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German Pages [250]
Collegium Metaphysicum Herausgeber / Editors
Thomas Buchheim (München) · Friedrich Hermanni (Tübingen) Axel Hutter (München) · Christoph Schwöbel (Tübingen) Beirat / Advisory Board
Johannes Brachtendorf (Tübingen) · Jens Halfwassen (Heidelberg) Johannes Hübner (Halle) · Anton Friedrich Koch (Heidelberg) Michael Moxter (Hamburg) · Friedrike Schick (Tübingen) Rolf Schönberger (Regensburg) · Eleonore Stump (St. Louis)
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Einheit und Vielheit als metaphysisches Problem Herausgegeben von
Johannes Brachtendorf und Stephan Herzberg
Mohr Siebeck
Johannes Brachtendorf, geboren 1958; 1992 Promotion; 1998 Habilitation; Inhaber des Lehrstuhls für Philosophische Grundfragen der Theologie an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Tübingen. Stephan Herzberg, geboren 1978; 2008 Promotion; wissenschaftlicher Assistent am Lehrstuhl für Philosophische Grundfragen der Theologie, Tübingen.
e-ISBN PDF 978-3-16-151749-5 ISBN 978-3-16-151033-5 ISSN 2191-6683 (Collegium Metaphysicum) Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2011 Mohr Siebeck Tübingen. Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Das Buch wurde von Gulde-Druck in Tübingen auf alterungsbeständiges Werkdruckpapier gedruckt und gebunden.
Inhaltsverzeichnis Johannes Brachtendorf und Stephan Herzberg Einleitung: Die Metaphysik und das Problem von Einheit und Vielheit ....................................................................................1 Emil Angehrn Einheit, Ganzheit, Identität Zur Frühgeschichte des metaphysischen Denkens bei Parmenides ...............15 Stephan Herzberg Pros hen-Einheit und Analogie Die Vielheit des Seienden und das ontologisch Primäre bei Aristoteles und Thomas von Aquin ...........................................................35 Jens Halfwassen Einheit und Vielheit bei Plotin Das Eine als absoluter Grund der Vielheit ......................................................61 Norbert Fischer Schöpfungslehre und Christologie in Augustins Confessiones Zu systematischen Grundlagen der Fragen nach Einheit und Vielheit im Denken Augustins .....................................................83 Markus Enders Deus unus est. Meister Eckharts Metaphysik der Einheit und ihr intellekttheoretisches Fundament .....................................................109 Harald Schwaetzer Einheit und Vielheit als Problem des Partizipationsgedankens bei Nikolaus von Kues ...................................................................................137 Jean Greisch Einheit und Vielheit – eine Herausforderung für die transzendentale Dialektik ..............................................................................157
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Anton Friedrich Koch Hegel: Die Einheit des Begriffs .....................................................................177 Branko Klun Ontologische Totalität und ethische Differenz bei Lévinas ..........................199 Klaus Müller Aus der Logik der Subjektivität zur All-Einheit Dieter Henrichs Weg zu einer Metaphysik bewußten Lebens ......................217
Autorenverzeichnis ........................................................................................235 Personenregister ............................................................................................237 Sachregister ...................................................................................................240
Einleitung: Die Metaphysik und das Problem von Einheit und Vielheit Johannes Brachtendorf und Stephan Herzberg Die Metaphysik versteht sich als eine Theorie der Wirklichkeit: Gegenüber dem, was sich etwa unseren Sinnen oder dem Alltagsverstand als wirklich darbietet, möchte sie uns mit Gründen darüber belehren, was es überhaupt heißt, wirklich zu sein, wie die Wirklichkeit aufgebaut ist und was die grundlegenden Strukturen der Wirklichkeit sind. Sie möchte uns sozusagen eine ‚offizielle Kartographie‘ der Wirklichkeit liefern. Hierfür geht sie in ihrer klassischen Gestalt von einem Ersten oder einem Prinzip aus. Eine solche Theorie kann mehr oder weniger revisionär, also mehr oder weniger vom Erfahrungsbewußtsein entfernt ausfallen: Was wir landläufig für eigentlich wirklich halten, wurde von manchen Metaphysikern zum bloßen „Schein“ deklariert, für manch andere gehört es dagegen zu den Phänomenen, denen die eigene Theorie im Sinne eines Stützpunkts Rechnung tragen muß. Der Begriff „metaphysisch“ im Titel des vorliegenden Bandes ist also in einem weiten Sinn zu verstehen. „Metaphysik“ meint hier Erste Philosophie, aber nicht bloß in ihrer vorkantischen oder vorheideggerischen Form, sondern allgemein als Prinzipienlehre, die grundlegende Aussagen über die Wirklichkeit, ihre Gründe, ihren Aufbau und ihre Strukturen macht. Das oberste Prinzip mag nun als Sein, als Gott, als Subjekt oder als der Andere angesetzt werden – sofern es sich dabei um einen Versuch handelt, die Wirklichkeit im Ausgang von einem solchen Prinzip verständlich zu machen, handelt es sich um „Metaphysik“ im hier gemeinten Sinne. Der vorliegende Band stellt das für eine prinzipienorientierte Metaphysik zentrale Begriffspaar von Einheit und Vielheit in den Mittelpunkt. Der Begriff des Einen und der Einheit wird, wie Aristoteles uns lehrt, in vielfachem Sinn verwendet (vgl. Metaphysik IV 2; V 6). Dabei lassen sich metaphysisch eher harmlose von anspruchsvollen Bedeutungen unterscheiden. Als vergleichsweise harmlos mag die Feststellung gelten, daß jeder Messung oder Zählung eine Einheit als Maß zugrunde liegt, oder auch, daß Wesen verschiedener Art wie Pferd, Esel und Hund eines sind, insofern sie durch ihre gemeinsame Gattung „Lebewesen“ logisch zusammengefaßt werden. Anspruchsvoller ist dagegen die These, der Begriff des Einen sei
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umfangsgleich mit dem Begriff des Seienden, so daß jedes Seiende eines ist und jedes Eine ein Seiendes, denn dieser Begriff des Einen ist nicht bloß logisch, sondern ontologisch und beansprucht somit, die Struktur der Wirklichkeit wiederzugeben. Das Viele, so könnte man demnach sagen, ist je eines. Noch anspruchsvoller ist aber derjenige Begriff von Einheit, um den es im vorliegenden Band vor allem geht. Ihmzufolge gilt, daß all dem Vielen, das je für sich eines sein mag, ein (groß geschriebenes) Eines zugrunde liege, so daß ohne dieses Eine das Viele weder sein könnte noch verstehbar wäre. Dieses Eine ist Prinzip des Vielen als dessen Grund, als Ursprung, oder auch als Ziel. Man kann die These vom Prinzip-Charakter des (groß geschriebenen) Einen als henologische These bezeichnen. Das Sachproblem, um das es geht, ist aber nicht an die Terminologie von Einheit und Vielheit gebunden. Man kann es auch diskutieren als das Verhältnis des Unendlichen zum Endlichen oder des Absoluten zum Relativen oder der Identität zur Differenz. Diskussionswürdig ist die These vom Primat der Einheit über die Vielheit durchaus. Denn zunächst widerspricht sie einfach dem Augenschein. Die Wirklichkeit bietet sich ja als eine Vielheit dar, und nicht als Einheit. Typischerweise bringen henologisch denkende Philosophen vor, daß dem Augenschein in diesen Fragen aber nicht zu trauen sei, daß man sich zum Denken erheben müsse, im Vergleich zu dem das bloße Sehen ein Gaffen sei, daß Menschen, die sich vom Augenschein nicht lösen können, sich wie Träumende verhielten, die sich törichterweise auch noch weigern aufzuwachen. Wie die deutschen Idealisten feststellen mußten, ist die Henologie einfach nichts für den ‚gesunden Menschenverstand‘, sondern sie erfordert ein vernünftiges Denken. Schon Parmenides, der mit seinem Wort: „Das Seiende ist eines“, die henologische Philosophie eröffnete, gab vor, diese Einsicht nur durch eine besondere geistige Erhebung erhalten zu haben, nämlich durch eine Fahrt in den Himmel, wo eine Göttin ihm Unterweisung erteilte. Einheit und Vielheit ist ein Thema, das die Philosophie zu allen Zeiten beschäftigt hat: von der Vorsokratik bis zur Gegenwart. Es ist auch keineswegs bloß ein metaphysisches Thema, sondern es taucht beinahe in allen Gebieten der Philosophie auf – in der Sozialphilosophie: zu denken ist an die Dialogphilosophie des 20. Jh., etwa Martin Bubers „Ich und Du“; oder in der Philosophie des Geistes als Frage nach der Einheit des Subjekts. Natürlich ist es auch ein Problem der Ethik, denn in antiker Sicht ist der Weise ein Mensch, der durch Tugend die Einheit seiner Seele herstellt und bewahrt, während der Tor innerlich zerrissen ist und in die Vielheit zerfließt. Selbst der moderne Begriff moralischer Autonomie konnotiert wohl noch die alte Vorstellung einer Übereinstimmung des Menschen mit sich selbst. Der vorliegende Band stellt das metaphysische Problem von
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Einheit und Vielheit in den Mittelpunkt, doch zeigt sich immer wieder, daß sich insbesondere die ethischen Implikationen nicht ausblenden lassen. Denn mit der metaphysischen Lehre vom Einen und Vielen ist die These eng verbunden, daß der Mensch nur dann die ihm wesensgemäße Bestimmung erfüllt, wenn er sich zum Einen erhebt. Plotins Henologie gipfelt in der „Henosis“ als höchstem Lebensziel, der Einswerdung des Menschen mit dem Einen; Meister Eckhart lehrt nicht nur die Differenzlosigkeit der Gottheit, sondern zeigt als ‚Lebemeister‘ seinen Hörern auch den Weg des Durchbruchs zu dieser Gottheit. Cusanus meint, der Mensch kehre dann gleichsam ins Paradies zurück, aus dem er einst vertrieben wurde, wenn er den Satz vom zu vermeidenden Widerspruch überwinde, der wie eine Mauer den Garten umgebe, in dem Gott als übergegensätzliche Einheit wohnt. Und Dieter Henrich weist der als Alleinheitslehre konzipierten Philosophie eine eminente Lebensbedeutung zu, so daß die Philosophie gar die Orientierungsfunktion und das Trostpotential der Offenbarungsreligionen zu übernehmen vermöge. Philosophien des Einen sind immer schon unter Ideologieverdacht geraten. Nach Platon begibt sich der Philosoph, der nach der Schau der Sonne in die Höhle zurückkehrt, sogar in Lebensgefahr. So dramatisch muß sich die Kritik nicht immer äußern; jedenfalls hat aber derjenige, der sich gegen den Augenschein wendet, eine Beweislast zu tragen. Philosophen des Einen müssen zeigen, daß wir vernünftigerweise beim Vielen nicht stehen bleiben dürfen, sondern das Viele auf das Eine hin überschreiten müssen, um es verstehen zu können. Metaphysisch ist nun gerade die Relation des Vielen zum Einen von höchstem Interesse. Darf man hier überhaupt von einer Relation sprechen? Steht das Absolute in einem Verhältnis zum Relativen? Oder würde es damit selbst zu einem Relativen und verlöre seine Absolutheit? Steht Gott in einer Relation zur Welt? Oder büßte er dadurch bereits seinen transkategorialen Charakter ein (Relation ist ja eine Kategorie), so daß er seine Transzendenz verlöre und zu einem Innerweltlichen herabgestuft würde? Kann das Unendliche in einer Proportion zum Endlichen stehen, oder würde es dadurch selbst zu einem Endlichen? Kann die Identität in einer Differenz zur Differenz stehen, ohne dadurch selbst zu einem Differenten zu werden? Wenn aber solche Gedanken an eine Relation und ein Verhältnis zu vermeiden sind, dann muß das Eine wohl alles sein und alles ist eins. Die Henologie ist eine Metaphysik der Alleinheit. Doch welcher Raum bleibt dann noch für das Viele und für die Differenz? Läuft die metaphysische Lehre vom Einen, die die Vielheit doch gerade verstehbar machen sollte, am Ende darauf hinaus, diese Vielheit zu leugnen? Das wäre allerdings höchst problematisch. Faktisch hat die henologische Philosophie eine Reihe von begrifflichen Mitteln entwickelt, um die
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Vielheit nicht im Einen verschwinden zu lassen, sondern sie zu bewahren und vom Einen her zu begründen. Das neuplatonische Konzept der Emanation zielt wohl gerade darauf, wenn es den Hervorgang des Vielen aus dem Einen beschreibt. Der christliche Schöpfungsbegriff soll das gleiche leisten, wendet sich aber, wie man bei Augustinus sehen kann, kritisch gegen den Emanationsgedanken, weil dieser den Unterschied des Geschaffenen vom Schöpfer nicht hinreichend gewährleiste. Das Stichwort „Analogie“ steht für einen Versuch, die radikale Abhängigkeit des Vielen vom Einen zu denken und zugleich einen Selbststand des Vielen zu wahren. Nach Thomas von Aquin ist Gott zwar in allen Dingen, aber er ist nicht alle Dinge. Nach Cusanus hingegen ist Gott in der Tat alle Dinge, nur eben keines im Besonderen. Dialektik im Hegelschen Sinne beruht auf dem Gedanken, daß die Identität der absoluten Idee nur als Identität von Identität und Differenz denkbar sei, und somit das Moment der Vielheit in sich aufhebe, und zwar im bekannten mehrfachen Sinn des Wortes. Dieser Begriff der Aufhebung hat sicher noch einmal andere Implikationen für das Verhältnis von Einheit und Vielheit als Emanation, Schöpfung und Analogie. Zu fragen ist demnach: Begründet der Rekurs auf das Eine das Viele, oder läßt er es verschwinden? Anders herum formuliert: Bleibt ein Absolutes und Unendliches, das in einem Begründungsverhältnis zum Relativen und Endlichen steht, noch ein Absolutes, oder wird es dadurch selbst zum Endlichen? Lassen sich die verschiedenen henologischen Konzeptionen gegeneinander abwägen, so daß manche besser geeignet erscheinen, das Verhältnis des Einen zum Vielen auszudrücken als andere? Die abendländische Metaphysik ist nicht nur durch den Einheitsgedanken geprägt, sondern auch durch die Kritik an ihm. Aus der metaphysischen Tradition selbst erwächst eine Kritik an einem allzu starken Einheitsgedanken. Augustinus und Thomas von Aquin verweisen auf die unaufhebbare Differenz zwischen Schöpfer und Geschöpf. Kant stellt den Einheitsbegriff unter den Verdacht, lediglich einen dialektischen Schein zu erzeugen. Heidegger ordnet die Henologie der Onto-theo-logie zu, der es nie gelungen sei, das Sein konsequent vom Seienden zu unterscheiden; deren unbefragte Gleichsetzung von Sein mit Sichtbarkeit, Gelichtetheit und Anwesenheit habe zugleich den ‚Tod Gottes‘ und die Herrschaft der Technik heraufgeführt. Lévinas philosophiert aus dem Problem von Einheit und Vielheit heraus, weist dabei aber die Henologie zurück, weil der Einheitsgedanke in der abendländischen Tradition zu einem Totalitätskonzept geführt habe, das der Andersheit des Anderen, sei dies nun der andere Mensch oder Gott selbst, keinen Raum mehr lasse. Metaphysik (im Gegensatz zur Ontologie) beginnt nach Lévinas erst dort, wo der Mensch die Totalität durchbricht und zum Unendlichen transzendiert, wo er das Eine zurückläßt zugunsten des Anderen.
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Die einzelnen Beiträge dieses Bandes behandeln das Problem von Einheit und Vielheit aus dem Blickwinkel unterschiedlicher Konzeptionen einer prinzipienorientierten Metaphysik. Das Interesse für das Eine und Ganze, das schon früh in der Geschichte des Denkens zum Vorschein kommt, findet seinen ersten prominenten Vertreter in Parmenides. Sein Lehrgedicht kann als die Gründungsurkunde des ontologischen Monismus, demzufolge alles Seiende nur eines ist, angesehen werden. Emil Angehrn unternimmt es in seinem Beitrag, die Ambivalenz dieser Gründerfigur philosophischen Denkens genauer herauszuarbeiten: Parmenides entwickelt einerseits mit höchster Stringenz einen Begriff des reinen Seins, also eine Lehre davon, „was das Sein von etwas ausmacht, wodurch etwas ist, was es ist, und wodurch es überhaupt ist“, und wird damit zum Vater der Ontologie. Ausgehend von der absoluten Trennung zwischen Sein und NichtSein und der Konzeption des Seins vom einfachen ‚Vernehmen‘ her treffen wir auf ‚dem Weg der Wahrheit‘, also dem Weg, „daß [es] ist, und daß es nicht möglich ist, daß [es] nicht ist“, auf verschiedene „Merkzeichen“. Es handelt sich hier um miteinander zusammenhängende Bestimmungen, die die Einsicht, „daß Seiendes nur ist und in keiner Weise nicht ist“, nach verschiedenen Seiten hin entfalten. Angehrn bringt diese Bestimmungen des reinen Seins unter die vier Leitideen Gegenwart (im Sinne von Zeitlosigkeit), Vollendung (im Sinne von Geschlossenheit), Einheit (im Sinne von Einartigkeit), Identität. Mit diesem reinen Seinsdenken kann allerdings das Verhältnis von Einheit und Vielheit weder formuliert noch als Problem reflektiert werden: „Nach derselben Logik, nach welcher gilt, daß etwas entweder ist oder nicht ist, muß man auch sagen, daß etwas entweder eins ist oder überhaupt nicht ist“. Eine erste, für die Geschichte der Metaphysik grundlegende Kritik erfährt der Eleatismus in Platons Dialogen Parmenides und Sophistes: Nach Platon verunmöglicht der eleatische Seinsmonismus Erkenntnis und Sprache. Nur einer Vermittlung von Einheit und Vielheit, eine „Verflechtung von Sein und Nichtsein“ kann die Grundlagen propositionaler Erkenntnis und Rede sichern. Stephan Herzberg arbeitet in seinem Beitrag heraus, wie Aristoteles gegenüber dem eleatischen Monismus die Vielheit des Seienden verteidigt, gleichzeitig aber mit seiner pros hen-Einheit ein begriffliches Instrument entwickelt, um innerhalb dieser Vielfalt eine Ordnung zu sichern. Die Dinge werden auf vielfache Weise als seiend bezeichnet, aber immer in Bezug auf eine primäre Instanz, die das, was es heißt zu sein, im eigentlichen Sinn verwirklicht. Mit dieser Lehre wird einerseits zum Ausdruck gebracht, daß das Seiende in sich differenziert ist, und zwar gemäß der Kategorien, die angeben, in welchen auf eine höhere Einheit nicht mehr zurückführbaren Weisen das Seiende bestimmt ist. Mit dem Seienden (on) differenziert sich auch das Eine (hen) entsprechend der verschiedenen Katego-
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rien aus und nimmt verschiedene Bedeutungen an: Jedes Seiende ist auf je verschiedene Weise etwas Bestimmtes und eines. Andererseits gibt es eine primäre Seinsweise (ousia), auf die hin alles andere als seiend bezeichnet wird. Diese wird in einem ersten Schritt als die wahrnehmbare Einzelsubstanz bestimmt. Eine weitergehende Analyse der ontologischen Priorität erweist die substantielle Form als „erste Substanz“. Es stellt sich die Frage, in welchem Verhältnis die wahrnehmbare Substanz zur göttlichen Substanz steht, ob es sich hier um voneinander unabhängige Seinsbereiche (mit ihren je eigenen Prinzipien) handelt, oder ob es auch auf der vertikalen Ebene ein Verhältnis zwischen einem primär und einem sekundär Seienden gibt. Von der Antwort auf diese Frage hängt es ab, ob die Wirklichkeit als ein bestimmtes Ganzes verstanden werden kann. Es stellt sich heraus, daß Gott als reine Aktualität und damit als vollkommenstes Seiendes mit dem geordneten Vielen nur insofern etwas zu tun hat, als er als Objekt der Attraktion und damit als externe Ziel-Ursache für die je verschiedene Vollkommenheit des Vielen sorgt, nicht aber das Prinzip ist, aus dem das Viele überhaupt erst hervorgeht. Während Platon in seiner späten Prinzipienlehre noch von einem Dualismus zwischen dem „Einen“ und der „unbestimmten Zweiheit“ ausgeht, kommt Plotin zu einem absoluten, aller Vielheit voraus- und zugrundeliegendem Einen, und damit zu einer monistischen Interpretation der Prinzipienlehre Platons. Wie Jens Halfwassen in seinem Beitrag herausarbeitet, ist das Motiv für diesen Aufstieg zum absoluten Einen die Einsicht in die fundamentale Asymmetrie des Verhältnisses von Einheit und Vielheit: Da Vielheit nur als geeinte Vielheit möglich und denkbar ist, setzt sie das Eine immer schon voraus, das Eine aber umgekehrt nicht das Viele. Das Eine und die Vielheit sind somit nicht gleichursprünglich, vielmehr ist das Eine als Grund des Seins, der Bestimmtheit und der Denkbarkeit aller Dinge gegensatzlos und als solches absolut. Grund aller Vielheit ist das Eine aufgrund seiner radikalen Transzendenz: Gerade weil es, wie Halfwassen hervorhebt, in der Vielheit nicht aufgeht, sondern jenseits der Vielheit als Eines es selbst bleibt, kann es durch seine Anwesenheit das Viele im Sein erhalten. Der Grund kann selbst nicht die Eigenschaften des von ihm Begründeten haben; er bleibt dem Begründeten gegenüber immer transzendent. Das absolute Eine, in dem Plotins henologische Reduktion gipfelt, ist als absolut Einfaches „jenseits des Seins“, also jenseits jeglicher Bestimmtheit, Denkbarkeit, Aussagbarkeit und Benennbarkeit. Es steht in keiner Beziehung zur entsprungenen Wirklichkeit. Nach Halfwassen wird mit Plotin deutlich, was mit absoluter Transzendenz eigentlich gemeint ist: Das Absolute läßt sich nicht mehr mit dem von ihm abhängigen Sein zu einer umfassenden Totalität zusammenfassen; da es aus jeglicher Be-
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stimmtheit und Ganzheit herausgenommen ist, transzendiert es jeden Totalitätshorizont. Augustinus steht zum einen in der platonisch-neuplatonischen Tradition, insofern es bei ihm Aussagen gibt, in denen die Unveränderlichkeit und Einheit zum konstitutiven Prinzip des wahren Seins erklärt wird, und sich damit eine Henologie im christlichen Gewand andeutet (conf. VII, 11,17). Andererseits finden sich bei ihm auch Aussagen, in denen Gott als das Sein selbst den Kreaturen in unterschiedlichen Graden das Sein gibt (civ. XII 2). Zentral für Augustins Metaphysik ist aber das neuplatonische Motiv der Rückkehr: Grundsätzlich ist alles, was nicht „aus Gott“, sondern „aus Nichts“ „von Gott“ geschaffen ist, in einer grundlegenden Weise veränderlich (bis hin zum ‚deflexus in multum‘) und daher Gott unähnlich, aber mit der Fähigkeit ausgestattet, durch Rückkehr zur Weisheit Gottes die Mutabilität zu minimieren und damit Gott ähnlicher zu werden. Norbert Fischer arbeitet in seinem Beitrag heraus, wie sich Augustinus die Frage von Einheit und Vielheit aus seinen eigenen Erfahrungen und denkerischen Ansätzen aufdrängt, und zwar vor allem aus der Doppelaufgabe, ‚Gott und die Seele zu wissen‘. Das wird anhand des elften Buchs der Confessiones näher verfolgt: Ausgangspunkt ist der Gedanke, daß ein monokausal gedachter Monotheismus, also ein solcher, in welchem dem Geschaffenen jeglicher Eigenstand und damit jegliche Kausalität fehlt, sich selbst widerspricht. Aufgrund der unendlichen Vollkommenheit Gottes und der Fülle seiner Güte kann das von ihm Geschaffene nur als „gewolltes Anderes“ mit eigener Kausalität und Würde gedacht werden. Diesem Gedanken entspricht die dialogisch-personale Auffassung des Verhältnisses von Gott und Mensch in den Confessiones, wo Augustinus sich, wie Fischer herausarbeitet, zum einen als angewiesen auf das Hören des Wortes Gottes versteht, zum anderen aber hofft, daß Gott auch auf ihn hört, Sorge um uns Menschen trägt und am Ende der Zeiten sogar in uns ruhen will. Das ist nur möglich, wenn es sich dabei um freie Geschöpfe handelt. Diese sind von Gott auf ihn hin, d.h. auf Göttlichkeit hin, geschaffen. Wie sich Gott als ewiger Schöpfer auf die zeitliche Menschenwelt beziehen kann und wie sich die Göttlichkeit von Geschaffenen verstehen läßt, führt auf die Frage nach dem ‚Sein‘ der Zeit und ihrer Beziehung zur Ewigkeit. Hier kommt Christus als Mittler ins Spiel: Der Weg Christi und damit der Weg zur möglichen Göttlichkeit von Geschöpfen ist nicht der des Aufstiegs und der Steigerung des eigenen Seins, sondern der des Abstiegs, der Weg reiner Liebe und Zuwendung zu den Anderen. Dieser Weg zur Göttlichkeit kann nicht unter Ausschaltung von Zeit und Welt gefunden werden. Dabei zeigt sich nach Fischer der Mensch als „das eigentliche Zeitwesen“, das das flüchtige Gegebene durch Erinnerung, Vergegenwärtigung und Erwartung festhält und verstetigt und insofern durch eigene Aktivität das ‚Sein‘
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der Zeit sichert. Augustinus denkt die Zeit zwar als Werk des Schöpfers, ohne aber dabei die eigene Tätigkeit des geschaffenen Geistes zu unterschlagen. Die Spontaneität der Geschöpfe bleibt gleichwohl eine endliche Freiheit, die der Hilfe Gottes bedürftig bleibt. In der platonisch-neuplatonischen Metaphysik des Einen nimmt der Begriff des Seins (on) bzw. der „Seiendheit“ (ousia) nur den zweiten Platz ein. Der von Platon als das „seiende Eine“ bezeichnete Kosmos aller Ideen, außerhalb dessen nichts seiend ist, wird hier nochmals auf seinen transzendenten Grund hin überstiegen, auf das absolute Eine „jenseits des Seins“ und damit „jenseits von allem“. Dagegen nimmt in der Metaphysik der Aristotelischen Tradition der Seinsbegriff die höchste Stelle ein: Aufgrund dieser Priorität eignet ihm jene Universalität, die ihn zum ‚Leitfaden‘ und Gegenstand dieses (ontologischen) Typs von Metaphysik hat werden lassen. Das Eine ist hier nicht mehr Prinzip, sondern ein bloß notwendiges Attribut oder eine transzendentale Bestimmung des Seienden: Etwas ist nicht deshalb seiend, weil es eines ist, sondern weil es seiend ist, ist es auch eines. Während bei Aristoteles der Bezug auf Gott keine inhaltlichen Konsequenzen für die Analyse der vergänglichen Einzelsubstanz hat, die Frage nach dem Verhältnis beider Arten von Substanz hier also nach der Ousiologie angegangen werden kann, ändert sich das in einer Konzeption von Metaphysik, die von einem das Sein verleihenden Schöpfergott ausgeht. Für Thomas von Aquin gibt es in allem geschaffenen Seienden eine Zusammensetzung zwischen essentia und esse. Während bei Aristoteles die substantielle Form das Aktualitätsprinzip ist, stellt für Thomas die essentia (aus Form und nicht-gezeichneter Materie) nochmals eine Potentialität hinsichtlich des von Gott als Wirkursache zugeteilten esse dar. Alles endliche Seiende hat nur Sein, während Gott als einziger sein Sein ist. Vor diesem Hintergrund besteht die spezifische Herausforderung für Thomas darin, zum einen die radikale Abhängigkeit des endlichen Seienden vom transzendenten Schöpfergott zu wahren, zum anderen dem endlichen Seienden einen relativen Eigenstand zu sichern. Der Schlüssel, wie beide Annahmen miteinander vereinbart werden können, liegt in seiner Analogielehre, in die Theorieelemente aus der aristotelischen und der platonischen Tradition einfließen. Das Viele ist von Gott radikal abhängig, ohne selbst „nichts“ zu sein: Vielmehr kommt dem Geschaffenen das Sein auf eine intrinsische Weise zu, ohne daß dafür Gott etwas von allen Dingen sein müßte. Mit Meister Eckhart kommt im vorliegenden Band eine Konzeption von „Einheitsmetaphysik“ in den Blick, die einerseits in der platonisch-neuplatonisch inspirierten christlichen Tradition steht, andererseits aber in einem entscheidenden Punkt von dieser abweicht und darin einen Neuanfang setzt. Eckhart zählt erst einmal insofern zur neuplatonischen Traditionsli-
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nie, als er die Priorität des Seins bestreitet. Wie Markus Enders in seinem Beitrag zeigt, kehrt Eckhart in seiner ersten Pariser Quaestio das Begründungsverhältnis zwischen Sein und Erkennen in Gott genau um: Während für Thomas von Aquin im esse per se subsistens die höchste Bestimmung Gottes und die Grundlage aller anderen Prädikate liegt, ist für Eckhart das intelligere die höchste Bestimmung des Absoluten und daher auch das Fundament seines Seins. Gott ist demnach kein Seiendes, sondern Intellekt und absolutes Erkennen, der als solcher alles im voraus in Reinheit, Fülle und Vollkommenheit in sich enthält. Zu dieser intellekttheoretischen Begründung des Seins Gottes tritt nach Enders in den späteren Schriften eine intellekttheoretische Begründung der Einheit Gottes, womit Eckhart von der platonisch-neuplatonische Tradition abweicht: In seinem Kommentar zum Buch der Weisheit weist Eckhart die Einzigkeit, All-Einheit, Unbegrenztheit, allmächtige Prinziphaftigkeit und Ununterschiedenheit als implizite Bestimmungen des absolut Einen, also der Einheit des göttlichen Intellekts auf. Für die lateinische Predigt 29 („Deus unus est“) arbeitet Enders heraus, daß die Einheit Gottes in Eckharts Transzendentalien-Metaphysik keine überseiende Einheit, sondern die Einheit seines Seins, die Identität von reinem Sein und reinem Denken, ist. Der absolute Geist begründet durch den Akt seiner Selbsterkenntnis die Einheit seines Wesens – genau in Umkehrung zur neuplatonischen Tradition, wo das geisttranszendente Eine der Grund des absoluten Geistes ist. Das ist nach Enders „das eigentlich Revolutionäre an Eckharts Einheitsmetaphysik“. In dieser intellekttheoretischen bzw. geistmetaphysischen Begründung der Einheit Gottes wurde Eckhart wahrscheinlich von Moses Maimonides inspiriert. Mit Nikolaus von Kues begegnet uns ein Denker, der das Problem von Einheit und Vielheit zwar im Rahmen des Partizipationsgedankens aufgreift, gleichzeitig aber diesen Gedanken auf eine originelle Weise umformt, und zwar in ausdrücklicher Absetzung von den Platonikern. Harald Schwaetzer arbeitet in seinem Beitrag diese Umformung genauer heraus. In De coniecturis ist die participatio Grundlage der coniectura, insofern konjekturales Erkennen ein Modus des Partizipierens darstellt, und hat somit primär eine epistemologische Bedeutung. Da Cusanus die coniectura als eigenständig und autonom ansieht, wird ein neues Modell von Partizipation notwendig, das „konjekturale Erkenntnis positiv als kreativen Akt von Seiten des menschlichen Geistes und nicht negativ als Manko einer Privation deutet“. Außerdem ist eine neue Anthropologie notwendig, in der die schöpferische Rolle der menschlichen mens gegenüber den anderen Geschöpfen deutlich wird. In den Opuscula wird diese doppelte Problemstellung damit beantwortet, daß Cusanus der Autonomie des erkennenden Subjekts mit einem Modell der doppelten Partizipation Rechnung trägt; hier wird nach Schwaetzer die Stellung des Menschen als eines selbständigen
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Gegenübers zu Gott in der Erkenntnis aufgewertet. Der qualitative Unterschied des Menschen gegenüber den übrigen Geschöpfen (zusammen mit der unaufhebbaren Differenz zwischen Schöpfer und Geschöpf) wird anhand der beiden Spiegelgleichnisse mit der Idee der viva similitudo, also des Menschen als eines lebendigen Bilds Gottes, eingeholt. Nach Schwaetzer tritt damit an die Stelle des Partizipationsgedankens derjenige einer dynamischen similitudo: Der leitende Zielbegriff ist nicht mehr die Einheit, sondern „nur noch die bei bestehender Distanz sich ereignende ‚Gleichheit‘“. In De Genesi wird die Frage nach Einheit und Vielheit nicht von Seiten des Menschen aus, sondern von der Einheit Gottes her reflektiert. Gegenüber der platonischen Präferenz für das unum entwirft Cusanus mit dem idem ein Modell, das unter Wahrung der Absolutheit des idem eine Autonomie des Vielen gegenüber dem Schöpfer erlaubt. An dieser Stelle unseres Durchgangs steht mit dem Beitrag von Jean Greisch eine Zäsur. Blickt man von hier aus zurück, dann zeigt sich ein Bogen, der sich von Heraklit – seinem Spruch, daß nach dem Logos alles Eines ist – bis hin zum deutschen Idealismus spannt, der mit dem Anspruch auftritt, „das All zu erkennen“ und in seiner Einheit zu erfassen. Wendet man von hier aus den Blick nach vorn, trifft man auf eine radikale Kritik an metaphysischen Einheitskonzeptionen im Namen des plurale tantum, sei es in Gestalt eines Nietzsche oder eines Derrida. An dieser Stelle ist es sinnvoll, genauer auf den für die Metaphysik zentralen Begriff des Prinzips zu reflektieren, der immer wieder unter Ideologieverdacht geraten ist. Dieser Begriff kann, wie Greisch mit Bezug auf Breton deutlich macht, nicht nur „indikativisch-hypostatisch“, sondern auch „postulatorisch als eine Grundforderung des metaphysischen Denkens“ verstanden werden. Breton unterscheidet zwischen dem (henologischen) Postulat der Einheit, dem (ontogenetischen) Postulat der Genese und dem (epistrophischen) Postulat der Rückkehr. An ihrer Infragestellung läßt sich das „Ende der Metaphysik“ genauer verdeutlichen; sie liefert uns das Bild einer radikal pluralisierten ‚Welt‘, ein „Multiversum“, das einer radikalen Streuung unterworfen ist. In dieser Orientierungslosigkeit ist es sinnvoll, auf Immanuel Kant zurückzugehen, der im Rahmen des Pantheismusstreits das Orientierungsbedürfnis der Vernunft genauer reflektiert hat. Nach Greisch beschäftigt sich Kants transzendentale Dialektik im Grunde mit nichts anderem als diesem Grundbedürfnis. Sein Begriff einer Vernunfteinheit, der streng von der Verstandeseinheit zu unterscheiden ist, weist einen alternativen Weg zum Einen. Kant gelingt es, die drei Hauptgegenstände der Metaphysica specialis „Seele“, „Welt“, „Gott“ in der Vernunfteinheit festzumachen und ein „System der transzendentalen Ideen“ sicherzustellen. Dafür muß er allerdings auf den konstitutiven Gebrauch dieser Ideen verzichten; für die theoretische Vernunft sind sie reine Fluchtpunkte,
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denen kein möglicher Gegenstand in der Erfahrung entspricht. Daraus darf man nach Greisch aber nicht schließen, „daß die Ideen selbst wesenlose Gespenster sind, mit denen die Vernunft überhaupt nichts mehr anfangen kann.“ Mit Franz Rosenzweig kann man die Ideen als elementare, nicht aufeinander reduzierbare „Urwirklichkeiten“ oder „Tatsächlichkeiten“ verstehen, die eine je spezifische Einheit besitzen. Im Beitrag „Hegel: Die Einheit des Begriffs“ analysiert Anton Friedrich Koch zunächst die Rolle des Begriffs bzw. der absoluten Idee in der Wissenschaft der Logik, um sich dann dem Verhältnis der Idee zur Natur und zur Vielheit der realen Subjekte zu widmen. Höchstes Prinzip ist nach Hegel nicht das Eine oder die Einheit – diese wird in der Logik des Fürsichseins abgehandelt – sondern der Begriff, der als einer den gesamten logischen Raum umfaßt. Der Begriff geht aus einem logischen Prozeß hervor, der mit Sein und Werden beginnt, und tritt paradigmatisch als Ich oder als Selbstbewußtsein auf. Im Unterschied zum neuplatonischen Einen weist Hegel dem Begriff eine innere, trinitarische Struktur zu mit den Momenten der Allgemeinheit, Besonderheit und Einzelheit. Sein höchstes Prinzip weist also von vornherein logisch differente Glieder auf, die sogar selbständig sind, aber so, daß sie in ihrem Anderen jeweils ganz bei sich sind. Der zweite Teil des Aufsatzes diskutiert das Verhältnis des einen Begriffs zur Vielheit des Wirklichen, indem er Hegels Argumentation für den Übergang der Logik in die Realphilosophie mit Schellings Kritik sowie einem an Heideggers hermeneutischer Philosophie gewonnenen Standpunkt konfrontiert. Nach Hegel entläßt die Idee sich frei zur Natur und bleibt dabei ihrer selbst sicher und in sich ruhend, wodurch sie eine letzte Sinnhaftigkeit der Weltgeschichte garantieren und dem Menschen eine Gewißheit des Heils ermöglichen soll. Ob ein Individuum in seinem Leid Trost finden kann durch den Gedanken des in allem fortdauernden Selbstgenusses der ewigen Idee, bleibt allerdings – auch mit Blick auf Dieter Henrichs Idee einer Selbstverständigung bewußten Lebens – fraglich. Schellings Kritik, derzufolge Hegel auch in der Realphilosophie nicht über innerlogische Exerzitien hinauskomme, führt zu einer theorielogischen Patt-Situation, weil Hegel mit dem Hinweis kontert, Schelling bleibe auf irrationale Weise beim Endlichen stehen. Mit einem Standpunktwechsel von der theoretischen zur hermeneutischen Einstellung der Jemeinigkeit als Ausgangsposition bricht Koch das argumentative Patt zu Ungunsten Hegels. Jemeinigkeit und Alterität bleiben unhintergehbar und füreinander dunkel, sie widerstehen der Hegelschen Dialektik. Wenn das Subjekt dennoch zu sich finden und sich in allem und allen in freier Liebe und schrankenloser Seligkeit genießen kann, wenn es aus der Zeit in die nicht-sukzessive Ewigkeit überzusteigen vermag, dann kann dies nicht von der Philosophie garantiert, sondern muß im Lebensvollzug erwartet werden.
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Mit Emmanuel Lévinas soll im vorliegenden Band ein dezidierter Kritiker des Einheitsdenkens zu Wort kommen, der die traditionelle Frage nach Einheit und Vielheit innerhalb eines zu den bisher skizzierten Konzeptionen alternativen begrifflichen Rahmens aufrollt und diskutiert. Wie Branko Klun in seinem Beitrag deutlich macht, ist nach Lévinas für die gesamte abendländische Philosophie, und insbesondere für die Phänomenologie, ein Begriff von Einheit konstitutiv, der keine wirkliche Andersheit mehr zuläßt und somit einen totalitären Charakter besitzt: Die immer wieder unter verschiedenen Bezeichnungen herausgestellte Offenheit des menschlichen Verstehens ist in einer tiefer liegenden Offenheit der Leiblichkeit, der „Intentionalität des Genusses“, fundiert, was zur Folge hat, daß das Subjekt im Erleben oder Erkennen die Welt oder das Andere vereinnahmt, assimiliert und darin letztlich zu sich selbst zurückkehrt. In dieser „Reduktion des Anderen auf das Selbe“ besteht nach Lévinas die „Herrschaft des Einen“. Diese Totalität des Einen, die im Selbst des Subjekts verankert ist, konvergiert mit der Universalität des Seins, an der sich die abendländische Erste Philosophie in Gestalt einer Ontologie orientierte. Einer solchen „ontoegologischen“ Totalität bleibt die „wahre Andersheit“ und „echte Transzendenz“ verschlossen. Von hier aus wird das eigentliche Anliegen der Metaphysik deutlich: einen Weg zur wahren Transzendenz jenseits des Verstehens und jenseits des Seins zu bahnen und damit das grundlegende Verlangen des Menschen nach radikaler Exteriorität, nach Selbst-Transzendenz zu stillen. Der Weg dorthin ist nach Lévinas die Ethik: Das absolut Andere ist der Andere, mit dessen Ankunft der Bruch der Herrschaft des Einen und seiner einsamen Totalität erfolgt. Wie Klun deutlich macht, ist die radikale Transzendenz des Anderen nicht nur die Bedingung für einen Pluralismus, sondern ebenso für eine neue, echte Beziehung zum Anderen. Um allerdings zu einem wahren Pluralismus zu kommen, der die verschiedenen Subjekte nicht wieder unter eine übergeordnete Einheit bringt, ist es nach Lévinas notwendig, eine prinzipielle oder ursprüngliche Differenz anzunehmen, die jede nachträgliche Vereinheitlichung vereitelt. Wie Klun herausstellt, kann vor dem Hintergrund einer solch grundlegenden Differenz und Asymmetrie das Subjekt nicht mehr als ontologische Einheit verstanden werden. In Lévinas’ späteren Schriften zeigt sich, daß das Subjekt noch vor dem Bewußtsein in seinem Grund von einer Verantwortung für den Anderen bestimmt ist; die Differenz verschiebt sich somit in das Subjekt selbst: „Der eigentliche Kern der Subjektivität ist nicht das bewußte Selbst, sondern eine ethisch gedeutete Subjektivität im Sinne der Verantwortung.“ Die „Einzigkeit“ des Einen basiert nach Klun auf keiner ontologischen Einheit mehr, sondern allein in der Einzigkeit seiner ethischen Berufung für den Anderen.
Einleitung
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In einem letzten Schritt wird im vorliegenden Band mit Dieter Henrich der schon an verschiedenen Abschnitten beleuchtete Weg eines AllEinheitsdenkens, welches das Endliche in einem Absoluten einbegriffen denkt, wiederaufgenommen. Wie Klaus Müller in seinem Beitrag herausarbeitet, kommt Henrich zum Gedanken einer All-Einheit nicht durch direkten Anschluß an antike, mittelalterliche oder moderne Konzeptionen, sondern aus seinen Bemühungen um eine Theorie bewußten Lebens, in deren Zentrum der Begriff selbstbewußter Subjektivität steht. Seiner Konzeption liegt zum einen die Annahme der Unhintergehbarkeit der Standards der Kantischen Metaphysikkritik zugrunde, zum anderen ist sie vom Bestreben getragen, das bei Kant Ungedachte und Ungeklärte zu überschreiten. Entscheidend ist hier der Aufweis der Unerkennbarkeit (auch „Dunkelheit“ oder „Unverfüglichkeit“) des Grundes von selbstbewußter Subjektivität. Diese nicht aus sich selbst begreifbare Subjektivität weist auf einen Grund hin, der einem gegenständlichen Erkennen entzogen ist. Doch muß eine solche Hypothese – und mit dieser Frage knüpft Henrich an eine Debatte um Kants Moraltheologie an – als eine bloß „wohlmotivierte Fiktion“ angesehen oder kann ihr nicht doch ein Wahrheitssinn abgerungen werden? Wenn es sich hier um eine Art „Abschlußgedanken“ handelt, „in dem sich sammelt, was ein bewußtes Leben als solches bewegt, dann kommt es […] zu einer Wirklichkeitskontinuierung zwischen dem, was ist und wahr ist, und dem, was um dieses Wahr- und Wirklichseins willen angenommen wird“, ohne daß diese „letzten Gedanken“ den Status einer metaphysischen oder religiösen Einsicht erlangen würden. Der Grund von Subjektivität läßt sich dann „in Gestalt eines wirklichkeitsverbürgenden Gedankens monistischer All-Einheit“ fassen, also eines Welt- und Selbstbewußtsein einbegreifenden All-Einen, in dem die Endlichkeit des Lebens als solche ihren Platz findet. Der vorliegende Band ist hervorgegangen aus einer Tagung der „Arbeitsgemeinschaft deutschsprachiger Philosophiedozentinnen und -dozenten im Studium der katholischen Theologie an wissenschaftlichen Hochschulen“, die vom 26.–28.2.2010 in Stuttgart-Hohenheim stattfand. Er enthält die dort gehaltenen Vorträge in überarbeiteter Form.
Einheit, Ganzheit, Identität Zur Frühgeschichte des metaphysischen Denkens bei Parmenides Emil Angehrn Diese Tagung ist dem Verhältnis von Einheit und Vielheit als metaphysischem Problem gewidmet. Die Beziehung von Einheit und Vielheit als Frage der Metaphysik zu erörtern scheint dort geboten, wo der Einheitsgedanke ernst genommen wird. Das ‚metaphysische Problem‘ scheint zunächst und in erster Linie das der Einheit als solcher zu sein. Wenn wir in unserem Alltag wie selbstverständlich mit einer unüberschaubaren Vielfalt von Ereignissen und Gegenständen zu tun haben, so scheint der Erklärungsbedarf die Frage zu betreffen, in welchem Sinn die unterschiedlichen Dinge zusammenhängen und wie aus dem Vielen eine Einheit wird. Daß es überhaupt eine Einheit – oder Einheiten – in der Vielheit der Erscheinungen gibt, ist zunächst das Aufzuweisende und das zu Erläuternde. Nicht umsonst tritt die Einheitsthese im Gestus der Nicht-Selbstverständlichkeit und mit der Autorität einer höheren Einsicht auf – exemplarisch bei Heraklit: „Wenn man – nicht auf mich, sondern – auf den Logos hört, ist es weise, beizupflichten, daß alles eines ist (hen panta einai).“ (DK 22 B 50)
Schon früh kommt in der Geschichte des Denkens das Interesse für das Eine und Ganze zum Ausdruck, in Religionen und in Schöpfungsmythen, aber auch in den ersten Ansätzen der Vorsokratik, die zum Ursprung aller Dinge zurückgehen und die Ordnung des Alls erforschen. Die Blickwendung vom Einzelnen hin zum Ganzen, von der Vielfalt zur Einheit scheint die Richtung anzuzeigen, die das Denken auf dem Weg vom Mythos zum Logos, von der wissenschaftlichen Weltbeschreibung zur Metaphysik einschlägt. Im besonderen wird diese Wende in gängigen philosophiehistorischen Aperçus mit dem Namen Parmenides verbunden. Das Lehrgedicht des Parmenides – ein herausragendes, in gewisser Weise einzigartiges Textfragment unter den Zeugnissen der Philosophie vor Platon – gilt als prominentes Dokument des frühen Einheitsdenkens, wobei gerade die klassische
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Opposition zwischen Heraklit und Parmenides idealtypisch in der Gegenüberstellung von Sein und Wandel, Einheit und Vielfalt gefaßt wird. Als Denker der Einheit begegnet uns Parmenides etwa in Platons Dialog Sophistes, der drei Antworten auf die Frage unterscheidet, „welcherlei und wievielerlei“ die Dinge seien: Während das „eleatische Volk“ meint, daß das, „was wir Alles nennen, nur Eines sei“, verbinden „gewisse ionische und sizilische Musen“ beide Seiten und sagen, „das Seiende sei sowohl Vieles als auch Eins“, indem es entweder sich mischt und sich absondert (Heraklit) oder abwechselnd unter der Herrschaft der vereinenden Liebe oder des trennenden Streits steht (Empedokles) (Soph. 242c–e). Unverkennbar schließen die Gründer der metaphysischen Tradition, Platon und Aristoteles, an leitende Gedanken des Parmenides an, der als Erster in dieser Entschiedenheit das spekulative Denken den Meinungen der Menge gegenübergestellt und das wahre Wissen von der bloßen Erscheinung abgeschieden hatte. „Parmenides der Große“, ja, „der Vater Parmenides“ wird er im Sophistes respektvoll genannt (237a, 241d) – wobei die Ehrfurcht nicht hindert, seine zentrale Seinsthese anzugreifen und am Ende „dem Parmenides noch über sein Verbot hinaus unfolgsam“ zu werden (258c). Gerade der dezidierte Einspruch gegen die parmenideische Lehre wird für Platon zur Bedingung wahren Sprechens und Erkennens. Es ist ein Einspruch, der in späteren Epochen wiederkehrt, teils radikalisiert wird bis zur Annäherung des reinen Seinsdenkens an den Nihilismus durch Nietzsche. Parmenides tritt uns entgegen als eine in hohem Maße ambivalente Gründerfigur des philosophischen Denkens. Ich möchte in den folgenden Ausführungen versuchen, diese Ambivalenz zu verdeutlichen und zu zeigen, in welcher Weise Parmenides einerseits mit höchster Stringenz das reine Sein, das identischerweise Eines ist, zu denken beansprucht, und inwiefern andererseits die Durchführung dieses Ansatzes die Grundlagen des Verhältnisses von Einheit und Vielheit, ja des Denkens selbst, problematisch werden läßt.
1. Die parmenideische Seinsthese Als Einstieg bietet sich eine Erinnerung an die Hauptstoßrichtung des Lehrgedichts an, die zweifach, mit Bezug auf ihren Wahrheitsanspruch und ihren inhaltlichen Grundgedanken, zu charakterisieren ist. Wie das Proömium deutlich macht, geht es um die Offenbarung einer Wahrheit, die sich in strikter Antithese zu Grundintuitionen des natürlichen Weltverständnisses definiert und die äußerste Entfernung zur Welt der Erscheinungen und des Wandels markiert. Das Proömium berichtet von einer Art mystischer Entrückung, in welcher der Dichter von den Sonnentöchtern auf
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einen Weg „weitab vom üblichen Pfad der Menschen“ geführt und von der Göttin empfangen wird, die ihm sowohl das „unerschütterliche Herz der wirklich überzeugenden Wahrheit“ wie die „Meinungen der Sterblichen, denen keine wahre Verläßlichkeit innewohnt“, zu offenbaren verspricht (DK 28 B 1.29f.). Inhaltlich verbindet sich der Anspruch auf ein höheres Wissen mit der ontologischen Option, der Ausrichtung des Denkens auf das Seiende als solches. Wenn bereits in der Beschäftigung der milesischen Denker mit dem All der onta die spekulative Ausrichtung hervortritt, so bedeutet die Singularisierung zum on einen weiteren, letzten Abstraktionsschritt: Nicht einfach die Dinge in ihrer Gesamtheit, unabhängig von ihren Bereichen und Spezifizierungen, bilden den Gegenstand philosophischer Betrachtung, sondern das Sein und das Seiende überhaupt. Zwar ist dieses noch nicht wie bei Aristoteles in der ausdrücklichen Frage nach dem ‚Seienden als Seienden‘ angesprochen. Gleichwohl nennt die Frage nach dem on eine originäre Stoßrichtung des Denkens, die sich für das interessiert, was das Sein von etwas ausmacht, wodurch etwas ist, was es ist, und wodurch es überhaupt ist. In Termini der späteren Unterscheidung können wir sagen, daß hier zum ersten Mal Fragen der allgemeinen Metaphysik, der Ontologie, aufgeworfen werden. Der Übergang zu dieser Themenstellung markiert die tiefste Differenz zum natürlichen Bewußtsein, in gewisser Weise einen Initialpunkt metaphysischer Reflexion. Wenn sich traditionelle Metaphysikkritik vornehmlich an Totalitäts- und Transzendenzannahmen – klassischen Chiffren der speziellen Metaphysik – festmacht, so enthält die Festlegung des Seinsverständnisses als solchen, die sich in Grundbegriffen des Sprechens und Denkens niederschlägt, ebenso voraussetzungsreiche Prämissen. Der erste Schritt in der Besinnung auf den Seinsbegriff besteht für Parmenides in dessen strikter Unterscheidung von seinem Anderen, vom Nicht-Sein. Es ist ein erster und, wie sich zeigen wird, für den parmenideischen Ansatz entscheidender, folgenreicher Schritt, der nicht nur auf die analytische Unterscheidung, sondern den strengen Gegensatz, ja, die absolute Trennung zwischen dem Sein und dem Nicht-Sein zielt. Sie kommt in den enigmatischen, vielkommentierten Sätzen des Fragments B 2 zum Ausdruck (dessen Grundgedanke in variierender Formulierung in den Eingangssätzen von B 6 und B 8 wiederkehrt): „Wohlan, ich werde dir nun sagen – du aber nimm bei dir auf, was du hörst –, welche Wege der Forschung allein zu erkennen sind: Der eine Weg, daß [es] ist, und daß es nicht möglich ist, daß [es] nicht ist – dies ist der Weg der Überzeugung, denn er richtet sich nach der Wahrheit; der andere Weg, daß [es] nicht ist, und daß es notwendig ist, daß [es] nicht ist. Dies ist jedoch, wie ich dir zeige, ein völlig unerfahrbarer Pfad: Denn es ist ausgeschlossen, daß du das Nichtseiende erkennst – das ist nicht durchführbar – oder aussprichst“.
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Die Sätze bringen eine Intuition zum Ausdruck, die dem parmenideischen Verständnis von Sprache und Sein zugrundeliegt. Vom Endpunkt der logischen Explikation her könnte man in ihnen den Satz des Widerspruchs ausgesprochen sehen. Das Denken ist mit der Tatsache der unausweichlichen Dualität von „ist“ und „ist nicht“ konfrontiert: Es gibt kein Mittleres zwischen ihnen, keine Mischung, keinen Übergang. Doch geht es nicht einfach um die Alternative des Entweder/Oder, deren Glieder logisch gleichwertig sind; vielmehr, so hält das Fragment B 8 fest, ist der eine Weg „als unerkennbar und unbenennbar aufzugeben, da er kein wahrer Weg ist“, während „der andere Weg, daß es ist, ein wirklicher Weg“ ist (B 8.16–18). Doch ist klar, daß es Parmenides nicht allein um die logische Konsistenz des Sprechens und Denkens zu tun ist. Vielmehr bringen beide Verse die tragende Überzeugung zum Ausdruck, daß Denken in einem prägnanten Sinn Seinsdenken ist. Die im Pfad der Wahrheit ausgesprochene formale Seinsthese, dergemäß von allem, was immer es sonst sei, als erstes gilt, daß es seiend ist, findet ihre Explikation mit Bezug auf das Denken: Denken – so Platons Reformulierung der These (Soph. 237b–e) – heißt immer etwas denken, und das heißt, es als seiend denken bzw. Seiendes denken. Was der Weg der Wahrheit meint, berührt sich insofern mit dem, was das seinerseits rätselhafte (und ganz verschieden übersetzte) Fragment B 3 ausspricht: „Denn dasselbe ist Denken und Sein“.1 Inhaltlich geht die These dahin, daß etwas im selben Akt, wo es gedacht wird, als seiend gegeben ist bzw. daß es nur, sofern es seiend ist, gedacht werden kann. Parmenides will darin keine logische Implikation, sondern eine reale Verbindung benennen. Es gibt nicht ein Denken für sich, von dem sich im nachhinein die Frage stellt, wie es zum Wirklichen in ein Verhältnis zu treten hätte: Denken ist ein Vernehmen des Wirklichen, ein Sein bei der Welt. Was hier zum Denken (noein) (bzw. in B 8.34 vom Gedanken [noêma]) gesagt wird, formuliert B 4 mit Bezug auf den nous; „wohin immer der nous sich richtet, ist die Anwesenheit des Seins“.2 Ich will an dieser Stelle nicht in die Diskussion um die Problematik dieser kategorischen Festlegungen – der strikten Trennung zwischen Sein und Nicht-Sein und der fundamentalen Seinsbezogenheit des Denkens – eintreten. Stellvertretend sei nur auf die kritische Auseinandersetzung verwiesen, die ihnen in neuerer Zeit E. Tugendhat gewidmet hat. Dessen Kritik 1
So bei H. Diels/W. Kranz (Hgg.), Die Fragmente der Vorsokratiker, griechischdeutsch, 3 Bände, Berlin 6. Aufl. 1951–1952 (= DK); J. Mansfeld übersetzt: „Denn daß man es erkennt, ist dasselbe, wie daß es ist“ (in: J. Mansfeld (Hg.), Die Vorsokratiker, griechisch-deutsch, Stuttgart 1983). 2 So die Paraphrase bei W. Schadewaldt, Die Anfänge der Philosophie bei den Griechen. Die Vorsokratiker und ihre Voraussetzungen, Frankfurt am Main 1978, 323.
