Kollektivzustände“, ebd., 353) sichern. Insofern bei Durkheim an diesen Stellen ein Replikationsmodell soziologischer Tatbestände durchscheint, das dem der Replikation kultureller Formen bei Tarde ähnelt, hat Tarde nicht unrecht, wenn er Durkheim nachzuweisen sucht, in Wahrheit komme auch er nicht um die Anerkennung von Nachahmungsprozessen als den eigentlich gesellschaftsbildenden Prozessen herum: „If he were not blinded by his preoccupation, [Durkheim] would see what is perfectly obvious: that he has just involuntaritly furnished new testimony to the eminently social, or rather socializing natur of imitative repetition.“ (1969, 116) Man kann hier noch weitergehen und herausstellen, dass, wie Tarde die Soziologie letztlich als (nicht Individual-, sondern) „Inter-Psychologie“ fasst (SG 14f., vgl. GN98ff.), Durkheim in Über soziale Arbeitsteilung bemerkt: „Alle [...] Fakten aber, deren Erklärung man nicht in der Gewebskonstitution [des Körpers] findet, rühren aus Eigenschaften des sozialen Milieus her. [...] Daraus also, daß es ein umfangreicheres Gebiet des Bewußtseins gibt, dessen Entstehung der PsychoPhysiologie allein unbegreiflich ist [das also nicht auf organisch-angeborene Faktoren zurückgeführt werden kann], darf man [...] schließen, daß es Gegenstand einer anderen positiven Wissenschaft sein muß, die man Soziopsychologie nennen könnte. Die Phänomene, die ihr Material darstellen würden, sind tatsächlich gemischter Natur: Sie haben dieselben

350 | K OLLEKTIVITÄTEN Wesensmerkmale wie die anderen psychischen Fakten, besitzen aber soziale Ursachen.“ 73

(AT, 415, Kurs. eingef.)

Tardes „Inter-Psychologie“ und Durkheims „Soziopsychologie“ sind zwar nicht identische Begriffe, insofern Durkheim die „sozialen Ursachen“ in den „Eigenschaften des sozialen Milieus“ (ebd.) findet, während für Tarde der interpersonale Aspekt der Psychologie aus der Nachahmung von Individuen durch Individuen resultiert. Bedenkt man aber, dass, wie es im Beispiel der Kindererziehung hieß, das Milieu notwendig seine konkreten „Stellvertreter und Vermittler“ hat, dann scheint faktisch die Differenz der Begriffe nicht sehr groß zu sein. Auch lässt sich die unterstellte Übermittlung von soziologischen Tatbeständen unmittelbar vom Ganzen zu seinen Teilen schlicht so verstehen, dass bestimmte soziologische Tatbestände innerhalb bestimmter Milieus so verallgemeinert vorliegen, dass es für die Individuen sozusagen kein Entkommen gibt: Der „Druck, der das unterscheidende Kennzeichen der soziologischen Tatbestände ist, wird von allen auf den Einen ausgeübt“ (RSM 186, Kurs. eingef.), insofern der Eine innerhalb seines Milieus buchstäblich auf niemanden trifft, der nicht bereits Träger und Vermittler der bestimmten soziologischen Tatbestände wäre. Ähnlich liegen die Dinge hinsichtlich des Begriffs der Nachahmung selbst. Durkheim grenzt seine Definition der soziologischen Tatbestände explizit von Tardes Begründung von Soziabilität durch Nachahmungsprozesse ab: Seine

73 Das Zitat ist geeignet, Durkheim genuin als Kulturtheoretiker auszuweisen (vgl. Kap. 3, Fn. 91). Die Tätigkeit eines Organismus, die aus seiner erblichen Gewebskonstitution herrührt, ist keine soziale im Sinne Durkheims; insofern ist auch die Interaktion von Organismen, sofern diese aus ihrer erblichen Gewebskonstitution herrührt, eher ein biologischer als ein sozialer Sachverhalt. Sondern erst dort, wo Organismen ihre Konstitution auf nicht-biologischem Wege erwerben, wo ihre Konstitution aus der Interaktion mit anderen Individuen herrührt und diese Interaktion wiederum prozessiert, hat man es mit eigentlich sozialen Phänomenen zu tun. Dem zu Grunde liegt ein einfacher Schluß: wenn Menschen im Laufe ihrer Geschichte immer neue Lebensformen entwickelten, so dass sich das Leben der gegenwärtigen erheblich von dem früherer Generationen unterscheidet; wenn aber die biologische Konstitution der Menschen sich nicht verändert hat, und entsprechend auch nicht die psychologischen Dispositionen, mit denen sie zur Welt kommen; dann können die Veränderungen der Lebensweise und psychologischen Konstitution der Menschen nicht aus ihren individuellen psychologischen Dispositionen herausgewachsen sein. Sondern die Faktoren dieser Veränderungen müssen außerhalb der psychologisch-biologischen Dispositionen von Individuen gesucht werden.

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„Untersuchungen“ bestätigten „den von Tarde behaupteten Einfluß der Nachahmung auf die Entstehung der sozialen Phänomene nicht“. (RSM 112, Fn.) Noch in der gleichen Fußnote aber erkennt Durkheim die Realität der Nachahmung ganz selbstverständlich an, auch wenn diese nicht zur Grundlegung der Soziologie tauge: „Allerdings wird jedes soziale Phänomen nachgeahmt und besitzt, wie wir soeben gezeigt haben, die Tendenz, allgemein zu werden. Das geschieht aber aus dem Grunde, weil es sozial, also obligatorisch ist. Seine Fähigkeit, sich auszubreiten, ist nicht die Ursache, sondern die Wirkung seines soziologischen Charakters.“ (ebd.) Während man Tardes Nachahmungsbegriff als funktional – über Form-Replikation – definiert verstehen kann (Kap. 3.3.2), womit zwar diverse Transmissionsphänomene unter den Begriff fallen, dieser aber seine Abgegrenztheit keineswegs verliert, arbeitet Durkheim in Der Selbstmord eine im Kern polemische und sachlich lächerliche Definition von „Nachahmung“ heraus, die darauf hinausläuft, unter Nachahmung bloß das „reine Nachäffen“ zu verstehen: „An sich hat das Nachgeahmte nichts, das für uns ein Grund zur Wiederholung wäre. [...] Die Vorstellung, die wir uns davon machen, bestimmt automatisch die Bewegungen, durch die die Wiederholung zustandekommt. So gähnen wir, lachen oder weinen, weil wir andere gähnen, lachen, weinen sehen.“ (SM 126). Nur geistloses, automatisches, ansteckendes Nachäffen ohne begleitenden Denkvorgang sei Nachahmung. (ebd., 129ff.) Ziel dieser Definition ist offenkundig das Lächerlich- und Unbrauchbar-Machen des Tarde’schen Begriffs. Denn Durkheim selbst verfügt eben doch über eine Vorstellung davon, wie soziale Tatsachen sich von Individuum zu Individuum übertragen können, so unter Beihilfe von zwischen Individuen herrschender „Sympathie“, von „Respekt“, von „Druck“: „Die Handlung wird [unter diesen Bedingungen] nicht deshalb wiederholt, weil sie etwa in unserer Gegenwart stattgefunden hat oder uns bekannt geworden ist oder weil wir sie um ihrer selbst willen gern wiederholen wollen, sondern weil sie uns obligatorisch und in gewissem Sinne nützlich erscheint. Wir nehmen sie vor, nicht weil sie einfach schon einmal vorgenommen worden ist, sondern weil sie den Stempel der Gesellschaft trägt, der uns Hochachtung abverlangt, ohne die wir im übrigen schwere Nachteile in Kauf nehmen müßten. Mit einem Wort, Handeln aus Respekt oder aus Furcht vor der öffentlichen Meinung ist nicht Nachahmung.“ (ebd., 129) „Wenn [...] die Vorstellung, die diese Kopie [eines nachgeahmten Modells] in uns wachruft, nur dank unserer Zustimmung und unserer Mitarbeit wirksam werden kann, dann kann man nur noch bildlich von Anstreckung [Nachahmung] sprechen [...]. Denn die entscheidenden Gründe für unser Verhalten sind Überlegungen und Vernunft, nicht das Bei-

352 | K OLLEKTIVITÄTEN spiel, das wir vor Augen hatten. Wir selbst sind die Urheber der Handlung, wenn wir auch nicht ihre Erfinder sind.“ (ebd., 131)

Es versteht sich von selbst, dass die so beschriebene soziale Wiederholung unter den Tarde’schen Begriff der Nachahmung fällt, dem es ja nur darum geht, ob kulturelle Formen als Handlungsdispositionen von Individuen repliziert werden, und nicht um die diversen begleitenden oder ursächlichen Motive und Umstände der Replikation.74 Sieht man von Durkheims destruktiver definitorischer Übung ab, besteht auf deskriptiver Ebene kein pointierter Gegensatz zwischen der Tarde’schen und der Durkheim’schen Fassung sozialer Wiederholung. Das gilt in gewissem Umfang noch für die Frage, ob sich Nachahmungsgegenstände bzw. soziologische Tatbestände vor allem deshalb verallgemeinern, weil sie obligatorisch sind und einen zwingenden Druck auf die Individuen ausüben, oder sich eher verallgemeinern „durch Überredung, durch Suggestion, durch das einzigartige Vergnügen, das wir von der Wiege an empfinden, die Vorbilder der tausenderlei uns umgebenden Modelle auf uns wirken zu lassen, gleich, wie das Kind Lust daran hat, die Milch der Mutter zu saugen.“ (SG94; vgl. 1969, 118f.) Denn auch wenn Tarde den Zwang nicht als Hauptmechanismus der Nachahmung begreift, schließt er die zwangsmäßige Nachahmung keineswegs aus. Und Durkheim, der in den Regeln sehr stark auf den Zwangscharakter der sozialen Tatsachen als ihrem Verbreitungsmodus abstellt, relativiert genau diese Einengung im Vorwort zur 2. Auflage: „Die Zwangsgewalt, die wir den soziologischen Tatbeständen zuschreiben, erschöpft ihren Begriff so wenig, daß sie sogar auch das entgegengesetzte Merkmal aufweisen. Denn ebenso wie sich die Institutionen uns aufdrängen, erkennen wir sie an. Sie verpflichten uns und sind uns wert.“ (RSM 98, Fn.) Schließlich ist ad (3) festzustellen, dass in den Soziologien Tardes und Durkheims unterschiedliche Interessenlagen zum Ausdruck kommen. Tardes Interesse gilt tendenziell den individuellen, raumzeitlich genau lokalisierten Neuerungen, bzw. der Frage, auf welchen Wegen, gemäß welcher Mechanismen und Gesetze sich diese lokalisierten Neuerungen in einer Nachahmungsgemeinschaft von Individuen ausbreiten. Durkheim hingegen interessiert sich tendenziell nicht für den Anfang, sondern für das vorläufige Ende eines solchen Ausbreitungsprozesses, – für Arten „zu sehen, zu fühlen und zu handeln“, die sich in einer Gesellschaft weit verbreitet haben und sich als Traditionsbestände auch intergenera-

74 Wie in Kap. 3.3.2 zitiert: „Die Nachahmung kann erzwungen werden oder spontan sein, gewählt oder unbewußt, mehr oder weniger schnell“. (GN 26, Kurs. eingef.)

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tional durchhalten. Je nach Forschungsinteresse ergibt sich dann ein je sehr verschiedenes Bild davon, was eine Gesellschaft ist bzw. welche gesellschaftlichen Prozesse und Phänomene dem Soziologen erklärungsbedürftig werden. Zum Beispiel ist die allgemeine Behauptung der Äußerlichkeit der soziologischen Tatbestände gegenüber einzelnen Individuen intuitiv überhaupt nur dort, wo man es nicht mit zeitgenössischen Neuerungen zu tun hat, die das Sehen, Fühlen oder Handeln eines oder einiger weniger Individuen bestimmen, sondern mit weitverbreiteten und traditional gewordenen Arten zu sehen, fühlen und handeln. Das heißt aber nicht, dass die divergierenden Interessenlagen Tardes und Durkheims unvermittelbar wären. In der Tat: Durkheim interessiert sich tendenziell für „Glaubensvorstellungen und Gewohnheiten, die von früheren Generationen fertig auf uns gekommen sind“: „Wir übernehmen und pflegen sie, weil sie als ein Werk des Kollektivs und der Jahrhunderte mit einer besonderen Autorität ausgestattet sind, die die Erziehung uns anzuerkennen und zu achten gelernt hat.“ (RSM 111, Kurs. eingef.) Selbst wenn man annimmt, solche soziologischen Tatbestände würden faktisch als vorläufiges Resultat einer unüberblickbaren Zahl von Nachahmungen dichte Aggregate individueller Differenzen und Neuerungen bilden, könnte die Tatsache, dass die Aggregate in ihrem Zustandekommen nicht mehr nachzeichenbar und somit in ihrer gegenwärtigen Form intransparent geworden sind, ein guter Grund für Durkheims Redeweise sein, dieselben seien unmittelbar als ein Werk „des Kollektivs“ anzusehen. Das mag auch die Form sein, unter der sich die soziologischen Tatbestände den Individuen gemeinhin darbieten, nämlich als unmittelbar kollektiv, äußerlich, überpersönlich. Erhebt man wie Durkheim ihre historische Intransparenz zum eigentlichen Charakteristikum soziologischer Tatbestände, dann folgt, dass ein rein „individueller Zustand, der nachgeahmt wird, [...] darum nicht auf[hört], individuell zu sein“ (ebd., 112): er disqualifiziert sich als soziologischer Tatbestand, weil er nicht intransparent ist. Tarde hingegen geht davon aus, dass tatsächlich jeder soziologische Tatbestand ein Aggregat unzähliger individueller Differenzen und Neuerungen ist, wie er am Fall der Wissenschaft veranschaulicht und schließlich verallgemeinert: „Was das Monument der Wissenschaft angeht, vielleicht das gewaltigste aller menschlichen Monumente, so herrscht hier kein Zweifel. [...] Es gibt kein Gesetz, keine wissenschaftliche Theorie, wie es kein philosophisches System gibt, welches nicht den Namen seines Erfinders trägt. Alles ist hier von individuellem Ursprung [...]. Wenn es indessen einleuchtend ist, daß die Wissenschaft sich auf diese Weise aufgebaut hat, so ist es nicht weniger sicher, daß die Struktur des Dogmas, eines Gesetzeskörpers, einer Regierungsform, eines ökonomischen Systems in gleicher Weise zustande gekommen ist.“ (SG 94)

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Es besteht für Tarde also kein Anlass, die scheinbar überpersönlichen „menschlichen Monumente“ unmittelbar als Werke „des Kollektivs“ anzusehen; sondern sie bleiben wenigstens prinzipiell in ihrer individuellen Konstitution nachzeichenbare Aggregate. Der individuelle Ursprung der sozialen Tatbestände / kulturellen Formen ist zumal bei jungen und wenig verbreiteten Tatbeständen / Formen ganz offensichtlich. Andererseits ist Tarde keineswegs blind für die (Intransparenz und) Äußerlichkeit stark verallgemeinerter sozialer Tatbestände gegenüber den einzelnen genommenen Individuen : „[W]enn ich auch die Idee des sozialen Organismus bekämpfe, so bin ich doch weit davon entfernt, der Idee eines gewissen sozialen „Realismus“ zu widersprechen, auf welchem Boden man sich ja verständigen könnte. Ich sehe sehr wohl, daß, einmal geschaffen, jene sich dem Individuum überordnen, zuweilen, aber selten, durch Zwang, am meisten durch Überredung“ etc. (SG 93f., Kurs. eingef.) Umgekehrt sieht Durkheim zumindest in entwickelten Gesellschaften mit organischer Solidarität durchaus die Möglichkeit, dass Merkmale von Individuen in die Konstitution soziologischer Tatbestände eingehen: „In dem Maß, in dem die Gesellschaften größer und vor allem dichter werden, erscheint ein psychisches Leben neuer Art. Die individuellen Verschiedenheiten, die zunächst in der Masse der sozialen Ähnlichkeit verloren und aufgegangen waren, lösen sich [von den einzelnen Individuen] ab, bekommen Relief und vervielfältigen sich.“ (AT, 413)

Dabei würde Durkheim zwar abstreiten, dass es überhaupt rein individuelle Merkmale, Neuerungen, Initiativen gibt.75 Andererseits gibt es aber auch für Tarde letztlich keine rein individuelle Neuerung, insofern jede Neuerung als Kombination oder Mutation bereits vorhandener kultureller Formen entsteht. Damit wird die Neuerung zwar nicht zum „Ausdruck“ eines gesellschaftlichen Ganzen, was aber die Intransparenz des kombinierten oder mutierten kulturellen Materials keineswegs ausschließt.