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gilt ebensosehr der (bei Hegel und Heidegger wiederkehrenden) vergegenständlichenden Gegenüberstellung von Sein und Nichtsein (oder Sein und Nichts) wie der starren Festlegung von Erkenntnis und Sprache auf das Seiende. Durch die letztere wird unverständlich, in welcher Weise wahre Sätze von negativen Sachverhalten möglich sein sollen (sowohl als Prädikation ‚x ist nicht y‘ wie als Existenzaussage ‚es gibt kein x‘) – nach Tugendhat ein Indiz dafür, daß hier ein zu einfacher, nicht-propositionaler Erkenntnisbegriff im Spiel ist, der Denken und Sprechen nach dem Modell des Wahrnehmens faßt, welches sich in der Alternative zwischen etwaswahrnehmen und nicht-wahrnehmen bewegt und die Möglichkeit des ‚Erkennens/Sagens, daß nicht‘ ausschließt.3 Unabhängig von diesem logischen Problem ist es wichtig, zunächst die Stoßrichtung des Gedankens zu erfassen, der die Position des Eleatismus definiert und in die Denkweise der entstehenden Metaphysik eingegangen ist. Es ist die Überzeugung, denkend mit dem Wirklichen verbunden zu sein und in ihm verläßlichen Halt zu finden, gekoppelt mit der Einsicht in die unnachgiebige Identität des Seins mit sich selber, in sein striktes Getrenntsein von jedem Nichtsein. In welchem Sinn wahres Erkennen auf diesen Weg verpflichtet wird, wird durch die Negativfolie des Unwahren und Scheinhaften konkretisiert, die Parmenides ihrerseits differenziert. In der Tat hält Parmenides nicht nur den Weg der Wahrheit und den Weg des Irrtums auseinander. Genauer unterscheidet er vier Wege des Erkennens: neben dem Weg des Wahren – dem „Weg, daß es ist“ – drei Wege des Falschen: zum einen den gänzlich unerkundbaren Pfad des Nichtseins, zum anderen den gleichermaßen falschen, in Wahrheit noch bedrohlicheren Pfad der Konfusion von Sein und Nichtsein, schließlich die Meinungen der Sterblichen, die nicht schlechthin verworfen, sondern nur dahingehend eingeschränkt werden, daß sie im Bereich des Wahrscheinlichen ohne wahre Verläßlichkeit verbleiben. Diese drei Wege des Falschen werden mit verschiedener Schärfe verurteilt: Wird der erste als logisch unmöglich und deshalb ganz unbegehbar ausgeschaltet, so ist der zweite Gegenstand der vehementesten Kritik; die Meinungen der Sterblichen wiederum werden mit eingeschränktem Wissensanspruch rehabilitiert und von der Göttin mitverkündet. Dies sei kurz verdeutlicht, weil es gerade im Blick auf die Leitfrage nach der Einheit von Belang ist. Der erste Weg des Falschen ist der des Nichtseins. Er zielt darauf, Nichtseiendes zu erkennen und auszusprechen: Dies aber ist schlechterdings unmöglich (B 2.5–8); „denn Sein ist, Nichts dagegen ist nicht“ (B 6.3
E. Tugendhat, „Das Sein und das Nichts“, in: ders., Philosophische Aufsätze, Frankfurt am Main 1992, 45f.; analog die Kritik am nicht-propositionalen Wahrheitsbegriff Heideggers: E. Tugendhat, Der Wahrheitsbegriff bei Husserl und Heidegger, Berlin 1964.
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1–2). Es ist klar, daß das schroffe Dekret, Nichtseiendes auszusprechen sei unmöglich, nur so lange überzeugt, als von der genannten einstufigen Bewußtseinsbeziehung ausgegangen wird, nach welcher die Logik eines negativen Satzes nicht konzipiert werden kann. Sofern der Weg des Nichtseins, wie Parmenides meint, ein gänzlich unbegehbarer ist, erübrigt sich in Wahrheit das Verbot, ihn zu begehen. Anders verhält es sich mit dem zweiten Weg des Irrtums, dem Weg der Unentschiedenen, „denen Sein und Nichtsein als dasselbe gilt und auch wieder nicht als dasselbe und für die es eine Bahn gibt, auf der alles in sein Gegenteil umschlägt“ (B 6.8–9). Den solcherart Schwankenden gilt die schärfste Kritik – Parmenides nennt sie die „Doppelköpfigen“, verblödet und „gleichermaßen taub wie blind“ (B 6.6–8) –, wobei schon der polemische Ton deutlich macht, daß es um mehr als die Zurückweisung einer logischen Unmöglichkeit oder eines performativen Selbstwiderspruchs geht. Abgewehrt wird ein bestimmtes Verhältnis zum Wirklichen, welches die Diffusion und Mischung, die Durchlässigkeit der Grenzen zwischen Sein und Nichts zuläßt. Von der Vehemenz dieser Zurückweisung unterscheidet sich wiederum die Kritik an den menschlichen Meinungen, denen gleichsam eine mittlere, relative Wahrheit zuerkannt wird und in deren Medium sich der nur im Ansatz erhaltene zweite Teil des Lehrgedichts bewegt. Es ist der Bereich des Wahrscheinlichen, in welchem Täuschung und Wahrheit sich verschränken und Erkenntnis ohne die Festigkeit wahrer Einsicht ist. Sofern dieser Bereich selber in der Rede der Göttin durchmessen wird, findet eine Art Rettung der Phänomene statt, wobei Parmenides den Status dieser unrein-gemischten Erkenntnis gerade mit Bezug auf die Einheitsforderung kennzeichnet: Die Sterblichen, so meint er, haben darin geirrt, daß sie die Erscheinungen unter „entgegengesetzten Formen“ begreifen und für diese „getrennte Merkmale“ – wie Licht und Dunkel – festlegen, ohne deren Einheit und Verschränkung zu erfassen (B 8.53–56). Bevor wir auf die Frage eingehen, inwieweit die Aufnahme dieses Wegs der relativen Wahrheit in das Lehrgedicht eine gewisse Korrektur an der strengen Seinsthese bedeutet, ist es wichtig, die mit dieser verbundenen Beschreibungen des reinen Seins zu vergegenwärtigen.
2. Die Merkmale des wahrhaft Seienden Parmenides gibt diese Beschreibungen im längsten erhaltenen Textfragment des Lehrgedichts (B 8), in welchem er die Merkmale des Seins entfaltet (Parmenides nennt sie die ‚Merkzeichen‘ [sêmata] auf dem ersten Weg, dem Weg ‚daß es ist‘ [B 8.2]). Es sind untereinander verbundene Bestimmungen, welche die Grundbestimmung, daß Seiendes nur ist und in
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keiner Weise nicht ist, erläutern und nach verschiedenen Hinsichten ausformulieren. Es geht um den Versuch, den Begriff eines reinen Seins, das von jeder Durchmischung mit Nichtsein frei ist, zu erfassen. Diese Beschreibung stößt nach verschiedenen Richtungen vor und interpretiert den Seinsbegriff auf verschiedene Fluchtpunkte hin. Vier Leitideen seien genannt: Gegenwart, Vollendung, Einheit, Identität. 2.1 Gegenwart Der erste Grundzug liegt in der Abwendung von dem, was in der Welterfahrung das Aufdringlichste ist und auch von den ionischen Naturphilosophen als erstes bedacht wird, vom Entstehen und Vergehen aller Dinge. Das Seiende als solches ist unbewegt und unveränderlich, wobei die Unveränderlichkeit zur Zeitlosigkeit vertieft wird. Als erstes Kennzeichen des rein Seienden nennt der Text, daß dieses „unentstanden und unzerstörbar“ sei, und er führt aus: „Weder war es je, noch wird es einmal sein, da es jetzt als Ganzes zusammen ist, als Eines, Zusammenhängendes“ (B 8.3–6). Auffällig ist die Gegenfigur zu der bei Homer und Hesiod vorkommenden Formel für den zeitübergreifenden Ausblick auf das Ganze: Der Seher bei Homer wie die Musen bei Hesiod kennen das Gewesene, das Seiende und das Künftige. Aus der Seinsvision des Parmenides hingegen sind Vergangenes und Kommendes getilgt. Sie zielt auf ein Seiendes, dem sowohl das Versinken in das Nicht-mehr-sein wie das Zur-Existenz-Kommen des Noch-nicht-Seienden fremd sind: ein Seiendes in reiner Gegenwart, in der es ganz mit sich identisch ist. Die eigenartige Formulierung, daß Seiendes nur ist, nicht war oder sein wird, potenziert gewissermaßen den Ausschluß der Veränderung, des Entstehens und Vergehens. Ferngehalten wird vom Seienden alle Bewegtheit, ausgeschlossen wird die Zeitlichkeit des Jetzt selbst, die innere Prozessualität, welche zur lebendigen Gegenwart gehört. Dies bedeutet: Das Hinausgehen über den Wandel und die Zeit bedeutet hier kein Ausgreifen auf das Immerseiend-Dauerhafte oder ein Überzeitlich-Ewiges. Vielmehr ist es zuletzt eine Abstraktion von der Zeitlichkeit selbst, ein Umschlagen ins Unzeitliche oder Zeitfremde. Dies zumal ist die Lesart, die M. Theunissen mit Bezug auf die vorliegende Passage vorschlägt4 und die ihre Plausibilisierung nicht zuletzt durch die anderen Merkmale des Seienden erhält. Die unerbittliche Strenge, mit welcher Parmenides an der Abtrennung des Seienden von der Bewegtheit festhält, wird von seinem Schüler Zenon in ihren für die normale Welterfahrung widersinnigen Folgerungen zum Tragen gebracht: Die ‚Paradoxien der Bewegung‘ sollen erweisen, daß Bewegung in Wahrheit nicht stattfindet 4
M. Theunissen, „Die Zeitvergessenheit der Metaphysik. Zum Streit um Parmenides, Fr. 8.5–6a“, in: ders., Negative Theologie der Zeit, Frankfurt am Main 1991, 89–130.
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und nicht stattfinden kann. Dabei geht es nicht nur um ein logisches Argument, sondern um eine tragende Intuition, ja, eine existentielle Abwehr. Es ist ein Gedanke, der einen Hauptstrang der metaphysischen Denkgeschichte bestimmt hat und uns doch, wie E. Fink bemerkt, „aufs tiefste befremden“ muß: der geradezu gewaltsame Versuch, gegen das Zeugnis der Sinne und die Erfahrung des Lebens die Bewegung zu leugnen, sie in das „Reich des Uneigentlichen“ und Unwahren abzudrängen.5 Nietzsche hat das Abschreckende dieser Abwehr unterstrichen, die an die Stelle des universalen Werdens das zur leblosen Statik fixierte Sein, die „starre Todesruhe des kältesten [...] Begriffs, des Seins“6, treten läßt. Das von Parmenides anvisierte Seiende ist jenseits der Zeit wie der Bewegung des Lebens. 2.2 Vollendung Seiendes, das in keiner Weise durch Prozessualität affiziert ist, ist in jedem Augenblick voll das, was es ist: „Es ist notwendigerweise entweder ganz und gar oder überhaupt nicht“ (11). Die Abwesenheit von Prozessualität schließt jedes Verbleiben im Potentiellen aus: Zum Seienden gehört das „ganz und gar Sein“, eine Seinsfülle, die sich der von Aristoteles beschriebenen reinen Aktualität der ersten Substanz anzunähern scheint. Doch bleibt sie vom actus purus klassischer Metaphysik in einem entscheidenden Punkt getrennt. Ist der reine Akt höchster Vollzug, so wird hier auf ein vollzugsloses Sein hin gedacht, dessen Vollendetheit anders umschrieben werden muß. Dazu dienen die Prädikate der Ganzheit und des Erfülltseins – „es ist als Ganzes von Seiendem innen erfüllt“ (24) –, das Fehlen von Lücken, Leerstellen, Mängeln: „Das Seiende darf nicht unvollendet sein; denn es ist ohne Mangel“ (32–33). Bildlich wird das Vollendetsein in der Gestalt des vollkommensten, geschlossensten Körpers, der Kugel, ausgedrückt (42–44). Damit geht die innere Dichte und Gleichmäßigkeit einher; es gibt nicht „hier weniger und dort mehr vom Seienden, weil es als Ganzheit unversehrt ist“ (47–48). Dem reinen Sein ist keine Spur von Nichtsein oder minderem Sein, keine Leere und kein Mehr oder Weniger beigemischt; darin liegt, negativ formuliert, seine Nicht-Unvollendetheit, sein Nicht-Ausgespanntsein auf ein Ziel, das noch nicht realisiert wäre (4, 31). In dieselbe Richtung weisen Prädikate des Ganzseins (5, 25, 48) und der inneren Einheitlichkeit (22, 47, 49). Schließlich wird der Charakter der
5 E. Fink, Zur ontologischen Frühgeschichte von Raum-Zeit-Bewegung, Den Haag 1957, 38f., 157. 6 F. Nietzsche, Die Philosophie im tragischen Zeitalter der Griechen, in: Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe, Bd. 1, hrsg. von G. Colli/M. Montinari, München/ Berlin 1980, 836, 844.
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Vollendung durch die festen Grenzen symbolisiert, die das Seiende in seiner bestimmten Gestalt festhalten, jede Vermischung mit dem, was nicht es selber ist, unterbinden (26, 31, 42, 49). 2.3 Einheit Solche Umschreibungen haben einen Fokus im Gedanken des Einen bzw. der Einheit. Daß das Seiende eins (hen) ist, gehört zu den ersten ‚Zeichen‘ auf dem Weg der Wahrheit. Die Vorstellung des Einen umfaßt mehrere Aspekte: die innere Einheitlichkeit, das Zusammenhängendsein, die Kontinuität, das Einssein-mit-sich, das aus-einem-Glied-sein (4, 6, 22–25): Bestimmungen, durch welche die innere Teilbarkeit wie die innere Vielfalt ausgeschlossen werden. Es sind generell Bestimmungen, durch die etwas in sich eins ist; nicht thematisch ist die numerische Einheit, welche die Abzählbarkeit der Individuen begründet – wonach jedes ‚eines unter anderen ist‘ – und in deren Logik die Eins (monas) das Prinzip der Zahl bildet.7 Formell wird Einheit in der Tradition immer zu den Grundmerkmalen des Seienden gerechnet werden: ens und unum werden in der Scholastik als Transzendentalien verknüpft. Alles was ist, ist dadurch, daß es ist und sofern es ist, auch eins; die Formen der Seiendheit sind mit jenen der Einheit korreliert. Schon Aristoteles verbindet beide Bestimmungen: „Eins“ und „seiend“ gehen miteinander einher, „denn dasselbe ist ein Mensch und seiender Mensch“ und „soviele Arten des Eins es gibt, soviele Arten gibt es auch des Seienden“ (Met. IV 2, 1003b33f.). Wie der Begriff des hen selbst verstanden werden muß, wird bei Parmenides noch nicht reflexiv artikuliert (während ihm Aristoteles ein ausführliches Kapitel im Begriffskatalog der Metaphysik [V 6] widmet). Versuchen wir, das mit dem Begriff bei Parmenides inhaltlich Angesprochene systematisch zu fassen, so sind vor allem zwei Richtungen zu nennen: die Einzigartigkeit des Seienden und die innere Einheit des Ganzen. Seiendes ist von einer Art, durch ein genos, ein eidos definiert.8 Dies liegt unmittelbar darin, daß es reines, ungemischtes Sein ist. Es ist dies 7
Diese Thematik ist Gegenstand der Erörterungen im Pythagoreismus. Seiendes ist „von einer Art“ (mounogenes): so die von den meisten übernommene Lesart von B 8.4 (statt oulomeles); zu den verschiedenen Überlieferungen vgl. Diels/Kranz. Für Platon ist das Seiende an sich monoeides (Phaidon 78d, 80b, 83e). – Mit Bezug auf dieses Prädikat bestimmt Patricia Curd den eleatischen Monismus als einen prädikativen Monismus (predicational monism), welcher das Sein durch ein einziges Prädikat bestimmt und darin seine innere Einheit begründet – im Gegensatz zu einem materiellen Monismus, der es durch einen einzigen Stoff (Wasser, Luft), oder einem numerischen Monismus, der es als eine einzige Entität definiert (nach Curd die Standardinterpretation des Eleatismus): P. Curd, The Legacy of Parmenides. Eleatic Monism and Later Presocratic Thought, Princeton 1998, 64–97. 8
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eine Festlegung, die in gewisser Weise auf die Wesensbestimmtheit der durch ihr eidos definierten Einzelwesen vorausweist, welche nach Aristoteles seiend sind nach Maßgabe ihrer Bestimmtheit, d.h. ihres Formiertseins durch eine Wesensform (während Mischformen und Missbildungen von minderer Seinsqualität sind). Im Gegensatz zu den pluralen eidetischen Bestimmungen geht es bei Parmenides allerdings um die Seinsqualität als solche, die einzig und absolut ist. Wie das bestimmte eidos alles an ihm Partizipierende in der Allgemeinheit der Art versammelt, so konstituiert die Seinsqualität als solche eine Art Monismus all dessen, was ist. Das klassische Individuationsproblem – die Frage, wie sich Individuen derselben Spezies voneinander unterscheiden können – findet hier noch keinen Raum. Die eine, einzige ‚Bestimmung‘, die alles Seiende konstituiert und untereinander verbindet, ist die des Seins überhaupt. Wenn Parmenides auch das Seiende als nicht differenzierbar (oude diaireton) – gewissermaßen als In-dividuum – charakterisiert, so deshalb, weil es als rein Seiendes in sich gleichartig (homoion) ist und keine Unterscheidungen innerhalb seiner zuläßt (B 8.22). Indirekt kommt damit auch die Geschlossenheit des Ganzen in den Blick. Zwar ist in der archaischen parmenideischen Denkform noch nicht eine artikulierte Einheit-Vielheit- oder Ganzes-Teil-Relation faßbar. Dennoch wird in Verbindung mit der Idee des Einen eine Art umfassender Ganzheit thematisch – als eine Zusammengehörigkeit von allem, die sich nicht an besonderen Substanzen (Wasser, Stoff, Geist etc.) oder an durchgehenden Gesetzen, sondern am Sein als solchem festmacht. Auch wenn das Ganze weder als summative Gesamtheit der Vielen noch als strukturiertes Gefüge der Teile thematisch ist, steht eine Ganzheit vor Augen, die durch die Einheitlichkeit des Seienden als solchen und durch die innere Zusammengehörigkeit des Seienden mit Seiendem untereinander definiert ist. Das Seiende, so heißt es, ist homou pan hen, zusammen als Ganzes Eines (5–6); es ist als Ganzes ein Gleiches/Gleichartiges (22), unversehrt (48) und ein in sich Zusammenhängendes, in welchem sich Seiendes an Seiendes anschließt (6, 23, 25) und das als Ganzes von Seiendem erfüllt ist (24). Vom Seienden als solchem aus findet eine Art Ausgriff auf das Ganze statt, das noch ohne innere Differenzierung und Vielheit ist. Die genuin parmenideische Perspektive zeigt sich etwa in der Differenz der Formel homou pan gegenüber dem homou panta, womit Anaxagoras das Zusammen- und Durchmischtsein aller Dinge im Urzustand des Alls beschreibt. Dennoch beinhaltet das Merkmal des Ganzen nicht nur die Geschlossenheit einer Figur (im Gegensatz zu ihrer Unabgeschlossenheit oder ihren Teilen), sondern ebenso den Ausgriff auf das Ganze, d.h. auf Alles (gemäß der Doppelbedeutung von pan, panta). Es ist ein Ausgriff, der von
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einem Prinzip ausgeht und darin sowohl die Einheit des Ganzen wie den umfassenden Bezug auf Alles konstituiert. 2.4 Identität Von gleicher metaphysischer Tragweite ist schließlich die Bestimmung der Identität. Das Seiende ist eins, indem es mit sich identisch, unveränderlich bleibt: Es ist unerschütterlich (4), unbeweglich (26, 38); in pleonastischer Häufung wird Selbigkeit als Merkmal des Seienden statuiert: „als dasselbe und in demselben verharrend ruht es für sich und verbleibt so fest am selben Ort“ (29f.). Fürsichsein und In-demselben-Sein sind Umschreibungen des Identitätsgedankens im engen Sinn, des Geschiedenseins von anderem und Gleichbleibens mit sich. Ihre Erprobung findet Identität im Festhalten der Bestimmtheit über die Zeit, in der Re-identifizierung zu verschiedenen Zeitpunkten. Platon wird diese Merkmale zu Insignien des wahrhaft Seienden erheben: Das Ansichseiende ist durch sich selber, was es ist, distinkt von anderem, nicht angewiesen auf anderes; Reinheit, Autarkie, Selbstbezogenheit zeichnen es gegenüber dem Vermischten, Abhängigen und Relationalen aus. Die schon im Kontext der Zeitlosigkeit thematischen Konnotationen der Festigkeit und des Verharrens verschränken sich bei Parmenides mit den formalen Bestimmungen der Selbigkeit, die umgekehrt (etwa bei Platon) zu Insignien der Zeittranszendenz (des ‚Sich-immer-gemäßdemselben-Verhaltens‘) werden. Neben den Gegensätzen von Konstanz und Wandel, Einheit und Vielheit, Ganzem und Teil wird die Opposition von Identität und Differenz zur leitenden Chiffre eines emphatischen Seinsverständnisses.
3. Das Problem der Einheit 3.1 Die Engführung von Einheit und Identität Das Lehrgedicht ist nicht nur ein erster Schritt in der Herausbildung des metaphysischen Denkens. Es ist zugleich das Dokument einer gewissen Tendenz, ja, Vereinseitigung, die für dieses Denken zumal in den Augen der Kritik kennzeichnend geworden ist. Diese Tendenz läßt sich an einer gemeinsamen Stoßrichtung der im Vorigen genannten Bestimmungen – Zeittranszendenz, Vollendung, Einheit, Identität – ablesen, die in gewisser Weise eine Hinführung der zuerst genannten Bestimmungen auf die letzte, die Identität, bedeutet. Festigkeit, Unveränderlichkeit, Geschlossenheit, welche als Attribute der Zeitüberwindung, der Vollendung und Einheit fungieren, tendieren zur Starrheit des Mit-sich-Identischen, das sich dem Vielfältig-Lebendigen der realen Lebenserfahrung antagonistisch entge-
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genstellt. Der Charakter des Gewaltsamen, Zwanghaften, der in kritischen Diagnosen mit der Identität – etwa unter dem Stichwort des Identitätszwangs – assoziiert wird, ist in Parmenides’ Beschreibung durchaus gegenwärtig.9 Mehrfach begegnet die Metapher der Fesselung und der fixierenden Begrenzung: Dike schlägt das Sein in Fesseln und gibt es nicht frei zum Werden und Vergehen (14f.); Seiendes ist „unbeweglich in den Grenzen gewaltiger Fesseln“ (26), festgehalten durch „die mächtige Notwendigkeit in den Fesseln der Grenze, die es ringsum einschließt“ (30f.). Wenn in klassischer Metaphysik die Identität als eminente Auszeichnung des wahrhaft Seienden fungiert, so kontrastiert damit deren negative Färbung im vorliegenden Text. Verschiedene Autoren haben in ihr ein Indiz der einseitigen Tendenz, ja, inneren Falschheit der Identitätsauffassung gesehen. Ich habe oben auf Nietzsches Annäherung der parmenideischen Seinsvision zum Leblos-Statischen hingewiesen; demgegenüber ist Lebendiges nie zur Gänze mit sich identisch in absoluter Selbstpräsenz, ohne Mischung und Grenzüberschreitung zwischen Sein und Nicht-Sein. Andere Autoren haben in diesen Passagen geradezu eine Verdrängung der Lebenswelt mit ihren unhintergehbaren Übergängen zwischen Wahrheit und Schein, Licht und Dunkel gesehen; nach K. Heinrich ist die strenge Fixierung des Seienden auf sich Ausdruck des Bemühens, die existentielle Verunsicherung zu bannen, die den Ambivalenzen und Instabilitäten des Lebens entstammt.10 Ähnlich hat M. Theunissen in der von Parmenides skizzierten Überwindung der Zerbrechlichkeit alles Vergänglichen nicht den Schritt zu einer höheren Lebendigkeit des Ewigen, sondern zum LeblosZeitlosen gesehen.11 Die strenge Festlegung jedes Seienden auf die Identität mit sich ist Ausdruck einer Aversion vor dem Unbestimmten, die Gefahr läuft, dasjenige, was sie gegen das Nichtsein sichern soll, diesem auszuliefern. Die Vereindeutigung und Festlegung des Seins auf sich selbst erweist darin ihre abgründige Ambivalenz. Die rigorose Entmischung von Sein und Nichtsein soll den Phänomenen ihre Unheimlichkeit nehmen, bedroht aber in ihrer zwanghaften Durchsetzung das Lebendige, das sie schützen sollte. Solche Diagnosen konvergieren mit einer Stoßrichtung der nachmetaphysischen bzw. postmodernen Kritik an der Metaphysik. Anders als das mythische Denken, welches den Kampf mit den Mächten des Chaos 9
Vgl. H. Schmitz, Der Ursprung des Gegenstandes. Von Parmenides bis Demokrit, Bonn 1988. 10 K. Heinrich, Parmenides und Jona. Vier Studien über das Verhältnis von Philosophie und Mythologie, Basel/Frankfurt am Main 1982; ders., tertium datur. Eine religionsphilosophische Einführung in die Logik (Dahlemer Vorlesungen 1), Basel/Frankfurt am Main 1981. 11 M. Theunissen, „Die Zeitvergessenheit der Metaphysik. Zum Streit um Parmenides, Fr. 8.5–6a“, in: ders., Negative Theologie der Zeit, Frankfurt am Main 1991, 89–130.
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inszeniert und das Affirmative vor dem Hintergrund seiner nie überwundenen Gefährdung darstellt, sucht beginnende Metaphysik die Trennung zu verfestigen und einen Begriff des reinen, wahrhaften Seins für sich zu gewinnen. In unterschiedlicher Weise ist das Ausgrenzen, Weglassen und Einklammern zum konstitutiven Moment der Philosophie geworden: als Suspendieren gängiger Meinungen, als Trennung zwischen Wesentlichem und Beiherspielendem, als Zentrierung auf das Eine, Allgemeine, Dauerhafte, Substantielle – in Abtrennung vom Vielfältig-Besonderen und Zufällig-Akzidentellen. Das Weglassen soll die Zentrierung auf das Wahre ermöglichen und darin ein sicheres Wissen begründen – und läuft Gefahr, solche Verläßlichkeit um den Preis der Verdrängung zu erkaufen. Dies sind, wie gesagt, kritische Lesarten des mit Parmenides gesetzten Anfangs der Metaphysik. Auch wenn wir ihre Berechtigung an dieser Stelle nicht abschließend beurteilen wollen, bleibt festzuhalten, daß sie eine reale Tendenz im eleatischen Denken benennen. Es ist eine Tendenz, die durch die große Abstraktheit gefördert wird, die den neuen Denkansatz des Parmenides, den eigentlichen Schritt definiert, durch den er über seine Vorgänger hinausgeht und den Horizont metaphysischen Denkens eröffnet. In neuer Radikalität richtet er das Denken auf das Ganze, artikuliert er den Anspruch auf letzte Einsicht und Wahrheit. Dies geschieht in diesem ersten Ausgriff so, daß der affirmative Fluchtpunkt des Wissens für sich festgehalten und verabsolutiert, in Abstraktion von seinem Anderen zum Ganzen gemacht wird. Nur das Sein für sich, nur das Eine, das Ganze sind es, die dem Denken Stabilität verleihen und als Grundlage des Wirklichen erfaßt werden. Diese Grundentscheidung ist mit der Differenzierung der Wege des Erkennens gegeben. Wieweit damit eine tragfähige Basis für das Denken gelegt ist, wieweit diese Abstraktheit das letzte Wort ist, hängt damit zusammen, wieweit die „Entscheidung“ par excellence – „entweder es ist oder es ist nicht“ (15f.) – ihrerseits das letzte Wort ist. Nicht zuletzt hängt damit zusammen, in welcher Weise das parmenideische Lehrgedicht das Problem von Einheit und Vielfalt begrifflich zu denken erlaubt. 3.2 Einheit und Vielheit – Doxa und Wahrheit Im Wahrheitsteil des Lehrgedichts geht es um das Seiende, Eine, Ganze. Das Verhältnis von Vielheit und Einheit kommt darin nicht wirklich zur Sprache. Es kann mit den Kategorien des reinen Seinsdenkens eigentlich gar nicht formuliert, als Relation thematisiert, als Problem reflektiert werden. Nach derselben Logik, nach welcher gilt, daß etwas entweder ist oder nicht ist, muß man auch sagen, daß etwas entweder eins ist oder überhaupt nicht ist. Die Zurückweisung des tertium datur schreckt nicht davor zurück, auch jede Aussage über das Viele als Schein zu verwerfen.
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Indessen macht schon das Proömium deutlich, daß den Meinungen der Sterblichen, auch wenn ihnen keine strikte Wahrheit innewohnt, doch gleichsam eine relative Gültigkeit zukommt. Die entscheidende Differenz expliziert das Gedicht am Scharnier zwischen dem ersten und dem zweiten (nur minimal erhaltenen) Teil: „Damit beende ich dir verläßliche Aussage und Begriff hinsichtlich der Wahrheit. Von hier ab aber lerne die menschlichen Meinungen verstehen, indem du die trügerische Ordnung meiner Verse hörst. Sie haben sich nämlich entschieden, zwei Formen zu benennen – von denen nur eine zu benennen [nach ihnen] nicht erlaubt ist –: darin liegt ihr Fehler. Sie haben sie der Gestalt nach als Gegensätze geschieden und voneinander getrennte Merkmale festgelegt...“ (B 8.50–56).12
Der springende Punkt ist, wie eingangs festgehalten, die Einheitsvision. In die Irre gehen die Sterblichen, indem sie die Phänomene unter entgegengesetzte Formen subsumieren und mit gegensätzlichen Merkmalen belegen – beispielsweise das „sehr leichte“ Feuer und die „dichte und schwere Gestalt“ der Nacht (56, 59). Zu korrigieren ist die Verselbständigung der entgegengesetzten Bestimmungen, wie sie etwa den ionischen Gegensatzlehren zugrundeliegen. Der Wahrheitsanteil der Meinungen liegt darin, daß in ihnen die Zusammengehörigkeit des Entgegengesetzten sichtbar wird und die Dynamik von Licht und Dunkel, von Leben und Tod ausgetragen wird: Sofern Parmenides’ Kosmologie davon Zeugnis ablegt, mag man auch in ihr eine Gegeninstanz zu jener blutlosen Abstraktion sehen, die Nietzsche der parmenideischen Seinslehre vorhält. An dieser relativen Wahrheit liegt der Göttin, die auch diese ganze Weltanordnung dem Dichter mitteilen will, „damit nicht irgendwelche menschliche Einsicht dich übertrumpft“ (60f.). Dies heißt auch, daß die Einheit, die innerhalb der Kosmologie zur Darstellung kommt, nicht die strenge Identität des reinen Seins ist. Auch der affirmative Doxa-Teil des Lehrgedichts, der sich, wie das Proömium festhält, gleichsam durch die innere Durchgängigkeit der Seinsordnung legitimiert (B 1.31f.), bleibt im Rahmen des unreinen Erkennens und denkt Vereinigung im defizienten Modus der Mischung: Die kosmischen Kränze sind ein Gemisch aus Licht und Nacht, der Mond eine Mischung aus Luft und Feuer (A 37), die Färbung der Milchstraße entstammt der Mischung aus Dichtem und Dünnem (A 43). Wenn wir somit den Doxa-Teil als integrativen Teil des Lehrgedichts dazunehmen, rücken wir ab vom Rigorismus der abstrakten Seinsthese, die Zenon konsequenterweise in Paradoxien überführte.
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So die Übersetzung von J. Mansfeld (Mansfeld, Die Vorsokratiker); je nach Textvariante divergieren die Übersetzungen und Deutungen, am stärksten zu Vers 53f.
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4. Ausblick: Jenseits des Eleatismus Gleichwohl bleibt dieses Abrücken ein relatives, das unser Bild von Parmenides als monistischen Seinsdenker nicht grundlegend revidiert. Dieses Bild bestimmt nicht nur unsere Vorstellung von Parmenides, und es ist keine bloße Folge der Textüberlieferung, die für die beiden Gedichtteile eine sehr ungleiche ist und schon dadurch vor allem den ersten Teil zur Signatur des parmenideischen Denkens hat werden lassen. In seiner Intransigenz tritt uns dieses Denken auch in der zeitlich nächsten und gedanklich tiefsten Rezeption entgegen, die ihm Platon in seinen Dialogen Parmenides und Sophistes gewidmet hat. Es ist eine Rezeption, die, wie eingangs angedeutet, zugleich eine kritische Auseinandersetzung und dezidierte Abwendung vom Eleatismus beinhaltet, die für die Folgegeschichte der Metaphysik ihrerseits grundlegend geworden ist. Darauf sei abschließend ein Blick geworfen. Den Horizont dieser Diskussion bildet die vorsokratische Denkgeschichte, die sich im ganzen als eine Auseinandersetzung um das Verhältnis von Einheit und Vielheit lesen läßt, wobei zugleich mit der Idee des Einen die des Ganzen, die Figur des hen kai pan, bedacht wird und der Ausgriff sowohl auf das umfassend-vereinigende Ganze (pan) wie auf die panta, das All der vielfältigen Dinge und Phänomene, geht. Gleichsam in gegenläufigen Bewegungen bildet sich einerseits die sukzessive Einheitsvision heraus und kommt andererseits die unendliche Pluralität der Elemente und Körper zum Tragen. Bei Anaximander finden wir die Vorstellung, daß sich „aus dem Einen die Gegensätze ausscheiden“ (DK 12 A 16); als Ursprung fungiert das Unbeschränkte (apeiron), ein unvergängliches, göttliches Prinzip, das „alles umfaßt und alles steuert“ (A 15, B 3). Ähnlich sagt Xenophanes von dem einen Gott, der unter Göttern und Menschen der Größte ist (DK 21 B 23), daß er alles mit seinem Geist lenke (B 25). In der nacheleatischen Zeit finden wir demgegenüber emphatische Pluralismuskonzepte, sowohl bei Anaxagoras, dessen Elemente, die Homöomeren, unendlich viele sind (DK 59 B 1, B 2, A 43, A 52), wie bei den Atomisten, Leukipp und Demokrit, die unendlich viele Elemente und daraus gebildete Welten annehmen (DK 67 A 1, DK 68 A 57). Doch stellt nicht nur der Pluralismus, sondern ebenso die Vermittlung von Einheit und Vielheit die Antithese zum Eleatismus dar – spiegelbildlich zum zweiten Weg des Irrtums, der nicht das Nichtsein, sondern gerade die Mischung zwischen Sein und Nichts als prôton pseudos verwirft. Jenseits des Eleatismus sind insofern auch Konzepte wie der kosmische Zyklus des Empedokles, dem zufolge die Elemente „das eine Mal zusammenwachsen, um ein alleiniges Eines zu sein aus Mehrerem, das andere Mal sich zu Verschiedenem entwickeln und so Mehreres werden aus Einem“ (DK 31 B 17.1–2), oder die
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Lehre des Heraklit, nach welcher die Gegensätze ineinander umschlagen und „aus allem eins wie aus einem alles“ wird (B 10). Daß nicht das Eine oder das Viele, sondern das Verhältnis und die Vermittlung zwischen ihnen das eigentlich zu Denkende und Aufzuhellende ist, wird nicht zuletzt in der pythagoreischen Prinzipientabelle manifest, die als archai zehn ursprüngliche Gegensätze aufzählt, zu denen (neben Grenze/Unbegrenztes, Licht/Finsternis, Ruhendes/Bewegtes etc.) das Begriffspaar hen-plêthos zählt (DK 58 B 4, B 5). In begrifflich konzisester Form jedoch finden sich die Diskussion dieser Problematik und zugleich die kritische Auseinandersetzung mit der Einheitsvision des Parmenides bei Platon. Sie findet namentlich in den beiden Dialogen Parmenides und Sophistes statt, wobei es beidemal darum geht, über eine Revision der parmenideischen Prämissen die Grundlagen eines konsistenten Sprechens und Erkennens zu sichern, welches die bestimmte Vermittlung sowohl zwischen Sein und Nichtsein wie zwischen Einheit und Vielfalt verlangt. Dies ist hier nicht im einzelnen nachzuvollziehen, sondern nur im Grundzug festzuhalten. Der zweite Teil des Dialogs Parmenides ist geradezu als Versuch verstanden worden, die einseitigen und für sich aporetischen Strömungen der Vorsokratik, den eleatischen Seinsmonismus und den Pluralismus der ionischen Naturphilosophie, in einer höheren Synthese aufzuheben.13 Sokrates schlägt darin eine dialektische Übung zum Begriff des Einen vor, die in acht Ansätzen untersucht, was sich aus den verschiedenen Verhältnisbestimmungen der Begriffe seiend und eins ergibt, wobei die vier ersten unter der Prämisse „wenn eins ist“, die folgenden unter der Annahme „wenn eins nicht ist“ stehen. Die erste Hypothese versucht, die Bedeutung des Eins rein als solchen für sich festzuhalten, das sich letztlich als ein Unbestimmtes diesseits von Sein und Erkennen erweist; die Gegenhypothese des Eins als Seienden führt in der sokratischen Durchführung in den komplementären Selbstwiderspruch, die Zulassung der ungeregelten Pluralität und unendlichen Beschreibung, die ihrerseits konkrete Erkenntnis verunmöglicht. Stabilisierungsfähig ist allein die dritte Hypothese, welche Einheit und Vielheit zusammenzudenken sucht, und zwar so, daß das Viele am Einen teilhat, ohne in ihm aufzugehen. Alles kommt darauf an, nicht nur beiden Seiten ihr Recht zu geben, sondern ihre konkrete Verflechtung zu begreifen: die Vielheit so zu denken, daß sie nicht ins Konturlose abgleitet und als unbestimmt-unendliche der ebenso abstrakten Einheit gegenübersteht. Beide Prinzipien bedürfen einander, um Wirklichkeit zu strukturie-
13 Chr. Iber, „Platons eigentliche philosophische Leistung im Dialog ‚Parmenides‘“, in: E. Angehrn u.a. (Hgg.), Dialektischer Negativismus, Frankfurt am Main 1992, 185– 212.
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ren: Das Eine kann nur als das Eine des Vielen, das Viele nur innerhalb des Einen bestehen. Mit direkterem Bezug auf die Bedingungen des Denkens und Sprechens steht die eleatische These im Sophistes zur Diskussion. Wenn für Parmenides die absolute Trennung zwischen Sein und Nichtsein die Voraussetzung der Wahrheit ist, so statuiert der eleatische Fremde hier das Gegenteil: „Es ist die völligste Vernichtung allen Redens, jedes von allem übrigen zu trennen. Nur durch die gegenseitige Verflechtung der Ideen kann uns ja eine Rede entstehen“ (259e). Die Konsistenz der Sprache verlangt eine Ontologie jenseits der Sophistik wie des Eleatismus. Dieser will das Seiende in seiner Reinheit festhalten und von aller Vermischung mit dem, was es nicht ist, bewahren: Nur dadurch, so seine These, kann sich Denken auf Wirklichkeit beziehen; denn sich (auf etwas) beziehen heißt sich auf Seiendes beziehen, während das Nichtseiende an ihm selber ein schlechthin „Undenkbares, Unbeschreibliches, Unaussprechliches, Unerklärliches“ ist (238c) und alles, das irgendeine Seinsdefizienz gegenüber dem vollendeten Sein aufweist, im Maße dieser Defizienz am Nichtsein, damit an der Unerkennbarkeit und Unsagbarkeit teilhat. Dies ist die eleatische These, die aber nach der Einsicht des Sophistes zu agnostizistischen Konsequenzen führt. Sie verunmöglicht Sprache und Erkenntnis gleichermaßen. Sie läßt, wie früher bemerkt, keinen konsistenten Begriff der Negation oder des Sprechens über Nichtseiendes zu – eine Auskunft, die gerade im Kontext einer Diskussion über den Sophisten nicht befriedigt, zu dessen Bestimmung Begriffe wie Unwahrheit, Falschheit, Schein unentbehrlich sind. Eine Verständigung über sie zwingt zu einer „Verflechtung von Sein und Nichtsein“, wie sie nach dem Dogma der Eleatik „das Allerunmöglichste“ ist (240c, 241b). Doch nicht nur der negative Satz, propositionale Erkenntnis überhaupt verlangt eine Verschränkung der allgemeinsten logisch-ontologischen Bestimmungen, welche der Sophistes als die fünf „größten Gattungen“ untersucht. Es sind Begriffe, die gleichsam transzendentalen Status haben und die Bedingungen der Erkenntnis betreffen: Sein steht in Durchdringung mit anderen, gleichermaßen fundamentalen Begriffen wie Identität und Differenz, welche die Ontologie unseres Wirklichkeitsbezugs bzw. die Logik unseres Sprechens überhaupt strukturieren. Nur in der Verbindung der Begriffe, so die These, ist sinnvolles Sprechen möglich, wobei nicht die regellose Mischung an die Stelle der strengen Isolierung treten darf, sondern eine Dialektik genannte Wissenschaft zu untersuchen hat, „welche Gattungen mit welchen zusammenstimmen und welche einander nicht annehmen“ (253b). Deutlich wird in alledem, daß die kritische Auseinandersetzung, die Platon in seinen späteren Dialogen führt, nicht nur eine mit dem Eleatismus von Parmenides oder Zenon ist, sondern darüber hinaus die Grundla-
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gen des eigenen Denkens und der metaphysischen Option als solcher betrifft. Sie berührt Festlegungen, welche die Ideenlehre und die aristotelische Metaphysik teilen, wenn sie davon ausgehen, daß etwas nur kraft seiner Bestimmtheit ist, daß das eidos (bzw. das ti ên einai) dasjenige ist, was etwas nicht nur zu dem macht, was es ist, sondern auch dafür verantwortlich ist, daß es ist, und daß sprechen heißt, etwas Bestimmtes, Eines zu sagen, während nicht etwas Bestimmtes sagen gleichbedeutend damit ist, nichts zu sagen und überhaupt nicht zu sprechen (Met. IV 4). Unverkennbar situiert sich die metaphysische Ausrichtung auf das Wesen in der Linie der Seinsfixierung des Lehrgedichts, so daß die Kritik des Sophistes keineswegs nur den Ungehorsam gegenüber dem Vater Parmenides ausdrückt, sondern wie eine antizipierte Kritik an der Engführung des metaphysischen Essentialismus als solchen anzeigt. Wenn wir diese Überlegungen auf die Ausgangsfrage nach der Einheit und Vielheit zurückbeziehen, so bestätigt sich in ihnen die eingangs festgestellte Zwiespältigkeit. Parmenides steht für ein emphatisches Bekenntnis zur Einheit in allem Seienden – einer Einheit, die durch die Fokussierung auf den reinen Seinscharakter in allem, was ist, zustandekommt, die aber durch die Ausblendung all dessen, was dieser Zentrierung zuwiderläuft, erkauft wird. Erst eine Vermittlung, welche das Sein in seiner Verschränkung mit dem Nichtsein reflektiert, vermag den Einheitsbegriff stringenter zu fassen und zugleich das Verhältnis von Einheit und Vielheit als Kern des Seins wie des Denkens zu begreifen. Erst auf dieser Grundlage kann sich die Auseinandersetzung mit dem Einheitsdenken aus dem Umschlagen der Pole, dem Oszillieren zwischen dem Einem und dem Vielen befreien und in bestimmter Weise das Verhältnis zwischen Einheit und Vielheit artikulieren und zur Diskussion stellen. Nicht anders verhält es sich mit analogen Begriffspaaren, die im Diskurs der Metaphysik und ihrer Kritik zur Diskussion stehen: Universalität und Partikularität, Totalität und Partialität, Identität und Differenz, Geschlossenheit und Offenheit, Notwendigkeit und Kontingenz. Wenn etwa die dekonstruktive Kritik an den Ideen der Allgemeinheit oder Einheit darauf beharrt, diese nicht einfach durch ihre Antithese zu ersetzen, sondern die Logik ihrer Opposition zu subvertieren, so markiert diese Kritik eine Richtung, in die auch die von Platon gefordert Dialektik weist. Die paradoxe Herausforderung an das Denken besteht darin, erst im Hinausgehen über die isolierte, reine Eins den Gedanken der Einheit wirklich fassen und in seinem Verhältnis zum Vielen ausformulieren und kritisch reflektieren zu können.
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Literaturverzeichnis Primärliteratur Aristoteles, Metaphysik, übersetzt von H. Bonitz, neu hg. von U. Wolf, Reinbek bei Hamburg 1994 (= Met.). Nietzsche, Friedrich, Die Philosophie im tragischen Zeitalter der Griechen, in: Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe, Bd. 1, hrsg. von G. Colli/M. Montinari, München/ Berlin 1980, 799–872. Platon: Sophistes, in: Werke in acht Bänden, griechisch und deutsch, Übersetzung von F. Schleiermacher, hg. v. G. Eigler, Darmstadt 1970ff. (= Soph.). Die Fragmente der Vorsokratiker, hg. v. H. Diels/W. Kranz, 3 Bände, Berlin 6. Aufl. 1951–1952 (= DK). Die Vorsokratiker. Auswahl der Fragmente, Übersetzung und Erläuterungen von J. Mansfeld, Stuttgart 1983.
Sekundärliteratur Curd, P., The Legacy of Parmenides. Eleatic Monism and Later Presocratic Thought, Princeton 1998. Fink, E., Zur ontologischen Frühgeschichte von Raum-Zeit-Bewegung, Den Haag 1957. Heinrich, K., tertium datur. Eine religionsphilosophische Einführung in die Logik (Dahlemer Vorlesungen 1), Basel/Frankfurt am Main 1981. Ders., Parmenides und Jona. Vier Studien über das Verhältnis von Philosophie und Mythologie, Basel/Frankfurt am Main 1982. Iber, Chr., „Platons eigentliche philosophische Leistung im Dialog ‚Parmenides‘“, in: E. Angehrn u.a. (Hgg.), Dialektischer Negativismus, Frankfurt am Main 1992, 185–212. Schadewaldt, W., Die Anfänge der Philosophie bei den Griechen. Die Vorsokratiker und ihre Voraussetzungen, Frankfurt am Main 1978. Schmitz, H., Der Ursprung des Gegenstandes. Von Parmenides bis Demokrit, Bonn 1988. Theunissen, M., „Die Zeitvergessenheit der Metaphysik. Zum Streit um Parmenides, Fr. 8.5-6a“, in: ders., Negative Theologie der Zeit, Frankfurt am Main 1991, 89–130. Tugendhat, E., Der Wahrheitsbegriff bei Husserl und Heidegger, Berlin 1964. Ders., „Das Sein und das Nichts“, in: ders. Philosophische Aufsätze, Frankfurt am Main 1992, 36–66.
Pros hen-Einheit und Analogie Die Vielheit des Seienden und das ontologisch Primäre bei Aristoteles und Thomas von Aquin Stephan Herzberg Aristoteles und Thomas von Aquin können bei allen Unterschieden im Detail jener klassischen Konzeption von Metaphysik zugeordnet werden, für die ein Zweifaches typisch ist: (1) Das Seiende ‚als solches‘ wird zum Gegenstand der Untersuchung gewählt, da hier eine universale Bestimmung vorzuliegen scheint, die allem, was es gibt, zukommt.1 Mit diesem Begriff bekommt man gewissermaßen die gesamte Wirklichkeit in den Blick. Dabei geht man davon aus, daß sich das Seiende selbst thematisieren läßt, wie etwa in der berühmten Frage, was das Seiende sei, und diese Thematisierung einen inhaltlichen Ertrag gewährt, der in einer Seinslehre entfaltet werden kann. (2) Es wird zwischen dem primär Seienden und dem sekundär Seienden unterschieden, wobei das primär Seiende als ein Prinzip2 des übrigen Seienden aufgefaßt wird. Ein solches Prinzip soll uns erklären, warum die Dinge so sind, wie sie sind, d.h. warum sie eine Bestimmtheit (und damit eine Erkennbarkeit als etwas von einer bestimmten Art) besitzen. Damit fokussiert sich die Frage, was das Seiende sei, auf eine bestimmte Klasse von Seiendem, deren Elemente im eigentlichen Sinne sind, wäh-
1 Vgl. Aristoteles, Met. IV 2, 1004b20: „gemeinsam aber ist allen Dingen das Seiende“ (vgl. auch IV 3, 1005a27f.); Thomas von Aquin, princ. nat. cap. 6: „Sie [die gattungsverschiedenen Dinge; S.H.] kommen nämlich allein im Sein überein“ (Übers. Heinzmann). Vor dem Hintergrund des ‚universalen Anliegens‘ der Metaphysik wird auch deutlich, warum der prädikative Seinsbegriff eine so bedeutende Rolle spielt: Die Gesamtheit dessen, was es gibt, läßt sich anhand verschiedener Klassen von Prädikaten erfassen, die zusammen mit der Kopula ‚ist‘ die verschiedenen Seinsweisen bezeichnen. Hierzu genauer E. Tugendhat, „Die sprachanalytische Kritik der Ontologie“, in: ders., Philosophische Aufsätze, Frankfurt am Main 1992, 21–35, hier: 28. 2 Nach Aristoteles ist allen Bedeutungen von „Prinzip“ (archê) gemeinsam, daß es ein „Erstes ist, von dem her etwas ist oder entsteht oder erkannt wird“ (Met. V 1, 1013a17– 19).
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rend alles andere nur in einem abgeleiteten Sinne ist. Dieses primär Seiende kann auf unterschiedlichen Ebenen angesetzt werden, nämlich entweder (a) auf der Ebene der wahrnehmbaren Einzelsubstanz (ousia) gegenüber den nicht-substantialen onta (horizontale Ebene) oder (b) auf der Ebene des göttlichen Seienden gegenüber dem endlichen Seienden (vertikale Ebene). Mit der Einführung eines primär Seienden kommen zwei Annahmen ins Spiel, die in ihrem Verhältnis zueinander jeweils unterschiedlich stark gewichtet werden können, und zwar (i) die Abhängigkeit des sekundär Seienden vom primär Seienden und (ii) die relative Eigenständigkeit des sekundär Seienden gegenüber dem primär Seienden. Wird (i) gegenüber (ii) zu stark gewichtet, wird das sekundär Seiende ontologisch entwertet und zu einem bloßen Akzidens des primär Seienden, das dann als einziges im eigentlichen Sinn ist. Wird dagegen (ii) gegenüber (i) zu stark gewichtet, wird der Bezug auf ein Prinzip oder ein primär Seiendes sinnlos und die verschiedenen Seienden würden gleichberechtigt koexistieren. Im vorliegenden Beitrag soll genauer herausgearbeitet werden, welches begriffliche Instrumentarium Aristoteles und Thomas von Aquin jeweils entwickeln, um in unterschiedlichen Problemkontexten den beiden Annahmen gleichermaßen Rechnung zu tragen, und auf diese Weise sowohl einen extremen Monismus wie auch Pluralismus vermeiden.3
I. Aristoteles: Ordnung innerhalb der Vielheit des Seienden 1. Der spezifische Problemkontext Wenn Aristoteles in seiner Metaphysik die Wissenschaft von den Prinzipien und Ursachen des Seienden, insofern es seiend ist, und dessen notwendigen Attributen4 entwickelt, dann nimmt er mit diesem Projekt zwei Fragestellungen seiner Vorgänger auf: (1) Zum einen knüpft Aristoteles an die von Platon im Sophistes gestellte Frage an, was denn eigentlich das Seiende sei (244a, 246a, 250d–e), was es also ist, das ein Seiendes zu ei3
Das Problem von Einheit und Vielheit wird in diesem Beitrag im Hinblick auf den Begriff des Prinzips oder des Ursprungs (archê) behandelt. Das ist eine Möglichkeit, wie die Frage nach dem Einen und seinem Verhältnis zum Vielen angegangen werden kann. Für eine andere Möglichkeit der Behandlung vgl. die klassische Studie von E. Tugendhat, ȉǿ Ȁǹȉǹ ȉǿȃȅȈ. Eine Untersuchung zu Struktur und Ursprung aristotelischer Grundbegriffe, Freiburg/München 1958, 4. Aufl. 1988 (= Ti kata tinos), der den aristotelischen Seinsbegriff selbst auf dieses „Fundamentalproblem“ hin untersucht und aufzeigt, daß die Begriffe von on und hen den Bezug zum Mannigfaltigen in ihr eigenes Wesen aufnehmen; das Seiende ist in sich zwiefältig. 4 Vgl. Met. IV 1, 1003a21f., a31f.; VI 1, 1025b3f., 1026a31f.
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nem Seienden macht. Auch wenn diese Frage erst von Platon explizit gestellt wird, so wird sie schon bei Parmenides und seinen Anhängern zum Gegenstand einer eigenen Lehre vom Sein. Mit Parmenides und Platon geht auch Aristoteles davon aus, daß sich das Seiende selbst thematisieren läßt und diese Thematisierung einen inhaltlichen Ertrag gewährt, auf dessen Boden sogar eine Wissenschaft – wenn auch im Sinne einer epistêmê tis (Met. IV 1, 1003a21)5 – vom Seienden, insofern es seiend ist, entwickelt werden kann. Allerdings behandelt Aristoteles, wie wir im folgenden noch genauer sehen werden, die „von alters her und jetzt und immer gestellte und immer in Schwierigkeiten führende Frage“, was das Seiende ist, in der Weise, daß er die seiner Meinung nach grundlegendere Frage aufwirft, was die ousia ist (Met. VII 1, 1028b4). Mit dem Begriff der ousia, der abstrakten Nominalisierung des Partizips on, was man wörtlich mit „Seiendheit“ übersetzen könnte, fokussiert sich die Frage, was das Seiende ist, auf eine bestimmte Klasse von Seiendem. An diesem primär Seienden kann dann studiert werden, was es überhaupt heißt, zu sein. (2) Die zweite Fragestellung, an die Aristoteles anknüpft, ist die schon von den frühen Naturphilosophen begonnene, schließlich aber methodisch und inhaltlich unzureichend gebliebene Suche nach den ersten Ursachen und Prinzipien von allem. Die hier anvisierte Wissenschaft entspricht dem, was wir gewöhnlich unter ‚Weisheit‘ verstehen, nämlich eine höchste Form theoretischen Wissens, das die gesamte Wirklichkeit aus ihren ersten Prinzipien betrachtet (Met. I 2, 982a6–b10). Insofern Gott „für alle zu den Ursachen zu gehören und ein Prinzip zu sein scheint“ und dieser jene Wissenschaft allein oder im höchsten Maße besitzen würde (983a5–10), ist sie von göttlichem Charakter. Die von den Vorgängern am Begriff des Ursprungs oder Prinzips (archê) orientierte Theorie der Wirklichkeit ist aller5
Also einer bestimmten Art von Wissenschaft, die in einigen Punkten von der Konzeption der epistêmê, wie sie in den Zweiten Analytiken entwickelt wird, abweicht. Jeder Wissenschaft geht es darum, einen bestimmten Sachverhalt aus wahren, ersten, unvermittelten, an sich bekannteren und im Verhältnis zur Konklusion ursächlichen – d.h. der Mittelbegriff verweist auf eine Aristotelische Ursache – Prämissen zu beweisen (An. Post. I 2, 71b20ff.). Sie geht dabei (i) von einer bestimmten Gattung aus, d.h. einem bestimmten Gegenstandsbereich, dessen Existenz sie annimmt, und beweist (ii) ausgehend von allgemeinen Axiomen, deren Gültigkeit sie voraussetzt, (iii) das notwendige Zukommen bestimmter Eigenschaften (die sog. per se-Akzidentien) zu dieser bestimmten Gattung (An. Post. I 7, 75a39–b2; I 10; Met. III 2, 997a19–22). Dabei spielen die der Gattung intrinsischen Prinzipien oder Ursachen eine bedeutende Rolle: Kennt man diese, dann weiß man, warum allen Instanzen einer bestimmten Art bestimmte Eigenschaften notwendig zukommen. Die Wissenschaft vom Seienden als Seiendem ist dagegen nicht auf eine bestimmte Gattung des Seienden beschränkt (Met. IV 1, 1003a21–26). Dennoch kennt auch sie bestimmte per se-Akzidentien (IV 2, 1004b15ff.) und Axiome (IV 3, 1005a22–29). Hierzu genauer I. Bell, Metaphysics as an Aristotelian Science, Sankt Augustin 2004.