75 So nimmt er z.B. die Verfasser pessimistischer metaphysischer Werke vor einer Kritik, die ihnen den Pessimismus ihrer Werke als individuelle Verfehlung vorwirft, in Schutz, indem er feststellt: „In Wirklichkeit sind sie aber eher Verursachtes als Ursache. In ihrer abstrakten Sprache symbolisieren sie nur in einer systematischen Form das physiologische Elend des sozialen Körpers.“ (SM 239, Kurs. eingef.) Durch die Rückbindung unmittelbar an den sozialen Körper, das gesellschaftliche Ganze, das Kollektiv, ist somit für Durkheim noch jeder individuelle Akt intransparent im obigen Sinne.

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Aus dem Gesagten lässt sich insgesamt schließen, dass die Schärfe im Ton des zeitgenössisch ausgetragenen Konflikts zwischen Tarde und Durkheim ihre Grundlage nicht in vollem Umfang in der Schärfe des sachlichen Gegensatzes der beiden Autoren findet. Richtig ist, dass, wie eben festgestellt, in ihren Forschungsprojekten verschiedene Interessenlagen bzw. Fokussierungen zum Ausdruck kommen. In Tarde’scher Terminologie würde man sagen, dass sich die Divergenz in der Anlage ihrer respektiven Soziologien aus den qualitativen Veränderungen ergibt, die mit verschiedenen Graden der quantitativen Verbreitung kultureller Formen einhergehen: an ihrem (provisorischen) Anfang erscheint jede kulturelle Form als „schlank“, transparent, lokalisiert, abhängig von ihren Trägern, während sie im Laufe ihrer Verallgemeinerung als „dicht“, intransparent (amalgamiert), delokalisiert (allgemein) und unabhängig von ihren einzeln genommenen Trägern erscheint. Die Frage des gesellschaftlichen Realismus hängt in erheblichem Umfang genau an dieser Differenz. Aufschlussreich ist darüber hinaus auch die Präsentationsform ihrer Soziologien in den Gesetzen der Nachahmung bzw. den Regeln der soziologischen Methode. Tarde fragt eingangs nach den Prinzipien der „Geschichte“ bzw. der „gesellschaftlichen Veränderungen“ (GN 26f.), die er unmittelbar als den kombinierten Mechanismus von Differenz und Wiederholung, Neuerung und Nachahmung, identifiziert, welcher zumal eine Theorie der „universellen Wiederholung“ eingeordnet wird. (GN 38ff.) Durkheim hingegen beginnt mit etwas, was man als Phänomenologie der Erfahrung einzelner Individuen in voll konstituierten Gesellschaften bezeichnen könnte (RSM 105-107). Die Definition der soziologischen Tatbestände (ebd., 107, 111f.) ist im Grunde bloß die terminologische Fixierung dieser Phänomenologie.76 Der somit in der Definition gelegene Perspektivismus wird unten – auch in der kritischen Auseinandersetzung mit Latour – noch näher zur Sprache kommen. 4.3.2 Exteriorität vs. Holismus Nachfolgend geht es eingangs darum, Durkheims Analyse der Exteriorität der soziologischen Tatbestände gegenüber den Individuen aus der hier entwickelten Theorie der Kollektivität heraus zu bekräftigen; anschließend wird sein gesellschaftstheoretischer Holismus einer teils affirmativen, teils kritischen Analyse unterzogen. Für das im ersten Kapitel skizzierte Modell von Kollektivität stehen reale Vielheiten von Einzelheiten im Zentrum, – Entitäten, die in replikativen oder in-

76 Vgl. eine vergleichbare Auffasung bei Nye/Asworth 1971, 135.

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teraktiven Wiederholungsprozessen begriffen sind. Da alle Entitäten raumzeitlich streng lokalisiert und dabei über die Erdoberfläche verstreut sind, sind sie einander prinzipiell äußerlich (#2). Auf dieser Grundlage ist Latour zu widersprechen, wenn er behauptet, nichts geschehe „hinter dem Rücken der Akteure“ (NSNG 303). Im Gegenteil geschieht fast alles „hinter dem Rücken“ der Akteure, – fast alles geschieht, aus der Perspektive raumzeitlich lokalisierter Akteure betrachtet, an anderen Orten und zu anderen Zeiten. Wenn es realiter keinen immer und überall seienden „Laplace’schen Daimon“ gibt, sondern alle Akteure streng lokalisierte sind, dann ist diese Äußerlichkeit als ontologisches Faktum anzusehen. Dieser Sachverhalt mag als Horizont der spezifischen Typen der Durkheim’schen „Äußerlichkeit“ gelten. (1) Ein soziologischer Tatbestand, verstanden als in einer Menschengruppe verallgemeinerte, womöglich bereits traditional gewordene kulturelle Form im Sinne Tardes, ist allen ihren Trägern, einzeln genommen, äußerlich. „Es lässt sich heutzutage nicht mehr bestreiten, daß die Mehrzahl unserer Gedanken und Bestrebungen nicht unser eigenes Werk sind, sondern uns von außen zuströmen.“ (RSM 107) Das bedeutet – wie erwähnt –, dass dieser Tatbestand mit dem Verschwinden einzelner Individuen nicht selbst verschwindet und dass er insgesamt nicht durch die lokale Intervention eines einzelnen Individuums in seiner Konstitution verändert werden kann.77 Ein soziologischer Tatbestand ist allen einzeln genommenen Individuen äußerlich, weil er in allen ist. Es folgt, dass er allen, insgesamt genommen, keineswegs äußerlich ist, – wobei es keinen realen Beobachter gibt, dem diese Nicht-Äußerlichkeit zur unmittelbaren Erfahrung werden könnte: es gibt keine Beobachterposition des „Alle, insgesamt genommen“. (2) In anderem Sinne ließe sich argumentieren, dass soziologische Tatbestände auch allen Individuen insgesamt genommen äußerlich sind, dort nämlich, wo sie sich intergenerational durchhalten. Tardes polemische Verkürzung „Individuals aside, only Society remains“ erschiene dann als eigentlich zutreffende Beschreibung: Alle jetzt existieren Individuen können verschwinden, ohne dass gewisse soziologischen Tatbestände verschwinden, – nämlich wenn sie auf die kommenden Generationen sozial weitervererbt werden. Die Individuen sind der

77 Für Durkheim kommt hinzu, dass der Tatbestand den Individuen auch insofern äußerlich ist, als er eine von außen kommende, zwingende Kraft auf sie ausüben kann; das wäre aber kein notwendiges Kriterium für „Äußerlichkeit“.

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generische Nachschub (vgl. Kap. 4.2.2 und den Begriff des „Rohstoffs“ in RSM 189), den die soziologischen Tatbestände zur ihrem Fortbestand benötigen.78 (3) Es gibt noch eine weitere, bisher nicht erwähnte Linie der Äußerlichkeit bei Durkheim. Soziologische Tatbestände können sich materialisieren. Es stimmt nicht, „daß die Gesellschaft nur aus Individuen besteht. Sie umfaßt auch Materielles, das eine wesentliche Rolle im Gemeinschaftsleben spielt. Die soziale Tatsache wird manchmal so sehr zur Wirklichkeit, daß sie zu einem Gegenstand der äußeren Welt wird.“ (SM 365) Anders als in den Regeln, wo Durkheim, wie Latour (NSNG 126) zurecht kritisiert, die aktive Rolle materieller Objekte (in sozialen Veränderungsprozessen) konzeptuell herunterspielt (RSM 195), wird ihnen in Der Selbstmord eine „wesentliche Rolle im Gemeinschaftsleben“ also faktisch zugestanden (auch wenn sie bei Durkheim kaum jemals zum Explanans werden (siehe aber NSNG 68)). „Zum Beispiel ist ein bestimmter Typus von Architektur eine soziale Erscheinung. Er ist einmal zum Teil in Häusern und allen möglichen anderen Gebäuden verwirklicht, die zu Realitäten mit eigener Existenz werden, unabhängig von den Individuen, sobald der Bau beendet ist. Genauso ist es mit Verkehrs- und Transportwegen, mit industriellen Einrichtungen und Maschinen oder solchen der privaten Sphäre [...]. Das soziale Leben, das sich hier sozusagen auskristallisiert und sich materieller Hilfswerkzeuge bedient, wird auf diese Weise zu einem externen Agens, und seine Wirkung auf uns kommt daher von außen. Verbindungswege, die vor unserer Zeit gebaut wurden, geben dem Ablauf unserer Tätig-

78 Hieran lassen sich Gedankenspiele folgender Art knüpfen: Es steht zu vermuten, dass, wenn in einer kompletten Generation von Kindern nicht genau diese selbigen Kinder, sondern kontingenterweise durchweg andere selbige Kinder geboren worden wären, die Gesellschaft sich in ihrer Gestalt und ihrem Prozess nicht wesentlich von der Gegebenen unterscheiden würde. Damit ist nicht gesagt, dass nicht bestimmte selbige Individuen, zur rechten Zeit am rechten Ort platziert, einen großen Unterschied im Gang der Dinge machen können, – vor allem dort, wo ihr durchgängig lokalisiertes Handeln in Verstärkersysteme eingeschaltet ist. In dem Maße aber, in dem nicht jede Generation ihre sozialen Tatsachen neu erfindet, gilt das Faktum der Generizität des generationalen Nachschubs. Zudem ließe sich argumentieren, dass selbst dort, wo Gesellschaften in markante Innovationsdynamiken eintreten, diese Dynamiken in erheblichem Umfang ebenso unabhängig von selbigen Akteuren sind. So gäbe es, wären durchweg andere selbige Kinder geboren worden, etwa ohne den selbigen Alfred Nobel zwar keinen „Nobelpreis“, wahrscheinlich aber einen anderen „berühmten Wissenschaftspreis x“; und es gäbe nicht diese selbigen bisherigen Nobelpreisträger, sicher aber andere selbige x-Preisträger etc.

358 | K OLLEKTIVITÄTEN keit eine bestimmte Richtung, die uns mit diesem oder jenem Land in Verbindung bringt.“ (SM 365) „Dieselbe Beobachtung trifft auf jene verfestigten Formulierungen zu, in denen Dogmen oder Rechtsnormen kondensiert sind, wenn sie sich nach außen in einer heiliggehalten Form fixiert haben. Zwar würden sie, auch wenn sie noch so gut redigiert waren, sicherlich leblos bleiben, wenn sich niemand fände, ihren tieferen Sinn zu erforschen und sie praktisch anzuwenden. Aber auch wenn sie nicht dazu ausreichen [ihre eigene Anwendung zu garantieren], sind sie immer noch Faktoren sui generis des sozialen Lebens. Denn sie wirken auf eine nur ihnen eigene Art.“ (ebd., 366; Übersetzung verändert)

Materialisierte soziale Tatsachen sind allen Individuen, einzeln wie insgesamt genommen, äußerlich, insofern sie sich als Potentiale für den Einbezug in Prozesse bereithalten, denen sie durch ihre Beschaffenheit eine bestimmte Form geben. Natürlich lässt sich einerseits bezweifeln, dass die Materialität der Objekte als Effekt einer ihr vorgängigen Wirklichkeitsmaximierung der soziologischen Tatbestände anzusehen ist (sie werden „so sehr zur Wirklichkeit, daß...“). Andererseits scheinen materielle Objekte ihren Status als soziologische Tatbestände zu verlieren, wenn sich nicht mehr weithin in Gebrauch sind, – ein Problem, über das Durkheim nicht näher Rechenschaft ablegt (RSM 109f.; Tarde 1969, 116). Dass sich die Feststellung der Äußerlichkeit materieller Objekte in Der Selbstmord als ad hoc-Antwort auf die kritische Befragung des Äußerlichkeitsmodells insgesamt darstellt (SM 364), heißt aber nicht, dass die Feststellung an sich falsch wäre. Wenn Durkheims Analyse von Äußerlichkeitsverhältnissen aus der Perspektive einer Theorie der Kollektivität als grundsätzlich adäquat zu betrachten ist, so führt aber das Postulat der genannten Typen von Äußerlichkeit durchaus nicht automatisch zum Postulat eines „Ganzen“ oder einer als ein Ganzes begriffenen „Gesellschaft“ als dem Substrat soziologischer Tatbestände (s.o.).79 Insbesondere führt das Postulat der Äußerlichkeit nicht auf die Figur einer personalisierten, gleichsam zum Subjekt gewordenen „Gesellschaft“ mit eigener Wahrnehmung und eigenen Gefühlen, zu welcher sich Durkheim etwa in Der Selbstmord versteigt: „[S]ociety may generalize its own feeling as to itself, its state of health or lack of health. For individuals share too deeply in the life of society for it to be diseased without their suffering infection. What it suffers they necessarily suffer. Because it is the whole, its ills

79 Dieses Argument deutet Latour an in NSNG 367, Fn. 32.

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are communicated to its parts. Hence it cannot disintegrate without awareness that the regular conditions of general existence are equally disturbed. Because society is the end on which our better selves depend, it cannot feel us escaping it without a simultaneous realisation that our activity is purposeless. Since we are its handiwork, society cannot be conscious of its own decadence without the feeling that henceforth this work is of no value.“ (SM 238f., zit. nach Durkheim 1951, 213f., Kurs. eingef.)

Das Subjekt gewordene gesellschaftliche Ganze ist eine fiktive Figur, weil sich niemals wird angeben lassen, wo und wie seine Wahrnehmungen und Gefühle denn an ihnen selbst existieren, bevor sie in seinen Teilen bloß „zum Ausdruck kommen“ (Durkheim 1951, 214). Ähnlich kritikwürdig ist Durkheims gelegentlicher Rekurs auf die Formel „Das Ganze ist mehr bzw. etwas ganz anderes als die Summe seiner Teile“80 zur Begründung seines gesellschaftstheoretischen Holismus. Der zugleich enigmatische und intuitive Charakter dieses Satzes, der ihm auch heute noch eine gewisse Attraktivität sichert, beruht auf einer Art Taschenspielertrick, den man schematisch leicht nachzeichnen kann: Man nehme, erstens, eine Menge von Akteuren aus den Interaktionszusammenhängen, in denen sie immer schon stehen, heraus, nehme den Akteuren in der Betrachtung also ihren Lebensprozess und isoliere sie; zweitens unterziehe man die stillgestellten und isolierten Akteure einem Prozess der Summation, assoziiere die Akteure nach dem simpelsten aller möglichen Prinzipien: und, und, und, etc. Dann wird man tatsächlich, drittens, feststellen, dass der wirkliche Interaktionszusammenhang der Akteure, jetzt „das Ganze“ genannt, „mehr“ oder „etwas ganz anderes“ ist als die Summation der stillgestellten und isolierten Akteure. Das als Nachweis eines ontologischen Sprungs zwischen Teilen und Ganzem zu nehmen, ist lächerlich: Das auf Seiten des Ganzen veranschlagte „Mehr“ oder das surplushafte „Andere“ ist bloß das exakte Spiegelbild des „Weniger“, das man zuvor auf Seiten der Teile in Anschlag brachte, als man sie auf prozesslose Atome reduzierte. Dass die Gleichung zwischen Teilen und Ganzen nicht aufgeht, weist einzig und alleine nach, dass auf Seiten der Teile falsch konzeptualisiert wurde: Die Formel formuliert, indem sie nicht aufgeht, selbst genau ihre eigene Falschheit. Mit ähnlicher Logik könnte

80 RSM 187: „Ein Ganzes ist eben nicht mit der Summe seiner Teile identisch; es ist ein Ding anderer Art, dessen Eigenschaften von denen der Teile, aus denen es zusammengesetzt ist, verschieden ist.“ (Vgl. SM 361)

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man einen Gegenstand erst verstecken und dann behaupten, es gebe „mehr“ und „etwas ganz anderes“ als jetzt unmittelbar sichtbar sei.81 Der Holismus der Durkheim’schen Gesellschaftstheorie lässt sich noch aus anderer Sicht kritisieren. So scheint der Begriff des „Ganzen“ eine Entität zu bezeichnen, die, so viele Teile sie auch haben mag, über einen festen Umriss, eine umrisshafte Abgeschlossenheit verfügt. Gemäß dieser provisorischen Bestimmung könnte ein unbelebtes materielles Objekt, das ein Beobachter vor sich und im Blick hat, als ein „Ganzes“ bezeichnet werden. Teils wird ein Objekt dann erst bei richtiger Perspektivierung des Blicks zu einem evident „Ganzen“, wie scheinbar im Fall der Erde, die aus dem Weltraum betrachtet werden muss, um als „Ganze“ in den Blick zu kommen. Allerdings kann unter Verweis auf die laufende Energiebestrahlung und -abstrahlung der Erde bezweifelt werden, ob sinnvoll davon gesprochen werden kann, sie verfüge tatsächlich über jene umrisshafte Abgeschlossenheit, die sie als „Ganzes“ qualifizieren würde. Und gleiches wird man auch von jedem biologischen Organismus sagen, der eher die Figuration eines Stromes (von Materien, Energien, Informationen etc.) denn ein umriss-

81 Die genannte Formel steht für Durkheim im Kontext einer Emergenzordnung des Seienden (deren Vorstellung er von Emile Boutroux übernimmt, vgl. Hacking 1990, 157, 177; Lukes 1973, 306), bei der die diversen abgegrenzten Realitätsebenen (atomar, molekular, biologisch, psychologisch, gesellschaftlich) ihren Eigenschaften und Gesetzen nach nicht auf die jeweils vorangehende Ebene „reduzierbar“ seien (RSM 186f.). Dabei ist festzuhalten, dass die Rede vom Ganzen, das „mehr“ sei als die „Summe“ seiner Teile, für den Übergang von der atomaren zur molekularen „Ebene“ in einem Aspekt tatsächlich weniger reduktiv ist als im Fall des Übergangs von der individuellen zu gesellschaftlichen „Ebene“. Denn für die Atome mancher Elemente ist es problemlos möglich, außerhalb chemischer Verbindungen stabil und als einzelne zu existieren. Der Sachverhalt mag dann die Prämisse der Vorstellung bilden, die Atome würden, indem sie in chemische Verbindungen eintreten, auch als einzelne in sie eintreten, und dieses Eintreten sei eine „Summation“ des Einzeln-Bleibenden. Natürlich ist auch diese Vorstellung falsch: denn was man als das „Mehr“ der chemischen Verbindung gegenüber der „Summe“ ihrer Elemente bezeichnet, liegt genau in der Tatsache, dass sie keine einzelnen mehr sind, dass sie nicht „summiert“ werden, sondern dass sie interagieren, in einen gemeinsamen Prozess eintreten. Die chemische Verbindung ist nicht „mehr“ als dieser Prozess, und ihre Eigenschaften sind die Eigenschaften genau dieses gemeinsamen Prozesses. – Für die „sozialen Elemente“ gilt aber schon die Prämisse (und daher auch die Analogie mit dem von Anfang an falschen Modell) nicht, da sie niemals außerhalb der Verbindungen, der gemeinsamen Prozesse vorkommen, in denen sie immer schon stehen.

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haft abgeschlossenes Objekt ist. Überhaupt wird sich kein Prozessobjekt als ein „Ganzes“ qualifizieren, da es konstitutiv unabgeschlossen ist, solange es existiert. Das Thema der Perspektivierung ist im gesellschaftswissenschaftlichen Kontext im Zusammenhang der Behandlung Quetelets schon einmal aufgetaucht: die richtige – nämlich statistische – Perspektivierung des Blicks erlaubt es für Quetelet, den Gesellschaftskörper als Ganzen, mit den ihm eigenen Gewohnheiten und Gesetzen, in den Blick zu bekommen. Nun wurde in der Einleitung zu Kapitel 3 festgestellt, Statistik sei grundsätzlich der Versuch, Beobachter aus der Lokalisiertheit ihrer Beobachterposition herauszuheben, simuliere die Beobachterposition des „Laplace’schen Daimons“, der, indem er gleichzeitig überall sei, auch „alles“ sehe. Nach Quetelet müsste dann gelten, dass, je mehr ein Beobachter seinen Blick so perspektiviert, dass er „alles“ sieht (und nicht bloß kontingentes Einzelnes), je mehr er also den richtigen „Abstand“ vom Objekt findet, er umso mehr das „Ganze“ des Gesellschaftskörpers in den Blick bekäme. Genau das ist aber für das Objekt „Gesellschaft“ nicht der Fall. Sondern je mehr ein (ggf. fiktiver) Beobachter von diesem Objekt sieht, desto mehr sieht er bloß die ineinander greifenden Prozesse einer Vielheit heterogener menschlicher und nichtmenschlicher Akteure auf der Erdoberfläche, Prozesse, die in ihrem (replikativen, interaktiven) Wiederholungscharakter temporal offen sind und in die immer neue Materien, Objekte, Lebewesen einbezogen werden können. So viel ein solcher Beobachter auch sehen mag, an keinem Punkt tritt im Beobachtungsgegenstand jene umrisshafte Schließung zum „Ganzen“ ein, die charakteristisch ist für die Betrachtung eines großen materiellen Gegenstands, bei dem der Beobachter „einen Schritt zurücktreten“ muss, um ihn als Ganzen in den Blick zu bekommen. Der Vorstellung, dass dem Beobachter, der mittels Abstandnahme „alles“ sieht, ein „gesellschaftliches Ganzes“ erscheinen müsse, liegt ein Fehlschluss vom Bereich der Betrachtung materieller Objekte auf die Betrachtung gesellschaftlicher Phänomene zu Grunde. Man täte der Durkheim’schen Soziologie unrecht, wenn man es bei dieser Abgrenzung seiner treffenden Analyse von Äußerlichkeitsrelationen von unakzeptablen Formen seines Realismus und Holismus beließe. So hätte sich Durkheim den Vorwurf, eine „realistische“ bzw. scholastische Ontologie ins Werk zu setzen (Lukes 1973, 306, Fn. 35), in gewissem Umfang ersparen können, wenn er, statt die Gesellschaft zum Subjekt zu machen und auf pseudo-ontologische Formeln zum Verhältnis von Ganzem und Teilen zu vertrauen, auch terminologisch durchgängig bei der Bestimmung des „gesellschaftlichen Ganzen“ geblieben wä-

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re, die er in Kapitel 5 der Regeln unter Rückgriff auf das in Über soziale Arbeitsteilung Erreichte anbietet. Durkheim wiederholt hier zunächst seine Grundüberzeugung: die soziologischen Tatbestände sind überpersönlich, finden ihr Substrat und ihre Ursachen in der „Gesellschaft“ selbst: „Die kollektiven Vorstellungen, Emotionen und Triebe haben ihre erzeugenden Ursachen nicht etwa in gewissen Zuständen des individuellen Bewußtseins, sondern in den Verhältnissen [conditions], in denen sich der soziale Organismus als Ganzes befindet.“ (RSM 189, vgl. 190) Kurz darauf kommt es aber zu einer interessanten terminologischen Verschiebung: „Wenn wirklich die entscheidende Bedingung der sozialen Phänomene, wie gezeigt wurde, in der Tatsache der Assoziation selbst besteht, müssen die Phänomene mit den Formen dieser Assoziation, d.h. mit der Art und Weise, wie die grundlegenden Bestandteile der Gesellschaft gruppiert sind, variieren.“ (ebd., 194, Kurs. eingef.) Die Rede von der Tatsache und Form der Assoziation (bzw. vom Modus der Gruppierung) soll die Figur des „sozialen Organismus als Ganzem“ zwar bloß substituieren; tatsächlich liegt hierin aber ein Übergang vom unmittelbar gesetzten, organisierten, einfachen Ganzen eben zu einer Assoziation, die immer Assoziation einer Vielheit von Elementen ist. Diese Akzentverschiebung bleibt in einer zweiten terminologischen Verschiebung erhalten, mittels derer Durkheim das Substrat und die Ursachen der soziologischen Tatbestände noch weiter zu konkretisieren sucht: „Da [...] die bestimmte Einheit, welche die in die Zusammensetzung einer Gesellschaft eintretenden Elemente aller Art durch ihre Vereinigung bilden, ebenso das innere Milieu der Gesellschaft darstellt wie die Gesamtheit der anatomischen Elemente in der Art ihrer Verteilung im Raume das innere Milieu der Organismen, wird man sagen können: Der erste Ursprung eines jeden sozialen Vorgangs von einiger Bedeutung muß in der Konstitution des inneren sozialen Milieus gesucht werden.“ (RSM 194f.; Übersetzung verändert und Kurs. teilw. eingef.)

Das „innere soziale Milieu“ einer Gesellschaft ist ihre „innere Umwelt“; seine „Konstitution“ bezeichnet die Art und Weise, wie die gesellschaftsbildenden Elemente gemäß der Form ihrer Assoziation einander Umwelt sind. Die Akzentverschiebung bleibt insoweit erhalten, als der Begriff der „inneren Umwelt“ einer Gesellschaft durch den in ihm gelegenen Perspektivismus der Elemente nur sinnvoll verwendet werden kann, wo man nicht unmittelbar vom „sozialen Or-

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ganismus als Ganzem“, sondern eben von der Assoziation von Elementen ausgeht.82 Durkheim (RSM 195) stellt fest, das soziale Milieu sei grundsätzlich aus zwei Typen von Elementen zusammengesetzt, nämlich Personen und Dingen, schließt (mit zweifelhafter Begründung) die Dinge als „aktiven Faktor“ des Milieus aus und kommt dann zu seiner eigentlich Bestimmung: „Das Hauptbestreben des Soziologen muß also dahin gerichtet sein, die verschiedenen Eigentümlichkeiten dieses Milieus, die auf den Ablauf der sozialen Phänomene einzuwirken vermögen, zu entdecken. Bisher haben wir zwei Reihen von Eigenschaften aufgefunden, die dieser Bedingung in hervorragender Weise entsprechen; es ist die Zahl der sozialen Einheiten, oder wie wir auch sagten, das Volumen der Gesellschaft und der Konzentrationsgrad der Masse, oder wie wir es nannten, die dynamische Dichte.“ (RSM 195)

Insofern Durkheim zwar nicht ausschließt, es könne noch andere wichtige „Eigentümlichkeiten“ des sozialen Milieus geben, aber feststellt, er habe „keine Veranlassung“, nach weiteren zu suchen (ebd., 197), ergibt sich folgende überraschende Konkretisierung seines „Holismus“ und „Realismus“: Dass die „kollektiven Vorstellungen, Emotionen und Triebe [...] ihre erzeugenden Ursachen [...] in den Verhältnissen [haben], in denen sich der soziale Organismus als Ganzes befindet“, heißt für Durkheim nichts anderes, als dass sie ihre erzeugenden Ursachen im Volumen sowie der dynamischen Dichte einer Gesellschaft haben.83 Dieser Zusammenhang mag dann zwar als extrem verkürzt und in dieser Verkürzung als schlicht falsch erscheinen. Aber die Annahme, dass die Größe und der Verdichtungsgrad einer Gesellschaft einen distinkten Einfluß auf die in ihr anzutreffenden sozialen Phänomene haben könne, scheint selbst keine holistisch-realistische „Metaphysik“ im pejorativen Sinne zu implizieren. Tatsächlich versteht Durkheim die vorstehende Argumentation als Entlastung von dem Vorwurf, er würde gleichsam „die Quellen des Lebens außerhalb des Lebendigen suchen“ (ebd., 201), also haltlos „realistisch“ argumentieren.