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dings konzeptionell noch nicht hinreichend ausgearbeitet und hat sozusagen ‚den sicheren Gang einer Wissenschaft‘ noch nicht gefunden: Indem Aristoteles seine eigene Vier-Ursachen-Lehre an die Lehren seiner Vorgänger anlegt, kann er zeigen, daß sie mit ihren Prinzipien6 weder eine hinreichende Erklärung der Phänomene geben können (z.B. Met. I 3, 984a21–27, b8ff.) noch überhaupt einen klaren Begriff davon haben, was ein Prinzip ist (Met. I 4, 985a10–18).7 Aus Aristoteles’ kritischer Darstellung wird deutlich, daß für eine Theorie der Wirklichkeit aus ersten Prinzipien der Begriff der Ursache (mit einer entsprechenden ‚Aitiologie‘) herangezogen werden muß. Da es sich hier um einen mehrdeutigen Begriff handelt (Met. V 2), stellt sich die Frage, ob alle vier Arten von Ursachen ‚gleichwertig‘ sind, d.h. zum gesuchten Ersten führen, oder ob es hier eine Hierarchie gibt. Wie in den Substanzbüchern (Met. VII–IX) deutlich wird, ist es die Form-Ursache (eidos), welcher Priorität zukommt und mit der die Frage nach den Prinzipien des ‚Seienden, insofern es seiend ist‘ (zumindest in einem ersten Schritt) behandelt werden muß. Mit dem Begriff der Ursache gewinnt Aristoteles den Anknüpfungspunkt, um seine Untersuchung des Seienden als eine Wissenschaft (epistêmê) durchzuführen, da ja nach dem Modell der Zweiten Analytiken jedes Wissen (im Sinne eines kognitiven Zustands) bzw. jede Wissenschaft (im Sinne eines Systems von Sätzen) auf der Kenntnis von Ursachen bzw. erklärungskräftigen Prämissen basiert (An. Post. I 2, 71b9–12, b20ff.). Vor dem Hintergrund beider Fragestellungen zeichnet sich also eine ‚Theorie über das Ganze der Wirklichkeit‘8 ab, die sich am Seienden als solchem orientiert und dieses auf seine ersten Ursachen und Prinzipien hin untersucht, also eine Verbindung von Seinslehre und Prinzipienforschung.
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Nach Aristoteles’ Darstellung haben die meisten seiner Vorgänger die Prinzipien aller Dinge „in der Art der Materie“ konzipiert: „Denn woraus alle Dinge bestehen und woraus sie als aus einem Ersten werden und worin sie als in ein Letztes vergehen, wobei die Substanz (ousia) beharrt, während sie sich in ihren Widerfahrnissen (pathê) verändert, das, sagen sie, ist Element und Prinzip der Dinge“ (Met. I 3, 983b8–13; Übers. Szlezák). In der Darstellung seiner Vorgänger macht Aristoteles schon von seiner metaphysischen Terminologie Gebrauch: Demnach wird etwa ein bestimmter Stoff zum primär Seienden (ousia) erklärt, der als unvergängliches Substrat in allem in unterschiedlicher Weise präsent ist und dadurch die Wirklichkeit in ihrem Bestand oder Inventar festlegt. 7 Aristoteles sagt, daß sie zwei der von ihm selbst unterschiedenen vier Arten von Ursachen nur „dunkel und ohne Deutlichkeit“ berühren, so wie im Kampf Ungeübte auch einmal einen Treffer erzielen, wenn auch nicht „aufgrund eines Wissens“. 8 Vgl. Met. I 8, 989b24f.: theôria peri hapantôn tôn ontôn. Diese Theorie ist scharf zu unterscheiden von einer Einheitwissenschaft (vgl. epistêmê tôn pantôn : I 9, 992b29), welche die Einzelwissenschaften überflüssig machen würde. Hierzu Met. III 2, 997a17– 21.
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„[1] Es gibt eine bestimmte Art von Wissenschaft, die das Seiende als Seiendes und die diesem an sich zukommenden Eigenschaften untersucht. Diese (Wissenschaft) aber ist mit keiner von den Einzelwissenschaften identisch. Denn keine von den anderen stellt in allgemeiner Weise Untersuchungen über das Seiende als Seiendes an, sondern sie schneiden einen bestimmten Teil davon heraus, über den sie dann das (notwendig) Zukommende untersuchen, wie etwa die mathematischen Wissenschaften. [2] Da wir aber die ersten Ursachen und Prinzipien suchen, ist es klar, daß sie einer bestimmten Natur als solcher zugehören müssen. Wenn also auch diejenigen, die die Elemente des Seienden suchten, diese Prinzipien suchten, so ist es notwendig, daß auch die Elemente dem Seienden zugehören nicht im akzidentellen Sinn, sondern insofern es seiend ist.9 Daher ist es auch unsere Aufgabe, die ersten Ursachen des Seienden als Seienden zu erfassen“ (Met. IV 1, 1003a21–32).
Aristoteles geht davon aus, daß es so etwas wie das Seiende als solches gibt, dessen Was-es-ist (ti esti) untersucht werden kann und das sogar wie jeder andere Gegenstand einer Wissenschaft über eigene per se-Akzidentien verfügt, d.h. über Attribute die jedem Seienden bloß aufgrund der Tatsache zukommen, daß es ist, wie etwa Identität und Verschiedenheit, Ähnlichkeit und Unähnlichkeit, Gleichheit und Ungleichheit (vgl. Met. III 1, 995b18–25; IV 2, 1003b34ff., 1004a18ff., 1004a31–1005a18; X 3, 1054a 29–32).10 Doch bevor Aristoteles eine solche Wissenschaft ausarbeiten kann, muß er sich mit einem schwerwiegenden Problem auseinandersetzen, welches die Aufnahme beider Fragestellungen unmöglich zu machen scheint: (1) Parmenides kam – nach der Darstellung des Aristoteles – durch rein begriffliche Überlegung zu dem Ergebnis, daß das Seiende notwendig eines ist und nichts anderes, da es neben dem Seienden das Nicht-Seiende nicht gibt und alles, was das Seiende differenzieren könnte, außerhalb des Seienden sein müßte, also nichts wäre (Met. I 5, 986b27–30).11 Gegenüber diesem Monismus will Aristoteles ‚die Phänomene retten‘ und zwar in der Weise, daß er sie in den Raum des Wirklichen, d.h. des Bestimmten und 9 Für eine alternative Übersetzung vgl. Szlezák: „so müssen auch die Elemente des Seienden Elemente nicht in akzidentellem Sinn, sondern als Seienden sein“. 10 Diese Bestimmungen werden zwar auch von der Dialektik behandelt, aber nicht auf eine wissenschaftliche Weise, sondern bloß „aus Wahrscheinlichkeitsgründen“ (Met. III 1, 995b23ff.). Erst die Wissenschaft vom Seienden als Seienden führt diese Begriffspaare auf ein grundlegendes zurück (hen kai plêthos: 1004a19, 1004b33ff.; 1005a4f.) und kann den sachlichen Zusammenhang dieser Grundbestimmungen mit dem Seienden als solchem aufzeigen. Eine genaue Rückführung auf die ousia findet sich in der Metaphysik nicht; es wird auf die verlorene Schrift Eklogê tôn enantiôn verwiesen (1004a2). 11 Die umstrittene Frage, ob Parmenides einen numerischen Monismus vertritt oder bloß einen ‚eidetischen‘ oder ‚generischen‘ (hierzu der Beitrag von E. Angehrn in diesem Band), kann so beantwortet werden, daß es eben nichts gibt, das das Seiende differenzieren könnte und somit der numerische Monismus eine Konsequenz aus der „Einartigkeit“ des Seins ist. Vgl. hierzu Chr. Rapp, Vorsokratiker, München 1997 (= Vorsokratiker), hier: 141f.
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Erkennbaren, zurückholt (also ontologisch rehabilitiert) und nicht der bloßen doxa überläßt.12 Dieser anti-eleatischen These trägt Aristoteles auf der begrifflichen Ebene dadurch Rechnung, daß er sich gegen den univoken Seinsbegriff des Parmenides wendet: Das Seiende ist keine Gattung (Met. III 3, 998b22–27). Nach Aristoteles wird vielmehr das Seiende auf vielfache Weise ausgesagt; es gehört zur Klasse der pollachôs legomena (etwa EE I 8, 1217b25f.; Met. VII 1, 1028a11f.).13 Aristoteles’ These bezieht sich auf den prädikativen Sinn von „ist“ (Met. V 7, 1017a22ff.; VII 1, 1028a10–13); der Ausdruck hat für Aristoteles nur dann eine Bedeutung, wenn er mit einem generellen Terminus verbunden wird (Int. 3, 16b23).14 Das ist nun so zu verstehen, daß sich verschiedene generelle Termini, die mit dem prädikativen „ist“ verbunden werden können (z.B. ist ein Mensch, ist gehend, ist in Athen), mehreren höchsten Klassen von Prädikaten zuordnen lassen (das sind die Kategorien als die unterschiedlichen Klassen von Prädikaten: Cat. 4; Top. I 9, 103b20). Diese höchsten Klassen von Prädikaten bezeichnen verschiedene Gattungen von Dingen, deren Instanzen in einer unterschiedlichen Weise seiend sind (das sind die Kategorien als die verschiedenen Seinsweisen: Met. V 7, 1017a22ff.). Durch die Kategorienlehre wird die Tatsache zum Ausdruck gebracht, daß das Seiende in sich differenziert ist, und es wird aufgezählt, in welchen, auf eine höhere Einheit nicht mehr rückführbaren Weisen das Seiende bestimmt ist.15 Mit dieser Lehre ist der Anspruch verbunden, die Gesamtheit dessen, was es gibt, mit Hilfe der Kategorien zu erfassen. Würde nun zwischen diesen 12 Aristoteles scheint davon auszugehen, daß die Lehre von den Merkmalen des Seins aus einer begrifflich-apriorischen Überlegung folgt (kata ton logon), während die ZweiPrinzipien-Kosmologie des doxa-Teils eine Setzung ist, die sich aus dem Zwang durch die Phänomene ergibt (Met. I 5, 986b31–34) und die ihrer Natur nach „trügerisch“ ist. Naturphilosophie ist somit nur unter einer ontologischen falschen Voraussetzung möglich (vgl. Rapp, Vorsokratiker, 148). Auch eine Metaphysik, die sich am Begriff des Prinzips oder der Ursache orientiert, ist hier nicht denkbar, da ein Prinzip ja immer Prinzip von etwas ist, also immer noch etwas anderes, ein Prinzipiiertes, verlangt (vgl. Phys. I 2, 185a3ff.). 13 Vgl. hierzu H. Weidemann, Art. „pollachôs legomenon/in vielfacher Weise so genannt“, in: O. Höffe (Hg.), Aristoteles-Lexikon, Stuttgart 2005, 481–483. 14 Vom „ist“ im Sinne der Identität und der Existenz spricht Aristoteles nicht. Hierzu auch G. E. L. Owen, „Logic and Metaphysics in Some Earlier Works of Aristotle“, in: I. Düring/G. E. L. Owen (Hgg.), Aristotle and Plato in the Mid-Fourth Century, Göteborg 1960, 163–190 (= Logic and Metaphysics). Dt. Übers.: ders., „Logik und Metaphysik in einigen Frühwerken des Aristoteles“, in: F.-P. Hager (Hg.), Metaphysik und Theologie des Aristoteles, Darmstadt 1969, 399–435, hier 401: „Sein war nach seiner Ansicht irgend etwas sein […] Und auf der Ebene größter Allgemeinheit ist sein entweder eine Substanz einer bestimmten Art sein oder eine Relation oder eine Qualität sein oder zu einer anderen Kategorie gehören“. 15 Hierzu genauer Tugendhat, Ti kata tinos.
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verschiedenen Gattungen, deren Instanzen jeweils in anderer Weise als seiend bezeichnet werden, keinerlei sachlicher Zusammenhang bestehen, dann wären die verschiedenen Instanzen bloß in einem äquivoken Sinn seiend, sie würden bloß in einem gemeinsamen Namen übereinkommen. Das hätte zur Folge, daß die Wirklichkeit in verschiedene Seinsweisen zerfallen würde, die jeweils Gegenstand ‚regionaler Ontologien‘ sind.16 Dies würde bedeuten, daß sich die von alters her gestellte Frage, was das Seiende sei, was also das Seiende zum Seienden macht, nicht mehr sinnvoll stellen ließe, da es so etwas wie ‚das Seiende als solches‘ oder die ‚Natur des Seienden‘ nicht geben würde, auf die sich eine entsprechende Ontologie richten könnte. Über die Wirklichkeit im ganzen ließe sich via des Seinsbegriffs nichts mehr herausbekommen. (2) Für die zweite Fragestellung, die Frage nach den ersten Ursachen und Prinzipien von allem, hätte die Äquivozität des Seienden ebenfalls fatale Konsequenzen. Diese Suche ließe sich nicht mehr durchführen, wenn gilt, daß ‚alles‘ – also das, was es gibt – eine Vielzahl von Seinsweisen bezeichnet, die untereinander in keinem sachlichen Zusammenhang mehr stehen. Es würde dann keinen einheitlichen Gegenstand mehr geben, den wir auf die letzten Ursachen und Prinzipien hin befragen könnten. Diese Frage müßte an die Einzelwissenschaften delegiert werden, die jeweils ihr kategoriales Seiendes auf seine spezifischen Ursachen und Prinzipien hin untersuchen würden, um daraus seine notwendigen Akzidentien zu erklären. Die Folge aus (1) und (2) wäre eine Vielzahl nebeneinander liegender Seinsbereiche mit ihren je eigenen Prinzipien, die nicht mehr in einen größeren Zusammenhang gebracht werden könnten. Nach Aristoteles ist dagegen die Wirklichkeit als ein bestimmtes Ganzes (hôs holon ti) zu verstehen.17 2. Die pros hen-Einheit als Lösungsinstrument Es muß also gezeigt werden, daß die Wirklichkeit nicht in eine Vielzahl von Seinsweisen auseinanderfällt, um weiterhin die Frage, was das Seiende sei, und eine entsprechende Wissenschaft als sinnvoll anzusehen; außerdem muß sich eine bestimmte „Natur als solche“ aufzeigen lassen, an die die Frage nach den ersten Ursachen und Prinzipien gerichtet werden kann. 16 Diese beschäftigten sich mit dem Wesen und den notwendigen Attributen einer bestimmten Gattung des Seienden oder einer Seinsweise und nehmen sowohl die Existenz als auch das Wesen (ti esti) dieser Gattung einfach hypothetisch an, ohne darüber genaue Rechenschaft zu geben (Met. VI 1, 1025b4–18). So beschäftigt sich die allgemeine Mathematik mit dem Seienden, insofern es eine Quantität ist, und hat die Arithmetik und die Geometrie unter sich, die sich mit den diskreten bzw. kontinuierlichen Größen beschäftigen (1026a25ff.). 17 Zu Aristoteles’ Kritik an getrennten Seinsbereichen vgl. Met. XII 10, 1075b37– 1076a4; XIV 3, 1090b19f.
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Aristoteles’ Instrument, um beide Anforderungen in einem zu erfüllen und somit eine Wissenschaft von den Ursachen und Prinzipien des Seienden als Seienden und seiner notwendigen Attribute zu ermöglichen, ist die pros hen-Einheit: „Das Seiende aber wird in vielfacher Weise so genannt, jedoch mit Beziehung auf Eines und eine bestimmte Natur und nicht homonym. So wie auch alles Gesunde mit Beziehung auf Gesundheit (so genannt wird), das eine weil es (die Gesundheit) erhält, das andere weil es (die Gesundheit) bewirkt, wieder anderes, weil es ein Zeichen ist für die Gesundheit, anderes wiederum, weil es für sie aufnahmefähig ist; und (wie auch) das Ärztliche in Beziehung auf die Heilkunst (so genannt wird) – denn das eine wird ‚ärztlich‘ genannt, weil es die Heilkunst besitzt, das andere weil es in Beziehung auf sie veranlagt ist, wieder anderes, weil es ein Werk der Heilkunst ist, auf gleiche Weise wie diese werden wir aber auch anderes so genannt finden – so wird auch das Seiende zwar in vielfacher Weise so genannt, aber alles in Beziehung auf ein Prinzip. Denn einige Dinge werden als ‚seiende‘ bezeichnet, weil sie [i] Substanzen sind, andere weil sie [ii] Affektionen der Substanz sind, wieder andere, weil sie [iii] ein Weg zur Substanz oder Vergehensprozesse oder Privationen oder Qualitäten oder Hervorbringende oder Zeugende einer Substanz sind oder (zumindest) von solchen Dingen, die in Beziehung auf die Substanz ausgesagt werden, [iv] oder (schließlich) Verneinungen von etwas von diesen Dingen oder der Substanz sind. Daher sagen wir ja auch vom NichtSeienden, daß es das Nicht-Seiende ist“ (Met. IV 2, 1003a33–b10).
Nach Aristoteles gilt also, daß sich die Dinge, die mit dem Ausdruck „seiend“ bezeichnet werden, verschiedenen obersten Gattungen zuordnen lassen, deren Instanzen jeweils in einem anderen Sinn als „seiend“ bezeichnet werden, zwischen denen aber dennoch ein Zusammenhang besteht. Was für eine Art von Zusammenhang hier besteht, verdeutlicht Aristoteles zunächst am Beispiel des Gesunden: Ganz verschiedene Dinge werden auf jeweils verschiedene Weise gesund genannt, wie z.B. ein Urlaub, eine Gesichtsfarbe oder eine Speise, weil sie alle in einer je spezifischen Relation zu der Gesundheit stehen, wie sie in einem konkreten Lebewesen verwirklicht ist. Aufgrund ihrer je verschiedenen Beziehung auf diese primäre Instanz können bestimmte Dinge in einer abgeleiteten Weise als gesund bezeichnet werden.18 Entscheidend ist hier, daß allein die primäre Instanz auf eine intrinsische Weise gesund ist (und somit das Prädikat „gesund“ in einem primären Sinn auf sie zutrifft [Owen: „focal meaning“]), während alle anderen Instanzen bloß auf eine extrinsische Weise gesund sind: Weder der Spinat noch der Urlaub noch die Kleidung sind als solche gesund oder 18
Die Abhängigkeit von der primären Instanz wird gegenwärtig meist als eine definitorische verstanden: In der Definition der verschiedenen sekundären Instanzen kommt der Begriff der primären Instanz vor, während das Umgekehrte nicht gilt (vgl. Owen, Logic and Metaphysics und M. Ferejohn, „Aristotle on Focal Meaning and the Unity of Science“, Phronesis 25 (1980), 117–128). Auch diese definitorische Abhängigkeit ruht auf einer sachlichen auf, nämlich auf einer je unterschiedlichen Beschaffenheit, durch die verschiedene Dinge in dieses Beziehungsgeflecht (als Ursachen, Indizien etc.) eintreten können.
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verwirklichen in sich selbst das, was es heißt, gesund zu sein; sie stehen bloß in einer jeweils anderen äußerlichen Beziehung zu dem, was seiner Natur nach gesund ist. Dieser fehlende innere Zusammenhang ist auch der Grund dafür, warum die pros hen-Struktur bei Aristoteles als eine bestimmte Art von Äquivokation angesehen werden muß: Äquivok sind für Aristoteles zwei Dinge genau dann, wenn sie zwar denselben Namen, aber verschiedene Wesensdefinitionen (logos tês ousias) besitzen (Cat. 1, 1a1– 7). Auch die verschiedenen Dinge, die gesund genannt werden, haben ihrem Wesen nach nichts gemeinsam außer dem Namen. Der Unterschied zu herkömmlichen Fällen von Äquivokation (z.B. der Ausdruck ‚Bank‘) besteht allerdings darin, daß sich die Namensgleichheit nicht bloß einem sprachlichen Zufall verdankt (EN I 4, 1096b26f.: apo tychês), sondern auf einem Beziehungsgeflecht beruht, das durch die jeweils verschiedene Beziehung heterogener Entitäten auf eine primäre Instanz zustande kommt.19 Grundlage hierfür ist freilich, daß die verschiedenen Entitäten in einer gewissen sachlichen Nähe zueinander stehen,20 d.h. über eine bestimmte Beschaffenheit verfügen, die es ihnen erlaubt, in dieses auf eine primäre Instanz ausgerichtete Beziehungsgeflecht einzutreten. Diese sachliche Nähe geht aber nicht so weit, daß sie einer gemeinsamen Gattung oder Art subsumiert werden könnten, die dann jeweils kath’ hen eidos (vgl. Top. 148a30) von ihnen ausgesagt werden würde. Aristoteles greift hier auf die von ihm schon in EE VII 2 am Beispiel des Ärztlichen und der Freundschaft entwickelte pros hen-Einheit – deren Anwendung auf das Seiende er dort noch nicht einräumte – zurück, um die drohende Äquivokation des Seinsbegriffs zu vermeiden, ohne gleichzeitig die problematische Annahme einer (etwa für sich bestehenden) Gattung des Seienden machen zu müssen. Wie das Gesunde so stehen also auch die verschiedenen Dinge, die in einem unterschiedlichen Sinn als seiend bezeichnet werden, in einem Zusammenhang, der sich durch die Abhängigkeit von einer primären Instanz des Seienden, der ousia als wahrnehmbarer Einzelsubstanz, ergibt. Nur die ousia ist in einem intrinsischen Sinn seiend – verwirklicht also das, was es heißt, seiend zu sein – und kann im eigentlichen Sinn als seiend bezeichnet werden, während alle anderen Instanzen nur aufgrund ihrer je verschiedenen Beziehung zur ousia in einer abgeleiteten Weise ‚seiend‘ genannt werden können. Durch den Bezug auf die ousia kann Aristoteles 19 Boethius unterscheidet in seinem Kommentar zur Aristotelischen Kategorienschrift bei der Äquivokation zwischen casu und consilio und subsumiert unter letztere auch die beiden Beispiele für die pros hen-Einheit, das Medizinische und das Gesunde (PL 64.166 B). 20 Vgl. Chr. Rapp, „Ähnlichkeit, Analogie und Homonymie bei Aristoteles“, Zeitschrift für philosophische Forschung 46 (1992), 526–544 (= Ähnlichkeit, Analogie und Homonymie), hier: 535.
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die verschiedenen Seinsweisen in eine nicht-generische Verwandtschaftsbeziehung bringen. Mit diesem einheitlichen Bezugspunkt sichert Aristoteles der allgemeinen Seinswissenschaft ihren ‚einheitlichen Gegenstand‘. Es kann nämlich nicht nur dort eine einheitliche Wissenschaft geben, wo eine gemeinsame Gattung vorliegt, die von ihren Gegenständen kath’ hen ausgesagt wird, sondern auch dort, wo etwas pros hen ausgesagt wird (Met. IV 2, 1003b11–16). Somit gehört auch das Seiende als Seiendes einer einheitlichen Wissenschaft an: „Überall geht aber die Wissenschaft vornehmlich auf das Erste, von dem sowohl das Übrige abhängt und wonach es benannt wird“ (1003b16f.). Für die verschiedenen Dinge, die auf je verschiedene Weisen seiend sind, bedeutet die Anwendung der pros hen-Einheit, daß im Unterschied zur ousia alle sekundären Instanzen bloß in einem äußerlichen Sinn seiend sind; sie können überhaupt nur deshalb als seiend bezeichnet werden, weil sie etwas an der ousia sind (Met. VII 1, 1028a18–2). Sie sind nur etwas Parasitäres, besitzen also gerade nicht das, was wir mit „seiend“ eigentlich meinen, auch wenn wir sie als Seiende bezeichnen können. Die ousia trägt bei Aristoteles die gesamte ‚ontologische Last‘: Der Satz „Sokrates ist rot“ wird nicht durch einen zweigliedrigen Sachverhalt wahr gemacht, sondern allein durch Sokrates, dem das Rotsein inhäriert.21 3. Die Prinzipien der ousia und die Analogie Durch die pros hen-Einheit hat sich die ousia, die wahrnehmbare Einzelsubstanz, als primärer Bezugspunkt der übrigen onta und Gegenstand der Seinswissenschaft erwiesen. Die Ontologie wird als Ousiologie durchgeführt. Die Frage, was das Seiende sei, ist also an diese primäre Instanz zu richten; an ihr können wir studieren, was es heißt, zu sein. Aristoteles bleibt in seiner prinzipienorientierten Ontologie nicht bei der wahrnehmbaren Einzelsubstanz als dem primär Seienden stehen. Eine weitergehende Analyse der ontologischen Priorität wird dadurch erreicht, daß er die für jede Wissenschaft konstitutive Frage nach den Ursachen und Prinzipien auf die wahrnehmbare Einzelsubstanz selbst bezieht. Wenn sie das Erste ist, obliegt es der Ersten Philosophie, „die Ursachen und Prinzipien der Substanzen innezuhaben“ (Met. IV 2, 1003b18f.).22 Diese Prinzipienforschung wird in den Substanzbüchern durchgeführt, in denen Aristoteles auf seine Form-Materie-Analyse zurückgreift. Es stellt sich heraus, daß das 21 Die pros hen-Einheit gilt nicht nur für das Seiende, sondern auch für das Eine; on und hen sind dasselbe und bilden eine einzige Natur, auch wenn sie sich begrifflich unterscheiden lassen (Met. IV 2, 1003b22–25, 1005a7f.; X 2, 1053b25, 1054a13–19). Mit dem on differenziert sich somit auch das hen aus. Die Seinswissenschaft untersucht dementsprechend auch die verschiedenen ‚Arten‘ des Einen (vgl. Met. V 6). 22 Hierzu genauer A. Code, „Aristotle’s Metaphysics as a Science of Principles“, Revue internationale de philosophie 51/3 (1997), 357–378.
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eidos im Sinne der Form gegenüber der Materie und dem Zusammengesetzten das primäre Prinzip der Einzelsubstanz ist. Aristoteles spricht hier auch von der „ersten Substanz“ (prôtê ousia: Met. VII 7, 1032b2) – insofern das, was Prinzip der Substanz ist, im höheren Maß Substanzcharakter, d.h. Selbständigkeit und Bestimmtheit, hat – oder von einer Ursache des Seins des Einzeldings (aition tou einai: Met. V 8, 1017b15f.). Die Form als Prinzip der Aktualität macht einen bestimmten Stoff zu einem Ganzen, das sich in der Zeit als mit sich identisch bleibend aufrechterhält und als Instanz einer bestimmten Art erkannt werden kann (tode ti). Interessanterweise kommt bei der Untersuchung der Prinzipien und Ursachen der Einzelsubstanz nebenbei auch der Begriff der Analogie ins Spiel. Die Analogie wird von Aristoteles als ‚identisches Verhältnis zwischen Verschiedenem‘ verstanden; sie steht unverbunden neben der pros hen-Einheit, die aus „verschiedene[n] Beziehung[en] auf ein Identisches“23 besteht. So wie sich das Auge zum Körper verhält, so verhält sich die Vernunft (nous) zur Seele, so daß man die Vernunft auch als „Auge der Seele“ bezeichnen kann (EN I 4, 1096b27ff.). Die Analogie ist für Aristoteles die schwächste Form von Einheit24; sie besteht zwischen Dingen, die der Zahl, der Art und der Gattung nach verschieden sind (Met. V 7, 1016b31–35). Auf diese Verhältnisgleichheit greift Aristoteles zurück, wenn innerhalb der Ousiologie von Form und Materie, den Prinzipien der Einzelsubstanz, gesprochen wird. Form und Materie, denen nach Aristoteles jeweils Aktualität und Potentialität entsprechen, sind bei den verschiedenen Dingen nur durch Analogien zugänglich.25 Der Ousiologe muß daher die Fähigkeit besitzen, „das Analoge in einem Blick zusammenzuschauen (analogon synhoran)“ (Met. IX 6, 1048a37). Er muß das ‚synoptische Vermögen‘ besitzen, in verschiedenen Gattungen des Seienden identische Verhältnisse auszumachen, um etwa die Seele eines Lebewesens wie auch eine bestimmte harmonische Proportion eines Tons gleichermaßen als Form und das jeweils Bestimmbare als Materie erkennen zu können. Die Prinzipien der wahrnehmbaren Dinge sind also in dem einen Sinne bei Verschiedenem verschieden, in dem anderen Sinne aber bei allen dieselben.26 23
G. Patzig, „Theologie und Ontologie in der Metaphysik des Aristoteles“, KantStudien 52 (1960/61), 185–205. ND in: ders., Gesammelte Schriften, Bd. 3, Göttingen 1996, 141–174 (= Theologie und Ontologie), hier: 172. 24 Vgl. Rapp, Ähnlichkeit, Analogie und Homonymie, 530 unter Bezugnahme auf Theophrast: „Als letzte Stufe der Einheitsreihe überbrückt die Analogie gleichsam ‚die weiteste Distanz zwischen den Dingen‘“. 25 Rapp, Ähnlichkeit, Analogie und Homonymie, 539f. 26 „Die Ursachen und Prinzipien sind in einem Sinne andere für je andere Dinge, in einem anderen Sinne aber, wenn man allgemein und analog redet, dieselben für alle Dinge […] Diese Dinge (sc. die wahrnehmbaren Körper) haben also dieselben Elemente und Prinzipien (jedoch andere bei je anderen Einzeldingen); für alle Dinge kann man es so
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4. Ein zweifaches pros hen? Bisher haben wir bei Aristoteles die wahrnehmbare Einzelsubstanz (ousia) und dann in einem zweiten Schritt die Form als ihr internes Prinzip (Met. V 8, 1017b15; V 1, 1013a19) als das primär Seiende kennengelernt. Damit gibt es auf der horizontalen Ebene einen einheitlichen Bezugspunkt, der innerhalb der von Aristoteles gegen den Eleatischen Monismus verteidigten Vielheit des Seienden Ordnung stiftet (Met. XII 1, 1069a20f.). Nun dürfen wir aber nicht vergessen, daß Aristoteles neben den wahrnehmbaren und vergänglichen Einzelsubstanzen noch zwei andere Arten von ousia kennt, nämlich die wahrnehmbare und ewige Substanz, die Himmelskörper, wie die unbewegte und ewige, göttliche Substanz (1069a30–33). Es stellt sich die Frage, in welchem Verhältnis die göttlichen Substanzen – und hier vor allem der erste unbewegte Beweger – zu den vergänglichen Substanzen der sublunaren Sphäre stehen, ob es sich bloß um zwei voneinander unabhängige Seinsbereiche handelt, die jeweils von einer spezifischen Wissenschaft (Theologik bzw. Physik) untersucht werden, oder ob es auch auf dieser vertikalen Ebene ein Verhältnis zwischen einem primär Seiendem und einem sekundär Seienden gibt. In welcher Weise ist also das vergängliche Seiende auf das göttliche Seiende bezogen? Von der Antwort auf diese Frage hängt es ab, ob die Wirklichkeit als ein bestimmtes Ganzes (holon ti) verstanden werden kann. Diese Frage wurde in der Vergangenheit im Rahmen einer anderen Frage diskutiert, nämlich der nach dem Gegenstand der Ersten Philosophie. Bekanntlich beschäftigt sich die Erste Philosophie nach Met. IV 1 mit dem Seienden, insofern es seiend ist; in dieser allgemeinen Perspektive unterscheidet sie sich gerade von den Einzelwissenschaften, die sich mit einem bestimmten Bereich des Seienden beschäftigen. In Met. VI 1 grenzt Aristoteles dagegen die Erste Philosophie gegenüber der Physik und Mathematik darin ab, daß er ihr das Ewige, Unbewegte und Abgetrennte, also die göttliche ousia als „würdigste Gattung des Seienden“ als spezifischen Gegenstand zuweist (1026a15–22). Ist die Erste Philosophie also allgemeine Seinswissenschaft oder spezielle Theologik? Aristoteles ahnt diesen Einwand und gibt folgende Antwort: „Man könnte nämlich die Schwierigkeit aufwerfen, ob die Erste Philosophie allgemein ist oder über eine bestimmte Gattung und eine einzelne Natur handelt; denn auch in den mathematischen Wissenschaften gibt es nicht dieselbe Weise (der Untersuchung), vielmehr handeln die Geometrie und die Astronomie über eine bestimmte Natur, die allgemeine Mathematik aber ist allen gemeinsam. Wenn es also keine andere Substanz neben den von Natur aus bestehenden gibt, so wäre die Physik die erste Wissenschaft. Wenn es aber eine unbewegte Substanz gibt, so ist diese primär und die (über sie handelnde) Philosophie die erste, und nicht sagen, wohl aber im Sinne der Analogie, wie wenn man sagen wollte, daß es drei Prinzipien gibt: die Form, die Privation und die Materie. Doch jedes davon ist für jede Gattung etwas anderes“ (Met. XII 4, 1070a31–b20; Übers. Szlezák).
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allgemein ist sie in der Weise, weil sie die erste ist. Und dieser Wissenschaft würde es zukommen, das Seiende als Seiendes zu betrachten, sowohl was es ist als auch das ihm als Seienden Zukommende“ (Met. VI 1, 1026a23–32).
Wenn man dieses Problem nicht durch Athetese (Natorp) oder eine Entwicklungshypothese (Jaeger)27 lösen will, bleibt einem nichts anderes übrig, als sich genauer mit Aristoteles’ kryptischer Äußerung zu beschäftigen, daß die Erste Philosophie „allgemein in der Weise ist, weil sie die erste ist“. Aristoteles deutet damit an, daß die Erste Philosophie gerade dadurch allgemein sein kann, weil sie sich mit einer besondere Klasse von Seiendem, nämlich dem göttlichen Seienden als dem ontologisch Primären, beschäftigt; gerade weil sie Theologik ist, kann sie zugleich allgemeine Ontologie sein. Aus der Kenntnis der göttlichen Substanz scheint sich also ein positiver Ertrag für eine allgemeine Lehre vom Seienden zu ergeben. Hierfür muß es allerdings irgendeinen Zusammenhang zwischen dem göttlichen und dem vergänglichen Seienden geben: Die göttliche Substanz muß irgendwie Prinzip aller anderen Substanzen mit den von diesen abhängigen nicht-substantialen onta sein und auf diese Weise den Schlüssel zum Verständnis des vergänglich Seienden darstellen.28 Interpreten wie Owens oder Patzig erklären diesen Zusammenhang so, daß sie ein mehrstufiges pros hen-Verhältnis ansetzen: So wie auf der horizontalen Ebene die wahrnehmbare Einzelsubstanz den nicht-substantialen onta vorgeordnet ist und diesen als „Seinsfundament“ dient, so ist auf der vertikalen Ebene die göttliche Substanz als das eigentlich primäre Seiende den wahrnehmbaren Substanzen vorgeordnet; von dieser ousia ousiôn würden „alle übrigen Substanzen ihr Sein gleichsam zu Lehen haben und […] im Sein erhalten werden“.29 Genauer kann man dieses mehrstufige pros henVerhältnis so konzipieren, daß die nicht-substantialen onta auf die ousia im Sinne der wahrnehmbaren Einzelsubstanz als ihrem primär Seienden bezogen sind, diese Art von ousia wiederum auf ihre Formen (also auf die prôtê ousia als intrinsische Seinsursache: Met. V 8, 1017b15f.), und letztere wiederum als bloß „begrifflich abtrennbare“ Formen (Met. VIII 1, 1042a29) auf Gott als die „einfache und dem Wesen nach aktuale“ Substanz (hê haplê kai kat‘ energeian: Met. XII 7: 1072a30ff.) oder ‚reine Form‘.30 27
Hierzu Patzig, Theologie und Ontologie. Nach Patzig, Theologie und Ontologie, 159, kann nur die Annahme, daß Aristoteles’ erster Beweger als „Seinsgrund für alles übrige Seiende“ verstanden wird, „jene innere Verbindung zwischen Theologie und Ontologie knüpfen“. 29 Patzig, Theologie und Ontologie, 157. 30 Vgl. J. Owens The Doctrine of Being in the Aristotelian ,Metaphysics‘. A Study in the Greek Background of Mediaeval Thought, Toronto 1951, 2. Aufl. 1963, hier 282, 298: „The sequence of Aristotle’s thought is evident enough. The science being sought 28
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Interpreten, die für einen solchen Zusammenhang zwischen vergänglichen Substanzen und göttlicher Substanz bei Aristoteles argumentieren, greifen hier gerne auf ein schwierig einzuordnendes Textstück aus Alpha elatton31 zurück, mit dem sie das (doppelte) pros hen-Verhältnis deuten: „Wir wissen aber das Wahre nicht ohne die Ursache: Von mehreren Dingen hat aber dasjenige eine Eigenschaft im höchsten Maß (malista), durch das (kath’ ho) auch den übrigen die gleichnamige Eigenschaft (to synônymon) zukommt (so ist z.B. das Feuer das Wärmste: Denn dieses ist auch für die anderen Dinge die Ursache des Warmseins). Daher ist auch dasjenige am wahrsten (alêthestaton)32, das für die späteren Dinge Ursache des Wahrseins ist. Daher ist es notwendig, daß die Prinzipien des ewig Seienden immer am wahrsten sind (denn sie sind nicht nur manchmal wahr, und es gibt auch für jene keine Ursache des Seins, sondern jene sind für die anderen Ursache, so daß daraus folgt: Wie sich jedes Einzelne zum Sein verhält, so auch zur Wahrheit“ (Met. II 1, 993b23–31).
Aristoteles skizziert im ersten Abschnitt ein bestimmtes Verständnis von Kausalität: Innerhalb einer Menge von Dingen, die eine bestimmte Eigenschaft im synonymen oder univoken Sinn (to synônymon) besitzen, hat dasjenige diese Eigenschaft in höchstem Maß, das die Ursache für das Zukommen dieser Eigenschaft ist; so ist das Feuer als das „am meisten warme“ die Ursache für das Warmsein aller anderen Dinge.33 Wird nun die pros hen-Einheit von Met. IV 2 mit dieser Passage gedeutet, dann hat das folgende Konsequenzen: (1) Die pros hen-Einheit, die ja eigentlich ein Geflecht verschiedenartiger Beziehungen heterogener Entitäten auf eine primäre Instanz ist, verwandelt sich in eine rein kausale Abhängigkeitsbeziehung. So wie das Feuer die Quelle der Wärme für andere Dinge ist, wäre dann die Gesundheit „die Quelle des Gesundseins in allem anderen“34 has been endeavouring to find the universal and permanent causes of sensible things. It has located these causes in the permanent substrate of accidental change, then more precisely in the primary instance of Entity, and now more definitely in separate Entity, as the primary instance of permanence […] Being qua Being, accordingly, is now seen as the nature that constitutes separate Entity. In studying this definite nature, one studies the Being found in everything else.“ Nach Owens wird das in Met. VI 1 skizzierte Programm in den überlieferten Texten nicht eingelöst, sondern muß rekonstruiert werden: „We do not possess the positive treatment of the separate Entities belonging to the investigation that was initiated by A–E1. Nor is there any extant record of its ever having being written […] it shows that this conception, in its fully developed state, is not to be sought in the extant treatises. Aristotle’s complete doctrine of Being has to be reconstructed, as best it may, from the indications left in the present Metaphysics“ (455). 31 Ich gehe mit W. Jaeger, Studien zur Entstehungsgeschichte der Metaphysik des Aristoteles, Berlin 1912, hier: 118 davon aus, daß es sich hier um eine echt aristotelische Schrift handelt. 32 Abweichend von Jaeger, der mit Alexanders Kommentar alêthesteron liest und aei von b28 nach b27 umstellt. 33 Vgl. auch An. Post. I 2, 72a29ff. 34 Patzig, Theologie und Ontologie, 152.
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und die ousia die Quelle des Seins für alle anderen nicht-substantialen onta. (2) Die ousia scheint dann wie das Feuer als Wärmequelle allen anderen nicht-substantialen onta das Sein in unterschiedlichen Graden35 mitzuteilen. Auf diese Weise könnten dann auch die nicht-substantialen onta in einem intrinsischen Sinn als seiend bezeichnet werden; sie würden das, was es heißt, seiend zu sein, in einem unterschiedlichen Grad verwirklichen und stünden nicht bloß in einer äußerlichen Beziehung zur ousia, dem eigentlich Seienden.36 Geht man nun davon aus, daß zwischen den göttlichen und den vergänglichen ousiai (also auf der vertikalen Ebene) eine zweite pros hen-Beziehung besteht, wie es der zweite Teil von Alpha elatton nahelegt – hier ist ja von den Prinzipien des ewig Seienden die Rede, die für anderes Ursache des Seins sind (993b27–30) – dann scheint Gott die absolut primäre Instanz des Seienden zu sein, auf die alle anderen sekundären Instanzen bezogen sind, wodurch sie das Sein in unterschiedlichen Graden intrinsisch besitzen.37 Gegen eine solche Interpretation lassen sich im einzelnen folgende Einwände vorbringen: (1) Aristoteles geht vom Sein im prädikativen Sinn aus, das sich je nach Typ des Prädikats kategorial differenziert (Met. V 7, 1017a22ff.). Diese verschiedenen Seinsweisen können m.E. gerade nicht durch verschiedene Seinsgrade erfaßt werden. Wenn überhaupt beziehen sich verschiedene Grade darauf, in welchem Maß ein bestimmtes Prädikat innerhalb einer bestimmten Seinsweise durch ein Einzelding erfüllt wird 35
An zwei anderen Stelle scheint Aristoteles so zu sprechen, als ob er von verschiedenen Seinsgraden ausginge: „Wie nämlich das Sein allen zukommt, aber nicht auf gleiche Weise, sondern den einen in ursprünglicher (prôtôs), den anderen in abgeleiteter Weise (hepomenôs), so kommt auch das Was schlechthin der Wesenheit zu, in gewissem Sinne aber auch dem anderen“ (Met. VII 4, 1030a21ff.; Übers. Bonitz). Vgl. auch Met. VII 1, 1028a26f.: „Dieses zeigt sich aber mehr als seiend, weil sein Substrat etwas Bestimmtes ist, nämlich die Wesenheit und das Einzelne“ (Übers. Bonitz). Hier kann man das mallon aber auch einfach im Sinne von „eher“ auffassen. 36 Vgl. J. Owens, Aristotle’s Gradations of Being in Metaphysics E–Z, Indiana 2007 (= Gradations of Being), hier: 12: „Yet what one would expect from the introduction of Alpha elatton (993b4–31) is that being is present in everything and missed by nobody, regardless of how difficult its explanation may be.“ 37 Vgl. Owens, Gradations of Being, 46 „There are indeed different ways of gradation in being. But in overall view the first chapter of Alpha elatton found the notion of being in its supreme degree in the causes of the heavenly motions. The context was meant to stress the role of the highest instance as the origin of the characteristic in the other instances. This would mean that the notion of being is derived in all other instances from the separate substances described in book Lambda as the causes of the celestial phenomena“; 48f.: „As presented in Alpha elatton, being appears as intrinsically the same characteristic throughout primary and secondary instances. The only difference is in internal degree. The highest degree is in the separate movers of the celestial spheres. Lesser degrees are seen in sensible substances and accidents“.
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oder nicht. Solche Grade gibt es vor allem innerhalb der Kategorie des Qualitativen (z.B. ist etwas mehr oder weniger weiß: Met. X 3, 1054b10; Cat. 8); Substanzprädikate können dagegen nicht in verschiedenen Graden verwirklicht sein. (2) Die pros hen-Einheit wird nicht nur auf eine rein kausale Abhängigkeitsbeziehung verengt, sondern verwandelt sich unter der Hand in einen Fall von Univokation, insofern gilt, daß unter bestimmten Gegenständen mit „synonymen“ Eigenschaften, derjenige, dem diese Eigenschaft im höchsten Sinn zukommt, die Ursache dafür ist, daß diese Eigenschaft den anderen Gegenständen zukommt. Das läuft aber gerade Aristoteles’ Anliegen zuwider, den Seinsbegriff von jeder Univozität freizuhalten.38 (3) Legt man die so interpretierte pros hen-Relation dem Verhältnis zwischen Gott und den vergänglichen Substanzen zugrunde, dann kommt man mit einem solch starken Fundierungsverhältnis einem ‚Existenz verleihenden‘ Schöpfergott sehr nahe, was Aristoteles’ Gottesverständnis widerspricht. Die Abhängigkeit der wahrnehmbaren Substanzen von Gott ist nicht so stark wie die der nicht-substantialen onta von den wahrnehmbaren Substanzen; die sublunaren ousiai sind nicht in derselben Weise auf die göttliche ousia angewiesen wie die nicht-substantialen onta auf die sublunaren ousiai. Gott ist lediglich Zielursache und damit ein externes Prinzip der Einzelsubstanzen, insofern er als die schönste und beste Aktualität (und damit vollständige Bestimmtheit und Intelligibilität) Zielpunkt des Strebens für ganz unterschiedliche ‚Arten‘ des Seienden innerhalb des Kosmos ist und somit „als geliebtes“ bewegt (Met. XII 7, 1072b3). Jedes Seiende versucht innerhalb seiner eigenen Seinsweise Gott nachzuahmen (Met. IX 8, 1050b28ff.; De an. II 4, 415a26–b7) und auf diese Weise eine gewisse Ähnlichkeit (homoiôma ti) zu seiner vollkommenen Tätigkeit zu realisieren. Insofern gibt es eine schwache ontologische Abhängigkeit von Gott im Sinne eines Prinzips der Vollkommenheit. Wenn wir also die Beziehung zwischen Gott und den wahrnehmbaren Substanzen eher nicht mit einem zweiten pros hen-Verhältnis deuten sollten, stellt sich die Frage, wie dann die Annahme des Aristoteles zu begründen ist, daß der Bezug auf die absolut primäre Substanz eine universale Seinslehre ermöglicht? Mit Michael Frede liegt es nahe, diese Beziehung vor allem als eine explanatorische anzusehen39: Die göttliche Substanz 38 Die gesamte Passage scheint einen platonischen Hintergrund zu haben. Wie Gerson zeigt, verweist die hier beschriebene „gradierbare Univozität“ auf Platons Modell der Partizipation (L. P. Gerson, Aristotle and Other Platonists, Ithaca/London 2005, hier: 183). Wir werden später diesem Kausalmodell in der Formulierung begegnen, daß die Ursache immer größer als der Effekt ist. Aristoteles vertritt demgegenüber außerhalb dieser Passage die Lehre, daß ein Wirkendes eine bestimmte, in ihm präexistente Form in ein Leidendes ‚transferiert‘ und somit eine Gleichheit herstellt (Met. VII 7). 39 M. Frede, „The Unity of Special and General Metaphysics“, in: ders., Essays in Ancient Philosophy, Oxford 1987, 81–95, hier: 89ff.
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erfüllt die Merkmale der Substantialität, nämlich Getrenntheit und Bestimmtheit, in vollkommener Weise: Sie ist ihrem Wesen nach Aktualität (Met. XII 6, 1071b20) und als solche immateriell, ohne Akzidentien, unbewegt, ewig – eine ‚reine Form‘. Als einfache und ihrem Wesen nach aktuale Substanz verwirklicht sie das, was es heißt zu sein, in paradigmatischer Weise. Wenn wir also wissen wollen, was die ousia ausmacht, müssen wir die göttliche ousia studieren. Die göttliche Substanz bildet den explanatorischen Fokus aller anderen Seinsweisen und das ist auch der Grund, warum gerade das Studium dieser besonderen Seinsweise eine allgemeine Seinswissenschaft ermöglicht. Die Wissenschaft vom Seienden als Seienden ist daher dem Theologen zugeordnet und hat eine ‚theologische Ausrichtung‘, indem sie Gott als höchstes Seiendes im Blick hat. Als solche kann sie den Bezug der anderen Seinsweisen auf die höchste Substanz aufzeigen und erkennt die Wirklichkeit als eine auf ein Erstes hin geordnete Vielheit. Wir können das Bisherige folgendermaßen zusammenfassen: Aristoteles verteidigt gegenüber dem Eleatischen Monismus die Vielfalt des Seienden, entwickelt aber auf der anderen Seite mit seiner pros hen-Struktur ein begriffliches Instrument, um innerhalb dieser Vielfalt des Seienden eine Ordnung zu sichern. Diese Ordnung basiert auf der ousia (im Sinne der wahrnehmbaren Einzelsubstanz) als dem primär Seienden. Durch die Einführung eines solchen vorrangigen Seienden auf der horizontalen Ebene kann er sowohl die Frage, was das Seiende sei, als auch die Frage nach den ersten Ursachen und Prinzipien des Ganzen aufnehmen und zu einer Wissenschaft verbinden. In einem weiteren Schritt erweitert sich diese ontologische Hierarchie „nach innen“ in Richtung auf die substantielle Form (prôtê ousia) als internes Prinzip der Einzelsubstanz, schließlich „nach oben“40 in Richtung auf Gott als dem paradigmatischen Seienden und dem Schlußpunkt, an dem Himmel und Natur bloß „hängen“ (êrtêtai: Met. XII 7, 1072b14; und nicht: „qui fecit caelum et terram“). Die Abhängigkeit des vergänglichen Seienden vom göttlichen Seienden ist gering; im Mittelpunkt steht die auf ein Erstes hin geordnete Vielfalt des sublunar Seienden.
II. Thomas von Aquin: Der Eigenstand des geschaffenen Seienden gegenüber Gott 1. Der spezifische Problemkontext Während bei Aristoteles das Problem von Einheit und Vielheit – genauer: die Gewichtung zwischen der Abhängigkeit und dem Eigenstand des se40
Vgl. Owens, Gradations of Being.
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kundär Seienden gegenüber dem primär Seienden – vor allem auf der horizontalen Ebene angesiedelt war, verschiebt sich bei Thomas von Aquin diese Fragestellung auf die vertikale Ebene. Grund hierfür ist, daß Gott nicht mehr als bloße Zielursache gedacht wird, der für die Aufrechterhaltung des ewigen Bewegungszusammenhangs und der Vollkommenheit des sublunar Seienden verantwortlich ist und als ‚reine Form‘ den explanatorischen Fokus für das Verständnis alles Seienden bildet, sondern daß es jene dem Mose geoffenbarte „erhabene Wahrheit“41 zu denken gilt, daß Gott das Sein selbst (ipsum esse) ist, von dem das Sein aller anderen Dinge kommt. Gott als einen das Sein verleihenden Schöpfer zu denken schlägt sich in der metaphysischen Grundkonzeption des Thomas darin nieder, daß es in allem geschaffenen Seienden eine Zusammensetzung zwischen essentia und esse gibt: Das esse kommt ‚ab alio‘ zur essentia hinzu, kein endliches Ding kann Ursache seines esse sein; alles endliche Seiende hat nur Sein, während Gott als einziger sein Sein ist.42 Während bei Aristoteles alle Aktualität von der intrinsischen Form als aition tou einai kommt, stellt für Thomas die essentia (aus Form und nicht-gezeichneter Materie) nochmals eine Potentialität hinsichtlich des zugeteilten esse dar.43 Vor diesem Hintergrund besteht die spezifische Herausforderung für Thomas darin, zum einen die Abhängigkeit von dem transzendenten Schöpfergott, der als ipsum esse per se subsistens allen anderen Dingen Sein verleiht, zu wahren, zum anderen diese Abhängigkeit nicht so stark werden zu lassen, daß die endlichen Seienden jeglichen Eigenstand einbüßen und zu bloßen Akzidentien Gottes werden, der als einziger im eigentlichen Sinn ist. Thomas geht es hier vor allem darum, ein begriffliches Instrumentarium zu entwickeln, um den relativen Eigenstand des geschaffenen Seienden gegenüber einer Art ‚theologischen Monismus‘ zu verteidigen. Diesen Monismus kann man entweder so explizieren, daß die Dinge in einer direkten Weise an Gott als dem ipsum esse per se subsistens teilhaben, oder daß allein Gott im eigentlichen Sinn ist, alle anderen Dinge aber nur in einer äußerlichen und extrinsischen Weise auf Gott bezogen sind, das Sein also nicht intrinsisch besitzen und daher nur in einem abgeleiteten Sinn als Seiende bezeichnet werden können. Das geschaffene Seiende wäre somit ein lediglich parasitär Seiendes ohne irgendwelchen Eigenstand; das esse der endlichen Seienden wäre Gott selbst.
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Vgl. ScG I 22: „Hanc autem sublimem veritatem Moyses a Domino est edoctus...“ Vgl. S.Th. I, q. 3, a. 4; S.Th. I, q. 44, a. 1; ScG I 22. 43 Vgl. DEE cap. 4. 42
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2. Das ontologische Instrumentarium und seine Schwierigkeiten Der Schlüssel, wie die Abhängigkeit des geschaffenen Seienden von einem transzendenten Schöpfergott und gleichzeitig der relative Eigenstand des geschaffenen Seienden miteinander vereinbart werden können, liegt in Thomas’Analogielehre.44 In diese Konzeption fließen verschiedene Theorieelemente der aristotelischen und platonischen Tradition ein, die Thomas in eigenständiger Weise zusammenführt. Das erste Theorieelement, das in Thomas’ Konzeption eingeht, ist Aristoteles’ pros hen-Einheit. Diese wird (wahrscheinlich seit Averroes) als Analogie bezeichnet (während bei Aristoteles die Analogie noch unverbunden neben der pros hen-Einheit steht) und als ein Drittes zwischen univoker und äquivoker Begriffsverwendung aufgefaßt (während bei Aristoteles das pros hen eine Weise der Äquivokation darstellt). Thomas selbst subsumiert in seinem Kommentar zu Met. V 6 unter den Begriff der Analogie sowohl die verschiedene Beziehung auf ein Identisches (Beispiel des Gesunden und des Ärztlichen) als auch die identische Beziehung zwischen Verschiedenem.45 Wie wir schon bei Aristoteles gesehen haben, stehen innerhalb einer pros hen-Einheit heterogene Entitäten in einer je unterschiedlichen Beziehung zu einer ersten Instanz. Entscheidend ist, daß diese je unterschiedlichen Beziehungen ihnen jeweils äußerlich bleiben; sie hören dabei nicht auf, wesensmäßig verschieden zu sein. Wenn man diese besondere Art von Einheit auf das Seiende überträgt, hat das zur Folge, daß einzig die ousia im eigentlichen Sinn seiend genannt werden kann, während alles andere nur insofern als seiend bezeichnet werden kann, als es irgend etwas an der ousia (etwas Parasitäres) ist, also in irgendeiner Beziehung zur ousia steht. So wie im Urlaub oder dem Kleidungsstück nicht die Natur des Gesunden verwirklicht ist, so auch nicht die Natur des Seienden in den akzidentellen Seinsweisen. Daher ist die pros hen-Einheit eine Weise der Äquivokation. Wenn man nun diese attributio extrinseca auf das Gott-Welt-Verhältnis überträgt, würde daraus folgen, daß das endliche Seiende ontologisch entwertet würde, da es in einem intrinsischen 44
Thomas’ Analogielehre hat natürlich ihren primären Ort in der Frage der Gotteserkenntnis, ob bzw. wie Vollkommenheitsprädikate der geschaffenen Dinge auf Gott übertragen werden können. Dennoch scheint mir unbestreitbar zu sein, daß diese Lehre auf einer metaphysischen Lehre aufruht, die als solche thematisiert und entfaltet werden kann. 45 In V Met., lect. 8, n. 879: „Proportione vero vel analogia sunt unum quaecumque in hoc conveniunt, quod hoc se habet ad illud sicut aliud ad aliud. Et hoc quidem potest accipi duobus modis, vel in eo quod aliqua duo habent diversas habitudines ad unum; sicut sanativum de urina dictum habitudinem significant signi sanitatis […] Vel in eo quod est eadem proportio duorum ad diversa, sicut tranquillitatis ad mare et serentitas ad aerem.“
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Sinn nicht seiend wäre; nur Gott wäre als einziger im eigentlichen Sinn seiend. Freilich wäre eine solche extrinsisch gedachte Attribution von jedem Vorwurf der Univokation, also der Einebnung des Unterschieds zwischen Gott und den Geschöpfen, frei. Thomas kennt diese orthodoxe Interpretation des Aristotelischen pros hen durch seinen Lehrer Albert46, weiß aber um die damit verbundenen Schwierigkeiten. In seinem Sentenzenkommentar stellt er daher dieser extrinsischen Attribution (attributio extrinseca) eine intrinsische Attribution (attributio intrinseca) zur Seite, auf die er auch in seinen späteren Werken zurückkommt.47 Diese innere Attributionsanalogie unterscheidet sich von der Aristotelischen pros henEinheit in folgenden Punkten: Zum einen ist die Substanz in einer bestimmten Weise Ursache für die Akzidentien.48 Zum anderen wird diese Ursächlichkeit in einem platonischen Sinn als graduelle Anteilgabe am eigenen Wesen gedacht, was zu einer inneren Gemeinsamkeit oder Ähnlichkeit zwischen Ursache und Wirkung führt. Das Sein, das durch die primäre Instanz verursacht wird, wird in Graden oder Abstufungen den sekundären Instanzen zugeteilt und kommt diesen dadurch intrinsisch zu.49
46 Hierzu W. Pannenberg, Analogie und Offenbarung. Eine kritische Untersuchung zur Geschichte des Analogiebegriffs in der Lehre von der Gotteserkenntnis, Göttingen 2007, 93ff. (= Analogie und Offenbarung). 47 In I. Sent. d. 19 q. 5. An der entsprechenden Stelle im Sentenzenkommentar unterscheidet er zwischen drei Weisen, in denen etwas analog ausgesagt werden kann. (1) Gemäß dem Begriffsgehalt allein und nicht gemäß des Seins (secundum intentionem tantum et non secundum esse): Das ist die äußere Attribution, in welcher derselbe Begriff in analoger Weise von der ersten Instanz (nämlich wesentlich) und der zweiten (nämlich nur in Relation) ausgesagt wird, während das Sein, das durch den Begriff bezeichnet wird, nur in der ersten Instanz verwirklicht ist. (2) Gemäß dem Sein und nicht gemäß dem Begriffsgehalt (secundum esse et non secundum intentionem): Das ist der Fall, wenn verschiedene Dinge in einem gemeinsamen Begriff übereinkommen. Das ist die von Thomas für das Gott-Welt-Verhältnis abgelehnte analogia inaequalitatis oder analogia multorum ad unum, die eine Weise der Univokation darstellt. (3) Gemäß dem Begriffsgehalt und dem Sein (secundum intentionem et secundum esse). Das ist der Fall, wenn Dinge weder in einem gemeinsamen Begriff übereinkommen, dieser also in unterschiedlicher Weise von ihnen ausgesagt wird und das Sein ihnen in jeweils unterschiedlicher Weise zukommt, wie etwa der Substanz und dem Akzidens. Sie unterscheiden sich gemäß größerer oder geringerer Vollkommenheit. Die analoge Verschiedenheit betrifft also hier sowohl den Begriffsgehalt als auch das ihm zugrundeliegende Sein. Von der Substanz und dem Akzidens wird das Sein in jeweils anderem Sinne ausgesagt und diesen verschiedenen Sinnen entsprechen verschiedene Realisationen des Seins in ihnen. 48 Vgl. schon princ. nat. cap. 6: „Sicut tamen substantia est causa ceterorum…“ 49 Für die Annahme von Seinsgraden vgl. Quaestiones disputatae de veritate q.1, a.1. Auch in seinem Kommentar zu Met. IV 2 spricht Thomas von verschiedenen modi essendi, die sich in verschiedenen Abstufungen von der Substanz entfernen bis hin zur Negation und Privation als dem esse debilissimum: „Sciendum tamen quod praedicti
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Thomas greift später auf diese innere Attributionsanalogie50 zurück, um die Frage zu klären, wie etwas von Gott und den Geschöpfen ausgesagt werden kann. „So ergibt sich also aus dem Gesagten, daß das, was von Gott und von den anderen Dingen gesagt wird, weder univok noch äquivok, sondern analog ausgesagt wird, d.h. im Sinne der Hinordnung und der Beziehung auf eines. Dies ist auf zweifache Weise möglich. Erstens, insofern vieles in Beziehung auf eines steht (secundum quod multa habent respectum ad aliquid unum), wie beispielsweise in Beziehung auf die eine Gesundheit das Lebewesen gesund genannt wird als ihr Träger, die Medizin als das sie Bewirkende, die Speise als das sie Erhaltende und der Urin als ihr Zeichen. Zweitens, insofern nicht die Hinordnung oder die Beziehung von zweien auf ein anderes ins Auge gefaßt wird, sondern auf eines von ihnen selbst (non ad aliquid alterum, sed ad unum ipsorum), wie beispielsweise ‚seiend‘ von der Substanz und vom Akzidens ausgesagt wird, weil das Akzidens eine Beziehung auf die Substanz hat, nicht aber, weil Substanz und Akzidens auf etwas Drittes bezogen wären. Derartige Namen werden also von Gott und den anderen Dingen nicht nach der ersten Weise ausgesagt – sonst müßte man etwas Früheres als Gott annehmen – sondern nach der zweiten Weise“ (ScG I 34; Übers. Albert/Engelhardt).51
Wenn also das Verhältnis zwischen Gott und den Kreaturen mit einer intrinsischen Attribution – im Sinne des Typs non ad aliquid alterum, sed ad unum ipsorum– gedeutet wird, dann bleibt dadurch zum einen der Eigenstand des endlich Seienden gegenüber Gott bewahrt: Auch wenn die Kreaturen ihr Sein bloß empfangen haben, sind auch sie im eigentlichen Sinn und nicht bloß aufgrund einer äußeren Beziehung zum primär Seienden. Gott, der das Sein selbst ist, teilt den Geschöpfen das Sein auf eine Weise zu, in der sie dieses in einer intrinsischen Weise vollziehen und somit trotz ihrer Abhängigkeit einen (relativen) Eigenstand besitzen. Zum anderen wird auf der Grundlage dieser Ähnlichkeit eine positive Gotteserkenntnis möglich, indem man von der Verfassung der Wirkungen52 auf die Ursache zurückschließen kann53: Trotz unseres endlichen modus significandi treffen unsere Prädikate, mit denen wir Vollkommenheiten bezeichnen, auf Gott zu, auch wenn dadurch natürlich nicht sein Wesen erfaßt werden kann.54 modi essendi ad quatuor possunt reduci. Nam unum eorum quod est debilissimum, est tantum in ratione, scilicet negatio et privatio“ (In IV Met., lect. 1, n. 540). 50 Hierzu genauer Pannenberg, Analogie und Offenbarung, 115. 51 Auf den skizzierten Unterschied zwischen einer Analogie multorum ad unum und einer Analogie unius ad alterum können wir hier nicht näher eingehen. Entscheidend ist hier nur, daß Thomas erstere für das Gott-Welt-Verhältnis ausschließt, da man dann etwas Früheres als Gott annehmen müßte. 52 Hier muß natürlich vorausgesetzt werden, daß es sich nicht um bloß ‚akzidentelle Wirkungen‘ handelt. 53 Hierzu Pannenberg, Analogie und Offenbarung, 118. 54 Vgl. ScG I 30: „Die [Namen] aber, die geschöpfliche Vollkommenheiten in der Weise des Überragens ausdrücken, in der sie Gott zukommen, werden allein von Gott ausgesagt, wie ‚das höchste Gute‘, ‚das erste Seiende‘ und anderes dergleichen. Ich sage
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Es ist hier nicht zu übersehen, daß im Hintergrund dieser inneren Attributionsanalogie das Kausalmodell von Alpha elatton steht, wo unter verschiedenen Dingen, denen eine bestimmte Eigenschaft zukommt, dasjenige die Ursache ist, dem diese Eigenschaft im höchsten Maße zukommt. Das prominenteste Beispiel für Thomas’ Rückgriff auf dieses Modell ist der vierte Weg: „Was aber innerhalb einer Gattung das Wesen der Gattung am reinsten verkörpert, das ist die Ursache alles dessen, was zur Gattung gehört, wie z.B. das Feuer nach Aristoteles als das Wärmste die Ursache aller warmen Dinge ist. So muß es auch etwas geben, das für alle Wesen Ursache ihres Seins, ihres Gutseins und jedweder ihrer Vollkommenheiten ist: und dieses nennen wir Gott“ (S.Th. I, q. 2, a. 3).55 Dieses Modell sichert den Kreaturen ihr intrinsisches Sein und verhindert einen Monismus. Aber so wie die orthodox interpretierte pros hen-Einheit (als attributio extrinseca) zu einer Äquivokation und damit zu einem Monismus tendiert, weil Gott das einzig eigentlich Seiende ist, so tendiert die um das Kausalmodell von Alpha elatton angereicherte intrinsische Attribution zu einer Univokation und damit zu einer Einebnung des Unterschieds zwischen Gott und Geschöpf. Die intrinsische Attribution muß also ständig vor der Gefahr der Univokation geschützt werden. Daß sich Thomas dieser Gefahr sehr wohl bewußt ist, zeigt sich sehr deutlich in seinem Metaphysik-Kommentar, wo er sagt, daß Aristoteles gerade deshalb (in Alpha elatton) den Begriff der Synonymität oder Univokation in Spiel gebracht habe, weil es daneben auch Fälle gebe, wo die Wirkung nicht an eine Ähnlichkeit der Ursache heranreiche wegen der Exzellenz der Ursache selbst.56 Genau dieser besondere Fall des Verhältnisses von Ursache und Wirkung spielt für Thoaber, daß einige der genannten Namen eine Vollkommenheit ohne Mangel in Bezug auf das besagen, zu dessen Bezeichnung der Name gegeben wurde; in Bezug auf die Weise des Bezeichnens (ad modum significandi) ist indessen jeder Name mit Mangel behaftet. Denn durch den Namen drücken wir die Dinge in der Weise aus, in der wir sie mit dem Verstande begreifen. Unser Verstand aber, dessen Erkennen bei den Sinnen beginnt, übersteigt nicht die Weise, die sich bei den sinnenfälligen Dingen findet […] Daher findet sich in jedem Namen, der von uns ausgesagt wird, in Bezug auf die Weise des Bezeichnens eine Unvollkommenheit, die Gott nicht anhaftet, obschon die bezeichnete Sache Gott in einer hervorragenden Weise zukommt, wie in den Namen ‚das Gutsein‘ und ‚das Gute‘ ersichtlich ist […] Es können also, wie Dionysius lehrt, diese Namen bezüglich Gottes bejaht oder verneint werden, und zwar bejaht wegen des Sinngehalts des Namens, verneint dagegen wegen der Weise des Bezeichnens“ (Übers. Albert/Engelhardt). 55 Vgl. auch ScG I 23: „Ein jegliches findet sich in der Ursache vorzüglicher (nobilius) als in der Wirkung. Gott aber ist die Ursache von allem. Also findet sich alles, was in ihm ist, auf vorzüglichste Weise (nobilissimo modo) in ihm.“ 56 In II Met., lect. 2, n. 293: „Facit autem mentionem de univocatione, quia quandoque contingit quod effectus non pervenit ad similitudinem causae secundum eamdem rationem specie, propter excellentiam ipsius causae.“
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mas’ Konzeption des Gott-Welt-Verhältnisses eine entscheidende Rolle.57 Thomas kombiniert hier das typisch Aristotelische Kausalverständnis, gemäß dem eine Ursache eine bestimmte Form, die in ihr aktual präexistiert, an die Wirkung mitteilt (vgl. Met. VII 7), wodurch eine Ähnlichkeit zwischen beiden zustande kommt, mit einem spezifisch (neu)platonischen Kausalverständnis, gemäß dem die Ursache immer ‚größer‘ sein muß als der Effekt.58 Zum einen stehen also Ursache und Wirkung in einem Verhältnis der Ähnlichkeit zueinander, zum anderen transzendiert in bestimmter Hinsicht die Ursache die Wirkung. Genau dieses spezifische Kausalverständnis ermöglicht es Thomas, am intrinsischen Sein der geschaffenen Dinge festzuhalten, ohne gleichzeitig die Transzendenz Gottes einebnen zu müssen. Das Kausalverhältnis ist ein Partizipationsverhältnis, in dem zwischen dem Anteilgebenden und dem Anteilnehmenden eine bestimmte reale Gemeinsamkeit besteht, dennoch aber das Anteilgebende dem Anteilnehmenden überlegen ist. Daß Gott das Sein von allem ist, heißt also nicht, daß Gott das esse formale aller Dinge wäre, also dasjenige Sein, durch das jedes Ding wie durch seine Form ist, denn dann wäre er „innerhalb von allem, geradezu etwas von allem“.59 Vielmehr ist er „wie eine Ursache […] die in keiner Weise von ihrer Wirkung abwesend ist“ in allen Dingen60; die geschaffenen Dinge haben also eine Ähnlichkeit mit dem göttlichen Sein 57 Vgl. ScG I 29: „Von hier aus kann auch darüber nachgedacht werden, wie sich in den Dingen Ähnlichkeit mit Gott finden läßt oder nicht. Wirkungen nämlich, die hinter ihren Ursachen zurückbleiben, kommen mit diesen nicht überein im Namen und im Sinngehalt (non conveniunt cum eis in nomine et ratione). Dennoch ist es notwendig, daß sich irgendeine Ähnlichkeit zwischen ihnen findet. Es gehört nämlich zur Natur des Wirkens, daß das Wirkende ein ihm Ähnliches wirkt, da ein jedes wirkt, insofern es wirklich ist. Darum findet sich die Form des Gewirkten irgendwie in der es übersteigenden Ursache, aber auf eine andere Weise und in einem anderen Sinn (secundum alium modum et aliam rationem), weshalb die Ursache eine äquivoke genannt wird. Die Sonne nämlich verursacht in den niederen Körpern Wärme, indem sie wirkt, insofern sie wirklich ist. Deswegen muß die von der Sonne erzeugte Wärme irgendeine Ähnlichkeit mit der Wirkkraft (virtus) der Sonne haben, durch die in diesen niederen [Körpern] die Wärme verursacht wird und auf Grund welcher Wärme, obschon nicht im selben Sinn, die Sonne warm genannt wird. Daher wird die Sonne allen den Dingen irgendwie ähnlich genannt, in denen sie ihre Wirkungen wirksam hervorruft. Dennoch ist sie wiederum ihnen allen unähnlich, insofern Wirkungen von dieser Art nicht auf dieselbe Weise Wärme und ähnliches besitzen, wie sie sich in der Sonne finden. Ebenso teilt auch Gott den Dingen ihre Vollkommenheiten zu und hat dadurch mit allen Ähnlichkeit und Unähnlichkeit zugleich“. Hierzu genauer N. Kretzmann, The Metaphysics of Theism. Aquinas’s Natural Theology in Summa contra gentiles I, Oxford 1997, 147–157. 58 Hierzu genauer A. C. Lloyd, „The Principle that the Cause is greater than its Effect“, Phronesis 21 (1976), 146–156. 59 ScG I 26: „…sed inter omnia, immo aliquid omnium.“ 60 ScG I 26: „…sed sicut rei causa quae nullo modo suo effectui deest.“ Hierzu auch S.Th. I, q. 8, a. 1.
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durch und in seinen Wirkungen. Dieser Effekt ist das esse commune, das selbst nicht subsistiert.61 Die Partizipation der Geschöpfe am Sein Gottes ist somit eine durch das geschaffene esse commune vermittelte.62 Es hat sich gezeigt, daß Thomas in einem ganz anderen Problemkontext auf zwei bei Aristoteles unverbunden nebeneinander liegende Theoriestücke zurückgreift, nämlich die pros hen-Einheit und das Kausalverständnis von Alpha elatton, und diese auf eine spezifische Weise unter Rückgriff auf platonische Elemente miteinander verbindet. Es gelingt ihm so, zum einen die Seinsgemeinschaft der Dinge mit Gott zu sichern, zum anderen die Überlegenheit und Transzendenz Gottes gegenüber der Welt zu wahren.
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Es existiert als solches bloß im Intellekt (ScG I 26). Hierzu J. F. Wippel, The Metaphysical Thought of Thomas Aquinas. From Finite Being to Uncreated Being, Washington 2000, 116f. 62
Pros hen-Einheit und Analogie
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Sekundärliteratur Bell, I., Metaphysics as an Aristotelian Science, Sankt Augustin 2004 Code, A., „Aristotle’s Metaphysics as a Science of Principles“, Revue internationale de philosophie 51/3 (1997), 357–378. Ferejohn, M., „Aristotle on Focal Meaning and the Unity of Science“, Phronesis 25 (1980), 117–128. Frede, M., „The Unity of Special and General Metaphysics“, in: ders., Essays in Ancient Philosophy, Oxford 1987, 81–95. Gerson, L. P., Aristotle and Other Platonists, Ithaca/London 2005. Jaeger, W., Studien zur Entstehungsgeschichte der Metaphysik des Aristoteles, Berlin 1912. Kretzmann, N., The Metaphysics of Theism. Aquinas’s Natural Theology in Summa contra gentiles I, Oxford 1997. Lloyd, A. C., „The Principle that the Cause is greater than its Effect“, Phronesis 21 (1976), 146–156. Owen, G. E. L., „Logic and Metaphysics in Some Earlier Works of Aristotle“, in: I. Düring/G. E. L. Owen (Hgg.), Aristotle and Plato in the Mid-Fourth Century, Göteborg 1960, 163–190 (= Logic and Metaphysics). Dt. Übers.: ders., „Logik und Metaphysik in einigen Frühwerken des Aristoteles“, in: F.-P. Hager (Hg.), Metaphysik und Theologie des Aristoteles, Darmstadt 1969, 399–435. Owens, J., The Doctrine of Being in the Aristotelian ‘Metaphysics’. A Study in the Greek Background of Mediaeval Thought, Toronto 1951, 2. Aufl. 1963, 3. Aufl. 1978. Ders., Aristotle’s Gradations of Being in Metaphysics E–Z, Indiana 2007 (= Gradations of Being). Pannenberg, W., Analogie und Offenbarung. Eine kritische Untersuchung zur Geschichte des Analogiebegriffs in der Lehre von der Gotteserkenntnis, Göttingen 2007 (= Analogie und Offenbarung). Patzig, G., „Theologie und Ontologie in der Metaphysik des Aristoteles“, Kant-Studien 52 (1960/61), 185–205. ND in: ders., Gesammelte Schriften, Bd. 3, Göttingen 1996, 141–174 (= Theologie und Ontologie). Rapp, Chr., „Ähnlichkeit, Analogie und Homonymie bei Aristoteles“, Zeitschrift für philosophische Forschung 46 (1992), 526–544 (= Ähnlichkeit, Analogie und Homonymie). Ders., Vorsokratiker, München 1997 (= Vorsokratiker). Tugendhat, E., ȉǿ Ȁǹȉǹ ȉǿȃȅȈ. Eine Untersuchung zu Struktur und Ursprung aristotelischer Grundbegriffe, Freiburg/München 1958, 4. Aufl. 1988 (= Ti kata tinos). Ders., „Die sprachanalytische Kritik der Ontologie“, in: ders., Philosophische Aufsätze, Frankfurt am Main 1992, 21–35. Weidemann, H., Art. „pollachôs legomenon/in vielfacher Weise so genannt“, in: O. Höffe (Hg.), Aristoteles-Lexikon, Stuttgart 2005, 481–483. Wippel, J. F., The Metaphysical Thought of Thomas Aquinas. From Finite Being to Uncreated Being, Washington 2000.
Einheit und Vielheit bei Plotin Das Eine als absoluter Grund der Vielheit1 Jens Halfwassen
1. Die absolute Priorität des Einen ,,Alles Seiende ist durch das Eine seiend, sowohl das, was ein ursprünglich und eigentlich Seiendes ist, als auch dasjenige, was nur in einem beliebigen Sinne als vorhanden seiend bezeichnet wird. Denn was könnte es sein, wenn es nicht Eines wäre? Da ja, wenn man ihm die Einheit, die von ihm ausgesagt wird, nimmt, es nicht mehr das ist, was man es nennt“ (VI 9, 1, 1–4). Mit diesen Worten beginnt Plotins Programmschrift Über das Gute oder das Eine.2 Sie fassen die Grundlage seiner ,,Philosophie des Einen“ (VI 9, 3, 14),3 wie Plotin sein eigenes Denken ganz grundsätzlich charakterisiert, in der kürzesten Weise zusammen. Analysieren wir diese Grundlage darum etwas genauer.4 Sie besagt: Einheit ist die grundlegendste Bedingung für das Sein und die Denkbarkeit von allem. Was auch immer wir als seiend denken, wir denken es eben damit auch schon als eine Einheit. Wir können nämlich überhaupt nur solches denken, was in irgendeiner Weise Einheit ist; was in keiner Weise Eines ist, ist für das Denken nichts. Das hatte schon Parmeni1 Der vorliegende Aufsatz bietet eine Zusammenfassung dessen, was in Kapitel III (,,Metaphysik des Einen“) meines Buches: J. Halfwassen, Plotin und der Neuplatonismus, München 2004, 32–58 ausführlicher entwickelt ist. 2 Vgl. dazu den gründlichen Kommentar von P. Meijer, Plotinus on the Good or the One, Amsterdam 1992. 3 Vgl. dazu ausführlich J. Halfwassen, Der Aufstieg zum Einen. Untersuchungen zu Platon und Plotin, Stuttgart 1992, 2. Aufl. Leipzig/München 2006, 34–182 (= Aufstieg zum Einen) und ders., Hegel und der spätantike Neuplatonismus. Untersuchungen zur Metaphysik des Einen und des Nous in Hegels spekulativer und geschichtlicher Deutung, Bonn 1999, 2. Aufl. Hamburg 2005, 225–273 (= Hegel und der spätantike Neuplatonismus). Grundlegend ist W. Beierwaltes, Denken des Einen. Studien zur neuplatonischen Philosophie und ihrer Wirkungsgeschichte, Frankfurt am Main 1985 (= Denken des Einen). 4 Vgl. zum folgenden Halfwassen, Aufstieg zum Einen, 37ff.
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des ausgesprochen und Platon hatte es zur Grundlage seiner Philosophie gemacht.5 Er hatte das griechische Wort für Nichts (ouden) etymologisierend gedeutet als ,,das, was nicht einmal Eines ist“ (oude hen, mêde hen: Rep. 478b; vgl. Parm. 166c), was Plotin übernimmt (V 2, 1, 1). Was nicht Eines ist, ist nichts. Also ist alles, was ist, notwendig auch Eines, und zwar in der Weise, daß es eben darum ist, weil es Eines ist. Daß etwas ist, gründet darin, daß es Eines ist: Einheit ist also der Grund des Seins für alles Seiende. Aber nicht nur das. Auch was etwas ist, verdankt es seinem Charakter als Einheit. Denn wäre es nicht Eines, so wäre es nicht mehr das, was es jeweils ist. Was auch immer etwas ist, es ist dies nur, weil und insofern es Einheit ist. Es besitzt seine Bestimmtheit immer als einheitliche Bestimmtheit. Ohne Einheitscharakter wäre es unbestimmt; und das ganz und gar Unbestimmte ist weder etwas, noch ist es überhaupt, noch kann es gedacht werden. Einheit ist darum der Grund des Seins nicht nur im Sinne der Existenz, sondern ebenso im Sinne des Wasseins, des Wesens oder der Bestimmtheit für jedes bestimmte Seiende. Und das gilt für alle denkbaren Bestimmungen schlechthin. Denn Bestimmtheit ist überhaupt nur als Einheit denkbar. Darum ist Einheit drittens auch der Grund der Denkbarkeit aller Bestimmungen und des kraft seiner Bestimmtheit denkbaren Seienden. Weil Einheit der Grund alles überhaupt Denkbaren ist, darum ist auch das scheinbare Gegenteil des Einen, das Viele, sofern es gedacht werden kann, selber noch durch das Eine bedingt: ,,Denn wenn es nicht zur Einheit geworden ist, auch wenn es aus Vielem besteht, kann man auf keine Weise von ihm sagen, daß es ist“ (V 3, 15, 12–14). In der Tat denken wir das Viele immer schon und notwendig als Einheit, nämlich als eine geeinte Vielheit, das bedeutet, als ein einheitliches Ganzes, das aus vielen elementaren Einheiten aufgebaut ist, so daß der Gedanke des Vielen in doppelter Weise Einheit voraussetzt, nämlich sowohl die Einheit des Ganzen einer Vielheit als auch die Einheit jedes einzelnen ihrer Bestandteile (vgl. Platon, Parm. 157b–158b).6 Platon hatte am Schluß seines Parmenides gezeigt, daß eine radikal einheitslose Vielheit nicht gedacht werden kann, daß sie schlechthin nichts ist und darum auch nicht Vieles (165e–166c). Dem Einen kann somit nichts entgegengesetzt werden, weil auch die Vielheit selber nur als 5 Dazu bleibt grundlegend H. J. Krämer, Arete bei Platon und Aristoteles. Zum Wesen und zur Geschichte der platonischen Ontologie, Heidelberg 1959, 2. Aufl. Amsterdam 1967, bes. 487–551 (= Arete bei Platon und Aristoteles); vgl. ebenso Halfwassen, Aufstieg zum Einen, 183–405; ferner: G. Reale, Zu einer neuen Interpretation Platons. Eine Auslegung der Metaphysik der großen Dialoge im Lichte der ,,ungeschriebenen Lehren“, Paderborn 1993, Th. A. Szlezák, Die Idee des Guten in Platons Politeia, Sankt Augustin 2003 und J. Halfwassen, „Platons Metaphysik des Einen“, in: M. van Ackeren (Hg.), Platon verstehen. Themen und Perspektiven, Darmstadt 2004, 263–278. 6 Ebenso ex negativo Plotin V 6, 3, 1–22; dazu Halfwassen, Aufstieg zum Einen, 75ff.
Einheit und Vielheit bei Plotin
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Einheit denkbar ist, das Eine also immer schon voraussetzt. Als Grund der Denkbarkeit und Bestimmtheit von allem, auch der Vielheit, ist das Eine also gegensatzlos oder übergegensätzlich. Als das aus jedem Gegensatz Herausgenommene ist es das Absolute (apolyton: VI 8, 20, 6). Ich trete hier einen Schritt zurück und frage nach der Tragfähigkeit dieser Argumentation: Daß alles, was gedacht werden kann, nur als Einheit gedacht werden kann, weil alles Denkbare bestimmt sein muß und Bestimmtheit nur als Einheit möglich ist, kann niemand bestreiten. Diese Einsicht kann aber verschieden interpretiert werden. Daß Einheit darum, weil sie die Bedingung allen Denkens ist, zugleich auch der Ursprung des Seins, also der Existenz und des Wesens alles Seienden sein muß, wie Plotin annimmt, ergibt sich nur dann, wenn man voraussetzt, daß die Strukturen des Seins mit den Strukturen unseres Denkens fundamental übereinstimmen. Diese Einheit von Denken und Sein hatte Parmenides zum ersten Mal ausgesprochen (DK 28 B 3).7 Platon hatte sich auf sie berufen mit dem Satz: ,,das vollkommen Seiende ist vollkommen erkennbar, das schlechthin Nichtseiende dagegen schlechterdings unerkennbar“ (to men pantelôs on pantelôs gnôston, mê on de mêdamê pantê agnôston: Rep. 477a). Doch genau hier liegt vielleicht ein Einwand nahe. Man könnte, etwa von Kant her, argumentieren, Einheit sei zwar das oberste Prinzip unseres Verstandesgebrauchs, durch das wir die Wirklichkeit nach einheitlichen Gesichtspunkten ordnen, weil wir sie anders nicht erfassen können. Aus diesem subjektiven Einheitsbedürfnis unseres Denkens folge aber noch nicht, daß die Wirklichkeit auch an sich, unabhängig von unserem Denken, nach Einheitshinsichten geordnet sein müsse. Für Kant ist der letzte Einheitsgrund unserer Denkbestimmungen die Einheit des denkenden Ich selber, die Einheit der Subjektivität; das Selbstbewußtsein setzt in seinem Denken die Einheitshinsichten erst, durch die es die Mannigfaltigkeit der Welt, wie sie in der Anschauung gegeben ist, ordnet und begreift, es produziert also selbst die Einheitlichkeit seiner Bestimmungen und des in ihnen Gedachten durch subjektive Synthesis, so Kant. Einheit ist darum für Kant ein nur subjektives Prinzip, nicht der Ursprung des Seins. Interessanterweise stellt aber auch Plotin sich selber die Frage, ob nicht das Denken die Einheit, ohne die nichts gedacht werden kann, selbst erst hervorbringt: Wenn das Denken das uns in der Anschauung Gegebene, ,,obgleich es Vielheit ist, doch nicht Vielheit sein läßt, so macht es ir7
Vgl. dazu H.-G. Gadamer, „Zur Vorgeschichte der Metaphysik“ (zuerst 1950), in: ders. (Hg.), Um die Begriffswelt der Vorsokratiker, Darmstadt 1968, 364–390, bes. 384ff.; K. Bormann, Parmenides. Untersuchungen zu den Fragmenten, Hamburg 1971, 70ff. und 78ff.; J. Halfwassen, „Parmenides über die Einheit von Denken und Sein“, in: A. von der Lühe/D. Westerkamp (Hgg.), Metaphysik und Moderne. Festschrift für ClausArtur Scheier, Würzburg 2007, 129–146.
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gendwie auch hier die Einheit offenbar, entweder indem es selbst die Einheit verleiht, welche die Vielheit nicht hat, oder es führt, indem es mit seinem Scharfblick die in der Ordnung liegende Einheit erkennt, die Wirklichkeit des Vielen zur Einheit zusammen“ (VI 6, 13, 19–23). Plotin formuliert also klar die Alternative, die Einheitsvoraussetzung unseres Denkens entweder subjektiv zu interpretieren als eine Setzung des Denkens selber oder ontologisch als das Erfassen des Einheitscharakters des Seienden an sich, der sich in seiner Geordnetheit zeigt.8 Auch im zweiten Fall ist es aber noch das Denken, das den Einheitssinn der Ordnung heraushebt, so daß Plotin die Unüberspringbarkeit der Subjektivität, den Anteil des Denkens selber an unserer Einheitsvoraussetzung in keinem Fall bestreitet. Wie ist die Alternative zu entscheiden? Plotin gibt eine quasi-transzendentale Analyse der Bedingungen der Möglichkeit unseres Denkens. Diese sichert die Realitätshaltigkeit unserer grundlegenden Denkbestimmungen. Plotins Argumentation lautet folgendermaßen: Wenn wir nur denken können, indem wir Einheit schon voraussetzen, wobei sowohl das jeweils Gedachte als auch der es erfassende Denkakt (noêsis) selber Einheitscharakter besitzen müssen, dann kann das, was jeder beliebige Denkakt als einheitlicher immer schon voraussetzt, nicht selbst das Produkt des ihn voraussetzenden Denkaktes sein. Ein Einheit ursprünglich setzender Denkakt wäre vor seiner Einheitssetzung nicht einheitlich und damit gar nichts, also auch kein Denken. Das in jedem Denkakt als Bedingung seiner Möglichkeit vorausgesetzte Eine beruht darum nicht auf einer Setzung des Denkens selber, sondern geht allem subjektiven Einheitsvollzug des Denkens notwendig voraus: ,,Wenn es also nicht möglich ist, irgendetwas zu denken ohne das Eine ..., wie könnte dann dasjenige nicht sein, ohne welches es unmöglich ist, etwas zu denken oder anzusprechen? Denn es ist unmöglich, von demjenigen zu sagen, daß es nicht sei, bei dessen Nichtsein man gar nichts mehr zu denken oder zu sagen vermag; sondern das, was in allen Fällen nötig ist für das Zustandekommen eines jeden Denkaktes (noêsis) und eines jeden Gedankeninhalts (logos), muß sowohl dem Gedankeninhalt als auch dem Denkakt vorausgehen (pro[h]yparchein), denn nur so kann es für ihr Zustandekommen herangezogen werden“ (VI 6, 13, 43–49). Das Einheitsbedürfnis unseres Denkens selbst erweist also das Eine als die Bedingung all unseres Denkens und Setzens, mit deren Aufhebung das Denken selbst aufgehoben wäre; das Eine ist keine Setzung unseres Denkens, weil jeder Denkakt selber nur unter Vor-
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Vgl. dazu H. J. Krämer, Der Ursprung der Geistmetaphysik. Untersuchungen zur Geschichte des Platonismus zwischen Platon und Plotin, Amsterdam 1964, 2. Aufl. 1967, 424ff. und K. Flasch, Die Metaphysik des Einen bei Nikolaus von Kues, Leiden 1973, 116ff. (= Metaphysik des Einen).
Einheit und Vielheit bei Plotin
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aussetzung des Einen möglich ist.9 Das Eine ist darum ursprünglicher als das Denken, also dessen Prinzip; durch sein Einheitsbedürfnis findet das Denken in sich selbst die Notwendigkeit, sich sein Prinzip immer schon vorauszusetzen. Die logisch-noematische Priorität des Einen vor dem Einheit immer schon voraussetzenden Vollzug des Denkens sichert für Plotin die ontologische Gültigkeit unseres denkenden Einheitsvorgriffs. Weil das Eine auch von jedem denkbaren Seinsgehalt immer schon vorausgesetzt wird, ergibt sich damit zugleich die ontologische Prioriät des Einen vor dem Sein, die das Eine als das Prinzip des Seins erweist: ,,Wenn es aber auch nötig ist für das Zustandekommen eines jeden Seins (denn nichts ist seiend, was nicht Eines ist), so muß es auch vor dem Sein vorhergehen und erzeugt erst das Sein“ (VI 6, 13, 50f.). Als Grund des Seins und des Denkens geht das Eine beiden voraus. Diese absolute Priorität des Einen zeigt sich auch daran, daß wir zwar alles Seiende und auch das Sein selbst nur als Einheit denken können, daß wir aber keineswegs das Eine immer schon mit dem Sein verbunden denken müssen. Wir können nämlich durchaus auch Nichtseiendes denken. So denken wir zum Beispiel das Nichtsein als das vom Sein Verschiedene, das Werden als die Mitte zwischen Sein und Nichts und sogar das Nichts selber als den vollständigen Mangel an Sein; und dabei denken wir Nichtsein, Werden und Nichts jeweils als einheitliche Bestimmungen. Dagegen können wir nichts denken, ohne es zugleich als Einheit zu denken. Das Eine ist also ursprünglicher als das Sein, wie es auch ursprünglicher als das Denken ist. Das Eine ist somit das in und vor allem Sein wie in und vor allem Denken vorausgesetzte Unbedingte (anhypotheton: Platon, Rep. 511b), das Absolute, das sich nicht wegdenken läßt.
2. Henologische Reduktion und absoluter Ursprung Wenn Vielheit der Gegenbegriff zum Einen ist, dann bildet das Verhältnis von Einheit und Vielheit das Fundament unseres Denkens und aller seiner Bestimmungen, also auch das Fundament des Seins; es ist ursprünglicher als der Gegensatz von Sein und Nichtsein. Platon hatte in dem Einen und
9 Vgl. schon das Resümee von Flasch, Metaphysik des Einen, 339: ,,Definiert man ,Transzendentalphilosophie‘ einseitig nur nach dem Gesichtspunkt der Produktivität des Denkens, dann zeigt Cusanus – wie schon Plotin – die Unhaltbarkeit dieser technomorphen Vorstellung vom Denken: Wenn das abstrahierende, rationale Denken auch ein Setzen ist, so ist die Theorie dieses Setzens nicht wiederum ein ebensolches Setzen. Noch weniger ist die Erkenntnis des in aller Synthesis vorausgesetzten Einen ein nur produktives Synthetisieren ... unsere Erkenntnis von ihm ist ein Voraussetzen im Setzen.“
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der Vielheit die letzten und ursprünglichsten Prinzipien gesehen.10 Weil aber Vielheit selber nur als Einheit möglich und denkbar ist, setzt sie das Eine immer schon voraus, dieses umgekehrt aber nicht das Viele. Das Verhältnis von Einheit und Vielheit ist also fundamental asymmetrisch, und aus dieser Asymmetrie gewinnt Plotin das Motiv des Aufstiegs und den Gedanken der Transzendenz des absoluten Einen, die seine gesamte Philosophie bestimmen. Das Verhältnis von Einheit und Vielheit bestimmt die ontologische Struktur, die für alles Seiende grundlegend ist, gleichgültig, ob es sich um intelligibles und ewiges Seiendes handelt oder um sinnenfällig erscheinendes und veränderliches. Alles Seiende ist nur, weil und insofern es Einheit ist. Aber schon dadurch, daß es zugleich seiend und Eines ist, ist es eine Zweiheit, also Vielheit (vgl. Platon, Parm. 142bff.). Da Vielheit aber selber nur als geeinte Vielheit möglich ist, das Einheitverleihende Eine also immer schon voraussetzt, darum sind das Eine und die Vielheit als die Prinzipien des Seienden nicht gleichursprünglich und gleichmächtig, sondern das Eine ist als Grund aller Vielheit das einzige absolute Prinzip, der Ursprung von allem (archê pantôn: VI 9, 5, 24). Plotin kommt so zu seiner monistischen Deutung der Prinzipienlehre Platons mit ihrer alles Seiende bestimmenden Bipolarität von Einheit und Vielheit (vgl. V 1, 5, 6ff.).11 Als Grund aller Vielheit transzendiert das Eine notwendig die Vielheit. Dieser Gedanke ist für Plotin zentral. Er begründet ihn ausführlich. Wenn das Eine alle Vielheit begründet, kann es nicht als Es selbst, als das Eine, in der Vielheit anwesend sein und in dieser Anwesenheit aufgehen. Das Eine hält zwar durch seine Gegenwart das Viele im Sein, kann aber in dieser Gegenwart bei dem Vielen nicht aufgehen, sondern muß darüber hinaus als Einheit für sich bleiben, jenseits der Vielheit. Denn sonst wäre es durch seine Immanenz im Vielen auch selber Vielheit; es wäre in die Vielheit zerteilt, wäre also nicht mehr das Eine und Einende, das die Vielheit zur Einheit zusammenhält und dadurch erst ermöglicht: ,,Denn nach dem Gesagten ist es nicht richtig, Jenes Eine in die vielen Dinge zu zerteilen, sondern man muß vielmehr die Vielheit der zerteilten Dinge auf das Eine zurückführen, und Jenes (das Eine) ist nicht herabgekommen zu diesen, sondern weil diese Dinge verstreut sind, erwecken sie in uns die Vorstellung, daß in derselben Weise wie diese Dinge auch Jenes Eine zerteilt sei, so als 10 Grundlegend dazu Krämer, Arete bei Platon und Aristoteles und K. Gaiser, Platons ungeschriebene Lehre, Stuttgart 1963, 2. Aufl. 1968. 11 Vermutlich trifft diese Deutung durchaus Platons eigene Intention, vgl. J. Halfwassen, „Monismus und Dualismus in Platons Prinzipienlehre“, Bochumer Philosophisches Jahrbuch für Antike und Mittelalter 2 (1997), 1–21; auch in: Th. A. Szlezák (Hg.), Platonisches Philosophieren. Zehn Vorträge zu Ehren von Hans Joachim Krämer, Hildesheim 2001, 67–85.
Einheit und Vielheit bei Plotin
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wollte man das Bewältigende und Zusammenhaltende in gleiche Teile zerlegen wie das Bewältigte“ (VI 4, 7, 3–9). Der Grund kann also selber nicht mehr die Charaktere des Begründeten haben.12 Als Ursprung der Vielheit ist das Eine selber keine Vielheit mehr, sondern es begründet die Vielheit gerade dadurch, daß es als Einheit selber jenseits der Vielheit Es selbst bleibt. Der Grund bleibt also dem Begründeten immer transzendent, und er ist gerade kraft seiner Transzendenz Grund und Ursprung: ,,So ist es denn gar kein Wunder – oder ist es gerade ein Wunder? –, wie die Vielheit des Lebens aus der Nicht-Vielheit stammt und wie die Vielheit nicht dasein könnte, wenn es nicht das vor der Vielheit gäbe, das Nicht-Vielheit ist. Denn der Ursprung zerteilt sich nicht auf das Ganze; denn zerteilte er sich, so würde er damit das Ganze vernichten, und dieses würde auch nicht von neuem entstehen können, wenn der Ursprung nicht in seiner Andersheit für sich selbst bliebe“ (III 8, 10, 14–19). Aus der Transzendenz des Einen über das Viele, kraft der es Ursprung des Vielen ist, ergibt sich die Plotins Philosophie im ganzen bestimmende Aufstiegsbewegung. Sie vollzieht sich als henologische Reduktion:13 ,,Deshalb führt denn auch die Zurückführung überall auf ein Eines. Und bei jedem einzelnen gibt es ein Eines, auf das man es zurückführen kann, auch dieses All auf das vor ihm liegende Eine, das aber noch nicht einfachhin Eines (haplôs hen) ist, bis man bei dem einfachhin Einen ankommt; dieses aber läßt sich nicht mehr auf ein anderes zurückführen. Wenn man nun dieses Eine – das heißt eben den in sich bleibenden Ursprung – bei der Pflanze und das Eine beim Lebewesen, das Eine bei der Seele und das Eine beim All ins Auge faßt, so hat man jedesmal das Machtvollste und das eigentlich Wertvolle“ (III 8, 10, 20–26).14 Die henologische Reduktion vollzieht sich also in drei Stufen: 1. Von den Einzelerscheinungen zu den Ideen. 2. Von der Welt als Einheit aller Erscheinungen zum seienden Einen als der Einheit aller Ideen. 3. Vom seienden Einen zum absoluten Einen, das absolut vielheitslos und darum keiner weiteren Rückführung mehr fähig ist.
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Das hatte Platon als erster in aller Grundsätzlichkeit ausgesprochen: Symp. 211b, Rep. 509b, Test. Plat. 50 und 52; ferner Phaidr. 245d, Tim. 37d, 42e. Speusipp formuliert ganz in diesem Sinne: ,,Der Urgrund ist niemals von derselben Art wie das, dessen Urgrund er ist“ (tên de archên mêdepô einai toiautên hoia ekeina hôn estin archê, Fr. 72 Isnardi Parente). 13 Vgl. dazu Halfwassen, Aufstieg zum Einen, 53ff.; ders., Hegel und der spätantike Neuplatonismus, 231ff. 14 Ich folge dem Text von Theiler: Plotins Schriften. Übersetzt von R. Harder. Neubearbeitung mit griechischem Lesetext und Anmerkungen, fortgeführt von R. Beutler und W. Theiler, 6 Bände in 12 Teilbänden, Hamburg 1956–1971, hier: Band III 8, 28.
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(1) Von der erscheinenden Vielheit der einzelnen Dinge führt der erste Schritt zu der sie begründenden Einheit ihrer jeweiligen Idee,15 in Plotins Beispiel: von den vielen Pflanzen zu der Idee der Pflanze, dem ,,Einen der Pflanze“. Immer dann, wenn das Denken in einer Vielheit die Einheit einer gemeinsamen Bestimmung erkennt, muß es eine Idee über dieser Vielheit als transzendenten Grund der Einheit in der Vielheit ansetzen (vgl. Aristoteles, Über die Ideen, Fr. 3 Ross).16 (2) Einheit in der Vielheit ist aber nicht nur die grundlegende Verfassung jedes einzelnen Seienden. Schon dadurch, daß diese Verfassung allem Seienden gemeinsam ist, schließt sie die Gesamtheit alles besonderen Seienden zu einer Einheit zusammen, die wiederum eine Einheit in der Vielheit ist, nämlich die Einheit der Welt oder des Universums (pan), des Weltganzen. Die Einheit des Weltganzen setzt als Einheit in der Vielheit wiederum einen transzendenten Einheitsgrund voraus. Dieser Einheitsgrund des Weltganzen ist keine besondere Idee mehr, sondern das alle einzelnen Ideen umfassende Ganze aller Ideen, der Ideenkosmos, den Platon im Parmenides (142bff.) das ,,seiende Eine“ (hen on) genannt hatte; es ist die Totalität aller Ideen so wie die Welt die Totalität der Erscheinungen ist (Tim. 30cff.; vgl. 92c). (3) Der Charakter als Einheit in der Vielheit bestimmt aber ebenso auch die Ideen und das seiende Eine als Ideentotalität. Zwar ist jede Idee eine Einheit, aber sie ist keine einfache, schlechthin vielheitslose Einheit, sondern enthält als definierbare Wesenheit eine Mehrheit von Wesensmomenten in sich, die in ihrer Definition angegeben werden, so enthält z. B. die Idee der Gerechtigkeit die Ideen der Weisheit, der Tapferkeit und der Besonnenheit in sich; als Einheit der Vielheit ihrer Wesensmomente ist jede Idee Zahl (vgl. VI 6).17 In diesem Sinne ist auch jede Idee eine ,,Einheit aus Vielem“ (hen ek pollôn): nämlich die Einheit des vollständigen Ganzen ihrer Momente, wie Platon sie im Parmenides bestimmt hatte (157c–e). Erst recht gilt das für das seiende Eine als Totalität aller Ideen. Es ist zwar als allumfassende Einheit des Seinsganzen eine höhere Einheit als jede besondere Idee. Aber es enthält alle besonderen Ideen als seine Momente in sich und ist darum wie jede Idee eine Einheit, die Vielheit in sich hat. 15
Vgl. Platon, Rep. 476a, 479a, 507b, 596a; Parm. 131bc, 132aff., 133b, 135bff.; Phileb. 15ab. Aristoteles bestimmt die Idee im Sinne Platons darum als ,,Eines über der Vielheit“ (hen epi pollôn, Met. 990b7. 13, 1079a3. 8; An. post. 77a5). 16 Übersetzt bei A. Graeser, „Aristoteles, Peri ideôn. Über die Ideen-Beweise der Akademiker. Übersetzt von Andreas Graeser“, Bochumer Philosophisches Jahrbuch für Antike und Mittelalter 3 (1998), 121–143, hier: 127f. 17 Vgl. dazu Chr. Horn, Plotin über Sein, Zahl und Einheit. Eine Studie zu den systematischen Grundlagen der Enneaden, Stuttgart/Leipzig 1995, 149ff. und schon K.-H. Volkmann-Schluck, Plotin als Interpret der Ontologie Platos, Frankfurt am Main 3. Aufl. 1966, 148ff.
Einheit und Vielheit bei Plotin
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Als Einheit mit immanenter Vielheit oder ,,Viel-Einheit“ (hen polla: Platon, Parm. 144e5; von Plotin oft zitiert, z. B. V 1, 8, 26) setzt darum auch das seiende Eine noch einen transzendenten Grund seiner eigenen Einheit voraus. Als Ideentotalität ist das seiende Eine die Einheit des Ganzen schlechthin, außer dem nichts seiend ist, die All-Einheit (hen panta: III 6, 6, 23; V 3, 15, 23). Der Grund seiner Einheit ist darum das absolut oder einfachhin Eine, das als reine Einheit absolut vielheitslos ist und damit weiterer Begründung weder bedarf noch fähig ist.
3. Transzendenz und Negativität des Absoluten Den absoluten Ursprung, bei dem der Aufstieg endet und hinter den nicht mehr zurückgegangen werden kann, beschreibt Plotin folgendermaßen: ,,Das absolut Erste nämlich muß ein schlechthin Einfaches sein, das vor und über allem ist, verschieden von allem, was nach Ihm ist, das rein für sich selbst ist, nicht vermischt mit dem, was von Ihm stammt, und dabei doch in anderer Weise wieder fähig, allem anderen beizuwohnen, das wahrhaft und absolut Eines ist und nicht zunächst etwas anderes und dann erst Eines, von dem schon die Aussage falsch ist, daß Es Eines ist, von dem es ,keine Aussage und keine Erkenntnis‘ [Platon, Parm. 142a] gibt und von dem deshalb auch gesagt wird, daß Es ,jenseits des Seins‘ [Platon, Rep. 509b] ist. Denn wenn Es nicht absolut einfach wäre, jenseits aller Bestimmtheit und aller Zusammengesetztheit, und wahrhaft und absolut Eines, wäre Es nicht der Ursprung (archê); erst dadurch, daß Es absolut einfach ist, ist Es das von Allem absolut Unabhängige (autarkestaton hapantôn) und so das absolut Erste“ (V 4, 1, 5–13).18 Das Absolute ist das absolut Einfache (pantê haploun: V 3, 11, 27). Denn alles nicht schlechthin Einfache, also jede Einheit, die in irgendeiner Weise noch Vielheit in sich enthält, setzt das absolut Einfache als seinen Ursprung voraus, von dem es abhängig ist, weil jede in Vielheit eingeschränkte Einheit nur kraft der absoluten reinen Einheit selbst überhaupt Einheit ist. Die reine Einheit, die als absolute Einfachheit jede Form von Vielheit strikt von sich ausschließt, ist somit das reine Wesen des Absoluten. Absolute Einfachheit bedeutet das Herausgenommensein aus jeder Vielheit, auch aus jeder nur begrifflichen Vielheit, und damit den Ausschluß jedweder ontologischen Struktur, die immer eine begriffliche Zusammensetzung impliziert. Sie bedeutet damit das Herausgenommensein aus schlechthin jeder Bestimmtheit. Denn jedes bestimmte Etwas läßt sich 18 Vgl. dazu Halfwassen, Hegel und der spätantike Neuplatonismus, 258ff.; ders., Aufstieg zum Einen, 61ff.; zur Platonanknüpfung Th. A. Szlezák, Platon und Aristoteles in der Nuslehre Plotins, Basel/Stuttgart 1979, 54ff.
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auseinanderlegen in das Bestimmte und seine Bestimmtheit, und weist damit bereits eine Zusammensetzung auf, eine ontologische Struktur als den Zusammenhang einer Mehrheit zumindest begrifflich unterscheidbarer Momente. Die absolute Einfachheit des Einen selbst schließt darum jede Bestimmtheit und jede Struktur von ihm aus. Damit ist zugleich jede Bezüglichkeit des Absoluten in sich selbst oder zu anderem ausgeschlossen; denn jede Beziehung zu sich selbst oder zu anderem setzt einen mindestens begrifflichen Unterschied der Relata voraus. Weil jede Bestimmung das Bestimmte zu sich selbst oder zu anderem in Beziehung setzt, ist das absolut Einfache absolut bestimmungslos, also nicht nur für uns unbestimmbar, sondern an und für sich selbst jenseits aller Bestimmtheit. Die reine Einfachheit selbst ist darum auch nicht die Bestimmung des Absoluten, sondern richtig verstanden die absolute Negation aller Bestimmtheit (V 6, 6, 26ff.). In der als Negation aller Bestimmtheit richtig verstandenen absoluten Einfachheit aber liegt die reine Transzendenz des Absoluten: Durch seine reine Einfachheit ist das Absolute herausgenommen aus Allem schlechthin, also ,,jenseits von Allem“ (epekeina pantôn: V 1, 6, 13). Dies zum Ausdruck zu bringen, ist der Sinn der negativen Henologie Plotins. Plotin rekurriert damit auf die negative Dialektik der ersten Hypothesis in Platons Parmenides (137c–142a).19 Platon versucht dort, das Eine als Es selbst in seiner Absolutheit zu denken. Betrachtet man das Eine nur in sich selbst, dann ist es nichts als das Eine selbst. Weil es absolut frei von jeder Vielheit ist, weist es jede denkbare Bestimmung strikt von sich ab: Es selbst ist darum weder ein Ganzes, noch hat es unterschiedene Momente, ist also ohne Anfang, Mitte und Ende und damit ohne bestimmende Grenzen und insofern unendlich (apeiron),20 darum auch weder in sich selbst noch in einem anderen, also auch jenseits von Bewegung und Ruhe, jenseits von Identität und Verschiedenheit im Verhältnis zu anderem wie 19
Vgl. dazu den grundlegenden Artikel von E. R. Dodds, „The Parmenides of Plato and the Origin of the Neoplatonic ,One‘“, Classical Quarterly 22 (1928), 129–142 und die Monographie von J.-M. Charrue, Plotin. Lecteur de Platon, Paris 1978 sowie zur Vorgeschichte bei Speusipp J. Halfwassen, „Speusipp und die metaphysische Deutung von Platons ,Parmenides‘“, in: L. Hagemann/R. Gley (Hgg.), Hen kai plêthos – Einheit und Vielheit. Festschrift für Karl Bormann, Würzburg 1993, 339–373 und J. M. Dillon, „Plotinus, Speusippus and the Platonic Parmenides“, Kairos 14 (2000), 339–374. Zur metaphysischen Deutung des Parmenides und speziell der ersten Hypothesis im einzelnen Halfwassen, Aufstieg zum Einen, 265–405; generell Chr. Horn, „Der platonische ,Parmenides‘ und die Möglichkeit seiner prinzipientheoretischen Interpretation“, Antike und Abendland 41 (1995), 95–114. 20 Platon, Parm. 137d7f. Zur Unendlichkeit des Absoluten bei Platon und Speusipp vgl. J. Halfwassen, „Speusipp und die Unendlichkeit des Einen. Ein neues SpeusippTestimonium bei Proklos und seine Bedeutung“, Archiv für Geschichte der Philosophie 74 (1992), 43–73.
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im Verhältnis zu sich selbst, jenseits von Ähnlichkeit und Unähnlichkeit, Gleichheit und Ungleichheit und damit herausgenommen aus allen ontologischen Verhältnissen von Priorität und Posteriorität, die den Seinszusammenhang strukturieren, und so zuletzt jenseits des Seins schlechthin. Weil das Absolute in seiner reinen Transzendenz somit nicht ist, kann man von ihm nicht einmal sagen, daß es Eines ist, weil es als Eines-seiend eben auch seiend wäre, und damit schon Vielheit, nämlich die Zweiheit von Sein und Einheit (141e). Das Absolute ist also sowohl jenseits des Seins als auch jenseits des Einsseins. Auch die Benennung des Absoluten als ,,das Eine“ ist darum nur uneigentlich und metaphorisch, weil das Absolute nicht in der Weise Einheit ist, in der Seiendes positiven Einheitscharakter besitzt, nämlich als Bestimmung eines von der Einheit selbst begrifflich Unterschiedenen.21 Reine Einheit bedeutet vielmehr als Negation aller Bestimmtheit und allen Seins konsequenterweise auch die Verneinung jeder positiven Denkbarkeit als Einheit. Plotin betont das eigens: ,,Es ist auch nicht Seiendes, sonst würde auch hier das Eine nur von einem anderen ausgesagt, in Wahrheit kommt Ihm kein Name zu, wenn man’s denn aber benennen muß, so wird man Es passend gemeinhin ,das Eine‘ nennen, freilich nicht, als sei Es sonst etwas und dann erst das Eine“ (VI 9, 5, 30–33). Die Benennung als ,,das Eine“ soll uns anleiten, alle Vielheit und alle Bestimmtheit des Seins denkend zu transzendieren; sie zielt in Wahrheit auf das ,,Über-Eine“, auf das hindenkend das Denken sich selbst und seinen eigenen Einheitsgedanken übersteigen muß (VI 9, 6, 1–15). Das Absolute ist das Eine nicht in irgendeinem positiv bestimmbaren Sinne von Einheit, sondern nur in dem negativen Sinne, daß es jenseits aller Vielheit ist (V 5, 6, 24–34). So führt der Name des Einen, der dem Absoluten in seinem negativen Gehalt noch am ehesten angemessen ist, zu der Einsicht, daß das Absolute in Wahrheit unsagbar (arrêton) ist (V 3, 13, 1; vgl. Platon, 7. Brief 341c).22 Es gibt darum keine Bezeichnung, die dem Absoluten angemessen wäre; man kann überhaupt nichts von ihm aussagen, weil die duale Struktur der Prädikation, die immer etwas über etwas aussagt, die reine Einfachheit des Absoluten prinzipiell verfehlt. Wir können vom Absoluten nicht sagen, was es ist, sondern nur, was es nicht ist (V 3, 14, 6–8; VI 8, 8, 4–8), weil das Absolute überhaupt kein Was oder Etwas (ti) ist, sondern vor aller Washeit (V 3, 12, 51f.: pro tou ti). Wir haben vom Absoluten darum auch weder Erkenntnis noch Einsicht (V 3, 14, 2f.; VI 9, 4, 1f.); denn alle Erkenntnis (epistêmê, gnôsis) zielt immer auf das Was oder 21 Vgl. in diesem Sinn schon Aristoteles, Met. 987b23 (Test. Plat. 22 A) über das Eine bei Platon. 22 Vgl. dazu W. Beierwaltes, Selbsterkenntnis und Erfahrung der Einheit. Plotins Enneade V 3, Frankfurt am Main 1991, 149ff., 222ff. (= Selbsterkenntnis und Erfahrung der Einheit).