82 Dabei ist klar, dass Durkheim den vom französischen Physiologischen Claude Bernard geprägten Begriff des milieu intérieur im Rahmen seiner Analogie zwischen Gesellschaft und Organismus verwendet; auch in seiner biologischen Bedeutung aber ist der Begriff ein perspektivischer, da er die (schützende, homöostatische) Umwelt von Zellen und Organen im Körper bezeichnet. 83 Ähnlich wird „Gesellschaft“ in AT 416 bestimmt als die „Art, wie sich die Menschen, nachdem sie sich einmal vereint haben, gegenseitig beeinflussen, je nachdem, ob sie mehr oder weniger zahlreich sind oder einander mehr oder weniger fernstehen.“

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Um diese Konstellation transparenter zu machen, muss auf Über soziale Arbeitsteilung zurückgegriffen werden. Denn das ist der Zusammenhang, in dem Durkheim die Vorstellung entwickelt, Volumen und dynamische Dichte von Gesellschaften seien erzeugende Ursachen der sozialen Phänomene – hier eben: des Grades der in Gesellschaften anzutreffenden Teilung der Arbeit bzw. der sozialen Ausdifferenzierung.84 Während Durkheims Unterscheidung von segmentären und non-segmentären Gesellschaften sowie seine Auffassung, Arbeitsteilung sei eine Hauptquelle von („organischer“) Solidarität in non-segmentären Gesellschaften, nicht näher befragt werden,85 sondern allein auf „die Ursachen und die Bedingungen“ der Arbeitsteilung fokussiert wird, lässt sich seine Argumentation wie folgt rekonstruieren: „Die Arbeitsteilung schreitet [...] umso mehr fort, je mehr Individuen es gibt, die in genügend nahem Kontakt zueinander stehen, um wechselseitig aufeinander wirken zu können. Wenn wir übereinkommen, diese Annährung und den daraus resultierenden aktiven Verkehr dynamische oder moralische Dichte zu nennen, dann können wir sagen, daß der Fortschritt der Arbeitsteilung in direkter Beziehung zur moralischen oder dynamischen Dichte der Gesellschaft steht.“ (AT 315)

Das ist das Hauptargument: Der Grad der sozialen Ausdifferenzierung ist mit dem Grad korreliert, in dem Individuen mit umso mehr (weniger) anderen Individuen umso häufiger (seltener) interagieren („rate of interaction – the number of interactions per unit of time“: Schnore 1958, 623). Das ist eine ursächliche Be-

84 Vgl. zur Kritik von Durkheims unscharfer diesbezüglicher Terminologie Corning 1982, 366. – Dass, allgemein angemerkt, Durkheim die unterstellte Wirksamkeit von Volumen und dynamischer Dichte überhaupt nur am Fall der Arbeitsteilung „verifiziert“, bevor er sie in den Regeln zu den entscheidendenden (unabhängigen) Variablen aller soziologischer Tatbestände macht, muss als allzu „mutig“ bezeichnet werden, zumal er in den Regeln gerade einmal zwei kleine (in „Sondermilieus“ angesiedelte) Beispiele zur Plausibilisierung seiner Verallgemeinerung angibt: „Je nachdem beispielsweise die Familie mehr oder weniger umfrangreich [Volumen], mehr oder weniger auf sich selbst gestellt ist [dynamische Dichte], wird das häusliche Leben anders beschaffen sein. Ebenso wird die von beruflichen Korporationen ausgehende Wirkung anders sein als in früherer Zeit, wenn sie sich über ein ganzes Land verzweigen [dynamische Dichte im „nationalen“ Maßstab], anstatt sich wie früher auf die Grenzen einer Stadt zu beschränken.“ (RSM 197) Das mag einleuchten, reicht aber nicht hin, um einen allgemeinen Zusammenhang zu postulieren. 85 Vgl. für einen Überblick Müller/Schmid 1988; Lukes 1973, 137-178.

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ziehung (AT 321).86 Wie Durkheim im ersten Buch der Arbeitsteilung den Nachweis führte, der Grad der Ausdifferenzierung von Gesellschaften sei historisch (im Übergang von segmentären zu non-segmentären Gesellschaften) immer gewachsen (AT 200 ff.), so konstatiert er jetzt – dem Hauptargument entsprechend – die „zunehmende Verdichtung der Gesellschaften im Lauf der historischen Entwicklung“ (315) und illustriert das anhand des Übergangs von nomadischen zu sesshaft-bäuerlichen zu städtischen Lebensformen (316). Dabei verweist er insbesondere auf Prozesse der Verstädterung mittels Zuwanderung (Städte „stellen Punkte dar, an denen sich die soziale Masse stärker zusammenzieht als anderswo“ (317)) und benennt die „Zahl der Kommunikations- und Verkehrswege“ in einem Territorium als einen Gradmesser der Verdichtung (318).87 Der letztere Punkt ruft eine wichtige Unterscheidung Durkheims auf, nämlich die zwischen „materieller“ und dynamischer Dichte: „[Die] moralische Annährung kann ihre Wirkung nur entfalten, wenn der wirkliche Abstand zwischen den Individuen immer geringer geworden ist, auf welche Art das auch geschehen mag. Die moralische [=dynamische] Dichte kann also nicht stärker werden, ohne daß gleichzeitig die materielle Dichte zunimmt, und diese dient dazu, jene zu messen.“ (AT 315, Kurs. eingef.)

Der „wirkliche Abstand“ (materielle Dichte) der Individuen ist gegeben zunächst durch ihre Anordnung auf einem Territorium („Zahl der auf eine Oberflächeneinheit entfallenden Bewohner“, RSM 196); er bestimmt die Leichtigkeit einer häufigen Interaktion vieler Individuen (den Grad der dynamischen Dichte). Diese Leichtigkeit wird aber auch bestimmt von der „Zahl der Kommunikationsund Verkehrswege“, die daher ebenfalls eine Form des „materiellen Zusammen-

86 Auch wenn Durkheim in Über soziale Arbeitsteilung nicht quantitativ arbeitet, mag das ein Fall von „paralleler (konkomitanter) Variation“ zweier Paramter sein, die somit laut Durkheim als kausal verknüpft angesehen werden können; vgl. RSM 209ff. Für Durkheims entsprechende quantitative Praxis in Der Selbstmord vgl. Turner 1996, 366f. 87 Das Volumen einer Gesellschaft (d.h. die Bevölkerungsgröße, vgl. AT 319f.), oben in einem Atemzug mit der dynamischen Dichte genannt, ist für Durkheim in Wahrheit kein ganz eigenständiger Faktor neben dem Grad der Verdichtung: „Der Anstieg des sozialen Volumens beschleunigt also nicht immer [selbst] die Fortschritte der Arbeitsteilung, sondern nur dann, wenn sich die Masse zur gleichen Zeit und im selben Ausmaß zusammenzieht.“ (AT 320; vgl., gegen Spencer, AT 322ff. und siehe Schnore 1958, 622f.)

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rückens [=Steigerung der materiellen Dichte] des Aggregats“ (RSM 195) ausmachen.88 Nimmt man an, dass der Grad der sozialen Ausdifferenzierung und der Grad der dynamischen Dichte von Gesellschaften ursächlich zusammenhängen, dann fragt sich, was diesen Zusammenhang sachlich begründet, welcher Mechanismus ihn konstituiert. Für Durkheim ist das der Mechanismus einer mit zunehmender Dichte sich zuspitzenden Konkurrenz, eines „Überlebenskampfs“ (AT 325) der Individuen in „gemilderter“ (330), nicht-tödlicher Form. Der Mechanismus verdankt sich einer ökologisch-evolutionären Analogie, nach der sich Organismen unter Bedingungen knapper Ressourcen diversifizieren, um der direkten Konkurrenz um bestimmte Ressourcen auszuweichen: indem ihre Bedürfnisse sich auf verschiedene Ressourcen richten, können sie nebeneinander existieren: „Da sie sich nicht auf dieselbe Weise ernähren und nicht dasselbe Leben führen, belästigen sie sich gegenseitig nicht“. (325) Dieser Mechanismus gelte auch beim Menschen (326) und zeige sich unmittelbar als Diversität von Lebensformen im stark verdichteten Lebensraum Stadt: „In ein und derselben Stadt können die verschiedensten Berufe nebeneinander leben, ohne sich gegenseitig schädigen zu müssen, denn sie verfolgen verschiedene Ziele“ (326) bzw. haben ihre Bedürfnisse auf verschiedene Ressourcen gerichtet: „Der Soldat sucht den militärischen Ruhm, der Priester die moralische Autorität, der Staatsmann die Macht, der Gewerbetreibende den Reichtum, der Gelehrte wissenschaftliches Ansehen; jeder kann damit sein Ziel erreichen, ohne den anderen daran zu hindern, das ihre zu erreichen.“ (AT 326)

Militärischer Ruhm, moralische Autorität, Macht, Reichtum, wissenschaftliches Ansehen sind jeweils knappe Ressourcen; würden alle Individuen ihre Bedürfnisse bloß auf eine der Ressourcen richten, lebten sie in heftigster Konkurrenz;

88 Während Durkheim in Über soziale Arbeitsteilung die materielle Dichte als genauen Gradmesser der dynamischen Dichte fasst (siehe Zitat), fasst er sie in den Regeln immerhin noch als „weichen“ Gradmesser: die materielle Dichte „hält gewöhnlich mit der dynamischen Dichte gleichen Schritt und kann im allgemeinen als Maß für sie dienen.“ (RSM 196, vgl. die Fn. ebd.) Unten wird der Grad der materiellen Dichte einer Gesellschaft als einen Möglichkeitsraum gefasst, der durch den kollektiven, die dynamische Dichte ausmachenden (Wiederholungs-)Prozess „ausgeschritten“ wird, wobei dieser – unterstelltermaßen – zu einem bestimmten Grad von Ausdifferenzierung tendiert.

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indem sie aber qua sozialer Ausdifferenzierung die interessierenden Ressourcen diversifizieren, mildern sie ihre Konkurrenz ab.89 Statt dem Gedankengang Durkheims weiter zu folgen90 und sich ausführlicher mit den Kritiken des Modells auseinanderzusetzen,91 soll jetzt analysiert

89 Mag das auch grundsätzlich einsichtig sein, so versäumt es Durkheim, detailliert aufzuzeigen, wie genau eine steigende dynamische Dichte die verschiedenen Formen von Ausdifferenzierung eigentlich hervorbringt. Vielmehr behandelt er (AT 327-329) nur die durch gesteigerte Mobilität gesteigerte Konkurrenz von Anbietern des gleichen Produkts: hier verschärfe sich, obwohl der Markt selbst größer werde, die unmittelbare Konkurrenz der Anbieter (eben: indem sie, vormals räumlich getrennt, nun in Kontakt kommen), was zum Verschwinden oder zu einer „neuen Spezialisierung“ der unterlegenen Unternehmen führe bzw. zur stärkeren Arbeitsteilung innerhalb der überlegenen Unternehmen (zu Zwecken der Effizienzsteigerung: sie können / müssen nunmehr größere Marktanteile „bedienen“). Diese Beschreibung verallgemeinert Durkheim: „Obwohl die obigen Beispiele vor allem dem Wirtschaftsleben entnommen sind, gilt diese Erklärung ohne Unterschiede für alle sozialen Funktionen. Die wissenschaftliche Arbeit, die künstlerische Arbeit usw. teilen sich auf keine andere Wiese und aus keinem anderen Grund.“ (329) Das kann allerdings so lange bezweifelt werden, wie nicht überzeugend gezeigt wird, dass die genannten Ressourcen allesamt marktförmig sind: was sind die Märkte, auf denen sich diese Ressourcen diversifizieren, und was sind die Märke, auf denen diese Ressourcen durch Diversifizierung entstanden sind? Entsprechend bemerkt Schnore, der das Modell grundsätzlich wertschätzt (1958, 628), zurecht: „The major difficulty stems form [Durkheims] treatment of competition. In view of the great importance that he attached to it, his discussion is surprisingly brief.“ (1958, 626) 90 So wäre geauer zu analysieren, wie Durkheim eine wichtige Nebenbedingung der Arbeitsteilung fasst, nämlich, dass das in segementären Gesellschaften vorherrschende „Kollektivbewußtsein“ an Intensität verlieren muss, damit soziale Ausdifferenzierung, d.h. das Zur-Geltung-Kommen und die Konsolidierung individueller Verschiedenheiten und Innovationen, überhaupt statthaben kann (AT 344ff.). Entscheidender Faktor ist für Durkheim wiederum die gesellschaftliche Verdichtung, jetzt verstanden als räumliche Integration von auf immer größeren Territorien verstreuten Menschengruppen durch intensivierten Verkehr: „Weil diese umfänglicheren Gesellschaften sich über ein größeres Gebiet ausdehnen, muß [das Kollektivbewußtsein] sich seinerseits über alle lokalen Verschiedenheiten erheben, immer mehr Raum beherrschen und folglich abstrakter werden.“ (349) Dieser Abstraktionsgewinn komme dem zur Realisation von Arbeitsteilung nötigen Intensitätsverlust des Kollektivbewußtseins gleich.

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werden, in welcher Beziehung die Form des in Über soziale Arbeitsteilung und in den Regeln vorgebrachten Arguments bezüglich der Relevanz von Volumen und dynamischer Dichte für die Genese von soziologischen Tatbeständen zu Durkheims deklarativen Holismus und Realismus steht. Durkheims „materielle Dichte“ bezeichnet die topologische Relation einer Vielheit von Elementen:92 Sie bezeichnet zunächst die Anzahl von Elementen pro Oberflächeneinheit eines Territoriums. Unter dem Aspekt, dass sie, als quantifizierbare Eigenschaft, nur der Vielheit insgesamt und nicht den einzeln genommenen Elementen zukommt, scheint sie letzteren äußerlich zu sein. Vor allem aber ist sie den Elementen deshalb äußerlich, weil „materielle Dichte“ eine topologische Relation ist, – die den relationierten Elementen prinzipiell äußerlich ist in dem Sinne, dass, betrachtete man bloß einzeln genommene Elemente, überhaupt keine Relation existierte. Ähnlich wie bei der Frage der Äußerlichkeit soziologischer Tatbestände gibt es auch hier einen quantitativen Aspekt: die Äußerlichkeit der topologischen Relationen kommt umso mehr zur Geltung, je

91 Um doch einen kleinen Einblick zu geben: Tarde (Lukes 1973, 304) kritisiert etwa, Durkheim habe die Effekte des äußeren Milieus auf die Arbeitsteilung vernachlässigt und die Rolle bedeutender individueller Neuerer im Prozess der fortschreitenden Arbeitsteilung heruntergespielt. Schnore (1958, 626f.) stellt fest, gesteigerte Konkurrenz auf Grundlage knapper Ressourcen könne nicht allein durch gesteigerte Arbeitsteilung „gelöst“ bzw. abgemildert werden; vielmehr könnten auch mannigfache andere – etwa demographische, technologische, organisatorische – gesellschaftliche Veränderungen denselben Effekt herbeiführen. Rüschemeyer (1982, 582f.) behauptet, eine Zunahme der dynamischen Dichte führe keineswegs zu einer Verschärfung der Konkurrenz zwischen den Individuen; daher könne erstere auch keine „Ursache“ der Zunahme von Arbeitsteilung sein. Corning (1982, 367f.) moniert, Durkheim habe sein Ziel verfehlt, andere Ursachen für die gesellschaftliche Arbeitsteilung anzugeben als die bereits von Spencer genannten. Und Müller/Schmid (1988, 518) bemerken: „Der Zusammenhang zwischen Bevölkerungswachstum und Arbeitsteilung ist [...] komplexer, als [Durkheim] vermutet.“ Die Liste ließe sich fortsetzen. 92 Ohne direkten Rekurs auf die Figur der materiellen Dichte bestätigt Durkheim die Bedeutung des topologischen Moments für seine Soziologie insgesamt überraschend klar, wenn er in der Einleitung zur ersten Auflage der Regeln schreibt: „Da man sich daran gewöhnt hat, sich das soziale Leben als die logische Entwicklung von Ideen vorzustellen, wird man vielleicht eine Methode als roh beurteilen, welche die Entwicklung des kollektiven Geschehens von objektiven, räumlich bestimmten Bedingungen abhängig macht, und es ist nicht ausgeschlossen, daß man uns als Materialisten behandelt.“ (RSM 87, Kurs. eingef.)