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das Wesen von etwas, und Einsicht (noêsis) – die höchste Form der Erkenntnis – erfaßt dieses Wesen intuitiv in einem einfachen Hinblick des Geistes. Dem Absoluten werden darum mit Bestimmtheit, Sein und Einheitscharakter zugleich Erkennbarkeit, Sagbarkeit und Benennbarkeit abgesprochen (Parm. 142a). Auch Grund und Ursprung ist das Absolute nicht an und für sich selbst, sondern nur für das entsprungene Andere und von diesem her: ,,Denn auch, wenn wir das Eine den Grund (aition) nennen, bedeutet das nicht, etwas Ihm, sondern etwas uns Zukommendes aussagen: daß wir nämlich etwas von Jenem her haben, während Es selbst in sich bleibt“ (VI 9, 3, 49–51).23 Die Ursprünglichkeit des Absoluten ist nicht seine Beziehung zur entsprungenen Wirklichkeit, sonderen deren Beziehung zum Absoluten, der keine Beziehung von Seiten des Absoluten selber entspricht. In diesem Sinne ist das Eine ,,Ursprung (archê) und doch auf andere Weise wieder nicht Ursprung ... denn man darf Jenen überhaupt nicht als zu irgendetwas in Beziehung stehend ansprechen“ (VI 8, 8, 9–13). Es ist ,,das Vorursprüngliche“ (to pro archês: V 5, 9, 7),24 wie Plotin mit gewollt paradoxer Wendung sagt. In genau dem gleichen Sinne hatte schon Platon dem Einen selbst in seiner Absolutheit die Verhältnisbestimmung als Prinzip oder Ursprung abgesprochen (Test. Plat. 50).25 Die absolute Transzendenz des Absoluten hatte Platon in der berühmten Formel zusammengefaßt, es sei ,,jenseits des Seins, an Ursprünglichkeit und Mächtigkeit über das Seins hinaus“ (epekeina tês ousias presbeia kai
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Vgl. K. Jaspers, „Plotin“, in: ders., Die großen Philosophen, Band 1, München/Zürich 1957, 3. Aufl. 1981, 656–723, hier: 669: ,,Es ist also ein ursächliches Verhältnis, in dem die Ursache nicht Ursache ist, sondern nur von der Folge her so erscheint. Es ist daher auch die Beziehung zu uns eine Beziehung, die keine Beziehung ist als nur eine von uns aus so gesehene.“ Vgl. auch W. Beierwaltes, Identität und Differenz, Frankfurt am Main 1980, 136ff.; Beierwaltes, Denken des Einen, 42; Halfwassen, Aufstieg zum Einen, 107ff. – Ursprung ist das Absolute für Plotin also nur in einem metaphorischen Sinne, wobei diese Metapher im Sinne Blumenbergs insofern eine absolute ist, als sie nicht durch den Begriff ersetzt werden kann und soll, sondern gerade in ihrer Uneigentlichkeit und Vorläufigkeit für das Unsagbare relativ ,,angemessen“ ist. Vgl. zu Plotins Metapherngebrauch R. Ferwerda, La signification des images et des métaphores dans la pensée de Plotin, Amsterdam/Groningen 1965 und W. Beierwaltes, „Plotins Metaphysik des Lichtes“, in: C. Zintzen (Hg.), Die Philosophie des Neuplatonismus, Darmstadt 1977, 75–117 (= Philosophie des Neuplatonismus) und generell H. Blumenberg, Paradigmen zu einer Metaphorologie, Frankfurt am Main 1998 (bes. 176ff.). 24 Nach der überzeugenden Konjektur von Theiler, Plotins Schriften, Bd. IIIa, 90. Vgl. die parallelen Formulierungen bei Marius Victorinus, Adv. Ar. I 3, 25 (,,praecausa“) und I 49, 28 (,,praeprincipium“) sowie bei Proklos, In Parm. 1210, 11 (proaition) und 1123, 37 (hyper aition). 25 Vgl. dazu Halfwassen, Aufstieg zum Einen, 282ff.
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dynamei hyperechontos: Rep. 509b; vgl. auch Test. Plat. 50).26 ,,Jenseits des Seins“ ist für Plotin der präziseste und umfassendste Ausdruck für die reine Transzendenz des Absoluten, weil ,,Sein“ nicht einfach eine Bestimmung neben anderen Bestimmungen ist, sondern zum einen die Grundlage aller weiteren Bestimmungen bildet und zum anderen den Inbegriff aller Bestimmtheit überhaupt darstellt; ,,jenseits des Seins“ bedeutet darum so viel wie ,,jenseits von Allem“.27 Denn was immer etwas auch ist, es kann dies nur sein, wenn es überhaupt ist; insofern ist das Sein die Grundlage jeder weiteren Bestimmung. Darüber hinaus bedeutet ,,Sein“ (ousia) im prägnanten Sinne nicht bloß, daß etwas ist und existiert, sondern meint die Fülle des Wesens, in der etwas ganz und gar das ist, was es eigentlich ist. Die letzte und eigentliche Erfüllung des Seins ist darum auch nicht eine besondere Wesenheit, sondern das seiende Eine als der Inbegriff der Seinsfülle schlechthin. In diesem Sinne ist das Sein die Totalität aller Bestimmtheit, der nichts – keine denkbare Bestimmung und kein denkbarer Seinsgrad – fehlt und über die hinaus nichts Erfüllteres gedacht werden kann (III 6, 6).28 Die Fülle des Seins, der Inbegriff aller Bestimmtheit, ist aber, wie schon deutlich wurde, nicht das Absolute; das seiende Eine ist nicht das Erste, sondern das Zweite nach dem Einen selbst. Dessen Transzendenz über das Sein bedeutet darum seine Transzendenz über die Totalität: ,,das Zweite ist schon Alles; und ist dieses Alles, so ist Jenes (das Absolute) jenseits von Allem: also jenseits des Seins“ (V 4, 2, 39f.). Daß das Sein nicht nur Fundament, sondern auch Inbegriff aller Bestimmtheit ist, hängt mit seiner Bestimmung als eidos zusammen. Eidos – was wörtlich ,,Anblick, Aussehen, Gestalt, Form“ bedeutet – meint die Bestimmtheit des Seins.29 Was keine Bestimmtheit des Wesens besitzt, ist darum auch kein Sein. Als Ursprung aller Bestimmtheit kann das Eine selbst aber kein Bestimmtes mehr sein und hat darum überhaupt keinen Seinscharakter. Gerade durch seine Transzendenz über alle Seinsbestimmtheit ermöglicht es Bestimmtheit und damit das Sein als das Ganze aller Bestimmtheit: ,,Da aber das ... Sein (ousia) Form (eidos) ist ... und zwar nicht eine bestimmte Form, sondern die Totalität aller Formbestimmtheit, so daß 26
Vgl. dazu H. J. Krämer, „Epekeina tês ousias. Zu Platon, Politeia 509 B“, Archiv für Geschichte der Philosophie 51 (1969), 1–30. 27 Vgl. dazu im einzelnen Halfwassen, Aufstieg zum Einen, 150ff., 258ff., 277ff., 392ff. 28 In diesem Seinsbegriff liegt der Keim zum ontologischen Gottesbeweis, vgl. J. Halfwassen, „Sein als uneingeschränkte Fülle. Zur Vorgeschichte des ontologischen Gottesbeweises im antiken Platonismus“, Zeitschrift für philosophische Forschung 56 (2002), 497–516. 29 Zu Struktur und geschichtlichem Profil dieses Begriffs vgl. H. J. Krämer, „Aristoteles und die akademische Eidoslehre. Zur Geschichte des Universalienproblems im Platonismus“, Archiv für Geschichte der Philosophie 55 (1973), 119–190.
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keine weitere Form mehr übrigbleibt, so muß Jenes (das Absolute) notwendig formlos (aneideon) sein. Als Formloses aber ist Es kein Sein; denn das Sein muß ein Dieses sein, und das bedeutet ein Bestimmtes. Jenes aber ist nicht mehr als ein Dieses zu fassen; denn dann wäre Es nicht mehr der Ursprung, sondern nur dasjenige, was man eben als ein Dieses angesprochen hat. Wenn nun alle Seinsgehalte in dem aus Jenem Entstandenen sind, als was von diesen willst du Jenes dann ansprechen? Wenn Es aber nichts von diesen ist, dann kann man Es nur als das Jenseits von diesen ansprechen. Diese aber sind das Seiende (ta onta) und das Sein (to on): Es ist also jenseits des Seins (epekeina ontos). Denn das ,Jenseits des Seins‘ meint nicht ein Dieses – denn es enthält keine Setzung (thesis) – und es ,gibt Ihm keinen Namen‘ [Platon, Parm. 142a], sondern es besagt nur: nicht dieses. Und indem es das tut, wird Jenes dadurch in keiner Weise umfaßt“ (V 5, 6, 1–14). Plotin macht hier deutlich, was absolute Transzendenz eigentlich meint:30 Sie bedeutet nicht, daß das Sein die eine Seite und das Eine als dessen jenseitiger Ursprung die andere Seite wäre, die zusammen erst das Ganze ergeben, sondern sie meint das, ,,was aus jeder Ganzheit herausgenommen ist und sie transzendiert“, wie Proklos später formuliert (In Parm. 1107, 32f.). Das Absolute läßt sich nicht mehr mit dem Sein in die gemeinsame Sphäre einer beide, das Sein und das Absolute, umfassenden Totalität zusammenfassen, sondern es transzendiert prinzipiell jeden Totalitätshorizont.31 Das Sein ist schon die Totalität dessen, was als bestimmt gedacht werden kann. Die Transzendenz des Absoluten über das Sein ist darum keine Bestimmung dessen, was das Absolute ist oder nicht ist, sondern gerade die Verneinung aller Bestimmtheit. Die Transzendenz enthält darum keine Setzung, d. h. sie ist nicht mehr positive Behauptung von etwas, sondern die Verneinung aller Gehalte; sie hat keinen über die Negation hinausgehenden begrifflichen Gehalt. Sie vollzieht die Verneinung aller denkbaren Gehalte aber so, daß sie dabei zugleich die Richtung angibt, in der die Verneinung zu verstehen ist: nämlich so, daß dem Absoluten das, was von ihm verneint wird, nicht etwa fehlt, sondern daß es darüber erhaben ist. Die Transzendenz ist also die Behauptung von etwas, das über alles, was sich denken und behaupten läßt, hinausgeht und darum auch kein etwas mehr ist. Sie ist eine Behauptung, die sich als Behauptung selbst zurücknimmt, um damit hinzuweisen auf das, was über jede positive Be30
Vgl. dazu Halfwassen, Hegel und der spätantike Neuplatonismus, 268ff. und ders., „Metaphysik und Transzendenz“, Jahrbuch für Religionsphilosophie 1 (2002), 13–27, hier: 20ff. 31 Grundlegend dazu G. Huber, Das Sein und das Absolute. Studien zur Geschichte der ontologischen Problematik in der spätantiken Philosophie, Basel 1955, 58ff. (= Das Sein und das Absolute).
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hauptung hinausgeht, auf das in Wahrheit schlechthin Unsagbare (V 3, 13, 1–6). Der semantische Gehalt der Transzendenzbehauptung, ihr Hinweischarakter auf das, was über alles hinaus ist, geht darum sehr wohl über die bloße Negation hinaus. Die Besonderheit der Transzendenzbehauptung besteht gerade darin, daß sich in ihr absoluter semantischer Überschuß und absolute begriffliche Negativität wechselseitig bedingen: die Verneinung von allem zielt auf das, was über alles hinaus und jenseits von allem ist, und was sich genau darum gar nicht anders ausdrücken läßt als durch die Verneinung alles dessen, worüber es hinaus ist.32 In genau diesem Sinne ist das Absolute das Nichts: ,,Es ist das Nichts alles dessen, dessen Ursprung Es ist, in dem Sinne jedoch, daß Es – da nichts von Ihm ausgesagt werden kann, nicht Sein (on), nicht Wesenheit (ousia), nicht Leben – das all diesem Transzendente ist“ (III 8, 10, 28–31).33
4. Ekstasis: Selbstüberstieg des Denkens Die absolute Transzendenz des Einen ist nicht nur Seinstranszendenz, sondern in einem damit auch Geisttranszendenz und Erkenntnistranszendenz:34 ,,Denn weil Es jenseits des Seins (epekeina ousias) ist, ist Es auch jenseits aller Tätigkeit (epekeina energeias) und jenseits des Geistes und des Denkens (epekeina nou kai noêseôs)“ (I 7, 1, 19f.). Daraus folgt zugleich: Das Eine selbst ,,denkt nicht“ (V 6, 2, 2); darum ,,erfaßt Es auch nicht sich selbst“ (III 9, 9, 12f.), ,,Es erkennt und denkt sich selbst nicht“ (VI 9, 6, 46), ,,Es weiß sich selbst nicht“ (V 6, 6, 31), sondern ist ,,erhaben auch über das Selbstbewußtsein (synaisthêsis) und jeden Denkakt“ (V 6, 5, 4f.). Aus der Transzendenz des Einen über den Geist und damit über jede Form des Denkens, des Erkennens und des Bewußtseins ergibt sich das Problem, 32
Proklos hat die Verbindung und wechselseitige Bedingung von absoluter begrifflicher Negativität und absolutem semantischem Überschuß in der Transzendenzbehauptung in einer eigenen Theorie als die besondere Bedeutung transzendierender Negation von anderen Negationstypen abgegrenzt; vgl. Theol. Plat. II 5 und dazu Halfwassen, Hegel und der spätantike Neuplatonismus, 417ff. und ders., Plotin und der Neuplatonismus, 158ff. – Weil er diese besondere Bedeutung der Negation im negativen Sprechen über das Absolute im Platonismus nicht beachtet, scheitert auch Hegels imponierender und den Anspruch negativer Theologie philosophisch ernstnehmender Versuch zu ihrer Überwindung; vgl. dazu J. Halfwassen, „Hegels Auseinandersetzung mit dem Absoluten der negativen Theologie“, in: A. F. Koch/A. Oberauer/K. Utz (Hgg.), Der Begriff als die Wahrheit. Zum Anspruch der Hegelschen „subjektiven Logik“, Paderborn 2003, 31–47. 33 In Zeile 28 folge ich der Lesart von Henry/Schwyzer: Plotini Opera, ed. P. Henry/ H.-R. Schwyzer, Bd. 1, 375, in Zeile 31 der von Theiler, Plotins Schriften, Bd. IIIa, 30. 34 Vgl. dazu Halfwassen, Aufstieg zum Einen, 150ff., 157ff., 173ff.; Huber, Das Sein und das Absolute, 55ff., 60ff., 66ff., 80ff.
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wie wir das Absolute, das Ziel des gesamten Aufstiegs, dann noch erreichen können. Das Absolute scheint in seiner reinen Transzendenz unerreichbar zu sein: ,,Da nämlich die Erkenntnis alles anderen sich vermöge des Geistes vollzieht, und da man durch den Geist nur Geist erkennen kann, durch welche plötzliche Intuition (epibolê athroa) sollen wir da dessen habhaft werden, was das Wesen des Geistes eben transzendiert?“ (III 8, 9, 19–22). Plotins Antwort lautet: ,,Diese Schwierigkeit ergibt sich hauptsächlich daraus, daß man des Einen weder in der Weise des Wissens (epistêmê) noch in der Weise der geistigen Einsicht (noêsis) inne werden kann wie aller anderen Denkgegenstände, sondern nur vermöge einer Gegenwärtigkeit (parousia), welche höher ist als Wissen. Die Seele ... muß also über das Wissen hinausgehen, darf in keiner Weise aus dem Einssein heraustreten, sondern muß ablassen vom Wissen und vom Wißbaren, ja von jedem anderen Gegenstand der Schau“ (VI 9, 4, 1–10). Die Schau des Einen selbst ist die Erfüllung des Einheitsvorgriffs, der alles Denken und Wissen erst ermöglicht. Erreichbar ist diese Erfüllung aber nur dadurch, daß man jene Form von Einheit transzendiert, die das Wissen durchgängig, auch in seiner höchsten Form als intellektuelle Anschauung (noêsis) auszeichnet.35 Das Denken konstituiert sich durch seinen Vorgriff auf Einheit. Zugleich ist es durch Intentionalität bestimmt: es ist immer gerichtet auf etwas, das es thematisch erfassen will. Diese Intentionalität des Denkens wird durch seinen Einheitsvorgriff erst ermöglicht, der seiner Intentionalität darum vorausgeht; zugleich verleiht sie dem Denken die Struktur einer Einheit in der Entzweiung, die für unser gesamtes gegenständliches Bewußtsein grundlegend ist. Denn um etwas thematisch erfassen zu können, müssen wir das Erfaßte als die Einheit eines Bestimmten denken; als Bestimmtes aber ist es nicht nur Eines, sondern zugleich von dem es erfassenden Denken und von anderem Bestimmten unterschieden. Reine Einheit ist darum nicht thematisch wißbar, weil sie die Einheitsform des Wissens, die auch noch die noêsis bestimmt, prinzipiell transzendiert. Das bedeutet für Plotin aber nicht, daß sie für uns unerreichbar wäre. Als der absolute Grund aller Einheit, der jede Einheit im Unterschied allererst ermöglicht, ist das Eine uns vielmehr immer schon gegenwärtig (VI 9, 8, 33ff.), in einer Gegenwart freilich, die höher und d. h. ursprünglicher ist als alles Wissen. Ursprünglicher als das Wissen ist der alles Wissen und 35 Zur Unterscheidung zwischen dianoetisch-diskursivem und intellektuell anschauendem noetischem Denken bleibt grundlegend K. Oehler, Die Lehre vom noetischen und dianoetischen Denken bei Platon und Aristoteles, München 1962, 2. Aufl. Hamburg 1985. Eine ganz diese Differenz ins Zentrum stellende Plotindeutung bietet J. Lacrosse, La philosophie de Plotin. Intellect et discursivité, Paris 2003. – Zum Verhältnis von denkender und intellektuell anschauender Selbsterkenntnis und ,,mystischer“ Erfahrung des absolut Einen vgl. Beierwaltes, Selbsterkenntnis und Erfahrung der Einheit.
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Bewußtsein erst ermöglichende Einheitsvorgriff des Denkens; in diesem ursprünglichen Einheitsvorgriff ist das Eine in uns wirksam. Um der in uns wirkenden Gegenwart des Einen inne zu werden, müssen wir darum die Intentionalität des Wissens, in der sich die Einheit des Geistes entzweit, zurücknehmen in den ursprünglichen Einheitsvorgriff, der alles Denken ermöglicht, ohne selbst schon erfülltes Denken, thematische Erfassung von irgendetwas zu sein. Diese ursprüngliche Einheit in unserem Denken, die aller Selbstunterscheidung vorausgeht, nennt Plotin ,,das Erste des Geistes“ (prôton tou nou: VI 9, 3, 27): Sie ist dasjenige in uns, worin und wodurch das Absolute uns gegenwärtig ist.36 Wir werden der Gegenwart des Absoluten inne, wenn wir in die ununterschiedene Einheit, die der Grund unseres Denkens ist, so zurückkehren, daß wir in keiner Weise aus der Einheit heraustreten, wie dies schon dann geschieht, wenn wir sie als Einheit zu thematisieren versuchen: ,,Entschließt sich aber die Seele, sich rein für sich allein auf die Schau des Einen zu richten, dann schaut sie Es, indem sie mit Ihm zusammen und Eines ist, und eben weil sie dann mit Ihm Eines ist, glaubt sie noch gar nicht zu haben, was sie sucht, weil sie von dem, was sie denkt, selber nicht unterschieden ist“ (VI 9, 3, 10–13). Der Geist, der sich selbst zurücknimmt in seine ursprünglich einfache Einheit, ist nicht mehr selbstbewußter Geist, sondern nur noch reiner, vor- und überbewußter Vollzug von Einheit: ,,so tritt er, das Wissen von allem auslöschend, vorher schon in seiner eigenen Haltung, jetzt aber auch in den Gestalten des Denkens, dabei auch das Wissen von sich selbst auslöschend, in die Schau des Einen ein“ (VI 9, 7, 18–21). Der in seine ursprünglich einfache Einheit zurückgekehrte Geist ist nun nicht mehr Geist,37 sondern nur noch einfache, reine Einheit und nichts als reine Einheit. Da reine Einheit aber jede Andersheit in sich selbst oder von anderem ausschließt, ist sie von dem Absoluten nicht mehr unterschieden: ,,Wenn keine Andersheit da ist, so ist das Nicht-Andere miteinander beisammen. Jenes (das Absolute) nun, da Es keine Andersheit kennt, ist immer bei uns, wir aber sind bei Ihm nur, wenn wir keine An36 Proklos nannte dieses ,,Erste des Geistes“, in dem uns das Absolute gegenwärtig ist, ,,das Eine in uns“ (to en hêmin hen, In Parm. 1072, 8); vgl. dazu W. Beierwaltes, Proklos. Grundzüge seiner Metaphysik, Frankfurt am Main 1965, 2. erw. Aufl. 1979, 367ff. Zur Wirkungsgeschichte dieses Gedankens im nachplotinischen Neuplatonismus generell J. M. Rist, „Mystik und Transzendenz im späteren Neuplatonismus“, in: Zintzen, Philosophie des Neuplatonismus, 373–390. 37 Diesen über sich selbst hinausgegangenen Geist nennt Plotin auch den ,,liebenden Geist“ (nous erôn), den er von dem denkenden und selbstbewußten ,,vernünftigen Geist“ (nous emphronos) unterscheidet: VI 7, 35. Vgl. zum Erosmotiv und zu den Stufen des Eros bei Plotin: J. Lacrosse, L’Amour chez Plotin. Érôs hénologique, érôs noétique, érôs psychique, Brüssel 1994 und schon R. Arnou, Le désir de Dieu dans la philosophie de Plotin, Paris 1921, 2. Aufl. Rom 1967.
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dersheit in uns haben. Jenes verlangt nicht nach uns, daß Es etwa um uns wäre, aber wir nach Jenem, auf daß wir um Jenes sind. Um Es sind wir immer, wir blicken aber nicht immer auf Es hin“ (VI 9, 8, 32–35). Dieses Hinblicken (blepein) auf das Absolute, dessen Gegenwart uns erst ermöglicht, weshalb sie uns unverlierbar ist, ist aber kein intentionales Sehen, bei dem der Sehende von dem Gesehenen unterschieden wäre, sondern eine den Unterschied beider auslöschende, differenzlose Einung mit dem Absoluten, ,,so daß Es eigentlich nicht Geschautes, sondern Geeintes ist“ (VI 9, 11, 5f.). Diese differenzlose Einung mit dem Absoluten ist die äußerste Erfahrung von Transzendenz. Das schließt die Transzendierung des Selbst explizit ein: ,,überhaupt ist sein Selbst nicht mehr da ..., sondern gleichsam hinaufgerissen, oder vielmehr in ruhiger Gotterfülltheit (enthousiasmos) ist er in die Abgeschiedenheit (erêmos) eingetreten“ (VI 9, 11, 11–13). Die Einung ist darum keine Schau mehr, sondern ein Heraustreten aus sich selbst (ekstasis), ein radikales Einfachwerden (haplôsis) zur absoluten Einfachheit und ein totales Sich-Selbst-Hingeben (epidosis hautou) an das absolut Transzendente (VI 9, 11, 23). Dieses Überschreiten des Selbst ist wohlverstanden keine Selbstvernichtung: transzendierend kommt die Seele ,,nicht zu einem Anderen, sondern zu sich selbst, und so ist sie, da sie nicht in einem anderen ist, nicht im Nichts, sondern in sich selbst. Und wenn sie allein in sich selbst und nicht einmal im Sein ist, so ist sie in Jenem (en ekeinô): denn dadurch, daß man mit Jenem umgeht, ist man selbst nicht mehr Sein, sondern Jenseits des Seins“ (VI 9, 11, 38–42). Die ursprüngliche, differenzlos-einfache Einheit im Grund unseres Denkens, in der uns das jenseitige Absolute gegenwärtig wird, ist als solche selber kein Sein, sondern Transzendenz über das Sein. Sie ist der Grund unseres Selbst, weshalb das Überschreiten des Selbst nicht dessen Vernichtung, sondern seine äußerste Erfüllung ist. Das Selbst, das alle Bestimmtheit des Denkens und damit auch das Sein transzendiert hat, tritt aus sich selbst heraus, weil es als differenzlose reine Einheit auch nicht mehr Selbst ist, sondern nichts als reine Einheit und genau darum Eins mit dem Einen selbst. Das ist die berühmte ekstatische Mystik Plotins, in der seine Metaphysik des Absoluten kulminiert.38
38 Maßgebend zu Plotins Mystik sind die Arbeiten von W. Beierwaltes: vgl. (neben Selbsterkenntnis und Erfahrung der Einheit) ders., Plotin. Über Ewigkeit und Zeit (Enneade III 7), Frankfurt am Main 1967, 4. Aufl. 1995, 75–88; ders., „Reflexion und Einung. Zur Mystik Plotins“, in: W. Beierwaltes/H. U. von Balthasar/A. M. Haas (Hgg.), Grundfragen der Mystik, Einsiedeln 1974, 7–36; Beierwaltes, Denken des Einen, 123– 147. Zu Plotins Begriff des ,,Selbst“ vgl. W. Beierwaltes, Das wahre Selbst. Studien zu Plotins Begriff des Geistes und des Einen, Frankfurt am Main 2001, bes. 84–122.
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Siglen An. post. DK Met. In Parm. Parm. Phaidr. Phileb. Rep. Symp. Test. Plat. Tim.
= = = = = = = = = = =
Aristoteles, Analytica posteriora Die Fragmente der Vorsokratiker, hg. v. H. Diels/W. Kranz Aristoteles, Metaphysik Proklos, Commentarius in Platonis Parmenidem Platon, Parmenides Platon, Phaidros Platon, Philebos Platon, Politeia Platon, Symposion Testimonia Platonica Platon, Timaios
Literaturverzeichnis Primärliteratur Aristotelis Metaphysica, rec. W. Jaeger, Oxford 1957. Ders., Fragmenta selecta, rec. W. D. Ross, Oxford 1955, Nachdruck 1979. Ders., „Aristoteles, Peri ideôn. Über die Ideen-Beweise der Akademiker. Übersetzt von Andreas Graeser“, Bochumer Philosophisches Jahrbuch für Antike und Mittelalter 3 (1998), 121–143. Marius Victorinus, Traités théologiques sur la Trinité. Band 1: Texte etabli par P. Hadot, introduction, traduction et notes par P. Henry. Band 2: Commentaire par P. Hadot, Paris 1960. Platonis Opera, Tomi I–V, rec. I. Burnet, Oxford 1900–1907. Testimonia Platonica. Quellentexte zur Schule und mündlichen Lehre Platons, hg. v. K. Gaiser, in: ders., Platons ungeschriebene Lehre, Stuttgart 1963, 2. Aufl. 1968, 441– 557. Plotini Opera, ed. P. Henry/H.-R. Schwyzer, 3 Bände, Oxford 1964–1982 (editio minor). Plotins Schriften. Übersetzt von R. Harder. Neubearbeitung mit griechischem Lesetext und Anmerkungen, fortgeführt von R. Beutler und W. Theiler, 6 Bände in 12 Teilbänden, Hamburg 1956–1971. Proklos, Théologie Platonicienne. Texte etabli et traduit par H. D. Saffrey et L. G. Westerink, 6 Bände, Paris 1968–1997. Ders., Commentarius in Platonis Parmenidem, ed. V. Cousin, in: Procli Opera inedita, Paris 1864, 617–1258. Procli in Platonis Parmenidem Commentaria, ed. C. Steel, 3 Bände, Oxford 2007–2009. Speusipp, Frammenti, ed. M. Isnardi Parente, Napoli 1980. Die Fragmente der Vorsokratiker, hg. v. H. Diels/W. Kranz, 3 Bände, Berlin 6. Aufl. 1951–1952.
Sekundärliteratur Arnou, R., Le désir de Dieu dans la philosophie de Plotin, Paris 1921, 2. Aufl. Rom 1967.
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Schöpfungslehre und Christologie in Augustins Confessiones Zu systematischen Grundlagen der Fragen nach Einheit und Vielheit im Denken Augustins Norbert Fischer Der monokausal ausgelegte Monotheismus hat entweder die Gleichsetzung von ‚Gott‘ und ‚Natur‘ („deus sive natura“) oder ein Gottesbild zur Folge, das von der „potestas dei absoluta“, also der universalen Wirkmacht Gottes, bestimmt ist und ebenso zum Substanzmonismus führt.1 Die Welt wäre dann ein treuer Spiegel der Aktivität Gottes, ein kosmisches Marionettentheater.2 Wer immer zur Annahme gezwungen wäre, er sei eine Marionette, die selbst nichts bewirken kann, aber Schmerzen ertragen muß, kann sein Leben nicht dankbar als Geschöpf empfangen.3 Die Vorstellung, in allem 1
Aus Spinozas Gottesbegriff folgt ein allgemeiner Determinismus, vgl. Ethica. Pars prima: De Deo, prop. XXIX: [O]mnia ex divinae naturae determinata sunt. Vgl. dort auch das Scholium mit der Unterscheidung von „natura naturans“ und „natura naturata“. Streng genommen wird nur Gott als ‚freie Ursache‘ gedacht (ebd.: „causa libera“). 2 Vgl. V. H. Drecoll, „,Ungerechte Gnadenlehre‘. Zeitgenössische Anfragen an Augustin und ihr Einfluß auf seine Gnadenlehre“, in: C. Mayer/A. Grote/C. Müller (Hgg.), Gnade – Freiheit – Rechtfertigung. Augustinische Topoi und ihre Wirkungsgeschichte, Stuttgart 2007, 25–40, z.B.: 30. Drecolls Monokausalismus bestreitet jeden „menschlichen Anteil“ und damit den Sinn des biblischen Schöpfungsglaubens; Jesu Ruf zur Umkehr wird sinnwidrig (er wäre der Ruf Gottes an sich selbst). 3 Eine solche Auffassung verdient tatsächlich den Namen der ‚Logik des Schreckens‘, der ihr zugesprochen wurde; vgl. dazu K. Flasch (Hg.), Logik des Schreckens. Augustinus von Hippo: De diversis quaestionibus ad Simplicianum I 2, Mainz 2. Aufl. 1995. Zur Kritik vgl. N. Fischer, „Zum heutigen Streit um Augustinus. Sein Werk als Schatz, Bürde und als Herausforderung des Denkens“, in: C. Dittrich/N. Fischer/E. Naab (Hgg.), Augustinus – ein Lehrer des Abendlandes. Einführung und Dokumente, Wiesbaden 2009, 15– 31. Zum Gedanken, daß die Welt ohne Freiheit und Verantwortlichkeit endlicher Wesen zu einem kosmischen Marionettentheater ohne „Leben“ würde, vgl. z.B. schon Platon, Nomoi 644d; 804b; Kant, KpV A 265; dort spricht Kant von einem ‚Mechanismus‘, „wo wie im Marionettenspiel alles gut gesticuliren, aber in den Figuren doch kein Leben anzutreffen sein würde.“ Vgl. auch Kant, Der Streit der Fakultäten, A XXIIIf.=AA 7,10; weiterhin Der Streit der Fakultäten, A 55=AA 7,41. Vgl. N. Fischer, Die philosophische
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von fremden Mächten gelenkt zu sein, verhöhnt die Lebenssituation von Wesen, die ständig zu Entscheidungen gezwungen sind. Sie raubte ihnen ihre Lebensfreude, ihre Kraft und Dankbarkeit, so daß sie ‚natürlicherweise nicht wollen könnten, daß Gott Gott sei‘, mithin zur Annahme neigten, daß ‚nicht Gott Gott sei‘, sondern daß sie ‚selbst Gott seien‘.4 Sie könnten Gott nicht als Gott und liebenden Schöpfer verehren, weil der monokausal gedachte Eingottglaube, der Anderem prinzipiell keinen Platz läßt, ihnen den Atem zum Gotteslob raubt.5 Solche Thesen vertritt Luther, der jede ursprüngliche Kausalität der Geschöpfe bestreitet und an ihnen nichts Gutes läßt, wie später Nietzsche, der Gott als Todfeind der Menschen bekämpft.6 Wer annimmt, daß die Allmacht Gottes die Freiheit endlicher Wesen völlig ausschließt, verdirbt die Möglichkeit lauterer Verehrung Gottes und treibt Gott und Mensch in die Entfremdung.7 Wäre ‚Sein‘ stets Wille zur Macht, Wille zur Erhaltung und Steigerung eigenen Seins, stünden alle vor der Alternative, ihre absolute Ohnmacht (gegen ihren natürlichen Willen) anzuerkennen und alles Geschehen Gott zuzuschreiben oder Frage nach Gott. Ein Gang durch ihre Stationen, Paderborn 1995, bes. 240f.; vgl. auch Heinrich Kleist, Über das Marionettentheater, in: Sämtliche Werke und Briefe, hrsg. von H. Sembdner, München 9. Aufl. 2008, 338–345. 4 Menschen treffen in ihrer Lebenssituation auf Widerstände, die sich ihrem Streben entgegenstellen; sie haben mit Vollzügen zu tun, die nur ihnen eigen sind, mit Einsichten, Zweifeln und Disputen über die Wahrheit, die von jedem Einzelnen zu verantwortende Stellungnahmen fordern. Da sie in solche Situationen gestellt sind, widerstrebt ihnen von Natur die These, ihr Leben sei ein bloßes Epiphänomen einer alles umgreifenden Substanz. Eine solche alles umgreifende, allwirksame Substanz wäre vielmehr der Räuber ihres Seins und damit eine scharfe Konkurrenz. 5 Das ist ein wichtiges Motiv für das Denken von Emmanuel Lévinas; vgl. schon ders., Totalité et Infini, La Haye u.a. 4. Aufl. 1984, z.B. 23–31. 6 M. Luther, Disputatio contra scholasticam theologiam, in: Luthers Werke in Auswahl. Der junge Luther, hrsg. von E. Vogelsang, Berlin 1933, 321 (n.17): „non ‚potest homo naturaliter velle deum esse deum‘, immo vellet se esse deum et deum non esse deum.“ Das sagt er gegen das ‚naturfreundliche‘ Denken des Thomas von Aquin, der erklärt: ‚gratia non tollit naturam, sed perficit‘ (z.B. S.Th. I, q. 1, a. 8, ad 2). Luther fortführend sagt Friedrich Nietzsche (Also sprach Zarathustra II; KSA 4,110): „Aber daß ich euch ganz mein Herz offenbare, ihr Freunde, wenn es Götter gäbe, wie hielte ich es aus, kein Gott zu sein! Also giebt es keine Götter.“ Damit nennt er den Wurzelgrund des gegenwärtigen Atheismus, der sich auf eine Diagnose stützt, die er mit Luther teilt. 7 Vgl. N. Hartmann, Ethik, Berlin 4. Aufl. 1962, 199, aber auch 810; ders., Teleologisches Denken, Berlin 2. Aufl. 1966 (= Teleologisches Denken). Verfehlt ist die Qualifizierung seiner Position als ‚postulatorischer Atheismus‘ durch M. Scheler, Der Formalismus in der Ethik und die materiale Wertethik. Neuer Versuch der Grundlegung eines ethischen Personalismus, hrsg. von Maria Scheler, Bonn 6. Aufl. 1980, bes. 22f. Zur Korrektur N. Fischer, „Epigenesis des Sinnes. Nicolai Hartmanns Destruktion einer allgemeinen Weltteleologie und das Problem einer philosophischen Theologie“, KantStudien 78 (1987), 64–86. Hartmann kämpft gegen die Prädestinationslehre, und zwar mit ähnlichen Argumenten, wie schon Augustinus sie anerkannt hatte; vgl. civ. 5,10.
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den Aufstand gegen den Allmächtigen zu proben.8 Dieser Denkart widerstreitet die Auffassung der göttlichen Liebe als schöpferischen Willens, der aus der Fülle seiner Güte das freie Selbstsein von Anderem will und es hervorbringt.9 Gottes Liebe, die sich im Schöpfungswillen bekundet, wäre der Wille zum eigenständigen Sein von Anderem, wobei diese Liebe zur Folge hat, daß Menschen, die von ihr berührt sind, ihr mit ebensolcher Liebe antworten können und dabei sehen,10 daß sie von Liebe getragenes Mitdasein mit Anderen ersehnen und daß erst dieses Ziel ihrer höchsten Sehnsucht nach Liebe entspricht.11 Wer hingegen ‚Sein‘ als ‚Wille zur Macht‘ versteht, der Anderem keinen Platz läßt, verdirbt die Möglichkeit des ‚Sinns von Sein‘, sofern dieser aus der Liebe zwischen freien Wesen erwächst. Im Lichte solcher Liebe können Menschen entgegen Luthers These wollen, daß Gott Gott sei;12 überdies können sie in diesem Lichte wissen, daß das von allen Menschen ersehnte echte Miteinandersein nur möglich ist, sofern sie ihr endliches Sein dankbar als Gabe empfangen und sie für sich selbst gerade nicht die Zentralstellung im Ganzen des Seienden beanspruchen.13
8 Vgl. dazu M. Heidegger, „Nietzsches Wort ‚Gott ist tot‘“, in: Gesamtausgabe, Bd. 5, Frankfurt am Main 1977, 209–267, bes. 222f. Die Auslegung des Seins als ‚Wille zur Macht‘ ist der Auslegung des Seins entgegengesetzt, die Augustinus im ‚gratis colere‘ und im ‚gratis diligere‘ denkt (vgl. conf. z.B. 6,26 und 8,10, civ. 1,9). Vgl. aber auch vera rel. 85: „invicti esse volumus, et recte.“ 9 Vgl. N. Fischer, „Selbstsein und Gottsuche. Zur Aufgabe des Denkens in Augustins ‚Confessiones‘ und Heideggers ‚Sein und Zeit‘“, in: N. Fischer/F.-W. von Herrmann (Hgg.), Heidegger und die christliche Tradition. Annäherungen an ein schwieriges Thema, Hamburg 2006, 55–90, z.B.: 77. 10 Augustinus sagt (conf. 2,1; 11,1): „amore amoris tui facio istuc“; vgl. N. Fischer, „Amore amoris tui facio istuc. Zur Bedeutung der Liebe im Leben und Denken Augustins“, in: E. Düsing/H.-D. Klein (Hgg.), Geist, Eros und Agape. Untersuchungen zu Liebesdarstellungen in Philosophie, Religion und Kunst, Würzburg 2009, 169–189. 11 Vgl. den Namen des höchsten vollendeten Ziels (conf. 11,3): „regnum tecum perpetuum sanctae civitatis tuae.“ 12 Der vorliegende Text betreibt auch eine Entlutherisierung der Augustinus-Deutung, z.B. gegen Volker Henning Drecoll (a.a.O.), der Augustinus wieder lutherisiert – unter Mißachtung wesentlicher Texte Augustins. 13 Vgl. W. Teichner, Mensch und Gott in der Entfremdung oder die Krise der Subjektivität, Freiburg u.a. 1984, 17. Teichner geht davon aus, daß „die selbständige Existenz des einen absoluten Selbsteigentümers [...] die des anderen notwendig“ ausschließe, und fährt fort (17f.): „Das besagt aber, Mensch und Gott schließen sich der Existenz nach, nicht aber dem gegeneinander beanspruchten Wesensgehalt des absoluten Selbstbewußtseins nach, der einmal als Menschheit und das andere Mal als Gottheit erscheint, aus. Indem Mensch und Gott, nicht jedoch Menschheit und Gottheit sich ausschließen, treten am Ausgang des absoluten Idealismus sich zum ersten Male in der Philosophiegeschichte Mensch und Gott auf Sein und Nichtsein entgegen. Denn mit der gegenseitigen
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Den Gottesgedanken der Onto-Kosmo-Theologie hat Kant, dem es explizit um den ‚lebendigen Gott‘ ging, anfangs in die Nähe des Atheismus gerückt, später aber immerhin zur „Vorbereitung (Propädeutik)“ des Gottesglaubens anerkannt.14 Heidegger hat ihn als zentrales Motiv der ‚ontotheo-logischen Verfassung der Metaphysik‘ interpretiert und der schärfsten Kritik ausgesetzt.15 Die Frage nach ‚Einheit‘ und ‚Vielheit‘ ist Augustinus zunächst als Aufgabe der ihm bekannten philosophischen Tradition begegnet, was hier nicht weiter belegt und dokumentiert werden muß. Sie hat sich ihm aber auch aus eigenen Erfahrungen und denkerischen Ansätzen so sehr aufgedrängt, daß er sie dauerhaft verfolgt hat – und insbesondere an den Themenfeldern, die sich bei ihm (wie später bei Kant) unter die Titel ‚Gott‘, ‚Freiheit‘ und ‚Unsterblichkeit‘ stellen lassen.16 Obwohl Augustinus sich nicht selten Plotinschen Vokabulars bedient, scheint er dessen Ansätzen und Lösungen nicht zu folgen, sofern Plotin das Viele grundsätzlich als Übel betrachtet.17 Als Grunderfahrung und Ausgangspunkt seines Denkwegs sei die Unruhe des Herzens genannt, die ihm anfangs lästig war, die er aber als von Gott hervorgerufene Anregung zu bejahen gelernt hat,
Ausschließung ihrer eigenständigen Existenz wird die vollständige gegenseitige Übernahme ihres Wesens beansprucht.“ 14 Vgl. Kant, KU B 410: „Also ist Physikotheologie eine mißverstandene physische Teleologie, nur als Vorbereitung (Propädeutik) zur Theologie brauchbar“. 15 Zu Kants Kritik der ‚Onto-Kosmo-Theologie‘ und zu ihrer von Kant behaupteten Nähe zum Atheismus vgl. Kant, KrV B A 632f./B 660f.; dazu N. Fischer, „Kants Reflexion der Vernunfterkenntnis im ‚Anhang zur transzendentalen Dialektik‘“, in: ders. (Hg.), Kants Grundlegung der kritischen Metaphysik, Hamburg 2010, 323–340. Vgl. weiterhin M. Heidegger, „Die onto-theo-logische Verfassung der Metaphysik“, in: Gesamtausgabe, Bd. 11, Frankfurt am Main 2006, 51–79, bes. 63 und 77. Heideggers Erwägungen sind gleichsam als Fortführung und Verschärfung von Kants Kritik der ‚OntoKosmo-Theologie‘ zu lesen; dabei ist zusätzlich zu beachten, daß Kant das moralische Prinzip, das Heidegger nicht zur Grundlegung der Theologie ins Auge faßt, für unerläßlich hält. 16 Die These vom Wissen der Unsterblichkeit der Seele ist später (nach Abschluß der verlorengegangenen Schrift De immortalitate animae) in die Hoffnung auf ein durch Gott bewirktes Weiterleben nach dem Tod übergegangen; vgl. z.B. conf. 11,40. Auch Kant nimmt die „Unsterblichkeit der Seele“ nur als eine erläuterungsbedürftige Chiffre, die er durch das Wort von der „ins Unendliche fortdaurenden Existenz und Persönlichkeit desselben vernünftigen Wesens“ erläutert (KpV A 220). 17 Laut Endre von Ivánka gibt Augustinus den Worten aber eine neue Bedeutung, vgl. E. von Ivánka, Plato Christianus. Übernahme und Umgestaltung des Platonismus durch die Väter, Einsiedeln 2. Aufl. 1990, 209f.; vgl. auch N. Fischer, Augustins Philosophie der Endlichkeit. Zur systematischen Entfaltung seines Denkens aus der Geschichte der Chorismos-Problematik, Bonn 1987, bes. 18–23.
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da erst sie ihn auf den Weg zu seiner gottgewollten Bestimmung als Mensch führte.18 In dieser Ruhelosigkeit wird ihm die faktische conditio humana zur Aufgabe des Denkens.19 Thema ist aber auch seine ursprüngliche, implizite Beziehung zu Gott, die ihn schon früh dazu bewegt hat, in ‚Gott und der Seele‘ das zentrale, ja alleinige Ziel seines Erkenntnisstrebens zu sehen, also die Doppelaufgabe, die noch Kant in das Zentrum seines Denkens gestellt hat.20 Diese Doppelaufgabe hat entscheidende Bedeutung für die Frage nach Einheit und Vielheit. Obwohl für Augustinus der axiologische Primat des Einen vor dem Vielen festzustehen scheint, liegt für ihn dessen Reichweite und Sinn nicht auf der Hand, sondern wird ihm zum Problem. Fraglich ist ihm erstens Gott, den er in Auslegung der Heiligen Schrift als Schöpfer und als Ursprung der Zeit und des Vielen denkt, zweitens der innerzeitliche, drittens der überzeitliche Sinn des Vielen, das ‚getrennt‘ vom ‚Einen‘ wie von ‚anderen‘ endlichen Wesen zu denken ist.21 Im vorzeitlichen Ursprung des Vielen wird ‚Gott‘ zum Thema, im Bedenken des innerzeitlichen Sinns des Vielen das freie Selbstsein der ‚Seelen‘, im Bedenken des überzeitlichen Sinns des Vielen kommt die Flüchtigkeit des Zeitlichen in den Blick und wird ihm zum Anlaß der Klage.22 In allem denkt Augustinus, angeregt vom Gedanken der göttlichen Liebe, als ‚doctor caritatis‘. Da Gott aus Liebe das Selbstsein des Geschaffenen und dessen Freiheit will, die Freiheit als endliche aber der Gnade bedarf, wird er im Zuge seines Denkwegs auch zum ‚doctor gratiae‘.23 Augustins Auslegung göttlicher Liebe hat Heidegger in das Wort gefaßt: „amo: volo, ut sis“.24 Die Bedeutung dieses Wortes, das Augustins Denken trägt und 18
Z.B. conf. 1,1 („tu excitas, ut laudare te delectet, quia fecisti nos ad te“); vgl. conf. 11,1 („affectum meum excito in te“); die excitatio tritt in Form von ‚hortamenta‘, ‚terrores‘, ‚consolationes‘ und ‚gubernationes‘ auf (vgl. conf. 11,2). 19 Vgl. dazu retr. 1,9,6, wo Augustinus erwägt, ob ‚ignorantia‘ und ‚difficultas‘ zu den ‚primordia naturalia‘ des Menschen gehören könnten; vgl. dazu Kant, KpV A 266. Vgl. die Parallelität von conf. 10,39 („dolor et labor“) und Kant, Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht, A 393f.=AA 8,21f. („Arbeit und Mühseligkeiten“). 20 Vgl. Kant, KrV A 803/B 831, mit dem Hinweis zu den zwei Fragen, die zum „Kanon der reinen Vernunft“ gehören. 21 Vgl. die Funktion der ‚Trennung‘ bei Lévinas, z.B. Totalité et Infini, 23–53, bes. 59 (zum ‚Atheismus‘). 22 Die Klage beginnt conf. 11,39 und führt alsbald zur Hoffnung (conf. 11,40): „et stabo et solidabor“; Ruhelosigkeit und Suche nach Ruhe sind auch Grundmuster der kritischen Philosophie, z.B. Kant, KrV A VII, B XV; A 797/B 825. 23 Die Freiheitslehre in lib. arb. (1,28) wird im dritten Buch vom Bewußtsein der Gnadenbedürftigkeit gedämpft. 24 Vgl. N. Fischer, „‘Deum et animam scire cupio‘. Zum bipolaren Grundzug von Augustins metaphysischem Fragen“, in: C. Esposito/P. Porro (Hgg.), Agostino e la tradi-
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prägt, auch wenn es kein wörtliches Zitat ist, soll hier anhand der Confessiones im Blick auf die Schöpfungslehre und die Christologie samt den ersten Ansätzen, die Trinität Gottes zu denken, umrissen werden. Diese drei Themenfelder führen zu weiteren Fragen, zum Beispiel zu den Fragen nach der Möglichkeit der endlichen Freiheit der Menschen und deren Angewiesensein auf Gottes Gnade. Zudem fordern sie eine Auslegung des doppelten Ziels von Augustins Suche, die ihn dazu geführt hat, ‚eine heilige Gemeinschaft freier Bürger unter der Herrschaft Gottes‘ zu erhoffen.25 Wer ‚Gott und die Seele zu wissen‘ wünscht, hat von vornherein Einheit und Vielheit im Auge. Gott mag zwar auf den ersten Blick als der (oder das) schlechthin Eine gedacht werden müssen. Augustinus läßt das Gottdenken aber nicht in abstrakter Spekulation beginnen (als könnten wir uns den Kopf Gottes zerbrechen),26 sondern vom endlichen Geist aus, der auf Gott hindenkt, aus seiner faktischen Situation heraus, in die er sich mit vielen Anderen gestellt sieht, angelockt von einer Fülle von Strebezielen, aber auch von der Sehnsucht nach Einheit und Beständigkeit. Die ‚eine‘ Doppelfrage Augustins ist also von vornherein eine Frage nach Einheit und Vielheit. Neuplatonische Motive, die sich gegen das Zerfließen in die Vielheit richten, bleiben zwar erhalten; das Subjekt, das sich gegen das Zerfließen wehrt, steht jedoch nicht zur Disposition. Augustins besondere Frage nach Einheit und Vielheit soll an einer begrenzten Textgrundlage verfolgt werden, vor allem am elften Buch der Confessiones, unter Konzentration auf die einleitenden und abschließenden Paragraphen dieses Buches, das ansonsten wegen der Untersuchung des Seins der Zeit beachtet worden ist, meist aber unter Vernachlässigung anderer Fragen. Von den Confessiones, die Augustins Lieblingswerk waren, berichtet er in den Retractationes, sie hätten seinen ‚Geist und Sinn‘ auch später noch durch ihre Lektüre ‚auf Gott hin gelenkt‘.27 Er zeigt sich von der Einheit ihrer dreizehn Bücher überzeugt, die früher kaum gesehen wurde.28 Zu zione agostiniana/Augustinus und die Augustinische Tradition, Turnhout/Bari 2007, 81– 101, hier: 91f. 25 conf. 11,3; Insofern geht es nicht nur um ‚Gott‘ und die ‚Seele‘, sondern um die Gemeinschaft der freien Geschöpfe. 26 Aristoteles, Metaphysik XII 9, 1074b34f.: hê noêsis noêseôs noêsis. 27 Vgl. retr. II,6,1. 28 E. Feldmann, „Das literarische Genus und das Gesamtkonzept der Confessiones, in: N. Fischer/C. Mayer (Hgg.), Die Confessiones des Augustinus von Hippo. Einführung und Interpretationen zu den 13 Büchern, Freiburg 1998, 11–59; N. Fischer, „Einleitung“, in: Aurelius Augustinus. Was ist Zeit? Confessiones XI/Bekenntnisse 11. Eingel., übers. u. mit Anm. vers. von N. Fischer, Hamburg 2. Aufl. 2009 (= Was ist Zeit?), XI–LXIV, hier: XXXII–XLI; ders., „Einleitung“, in: Aurelius Augustinus. Suche nach dem wahren Leben. Confessiones X/Bekenntnisse 10. Eingeleitet, übers. und mit Anmerkungen versehen von N. Fischer, Hamburg 2006 (= Suche nach dem wahren Leben), XIII–XCI, hier: XIX–
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beachten ist, daß die Frage nach dem Sein der Zeit im elften Buch nicht unvermittelt auftritt, sondern erst im Anschluß an die Reflexionen zur grundlegenden Doppelfrage seines Anfangs. Der Anfang des elften Buches lautet: „numquid, domine, cum tua sit aeternitas, ignoras, quae tibi dico, aut ad tempus vides quod fit in tempore? cur ergo tibi tot rerum narrationes digero?“ Diese erregende Frage ist zu übersetzen: „Nimmst Du, Herr, in Deiner Ewigkeit denn nicht zur Kenntnis, was ich Dir sage? Oder siehst Du gar für flüchtig und für nichtig an, was in der Zeit geschieht? Warum also erzähle ich Dir überhaupt eine solche Unmenge von Geschichten?“29 Die Doppelfrage, in der es um die zeitenthobene Ewigkeit Gottes und die flüchtig und nichtig scheinende Zeitlichkeit des Menschen geht, erhält erste Anregungen durch das Hören der biblischen Botschaft – besonders aus der ‚Bergpredigt‘ und dem Beginn der ‚Genesis‘. Sie ruft Erwägungen hervor, die zur Hauptfrage des elften Buches führen (17): „quid est enim tempus?“ Indem das Ende dieses Buches an die Doppelfrage des Anfangs anknüpft, in dem ‚Gott‘, die ‚Schöpfung‘ und ‚Christus‘ in den Blick gekommen waren, tritt die grundlegende Lebensbedeutung der Frage nach dem ‚Sein der Zeit‘ hervor, die nur von theoretischem Interesse zu sein scheint, solange die Zeit als objektive Wirklichkeit betrachtet wird. Augustinus gelangt durch die Befragung der Zeit als eines scheinbar alltäglich faßbaren Phänomenbereichs30 zu physikalischen, metaphysischen und theologischen Betrachtungen. Diese sollen nun ins Auge gefaßt werden.
1. Gott und die Schöpfung: Vielheit und Einheit in Augustins Schöpfungsgedanken Der monokausal gedachte Monotheismus widerspricht sich selbst, da Gott in ihm als die einzige wirkende Instanz gedacht wird, die im schöpferischen Wort zwar spräche, aber streng monologisch – also ohne die Möglichkeit, Andere auch nur als Hörer des göttlichen Wortes zu denken. Er widerspricht sich, weil sein Gottesbild es unmöglich macht, die unendliche Größe Gottes zu verteidigen, sofern die Schöpfung oder die Welt als XXX; ders., „Einführung“, in: Aurelius Augustinus. Confessiones/Bekenntnisse (Übers. von W. Thimme), Düsseldorf/Zürich 2004, 776–848, hier: 828–839. 29 Übersetzung aus Was ist Zeit?, 3; vgl. dazu auch die Anmerkungen 2–11 zur Übersetzung, 61–66. 30 conf. 11,17: „si nemo ex me quaerat, scio; si quaerenti explicare velim, nescio“. Diese oft zitierte Stelle – auch von Kant (Untersuchung über die Deutlichkeit der Grundsätze der natürlichen Theologie und der Moral, A 79=AA 2,283) – hat insofern eine wichtige inhaltliche Bedeutung, die man ihr nicht sofort ansieht.
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Ergänzung des Unendlichen ausgelegt wird. Der monokausale Monotheismus wird also widersinnig, sofern er die unveränderliche Vollkommenheit Gottes zwar voraussetzt, aber doch ‚Änderung‘ oder ‚Steigerung‘ annehmen muß, da sich ansonsten im Schaffen nichts ereignete, was aber das Sein der Schöpfung vernichtete. Gott wäre im monokausalen Monotheismus als das Eine zugleich das Ganze, wobei die Rede von der Welt und der Vielheit in ihr paradox würde.31 Da die Menschen ihre Welt aber als eine seltsam gemischte Wirklichkeit erleben, die Begeisterung, aber auch Abscheu weckt, führt der Monokausalismus zu einem Gottesbild, das nicht nur Dank und Verehrung ermöglicht, sondern auch Wut und Verachtung, die sich gegen den alles bewirkenden Allmächtigen richten. Um solchen Schwierigkeiten auszuweichen, kann der Ursprung der Menschenwelt nur in der Schöpfung gesucht werden, die von der unendlichen Vollkommenheit Gottes ausgeht, in der Gott in hervorbringendem Tun aus freiem Willen freie Wesen schafft, nicht in blindem Vollzug, nicht infolge willenloser Notwendigkeit, die den Allmächtigen zu handeln gezwungen hätte.32 Der Frucht göttlichen Schaffens muß von vornherein eigene Würde zukommen: Geschöpfe sind nicht als Zuwachs zu Gott zu denken, da der Schöpfer selbst unendlich vollkommen ist, sondern als gewolltes Anderes, das Geschöpfe nur sein können, wenn ihnen eigene Kausalität zukommt. Schöpfung kann nur aus der Fülle der Güte Gottes gedacht werden, aus freiem Willen, nicht aber aus Mangel oder Zwang: „non ex indigentia fecisti, sed ex plenitudine bonitatis tuae“.33 Nur so ist es möglich zu glauben, daß Gott die Welt – und die Menschen in ihr – geschaffen hat. Das Gottesbild der Confessiones ist keineswegs monologisch: Augustinus versteht sich selbst als Hörer des Wortes, indem er sich als Leser der Heiligen Schrift zeigt. Er vergegenwärtigt sich aber auch als Handelnden, 31 Das wäre ein Rückfall in Denkmuster Plotins, von denen sich Augustinus in wesentlichen Motiven seines Denkens zu lösen versucht. Im Blick auf die Weltentstehung ist bei Augustinus keine Rede davon, daß die Seelen sich aus Übermut und, um sich selbst zu gehören, ins Viele gestürzt hätten; zur ersten Andersheit (prôtê heterotês), dem Ursprung des Anderen überhaupt, das zugleich das Schlechte (kakon) ist vgl. Plotin, Enneade V 1,1,1–5. Für Augustinus hingegen gilt (conf. 7,7): „bonus bona creavit“. 32 So schon Platon im Timaios 29d–e; vgl. N. Fischer, „Die Ursprungsphilosophie in Platons ‚Timaios‘“, Philosophisches Jahrbuch 89 (1982), 247–268 mit kritischen Bezugnahmen auf H.-G. Gadamer, „Idee und Wirklichkeit in Platos Timaios“ (1974), auf die Gadamer beim Wiederabdruck seines Textes (ders., Gesammelte Werke 6, Tübingen 1985, 270) kurz eingegangen ist. 33 conf. 13,5; zur Fülle der Güte Gottes vgl. weiter conf. 9,28; bes. conf. 13,2: „ex plenitudine quippe bonitatis tuae creatura tua substitit, ut bonum, quod tibi nihil prodesset nec de te aequale tibi esset, tamen quia ex te fieri potuit, non deesset.“ Zur Güte Gottes gehört, daß er neidlos ist, also freien Wesen Raum läßt; vgl. schon Platon, Timaios 29e.
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der Gott anspricht und Gott als den Hörer seiner Worte im Sinn hat. Nur aus dieser Perspektive läßt sich die literarische Grundhaltung des Verfassers der Confessiones verstehen, die als Anrede an Gott verfaßt sind, gleichsam vor dem Angesicht Gottes, der als Hörender vorgestellt wird und dem sprechenden Menschen höchste Wahrhaftigkeit auferlegt.34 Einerseits sieht er sich angewiesen auf das Hören des Wortes Gottes, erkennt den Primat dieses Hörens auch an und hofft, durch es zu Erkenntnis zu gelangen: „audiam, ut intelligam“ (conf. 11,5). Andererseits setzt er seine Hoffnung ganz darauf, daß Gott auch auf ihn hört, daß Gott, der in seiner Vollkommenheit ohne Sorge ist, doch Sorge um uns trägt, daß Gott, der uns auf sich hin – auf göttliche Vollkommenheit hin – geschaffen habe, am Ende der Zeiten in uns ruhen will.35 Er spricht zuweilen so frei zu Gott, daß er sein Reden ein freundschaftliches Plaudern nennt (conf. 9,1).36 Die von Augustinus erwiderte und vollzogene Beziehung zwischen Gott und ihm ist dialogisch, obwohl Gott als der allmächtige Schöpfer, er selbst aber als Geschöpf gedacht wird. Zwar erscheint Gott durch seine Schöpfung als der große Handelnde, der schon in der Schöpfung den Menschen anspricht (conf. 10,9). Dennoch wird auch der Mensch auf seinen Wegen durch die Zeit, die Augustinus als seine Irrwege darstellt, als Handelnder vergegenwärtigt, der einerseits in seinem eigenen Versagen, Suchen und Bemühen vorgestellt wird, andererseits aber auch als Empfänger göttlicher Weisungen und göttlicher Hilfe, die er oft im Wort der Schrift findet. Sinnbild dieser dialogischen Auffassung des Verhältnisses von Gott und Mensch ist die Tatsache, daß Augustinus nicht nur die Menschen als Hörende bezeichnet, sondern seiner Hoffnung Ausdruck verleiht, daß Gott Ohren für die zeitlichen Menschen habe und daß er auf sie höre.37 Ein Hören Gottes ist nur möglich, wenn es 34
Eine beachtenswerte Nachahmung ist Anselms Proslogion, das aber bei weitem nicht die literarische, philosophische und theologische Komplexität der Confessiones erreicht; weitere Nachahmungen fallen noch stärker ab; vgl. N. Fischer, „Einführung“, in: Aurelius Augustinus. Confessiones/Bekenntnisse (Übers. von W. Thimme), Düsseldorf/Zürich 2004, 776–848, hier: 787–794: Einige Erwähnungen der Confessiones in der deutschsprachigen schöngeistigen Literatur (erwähnt werden Johann Wolfgang Goethe, Johann Gottfried Herder, Jean Paul, Achim und Bettine von Arnim, Heinrich Heine, Gottfried Keller und Rainer Maria Rilke); vgl. R. Spahr/O. Vogel (Hgg.), Bekenntnisse. Autobiographien von Augustinus bis Fontane, Frankfurt am Main 2009. 35 Faßbar ist uns, daß wir in Gott ruhen wollen; schwierig zu denken aber ist, daß auch Gott in uns ruhen wolle; vgl. conf. 13,51f. Die Suche Gottes wäre absurd, wenn wir nicht als Wesen mit eigener Kausalität gedacht würden. 36 Dort berichtet Augustinus, in der Freude der Bekehrung mit Gott geplaudert zu haben: „garriebam tibi“. 37 Zu den ‚Ohren Gottes‘ vgl. conf. 2,5; 3,19; 4,10; 5,15; 6,20; 7,11, 9,31.33; 10,2; 10,57; 11,3. Es geht aber nicht nur um das ‚Hören‘, sondern auch das ‚Sehen‘ Gottes (conf. 11,4): „vide, deus meus, unde sit desiderium meum“.
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sich auf die Aktivität freier Wesen richtet. Nur auf dieser Basis kann es den Willen Gottes geben, am Ende der Tage in uns Menschen zu ruhen. Wäre es so, daß Gott nur in sich selbst ruhen wollte, nicht in Anderen, die schon insofern als freie Subjekte gedacht werden müssen, hätte er zudem auch nicht aus der Fülle seiner Güte geschaffen, sondern aus einem Mangel, den er vordem in sich selbst verspürt hätte und den er als eine Art nachträglicher Selbstverbesserung durch die Schöpfung zu beseitigen versucht hätte. Die Bestreitung freien Selbstseins bei den Geschöpfen führt somit zu Annahmen, die Augustins Schöpfungsdenken grundsätzlich widersprechen (‚creatio de nihilo‘; ‚ex plenitudine bonitatis‘). Indem Gott uns aber auf sich hin geschaffen hat (conf. 1,1: „fecisti nos ad te“), hat er Wesen geschaffen, die als endliche dennoch auf Göttlichkeit hin geschaffen sind, die also frei sind und nur deswegen das Ziel seiner Sorge und seiner bleibenden Liebe sein können. Die Frage nach der Zeit ist Augustinus nicht als Alltagsfrage gleichsam in den Schoß gefallen. Vielmehr hat er sich den Weg mühsam zu ihr bahnen müssen, im Ausgang von der sich ihm aufdrängenden Frage, wie Gott die zeitliche Welt geschaffen haben kann, deren Dasein er zwar für eine offenkundige Wirklichkeit hält, nicht jedoch für eine ursprüngliche oder gar unbedingte. Daß die Welt onto-kosmo-theologische Hinweise auf Unbedingtes enthält, deutet Augustinus zwar knapp an, ohne diesen Ansätzen zu Gottesbeweisen aber weiter Beachtung zu schenken (conf. 10,10).38 Solche Überlegungen haben für ihn (wie später für Kant) eben nur propädeutische Funktion.39 Vielmehr fragt er in den quälend mühseligen Überlegungen zu Beginn des elften Buches, wie Sein und Sinn der endlichen Menschenwelt von Gott her verstanden werden können. Für selbstverständlich, aber auch für ziemlich belanglos, hält er die Annahme, daß das Dasein von Welt und Mensch auf einen vorausliegenden, unfaßbaren, transzendenten Ursprung weist. Augustins Aufmerksamkeit richtet sich also vielmehr auf die Frage, wie Gott Himmel und Erde geschaffen habe (conf. 11,7): „quomodo autem fecisti caelum et terram [...]?“ Diese Frage spitzt er noch zu, indem er das ‚facere‘ Gottes vom Tun eines ‚artifex‘ (oder Demiurgen) unterscheidet und deswegen darauf verfällt, das 38
Augustinus skizziert Beweisansätze aus der Kontingenz des weltlich Seienden (Thomas entfaltet diese Art von Beweisen z.B. in den drei ersten der berühmten ‚quinque viae‘, S.Th. I, q. 2, a. 3); danach trägt Augustinus einen Beweis gleichsam ‚ex gradibus perfectionis‘ vor (mit Nähe zum vierten und fünften Weg bei Thomas). 39 Vgl. B. Dörflinger, „Kant über das Defizit der Physikotheologie und die Notwendigkeit der Idee einer Ethikotheologie“, in: N. Fischer/M. Forschner (Hgg.), Die Gottesfrage in der Philosophie Immanuel Kants, Freiburg 2010, 72–84. Menschen wollen zwar wissen, was „die Welt/ im Innersten zusammenhält“; vgl. Johann Wolfgang Goethe, Faust I, Nacht (V. 354–385, hier 382f.). Faust aber ist kein ‚Theologe‘, nicht einmal ‚Philosoph‘.
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‚Schaffen Gottes‘ als reines Hervorbringen von Himmel und Erde ohne Hilfsmittel zu verstehen und es folglich als das ‚Sprechen seines Wortes‘ auszulegen. Er sagt (ebd.): „ergo dixisti ‚et facta sunt‘ atque in verbo tuo fecisti ea“ (conf. 11,7). Sofern das Schaffen des ewigen Gottes zunächst nur als ‚Sprechen des ewigen Wortes‘ gedacht werden kann, führt die Überlegung nicht unmittelbar zur Frage nach dem Ursprung der zeitlichen Menschenwelt, sondern zunächst auf den ewigen Willen und Vollzug Gottes, hervorbringend zu sprechen, nicht im Selben und Einen zu verharren, also nicht beim eigenen Selbst zu bleiben, sondern in Liebe zu Anderem über sein eigenes vollkommenes Sein hinauszuweisen. Dieses ewige Hervorbringen, das dem Wesen des sprechenden Gottes entspricht, führt Augustinus dazu, sein ‚ewiges Wort‘ als ‚Gott‘ zu verstehen und als ‚Gott bei Gott‘ zu erkennen, als „deum apud te deum“ (conf. 11,9), wobei Gott also in innerer Selbstbezogenheit zwar zunächst noch bei sich selbst bleibt, aber doch schon gleichsam den Raum schafft, innerhalb dessen er trotz seiner nicht steigerungsfähigen Unendlichkeit in echtem Sinne sogar über sich und seine Ewigkeit hinausgehen und die zeitliche Menschenwelt als Anderes ‚aus nichts schaffen‘ kann. Sofern Gott schöpferisch sein wollte, wollte er aber die Göttlichkeit des von ihm Geschaffenen. Solches Schöpfertum läßt sich nur anhand zweier Auslegungsrichtlinien verständlich machen: einerseits im Sinne der ‚creatio de nihilo‘ (nicht der ‚creatio de se‘),40 andererseits im Sinne der Annahme, daß es am Ende einen Weg gebe, die ‚Göttlichkeit des Geschaffenen‘ zu denken.41 Weil die gesuchte Göttlichkeit von Geschaffenem eine ‚contradictio in adiecto‘ zu implizieren scheint, muß vorerst geklärt werden, was mit solcher Göttlichkeit überhaupt gemeint sein kann. Die Verdoppelung Gottes im Schaffen ist ausgeschlossen, da für zwei Unendliche kein Platz ist und der Gedanke der Verdoppelung eine Minderung der Vollkommenheit mit sich brächte.42 Schlechthinniges Einssein des in sich vollkommenen Gottes – ohne inneres Leben und ohne Bezogenheit auf Anderes – ließe zudem jede Möglichkeit eines Hervorgangs aus ihm nicht nur undenkbar, sondern
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Von den zahlreichen Belegen vgl. z.B. lib. arb. 1,5; civ. 14,11; zu ‚facere de nihilo‘ conf. 12,7.8.25.31.40. 41 Zum Hintergrund vgl. die biblische Genesis (1,27), weiterhin Platons Timaios (vgl. 29e: paraplêsia heautô), aber auch aus dem Theaitetos (176b: homoiôsis theô); die Annäherung an Gott wird im Streben nach Gerechtigkeit befördert (Theaitetos 176b–c); Augustinus drückt die Ausgangssituation im „fecisti nos ad te“ aus (conf. 1,1). Da es Gott nicht um Steigerung seiner ‚Macht‘ geht, soll es auch uns Menschen nicht vorrangig um Macht gehen. 42 Vgl. Nikolaus von Kues, De docta ignorantia I, c.1, n.57: „Quare recte quidem doctissimus Augustinus ait: ‚Dum incipis numerare trinitatem, exis veritatem.‘“
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auch unnötig werden, weil das Höchste dann beziehungslos in sich ruhte.43 Ein Ausweg ist nur denkbar, wenn das Höchste nicht nur im Bezug des Höchsten allein auf sich selbst zu denken wäre (wie Aristoteles im Wort von der noêsis Gottes als noêseôs noêsis erklärt), sondern auch in liebender Sorge für das vollkommene Sein von Anderem, gemäß Augustins Wort vom Beginn der Confessiones, nach dem Gott uns auf sich hin geschaffen hat.44 Augustinus sieht im Sinne der später als ‚Gottesbeweise‘ ausgeführten Argumente, daß die Welt ‚zufällig‘ da ist, daß sie sich nicht aus sich allein versteht und auf eine transzendente Ursache weist, die – wie Thomas von Aquin sagt – ‚alle Gott nennen‘ („quam omnes deum nominant“).45 Er sieht aber auch, daß für Menschen alles darauf ankommt, in eine wechselseitige, personale Beziehung zu diesem Ursprung zu gelangen, was er nur für möglich hält, sofern er den Ursprung als liebenden Willen denkt, der von sich aus in einer Beziehung zum Geschaffenen steht und dabei gleichsam seine Ohren auf die Tiefen der Menschenwelt richtet, um auf sie zu hören.46 Diese Überzeugungen, mit denen Augustinus den ‚lebendigen Gott‘ im Sinn hat, treiben ihn zu seiner prägnant gestellten Frage nach dem ‚Sein‘ der Zeit und deren Beziehung zur Ewigkeit. Wie Kant durch „die Theologie auf die ästhetische Critik“ geführt wurde,47 so waren es auch für Augustinus theologische Fragen, die ihn zur Frage nach dem ‚Sein der Zeit‘ geführt haben. Denn der Annahme der möglichen Göttlichkeit von Geschöpfen scheint sich die Zeitlichkeit der Menschenwelt entgegenzustellen, die uns zwar mit ihrer Schönheit und ihren Reizen lockt, aber auch mit zahllosen Übeln abstößt – und uns dazu in ihrer Flüchtigkeit und Nichtigkeit begegnet. Also muß gefragt werden, was Zeit ‚ist‘, was das ‚Sein‘ der Zeit ist, damit gedacht werden kann, wie Geschöpfe trotz ihrer Schwächen auf die ‚Ewigkeit‘ hoffen können und wie Gott sich trotz seiner Selbstgenugsamkeit als ewiger Schöpfer auf die zeitliche Menschenwelt beziehen kann. Damit das überhohe Ziel der Schöpfung keine Chimäre wird und für erreichbar gehalten werden kann, bringt Augustinus Christus als Mittler ins Spiel, der als Mensch einerseits sterblich ist wie alle Menschen, andererseits aber in ei43
Es könnte dann höchstens ‚wie ein Geliebtes bewegen‘ (Aristoteles, Metaphysik XII 7, 1072b4f.). 44 conf. 11,3 und 1,1; im Hintergrund vgl. auch Platon, Politikos 273d (vgl. dazu Anm. 5 in Was ist Zeit?,63). 45 So – in unterschiedlichen Formulierungen – nach jedem der ‚fünf Wege‘ in S.Th. I, q. 2, a. 3. 46 conf. 11,3: „attende animam meam et audi clamantem de profundo, nam nisi adsint et in profundo aures tuae, quo ibimus? Quo clamabimus?“ Vgl. auch conf. 4,10; vgl. weiterhin Anm. 207 in Suche nach dem wahren Leben,143. 47 Kant, Reflexion 6317; AA XVIII, 627.
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ner Weise heilig, die nur Gott zugesprochen werden kann. Die Bedingungen der Möglichkeit zum Erreichen des Ziels der Schöpfung denkt er einerseits als den Weg Gottes zur Schöpfung im Mittler, der von Gott gesandt ist, andererseits aber auch als Weg der Menschen, die sich – durch die Worte und Taten Christi angetrieben – auf den Weg zu reiner Liebe (‚gratis diligere‘) und zu einer reinen Verehrung Gottes (‚gratis colere‘) machen. Obwohl dieses Ideal eine Forderung mit sich bringen mag, die endliche und bedürftige Wesen unvermeidlich überfordert, kann sich erst in ihm die höchste Sehnsucht der Menschen erfüllen. Damit kündigen die Confessiones schon die Themen von De trinitate und De civitate dei an.48
2. Schöpfung und Christus: Das ewige Wort als Vermittlung von Einheit und Vielheit Die Christologie wird für Augustinus im Rahmen der Confessiones in zwei Zugangsweisen zum Thema, die beide im elften Buch erwähnt sind und eine systematisch wichtige Rolle spielen.49 Zunächst ist sie Thema im Glauben an das von Gott gesprochene ‚Wort‘, ‚durch das alles geschaffen ist‘ (conf. 11,4: „per quod fecisti omnia“), das als ewiges Wort dennoch den Weg in die Zeitlichkeit eröffnet und dem Zeitlichen zugleich das ideale Ziel der Heiligkeit vorzeichnet. Dadurch wird sie zum Thema im Glauben an den ‚geliebten Sohn Gottes‘, dessen Leben als Mensch unter Menschen zeitlich ist und gemäß dem christlichen Glauben dennoch mit dem ‚ewigen Wort Gottes‘, dem „aeternum verbum tuum“, in unverbrüchlicher Verbindung steht (conf. 11,8). Der menschliche Geist erkenne zwar die Verschiedenheit der Glaubensaussagen, die das ‚äußere‘ und das ‚innere‘ Ohr melden, beziehe beider Meldungen aber auf eine einzige Wirklichkeit.50 Das äußere Ohr melde lediglich zeitliche Ereignisse, die flüchtig und vergänglich sind, das innere Ohr weise jedoch auf das ewige Wort Gottes, das nach dem Wort der Schrift ‚in Ewigkeit bleibt‘ („manet in aeternum“). Ewig und unvergänglich bleibt diese Einsicht schon deswegen, 48
Die Confessiones bieten Augustins Selbstvergewisserung seines äußeren und inneren Weges bis zur Annahme der christlichen Botschaft; er richtet sich dabei an Gott, an sich selbst und seine Leser. Diese Selbstvergewisserung wirft neue Fragen zu Gott (De trinitate) und zum Sinn der Geschichte (De civitate dei) auf. 49 Es geht einerseits um eine ‚katabatische‘, andererseits um eine ‚anabatische Christologie‘. 50 conf. 11,8: „et haec ad tempus facta verba tua nuntiavit auris exterior menti prudenti, cuius auris interior posita est ad aeternum verbum tuum. at illa comparavit haec verba temporaliter sonantia cum aeterno in silentio verbo tuo et dixit: aliud est longe, longe aliud est.“
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weil das Ideal reiner Liebe und Verehrung die Kraft endlicher Wesen übersteigt, weil es aber nur ein gültiges Ideal ist, sofern es von Menschen verwirklicht werden soll und kann. Der Mensch, der es verwirklicht hat, ist insofern Christus und der zentrale Gegenstand des Glaubens. Der Inhalt des bleibenden Wortes Gottes, das zum Denken der göttlichen Dreieinigkeit führt, aber gleichwohl Bedeutung für die zeitliche Schöpfung hat und uns zur Umkehr auffordert, entstammt der Predigt des historischen Jesus und ist zu Beginn des elften Buches genannt. Augustinus weiß sich und alle Menschen durch dieses Wort gerufen, der Forderung zu entsprechen, die es an uns richtet, nämlich daß „wir fortan arm seien im Geiste, sanft und trauernd, hungernd und dürstend nach Gerechtigkeit, barmherzig, lauteren Herzens und friedenstiftend“.51 Die Botschaft Jesu, in der das innere Ohr das ewige Wort vernimmt, ist die Wegweisung, die das Sein der Anderen und die Gemeinschaft mit ihnen will, nicht die Steigerung des eigenen Ich.52 Das Umkehr fordernde Wort begegnet uns nach Augustinus zugleich innen und außen. In dieser Botschaft geht es für ihre Hörer nicht um Anerkennung der abstrakten Wahrheit des ewigen Wortes, der man leicht zustimmen kann, solange die Forderungen nicht konkret werden. Im inneren und äußeren Hören ergeht die Forderung, dieses Wort innen und außen zu befolgen. In der Konkretisierung der Forderung der Verkündigung Jesu, die auf die Heiligkeit und das Heil der Menschen zielt, bezieht Augustinus sich zum Beispiel auf seine verzweifelten Versuche, nach dem Tod seines Jugendfreundes erneut Lebensmut und Gottvertrauen zu erlangen. Nachdem er das irdische Leben, niedergedrückt durch die Todeserfahrung, als ‚regio mortis‘ erfahren hat (conf. 4,18), findet er gleichwohl Trost in der Glaubensbotschaft, daß Christus, den er hier ‚unser Leben‘ nennt, zu uns hinabgestiegen sei, unseren Tod auf sich genommen und ihn kraft der Fülle seines Lebens besiegt habe (conf. 4,19). Obwohl er kurz zuvor (mit Anklang auch an Plotin) die Rückkehr nach innen gefordert und seinen Lesern ein ‚redite‘ zugerufen hatte (conf. 4,18), fordert die Nachahmung des Weges Christi nun nicht Aufstieg, sondern Abstieg, wenn auch in der Hoffnung, im Absteigen den erhofften Aufstieg zu Gott zu erlangen (conf. 4,19): „descendite, ut ascendatis, et ascendatis ad deum.“ Die Forderung, wie
51
Vgl. conf. 11,1; Augustinus nimmt hier Bezug auf den Beginn der Bergpredigt (Mt 5,3–9). 52 Ziel ist Annäherung an reine Liebe, die keine Belohnung verlangt (‚gratis diligere‘, ‚gratis colere‘).
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Christus hinabzusteigen, versteht er als Weg zum Heil, weil er der Weg der Heiligkeit ist, der Weg reiner Liebe zu den Anderen.53 Im zehnten Buch war dieser Weg Christi auf den Begriff gebracht worden. Damit auch Geschöpfe Göttlichkeit erlangen können, müssen sie den Weg wahrer Liebe gehen, den sie nach der christlichen Botschaft nicht durch Erhaltung und Steigerung ihres je eigenen Seins betreten. Die Rückkehr zum Einen geschieht nach Augustinus in der Hinwendung zum Vielen, zu den Anderen, weil der eine Gott als der gedacht wird, der das Sein der Vielen in Liebe gewollt hat. Nach dieser Auslegung bliebe Gott in der Schöpfung nicht gleichsam bei sich, obwohl er schon in sich vollkommen ist, also nicht vom Mangel der beziehungslosen Einsamkeit bestimmt ist. Dementsprechend gilt für den späteren Augustinus nicht mehr die scheinbar klare Forderung aus De vera religione, nicht nach draußen zu gehen, sondern zu sich selbst zurückzukehren, die er zunächst von Plotin übernommen hatte, auch in der Annahme, daß im inneren Menschen Wahrheit wohne (72): „noli foras ire, in te ipsum redi. in interiore homine habitat veritas.“ Schon in De vera religione hatte er indessen nicht gemeint, die Wahrheit selbst, die Gott ist, im Inneren finden zu können, und deswegen einen dritten Imperativ hinzugefügt, der das Übersteigen der eigenen Innerlichkeit fordert, nämlich (ebd.): „transcende et te ipsum.“54 Selbstvergottung durch Übersteigen seiner selbst scheint Unmögliches und Hybrides zu wollen. Wie wahres Übersteigen seiner selbst möglich sei, hat er sich von der Predigt Jesu sagen lassen. Zwar bleibt es nach dieser Botschaft dabei, daß angesichts der Lockungen der äußeren Welt ‚Zurückhaltung‘ (‚continentia‘) geboten ist, nicht aber völlige ‚Enthaltung‘ (‚abstinentia‘).55 Somit bleibt das ‚noli foras ire‘ aus De vera religione in einem ersten Sinne zwar in Geltung.56 Nachdem der Weg zurück ins Innere begonnen hat, erhebt sich aber die Forderung einer anderen Liebe, die mit einem in die Gegenrichtung weisenden Imperativ ausgedrückt werden kann, nämlich mit der schon genannten Forderung: „descendite“, die ein: ‚velis foras ire‘ impliziert. Der Abstieg nach außen, den Augustinus als 53 Vgl. dazu die Hinweise und das Schema in Suche nach dem wahren Leben, XIC– XXX. Das Schema (XXX) modifiziert den neuplatonischen Aufstiegsgedanken so sehr, daß er zu einer Gegenposition wird, weil er das Viele nicht als Gabe erfassen kann. 54 Vgl. Suche nach dem wahren Leben, XXVII. Mit diesem Wort setzt sich Augustinus klar von der Annahme Plotins ab, daß im Inneren die überschwengliche Schönheit des Gesuchten zu finden sei (vgl. Enneade I 6,8,1–5). 55 Vgl. die klare und zutreffende Erläuterung von M. Heidegger, „Augustinus und der Neuplatonismus. Frühe Freiburger Vorlesung Sommersemester 1921“, in: Gesamtausgabe, Bd. 60, Frankfurt am Main 1995, 157–246, hier: 205. 56 Dies zeigt die erste Hälfte des zehnten Buches bis 10,37: „neque enim eras in memoria mea, priusquam te discerem.“ Gott kommt erst durch eine Inversion der Aktivität in die ‚memoria‘ (10,38).
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den Weg Christi denkt, ist der Weg der Heiligkeit, der uns zeitlichen Menschen erst den wirklichen Aufstieg nach oben und zu Gott ermöglicht. Seine frühere Hoffnung auf das „deificari [...] in otio“, die Hoffnung, sich in der Muße der Meditation selbst vergöttlichen zu können, hat sich mit dieser Einsicht endgültig zerschlagen.57 Das Ziel der Christusförmigkeit aller Menschen kann folglich nur in einer Nachahmung des katabatischen und des anabatischen Weges Christi erstrebt werden. Der Weg zur möglichen Göttlichkeit von Geschöpfen kann nur in der Zuwendung zum Leben und zu den Anderen, im Streben nach Gerechtigkeit, in der Abkehr von Selbstsucht und Sünde, im Streben nach einer heiligen Gemeinschaft unter der Herrschaft Gottes beschritten werden. Wäre ein Geschöpf von vornherein heilig, wäre seine Heiligkeit nichts als die Heiligkeit Gottes. Ohne die Zeitlichkeit des menschlichen Lebens ist eine Schöpfung Gottes gar nicht denkbar. Wäre es gänzlich unheilig und folglich unfähig, Heiligkeit auch nur zu erstreben, könnte es nicht als Geschöpf Gottes gedacht werden. Wäre es von Anbeginn heilig, wäre es das ewige Wort. Damit die Göttlichkeit von Geschöpfen denkbar wird, muß es also die Zeit und die Möglichkeit von Geschöpfen geben, sich kraft freier Entscheidung ihrem göttlichen Ziel anzunähern. Das gleichewige Wort, das Gott spricht und das ‚Gott bei Gott‘ ist, spricht der liebende Gott, der mit diesem Wort der Intention nach auch schon die lebendige Beziehung zwischen Schöpfer und Geschöpf begründet und in sie eintreten kann.58 Um Gott als Schöpfer denken zu können, denkt Augustinus ihn trinitarisch. Denn einerseits wird auf diesem Weg eine wesenhafte Beziehung des Schöpfers zu den Geschöpfen denkbar, ohne daß der Schöpfer durch diese Beziehung seine Ewigkeit verlöre, andererseits ermöglicht diese Beziehung des Schöpfers auch eine Beziehung der Geschöpfe zu ihrem Schöpfer. Bemerkenswert ist der Überschwang der Dankbarkeit, den Augustinus im Blick auf die Erkenntnis dieses ‚Wortes‘ zum Ausdruck bringt und der nur zu verstehen ist, sofern er diese Erkenntnis für die Frage nach der Möglichkeit wechselseitiger Beziehung zwischen Gott und Mensch für entscheidend hält. Die Einsicht in ihre Möglichkeit weckt seinen Dank und ist als tiefster Grund des Bekenntnisses im Sinne der ‚confessio laudis‘ zu sehen: „hoc novi, deus meus, et ‚gratias ago’. novi, confiteor tibi, domine, mecumque novit et benedicit te quisquis
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Vgl. ep. 10,2. Im ‚Begründen‘ ist er absolut allmächtig; aber er begründet so, daß er im Dialog mit dem Geschaffenen seine Allmacht begrenzt und die Freiheit des Menschen ermöglicht. Daß er als dennoch jenseits von Zeit und Welt der Allmächtige bleibt, darauf setzen die ihre Hoffnung, die an das göttliche Ziel der Schöpfung glauben. 58
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ingratus non est certae veritati“ (conf. 11,9).59 Es geht nicht um abstrakte Spekulation, um das ‚Wesen Gottes‘ zu ergründen, sondern um den Versuch, ihn als ‚lebendigen Gott‘ zu verstehen, zu dem Menschen als freie Wesen in eine Beziehung treten können. Weil es an sich keine Beziehung zwischen Unendlichem und Endlichem geben kann, Augustinus aber vom Faktum dieser Beziehung überzeugt ist, sieht er nur den Weg, den Ursprung dieser Beziehung in Gott zu suchen, der uns so gerufen habe, daß wir diesem Ruf entsprechen konnten (conf. 10,38). Diese Einsicht birgt in sich die eigentliche ‚excitatio‘, die Menschen trotz der faktischen, oft niederdrückenden Situation das Gotteslob ermöglicht (conf. 1,1): „et tamen te laudare vult homo“.60 Die Idiomenkommunikation, in der Christus als Mittler erscheint,61 ist der entscheidende Punkt, der die Confessiones zu ‚excitationes‘ macht, so daß sie nicht als 59
Zum vierfachen Sinn des ‚confessio‘-Begriffs vgl. N. Fischer, „Einführung“, in: Aurelius Augustinus. Confessiones/Bekenntnisse (Übers. von W. Thimme), Düsseldorf/ Zürich 2004, 776–848, hier: 818–828. 60 Die Unzahl der ‚tamen‘-Stellen der Confessiones beginnt 1,1: „et tamen laudare te vult homo.“ Vgl. die Parallelen bei Rainer Maria Rilke; z.B. Sonette an Orpheus II 23; V.12: „Wir, gerecht nur, wo wir dennoch preisen“. 61 Zentral in conf. 10,67–70; vgl. aber z.B. auch 4,18f.; 11,7–16. Zu beachten sind hier auch Kants Überlegungen zur Möglichkeit, eine Beziehung zwischen Ungleichartigem zu denken, was Kant im Blick auf das Schematismus-Problem durchgeführt hat. Da „reine Verstandesbegriffe in Vergleichung mit empirischen (ja überhaupt sinnlichen) Anschauungen ganz ungleichartig“ sind und „niemals in irgend einer Anschauung angetroffen werden“ können (KrV A 137/B 176), bedarf es, damit Kategorien auf Sinnliches bezogen werden können, eines Dritten, „was einerseits mit der Kategorie, andererseits mit der Erscheinung in Gleichartigkeit stehen muß und die Anwendung der ersteren auf die letzte möglich macht“ (KrV A 138/B 177). Die formale Seite der Argumentation in dieser Durchführung ist auch für Kants Moralphilosophie und Moraltheologie von entscheidender Bedeutung. Ausgangspunkt ist die Forderung, nach der die „Heiligkeit des Willens“ das ‚Urbild‘ ist, „welchem sich ins Unendliche zu nähern das einzige ist, was allen endlichen vernünftigen Wesen zusteht“ (KpV A 58), obwohl sie doch eine „Vollkommenheit“ sei, „deren kein vernünftiges Wesen der Sinnenwelt in keinem Zeitpunkte seines Daseins fähig ist“ (KpV A 220). Nicht verwunderlich ist, daß Kant auf die „personificirte Idee des guten Princips“ hindenkt und von einem „praktischen Glauben an diesen Sohn Gottes“ spricht (Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft B73–76=AA 6,60–62). Das Ideal einer Gott wohlgefälligen Menschheit ist nicht als Produkt der endlichen Vernunft des Menschen denkbar, sofern diese Vernunft aus eigener Kraft wesentlich auf ihre Einigungstätigkeit eingeschränkt ist und also zwar Orientierung verschaffen kann, aber keine Motive, den egoistischen Ichbezug zu überwinden (das natürliche und in sich nicht zu tadelnde Glücksstreben). Damit wird Kant (ähnlich wie Augustinus) auf den Weg der Idiomenkommunikation geführt, die für Augustinus der Weg zur Ausbildung der Trinitätslehre wurde. Dadurch gewinnt Christus Bedeutung als ‚mediator‘; Christusförmigkeit als Ziel; vgl. conf. 11,40: „in forma mea“; der Weg jedes Einzelnen als Weg zum wahren Selbstsein, als ewiges Ziel, das nicht auf Entzeitlichung, sondern auf Entflüchtigung des Zeitlichen zuläuft.
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‚lamentationes‘ enden, was angesichts ihres Inhalts, der die ‚miseriae‘ des menschlichen Lebens betont, gut möglich wäre.62 Da die Antwort auf die Frage, wie Gott Himmel und Erde geschaffen hat, die Liebe verkündet, mit der Gott sich den Menschen zuwendet und von der ihr Heil abhängt, ruft sie bei Augustinus höchste Erregung hervor, einerseits ein Erschrecken, weil er sieht, wie unähnlich er dem ist, was Gott mit ihm will; andererseits ein Entbrennen seiner Sehnsucht, weil er sieht, wie ähnlich er ihm doch schon ist, da ihm die göttliche Weisheit aufleuchtet und die Nebel um ihn wegfegt.63 Unter der Voraussetzung, daß Gott selbst in einer Beziehung zu Zeit und Welt gedacht werden kann und im Evangelium selbst durch das Fleisch spricht,64 kann der gesuchte Weg zur Göttlichkeit der Geschöpfe jedenfalls nicht unter Ausschaltung von Zeit und Welt gefunden werden. Zeit, die in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft besteht, kann aber nicht so vorgestellt werden, als sei sie unmittelbar durch Gott bewirkt, sofern er dadurch selbst verzeitlicht würde. Indem Gott aber den Menschen als endlichen Geist schafft, hat er das eigentliche Zeitwesen geschaffen, das durch Erinnerung, Vergegenwärtigung und Erwartung, durch sein Sicherstrecken in die Zeiten (‚distentio animi‘) in eigener Aktivität (‚vita huius actionis‘) das Sein der Zeit hervorbringt, das es ohne diese Tätigkeit gar nicht gäbe. Augustinus denkt Gott so, daß er den Zeiten nicht in der Zeit vorausgeht, sondern ewig bleibt, aber durch sein ewiges Wort, durch seinen ewigen Sohn gleichsam eine Brücke in die Zeit baut. In diesen Annahmen stützt er sich einerseits auf die von ihm vorerst nur behauptete menschliche Sehnsucht nach einer Beziehung zu Gott, andererseits auf das Wort der ‚Heiligen Schriften‘. Um ihnen Festigkeit und Sicherheit zu geben, wendet er sich nun der Frage zu, ‚was Zeit ist‘. Weil Gott als Ewiger nicht der Erinnerung bedarf, um Vergangenes zu vergegenwärtigen, weil er nicht der Anschauung bedarf, um Gegenwärtiges zu vergegenwärtigen, weil er nicht der Erwartung bedarf, um Zukünftiges zu vergegenwärtigen, ist er nicht in der Zeit, kann aber dennoch mit seiner Sorge beim Zeitlichen sein, wenn auch nicht zeitlich, da er Anfang, Vollzug und Ende nicht im zeitlichen Nacheinander wahrnimmt, sondern sich im Ganzen auf es richtet. 62 Die Confessiones sind allerdings auch als ‚confessio peccati‘ zu fassen, die aber, weil jedes ‚peccatum‘ eine freie Entscheidung voraussetzt, zur ‚confessio laudis‘ hinzugehört. Die ‚miseriae‘ (vgl. CAG) sind ein Hauptthema vor allem der sogenannten biographischen Bücher. Vgl. N. Fischer/D. Hattrup (Hgg.), Irrwege des Lebens. Augustinus: ‚Confessiones‘ 1–6, Paderborn 2004. 63 conf. 11,11: „et inhorresco et inardesco: inhorresco, in quantum dissimilis ei sum, inardesco, in quantum similis ei sum. sapientia, sapientia ipsa est, quae interlucet mihi, discindens nubilum meum“. 64 conf. 11,10: „sic in evangelio per carnem ait“.
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3. Christologie und Zeit: Das Urbild Gottes im inneren Menschen und das Reich Gottes Im elften Buch der Confessiones wird die ‚Freiheit der Entscheidung‘ nicht eigens thematisiert.65 Dennoch spielt die Freiheit, gedacht als ursprüngliche Kausalität von Geschöpfen, eine Rolle, weil sie Geschöpfen nicht fehlen kann, von denen trotz ihrer Endlichkeit und trotz der Verfehltheit ihres Lebens angenommen wird, daß sie von Gott auf ihn hin geschaffen worden sind. Sofern Geschaffenem eigenes Sein zukommt, das vom Sein des Unendlichen unterschieden ist, ist das Sein der Geschöpfe nicht nur eine von Gott kommende und nur zu empfangende Gabe. Wäre das Dasein von Geschöpfen in allem nur eine solche Gabe, dann entspräche diese Gabe weder der Göttlichkeit des Schöpfers noch dem Ziel der Göttlichkeit des Geschöpfs, dessen Möglichkeit angenommen werden muß, um die Göttlichkeit des Schöpfers nicht zu verfehlen. Geschaffenes kann nur als Werk Gottes gedacht werden, wenn das Sein Gottes und das Sein der Geschöpfe ‚getrennt‘ und doch ‚in wechselseitiger Beziehung‘ zueinander gedacht werden kann. Damit sowohl die ‚Trennung‘ als auch die ‚Beziehung‘ beider zueinander gedacht werden kann, muß das Sein der Geschöpfe einerseits empfangen, andererseits von ihnen selbst bewirkt sein. Diese Auslegung des Seins der Zeit ist in der Tat das Ergebnis der Analyse Augustins, in der er die Zeit als Werk des Schöpfers denkt, aber nicht ohne eigene Tätigkeit des Geschöpfs. Ohne ursprüngliche Tätigkeit der Geschöpfe versinkt die flüchtige Zeit im Nichtsein, da ohne ihr Tun Vergangenes nicht mehr, Zukünftiges noch nicht und Gegenwärtiges unausgedehnt ist. Gegen das Versinken der Zeit in Flüchtigkeit und Nichtigkeit vermag allein die Seele durch ihre innere Aktivität das ‚Sein‘ der Zeit zu sichern, indem sie das flüchtige Gegebene, das ankommt und vorübergeht, durch ihre Erinnerung, Erwartung und Anschauung festhält und verstetigt.66 Zeit gäbe es also weder ohne das der Seele unverfügbare Ankommen und Vorübergehen, noch ohne Entflüch65 Hinweise zum ‚liberum arbitrium‘ finden sich z.B. in lib. arb. (passim), in den Confessiones (z.B. 7,5; 9,1), in civ. (z.B. 5,10) und retr. (bes. I 9); schon nach lib. arb. (vgl. 3,49) steht unverrückbar fest, daß Geschöpfe ohne die Annahme ursprünglicher Kausaliät keine Verfehlungen als Übeltaten angerechnet werden können. 66 Zu beachten zunächst conf. 11,17: „si nihil praeteriret, non esset praeteritum tempus, et si nihil adveniret, non esset futurum tempus, et si nihil esset, non esset praesens tempus.“ Dann aber 11,26: „quod autem nunc liquet et claret, nec futura sunt nec praeterita, nec proprie dicitur: tempora sunt tria, praeteritum, praesens et futurum, sed fortasse proprie diceretur: tempora sunt tria, praesens de praeteritis, praesens de praesentibus, praesens de futuris. sunt enim haec in anima tria quaedam et alibi ea non video, praesens de praeteritis memoria, praesens de praesentibus contuitus, praesens de futuris expectatio.“
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tigung des Zeitlichen durch die verstetigende Tätigkeit der wahrnehmenden Seele. Die Überwindung der Flüchtigkeit und Nichtigkeit der Zeit ist das Werk einer Dreiheit in der Seele, die sich auf das Mannigfaltige bezieht, diese Vielheit verknüpft und ihr Einheit verleiht. Damit die Tätigkeit (‚actio‘) der seelisch-geistigen Kraft (‚anima‘, später ‚animus‘) einsetzen kann, die Augustinus als „distentio animi“ und als „vita huius actionis“ bezeichnet, muß sie sich auf Gegebenes beziehen, das in inneren Vollzügen bearbeitet wird. Das Ziel dieser Vollzüge wird jedoch nicht im erstrebten Sinn erreicht, so daß ihre Reflexion in Klagen mündet. Ohne die Entflüchtigung des Zeitlichen, die nur das Werk der inneren Tätigkeit endlicher Wesen, das Werk eines geschaffenen Geistes sein kann, käme der zeitlichen Welt überhaupt kein ‚Sein‘ im eigentlichen Sinne zu, weil sie dann in Flüchtigkeit und Nichtigkeit versänke. Auf die Frage, wie Gott die zeitliche Menschenwelt geschaffen hat, muß geantwortet werden, daß er sie im Blick auf die eigene Tätigkeit der Geschöpfe geschaffen hat, daß diese Welt nach Augustinus ohne die ursprüngliche Tätigkeit freier Geschöpfe in ihr also gar kein ‚Sein‘ hätte. Schöpfung ist insofern im Rahmen des monokausalen Monotheismus nicht denkbar, da es unter seiner Voraussetzung in der Schöpfung keine Wesen mit ursprünglicher Kausalität geben kann. Daß Augustinus diese spontane und ursprüngliche Tätigkeit der endlichen Geistwesen in der Zeitkonstitution voraussetzt, wird im Zug der fortschreitenden Untersuchung immer deutlicher. Er scheint auch gut um das Unerhörte in den unerwarteten Einsichten zu wissen und wehrt sich deshalb gegen den Tumult der Gemütserregungen, die in ihm gegen das Ergebnis aufbegehren.67 Als ‚agens‘ in der Sicherung des Seins der Zeit tritt das endliche Ich auf, er selbst, sein Geist, wobei er die trinitarische Struktur des ‚agens‘ erfaßt (conf. 11,37): „in animo, qui illud agit, tria sunt“. Gleichwohl bleibt die Spontaneität der Geschöpfe, die Augustinus mit spekulativer Kraft und phänomenologischer Fundierung als Wirklichkeit präsentiert, eine endliche Freiheit, die nicht autark ist, die sich als ‚Werk Gottes‘ denken läßt und zudem der Hilfe Gottes bedürftig bleibt. Diese Spontaneität tritt einerseits als endliche auf, indem sie eines unbestimmten Gegebenen bedarf, um diesem ‚Sein‘ verleihen zu können, das es ohne seine spontane Tätigkeit nicht hätte. Sie muß sich andererseits ihre Endlichkeit eingestehen, sofern sie das Ziel der Entflüchtigung des Zeitlichen nicht in dem Maße zu erreichen vermag, in dem sie es ersehnt und erstrebt hatte. Im Augenblick seines höchsten Triumphes, in dem der Geist das Sein der Zeit vor Augen hat, das kraft der ‚memoria‘, der ‚attentio‘ und der
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conf. 11,36: „noli mihi obstrepere, quod est: noli tibi obstrepere turbis affectionum tuarum.“
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‚expectatio‘ aktiv konstituiert ist,68 schlägt der Jubel plötzlich in die Klage um, in der sich der agierende Geist in das Elend der Nichtigkeit zurückgeworfen findet und in der er sich der göttlichen Barmherzigkeit bedürftig weiß. Daß im Anschluß an die Explikation der Einsicht in die konstitutive Funktion der menschlichen Freiheit doch wieder der Hilferuf an die göttliche Gnade folgt, zerstört diese Freiheit nicht,69 sondern kann nachträglich vielmehr sogar als Moment ihrer Möglichkeit verstanden werden. Eine endliche Freiheit, die als geschaffene gedacht werden muß und ihr höchstes Ziel doch allein aus eigener Kraft verwirklichen könnte, könnte nicht anders, als das höchste Ziel stets ins Werk zu setzen, könnte also nur tun, was sie auf Grund ihrer Konstitution naturhaft erstrebt.70 Eine endliche Freiheit muß also nicht nur als geschaffene gedacht werden, sondern zugleich als solche, die der göttlichen Hilfe bedürftig bleibt. Womöglich ist die (verfehlte) Meinung, Kant behaupte mit der ‚Autonomie‘ des vernünftigen Willens eine Art Autarkie des moralischen Subjekts, der Grund der Kant-Phobie, die bei manchen Katholiken bis heute anhält.71 Der spekulative Gedanke, daß ein Allmächtiger und unendlich Vollkommener keine Welt schaffen kann, die monokausal von ihm beherrscht würde, ohne seine eigenen Attribute aufzuheben, daß er also auf Grund der Vollkommenheit seiner Güte nur eine Welt schaffen kann, in der Geschöpfe auf das ‚Wort Gottes‘ hin geschaffen sind, auf göttliche und freie Tätigkeit hin, verbindet sich im elften Buch der Confessiones mit einer phänomenologischen Fundierung, in der aufgezeigt wird, daß das Sein des Geschaffenen ohne seine freie Aktivität nicht denkbar ist. Zugleich weist die phänomenologische Reflexion auf, daß die Konstitution der Zeit durch den endlichen Geist ihr höchstes Ziel verfehlt und so der Gnade des Allmächtigen bedürftig bleibt. Schöpfung kann nur vermittelst der Christologie ge68 conf. 11,38: „agitur et agitur“; „actiones hominis“; von ‚actiones hominis‘ spricht Augustinus häufig, bes. im zehnten und elften Buch der Confessiones (z.B. 10,14.46.65; 11,23.38.41). Ohne solche ‚actio‘ gäbe es die Zeit nicht. 69 Vgl. Thomas von Aquin, S.Th. I, q. 1, a. 8, ad 2 (s.o.); weiterhin unter Hinweis auf Augustinus (S.Th. I, q. 2, a. 3, ad 1): „hoc ergo ad infinitam dei bonitatem pertinet, ut esse permittat mala, et ex eis eliciat bona“. Die von Anbeginn sinngerechte Welt, in der das malum keinen Platz hätte, wäre für den endlichen Menschen sinnlos, da sie ihm keinen Platz für die von ihm gesuchte Sinnverwirklichung ließe; vgl. Hartmann, Teleologisches Denken, 15 und 57. 70 Vgl. Kant, KpV A 265f.: Wenn „Gott und Ewigkeit, mit ihrer furchtbaren Majestät, uns unblässig vor Augen liegen [...] so würden die mehrsten gesetzmäßigen Handlungen aus Furcht, nur wenige aus Hoffnung und gar keine aus Pflicht geschehen, ein moralischer Werth der Handlungen aber, worauf doch allein der Werth der Person und selbst der der Welt in den Augen der höchsten Weisheit ankommt, würde gar nicht existiren.“ 71 Vgl. N. Fischer (Hg.), Kant und der Katholizismus. Stationen einer wechselhaften Geschichte, Freiburg/Basel/Wien 2005.
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dacht werden, die als solche auf die Fragen verweist, die Augustinus bald nach Abschluß der Confessiones in De trinitate untersucht hat.72 Augustins Weg, auf dem er zur Untersuchung der Zeit – zur Untersuchung des Seins der Zeit selbst – gelangt ist, wirft zugleich Licht auf die Reflexionen zum Sein Gottes, sofern er als Schöpfer gedacht wird – und auf die Reflexionen zum Verhältnis des Schöpfers zur Schöpfung. Damit die Schöpfung überhaupt ein Ziel hat, das als Grund der Schöpfung gelten kann, muß es in der Schöpfung eigenständige, endliche Geschöpfe mit ursprünglicher Kausalität geben.73 Damit endliche Freiheit gedacht werden kann, muß sie sich in einer Natur mit nicht ursprünglicher, gesetzmäßig verlaufender Kausalität vorfinden, die ihr Spielraum zum Handeln gibt.74 Damit endlichen Geschöpfen eigenes Sein zugesprochen werden kann, muß ihnen eine eigene ursprüngliche Kausalität zukommen, da ihr Erscheinen sonst als bloßes Epiphänomen aufträte. Damit die Freiheit endlicher Wesen gedacht werden kann, dürfen sie ihr höchstes Ziel nicht allein durch ihr eigenes Vermögen, durch ihre eigene Freiheit verwirklichen können, weil sie ansonsten notwendigerweise nur das täten, was ihnen von Natur aus als Ziel vorgegeben wäre.75 Das Sein endlicher Geschöpfe ist
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Vgl. R. Kany, Augustins Trinitätsdenken. Bilanz, Kritik und Weiterführung der modernen Forschung zu ‚De trinitate‘, Tübingen 2007, bes. 420 (vgl. 409–427) mit Hinweisen zur Abfolge beider Schriften und Augustins Deutung der Trinität als Weg, der erlaubt, Einheit und Vielheit, Endliches und Unendliches, Freiheit und Gnade zusammen zu denken. 73 Der vollendet Selbstgenugsame ist nicht selbstgenügsam (Selbstgenügsamkeit ist defizitär, weil ohne Überfluß), sondern ermöglicht Anderen das Sein. Um die Schöpfung denken zu können, darf das Höchste nicht nur im Bezug des Höchsten allein auf sich selbst zu denken, auch wenn die trinitarische Selbstbezüglichkeit Gottes als Vorstufe des Schöpfungsgedankens gedacht werden kann, wie dies Nikolaus von Kues in seiner Zeitbetrachtung durchführt. Zur Verknüpfung von Zeit und Trinität vgl. De aequalitate 16: „Et haec anima in se videt, quae est intemporale tempus. Videt igitur se intemporale unitrinum tempus: praeteritum, praesens et futurum.“ 19: „Quod igitur anima in se reperit de perfectione essentiae suae esse, scilicet unitrinitatem temporis intemporalis, et generationem secundi primo tempori succedentis et processionem tertii ab utroque, et aequalitatem naturae in tribus hypostasibus intemporalis temporis et inexistentiam unius hypostasis in alia, et ita de reliquis, ad sui principium, quod est aeternum, transumit, ut in se tamquam in „speculo et aenigmate“ suum principium aliqualiter possit intueri.“ Vgl. 34: „Ob hoc necessario affirmamus ipsum unitrinum, licet omnem nostrum conceptum excedat, ante alteritatem et numerabilia principium unum esse trinum.“ 74 Für endliche Wesen ist die ‚blinde‘ Kausalität der Ort der Möglichkeit, diese Kausalität frei zu überformen. 75 Freiheit ohne Gnade degeneriert zum Klugheitsstreben (es darf nicht so sein, daß ich kraft bloßen Wollens den guten Willen und die ‚vita beata‘ erlangen kann). Nur im Ausgang von ‚ignorantia‘ und ‚difficultas‘, die auch zur Gnadenbedürftigkeit führen, ist das höchste Ziel möglich; wir bedürfen notwendig der Gnade und eines Mittlers. Kants
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also nur im Zusammenspiel von menschlicher und göttlicher Freiheit denkbar, wobei die Freiheit Gottes sich als Gnade nur an freie Geschöpfe wenden kann, da unfreie Wesen gar nicht fähig sind, Gnade als solche zu bemerken und zu empfangen.76 Der Schöpfungsgedanke und die Diagnose der faktischen Situation des Menschen, die zur Zeitbetrachtung des elften Buchs der Confessiones führen, drängen Augustinus einerseits dazu, die Trinitätslehre zu bedenken, andererseits seine Lehren zu Freiheit und Gnade auch konkret im Blick auf den Gang der Geschichte zu reflektieren, wie er dies in De civitate dei versucht hat. Daß er keine glatten Lösungen erreicht hat, entspricht der faktischen Situation der Menschen, deren Herz ruhelos ist, und sollte als Vorzug angesehen werden.77
Siglen der Werke Augustins civ. conf. ep. lib. arb. retr. vera rel.
= = = = = =
De civitate dei libri viginti duo Confessionum libri tredecim Epistulae De libero arbitrio libri tres Retractationum libri duo De vera religione liber unus
Siglen der Werke Kants KpV KrV KU
= Kritik der praktischen Vernunft = Kritik der reinen Vernunft = Kritik der Urteilskraft
Kritik an der „Glaubenscommission“ (Der Streit der Fakultäten A XXIIIf.= AA 7,10), wäre heute gut gegen heutige Vertreter der Prädestinationslehre zu wenden. 76 Augustins Denkweg beginnt im Blick auf die Freiheit mit einer extremen Position, danach beginnt bald ein Schwanken (lib. arb. 3); in retr. kommt er zu einer Position, die der Kants ähnelt. Kant hatte in KrV auch noch übertriebene Erwartungen im Blick auf die Möglichkeit, das höchste vollendete Gut aus Freiheit zu verwirklichen. 77 Es muß bei ‚ignorantia‘ und ‚difficultas‘ bleiben, weil sonst die Situation der ‚tentatio‘ (vgl. conf. 10, 39–66), die Kant als Situation des ‚Streits‘ versteht (KpV A 264), durch die Hintertür weggeschafft würde.