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mehr Elemente relationiert sind, je größer die materielle Dichte ist. Verschwindet nämlich bei großer Dichte ein Element, bleibt die Relation der anderen Elemente fast unbeeinträchtigt; anders im Grenzfall, dass auf einer Oberflächeneinheit bloß zwei Elemente vorfindlich sind: verschwindet hier ein Element, existiert keine Relation mehr (von der Feststellung, dass „materielle Dichte“ eine Relation sei, ist der Minimalwert „ein Element pro Oberflächeneinheit“ also ausgenommen). Während auch die zweistellige Relation den beiden relationierten Elementen prinzipiell äußerlich ist, markiert sie aus diesem Grund doch ein Minimum an Äußerlichkeit. Die so bestimmte materielle Dichte ist den sie konstituierenden Elementen nicht äußerlich als ein „Ganzes“. Die Vorstellung der „materiellen Dichte“ hat auch keinerlei sachlichen Bezug zur Vorstellung eines „Ganzen“. Die Bestimmung von Dichte setzt bloß das Vorliegen einer Vielheit von Elementen auf einem Territorium voraus. Es gibt für diese Bestimmung keine natürliche Grenze, die irgendeine Form von umrisshafter Abgeschlossenheit konstituieren würde: bestimmt man die materielle Dichte Quadratkilometer für Quadratkilometer, gibt es keinen in der Sache liegenden Grund dafür, diese Bestimmung an irgend einem Punkt abzubrechen. Zwar konstituiert der Umfang der Erdoberfläche insgesamt eine Grenze der Bestimmung, aber doch nur für einen historischen Zeitpunkt; indem die materielle Dichte teils erheblich variieren wird, solange Menschen auf dieser Oberfläche sind, ist ihre Bestimmung temporal offen. Die entscheidende Frage ist jetzt die, ob und wie die materielle Dichte auf die Elemente, deren Vielheit sie konstituiert, „einwirken“ könne. Wie gerade deutlich gemacht wurde, kann sie auf die Elemente nicht einwirken „wie ein Ganzes auf seine Teile“. Sie wirkt auf sie aber auch nicht ein als Vielheit insgesamt, denn für alle bestimmen Elemente sind und bleiben die allermeisten anderen Elemente raumzeitlich abwesende. Sondern die materielle Dichte kann, wie Durkheim immerhin terminologisch andeutet, auf die Elemente nur einwirken, indem von ihr abhängt, in welcher Weise die einzelnen Elemente einander „innere Umwelt“ sind (s.o.). Nur insofern die materielle Dichte einen Einfluß darauf hat, wie die Elemente einander erscheinen, einander Milieu sind, „reicht“ sie überhaupt an die Elemente „heran“ und kann unter Umständen eine Wirkung auf sie ausüben. Welchen Typs solche Wirkung sein könnte, lässt sich am einfachen Beispiel der Nachbarschaft herausarbeiten: Wenn zwei Akteure benachbart sind (etwa auf anliegenden Grundstücken leben), ermöglicht ihnen die Tatsache des Benachbartseins, ohne logistischen Aufwand und mit großer Leichtigkeit ggf. regelmäßig zu interagieren; umgekehrt erschwert es diese Tatsache ihnen, sich aus dem Weg zu gehen und keinerlei Wirkung aufeinander auszuüben. Beides gilt allerdings nur unter der Bedin-

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gung, dass die Akteure überhaupt etwas tun. Für zwei unbewegte, ganz inaktive Akteure macht es keinen praktischen Unterschied, ob sie unmittelbar benachbart oder auf verschiedenen Kontinenten lokalisiert sind. Damit ist deutlich, dass die Tatsache des Benachbartseins in keiner Weise selbst aktiv Wirkungen hervorbringt: sondern sie „kommt zur Geltung“ allein in der Aktivität der Akteure. Hieraus folgt, dass Nachbarschaft nicht zu den Ursachen, sondern zu ihren Möglichkeitsbedingungen von Prozessen gehört, nicht zur Ordnung der Aktualität, sondern zur Ordnung der Potentialität. Das topologische Arrangement der Nachbarschaft zweier Akteure ist der buchstäblich zu verstehende Möglichkeitsraum ihres gemeinsamen Prozesses, der diesen Möglichkeitsraum punktuell „ausschreitet“. (Kap. 3.2.1) Der Möglichkeitsraum verursacht und determiniert nicht den Prozess der einzelnen benachbarten Akteurspaare; aber was immer sie machen, die spezifische Beschaffenheit des Möglichkeitsraums „Nachbarschaft“ ist in allen Fällen gleichermaßen die Bedingung ihres gemeinsamen Prozesses, „geht ein“ in diesen Prozess, „kommt zur Geltung“ in und „wird ausgestaltet von“ diesem Prozess. Diese Beschaffenheit mag dann auch quantitativ zu fassen sein, etwa indem man feststellt, die dynamische bzw. Interaktionsdichte benachbarter Akteure sei im allgemeinen größer als die weit entfernter Akteure; so dass auch die Häufigkeit von Konflikten und Konkurrenzen mit dem Grad der „Benachbartheit“ zunehme. Mehr noch: Erst in der quantitativen Betrachtung einer großen Serie von Fällen wird „sichtbar“, was der Möglichkeitsraum „Nachbarschaft“ insgesamt ermöglicht, welche Prozesse er nahelegt, erleichtert, erschwert, fast ausschließt, – kurz, welche Tendenz er in den ihn ausschreitenden Prozessen zur Geltung kommen lässt. Das Beispiel der Nachbarschaft – das mit Durkheims Begriff der materiellen Dichte so verknüpft ist, dass, wo die materielle Dichte einer Menge von Akteuren zunimmt und dabei, wie idealisierend unterstellt wird, homogen ist, die „innere Umwelt“ für alle Akteure zunehmend „nachbarschaftlich“ wird – hat gemäß der obigen Analyse dieselbe Struktur wie das Laplace’sche Modell der „konstanten Ursache“ in der Wahrscheinlichkeitstheorie (Kap. 3.2.1). Weil die „konstante Ursache“ ebensowenig eine Aktualität bezeichnete wie das, wofür sie „Ursache“ ist (nämlich eine relative Häufigkeit), wurde sie als Möglichkeitsraum oder, mit Peirce, als would-be gefasst. Ebenso bezeichnet „Nachbarschaft“ sowie, allgemeiner, „materielle Dichte“ die vorkausalen Bedingungen und nicht die unmittelbaren Ursachen von Prozessen.93 Im Besonderen findet sich die Be-

93 Wenn Durkheim am Anfang des dritten Buches der Arbeitsteilung schreibt: „Wenn man von den Formen abseht, die die Arbeitsteilung nach den jeweiligen zeitlichen und örtlichen Bedingungen annehmen kann, so bleibt jene allgemeine Tatsache, daß sie

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stimmung von topologischen Relationen als einer Form von konstanter Ursache bei Laplace vorgezeichnet, wenn er feststellt, der Versuch, über große Entfernungen und natürliche Grenzen hinweg Regierungsgewalt über Bevölkerungen auszuüben, sei mit so hohen Kosten behaftet, dass er allermeistens zumindest langfristig scheitern müsse. (Kap. 3.2.) Was Laplace dabei unterschätzt hat und was Durkheim in aller Klarheit sieht (AT 318; RSM 196), ist, dass sich die topologischen Relationen mit dem Gebrauch von Transport- und Kommunikationsmedien krass verändern können. Die dem Maße nämlich, in dem die Elemente durch solche Medien verbunden sind, stehen sie, obwohl territorial weit entfernt, in eigentlich „nachbarschaftlichem“ Kontakt, – in diesem Maße steigt ihre materielle Dichte. Nimmt man das als Hintergrund, dann hat Durkheim recht, wenn er schreibt: „Dieser Begriff des sozialen Milieus als ein bestimmender Faktor der kollektiven Entwicklung ist von höchster Wichtigkeit. Denn wenn man ihn verwirft, ist die Soziologie in die Unmöglichkeit versetzt, irgendwelche Kausalbeziehungen festzustellen.“ (RSM 198) Klarzustellen wäre bloß, dass es nicht um die Feststellung von „Kausalbeziehungen“, verstanden als Beziehungen von einer Aktualität zu nächsten, sondern von Beziehungen zwischen Prozessen und ihren (Wiederholungs-)Bedingungen, Aktualitäten und ihren Potentialitäten geht. Es gibt keine Betrachtung von Wiederholung, die nicht implizit oder explizit auf deren Bedingungen bezogen wäre, auf Ensembles von Prozessoren, oder, wie im Fall der materiellen Dichte, auf topologische Relationen als Möglichkeitsräume. Das gilt allgemein, nicht bloß in der Soziologie. Jede Form von Erfahrungsbildung, die nicht in der bloßen Nacherzählung eines Geschehens, im Fortgang vom Einzelnen zum Einzelnen sich erschöpft, besteht genau darin, Prozesse zu ihren Bedin-

sich in dem Maß regelmäßig entwickelt, in dem man in der Geschichte voranschreitet. Diese Tatsache hängt bestimmt von ebenso konstanten Ursachen ab, die wir untersuchen wollen.” (AT 289, Kurs. eingef.), dann kann zwar nicht zweifelsfrei festgestellt werden, ob er diese Terminologie unter bewußtem Rekurs auf die Tradition der statistischen Wahrscheinlicheit wählt, der sie entstammt; seine Kenntnis dieser Tradition (Turner 1996) könnte das aber nahelegen. Jedenfalls ist klar, dass es sich bei der materiellen Dichte um eine konstante Ursache in diesem Sinne handelt, so dass auch sein Diktum, „das Wachstum und die Verdichtung der Gesellschaft [würden] eine größere Arbeitsteilung [nicht bloß] erlauben“, sondern dieselbe „zwangsläufig hervorrufen“ (AT 321), als ein Diktum des Typs erscheint, die Beschaffenheit eines Würfels rufe, als konstante Ursache, in einer langen Serie von Würfen „zwangsläufig“ eine bestimmte Häufigkeitsverteilung der Augenzahlen hervor.

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gungen in Beziehung zu setzen und an das Vorliegen bestimmter Bedingungen („Fälle“) die Erwartung bestimmter möglicher Prozesse (und ihrer respektiven Häufigkeiten) zu knüpfen. Auch wenn Durkheims Erklärungsversuch hinsichtlich der sozialen Arbeitsteilung faktisch zu eindimensional angelegt sein mag (Corning 1982, 371-373), ist also die Form seines Arguments nicht nur nicht abwegig, sondern im Gegenteil ein Gemeinplatz: „[He] simply attempted to specify the social conditions [i.e., raising material density] under which a particular change in social organization [i.e., increased level of social differentiation] tends to occur.“ (Schnore 1958, 626) Auch wird man, um zwei beliebige Beispiele herauszugreifen, ohne den Blick auf topologische Relationen als „konstante Ursachen“ weder etwa die Effekte räumlicher Segregation von Fraktionen einer Bevölkerung auf die „Lebenschancen“ von Kindern evaluieren können, noch, welchen Einfluß geographische und ökologische Merkmale von Territorien auf die historische Diffusion, Rekombination und Akkumulation von Techniken auf den verschiedenen Kontinenten und damit auf die „Entwicklungsgeschwindigkeit“ von Bevölkerungen haben.94 Entsprechend wird es kaum zu halten sein, dass Tarde seinen „Nominalismus“ wie eingangs zitiert auf die Formel bringt: „There can only be individual actions and interactions.” Wäre dem so, dann ließe sich schon die simple Frage, warum einem Individuum bestimmte kulturelle Formen überhaupt erscheinen können (indem er von ihren menschlichen oder medialen Trägern milieumäßig umgeben ist), so dass es sie nachahmen und ggf. zu Neuerungen rekombinieren kann, während ein anderes Individuum zu diesen Formen keinen Zugang hat, nicht beantworten, und es wäre schlechterdings unmöglich, „Gesetze der Nachahmung“ zu erfassen: Vielmehr könnte man bloß die unabschließbare Kette einzelner Akte der Nachahmung möglichst vollständig rekonstruieren. Tatsächlich ist Tarde kein Nominalist in der von ihm festgesetzten Bedeutung, schon indem er Gesetze der Nachahmung formuliert (die ja anzugeben suchen, unter welchen Bedingungen Nachahmungsgegenstände im Allgemeinen (nicht) übernommen werden, mit anderen Nachahmungsgegenständen zusammenbestehen können, sich ausschließen etc.), und indem er, wenn auch provisorisch, das Motiv der „Organisation der Nachahmungstätigkeit“ anbietet (GN 94; vgl. Kap. 3.3.2), das auf die Beschreibung von Nachahmungstopologien – und damit der raumzeitlichen Erscheinungsbedingungen von Nachahmungsgegenständen – abzielt. Die Tarde’sche „Organisation der Nachahmungstätigkeit“ entspricht genau dem „morphologischen“ (RSM 113; 194) Befund gewisser „Formen der Assoziation“

94 Vgl. Diamond 1999, 287-321.

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bei Durkheim, die für ihn entscheidend eben von Volumen und dynamischer Dichte von Gesellschaften abhängen. Damit ist plausibilisiert worden: Dass, wo Durkheim deklarativ vom „Ganzen“ des „sozialen Organismus“ spricht, er de facto von „Formen der Assoziation“ bzw. von der „Art und Weise der Zusammensetzung der sozialen Aggregate“ (RSM 201) spricht, als deren wichtigster Parameter er das Volumen und die materielle bzw. dynamische Dichte von Gesellschaften bestimmt und von denen abhängt, in welcher Weise die Individuen einander Umwelt (Milieu) sind; dass die materielle Dichte als topologische Relation zu fassen ist, die zwar einer Analyse in Termini von Äußerlichkeitsverhältnissen unterzogen werden kann, aber keinerlei Bezug zur Vorstellung eines „Ganzen“ hat; und dass die „inneren Umwelten“, die die Individuen einander „sind“, die buchstäblich topologischen und daher dezentralen, jeweils durch den Standort bzw. durch die Relationen der Akteure aufgespannten Möglichkeitsräume oder (Wiederholungs-)Bedingungen ihrer gemeinsamen Prozesse bezeichnen. Kurz, für Durkheim ist weniger die Figur eines von seinen „Teilen“ abgehobenen „Ganzen“ als die Figur des Möglichkeitsraums praktisch entscheidend: Der von einem bestimmten Grad materieller Dichte aufgespannte Möglichkeitsraum bedingt oder trägt eine dynamische Dichte, trägt eine Wiederholungsordnung von Interaktionen in bestimmter Chronifizierung (die schließlich, wie Durkheim wohl verkürzend annimmt, nach Maßgabe ihrer Chronifizierung Prozesse sozialer Ausdifferenzierung eigens erzwinge). 4.3.3 Prozessobjekt vs. Präsentismus Abschließend soll die Frage des sozialen „Realismus“ vom Modell der Kollektivität her geklärt und die vorgetragene Position in der Auseinandersetzung mit Latour illustriert werden. Diese Position besagt im Grundsatz: Kollektivitäten sind Choreografien oder Ordnungen der Wiederholung von Interaktionen und Replikationen. In diesem Sinne sind sie Prozessobjekte. Sie existieren irreduzibel in der Dauer ihrer Performanz und fallen mit dieser Performanz exakt zusammen (sind also nicht „mehr“ oder etwas „ganz anders“ als diese Performanz, existieren nicht „über“ oder „außerhalb“ dieser Performanz), die aber getragen wird von Prozessoren (Potentialitäten, Möglichkeitsräumen) und erfahrungsmäßig kontrahiert, per Kontraktion in die Gegenwart eines Beobachters gebracht werden kann. Insofern die Performanz von heterogenen Akteuren und Objekten ausgeführt wird, die raumzeitlich genau lokalisiert sind, und insofern sie von (ggf. weithin universalisierten) Prozessoren getragen wird, die

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nicht mit der Performanz zusammenfallen, sind Kollektivitäten durch Verhältnisse von Exteriorität gekennzeichnet, die in der Analyse Durkheims bekräftigt wurden. Der Begriff der gesellschaftlichen, sozialen, politischen etc. Struktur ist dann so verstehen, dass er die Wiederholungsordnung von Kollektivitäten auf einem Territorium insgesamt in de-perspektivierter Betrachtung zu fassen sucht. Da die unmittelbare Erfassung solcher Ordnung einen unmöglichen, nämlich delokalisierten („überall-seienden“) gedächtnisfähigen Beobachter voraussetzte, kann die Erfassung nur statistisch, über die Kontraktion von Spuren raumzeitlich lokalisierter Ereignisse realisiert werden und wird notwendig partial bleiben (Kap. 4.1.3). Das ändert nichts daran, dass der Begriff problemlos gedacht werden kann und keineswegs gegenstandslos ist. Die Begriffe des Milieus oder Kontexts (bzw. „Rahmens“, NSNG 289, 300, 317) sind hingegen so zu verstehen, dass sie zu erfassen suchen, in welcher Weise einzelnen Akteuren die Wiederholungsordnung bzw. das Netzwerk wiederholter Interaktion erscheint, die sie selbst mitkonstituieren und das ihre „innere Umwelt“ im Sinne Durkheims ausmacht. Im Gegensatz zum Strukturbegriff handelt es sich hier also um immer schon perspektivische (und daher nicht auf fiktive Beobachter angewiesene) Begriffe, wobei der Umfang oder die „Größe“ der „inneren Umwelten“ von Akteuren nach Maßgabe ihrer Vernetztheit stark variieren kann. Insgesamt lässt sich festhalten, dass Kollektivitäten Prozessobjekte sind, und dass Prozessobjekte Realobjekte sind, deren Existenz aber keine aktuelle ist, in keiner Aktualität aufgeht. Ihre Anerkennung als Realobjekte erfordert somit die Dissoziation von Existenz und Aktualität. Die Art und Weise, in der Bruno Latour die Begriffe der „Struktur“ und des „Milieus“ bzw. „Kontexts“ zurückweist, lässt den Schluss zu, dass er diese Dissoziation nicht in der Lage ist zu vollziehen und dass daher sein Denken ganz wesentlich präsentistisch oder aktualistisch ist. Dieser Befund läuft auf die Feststellung hinaus, dass er, obwohl er der Opposition zwischen gesellschaftstheoretischem Nominalismus und Realismus zu entgehen sucht, letztlich auf eine nominalistische Position zurückfällt: denn Nominalismus ist Präsentismus. (Kap. 3.1.3) In diesem Licht betrachtet ist seine in ihrer Absolutheit vielleicht polemisch gemeinte Behauptung, „entgegen dem scholastischen Sprichwort“ gebe es „Wissenschaft nur vom Besonderen“ (NSNG 239), ganz wörtlich als Ausweis genau seines Präsentismus zu verstehen. Bevor diese Auffassung erhärtet wird, gilt es, einen offensichtlichen Einwand eingangs zu entkräften. So scheint der Befund des Präsentismus inkongruent zu sein mit Latours durchgängigem – und durchgängig zu affirmierendem –

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Bemühen, die Vorstellung einer Gegenwart als Gleichzeitigkeit zu dekonstruieren zugunsten der Vorstellung, in aktuellen Prozessen seien materielle Spuren vergangener Prozesse verschiedensten Datums kontrahiert sowie, mittels Spuren, zahllose „abwesende Andere“, die in den aktuellen Prozessen anwesend seien, indem sie in ihnen einen Unterschied machen würden. Diese Vorstellung wurde nicht umsonst als eine Grundfigur des Latour’schen Denkens bezeichnet. Es ist aber offensichtlich, dass die Auffassung, Gegenwart könnte nur als die Gegenwart des Ungleichzeitigen, des mit diversen Datierungen Versehenen gedacht werden, mit der hier als „präsentistisch“ markierten Auffassung sehr wohl zusammenbestehen kann. Wer von der Gegenwart nur als Gegenwart des Ungleichzeitigen sprechen will, kann immer noch dafürhalten, dass das, was überhaupt existiert, nur im Modus der Aktualität existiert, als Gegenwart, vergangene Gegenwart, kommende Gegenwart. M.a.W., Latours Dekonstruktion von Gegenwart als Gleichzeitigkeit impliziert selbst keine Dissoziation von Existenz und Aktualität. Wie sich zeigen wird, vollzieht Latour diesen letzteren Schritt tatsächlich nicht; das lässt sich anhand von zwei Problemfeldern in seinen Texten erhellen. (1) Latours Umgang mit den Begriffen „Struktur“, „Kontext“, „Rahmen“ etc. dokumentiert, dass er den Prozesscharakter der bezeichneten Objekte verfehlt und entsprechend – weil diese Objekte jenseits ihres Prozesses nicht existieren – nicht als Realobjekte gelten lassen kann. Dabei dürfte eine schon in Kapitel 4.1.3 zitierte Stelle geeignet sein, sich seinem Präsentismus zu nähern: „Wenn man irgend eine lokale Stätte „innerhalb“ eines größeren Rahmens situiert, ist man gezwungen, zu springen. [...] Was würde geschehen, wenn wir jeglichen Bruch und Riß verbieten würden und allein Krümmungen, Streckungen und Komprimierungen erlaubten? Könnten wir dann kontinuierlich von der lokalen Interaktion zu den vielen delegierenden Akteuren [d.h., den spurenvermittelt anwesenden abwesenden Anderen] gelangen? [...] Für unser Projekt ist es wichtig, daß man in einer solchen abgeflachten Topologie, wenn irgendeine Aktion von einem Ort zum nächsten transportiert werden soll, unbedingt einen Transportkanal und ein Transportmittel braucht. [...] Die vollen Kosten jeder Verbindung können jetzt vollständig bezahlt werden. Wenn ein Ort einen anderen beeinflussen will, muss er die Mittel bereitstellen.“ (NSNG 300)

Das ist, nochmal kurzgefasst, die Programmatik des zentralen Latour’schen Projekts, das Soziale „flach zu halten“. (NSNG 286ff.) Auf den Punkt gebracht besteht dieses Projekt darin, so vollständig wie möglich nachzuzeichnen, wie, unter Verwendung welcher Mittel zur Überbrückung raumzeitlicher Distanzen, eine

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aktuelle Interaktion zur nächsten bzw. einer anderen aktuellen Interaktion führt. Es geht also um die Nachzeichnung der Abfolge von Gegenwarten, die mit so großer Genauigkeit zu betreiben ist, dass an keiner Stelle die Kontinuität ihres Zusammenhangs verloren geht: Der ganze Eifer und die ganze Distinktion des Projekts besteht genau in einem möglichst präsentistischen Vorgehen. Von diesem Ausgangspunkt her ist man tatsächlich gezwungen, zu „springen“, wenn es um die Betrachtung des „größeren Rahmens“, des „Kontexts“ etc. geht: Aber nicht, wie Latour meint, von der Realität der Gegenwarten zu einer schlechten Fiktion. Sondern indem diese Objekte Prozessobjekte sind, ist man gezwungen, von der Aktualität in die Dauer zu „springen“, in der allein sie als Realobjekte existieren.95 Diesen Sprung verweigert Latour. Hierin gründet auch seine – im obigen Zitat sich eingangs andeutende – notorische Abneigung gegen die Formulierung, etwas sei „in“ / „innerhalb“ von etwas anderem, nämlich eines Kontexts, Rahmens etc. situiert. Für ihn gilt, dass „Akteure niemals in einen sozialen Kontext eingebettet sind“ (NSNG 15), z.B. „A city doesen’t consist of a general, stable frame in which private actions are nestled“ (PIC 44); die Vorstellung, „innerhalb eines umfassenden Rahmens zu leben“, sei vielmehr ein „Vorurteil“ (NSNG 317) und es ist gar eine „große Erleichterung“, mithilfe der ANT „zu entdecken, daß wir uns nicht „in“ einer Gesellschaft befinden“ (NSNG 415), denn: „[F]ar from being that in which we all reside, Society is produced, on a tiny scale“. (PIC 59; Kurs. in den vorstehenden Zitaten allesamt eingef.) Legt man eine präsentistische Matrix zu Grunde, hat Latour recht: betrachtet man bloß einen Moment, eine Gegenwart, befinden sich Akteure nicht „in“ einem Kontext, „in“ einer Gesellschaft – denn diese Objekte existieren als prozessuale tatsächlich nicht im Moment. Man kann, wie Latour, sogar soweit gehen zu sagen, Akteure befänden sich in einem Moment nicht einmal „im“ Raum („We, the readers, do not live inside space“, SA 229). So wurde oben festgestellt, die topologische Relation der Nachbarschaftlichkeit habe keine Realität, solange die Akteure nicht selbst aktiv etwas tun; ihre Tätigkeit kann aber bloß in einem Moment nicht zur Geltung kommen, sondern entfaltet sich allein in der Dauer: es gibt keine Nachbarschaft im Moment. Nimmt man

95 Diesem Sprung würde etwa im paradigmatischen Beispiel der Wahrscheinlichkeitstheorie der „Sprung“ vom einzelnen Würfelwurf zur statistischen Wahrscheinlichkeit entsprechen, die sich in der (Kontraktion der) Dauer einer großen Serie von Würfen als Prozessobjekt abzuzeichnen beginnt. Den Sprung zu unterbinden hieße dann, unendlich bloß vom einzelnen aktuellen Würfelwurf zum einzelnen aktuellen Würfelwurf fortzuschreiten, ohne jemals zu einer statistischen Wahrscheinlichkeit zu gelangen.

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hingegen die Dauer in die Betrachtung auf, ist es nicht nur intuitiv, sondern auch vollkommen stichhaltig zu sagen, dass Akteure „in“ einer Nachbarschaft leben oder „in“ nachbarschaftlichen Beziehungen stehen, – nämlich „in“ Wiederholungschoreografien nachbarschaftlicher Interaktionen. Die von Latour so heftig bekämpfte Figur des „In-Seins“ (und ihr Komplement, der „Kontext“, das „Milieu“ etc.) bezieht sich wie angedeutet schlicht auf die prozessuale Konstitution des „Handlungsumfelds“ von Akteuren, nämlich darauf, wie es sich dort, wo bestimmte Akteure tätig werden, üblicherweise verhält. Der „Kontext“, „in dem“ die Akteure sind, besteht in der Regularität des Geschehens, das sie umgibt, das sie teils mitprozessieren und das teils ihrem Eingriff entzogen ist. Kurz, der „Kontext“ besteht aus Wiederholungen, weil er ein Prozessobjekt ist. Hieraus folgt selbstverständlich, dass er zusammenbricht, wenn es keine Wiederholungen mehr gibt; ironischerweise verweist Latour auf Situationen solchen Zusammenbruchs, um den fiktiven Charakter von „Kontext“, „Struktur“ etc. schlechthin zu behaupten: „When there's a lack of techniques, when by chance a strike or breakdown deprives us of a means of communication or transport, everyone learns, walking and talking, that the social world is indeed flat, that it has to be composed piece by piece, staircase by staircase, concierge by concierge. When riots are rumbling no one believes that there is a Society [or: a “stable frame”, a structure, a context, s.o.], constantly present, with little individuals living in it.“ (PIC 63)

Das läuft auf die Behauptung hinaus, dass, weil in Zeiten des Aufstands Routinen aussetzen und die Wiederholung aufhört, es schlechthin keine Routinen und keine Wiederholung gäbe; was natürlich ein Fehlschluss ist. Neben Latours Ablehnung der Figur des „In-Seins“ gibt es im Zitat noch ein weiteres, ähnlich gelagertes Symptom seines Präsentismus, nämlich seine Ablehnung der Vorstellung, „Struktur“, „Kontext“ etc. seien durchgängig in jeder Gegenwart als solche anwesend („constantly present“): „Advocates of social structure [...] perceive at all points the total and complete presence of social structure“ (Latour 1996b, 230). Diese Wahrnehmung sei falsch, denn: „Das Soziale ist nicht wie ein riesiger ungreifbarer Horizont, in den jede unserer Gesten eingebettet wäre; die Gesellschaft ist nicht allgegenwärtig [omnipresent, NSNGog, 241]“. (NSNG 415) Dabei hat Latour recht mit der Feststellung, Struktur etc. sei nicht durchgängig gegenwärtig, nicht omnipräsent; denn sie existiert wie gesagt nicht im Moment. Es ist aber sein Präsentismus, der ihn daran hindert zu erkennen, dass die genannte Charakteristik nicht nur nicht aus-

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schließt, sondern in Wahrheit bloß die Konsequenz der Tatsache ist, dass „Strukturen“ etc. Realobjekte sind, die aber irreduzibel in der Dauer existieren. (2) Es gibt bei Latour einen auf den ersten Blick seltsamen Widerspruch: Einerseits bezeichnet er (die Annahme von) „Strukturen“ etc. als Fiktionen, als nicht existente Position; andererseits liest man bei ihm Sätze wie den bereits in Kapitel 4.1.3 zitierten: „You can't make a social structure without this compilation [i.e., contraction] work.” (Latour 1996b, 240) Wie dort ausgeführt, befasst sich Latour intensiv mit der Frage der Produktion von Gesamtbildern mittels Kontraktion von Spuren. Das Problem ist, wie jemand die Frage, „wo“ und mit welchen Mitteln Objekte wie „Systeme“, „globale Eigenschaften“, „Strukturen“, „Gesellschaften“ etc. denn mittels Kontraktion produziert werden (NSNG 315), überhaupt sinnvoll stellen kann, wenn er fest davon ausgeht, diese Objekte seien Fiktionen: Wenn die „social structure“ ohnehin Fiktion ist, wozu sollten Akteure dann mit der „complation work“ überhaupt beginnen, da diese doch gar kein Objekt hat und in diesem Sinne nicht informativ ist? Die Unklarheit hinsichtlich des Gegenstands der Kompilationstätigkeit führt somit notwendig zur Unklarheit hinsichtlich des Status’ und damit des Sinns der Kompilation. Das wird deutlich etwa an folgendem, oben teils wiedergegebenen Beispiel: „Die Millionen von Sprechakten [...], aus denen ein Wörterbuch, eine Grammatik oder eine Sprachstruktur in einem Linguistik-Institut besteht, sind aus lokalen Sprechakten extrahiert worden, die vorher auf verschiedene Weise aufgezeichnet, transkribiert, verglichen und klassifiziert worden sind, unter Zuhilfenahme vieler verschiedener Medien. Daß nicht „unter“ jedem Sprechakt eine Struktur unbewußt agiert, bedeutet nicht, daß sie von „lokalen“ Linguisten in ihrem Büro willkürlich hervorgebracht worden wäre. Es bedeutet, dass die aufgeschriebene Struktur auf bestimmte Weisen in Beziehung, Verbindung, Verknüpfung steht zu all den Sprechakten, und diese Weisen sollte die [ANT-]Untersuchung entdecken. Natürlich könnte eine Beziehung zwischen dem Büro des Linguisten bestehen und dem, was „da draußen“ gesprochen wird [„Of course, the office of the linguist may have some relationship with what is spoken ‘out there’“ NSNGog 177], aber wie soll diese Beziehung hergestellt werden ohne Verbindungen und Kosten, ohne einen ständigen Verkehr auf verschiedenen Kanälen, die zum Büro hin- und von ihm wegführen.“ (NSNG 305)