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Deus unus est. Meister Eckharts Metaphysik der Einheit und ihr intellekttheoretisches Fundament Markus Enders
0. Einleitung Die Einheit Gottes und deren Verhältnis zu der von ihr begründeten Vielheit hat Meister Eckhart in seinen lateinischen Schriftkommentaren, insbesondere in seinen Kommentaren zum Buch Exodus und zum alttestamentlichen Buch der Weisheit, aber auch in zahlreichen anderen Passagen seines lateinischsprachigen und seines deutschsprachigen Werkes, einläßlich und intensiv behandelt. Von den loci classici der Einheitsmetaphysik Meister Eckharts sollen hier zumindest die wichtigsten erörtert werden – mit Ausnahme der in Eckharts Kommentar zum alttestamentlichen Buch Exodus enthaltenen.1 Diese aber sind die im folgenden als Hauptgliederungspunkte dieses Beitrages aufgeführten Texte, die in dieser Reihenfolge einer erst analytischen und dann zusammenfassenden Deutung unterzogen werden: 1. Eckharts intellekttheoretische Begründung des Seins Gottes in seiner ersten Pariser Quaestio 2. Gottes Einheit, Ununterschiedenheit, reflexive Selbstbejahung und seine Prinziphaftigkeit für die zahlhaft bestimmte Vielheit in Eckharts „Expositio libri Sapientiae“ 3. Die intellekttheoretische Begründung der Einheit Gottes in Eckharts lateinischer Predigt 29 „Deus unus est“ und ihre mutmaßliche Inspirationsquelle bei Moses Maimonides 4. Die absolute Einheit als das Wesen Gottes und die Vereinigung der Seele mit dem einfachen Wesen Gottes nach Eckharts deutscher Predigt 21 „Unus deus et pater omnium“ 5. Die Predigt 37 „Unus deus et pater omnium“ zu Eph 4,1–6. 1 Aus Umfangsgründen konnte Eckharts vom Vf. bereits ausgeführte Rezeption und Transformation der Einheitsmetaphysik des Moses Maimonides in Meister Eckharts Kommentar zum Buch Exodus in diesen Beitrag leider nicht mehr aufgenommen werden; dieser sachlich komplementäre Teil soll als ein eigener Aufsatz entweder im MeisterEckhart-Jahrbuch oder im Heinrich-Seuse-Jahrbuch baldmöglichst erscheinen.
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Mit einer kurzen Zusammenfassung der Interpretationsergebnisse schließen die folgenden Ausführungen ab (6.). Eine einführende Vorbemerkung sei vorangestellt: Im „Opus tripartitum“, seinem aus einem Thesen-Werk, einem Quästionen-Werk und einem Auslegungs-Werk bzw. Werk der Schriftkommentare bestehenden dreigeteilten lateinischsprachigen Hauptwerk, das insgesamt und ganz besonders in Bezug auf die beiden ersten Teile Fragment geblieben ist, hat Eckhart, wie Jan A. Aertsen im Anschluß an Josef Koch immer wieder gezeigt hat,2 die Grundzüge einer Transzendentalienmetaphysik entwickelt, die sowohl durch die Verdoppelung der termini generales in abstracta und concreta wie etwa unitas und unum, bonitas und bonum, veritas und verum etc. als auch durch deren Gleichsetzung mit Gott charakterisiert ist. Während Gott allein im eigentlichen Sinn Sein, Eines bzw. Einheit, Wahres bzw. Wahrheit und Gutes bzw. Güte ist, sind die Geschöpfe dies oder das Seiende (ens hoc et hoc), dies oder das Eine, Wahre, Gute etc. und fügen zum eigentlich Seienden, Einen, Wahren etc. gar nichts an Seiendheit, Einheit, Wahrheit etc. hinzu; alles Geschöpfliche ist also durch Teilung bzw. Distinktion gekennzeichnet. Gott hingegen ist ununterschieden. Hinzu tritt noch die Unterscheidung zwischen commune und proprium, wobei jenes (commune) Merkmal Gottes, dieses (proprium) Merkmal der Geschöpfe ist. Diese Gegenüberstellung von Gott und den Geschöpfen bedeutet für Eckharts Transzendentalienlehre, daß das Geschöpfliche als das vereinzelte, endliche Seiende etc. ein Abfall vom Seienden, das Gott ist, darstellt. Dies wiederum hat ethische Konsequenzen: Das Geschöpf muß in ein Seiendes als Seiendes etc. umgeformt werden. Je vollkommener der Mensch sein will, desto mehr hat er sich von jeder Partikularität zu lösen und jede Differenz abzulegen, je mehr er die Vielheit meidet und die Einheit erstrebt, desto vollkommener wird er. Eckharts Tranzendentalien-Metaphysik verwandelt sich daher in eine Ethik der Transzendentalienlehre bzw. in eine, um mit Theo Kobusch zu sprechen, praktische Metaphysik.3 Für unsere Fragestellung ergibt sich daher aus diesem Ansatz: Einssein und Einheit kommt alleine Gott und dem Geschöpf nur insoweit zu, als es in Gott bzw. Gott in ihm ist. 2
Vgl. insb. J. A. Aertsen, „Der ,Systematiker‘ Eckhart, in: A. Speer/L. Wegener (Hgg.), Meister Eckhart in Erfurt, Berlin/New York 2005, 189–230. 3 Vgl. Th. Kobusch, „Lesemeistermetaphysik – Lebemeistermetaphysik. Zur Einheit der Philosophie Meister Eckharts, in: A. Speer/L. Wegener (Hgg.), Meister Eckhart in Erfurt, Berlin/New York 2005, 239–258, insb. 247: „Indem die mittelalterliche Mystik die spätantik-patristische Idee einer nicht-theoretischen Metaphysik, d. h. einer Metaphysik des inneren Menschen, aufnimmt – Eckharts Traktat ,Von dem edeln Menschen‘ ist ja in Wirklichkeit einer über den inneren Menschen –, stellt sie sich selbst auch in die Tradition der Lebensform-Philosophie. Die mittelalterliche Mystik ist es [...], die als legitime Nachfolgerin der spätantiken Lebensform-Philosophie anzusehen ist.“
Deus unus est. Meister Eckharts Metaphysik der Einheit
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1. Eckharts intellekttheoretische Begründung des Seins Gottes in seiner ersten Pariser Quaestio In seiner während seines ersten Pariser Magisteriums (1303–1305) verfaßten ersten Pariser Quaestio erörtert Eckhart die traditionelle Frage nach dem Verhältnis von Sein und Erkennen in Gott. Gegen die Autorität insbesondere des Thomas von Aquin, der im reinen, durch sich selbst subsistierenden Sein die höchste Bestimmung Gottes und die Grundlage aller anderen Gottesprädikate sieht, kehrt Eckhart dieses Begründungsverhältnis zwischen Sein und Erkennen in Gott genau um: Das Erkennen soll die eigentümliche und höchste Bestimmung Gottes und daher die Grundlage seines Seins sein. Denn er sei „nicht mehr der Meinung, daß Gott erkennt, weil er ist; sondern, weil er erkennt, deshalb ist er, in der Weise, daß Gott Intellekt und Erkennen ist, und daß das Erkennen selbst die Grundlage des Seins selbst ist.“4 Indem hier Eckhart das Sein Gottes in dessen Denken fundiert, erhebt er das Denken „zur höchsten und eigentlichsten Bestimmung des Absoluten, in der alle anderen Bestimmungen, die Gott zukommen, gerade auch sein Sein, gründen.“5 Als biblische Rechtfertigung seiner Umkehrung des traditionellen Begründungsverhältnisses zwischen dem Sein und dem Geist führt Eckhart den ersten Vers des Johannesprologs an, dem zufolge das Wort, nicht aber das Sein am Anfang von allem stehe. Das Wort aber sei sowohl als sprechendes als auch als gesprochenes auf den Intellekt bezogen ebenso wie die Wahrheit, die mit dem Logos in Joh 14,6 identifiziert werde.6 Eckhart gibt jedoch auch philosophische Gründe für diesen Primat des Intellekts vor dem Sein an: Denn das Wissen des Intellekts sei unerschaffbar, während das Sein, wie er aus dem Liber de causis folgert, das erste Geschöpf sei. Deshalb sei Gott Intellekt und Er-
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Vgl. Quaest. Par. I n. 4 [LW V, 40,5–7]: „Tertio ostendo quod non ita videtur mihi modo, ut quia sit, ideo intelligat, sed quia intelligit, ideo est, ita quod deus est intellectus et intelligere et est ipsum intelligere fundamentum ipsius esse.“ Hierzu vgl. R. Imbach, Deus est intelligere. Das Verhältnis von Sein und Denken in seiner Bedeutung für das Gottesverständnis bei Thomas von Aquin und in den Pariser Quaestionen Meister Eckharts, Freiburg/Schweiz 1976 (= Deus est intelligere), 186: „Das Denken ist Fundament des Seins, weil Gottes Denken causa der Wirklichkeit ist.“ 5 J. Halfwassen, „Gibt es eine Philosophie der Subjektivität im Mittelalter? Zur Theorie des Intellekts bei Meister Eckhart und Dietrich von Freiberg, Theologie und Philosophie 72 (1997), 338–360 (= Philosophie der Subjektivität im Mittelalter?), hier: 343. 6 Vgl. Quaest. Par. I n. 4 [LW V, 40,7–40,12]: „Quia dicitur Ioh. I: ‚in principio erat verbum, et verbum erat apud deum, et deus erat verbum‘. Non autem dixit evangelista: ‚in principio erat ens et deus erat ens‘. Verbum autem se toto est ad intellectum et est ibi dicens vel dictum et non esse vel ens commixtum. Item dicit salvator Ioh. 14: ‚ego sum veritas‘. Veritas autem ad intellectum pertinet importans vel includens relationem.“
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kennen und nicht seiend oder Sein.7 Für diese These einer Identität zwischen dem absoluten Intellekt und dem reinen Erkennen mit Gott und einer Nicht-Identität Gottes mit dem (geschaffenen) Sein führt Eckhart noch weitere Gründe an: Das Erkennen sei höher als das Sein und von anderer Beschaffenheit8 und muß folglich Gott – als dem Inbegriff des Unübertrefflichen – zukommen. Diese Annahme der Superiorität und Verschiedenheit des Erkennens gegenüber dem Sein begründet Eckhart mit einer Reihe von Argumenten: Erstens sei jede natürliche Bewegungsursache entweder selbst erkenntnisfähig oder lasse sich auf eine intelligente Bewegungsursache zurückführen. Das im Kausalzusammenhang Frühere aber sei vollkommener als das Spätere. Deshalb sei das Erkennen vollkommener als das Sein und deshalb komme Gott als dem Höchsten das Erkennen als die erste und höchste Rangstufe der Vollkommenheiten zu.9 Zweitens
7 Vgl. Quaest. Par. I n. 4 [LW V, 41,6–14]: „Unde dicit auctor De causis: ‚prima rerum creatarum est esse‘. Unde statim cum venimus ad esse, venimus ad creaturam. Esse ergo habet primo rationem creabilis, et ideo dicunt aliqui quod in creatura esse solum respicit deum sub ratione causae efficientis, essentia autem respicit ipsum sub ratione causae exemplaris. Sapientia autem, quae pertinet ad intellectum, non habet rationem creabilis. [...] Et ideo deus, qui est creator et non creabilis, est intellectus et intelligere et non ens vel esse.“ Dabei versteht Eckhart unter dem Sein „in Übereinstimmung mit der platonisch-aristotelischen Tradition – soviel wie ‚Bestimmtsein‘, also Begrenztheit, und demzufolge ist alles in seinem Sein Bestimmte und Begrenzte nicht aus sich selbst, sondern setzt ein bestimmendes Prinzip voraus, dem es das Sein verdankt; das Prinzip aller Bestimmungen – das Eine, das der christliche Platonismus mit Gott identifiziert, – kann ferner selbst kein Bestimmtes und damit auch kein Seiendes mehr sein, wenn es alle Bestimmungen begründen soll“ (Halfwassen, Philosophie der Subjektivität im Mittelalter?, 344). Imbach, Deus est intelligere, 167ff., hat gezeigt, daß Eckhart hier dem Sein eine dreifache Bedeutung zuschreibt: Verursacht- bzw. Begründet- und damit Abhängigsein von Gott, Begrenztsein bzw. Endlichsein und Substanz-Sein, wobei Eckhart die Substanz als Form bzw. Wesen versteht und die Akzidentien im Gefolge des Dietrich von Freiberg als seinslos auffaßt. Daß Eckhart das Sein „geradezu als Wesensmerkmal des Geschaffenen, also als Index des Begründetseins“ (Halfwassen, Philosophie der Subjektivität im Mittelalter?, 344), versteht, geht über den Liber de causis, der eine arabische Bearbeitung der Stoicheiosis theologike des Proklos darstellt, auf Proklos selbst zurück, bei dem das Sein das erste Prinzipiat des Einen ist, vgl. Halfwassen, Philosophie der Subjektivität im Mittelalter?, 344 Anm. 29. 8 Vgl. Quaest. Par. I n. 5 [LW V, 42,1f.]: „[...] intelligere est altius quam esse et est alterius condicionis“; ebd., n. 7 [LW V, 43,6f.]. 9 Vgl. Quaest. Par. I n. 5 [LW V, 42,3–7]: „Dicimus enim omnes quod opus naturae est opus intelligentiae. Et ideo omne movens est intelligens aut reducitur ad intelligentiam, a quo in suo motu dirigitur. Et ideo habentia intellectum sunt perfectiora non habentibus, sicut in ipso fieri imperfecta tenent primum gradum, ita quod in intellectu et intelligente stat resolutio sicut in summo et perfectissimo. Et ideo intelligere est altius quam esse.“ Vgl. auch ebd., n. 6 [LW V, 43,3–5]: „Ego autem credo totum contrarium.
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sei das Erkennen, das der Geistseele zukomme, von anderer Beschaffenheit bzw. Wesensbestimmtheit als das Sein. Dies zeigt Eckhart an dem Erkenntnisbild in der Geistseele auf, das als solches nicht das von ihm abgebildete Seiende und insofern ein Nicht-Seiendes sei.10 Schließlich führt Eckhart die Unvorstellbarkeit der Weise des göttlichen Erkennens für uns Menschen auf Grund der fundamentalen Differenz im Vollkommenheitsgrad zwischen göttlichem und menschlichem Erkennen als dritten Grund für die Unübertrefflichkeit und damit Göttlichkeit des Erkennens gegenüber der Inferiorität und damit Geschöpflichkeit des Seins an: Während das menschliche Erkennen einen Abfall vom Seienden darstelle, von dem es verursacht werde, sei das Seiende ein Abfall vom Wissen Gottes, von dem es seinerseits verursacht werde: „Und deshalb ist alles, was in Gott ist, über dem Sein selbst und ist ganz Erkennen.“11 In einem nächsten Schritt formuliert Eckhart Beweisgründe dafür, daß es in Gott kein Seiendes und kein Sein gebe. Denn nichts sei seinem Wesen nach sowohl in der wahren Ursache als auch in dem Verursachten, Gott aber sei die einzige Ursache allen Seins. Folglich sei das Sein seinem Wesen nach nicht in Gott.12 Eckhart fügt allerdings eine bedeutsame Einschränkung hinzu: Wolle man aber das Erkennen als ein Sein bezeichnen, so habe er nichts dagegen. Gleichwohl komme Gott aber das Sein nur durch das Erkennen zu.13 ‚In principio‘ enim ‚erat verbum‘, quod ad intellectum omnino pertinet, ut sic ipsum intelligere teneat primum gradum in perfectionibus, deinde ens vel esse.“ 10 Vgl. Quaest. Par. I n. 7 [LW V, 43,6–44,6]: „Secundo accipio [...]. Quae ergo ad intellectum pertinent, in quantum huiusmodi, sunt non-entia.“ Außerdem könne unser Intellekt sich etwas fiktiv vorstellen, das es als solches in Wirklichkeit gar nicht geben könne, wie etwa ein Feuer ohne dessen Wirkeigenschaft der Wärme, vgl. ebd., p. 44,7–9: „Intelligimus enim, quod deus non posset facere, ut intelligens ignem non intelligendo eius calorem; deus tamen non posset facere quod esset ignis et quod non calefaceret.“ Zur Seinslosigkeit der species intelligibilis, d. h. des Erkenntnisbildes, und der ihr zugrundeliegenden Bild-Theorie Eckharts vgl. Imbach, Deus est intelligere, 179f. 11 Vgl. Quaest. Par. I n. 8 [LW V, 44,10–14]: „Tertio accipio quod hic imaginatio deficit. Differt enim nostra scientia a scientia dei, quia scientia dei est causa rerum et scientia nostra est causata a rebus. Et ideo cum scientia nostra cadat sub ente, a quo causatur, et ipsum ens pari ratione cadit sub scientia dei; et ideo, quidquid est in deo, est super ipsum esse et est totum intelligere.“ 12 Vgl. Quaest. Par. I n. 8 [LW V, 45,1–3]: „Ex his ostendo quod in deo non est ens nec esse, quia nihil est formaliter in causa et causato, si causa sit vera causa. Deus autem est causa omnis esse. Ergo esse formaliter non est in deo.“ Im Hintergrund steht Eckharts Lehre von der wahren als der analogen Ursache, nach der das Verursachte völlig passiv und bedürftig und zudem in seiner Seinsursache geistig präexistent ist, vgl. Imbach, Deus est intelligere, 185f. 13 Vgl. Quaest. Par. I n. 8 [LW V, 45,3–5]: „Et si tu intelligere velis vocare esse, placet mihi. Dico nihilominus quod, si in deo est aliquid, quod velis vocare esse, sibi competit per intelligere.“
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Ferner könne Gott als das Prinzip entweder des Seins selbst oder des Seienden nicht selbst Sein oder seiend sein, weil das Prinzip niemals zugleich das von ihm hervorgebrachte und bestimmte Prinzipiierte sein könne.14 Es gebe daher zwar eine Präexistenz der Geschöpfe in Gott, nicht aber in ihrem geschöpflichen, sondern in ihrem exemplarursächlichen, göttlichen Sein und deshalb sei in Gott nicht das (kreatürliche) Sein, sondern die „Lauterkeit des Seins“, die von dem in Ex 3,14 geoffenbarten Gottesnamen „Ich bin, der ich bin“ zum Ausdruck gebracht werde.15 Die innergöttliche, exemplarursächliche Seinsweise alles kreatürlich Seienden aber sei die des (göttlichen) Intellekts und des (göttlichen) Erkennens selbst, nicht die des geschaffenen Seienden.16 Eckhart begründet seine Annahme, daß Gott kein Seiendes, sondern etwas Höheres als das Seiende, nämlich Intellekt und Erkennen sei, darüber hinaus mit dem aristotelischen Theorem der Unbestimmtheit des (bei Aristoteles erleidenden) Intellekts, der alle Formen aufzunehmen vermag und gerade deshalb selbst wesenhaft unbestimmt, mithin unendlich sein muß.17 Der Grund für diese Unbestimmtheit bzw. Reinheit und Passivität 14
Vgl. Quaest. Par. I n. 9 [LW V, 45,6–8]: „principium nunquam est principiatum, ut punctus nunquam est linea. Et ideo cum deus sit principium vel scilicet ipsius esse vel entis, deus non est ens vel esse creaturae“; Eckhart nimmt hier den in der platonischen, altakademischen, aristotelischen und neuplatonischen Metaphysik wiederholt formulierten prinzipientheoretischen Grundsatz in Anspruch, daß das Prinzip das Nichts seiner Prinzipiate ist, vgl. hierzu Halfwassen, Philosophie der Subjektivität im Mittelalter?, 343 Anm. 28 (mit den einzelnen traditionellen Belegstellen); zur Differenz zwischen dem Prinzip als reinem Denken und dem Prinzipiierten als Sein vgl. Imbach, Deus est intelligere, 187f. 15 Vgl. Quaest. Par. I n. 9 [LW V, 45,9–15]: „Et ideo cum esse conveniat creaturis, non est in deo nisi sicut in causa, et ideo in deo non est esse, sed puritas essendi. Sicut quando quaeritur de nocte ab aliquo, qui vult latere et non nominare se: quis es tu? respondet: ‚ego sum qui sum‘, ita dominus volens ostendere puritatem essendi esse in se dixit: ‚ego sum qui sum‘. Non dixit simpliciter ‚ego sum‘, sed addidit : ‚qui sum‘. Deo ergo non competit esse, nisi talem puritatem voces esse.“ 16 Vgl. Quaest. Par. I n. 10 [LW V, 46,2–6]: „Cum igitur deus sit universalis causa entis, nihil quod est in deo, habet rationem entis, sed habet rationem intellectus et ipsius intelligere, de cuiuc ratione non est, quod causam habeat, sicut est de ratione entis quod sit causatum; et in ipso intelligere omnia continentur in virtute sicut in causa suprema omnium.“ 17 Vgl. Quaest. Par. I n. 12 [LW V, 47,14–48,4]: „Sic etiam dico quod deo non convenit esse nec est ens, sed est aliquid altius ente. Sicut enim dicit Aristoteles quod oportet visum esse abscolorem, ut omnem colorem videat, et intellectum non esse formarum naturalium, ut omnes intelligat, sic etiam ego ‚nego‘ ipsi deo ipsum esse et talia, ut sit causa omnis esse et omnia praehabeat, ut sicut non negatur deo quod suum est, sic negetur eidem ‚quod suum non est‘.“ Hierzu vgl. Halfwassen, Philosophie der Subjektivität im Mittelalter?, 344: „Denn der Intellekt vermag alle Bestimmungen zu erkennen; um aber alle Bestimmungen erkennen zu können, muß er sie alle erkennend aufnehmen kön-
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bzw. Empfänglichkeit und Aufnahmefähigkeit des erleidenden Intellekts für alle Formen aber ist dessen Seinslosigkeit bzw. Materiefreiheit.18 Dem göttlichen Intellekt alle kreatürlichen Seinsformen abzusprechen – dies ist für Eckhart eine wahre negativ-theologische Aussage, die – wie die gesamte negative Theologie – in Wahrheit jedoch eine überschwängliche affirmative Aussage über Gott darstelle. Denn sie spreche Gott nichts ab, was ihm von Natur aus zukomme, sondern sie behaupte nur, „daß Gott alles im voraus in sich enthält in Reinheit, Fülle und Vollkommenheit, weiter und größer, da er Wurzel und Ursache aller Dinge ist.“19 Die Weise dieser ewigen, präexistenten Vorhabe aller Geschöpfe durch Gott aber ist die des absoluten Denkens – dies deutet Eckhart am Ende der ersten Pariser Quaestio an, wenn er auf Gottes Selbstoffenbarung in Ex 3,14 rekurriert: „Ich bin, der ich bin“. Denn es sei die Reinheit, Fülle und Vollkommenheit des göttlichen Seins als absoluter Geist und absolutes Erkennen, die der geoffenbarte Gottesname „Ich bin, der ich bin“ zum Ausdruck bringe.20 In seinem aus Umfangsgründen hier notgedrungen unberücksichtigt gebliebenen Kommentar zum Buch Exodus deutet Eckhart diese Selbstaussage Gottes noch intensiver und radikaler.
nen und kann daher nicht schon von sich selbst her ein Bestimmtes, und das bedeutet: ein in seiner Bestimmtheit Fixiertes sein, sondern er muß an sich selbst unbestimmt und das heißt zugleich: unendlich sein. Als das, was alle Bestimmungen erkennend aufnimmt, muß der Intellekt an sich selber von jeder gegenständlichen Bestimmtheit frei sein, so wie die Sehkraft, die alle Farben erkennt, nach Aristoteles (De anima 418 b 27) selbst farblos ist. Deshalb ist das Erkennen als solches – also nicht nur das Göttliche, sondern auch unser Erkennen – unerschaffen, und zwar wesenhaft unerschaffbar: Sapientia autem, quae pertinet ad intellectum, non habet rationem creabilis. Denn Erschaffen bedeutet das Setzen von Seiendem, also von Bestimmtem, und deshalb kann das Erkennen als die von sich her unbestimmte Aktivität des Setzens und Aufnehmens von Bestimmungen nicht selbst wieder als erschaffbar gedacht werden, denn dann wäre sie an sich selbst schon bestimmt. Hierin gründet Eckharts Lehre von der Unerschaffenheit der Vernunft [...]; zugleich zeigt sich in ihr bereits, daß Eckharts Entdeckung des Prinzipcharakters der Subjektivität nicht auf Gott beschränkt bleibt, sondern die Vernunft als solche betrifft.“ Zur Ungeschaffenheit des Intellekts vgl. auch Imbach, Deus est intelligere, 173 Anm. 87, 197f. und 182f.: Weil das Erkennen Teilhabe an den ewigen Ideen bzw. Exemplarursachen der Kreaturen in Gott sei, könne es nicht erschaffen sein. 18 Hierzu vgl. ausführlich Imbach, Deus est intelligere, 173–177. 19 Vgl. Quaest. Par. I n. 12 [LW V, 48,4–8]: „Quae negationes secundum Damascenus primo libro habent in deo superabundamtiam affirmationis. Nihil igitur nego deo, ut sibi natum est comvenire. Dico enim quod deus omnia praehabet in puritate, plenitudine, perfectione, amplius et latius, existens radix et causa omnium.“ 20 Vgl. Quaest. Par. I n. 12 [LW V, 48,8]: „Et hoc voluit dicere, cum dixit: ‚ego sum qui sum‘.“
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2. Gottes Einheit, Ununterschiedenheit, reflexive Selbstbejahung und seine Prinziphaftigkeit für die zahlhaft bestimmte Vielheit in Eckharts „Expositio libri Sapientiae“ 2.1 Unbegrenztheit, Ununterschiedenheit, Einheit, Fülle und Einzigkeit Gottes Innerhalb seines Kommentars zum Buch der Weisheit legt Eckhart u. a. die Schriftstelle „Deus est unus“ („Gott ist einer“) nach Gal 3,20 mit einheitsmetaphysischem Schwerpunkt aus: Hier leitet Eckhart die Einheit und Einzigkeit Gottes erstens aus seiner Unbegrenztheit ab: Denn unbegrenzt sei dasjenige, außerhalb dessen nichts ist. Daraus aber folgt, daß es zwei unbegrenzte Wesen nicht geben könne; Gott aber sei unbegrenzt, weil er von nichts begrenzt werde; also sei er einer und einzig.21 Zweitens leitet Eckhart Gottes Einzigkeit aus seiner Ununterschiedenheit ab und weist darauf hin, daß Ununterschiedenheit und Einheit dasselbe sind, wie er in seinem Sapientia-Kommentar schon zuvor aufgewiesen hat. Es kann aber nicht zwei oder mehr Ununterschiedene geben, da diese voneinander verschieden sein müßten und folglich nicht mehr ununterschieden wären. Die Einzigkeit ist daher ein Implikat der Ununterschiedenheit genauso wie der Einheit.22 Drittens folge die Einzigkeit Gottes auch aus seiner Identität mit dem Sein selbst, die von Ex 3,14 gelehrt werde. Auch dieser Satz wird durch eine reductio ad absurdum der kontradiktorisch entgegengesetzten Annahme bewiesen: Denn wäre Gott nicht das Sein selbst, dann gäbe es zwei Götter, die beide nicht das Sein selbst, sondern jeweils nur ein Seiendes sein könnten; dann aber wäre jedes von ihnen hervorgebrachte Seiende zwei Seiende, was unmöglich ist. Es folgt daher aus der Gleichsetzung Gottes mit dem Sein selbst auch dessen Einzigkeit.23 Darüber hinaus führt Eckhart aus, daß der Begriff des Einen zwar dem Klang nach, als das Nicht-Viele, verneinend, der Sache nach jedoch bejahend und als die Verneinung der Verneinung sogar die reinste Bejahung und die Fülle des be-
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Vgl. In Sap. n. 146 [LW II, 484, 2–5]: „impossibile est duo esse infinita. Hoc est per se notum intelligenti terminos. Infinitum enim est extra quod nihil est. Deus autem, utpote nullo genere finitus et limitatus aut finibus comprehensus, infinitus est, ut iam supra dictum est. Igitur ipse est unus et unicus.“ 22 Vgl. In Sap. n. 146 [LW II, 484, 6–8]: „impossibile est duo esse infinita. duo vel plura indistincta. Indistinctum enim est unum idem, ut etiam supra dictum est; sed deus indistinctus est et indistinctum. Igitur impossibile es esse plures deos.“ 23 Vgl. In Sap. n. 146 [LW II, 484,9–485,2].
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jahten Begriffs sei.24 Die Fülle aber und das Übermaß komme nach Aristoteles dem Einen alleine zu.25 Mit anderen Worten: Es ist für Eckhart ein großes Anliegen, daß die Einheit Gottes nicht als ein abstrakter, negativer Verstandesbegriff im Sinne des bloß Nicht-Vielen, mißverstanden, sondern als die unbegrenzte, allumfassende Fülle des geistigen Wesensaktes Gottes verstanden wird, der einen höchst affirmativen Charakter – den einer reinen Selbstbejahung – besitzt; genauer als die Selbstreflexion Gottes, die die Fülle aller miteinander geeinten Seinsvollkommenheiten als eigene erkennt und darin zugleich sich selbst vollkommen bejaht. Dieses sich als Unbegrenztes stets erkennende und zugleich unendlich bejahende Eine lasse alles Viele und damit jede Zahl aus sich hervorgehen und gebe kraft seiner Einheit jedem Vielen seine zahlhaft bestimmte Seinsform, die eine Stufe oder Weise geeinter Vielheit darstellt.26 Zudem habe das Eine sowohl sachlich als auch begrifflich die Priorität gegenüber der Zweiheit und Vielheit, wie Eckhart mit Thomas und der ganzen Tradition abendländischer Einheitsmetaphysik betont. 2.2 Der Vorrang der Einheit vor der Wahrheit und Güte Gottes Ferner behauptet Eckhart dezidiert einen Vorrang der Einheit als Wesensbestimmung Gottes vor der Wahrheit und der Güte, den er folgendermaßen begründet:27 Im Unterschied zum Wahren und zum Guten füge das Eine nichts Positives zum Sein hinzu, weder sachlich noch begrifflich, sondern nur eine Verneinung. Denn das Eine bezeichne das Sein selbst in sich selbst, indem es das Nichts ausschließe und verneine. Das Eine verneine aber das Nichts, indem es jede Verneinung des Seins, die einen partikulären Seinsmangel bezeichne, verneine. Daher bezeichne das Eine eine Verneinung der Verneinung des Seins und somit verneine es das Nichts bzw., positiv formuliert, es drücke die Reinheit, den Kern oder den Gipfel des Seins selbst aus, den das Sein als solches noch nicht bezeichne. Das Eine stehe daher in einem ganz unmittelbaren Verhältnis zum Sein, es weise darauf hin, daß 24
In Sap. n. 147 [LW II, 485, 5–7]: „Sciendum igitur ad praesens quod li unum primo est voce quidem negativum, sed re ipsa affirmativum. Item est negatio negationis, quae est purissima affirmatio et plenitudo termini affirmati.“ 25 In Sap. n. 147 [LW II, 485, 8–9]: „Plenitudo autem et superabundantia et ‚quod per superabundantiam dicitur uni soli convenit‘, ut ait philosophus.“ 26 Vgl. In Sap. n. 148 [LW II, 485, 9–11]: „Adhuc autem unum se toto descendit in omnia, quae citra sunt, quae multa sunt, quae numerata sunt. In quibus singulis ipsum unum non dividitur, sed manens unum incorruptum profundit omnem numerum et sua unitate informat.“ 27 Vgl. In Sap. n. 149 [LW II, 486, 12–13]: „unitas sive unum proprissime deo convenit, magis etiam quam li verum et li bonum.“
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das bezeichnete Sein alles umfasse, was zu ihm gehört, und alles ausschließe, was zu seinem Oppositum – dem Nichts – gehört.28 Zwar steht auch hier die Transzendentalienmetaphysik Eckharts im Hintergrund, innerhalb der Transzendentalien aber spricht er aus dem genannten Grund der Einheit eine Vorrangstellung zu, bezeichnet sie doch nichts anderes als den reinen Sinngehalt, als die Reinheit und Vollkommenheit des Seins selbst. Weil also die Einheit oder das Eine die vollkommene Reinheit des Seins selbst bezeichnet und diesem nichts Positives hinzufügt, sei es mehr noch als das Wahre und das Gute die Gott eigentümlichste Bestimmung seines Wesens.29 Diese Einheit und Einzigkeit werde Gott daher von der Schriftstelle „Gott ist einer“ in Gal 3,20 zugesprochen. Daß diese selbst nicht zählbare Einheit Gottes Quelle und Ursprung aller Zahlen sowie zahlloser Gattungen und Arten und damit Anfang und Grenze von allem ist, ohne selbst einen Anfang und eine Grenze zu besitzen, entnimmt Eckhart dem Kommentar des Makrobius zum „Traum Scipios“. Aus den genannten Gründen folgt für Eckhart die Einzigkeit Gottes bzw. seiner Weisheit, die er selbst ist.30 2.3 Die Prinzip-Funktion der Einheit (Gottes) für alles Viele Eine für das Verhältnis von göttlicher Einheit und Vielheit bedeutsame Bestimmung entfaltet Eckhart im folgenden Abschnitt: Das von der Zahl wesenhaft unterschiedene, selbst also nicht zahlhaft bestimmte Eine verleihe der Zahl, die Eckhart im Anschluß an Boethius als eine aus Einheiten zusammengesetzte Vielheit versteht, und damit der Vielheit, überhaupt erst ihr Sein; darüber hinaus bewahre das Eine auch die Vielheit im Sein, indem es diese kraft seiner Ununterschiedenheit in sich enthalte bzw. diese durch Teilhabe an sich selbst erhalte – und zwar gemäß dem hier zitierten ersten Lehrsatz der „Elementatio theologica“ des Proklos, daß alle Vielheit am Einen teilhat.31 Aus der kreativen, d. h. aus sich selbst hervorbringen28
Vgl. In Sap. n. 148 [LW II, 485f.]; zum Verhältnis zwischen Sein und Einheit in Gott vgl. W. Goris, Einheit als Prinzip und Ziel. Versuch über die Einheitsmetaphysik des Opus tripartitum Meister Eckharts, Leiden/New York/Köln 1997 (= Einheit als Prinzip und Ziel), 72: „Das negative Moment im Denken des Einen als indivisio wird absolut gesetzt und exklusiv mit Gott verbunden, indem es die totale Inklusivität des Seins bezeichnet. Die Attribution des Seienden und Einen an Gott wird somit in ein produktives Verhältnis gebracht. Daß Gott eins ist, heißt, daß er alles Sein in sich schließt. Daß Gott seiend ist, heißt, daß er eins ist.“ 29 Vgl. In Sap. n. 149 [LW II, 486, 12–13]: „[...] unitas sive unum propriissime deo convenit, magis etiam quam li verum et li bonum.“ 30 Vgl. In Sap. n. 149 [LW II, 486f.]; zur Einheit als Prinzip von Zahl vgl. Goris, Einheit als Prinzip und Ziel, 114–123, 133–155. 31 Vgl. In Sap. n. 151 [LW II, 488].
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den, und der konstitutiven, d. h. das Hervorgebrachte im Sein zumindest für die Dauer seiner Existenz erhaltenden Wirkweise des Einen für alle Vielheit leitet Eckhart zwei neue Beweisgründe dafür ab, daß die Weisheit Gottes eine ist, daß also der göttliche Intellekt im Wesen vollkommen einfach ist: Der erste Beweis hat folgende Gestalt: Weil die Zahl ein Abfall (vom Einen) sei, das Abfallen von einem anderen und damit eine Minderung aber Gott als dem Ersten überhaupt und dem vollkommenen Sein nicht zukommen könne, könne in Gott keine Zahl sein, sei er also einer bzw. vollkommene Einheit.32 Der zweite Beweisgrund geht von der Entgegensetzung von Einheit und Vielheit als einer vollständigen Disjunktion aus und setzt damit auch die Gültigkeit des Satzes vom ausgeschlossenen Dritten voraus: Vielheit könne es in Gott, weil in ihm keine Zahl und damit keine Minderung sein könne, nicht geben. Folglich sei Gott einfach und einzig.33 Dem fügt Eckhart gleichsam einen Autoritätsbeweis für die Einheit Gottes zu, indem er auf eine Vorform des ontologischen Gottesbegriffs bei Augustinus verweist, kurioserweise fälschlich auf De vera religione, Kap. 11, während die gemeinte Stelle sich in De doct. Christiana, I, 7 findet: „Darin stimmen alle Menschen überein, daß Gott das ist, was sie allen anderen Dingen vorziehen“: „Denn alle“, so Augustinus weiter, „wetteifern miteinander um die Erhabenheit Gottes“.34 Eckhart leitet aus dieser Vorform des ontologischen Gottesbegriffs eines schlechthin unübertrefflichen Wesens die Einheit Gottes ab: Denn dieser Begriff schließe jeden Abfall und Abstieg und folglich Zahl und Vielheit in Gott aus.35 Damit hat er zweifellos Recht, sofern in einer henologischen Prinzipientheorie Zahl und Vielheit als derivative und damit abhängige Größen negativ konnotiert sind. Die Postmoderne, die eine antimetaphysische Verhältnisbestimmung von Einheit und Vielheit vornimmt, kehrt diese Wertung genau um, vertritt 32
Vgl. In Sap. n. 152 [LW II, 488,8–14]. Vgl. In Sap. n. 152 [LW II, 488,12–14]: „Sed in deo non est numerus, ut supra dictum est et probatum, quia nec casus in ipso est et quia ipse primus est et esse. Igitur deus unus est.“ 34 Vgl. In Sap. n. 153 [LW II, 489,1–3]: „[...] ait Augustinus De vera religione c. 11: ‚deum esse hoc omnes consentiunt quod ceteris rebus omnibus anteponunt‘.‚Omnes enim certatim pro excellentia dei dimicant‘, ut ibidem praemittit Augustinus“; zu Augustinus vgl. De doctrina christiana, I,7, in: CCSL, vol. XXXII, Turnhout 1962, 10,19–22: „Omnes tamen certatim pro excellentia dei dimicant nec quisquam inueniri potest, qui hoc deum credat esse, quo est aliquid melius. Itaque omnes hoc deum esse consentiunt, quod ceteris rebus omnibus anteponunt.“ 35 Vgl. In Sap. n. 153 [LW II, 489,3–6]: „Ex quo patet quod in ipso non est casus nec recessus, consequenter nec est numerus nec multitudo. Igitur unus est deus. Hoc enim unum est in quo numerus non est. Iterum etiam quia unum et multa opponuntur.“ 33
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also die sachliche Priorität und Prävalenz von Vielheit und Differenz gegenüber Einheit und Ununterschiedenheit. Daher ist die von der Postmoderne, insbesondere von Jean-Francois Lyotard, Michel Foucault und Jacques Derrida, nachhaltig geprägte geistige Situation unserer Zeit dem einheits- und geistmetaphysischem Wirklichkeitsverständnis Eckharts und der klassischen Tradition des abendländischen Denkens genau entgegengesetzt und somit am weitestmöglichen entfernt. Aus Eckharts Sicht würde sich diese Position als der größte Abfall im Denken, als größtmögliche mentale Verwirrung darstellen, die zur Annihilation aller Vielheit und damit aller Wirklichkeit führt: Denn die Vielheit kann nach ihm vor dem Nichts nur gerettet werden durch das Eine selbst. Wer dieses negiert, hebt daher sich selbst und alles Viele intentional auf. Doch wo Gefahr ist, wächst nach Hölderlin das Rettende auch, wie man an einigen Vertretern der zweiten Generation postmodernen Denkens, insbesondere an Jean-Luc Marion, bereits deutlich erkennen kann. 2.4 Die Ununterschiedenheit der Einheit als Grund ihrer Unterschiedenheit von allem Vielen Eckhart liebt die paradoxale, die kontradiktorische Bestimmung Gottes, um dessen Erhabenheit über das menschliche Verstandesdenken und damit den Geltungsbereich des Satzes vom zu vermeidenden Widerspruch, um also die Übergegensätzlichkeit Gottes sichtbar zu machen. Daher behauptet er die Gültigkeit des kontradiktorisch erscheinenden Satzes, daß nichts so unterschieden sei von Zahl und Gezähltem bzw. Zählbarem, d. h. von dem Vielheitlichen bzw. Geschaffenen, wie Gott und zugleich, daß nichts so ununterschieden sei von diesem.36 Beide Teilsätze dieser kontradiktorischen Aussage beweist Eckhart im folgenden jeweils für sich. Den ersten Teilsatz, daß nichts so unterschieden ist von allem vielheitlichen Geschaffenen wie Gott, beweist er mit folgenden Argumenten: Erstens sei das Ununterschiedene vom Unterschiedenen mehr unterschieden als zwei Unterschiedene voneinander. Zur Natur Gottes aber ge36
Vgl. In Sap. n. 154 [LW II, 489,7–8]: „Iuxta quod notandum quod nihil tam distinctum a numero et numerato sive numerabili, creato scilicet, sicut deus, et nihil tam indistinctum.“ Zum Kontext dieses Satzes vgl. W. Beierwaltes, „Unterschied durch Ununterschiedenheit“, in: ders., Identität und Differenz, Frankfurt am Main 1980, 97–104 (= Unterschied durch Un-unterschiedenheit), hier 98: „Der aus dem Sapientia-Kommentar zitierte Satz ist das Ziel der Auslegung des Verses: et cum sit una, omnia potest, ,und da sie (die Weisheit) die Eine ist, vermag sie Alles‘. Hieraus wird deutlich, daß die Erörterung des Bezugs von ,indistinctio‘ und ,distinctio‘ im Horizont der Frage nach Einheit und Vielheit [...] steht.“ Hierzu vgl. auch W. Beierwaltes „,Und daz Eine machet uns saelic‘. Meister Eckharts Begriff der Einheit und der Einung“, in: ders., Platonismus im Christentum, Frankfurt am Main 1998, 100–129 (= Und daz Eine), hier: 111f.
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höre Ununterschiedenheit, während zur Natur und zum Begriff des Geschaffenen Unterschiedenheit gehöre. Daher sei Gott von allem Geschaffenen am meisten unterschieden.37 Zweitens stelle die Entgegensetzung die größte Entfernung von etwas dar. Gott und das Geschöpf aber seien einander entgegengesetzt, denn das Eine und nicht Zählbare sei der Zahl und dem Zählbaren entgegengesetzt. Folglich sei nichts von jedem Geschaffenen so unterschieden wie Gott. Drittens sei alles, was sich durch seine Ununterschiedenheit von allem unterscheidet, was einen Unterschied an sich trägt, umso mehr unterschieden, je mehr es ununterschieden ist. Diese Relation glaubt Eckhart auch umkehren zu können: Je mehr etwas unterschieden ist, umso mehr sei es ununterschieden, weil es unterschieden werde durch seine Unterschiedenheit vom Un- bzw. Nichtunterschiedenen. Je mehr es daher unterschieden sei, umso mehr sei es ununterschieden. Inwiefern aber ist diese paradoxe Verhältnisbestimmung gültig? Etwas in sich Vielheitliches und daher zu anderem Differentes wird genau deshalb durch eine Zunahme seiner Unterschiedenheit, d. h. seiner Bestimmtheit, ununterschiedener von Gott, weil es mit der unendlichen Einfachheit Gottes immer identischer bzw. immer mehr eins wird. Daher ist die paradoxe Relation gültig: Je mehr es unterschieden ist, umso mehr ist es ununterschieden, ist es eins mit dem Ununterschiedenen. Es ist aber auch die umgekehrte paradoxe Relation gültig: Je mehr etwas ununterschieden bzw. je einfacher etwas ist, umso mehr ist es vom selbst Unterschiedenen unterschieden. Gott aber sei, wie Eckhart unter Hinweis auf Thomas von Aquin38 ausführt, etwas Ununterschiedenes, das sich durch seine Ununterschiedenheit von allem anderen unterscheide, da er nach Johannes Damaszenus ein Meer von unbegrenzter und folglich ununterschiedener Substanz sei. Daher ist Gott am meisten unterschieden von seinen Geschöpfen.39 37 Vgl. In Sap. n. 154 [LW II, 489,9–13]: „Ratio prima: quia plus distinguitur indistinctum a distincto quam quaelibet duo distincta ab invicem. [...] Sed de natura dei est indistinctio, de natura et ratione creati distinctio, ut dictum est supra. Igitur deus est distinctissimus ab omni et quolibet creato.“ 38 S.Th. I, q. 7, a. 1. 39 Vgl. In Sap. n. 154 [LW II, 490,4–10]. Zur Bedeutung dieses ersten Teilsatzes der kontradiktorischen Aussage, daß nichts so unterschieden ist von allem vielheitlichen Geschaffenen wie Gott, vgl. auch Beierwaltes, Und daz Eine, 99: „Durch diese Ununterschiedenheit in sich also unterscheidet sich die reine Einheit oder Identität [...] vom in sich und voneinander Unterschiedenen [...] . Das Geschaffen-Seiende also ist bestimmt, begrenzt, sich gegenseitig – trotz bestimmter Beziehung – im Wesen ausschließend, jedes ist für sich ein anderes und zugleich, ein zahlhaft getrenntes, mit sich selbst identisches Dieses (hoc et hoc)“. Beierwaltes deutet Eckharts These, daß ein höheres Maß an Unterschiedenheit in einem Seienden zu einem höheren Maß seiner Ununterschiedenheit von Gott führe, im Hinblick auf die Gründungsrelation zwischen dem Schöpfer und dem Geschaffenen, vgl. ebd., 103: „Ein höheres Maß an Unterschiedenheit in einem Seienden
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Den kontradiktorisch erscheinenden zweiten Teilsatz, daß nichts so eins und ununterschieden ist wie Gott und das Geschöpf, beweist Eckhart mit folgenden drei Gründen: Erstens sei nichts so ununterschieden wie das Sein und das Seiende, wie ein Akt und seine Potenz, wie Form und Materie. Genauso aber verhalte sich Gott zu allem Geschaffenen. Zweitens sei nichts so ununterschieden wie das Zusammengesetzte und seine Bestandteile. Die Zahl oder Vielheit, d. h. das Gezählte und Zählbare, aber sei aus Einheiten zusammengesetzt. Folglich sei nichts so ununterschieden voneinander wie Gott der Eine bzw. die Einheit Gottes und das zahlhaft bestimmte Geschaffene. Schließlich sei drittens nichts von einem anderen so ununterschieden wie von dem, von dem es sich selbst durch seine Unterschiedenheit nicht unterscheidet. Nun unterscheide sich aber alles zahlhaft bestimmte Geschaffene durch seine Unterschiedenheit nicht von Gott, wie im dritten Argument für den ersten Teilsatz bereits ausgeführt wurde. Folglich sei nichts so ununterschieden und eins wie Gott und das Geschöpf. Denn Ununterschiedenheit und Einheit sei dasselbe. Daher seien Gott und jedes beliebige Geschaffene ununterschiedene Größen. Damit aber sei die Einheit des göttlichen Intellekts bzw. der Weisheit Gottes bewiesen.40 2.5 Die Allmacht des göttlichen Intellekts als Implikat seiner Einheit Im zweiten Beweisgang im Hinblick auf den einen, einfachen Geist Gottes nennt Eckhart Gründe für die Allmacht als ein Implikat der Einheit des göttlichen Intellekts. Dabei greift Eckhart auf folgenden neuplatonischen Grundsatz zurück, daß je einfacher und geeinigter etwas in sich selbst ist, umso größer sein hervorbringendes, sein kreatives, und sein erhaltendes, sein konstitutives Vermögen ist, seine Wirkmächtigkeit nach außen, in den Bereich realer Vielheit. Diesen sucht er aber eigens zu beweisen: denn das Zusammengesetzte erhalte seine Kraft von anderem, nämlich aus seinen Bestandteilen. Im Unterschied hierzu aber sei dem Nichtzusammengesetzten bzw. dem Einfachen seine Kraft und sein Vermögen zu eigen. Daher sei seine Wirkmacht größer.41 Je größer daher die Zahl der einfachen, der nicht zusammengesetzten Bestandteile von etwas sei, umso gröweist umso mehr auf ein zu ihm selbst Ununterschiedenes als seinen Grund; je mehr das Eine als gründender Grund das Seiende der Ununterschiedenheit als einer Seinsqualität annähert, umso größer ist sein Unterschied zu allem Unterschiedenen.“ 40 Zu diesen drei Gründen für den zweiten Teilsatz vgl. In Sap. n. 155 [LW II, 491]; hierzu vgl. auch Beierwaltes, Und daz Eine, 98f. 41 Vgl. In Sap. n. 156 [LW II, 492,2–3]: „Sciendum ergo quod quanto quid est simplicius et unitius, tanto est potentius et virtuosius, plura potens.“ Dieser Grundsatz ist Gegenstand der Propositio 17 des Liber de causis (§ 16, p. 83f., ed. Adriaan Pattin).
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ßer sei die Kraft, die dessen Ganzheit zukomme und damit dessen Wirkkraft nach außen. Etwas sei daher umso mächtiger und kraftvoller, je einfacher es ist.42 Wenn aber etwas umso wirkmächtiger sei, je geeinter es sei, dann müsse das schlechthin Einfache, und zwar es alleine, alles vermögen, mithin allmächtig sein. Denn ein Mehr an Kraft in der Ursache habe auch ein Mehr an Kraft in der Wirkung zur Folge. Die Weisheit bzw. der Geist Gottes aber sei in sich selbst vollkommen einfach; daher sei sie auch allmächtig.43 Der zweite Beweisgrund für die Allmacht des Geistes Gottes als einem Implikat seiner Einheit beruht auf einem Satz aus dem Liber de causis, nach dem jede geeinte Kraft unbegrenzter sei und mehr und auf Mehreres zu wirken vermöge. Die Weisheit Gottes aber sei am einfachsten. Denn sie sei die erste Ursache von allem. Daher sei sie schlechthin unbegrenzt und allmächtig.44 Schließlich sei auch noch das dritte Argument Eckharts genannt: Jedes wirke, sofern es wirklich und eines sei. Je mehr also etwas eines bzw. je einfacher etwas sei, umso mehr sei es wirklich. Die göttliche Weisheit aber sei schlechthin und am meisten einfach. Deshalb besitze sie die größte Kraft und Wirkmacht. Auf Grund ihrer Einfachheit besitze sie überhaupt Wirkmacht. Auf Grund ihrer primordialen, erstursächlichen Einheit besitze sie eine allmächtige Wirkmacht, die nur ihr alleine zukommen könne.45 Eckhart leitet, zusammenfassend betrachtet, in seinem Kommentar zum alttestamentlichen Buch der Weisheit aus den Schriftstellen „Deus est unus“ nach Gal 3,20 und aus dem Buch der Weisheit, daß die Weisheit eine sei, die unendliche Einheit und die Ununterschiedenheit sowie die Unterschiedenheit Gottes von allem Geschaffenen, seine reflexive Selbstbejahung, seine Erhabenheit über und seine kreative und konstitutive Prinziphaftigkeit für alle Vielheit und jede Zahl, seine Identität mit der Reinheit des Seins und seine Allmacht, d. h. seine unbeschränkte Macht, alles Mögliche hervorzubringen, ab.
42
Vgl. In Sap. Vgl. In Sap. 44 Vgl. In Sap. 45 Vgl. In Sap. 43
n. 156 [LW II, 492,4–7]. n. 157 [LW II, 493,1–5]. n. 157 [LW II, 493,6–8]. n. 157 [LW II, 493,9–494,5].