Es ist bezeichnend, dass Latour die Frage, wie die etwa in einem GrammatikLehrbuch verzeichnete Sprachstruktur mit den „Millionen von Sprechakten“ in Beziehung stehe, aus denen sie „extrahiert“ worden sei, provisorisch bloß mit dem Hinweis beantwortet, das aufgezeichnete statistische Material habe in das Büro des Linguisten transportiert werden müssen. Das ist zwar richtig, beant-

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wortet aber die Frage keineswegs und klärt auch nicht auf, was es heißen könnte, nicht „unter“ jedem Sprechakt „agiere unbewußt“ eine „Sprachstruktur“. Um die Beziehung zu erfassen, bedarf es vielmehr der Feststellung, dass die Sprachstruktur ein Prozessobjekt sei, nämlich die Wiederholungsordnung der relativen Häufigkeiten des Vorkommens und der Kombinationsweisen bestimmter (akustischer, graphischer) Zeichen, die sich in einer (beinahe) gegen unendlich gehenden Serie von Sprech- und Schreibakten ausprägt. Das GrammatikLehrbuch verdankt sich einer statistischen Kontraktion dieser Wiederholungsordnung. Dass die Wiederholungsordnung irreduzibel in der Dauer existiert, heißt dabei, dass das Lehrbuch nicht nur den gestrigen Sprachgebrauch kontrahiert, sondern zugleich eine Erwartung des morgigen Sprachgebrauchs artikuliert: lernt ein Sprachenschüler eine Sprache nach Lehrbuch, gründet dies in der berechtigten Erwartung, die Sprache werde, wenn sie gelernt ist, tatsächlich noch in Gebrauch sein. Was aber erlaubt diese Konversion von kontrahierter Erfahrung in Erwartung, die ja überhaupt erst die Motivation liefert, Erfahrung zu kontrahieren? Latour bemerkt zurecht, dass nicht die Sprachstruktur, nun zu verstehen als Wiederholungsordnung insgesamt, „unter“ jedem Sprechakt „unbewußt agiert“, denn ein raumzeitlich Verstreutes kann logisch nicht „unter“ einem raumzeitlich Lokalisierten sein. (Kap. 4.1.3) Sondern es ist die sich durchhaltende (und selbst mittels Kontraktion von Erfahrung gewonnene) Disposition und Potentialität der Sprecher, die diese Konversion erlaubt. Die Sprachstruktur im Grammatik-Lehrbuch steht mit den „Millionen von Sprechakten“ also in der Beziehungen, dass sie aus der Wiederholungsordnung der Sprechakte kontrahiert wurde, welche von einer Potentialität „getragen“ wird, die der Konversion von kontrahierter Erfahrung in Erwartung ihren Grund gibt (bzw. die das Lehrbuch in die Position bringt, mit der „Sprachstruktur“ heute beschreiben zu können, wie morgen gesprochen werden wird). Die Konvertierbarkeit in Erwartung begründet den Sinn und die Motivation jeder Kontraktion – sei es in der statistischen Praxis (wie in manchen der Latour’schen Oligoptiken, vgl. Kap. 4.1.3), sei es in der vorwissenschaftlichen statistischen Praxis jeder Erfahrungsbildung. Das Bernoulli’sche Theorem der statistischen Wahrscheinlichkeit ist ebenso der formalisierte Ausdruck genau dieser Konversion (Kap. 3.1.2). Da dieselbe von der Existenz von Prozessobjekten als Realobjekten abhängt, ist das Maß, in dem Individuen erfolgreich erwarten (in dem also ihre Erwartungen nicht systematisch enttäuscht werden und in dem es überhaupt sinnvoll ist, zu erwarten), zugleich das Maß für die Chronifiziertheit der Prozessobjekte, die sie kontexthaft umgeben. Der Zusammenhang entgeht Latour qua Präsentismus, was umso erstaunlicher ist, als sich für ihn durchaus das Problem der Wiederholungsordnung (alias „Dauerhaftigkeit“) stellt (Kap.

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4.3.1). Dieses Problembewusstsein bleibt bei ihm aber unverknüpft mit seinem Nachdenken über „Struktur“ etc. und führt dazu, dass er den Sinn und die Motivation der Kontraktionen (von Spuren / Erfahrung) nicht erhellen kann. Bezieht man das auf die Figur des Kontexts als dem Handlungsumfeld von Akteuren bzw. als der Regularität des sie in der Dauer umgebenden Geschehens zurück, dann ist die Vorstellung, „in“ einem Kontext zu leben, durchaus kein „Vorurteil“ (NSNG 317) von Akteuren – zumindest in dem Maße, in dem Regularität tatsächlich angetroffen werden kann. Latour gesteht selbst zu, dass „die Rahmung von Dingen innerhalb irgendeines Kontextes etwas ist, was Akteure ständig tun“: „Allerdings meine ich, daß gerade diese Rahmungsaktivität, dieses Kontextualisieren in den Vordergrund gerückt werden sollte“ (NSNG 320). Damit hat Latour wiederum recht. Nur verkennt er, indem er verkennt, dass der Kontext ein Prozessobjekt ist, den eigentlichen Charakter dieser „Rahmungsaktivität“: sie besteht in der Kontraktion von Erfahrung und ihrer Konversion in Erwartung. Kein Kontext existiert als Prozessobjekt im Moment. Aber er existiert für Akteure im Moment, nämlich als Erfahrung und Erwartung. Dass Erwartung nicht systematisch enttäuscht wird, beglaubigt nicht nur die Realität des Prozessobjekts „Kontext“, das den Akteuren in teils erheblichem Umfang äußerlich ist, sondern ist elementare Voraussetzung der meisten Formen von Handeln. – Kein Unternehmen würde gegründet werden ohne die Erwartung eines bestimmten marktmäßigen Umfelds. Keine Strategie könnte entwickelt werden. Keinerlei Planungen wären möglich. Niemand würde ein Ausbildung machen, um einen „Arbeitsplatz“ zu finden, niemand die Wahl seines Berufs nach den „Chancen“ auf dem Arbeitsmarkt ausrichten können. Kein Gesetz lohnte sich verabschiedet zu werden, weil man nicht wüsste, ob der Problembestand, auf dessen Regelung es zielt, morgen noch existierte. Niemand würde sparen, weil nicht klar wäre, ob das Geld morgen noch etwas wert wäre und das begehrte Objekt noch zu kaufen. Keine Versicherung überlebte länger als einen Tag. Etc. – Alle diese Operationen sind angewiesen auf die Realität eines mehr oder weniger stabilen, dem verändernden Eingriff einzelner Akteure entzogenen Milieus (wobei die Bereitschaft von Akteuren, gemäß ihrer Erwartungen zu handeln, selbst ein entscheidender Prozessor der Regularität des Milieus ist). Gäbe es ein solches Milieu nicht, „würde alle Ordnung und Sicherheit verloren gehen, alle menschliche Fürsorge würde unmöglich gemacht, der Mensch könnte nur stumpfsinnig in den Tag hineinleben und damit müßte alle Kultur erlöschen.“ (Timerding 1915, 42) Dabei gilt selbstverständlich, dass Erwartungen häufig ent-

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täuscht werden, Planungen häufig fehlgehen etc.:96 aber nicht so häufig, dass es überhaupt sinnlos wäre zu kontrahieren, zu erwarten und zu planen.

96 Einerseits, weil sich die meisten Milieus nicht völlig regulär verhalten, und weil diese Regularität eben eine statistische ist, die den Einzelfall nicht sicher erwarten lässt. Andererseits aber, weil die (in Erwartung konvertierbare) Erfahrungsbildung zwar in jedem Fall die Kontraktion von Wiederholungen einschließt, nicht aber, dass die Wiederholungen quantitativ auch adäquat repräsentiert werden. So ist zwar, wie Cuzzort/Vrettos 1996 plausibel machen, schon die Alltagssprache mit statistisch-quantitativem Vokabular durchsetzt; aber es wird meist nicht sorgfältig kategorisiert und gezählt, und es wird vor allem durchgehend und laufend ganz haltlos verallgemeinert. Daher die Krise der „subjektiven Wahrscheinlichkeit“. (Kap. 3.1.2) Viele Einschätzungen übernehmen Akteure zudem aus dritter und x-ter Hand, glauben sie, ohne sie evaluieren zu können: Irrglaube und Autorität. Trotzdem ist der informelle „Erfahrungsaustausch“ zwischen Menschen eine statistische Praxis (Kap. 3.3.1), die die Grundgesamtheit der betrachteten Ereignisse erhöht und damit real eine größere Einschätzungssicherheit gewährleistet. – In jedem Fall aber gibt es, in letzter Instanz, keine „Ordnung“, die nicht die Ordnung von Häufigkeiten wäre. Denn suspendierte man das quantitative Moment, zerfiele Erleben in Einzelereignisse, wäre keine Wiederholung erkennbar und müsste alles Geschehen linear nacherzählt werden, ohne dass sich je eine „Erfahrung“ ausbildete.

Schluss

Am Anfang der Untersuchung wurde die Erwartung geweckt, die Modellierung der Figur der Kollektivität und die Gegenstände der thematischen Kapitel 2 bis 4 würden sich im Zuge der jeweiligen Darstellungen und Analysen gegenseitig erhellen. Entsprechend werden abschließend, ohne dem Gesagten neue Aspekte hinzuzufügen, zuerst einige der Hauptergebnisse der thematischen Kapitel zusammengestellt und dann manche der Spezifikationen des Modells, soweit sie sich im Verlauf ergaben, benannt. • Das Werden der irdischen Welt bei Platon ist in erheblichem Umfang ein Werden als Wiederholung, kein „heraklitisches“ Werden. Genauer: In dem Maße, in dem transzendente Formen in es einbezogen sind, ist das Werden wiederholend und sind die Formen keine bloße Verdoppelung der irdischen Welt. Die Formen sind selbst keine Universalien; vielmehr sind sie Potentiale der Replikation, also der Universalisierung ihrer eigenen Gehalte. (Kap. 2.1) • Das Universale kommt bei Aristoteles durch Prozesse der immanenten Replikation von Formen in die Welt. Die Universalität einer Form ist ihr historisch kontingenter Ausbreitungsgrad, – die Form hält sich als universale in der Welt nur durch kontinuierliche Wiederholung der Prozesse ihrer Replikation. Durch die Umstellung von der Frage nach dem Status des Universalen auf die Betrachtung von Universalisierungsprozessen verliert die Figur des Universalen ihren problematischen Charakter. Prozesse der Universalisierung sind Prozesse der Kollektivierung. (Kap. 2.2) • Die schematisch gefassten Positionen des mittelalterlichen Universalienstreits beschreiben je bloß Teilaspekte des zu Grunde liegenden Realprozesses der Universalisierung. Dabei macht sich der Realprozess häufig eher implizit geltend, als dass er selbst thematisch werden würde. (Kap. 2.2.4, 2.3)

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Es gibt ein statistisches Moment jeder Form von Erfahrungsbildung, das in der gedächtnismäßigen Kontraktion von Spuren vergangener Prozesse besteht. Statistische Praxis im engeren Sinne professionalisiert die Kontraktion, indem sie auf materielle Aufschreibesysteme und administrative Organisation zurückgreift. Auf diesem Weg konstruiert sie eine Beobachterposition, deren Blick materiell von all den Orten herkommt, an denen die entsprechenden Daten (Spuren) eingangs erhoben wurden. Der delokalisierte Blick der Statistik ist Resultat der vorgängigen Arbeit an der Aufzeichnung und Kontraktion von Spuren. (Kap. 3, Einleitung) Die Konnotationen des vorwissenschaftlichen aristotelischen Wahrscheinlichkeitsbegriffs entsprechen in Grundzügen den modernen Schulenpositionen der Interpretation des Wahrscheinlichkeitskalküls, die wiederum in Grundzügen den Positionen im mittelalterlichen Universalienstreit in Grundzügen entsprechen. Diese Entsprechungen finden wie die Ausbildung je divergenter Positionen selbst ihren letzten Grund darin, dass es sich bei Universalien und Wahrscheinlichkeiten um Prozessobjekte handelt und dass die Natur von Prozessobjekten weithin philosophisch unbegriffen ist. (Kap. 3.1) Die von Laplace herkommende Theorie des Zusammenspiels konstanter und akzidenteller Ursachen ist eine rudimentäre Theorie statistischer Stabilität. Dabei sind die „konstanten Ursachen“ in Wahrheit als vorkausale Bedingungen von Prozessen anzusehen, als eine die Prozesse in ihrem Wiederholungscharakter „tragende“ Potentialität. Von Cournots Kausalitätsdenken her lässt sich zeigen, dass statistische Stabilität, wo sie vorliegt, die vorgängige Universalisierung (Kollektivierung) und territoriale Verstreuung der „konstanten Ursachen“ zur Bedingung hat, indem somit das Geschehen insgesamt unempfindlich für rein lokale Interventionen wird. Nach Maßgabe dieser Unempfindlichkeit mag dann Quetelets Rede vom „statistischen Gesetz“ adäquat sein. (Kap. 3.2) Gabriel Tarde entwickelt seine auf Nachahmungsprozesse fokussierte Sozialtheorie von im 19. Jahrhundert gängigen medizinischen und kriminologischen Ansteckungsdiskursen her. Insgesamt gestaltet sich das Nachdenken über soziale Wiederholung von der antiken Mimesislehre bis hin zum zeitgenössischen Memetics-Paradigma ohne durchgängige Rezeptionslinie als eine Bewegung in mehreren (neuen) Anläufen. Tardes Analyse des gesellschaftlichen Nachahmungsgeschehens lässt sich mit Aristoteles als ein Geschehen der Replikation akzidenteller Formen

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rekonstruieren. Sein statistisches Denken zielt auf die Rekonstruktion von Topologien der raumzeitlichen Ausbreitung (Kollektivierung) von Nachahmungsgegenständen, also von kulturellen Formen. (Kap. 3.3) Das Konzept der materiellen Spur ist ein zentrales Motiv der AkteurNetzwerk-Theorie in der Fassung Bruno Latours. Das Denken der Spur öffnet die Vorstellung von Interaktionszusammenhängen zwischen raumzeitlich kopräsenten menschlichen und nichtmenschlichen Akteuren auf die Vorstellung einer spurenvermittelten Anwesenheit abwesender Anderer in diesen Interaktionszusammenhängen hin. Die Spur führt eine fundamentale Heterogenität in den Ablauf der Zeiten ein (und dekonstruiert die Vorstellung einer Gegenwart als Gleichzeitigkeit), insofern sie den unmittelbaren Rekurs gegenwärtiger Prozesse auf Spur gewordene vergangene Prozesse erlaubt. Die Spur akkumuliert vergangene Prozesse und wird so zum Prozessor zukünftiger Prozesse, liefert also den Gegenwarten ein Surplus an Potentialität. Jeder konkrete Ort lässt sich als („sternförmiger“) Durchgangspunkt hin- und wegführender Bewegungen materieller Spuren analysieren. (Kap. 4.1) Der Gegensatz der Soziologien Tardes und Durkheims wird von Latour überpointiert. Die im Theoriedesign ihrer respektiven Soziologien tatsächlich anzutreffenden Divergenzen sind nicht prinzipieller Natur, sondern ergeben sich aus einer je anderen Fokussierung des soziologischen Blicks: Wo Tarde auf den Anfangspunkt und die dynamische Ausbreitungsbewegung kultureller Formen fokussiert, fokussiert Durkheim auf kulturelle Formen, bei ihm „soziologische Tatbestände“ genannt, die bereits weithin verbreitet sind und daher als gegenüber ihren individuellen Trägern äußerliche erscheinen. Während Durkheims Analyse der Gesellschaften durchziehenden Äußerlichkeitsverhältnisse völlig adäquat ist, erweist sich sein gesellschaftstheoretischer Holismus als problematisch. Dieser Holismus ist zumal wesentlich deklarativ, da er sich im Detail der Durkheim’schen Argumentationen de facto verflüchtigt. (Kap. 4.3.1, 4.3.2) Latours harsche Ablehnung der Verwendung von Begriffen wie „Struktur“, „Kontext“, „Rahmen“ und „Milieu“ in der Soziologie dokumentiert, obwohl seine Kritik an bestimmten Konnotationen und Verwendungsweisen dieser Begriffe zutreffend ist, den problematischen (und paradoxen) Präsentismus (also Nominalismus) seines theoretischen Ansatzes. Zwar erkennt er, dass die Objekte, auf die diese Begriffe je verweisen, überhaupt nur als Objekte erscheinen können, wenn sie kontrahiert und konstruiert werden. Aber er verkennt, dass alle Kontraktio-

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nen und Konstruktionen praktisch sinnlos wären, wenn sie nicht Realobjekte zum Gegenstand hätten. „Strukturen“ etc. sind Realobjekte, die aber irreduzibel in der Dauer existieren und daher in einzelnen Gegenwarten nur in Gestalt der Erfahrungen und Erwartungen von Beobachtern greifbar sind. (Kap. 4.3.3) Neben diesen Erkenntnissen aus den thematischen Kapiteln 2 bis 4 ergab sich im Laufe der Untersuchung auch eine Konkretisierung des eingangs formulierten Modells von Kollektivität. Um die Redundanz in Hinblick auf Kapitel 4.2.3 in Grenzen zu halten, seien in aller Knappheit bloß folgende Punkte festgehalten: Unter systematischen Gesichtspunkten entscheidend war die nähere Qualifikation der Aussage, Kollektivitäten seien Prozessobjekte (#5). Dass Objekte, deren Existenz von jeder Aktualität dissoziiert ist, sich als Choreografien, Muster oder Charakteristika in Serien von Wiederholungen abzeichnen, wurde für Kollektivitäten sowohl als Populationen wie als Interaktionszusammenhänge in mehrfacher Hinsicht konkretisiert: • Zum einen wurden die Kollektivitäten als Populationen (als Vielheiten genealogisch zusammenhängender Entitäten (#8)) zu Grunde liegenden und zu ihrer Erhaltung laufend fortzusetzenden Replikationsprozesse mit Aristoteles als Prozesse der immanenten Replikation von Formen bestimmt. Die Analyse von biologischen Populationen und Populationen von Artefakten verblieb dabei auf dem Niveau der antiken Philosophie (Kap. 2.2.3, vgl. 2.1.2), während die Behandlung von Populationen kultureller Formen unter Rekurs auf Tarde in größerem Detail ausgeführt wurde (Kap 3.3.2). • Zum anderen wurden Kollektivitäten als Interaktionszusammenhänge (#9), ohne soziologische Netzwerktheorien jenseits der ANT zu rezipieren, näher bestimmt als (zirkuläre) Wiederholungschoreografien, mittels deren heterogene Entitäten routinemäßig in gemeinsame Prozesse eintreten (Kap. 4 (Einleitung), 4.2.2). Dabei wurden divergente choreografische Schemata für die Interaktion von Akteuren mit Akteuren und von Akteuren mit Artefakten bzw. Spuren skizziert (Zirkularität vs. Dissemination und permanente Lokalisierung) und wurde der Parameter Mobilität als für die jeweilige Gestalt dieser Schemata entscheidend herausgestellt. Das Modell des Interaktionszusammenhangs selbiger Akteure ließ sich auf Zusammenhänge der Konsumption von und Interaktion mit Generischem als Generischem sowie (andeutungsweise) auf Szenarien intergenerationaler Interaktionszusammenhänge hin öffnen, was zumal eine Konkretisierung der in #10 behaupteten In-

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terdependenz der beiden Dimension von Kollektivitäten erlaubte (Kap. 4.2.2). Prozessobjekte bedürfen zur ihrer Performanz eines sie „tragenden“ Grundes, bedürfen also einer sich durchhaltenden Potentialität (#6). Dieser Satz konnte substantiiert werden mittels Analyse des aristotelischen Begriffs der Potentialität, verstanden kurz als die bestimmte, sich durchhaltende Beschaffenheit oder Disposition von Entitäten, die bedingt, in welche gemeinsamen Prozesse diese (zukünftig und wiederholt) eintreten können (Kap. 2.2.2). Er wurde weiterhin erhärtet in der Diskussion des wahrscheinlichkeitstheoretischen Modells des Zusammenspiels von konstanten und akzidentellen Ursachen (Kap. 3.2) sowie des Wiederholungsdenkens der ANT (Kap. 4.2.1). Zudem wurde die Figur der materiellen Spur, mittels derer sich ein Interaktionsgeschehen zumeist als Geschehen der Transinteraktion reinterpretieren lässt, unter dem Gesichtpunkt der Potentialität so analysiert, dass sie, als gleichsam materiell eingefrorenes Resultat vergangener Prozesse, zugleich die Potentialitäten für zukünftige Prozesse liefert (Kap. 4.1). Damit Prozessobjekte Beobachtern als Objekte erscheinen können, muss ihr Prozess (müssen Spuren ihres Prozesses) gedächtnismäßig kontrahiert werden. Der Sachverhalt wurde dahingehend konkretisiert, dass festgestellt wurde, es gebe ein statistische Moment jeder Art von Erfahrungsbildung, dessen Urszene, noch im Kontext der Universalienproblematik, in der aristotelischen Abstraktionstheorie liege (Kap. 3.1.3). Modalitäten der Kontraktion von Spuren wurden auf der Ebene der Statistik, aber auch – weiter gefasst – mit Latour näher beschrieben (Kap. 3 (Einleitung), Kap. 4.1.3). Als entscheidend für die Erfassung von Prozessobjekten konnte dabei die Konversion von Erfahrung in Erwartung, von kontrahierten Spuren vergangener Prozesse in die Projektion des Ablaufens zukünftiger Prozesse herausgearbeitet werden, die auch als Zentrum des Konzepts der statistischen Wahrscheinlichkeit ausgewiesen wurde (Kap. 3 (Einleitung), 3.1.2); zudem wurde plausibilisiert, dass eine solche Konversion bereits auf der Ebene der Prädikation von Seinsbestimmungen und in der Praxis statistischer Klassifikation zum Tragen kommt (Kap. 3 (Einleitung)) und von herausragender handlungspraktischer Relevanz ist (Kap. 4.3.3). Die mit vorwissenschaftlicher quantitativer Erfahrungsbildung verbundenen Schwierigkeiten kamen in der Behandlung der Entwicklung der modernen Wahrscheinlichkeitstheorien zur Sprache, wo sie verantwortlich zeichneten

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für die historische Dissoziation „subjektiver“ und „objektiver“ Fassungen des Wahrscheinlichkeitsbegriffs (Kap. 3.1.2). Die Grenzen des gewählten Ansatzes wurden im Vorwort angedeutet und im Laufe der Untersuchung gelegentlich erwähnt. Sie sind schon dem Zentralmotiv implizit, dem Werden als Wiederholung. Das Werden als Ereignis, die statistische Instabilität und damit auch die historisch kontingenten, konvulsivischen, revolutionären etc. Massenprozesse geraten in der Konzentration auf das Werden als Wiederholung aus dem Blick. Das kann jetzt auch nicht mehr nachgeholt werden. Vielmehr ist das Unterfangen vorerst am Ende, und am Ende bleibt ein Bild: Es gibt keine Kollektivitäten jenseits des Planetarischen. Wir sehen auf der Erdoberfläche die Choreografien einer Unzahl heterogener menschlicher und nichtmenschlicher Akteure, die sich, in ihrer Alltäglichkeit, zu ausgreifenden Mustern, kollektiven Choreografien verschalten, sehen die Choreografie einer Stadt im Tag-Nacht-Rhythmus (Paris: Invisible City), sehen das ständige Entstehen und Vergehen von Interaktionszusammenhängen, das Entfalten und Absterben von Keimen und Attraktoren interaktiver Wiederholung, die, befeuert von Mobilität, immer weiter ausgreifen, Transinteraktionszusammenhänge, die ihre Spuren und Telekommunikationen um den Globus schicken. Wir sehen die Anwesenheit der abwesenden Anderen, der Toten, sehen fast beliebig verschachtelte Koordinationen kontrahiert in einer Spur, in einem avancierten Produkt, das Jahrhunderte in sich begreift, sehen die Lebenswelten der Selbigen allerorten durchkreuzt, getragen, überschwemmt vom Generischen als ihrem nahen oder fernen Horizont. Wir hören virtuell das unentwegte Klicken der Verdoppelungen und Vervielfachungen, Millionen baugleicher Neuwagen, die sich aus den Werken in die Verkehrsinfrastrukturen hinein ergießen, Millionen generischer Artefakte, die, disseminiert, in sorgfältigem Arrangement Wohnstätten möblieren, das unablässige Samen-Abwerfen der Pflanzen im Rhythmus der Jahreszeiten, die sich reproduzierenden Körper, die auseinander hervorgehen: denn ein Mensch zeugt einen Menschen (Aristoteles). Die Replikation kultureller Formen in der Dichte der Sozialisation, in den Fabriken der Schule, in den nicht endenwollenden Lehrveranstaltungen, in den Konjunkturen der Moden, die von den Straßen in die Magazine, aus den Magazinen auf die Straßen, von den Straßen in die Fabriken und Sweatshops, aus den Fabriken und Sweatshops in die Magazine und auf die Straßen fluktuieren. Die Migration, der Krieg, der Welthandel schleppen sie mit: Eine mathematische Formel, eine Redewendung, eine Religion, die Klangfarbe im Aussprechen eines Wortes etc. Das ist ein Bild, offensichtlich nicht das ganze Bild, und kein Bild eines Ganzen.

Z ITIERWEISE

UND

S IGLENVERZEICHNIS

Kommentarlose Literatur- und Stellenangaben werden laufend im Text gebracht. Die Fußnoten bleiben so wirklichen Anmerkungen vorbehalten. In zitierte Textpassagen eingefügte Kursivierungen werden mit dem Kürzel „Kurs. eingef.“ kenntlich gemacht. Englischsprachige Originaltexte werden überwiegend in der Originalsprache zitiert; für französischsprachige, lateinische und altgriechische Originaltexte wurden, soweit möglich, deutsche oder englische Übersetzungen herangezogen, die teils am Originaltext überprüft und gelegentlich abgeändert wurden. Die Literaturangaben sind einfach gehalten. Bei Monografien wird die Zahl der verwendeten Auflage nur im Fall bearbeiteter Versionen genannt. Bei Übersetzungen werden – jenseits des antiken Zeitrahmens – Originaltitel und Datum der Erstpublikation laufend im Text angegeben, sofern das als geboten erscheint, während das Literaturverzeichnis meist nur die verwendete Übersetzung aufnimmt. Aristoteles Die Wahl der verwendeten Übersetzung folgt teils pragmatischen, teils sachlichen Erwägungen. Manchmal werden verschiedene Passagen des gleichen Texts in unterschiedlicher Übersetzung gebracht, wenn das zur Erreichung größtmöglicher Klarheit als hilfreich erschien. Häufig wurden verschiedene Übersetzungsalternativen verglichen; wo nötig, wurde die verwendete Übersetzung mit dem Originaltext abgeglichen. An.

De Anima, zit. nach Aristoteles 1995, Bd. 6

An. post.

Zweite Analytik, zit. nach Aristoteles 1995, Bd 1

An. pr.

Erste Analytik, zit. Quelle fallweise angegeben

Cat.

Kategorien (keine Zitate, nur Stellenangaben; verwendete Ausgabe: Aristoteles 2005, Bd. 1)

EN

Nikomachische Ethik (keine Zitate, nur Stellenangaben; ver wendete Ausgabe: Aristoteles 1995, Bd. 3)

GA

De Generatione Animalium, zit. nach Aristoteles 1908ff. Bd. 5

GC

De Generatione et Corruptione, zit. nach Aristoteles 1922; vgl. ders 2002a

Int.

De Interpretatione, zit. nach Aristoteles 1995, Bd. 1

390 | K OLLEKTIVITÄTEN Met.

Metaphysik, zit. nach Aristoteles 2003 (Da Szlezák in seinem Text bereits die Klammern ( ), [ ], und < > verwendet, werden Einfügungen hier mit geschwungenen Klammern { } gekennzeichnet.)

Poet.

Poetik, zit. Quelle fallweise angegeben

Phys.

Physik, zit. nach Aristoteles 1995, Bd. 6

PA

De partibus Animalium (keine Zitate, nur Stellenangaben; verwendete Ausgabe: Aristoteles 1908ff., Bd. 5)

Pol.

Politik (keine Zitate, nur Stellenangaben; verwendete Ausga be: Aristoteles 1995, Bd. 4)

Rhet.

Rhetorik, zit. Quelle fallweise angegeben

Top.

Topik, zit. nach Aristoteles 1908ff., Bd. 1

Platon Durchgängig zitiert nach Platon 1994 oder Platon 2004 – je nach Eignung zur Erreichung größtmöglicher Klarheit –, im letzteren Fall mit nachgestelltem Kürzel „Ap.“ gekennzeichnet.) Gorg.

Gorgias

Krat.

Kratylos

Men.

Menon

Nom.

Nomoi

Phd.

Phaidon

Phdr.

Phaidros

Pol.

Politikos

Prm.

Parmenides

Rep.

Politeia

Soph.

Sophistes

Symp.

Symposion

Tht.

Theaitetos

Tim.

Timaios

Diverse Autoren Durkheim AT

Durkheim 1988

RSM

Durkheim 1984

SM

Durkheim 1995

Z ITIERWEISE UND S IEGLENVERZEICHNIS

Latour NSNG

Latour 2007

NSNGog

Latour 2005a

PIC

Latour/Hermant 2007

SA

Latour 1987

Tarde GN

Tarde 2003

GNog

Tarde 1890

SG

Tarde 1908

SGog

Tarde 1898a

Sonstige CP

Peirce 1931-58

De V univ.

Albertus Magnus, De V universalibus, in: Wöhler 1994, 3-42

HWPh

Ritter et al. 1971ff.

Isag.

Porphyrius 1995

Josc.

Anonymus („Pseudo-Gauslenus“), Über die Genera und Spezies, in: Wöhler 1992, 104-130

Niz.

Nizolius 1980

Scot. Ord.

Duns Scotus, Ordinatio II, d. 3, Teil 1, Fragen 1-6, in: Spade 1994, 57-113

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