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3. Die intellekttheoretische Begründung der Einheit Gottes in Eckharts lateinischer Predigt 29 „Deus unus est“ und ihre mutmaßliche Inspirationsquelle bei Moses Maimonides 3.1 Die Allgegenwart und die All-Einheit Gottes – Einheit als der eigentümliche (Wesens-) Name Gottes, als die Eigentümlichkeit der göttlichen Natur Die 29. lateinischsprachige Predigt „Deus unus est“46 setzt mit einer Reihe von traditionellen Referenzstellen zum sog. ontologischen Gottesbegriff – zitiert werden neben Anselm auch Augustinus, Bernhard von Clairvaux und Seneca – ein, nach dem Gott das schlechthin Unübertreffliche ist.47 Aus diesem rationalen Gottesbegriff leitet Eckhart sachlich völlig zu Recht die unendliche Einfachheit und aus dieser die ganzheitliche Allgegenwart bzw. die universelle Immanenz Gottes in allem anderen ab:48 Gott allein senkt sich in das Wesen aller Dinge, er allein ist im Innersten eines jeden Geschöpfs und in seiner Einheit ununterschieden von allem.49 Die Einheit Gottes aber ist auf Grund ihrer Unbegrenztheit zugleich All-Einheit bzw. allumfassende, vollkommene Seinsfülle und als solche mangellos und leidensunfähig;50 dieses Eine ist der Zielgrund bzw. das letzte Worumwillen der Liebe jedes, insbesondere des vernunftbegabten, Geschöpfs, so daß die Menschen das vollkommene Sein, die Macht, Weisheit und vollkommene Güte Gottes nur lieben um seiner Einheit und der Einung mit dieser willen.51 Denn das Eine ist „höher, früher und einfacher als das Gute und steht dem Sein und Gott näher oder ist vielmehr entsprechend seinem Namen ein Sein mit dem Sein selbst.“52 Die Einheit Gottes steht demnach nicht über Gottes vollkommenem Sein, so daß Eckhart keine henologische Reduktion des Seins auf die Einheit im Absoluten vornimmt, sie stellt vielmehr den Einheitscharakter des göttlichen Seins, dessen Einfachheit dar. 46 Zum argumentativen Aufbau dieser Predigt vgl. Goris, Einheit als Prinzip und Ziel, 82–88. 47 Vgl. Sermo 29 n. 295 [LW IV, 263,5–12]. 48 Vgl. Sermo 29 n. 296 [LW IV, 263,13f.]: „Deus simplicitate est infinitus et infinitate sua est simplex. Ideo et ubique est et ubique totus est. Ubique infinitate, sed totus ubique simplicitate.“ 49 Vgl. Sermo 29 n. 296 [LW IV, 264,1–3]: „Deus solus illabitur omnibus entibus, ipsorum essentiis. Nihil autem aliorum illabitur alteri. Deus est in intimis cuiuslibet et solum in intimis, et ipse solus unus est.“ 50 Vgl. Sermo 29 n. 297 [LW IV, 264,8–11]. 51 Vgl. Sermo 29 n. 297 [LW IV, 264,4–7,12f.]. 52 Vgl. Sermo 29 n. 299 [LW IV, 266,4–6]: „unum altius est, prius est et simplicius est ipso bono et immediatius ipsi esse et deo aut potius iuxta nomen suum unum esse ipsi esse sive cum ipso esse.“
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Die Einheit Gottes ist also in Eckharts Transzendentalien-Metaphysik im Unterschied zum philosophischen Neuplatonismus keine überseiende Einheit, sondern die Einheit seines Seins.53 Das Eine ist nach dieser Predigt aber auch der hervorbringende Grund aller Vielheit, der gleichwohl unveränderlich in sich selbst bleibt und alles zu sich zurückführt, gemäß der triadischen Bewegungsgesetzlichkeit von Insichbleiben, Hervorgang und Rückkehr des neuplatonisch konzipierten absoluten Geistes.54 3.2 Eckharts intellekttheoretische Grundlegung der Einheit Gottes und ihre mutmaßliche Inspirationsquelle bei Moses Maimonides: Einheit als die Eigentümlichkeit des (absoluten) Intellekts Der systematische Schwerpunkt der in dieser Predigt entfalteten einheitsmetaphysischen Grundzüge liegt jedoch in ihrem intellekttheoretischen Charakter, den Eckhart besonders prononciert hervorhebt: Einheit bzw. das Eine ist nach Eckhart das Eigentümliche und die Eigentümlichkeit des Intellekts allein.55 Eckhart begründet diese Gleichsetzung radikaler Einfachheit mit reinem Geistsein durch eine henologische Reduktion:56 Die stoffli53 Zur Konvertibilität von Einheit und Sein in Gott vgl. Beierwaltes, Und daz Eine, 117: „Die Einheit Gottes ist sein reines Sein; das reine Sein Gottes ist seine (wahrhafte) Einheit“. Hierzu vgl. auch Goris, Einheit als Prinzip und Ziel, 86: „Diese Unmittelbarkeit des Verhältnisses vom Einen zum Sein indiziert das Merkmal des transzendentalen Einen, das mit dem göttlichen Seienden vertauschbar ist, dieses jedoch als Reinheit und Fülle auslegt, es somit als Denken ausweist.“ Zur Einordnung dieser Position Eckharts vgl. ebd. 88: „Das Anliegen Eckharts im Sermo XXIX ist nicht als henologisch, sondern eher als der henologischen Tradition kritisch gegenüberstehend zu bewerten, indem Einheit, Sein und Denken auf dieselbe Ebene gestellt werden.“ 54 Vgl. Sermo 29 n. 299 [LW IV, 266,7–10]. 55 Vgl. Sermo 29 n. 300 [LW IV, 266, 11–12]: „unitas sive unum videtur proprium et proprietas intellectus solius.“ 56 Im Unterschied zu Goris, Einheit als Prinzip und Ziel, 83, möchte ich diesen ersten Argumentationsgang für die Einheit als eine Eigentümlichkeit des absoluten Intellekts nicht als eine ontologische, sondern als eine henologische Reduktion kennzeichnen, weil er den Charakter einer Zurückführung in sich zusammengesetzter Einheitsformen auf eine in sich nicht mehr zusammengesetzte Einheit – die der Identität von Sein und Wesenheit bzw. von Sein und Denken – besitzt; die zweite, von Goris, Einheit als Prinzip und Ziel, 84, als „henologisch“ charakterisierte Reduktion scheint mir eher den Charakter einer noologischen Reduktion zu besitzen, weil sie alles ausschließt, was kein Denken oder auch was noch ein Sein außerhalb seines Denkens besitzt. Mit dieser Einschränkung stimme ich der Beschreibung der Struktur und des Ergebnisses beider Zurückführungen durch Goris, Einheit als Prinzip und Ziel, ebd., zu: „Diese beiden Zurückführungen gleichen sich, indem ihnen beiden ein dreifaches hierarchisches Schema zugrundeliegt, nämlich der ontologischen Rückführung die Hierarchie von Materiellem, zusammengesetzt Immateriellen und Göttlichem, der henologischen Rückführung eine Hierarchie von Intellektlosem, zusammengesetzte Intellektuellem und Gott. Die ontologische Rückführung
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chen Entitäten sind aus Form und Materie zusammengesetzt und daher nicht reine Einheit, sondern nur eine zu einem Kompositum geeinte Vielheit; vollkommen einfach sind aber auch nicht die nichtstofflichen, geistigen Wesen, weil sie aus Sein und Wesenheit oder aus Sein und Denken zusammengesetzt sind; Gott aber ist ganz und gar Intellekt, ein nichtzusammengesetzter, ein vollkommen einfacher Intellekt, da in ihm Denken und Sein absolut identisch sind.57 Identität aber ist, so Eckhart an späterer Stelle wörtlich, Einheit.58 Eckhart versteht demnach die Einheit Gottes nicht, wie der philosophische Neuplatonismus etwa eines Plotin oder Proklos als eine Transzendenz über Sein, Denken und Identität hinaus, sondern als die Identität von reinem Sein und reinem Denken. In seinem zweiten Argumentationsgang für die Einheit als Eigentümlichkeit des göttlichen Intellekts, der den Charakter einer noologischen Reduktion besitzt, zeigt Eckhart, daß Gott kein Sein außerhalb seines Denkens besitzt, sondern Einheit als die Identität von Denken und Sein und somit reiner, nicht erschaffbarer Intellekt ist.59 Daher, weil Gott nichts als reiner Intellekt ist, setzte er alle Geschöpfe nur durch den Intellekt ins Sein. Die Gott eigentümliche Einheit ist daher „nirgends und niemals außer im Intellekt, und auch hier ist sie nicht, sondern wird gedacht.“60 Gottes Einheit ist demnach in seinem Geistsein verwirklicht, mit dem Gott identisch ist. Diese Überzeugung, daß Gottes einfaches Wesen Geist und nichts anderes als Geist ist, drückt Eckhart in dieser Predigt auch an einer anderen Stelle mit kaum noch steigerungsfähiger Deutlichkeit aus: „Der eine Gott ist der Intellekt und der Intellekt ist der eine Gott. Daher ist Gott niemals und nirgends Gott außer im Intellekt.“61 Die besondere Radikalität und Bedeutung von Eckharts sachlicher und begrifflicher Identifizierung vollkommener Einfachheit bzw. des Gott eigentümlichen einfachen Wesens mit dem absoluten Geist wird durch einen Blick auf die platonisch-neuplatonische Geschichte der abendländischen zeigt, daß Gott kein Denken neben seinem Sein hat, die henologische Rückführung dagegen, daß er kein Sein neben seinem Denken hat. Durch beide Rückführungen wird jedoch dasselbe Ergebnis erreicht: Gott ist einer, dessen Sein sein Denken ist.“ 57 Vgl. Sermo 29 n. 300 [LW IV, 266,12–267,5], insb. 267,3–5: „Unde signanter dictum est: deus tuus deus unus est, deus Israel, deus videns, deus videntium, qui scilicet intelligit et solo intellectu capitur, qui est intellectus se toto.“ 58 Vgl. Sermo 29 n. 303 [LW IV, 269,12–13]: „Identitas est enim unitas.“ 59 Vgl. Sermo 29 n. 301 [LW II, 267,6–268,6], insb. 268,4–6: „Patet ergo manifeste quod deus est proprie solus et quod ipse est intellectus sive intelligere et quod solum intelligere praeter esse aliud simpliciter.“ 60 Vgl. Sermo 29 n. 303 [LW IV, 269,3–5]: „quod nusquam est et nunquam nisi in intellectu, nec est, sed intelligitur.“ 61 Vgl. Sermo 29 n. 304 [LW IV, 270,1–3]: „Deus enim unus est intellectus, et intellectus est deus unus. Unde deus nunquam et nusquam est ut deus nisi in intellectu.“
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Geistmetaphysik verständlich, denn nach deren Überzeugung ist für Geistsein stets eine zumindest relationale Unterscheidung oder Doppelpoligkeit von Denkendem und Gedachtem und damit eine Differenzstruktur konstitutiv, deren geringste, weil einheitlichste Erscheinungsform im Selbsterkenntnisakt des absoluten Geistes verwirklicht ist. Somit stellt auch die Selbstreflexion des absoluten Geistes keine relations- und differenzlose Einfachheit dar: Der absolute Geist ist nicht sachlich und begrifflich identisch mit dem Einen als seinem hervorbringenden Grund, er ist vielmehr dessen erster Hervorgang aus sich und zugleich Rückkehr oder Hinkehr zu sich selbst, dessen Urakt seines Sichselbstsehens, wie Plotin ausführt. Nun hatte beinahe schon die gesamte Tradition der christlichen Theologie vor Eckhart, insbesondere Marius Viktorinus, Augustinus, Boethius und Johannes Scotus Eriugena, sowie in der griechischen Tradition etwa Basilius, Gregor von Nyssa und Dionysius Ps.-Areopagita, Einheit als die Wesensbestimmung des Ersten Prinzips mit dessen trinitarischem, dreipersönlichem Leben spekulativ zu vermitteln versucht und dabei zwischen dem den drei göttlichen Personen gemeinsamen einfachen Wesen Gottes und seinen drei voneinander relational unterschiedenen Hypostasen bzw. personalen Relationen unterschieden. Eckharts Verhältnisbestimmung zwischen dem Geistsein und der Einheit Gottes steht zweifellos in dieser platonisch-neuplatonisch inspirierten christlichen Tradition und dennoch überbietet er diese noch an Radikalität: denn er identifiziert die vollkommene Einfachheit Gottes mit dessen ureigenstem Selbsterkenntnisakt, ja er beschreibt diese Einheit sogar als eine solche, die nicht ist, weil sie nicht im göttlichen Sein gründet, sondern weil sie erkannt wird – in einem notwendigerweise unterschieds- und gegenstandlosen Selbsterkenntnisakt – , die also überhaupt nur in Gottes selbstreflexivem Wesensakt, in dem Gott selbst sein eigenes einfaches Wesen erkennt, überhaupt gegeben ist. Eckhart begründet damit die Einheit der göttlichen Natur bzw. des göttlichen Wesens geistmetaphysisch bzw. intellekttheoretisch und kehrt damit das traditionelle platonisch-neuplatonische und vor ihm auch christliche Begründungsverhältnis zwischen einheits- und geistmetaphysischer Bestimmung des Ersten Prinzips genau um: In dieser Tradition ist das geisttranszendente Eine der hervorbringende Grund und zugleich das Woraufhin und damit gleichsam der Zielgrund der Erkenntnisbewegung des absoluten Geistes, während bei Eckhart der absolute Geist durch den Akt seiner Selbsterkenntnis die Einheit des göttlichen Wesens gleichsam begründet, die er selbst ist – genau diese begründungstheoretische Umkehrung scheint mir das eigentlich Revolutionäre an Eckharts Einheitsmetaphysik zu sein, das sich in deren abendländischer Geschichte vor ihm meines Wissens nicht finden läßt.
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Es gibt jedoch zumindest eine Inspirationsquelle für Eckharts intellekttheoretische Begründung der Einheit Gottes, und zwar bei dem jüdischen Religionsphilosophen Moses Maimonides. Denn Eckhart rezipiert nicht nur Maimonides’ strengen Begriff der absoluten Einheit Gottes, sondern wahrscheinlich auch dessen intellekttheoretische Grundlegung. Die Begründung dieser Behauptung stützt sich allerdings auf eine deutlich schmalere textliche Basis als dies bei Eckharts Rezeption der Einheitsmetaphysik und der negativen Theologie des Moses Maimonides der Fall ist. Denn er bezieht sich bei seiner intellekttheoretischen Begründung der Einfachheit Gottes nicht auf Maimonides als Quelle. Und dennoch lassen sich für diese Annahme, die ein entsprechender Hinweis von Kurt Flasch nahelegt,62 einige indirekte Belege geltend machen: In einem Text innerhalb des 20. Kapitels seiner Expositio libri Exodi zitiert Eckhart die Aussage des Maimonides, daß die höchste Menschengruppe sich das zum Ziel setze, was das Ziel des Menschen sein solle, daß nämlich der Mensch das Geistige erkennen und das Edlere wählen solle, nämlich das Wissen vom göttlichen Schöpfer, von den Engeln und von den anderen Werken des Schöpfers. Solche Menschen schauten Gottes Angesicht und seien selbst den Engeln gleich. Der wahre Mensch müsse sich daher, wie Eckhart nun aus Maimonides zitiert, auf die Erfüllung nur der lebensnotwendigen körperlichen Bedürfnisse beschränken, um ein möglichst geistiges Leben führen zu können.63 Denn der Intellekt, wie Eckhart an anderer Stelle ausführt, sei für den Menschen wesenseigentümlich und nach Maimonides genau jenes menschliche Vermögen, das den Menschen mit Gott in dem Maße verbinde, in dem der Mensch Gott mit dem Licht des Intellekts erfasse.64 Der
62 Vgl. K. Flasch, Meister Eckhart. Die Geburt der deutschen Mystik aus dem Geist der arabischen Philosophie, München 2. Aufl. 2008 (= Geburt der deutschen Mystik), hier: 144 (in Bezug auf Maimonides): „Aber er [sc. Gott] ist Geist. Dies könnte, genau genommen, zu einem Widerspruch mit der reinen Einheit führen. Maimonides nahm diese schon traditionelle Kontamination, die Plotin vermieden hatte, aus der Tradition auf und folgerte: Nicht äußere Zeremonien führen zu Gott, sondern der Intellekt, der zur Einheit drängt, verbindet uns mit dem göttlichen Einen. Es ist der Intellekt der aristotelisch-arabischen Intellekttheorie, der Gott und Menschen bei strengem jüdisch-neuplatonischen Transzendenzbewußtsein einander nahebringt.“ 63 Vgl. In Ex. n. 200 [LW II, 168,16–169,13]. 64 Vgl. In Ex. n. 277 [LW II, 223,4–11] mit einem Zitat aus Moses Maimonides: Dux seu Director dubitatium aut perplexorum, Paris 1520, unv. Nachdruck Frankfurt am Main 1964, III, cap. 53, Fol. 112r; vgl. hierzu auch die neuhochdeutsche Übersetzung des Dux neutrorum, die eine gegenüber der lateinischen Fassung abweichende Kapitelzählung aufweist: Mose ben Maimon, Führer der Unschlüssigen, übersetzt und kommentiert von A. Weiß, mit einer Einleitung von J. Maier, Hamburg 2. Aufl. 1995, 356: „Dieser uns schirmende und mit uns verbundene König ist die auf uns emanierende Vernunft, die das Bindemittel ist zwischen uns und Gott. Und wie wir Gott durch das Licht erkennen, das
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Intellekt aber verbindet nach Maimonides genau deshalb den Menschen mit Gott, weil Maimonides in dem göttlichen Intellekt das vollkommen einfache Wesen des Schöpfergottes sieht, da die Dreiheit von Erkenntnisvermögen, Erkenntnisvollzug und Erkanntem in Gott vollkommen eins sei. Die Identität bzw. vollkommene Einheit von Erkenntnissubjekt, Erkenntnisgegenstand und Erkenntnisvollzug Gottes als des wesenhaft tätigen Intellekts beweist Maimonides im Ausgang von Aristoteles, Metaphysik XII 7 im 68. Kapitel des ersten Buches seines religionsphilosophischen Hauptwerkes „Führer der Unschlüssigen“ mit großer Ausführlichkeit. Die vollkommene Einheit und das Intellektsein Gottes sind demnach für Maimonides sachlich identisch bzw. genauer: Gott ist einer und vollkommen einfach, weil er absoluter, weil er wesenhaft tätiger Intellekt ist.65 3.3 Die Unterscheidung zwischen „Gottheit“ und „Gott“ und die mystagogische Konsequenz der intellekttheoretischen Fundierung der Einheit Gottes Fassen wir den Ertrag unserer Deutung der Predigt 29 kurz zusammen: Die für Gott eigentümliche Einfachheit ist nach Eckhart das Wesen oder die Natur des absoluten Intellekts selbst, so daß Gott nur im Intellekt verwirklicht ist. Der göttliche Intellekt begründet im Akt seiner Selbsterkenntnis die absolute Einheit seines Wesens. Damit vertritt Eckhart als erster in der Geschichte der abendländischen Metaphysik überhaupt eine geistmetaphysische Begründung absoluter Einheit und damit eine Metaphysik absoluter Subjektivität, wie schon von Walter Schulz erkannt und von Jens Halfwassen ausführlich gewürdigt worden ist. Diese sachliche Identifizierung der Einheit mit dem Intellekt Gottes widerspricht nicht der bei Eckhart bekanntermaßen häufigen Unterscheidung zwischen der „Gottheit“ als dem einfachen Wesen Gottes und „Gott“
er uns zuströmen läßt, nach dem Ausspruche: ,In deinem Licht sehen wir Licht‘ [Ps. 36,10], so durchschaut er uns mittels dieses Lichts immerwährend“. 65 Vgl. Moses Maimonides, Dux seu Director dubitatium aut perplexorum, I, cap. 67, Fol. 27r: „Iam scis verbum manifestum quod philosophi dixerunt de Creatore, quod ipse est intellectus, intelligens et intellectum, et quod ist tria sunt unum in Creatore [...] . Non est dubium quod quicumque non considerat in libris de intellectu compositis nec apprehendit quiditatem intellectus vel substantiam eius [...] .“ Hierzu vgl. auch Flasch, Geburt der deutschen Mystik, 144: „Wer die philosophischen Bücher über den Intellekt nicht gelesen hat, kann Gott niemals richtig denken. Maimonides spricht von intellekttheoretischen Büchern in der Mehrzahl. Man muß an Aristoteles De anima und an Alfarabi denken, auch an Avicenna. Maimonides schöpfte aus einem breiten Strom der Spekulation über den Intellekt. Aus ihm allein, hofft er, könne er eine gewisse Erkenntnis des unbekannten Gottes gewinnen, seinen Erklärungen über die Unerkennbarkeit Gottes zum Trotz.“
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als dessen trinitarischem Leben.66 Denn die Gottheit ist die wesenhafte Einheit des göttlichen Intellekts, der von ihr nicht im Wesen, sondern allein relational-personal unterschiedene „Gott“ bezeichnet die trinitarische Selbsterkenntnis- und Seinsweise dieses absoluten Intellekts. Es muß also nach Eckhart genau genommen zwei Erkenntnisweisen des göttlichen Intellekts geben, seine vollkommen einfache, relations- und differenzlose Erkenntnis seines eigenen Wesens, in der die Gott eigentümliche Einheit seiner Natur verwirklicht ist, und eine relational-differente Selbsterkenntnis, in der seine trinitarische Seinsweise besteht. Diese beiden Erkenntnisweisen sind im göttlichen Intellekt aber stets nur zugleich – in ein und demselben Akt – verwirklicht. Aus seiner intellekttheoretischen Fundierung der Einheit Gottes zieht Meister Eckhart in dem Sermo 29 folgende mystagogische Konsequenz: In dem Maße, in dem etwas Intellekt bzw. Erkenntnisvermögen besitzt, in dem Maße hat es teil an Gott bzw. dem Einen, in dem Maße ist es eins mit Gott. Der Aufstieg zum bzw. die Unterordnung unter den Geist bedeutet daher, mit Gott durch Gott vereinigt zu werden. Am Schluß dieser Predigt nimmt Eckhart sogar noch eine intellekttheoretische Begründung des Totalitätscharakters der Einheit Gottes vor: Im göttlichen Intellekt sind „zweifellos alle Wesen in allen, insofern sie dort Intellekt und nichts anderes sind.“67 Allumfassende Einheit bzw. All-Einheit ist die Einheit Gottes aufgrund ihres Intellektcharakters, sofern im absoluten Intellekt alle seine bestimmten Gehalte ungetrennt und unvermischt miteinander verbunden und daher ineinander sind.
4. Die absolute Einheit als das Wesen Gottes und die Vereinigung der Seele mit dem einfachen Wesen Gottes nach Eckharts deutscher Predigt 21 „Unus deus et pater omnium“ Die deutsche Predigt 21 hebt die Einheit als das eigentümliche Wesen Gottes heraus und bestimmt diese Einheit bzw. das mit ihr identische Eins terminologisch als das, dem nichts hinzugefügt ist, sowie als „versagen des versagennes“,68 d. h. mit der traditionellen Kennzeichnung als „negatio negationis“: Diese kann mit Werner Beierwaltes als die aktive, weil selbst66 Zu dieser Unterscheidung vgl. ausführlich G. Stephenson, Gottheit und Gott in der spekulativen Mystik Meister Eckharts. Eine Untersuchung zur Phänomenologie und Typologie der Mystik, Inaugural-Dissertation zur Erlangung der Doktorwürde vorgelegt der Philosoph. Fakultät der Univ. Bonn, Bonn 1954. 67 Meister Eckhart, Sermo 29 n. 305 [LW IV, 270,14–15]: „ubi procul dubio in quantum huiusmodi nec aliter sunt omnia in omnibus.“ 68 Predigt 21 [DW I, 364,4]: „Got ist ein, er ist ein versagen des versagennes.“
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reflexive Verneinung jeder Form von einschränkender und ausgrenzender Bestimmung, Differenz, Andersheit und somit Vielheit und damit als reine Selbstbejahung gedeutet werden, die, wie wir im Lichte der Predigt 29 hinzufügen können, den einheitsbegründenden Wesensakt der göttlichen Selbsterkenntnis kennzeichnet.69 Während die von Eckharts Transzendentalien-Metaphysik als göttliche Seinsvollkommenheiten gedeuteten Transzendentalien der Gutheit und der Wahrheit begriffliche Hinzufügungen zur Einheit des göttlichen Wesens beinhalten, sofern die Gutheit Gottes seine erstrebenswerte Vollkommenheit und die Wahrheit Gottes sein selbstreflexives Allwissen bedeuten, füge die Einheit Gott begrifflich nichts hinzu und sage damit sein Wesen adäquat aus. Denn „darin, daß Gott Eins ist, ist Gottes Gottheit vollendet.“70 Mit anderen Worten: Die Gottheit Gottes, die Gott eigentümliche Natur oder das Wesen Gottes, ist die (absolute) Einheit. Die eigentliche Intention dieser Predigt aber ist nicht der Wesensbestimmung Gottes, sondern, wie bei nahezu allen Predigten Meister Eckharts, der Vereinigung der menschlichen Seele mit Gott gewidmet: Diese Vereinigung mit der Einheit Gottes aber könne nicht eine Wirkung des Willens sein, weil der Wille nicht im Sein, sondern nur im Wirken vereinige;71 diese Einung könne vielmehr nur im Innersten der Seele stattfinden, das gleichsam capax unitatis dei, das also für das einfache Wesen des göttlichen Intellekts aufnahmefähig sein muß. Die Einheit des göttlichen Wesens aber sei das Strebeziel und die Seligkeit der Seele des Menschen, sei deren „Ehre“ und „Zier“: „Gott tut so, als sei er nur deshalb Eins, damit er der Seele gefalle, und als schmücke er sich zu dem Ende, daß er die Seele nur in sich vernarrt mache“,72 wie Eckhart mit unnachahmlicher Anschaulichkeit formuliert. Mit anderen Worten: Die Gottheit Gottes, seine Einheit, zieht die Seele des Menschen unwiderstehlich an sich. Schließlich macht auch diese Predigt auf den Totalitäts- oder Alleinheitscharakter der Einheit Gottes aufmerksam: „Gott ist alles und ist Eins.“73 Denn im Modus unbegrenzter Einheit besitzt der absolute Geist Gottes alles Wirkliche überhaupt in sich.
69
Vgl. Beierwaltes, Und daz Eine, 112–116. Predigt 21 [DW I, 368,5]: „in dem daz got ein ist, sô ist volbrâht gotes gotheit.“ 71 Vgl. Predigt 21 [DW I, 360,3–4]: „minne eneiniget niht; si eneiniget wol an einem werke, niht an einem wesene.“ 72 Vgl. Predigt 21 [DW I, 369,6–8]: „Ez ist der sêle êre und gezierde, daz got ein ist. Got tout, als er dar umbe ein sî, daz er der sêle behage und wie er sich gesmücke dar zuo, daz er die sêle vertoere aleine an im.“ 73 Vgl. Predigt 21 [DW I, 370,3–4]: „Got ist allez und ist ein.“ 70
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5. Die Predigt 37 „Unus deus et pater omnium“ zu Eph 4,1–6 Diese relativ kurze Predigt gliedert den von ihr gedeuteten Schriftvers „Unus deus et pater omnium“ nach Eph 4,6 in genau vier Bestandteile, die sie einzeln nacheinander interpretiert. 5.1 Einheit, Ununterschiedenheit, Vollkommenheit und All-Einheit Gottes und die Selbstverleugnung als Bedingung ihrer subjektiven Aneignung durch den Menschen Das erste Wort dieses Schriftverses „unus“ ist Gegenstand des ersten Abschnitts der Predigt: Mit dem „Einen“, d. h. der Einheit Gottes, sei erstens hervorgehoben, daß Gott durch Verneinung erkannt werde, wie Eckhart mit einer breiten Tradition negativer Theologie im abendländischen Denken betont; zweitens werde Gott „der Eine“ genannt auf Grund seiner Unoder Nichtunterschiedenheit, was Eckhart, wie wir sahen, in seinem Kommentar zum alttestamentlichen Buch der Weisheit intensiv ausgeführt hat;74 in unserem Text begründet Eckhart mit der wesenhaften Ununterschiedenheit die Erhabenheit und Vollkommenheit Gottes und dessen Güte und Liebe zu seinen Geschöpfen, von denen er sich nicht trennen könne und wolle; drittens bedeute „unus“ die All-Einheit Gottes, die die Glückseligkeit aller Geistwesen sei; viertens bringe „unus“ auch die notwendige Bedingung zum Ausdruck, die derjenige erfüllen müsse, der Gott finden und mit ihm vereinigt werden wolle. Dieser müsse einer sein, durch Selbstverleugnung von allen geschieden und in sich ungeschieden. Denn die Selbstverleugnung bewirke, wie Eckhart unter Hinweis auf Augustinus hervorhebt, Frieden; der Friede aber ist, so können wir im Sinne Eckharts ergänzen, die miteinander versöhnte, d.h. geeinte Vielheit, bzw., in formaler Bestimmung, die Zurückführung des Gegensatzes auf den Unterschied.75 5.2 Wann ist Gott dem Menschen „zu eigen“? Das zweite Wort „Deus“ des kommentierten Schriftverses ist Gegenstand des zweiten Abschnitts dieser Predigt: Eckhart fragt, wessen Gott „der Eine“ ist. Er sei erstens der Gott derer, die das Gute schlechthin lieben; zweitens der Gott derer, die ohne ihn nicht glücklich sind und die er mit den Worten des Psalms (49,7) tröste: „Gott, dein Gott bin ich.“ Wann aber ist Gott dem Menschen zu eigen, wann ist er sein Gott? Hierfür nennt Eckhart eine Reihe von Bedingungen, unter denen etwas jemandem wirklich zugehört bzw. sein Eigen ist: Alles, was von einem anderen ist, was von diesem 74 75
Beierwaltes, Unterschied durch Un-unterschiedenheit, 97–104. Vgl. Sermo 37 n. 375 [LW IV 320,1–321,6].
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abhängt und daher von einem anderen auch wieder weggenommen werden kann, ist jemandem nicht zu eigen.76 5.3 Das Eine als der hervorbringende Grund der Existenz und des Einheitsgrades aller bestimmten Formen geeinter Vielheit Der dritte Bestandteil des in dieser Predigt kommentierten Schriftverses, den Eckhart eigens interpretiert, setzt sich aus den beiden ersten zusammen und lautet daher „unus deus“, „ein Gott“. Hierzu führt Eckhart aus, daß Einheit eine Wesenseigentümlichkeit des Oberen bzw. Früheren oder Ersten ist. Gott aber sei nach Jes 43,10 vor allem anderen, d. h. der Ursprung aller Wirklichkeit. Denn das Eine sei dasjenige, wodurch alle Vielheit und damit jede Entität ihr Daß-Sein, d. h. ihre Existenz, und ihren jeweiligen Einheitsgrad, d. h. ihre was-heitliche Bestimmtheit, erhalte, die daher eine bestimmte Form geeinter Vielheit und damit abgeleiteter Einheit darstellt. Das Eine aber könne Sein und alle bestimmten Formen geeinter Vielheit nur deshalb mitteilen, weil es selbst mit den Transzendentalien Eines, Seiend, Gut und Wahr identisch sei. Als der Ursprung des jeweiligen Einheitsgrades bestimmter Vielheit aber sei Gott dem Einheits-, nicht jedoch dem Vielheitscharakter der von ihm hervorgebrachten Wirklichkeit immanent, die nach Röm 11,36 genau genommen ihm immanent, d. h. in Gott sei. Die Einheit Gottes bzw. der Eine Gott sei also das hervorbringende Prinzip sowohl der Existenz als auch der was-heitlichen Bestimmtheit, d. h. des jeweiligen Einheitsgrades alles von ihm Geschaffenen, denn die Einheit habe die unmittelbarste Beziehung zum Sein, weil sie gemäß der Konvertibilität der Transzendentalien mit dem Seienden vertauschbar sei und diesem keine Bestimmung hinzufüge. Genau dies ist nach Eckhart der Grund dafür, daß der eine Gott der hervorbringende Ursprung sowohl der Existenz als auch des Einheitsgrades und damit der was-heitlichen Bestimmtheit bzw. der jeweiligen Seinsform aller Vielheit ist, die auch bei Eckhart eine hierarchisch strukturierte Ordnung von nach unten immer schwächer werdenden Stufen oder Graden geeinter und damit bestimmter Vielheit darstellt – in Übereinstimmung mit dem einheitsmetaphysisch begründeten neuplatonischen Verständnis der Wirklichkeit.77 5.4 Der eine Gott als „der Vater aller“ – das Sohnschaftsverhältnis des Menschen zu Gott In seiner Auslegung von „Et pater omnium“ „und Vater aller“ als des vierten und letzten Bestandteils von Eph 4,6 erläutert Eckhart das VaterVerhältnis des einen Gottes zum Menschen aus der Sicht des von ihm kon76 77
Vgl. Sermo 37 n. 376 [LW IV, 321,7–322,7]. Vgl. Sermo 37 n. 377 [LW IV, 322,8–323,8].
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stituierten Sohnverhältnisses des Menschen zu Gott, das Eckhart durch die Annahme an Sohnes statt, das dadurch bedingte Bruderschaftsverhältnis zum eingeborenen Sohn und gemeinsame Erbschaftsverhältnis zum Vater sowie durch die Liebe, das Suchen der Ehre und das vertrauensvolle und zuversichtliche Bitten des Vaters bestimmt sieht.78 5.5 Zusammenfassung Nach dieser Predigt ist die Einheit Gottes der Grund seiner nur negativen Erkennbarkeit, seiner Ununterschiedenheit und seines Totalitätscharakters bzw. seiner All-Einheit, die alle Geistwesen vollkommen glücklich macht. Ferner ist Gottes Einheit der Grund seines Prinzip-Seins für alles von ihm Verschiedene, mithin für alles Vielheitliche, dessen Daß- und dessen jeweiliges Was-Sein, d. h. dessen bestimmten Einheitsgrad, der eine Gott überhaupt erst hervorbringt.
6. Zusammenfassung der Teilergebnisse Fassen wir die Teilergebnisse unserer Ausführungen nun abschließend zusammen: In seinem Kommentar zum Buch der Weisheit entwickelt Eckhart einen Begriff absoluter Einheit, indem er die Einzigkeit, die All-Einheit, d. h. den allumfassenden Ganzheitscharakter dieser Einheit, die Unbegrenztheit, die allmächtige Prinziphaftigkeit für die zahlhaft bestimmte Vielheit und vor allem die Ununterschiedenheit als implizite Bestimmungen des absolut Einen bzw. genauer der Einheit des göttlichen Intellekts aufweist. Denn Eckhart begründet – wie wir an der lateinischen Predigt 29 gesehen haben – die Einheit Gottes erstmals in der Geschichte der abendländischen Metaphysik, aber höchst wahrscheinlich im Gefolge des Moses Maimonides, intellekttheoretisch bzw. geistmetaphysisch und kehrt damit das traditionelle platonisch-neuplatonische und vor Eckhart auch christlich rezipierte Begründungsverhältnis zwischen der einheits- und der geistmetaphysischen Bestimmung des Ersten Prinzips genau um. Nach Eckhart verwirklicht der absolute Geist durch den Akt seiner Selbsterkenntnis die Einheit des göttlichen Wesens. Und nur weil Eckhart die Einheit als eine eigentümliche Bestimmung des absoluten Intellekts auffaßt, kann er diese selbst, wie an seinem Kommentar zum Buch Exodus gezeigt werden kann und vom Vf. andernorts dokumentiert werden soll,79 auch als eine trinitarische verstehen und konzipieren.
78 79
Vgl. Sermo 37 n. 378 [LW IV, 323,9–324,3]. Vgl. Anm. 1.
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Dieser Befund paßt sehr gut zu Eckharts früher intellekttheoretischer Begründung des Seins Gottes in seiner ersten Pariser Quaestio: So wie hier das absolute Erkennen als Fundament des Seins Gottes bezeichnet wird, ist nach der Predigt 29 die Einheit der göttlichen Natur eine Eigentümlichkeit alleine des göttlichen Intellekts. Damit ist Eckhart, um mit Walter Schulz und Jens Halfwassen zu sprechen, der erste Vertreter einer Metaphysik der absoluten Subjektivität avant la lettre geworden und deshalb von Hegel als ihrem bedeutendsten Exponenten auch als ein solcher erkannt und gewürdigt worden. Daß die Einheit des göttlichen Geistes nach Eckhart der hervorbringende Grund der Existenz und des Einheitsgrades aller bestimmten Formen geeinter Vielheit und damit alles Seienden überhaupt ist, wird an seiner lateinischsprachigen Predigt 37 besonders gut deutlich. Diese absolute Einheit des göttlichen Intellekts aber, die Eckhart als die Natur oder das Wesen Gottes, als seine Gottheit versteht, ist zugleich der unwiderstehliche Zielgrund allen Strebens der menschlichen Geistseele, die von ihr auf sie hin geschaffen und folglich für die Einheit des göttlichen Geistes aufnahmefähig bzw. empfänglich ist.80 Daher macht – wie Eckhart in seinem Buch der göttlichen Tröstung programmatisch behauptet – „nur das Eine uns selig“.81
Siglen In Ex. = Magistri Echardi Expositio libri Exodi In Sap. = Magistri Echardi Expositio libri Sapientiae Quaest. Par. = Magistri Echardi Quaestiones Parisienses
80 Diese Interpretation läßt sich an Eckharts deutschsprachiger Predigt 21 (Unus deus et pater omnium) besonders gut verifizieren: Während die von Eckharts Transzendentalien-Metaphysik als göttliche Seinsvollkommenheiten gedeuteten Transzendentalien der Gutheit und der Wahrheit begriffliche Hinzufügungen zur Einheit des göttlichen Wesens beinhalten, sofern die Gutheit Gottes seine erstrebenswerte Vollkommenheit und die Wahrheit Gottes sein selbstreflexives Allwissen bedeuten, fügt die Einheit Gott begrifflich nichts hinzu und sagt damit sein Wesen adäquat aus, in ihr ist Gottes Gottheit verwirklicht, d. h.: Die Gottheit Gottes, die Gott eigentümliche Natur oder das Wesen Gottes, ist nach Eckhart die (absolute) Einheit, vgl. Predigt 21 [DW I, 361,9–12, 368,5– 369,5]; zur Empfänglichkeit der geschaffenen Geistseele für die Einheit Gottes vgl. Predigt 21 [DW I, 369,6–370,6]. 81 Meister Eckhart, Das Buch der göttlichen Tröstung [DW V, 41,21].
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Literaturverzeichnis Primärliteratur Meister Eckhart, Die deutschen und lateinischen Werke, hrsg. im Auftrag der Deutschen Forschungsgemeinschaft, Stuttgart 1936ff. (= DW / LW). Mose ben Maimon, Führer der Unschlüssigen, übersetzt und kommentiert von A. Weiß, mit einer Einleitung von J. Maier, Hamburg 2. Aufl. 1995. Moses Maimonides, Dux seu Director dubitatium aut perplexorum, Paris 1520, unv. Nachdruck Frankfurt a. M. 1964. Pattin, Adriaan (Hg.), „Liber de causis, édition établie à l'aide de 90 manuscrits, avec introduction et notes par Adriaan Pattin“, Tijdschrift voor Filosofie 28 (1966), 90–203.
Sekundärliteratur Aertsen, J. A., „Der ,Systematiker‘ Eckhart“, in: A. Speer/L. Wegener (Hgg.), Meister Eckhart in Erfurt, Berlin/New York 2005, 189–230. Beierwaltes, W., „Unterschied durch Un-unterschiedenheit“, in: ders., Identität und Differenz, Frankfurt am Main 1980, 97–104 (= Unterschied durch Un-unterschiedenheit). Ders., „‘Und daz Eine machet uns saelic‘. Meister Eckharts Begriff der Einheit und der Einung“, in: ders., Platonismus im Christentum, Frankfurt am Main 1998, 100–129 (= Und daz Eine). Flasch, K., Meister Eckhart. Die Geburt der deutschen Mystik aus dem Geist der arabischen Philosophie, München 2. Aufl. 2008 (= Geburt der deutschen Mystik). Goris, W., Einheit als Prinzip und Ziel. Versuch über die Einheitsmetaphysik des Opus tripartitum Meister Eckharts, Leiden/New York/Köln 1997 (= Einheit als Prinzip und Ziel). Halfwassen, J., „Gibt es eine Philosophie der Subjektivität im Mittelalter? Zur Theorie des Intellekts bei Meister Eckhart und Dietrich von Freiberg“, Theologie und Philosophie 72 (1997), 338–360 (= Philosophie der Subjektivität im Mittelalter?). Imbach, R., Deus est intelligere. Das Verhältnis von Sein und Denken in seiner Bedeutung für das Gottesverständnis bei Thomas von Aquin und in den Pariser Quaestionen Meister Eckharts, Freiburg/Schweiz 1976 (= Deus est intelligere). Kobusch, Th., „Lesemeistermetaphysik – Lebemeistermetaphysik. Zur Einheit der Philosophie Meister Eckharts“, in: A. Speer/L. Wegener (Hgg.): Meister Eckhart in Erfurt, Berlin/New York 2005, 239–258. Schulz, W., Der Gott der neuzeitlichen Metaphysik, Pfullingen 5. Aufl. 1974. Stephenson, G., Gottheit und Gott in der spekulativen Mystik Meister Eckharts. Eine Untersuchung zur Phänomenologie und Typologie der Mystik, Inaugural-Dissertation zur Erlangung der Doktorwürde vorgelegt der Philosoph. Fakultät der Univ. Bonn, Bonn 1954.
Einheit und Vielheit als Problem des Partizipationsgedankens bei Nikolaus von Kues Harald Schwaetzer Die Problemstellung von „Einheit und Vielheit“ wird bei Nikolaus von Kues von der platonischen Herkunft her bedacht. So verwundert es auch nicht, wenn der Gedanke der Partizipation darin eine bestimmte Rolle spielt. Das Problem von Einheit und Vielheit erfährt jedoch bei Nikolaus von Kues vom Gedanken der Teilhabe her eine originäre Lösung, die systematisch in ausdrücklicher Absetzung von den „Platonici“ gewonnen wird und die darauf zielt, der kreativen Autonomie des menschlichen Subjekts Rechnung zu tragen. Diese Verschiebung im Werk des Cusanus vollzieht sich werkgeschichtlich innerhalb von De coniecturis und den sogenannten Opuscula, welche im unmittelbaren zeitlichen Anschluß an De coniecturis nach 1445 und vor 1450 verfaßt sind.
1. Participatio: zur Wortstatistik Zu Beginn erfolgt eine wortstatistische Analyse.1 Das Substantiv „participatio“ und das Verb „participari“ sowie ihre flektierten Formen einschließlich Partizipien und Adverbien finden sich laut Auskunft der onlineDatenbank des Institutes für Cusanus-Forschung rund 900 Mal im Werk des Cusanus (ausgenommen die nicht erfaßten mathematischen Schriften und Opuscula der Konzilszeit). In De docta ignorantia gibt es knapp 50 Belegstellen. Im Gegensatz zu diesen recht wenigen Funden, finden sich in De coniecturis fast 200 Treffer. Das ist insgesamt mehr als ein Fünftel aller Vorkommen überhaupt. In De quaerendo Deum und De dato patris luminum erscheint der Begriff nur marginal, in De filiatione Dei immerhin noch mit 25 Vorkommen. Die gleiche Anzahl bietet De genesi. Insgesamt enthalten die Opuscula mit einem klaren Schwerpunkt auf De filiatione und De genesi ca. 60 Treffer, 1
Grundlage ist die online-Datenbank des Instituts für Cusanus-Forschung unter www.cusanus-portal.de.
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was immerhin dieselbe Größenordnung darstellt wie die gesamten drei Bücher von De docta ignorantia. Die Idiota-Schriften sind nur mit 10 Belegen vertreten. Im Anschluß schaffen es die beiden Schriften von 1453, nämlich De visione Dei und De pace fidei, gemeinsam auch nur auf 10 Treffer. Diese Beobachtung setzt sich fort. Selbst große Spätschriften wie De ludo globi oder Cribratio alkorani liegen auf einem ähnlichen Niveau. Eine Ausnahme bildet, wie zu erwarten war, De principio; die kleine Schrift weist gut 40 Belege auf. Da Nikolaus hier in einer dichten Meditation den Gedankengängen von Proklos folgt2, ist das Vorkommen freilich weniger durch des Cusanus’ eigenes Denken bedingt, als vielmehr aus der gedanklichen Welt seines Gesprächspartners motiviert. Mit gut 75 Belegen enthält dann die späte Zusammenfassung seines Werkes, die Cusanus mit De venatione sapientiae gibt, noch einmal einen signifikant höheren Anteil, der allerdings prozentual im Verhältnis auch unter De coniecturis und den Opuscula liegt. In De non aliud gibt es etwa 40 Belege. Freilich muß man in dieser Stelle einen Vorbehalt machen. Denn etwa ein Dutzend Belege entstammen dem Florilegium der Dionysius-Texte aus Kapitel 14 der Schrift. Blicken wir auf die Sermones. Insgesamt liegen uns knapp 300 Sermones vor. Diese Sermones verteilen sich über die gesamte Wirkenszeit des Cusanus. Einen deutlichen Schwerpunkt bilden die Brixener Jahre. Um für die vorliegende Untersuchung eine Linie zu setzen, bietet es sich an bei Sermo LXXV einen Einschnitt zu machen. Das erste Viertel der Sermones reicht dann bis in das Jahr 1449. 1450 legt Nikolaus seine Idiota-Schriften vor, die, wie allgemein anerkannt, zwar durch die Opuscula vorbereitet sind, aber doch gegenüber diesen einen weiteren Schritt darstellen.3 Mit diesem Einschnitt ist also der für die vorliegende Fragestellung relevante Zeitraum im Blick. Wie also verhalten sich die Belege zu „participatio“ in diesem Bereich? Bis Sermo XX finden sich kaum Belege; erst mit Sermo XXII, gehalten wohl am 25. Dezember 1440, also bereits im Umfeld der Überlegungen zu De docta ignorantia finden sich größere Trefferzahlen (10 in diesem Fall); dann folgt Sermo XXX mit 9 Belegen; damit sind wir zeitlich bereits am 25. März 1445, also in der Periode der Opuscula. Sermo XXXVII weist 11 Treffer auf; das ist die Pfingstpredigt desselben Jahres. Obwohl also wiederum dieselbe Anzahl von Predigten der Zählung nach dazwischenliegt, sind es der Zeit nach nur noch zwei Monate und nicht 2
Vgl. zu Cusanus und Proklos: C. D’Amico, „Nikolaus von Kues als Leser von Proklos“, in: K. Reinhardt/H. Schwaetzer (Hgg.), Nikolaus von Kues in der Geschichte des Platonismus, Regensburg 2007, 33–64. 3 Vgl. M. Thomas, Der Teilhabegedanke in den Schriften und Predigten des Nikolaus von Kues (1430–1450), Münster 1996 (= Teilhabegedanke). Auch Thomas hält 1450 inne.
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fünf Jahre. Im folgenden werden die Belege dichter, so daß man zusammengefaßt sagen kann: Das erste Viertel der Predigten des Cusanus weist ab dem Zeitpunkt 1445 (Beginn der Opuscula) mit Sermo XXX und dann noch einmal gehäuft zwischen Sermo L und LXXV fast die Hälfte aller Belege zur Teilhabe in den Predigten auf. Insgesamt ergibt die quantitative Untersuchung damit ein klares Bild: Sowohl was die philosophischen Werke wie was die Sermones betrifft, liegt die signifikant höchste Trefferzahl im Zeitraum von 1443 bis 1447 vor, also bei De coniecturis und den Opuscula.4 Dazu kommt eine sehr zaghafte Renaissance des Begriffs, die aber keinen Zeitraum im Ganzen abdeckt, sondern sich auf bestimmte Spätschriften wie De venatione sapientiae und De non aliud beschränkt. Im nächsten Schritt wäre zu fragen, ob diese rein quantitativ-statistische Auswertung Ausdruck einer Entwicklung im systematischen Denken von Nikolaus ist.
2. Das doppelte Problem in De coniecturis Das Verhältnis von „Einheit“ und „Vielheit“ ist in De coniecturis grundlegend bestimmt durch die Idee der „coniectura“. Nikolaus visualisiert seinen diesbezüglichen Ansatz in den beiden Figuren u und p. Die „figura universalis“ bietet mit ihren Kreisen als Struktur des Universums einen holistischen Erklärungsversuch des Weltganzen, der ganz offenkundig innerhalb eines Partizipationsmodells denkt. So steht im Hintergrund der grundlegenden Figura u mit ihren 3³ Kreisen, ohne daß sich die Figur darin erschöpfte, u.a. das Modell der englischen Hierarchien von Dionysius, welches wesentlich durch die Gedanken von Emanation und Partizipation bestimmt ist. Die „figura p“ thematisiert das Verhältnis von Einheit und Vielheit unmittelbar; sie zeigt aber zugleich, daß in diesem Verhältnis etwas liegt, was einen Stolperstein für einen klassischen Partizipationsbegriff darstellt. Die „figura p“ besteht bekanntlich aus zwei ineinander geschobenen Dreiecken. Das eine ist eine Pyramide des Lichts, das andere eine Pyramide der Finsternis. Die Figur macht deutlich, daß sowohl an der äußersten Basis des Lichtes noch immer eine Spur Finsternis ist als auch daß an dem tiefsten Grund der Finsternis noch immer ein Funken Lichtes sich befindet. Ganz offensichtlich begründet dieses Modell die epistemologische Konzeption der „coniectura“. Deren Grundaxiom lautet, daß niemals die Wahr4
Es ist in dieser Hinsicht bezeichnend, daß auch die Monographie von Thomas, Teilhabegedanke bei 1450 aufhört, freilich ohne diesen Befund wortstatistisch abzusichern oder im einzelnen zu reflektieren, was die eigentliche verdienstvolle Untersuchung in ihrer Aussagekraft etwas einschränkt.
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heit an sich erkannt wird, sondern immer nur die Wahrheit in der Andersheit. So lautet die berühmte Definition der „coniectura“: „Coniectura igitur est positiva assertio, in alteritate veritatem, uti est, participans.“5
Es ist unschwer erkennbar, daß damit menschliches Erkennen unter den Vorbehalt der Vorläufigkeit und der immer weiteren Perfektionierung gestellt ist. Zugleich macht das Zitat deutlich, daß konjekturales Erkennen als ein Modus des Partizipierens gedacht ist. Diese „participatio“ als Grundlage der „coniectura“ bietet den Grund für die intensive Behandlung des Terminus in De coniecturis. Teilhabe ist, das verdient festgehalten zu werden, primär eine epistemologische Bestimmung, deren ontologische Gültigkeit freilich mitbedacht und mitbegründet wird, was die „coniectura“ vor der Beliebigkeit bloßer Subjektivität schützt.6 Aus dieser Konzeption erfließt aber eine doppelte Problemstellung: Cusanus vertritt in der Schrift die Eigenständigkeit und Autonomie der „coniectura“. Damit einher geht auch die Autonomie des erkennenden menschlichen Geistes. Sie erfordert erstens ein neues Modell von Partizipation, welches konjekturale Erkenntnis positiv als kreativen Akt von Seiten des menschlichen Geistes und nicht negativ als Manko einer Privation deutet, und zweitens bedarf es einer geänderten Anthropologie, welche die schöpferische Rolle der erkennenden menschlichen „mens“ gegenüber den anderen Geschöpfen der Welt deutlich macht; eine solche Differenzierung zieht notwendig nach sich, daß Partizipation zwischen Mensch und übriger Schöpfung differenziert gedacht werden muß. Schaut man von De coniecturis auf die Opuscula, so ist es genau diese doppelte Problemstellung, welche dort eingeholt wird.7
5
De coni. I c. 11 (h III n. 57). Zum in der Cusanus-Literatur viel behandelten Konjektur-Begriff vgl. vor allem I. Bocken, „Konjekturalität und Subjektivität“, in: H. Schwaetzer (Hg.), Nicolaus Cusanus. Perspektiven seiner Geistphilosophie, Regensburg 2003, 51–64.; ferner ders., De kunst van het verzamelen. Historisch-ethische inleidung in de conjecturele hermneutiek van Nicolaus Cusanus, Budel 2004. 7 Zum Doppelproblem vgl. M. van der Meer, „Imago und participatio. Das Verhältnis zwischen dem Bildsein und der Teilhabe des Geistes in De coniecturis, De filiatione Dei und Idiota de mente“, in: K. Reinhardt/H. Schwaetzer (Hgg.), Nicolaus Cusanus. Perspektiven seiner Geistphilosophie, Trier 2003, 65–77. Wie der Titel andeutet, geht van der Meer dabei einen Weg, der die anthropologische Seite, und damit die Entwicklung von De coniecturis zur Mens-Philosophie der Idiota-Schriften verfolgt. 6
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3. Die doppelte Partizipation Die eine im folgenden zuerst behandelte Schwierigkeit liegt für Cusanus darin, daß die „figura p“ im Gegensatz zu derjenigen Form der Partizipation, welche Finsternis privativ als Fehlen von Licht deutet, eine andere Version bietet, indem sie die Pyramide der Finsternis derjenigen des Lichtes eigenständig gegenüberstellt. Es ist ganz offensichtlich, daß die Aufwertung der Dunkelheit ein individualisierendes Moment darstellt. Diese Individualisierung reicht bis in die höchste Spitze an die Basis des Lichts. (In Klammern sei vermerkt, daß wir eine Umsetzung eines solchen Modells in der Innenseite des Genter Altars von Jan van Eyck unmittelbar vor Abfassung von De coniecturis finden, wie Wolfgang Christian Schneider gezeigt hat.) Aus diesem Sachverhalt folgt aber, daß man korrekterweise von einer doppelten Partizipation zu reden hat: derjenigen des Lichts an der Finsternis und derjenigen der Finsternis am Licht. Diese Idee einer doppelten Partizipation ist durchaus platonischer Natur. Sie ist nicht im Parmenides, sondern im Sophistes (151e–159e) formuliert. Doch sei die Frage rein innercusanisch betrachtet. Die Subjektivität des erkennenden Bewußtseins zieht die Figur einer doppelten Partizipation nicht notwendig nach sich. Partizipation ließe sich durchaus als ein Modus eingeschränkter, privativer Teilhabe deuten; subjektives Erkennen wäre in der Folge als defizitäres Erkennen zu fassen. Indem Cusanus aber bereits im Eingang von De coniecturis auf die schöpferische Leistung der „mens“ verweist, welche das gedankliche Universum so schafft wie der Schöpfergott das reale, setzt er bewußt eine Eigenständigkeit des erkennenden Subjekts.8 Nicht zuletzt dieser Eigenständigkeit geschuldet ist die Einführung des Modells der „figura p“. Die Autonomie des Subjekts bedingt eine Änderung des Partizipationsdenkens, welche in der Idee der doppelten Partizipation ihren Ausdruck findet. Die Schrift De quaerendo Deum, welche zu den Opuscula gehört, unternimmt die Ausbildung eines solchen Modells der doppelten Partizipation. Historisch-systematisch, das sei nur angefügt, versteht Cusanus diese Überlegungen u.a. als Fortbildung der Überlegungen des Johannes Scottus Eriugena zur Theophanie-Frage. Als Beispiel zur Verdeutlichung des Gedankens der doppelten Partizipation wählt Nikolaus wie in De coniecturis
8 De coni. I c.1 (h III n. 5): „Unde coniecturarum origo coniecturas a mente nostra, uti realis mundus a divina infinita ratione, prodire oportet. Dum enim humana mens, alta dei similitudo, fecunditatem creatricis naturae, ut potest, participat, ex se ipsa, ut imagine omnipotentis formae, in realium entium similitudine rationalia exserit. Coniecturalis itaque mundi humana mens forma exstitit uti realis divina. “
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das Licht, also jenes Element, welches zugleich gnoseologisch wie ontologisch verstanden werden darf. Das Auge als solches sieht, so hält er fest, nichts anderes als Farbe. Es sieht keine Formen oder dergleichen. Auch ist das Auge selbst völlig frei von Farbe, damit es Farben sehen kann (n. 20). Seine ganze Überlegung geht dabei rein vom menschlichen Subjekt aus. In ihr findet sich sogar das Argument der Sinnestäuschung positiv gewendet (n. 22). Daß uns durch ein gefärbtes Glas die Welt gefärbt erscheint, bezeugt gerade nicht, daß unser Sehen unzuverlässig ist, sondern zuverlässig, weil das Sehen selbst eben keine Färbung hat – auch dieses ein Argument, welches in De visione Dei im Kontext der Anthropomorphismusfrage wieder auftauchen wird.9 Im zweiten, kürzeren Argumentationsgang geht es um das Objekt (n. 28–31). Dabei gibt es einen entscheidenden Punkt: Die Farbe ist im Sinn vollkommener als im Objekt. Denn im menschlichen Sinn ist sie lebendig und dadurch perfekter. Noch vollkommener ist ein Objekt freilich in der Vernunft. Das Objekt ist also umso vollkommener, je mehr es am Subjekt partizipiert. Damit gerät der eigentümliche Partizipationsgedanke in den Blick. Es ist nicht nur so, daß die Konjektur für das Subjekt von Bedeutung ist, insofern es an der Wahrheit in Andersheit teilhat, sondern auch das Objekt selbst wird dadurch als Objekt vollkommener, je besser und höher das Subjekt es auffaßt. Offenbar wird mit der Gleichwertigkeit von Gott und Mensch Ernst gemacht; so wie die Schöpfung Gottes die menschliche Erkenntnis über den Charakter der bloßen Subjektivität hinausführt, so führt das menschliche Erkennen die Objektivität der Schöpfung Gottes über dieselbe hinaus.10 Was dieser Idee zugrunde liegt, ist keineswegs der Wunsch, die Welt abzuwerten, sondern im Gegenteil die Einsicht, daß die Welt genau dann besser erkannt wird, wenn wir sie besser wahrzunehmen vermögen. Einem musikalisch geübten Ohr enthüllt sich mehr als einem ungeübten. Ein an der Natur geübtes Auge sieht mehr als ein ungeübtes etc. Sinnesschulung lautet demnach die ja durchaus klassische Losung, die objektivere Welterkenntnis und eigenen geistigen Aufstieg verbindet. Im weiteren wird konsequenterweise die Frage nach dem Modus dieser neuen Form von Partizipation als Erkenntnis gestellt. Das Sinnesorgan liefere zwar den Sinneseindruck, so Cusanus in guter platonischer Traditi9 Vgl. H. Schwaetzer, „Die grüne Brille des Menschen. Cusanus und Feuerbach“, in: B. Bouvier/H. Schwaetzer/H. Stahl/H. Spehl (Hgg.), Karl Marx heute. Was bleibt? Schriftenreihe des Karl Marx-Hauses, Trier 2009, 21–42. 10 Was der Mensch in die Sichtbarkeit der Schöpfung überführt, ist die von ihm geschaffene Idee der Dinge, welche der Idee Gottes bei der Schöpfung korrespondiert; aber die Idee ist mit der Schöpfung unmittelbar und ungetrennt mit dem Seienden verbunden; daß sie ein getrenntes Sein hat, ist eine Schöpfung des Menschen.
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on, in ihm sei aber alles noch verworren, solange nicht der Verstand hinzutrete und unterscheide. Wenn also etwas gesehen wird, dann ist es nicht nur das Licht des Auges, sondern auch bereits das Licht des Verstandes, welches tätig ist. Darüber hinaus braucht es natürlich auch ein drittes Licht: das Außenlicht, welches die Gegenstände erhellt (n. 34). Die gesamte Konstruktion wird nun an einem klassischen Beispiel verdeutlicht und verwandelt. Die Farbe ist im Licht wie in ihrem Ursprung, wie wir es am Regenbogen erfahren.11 Der Regenbogen, so läßt sich Cusanus Überlegung lesen, ist einerseits Ausdruck des Lichtes. Dabei sind die Farben das Licht, welches im Durchscheinenden an seine Grenze gekommen ist. Da, wo das Licht sich begrenzt oder begrenzt wird, entstehen je nach Begrenzung die Farben. Diese Grenze des Lichtes ist aber zugleich eine vom Subjekt abhängige. Wie neuzeitlich bekannt, sieht jeder Mensch seinen eigenen Regenbogen, weil die Farbigkeit vom jeweiligen Sehwinkel abhängt, ganz so, wie es Cusanus in De coniecturis für die Konjektur eingeführt hatte. Der Regenbogen wird damit zum Änigma einen doppelten Partizipation: Zum einen partizipieren die Farben am Licht, zum anderen am Subjekt. Faßt man jetzt aber Farbe nicht als ein statisch Gegebenes auf, sondern als ein dynamisches Wechselspiel von Licht, dann ist die Farbe eine je individuelle Relation vom Schöpfungslicht Gottes und vom Erkenntnislicht des individuellen Menschen. Diese Relation ist die Beschreibung der „coniectura“, die jetzt nicht mehr als Verhältnis zwischen Subjekt und Objekt, sondern als Relation zweier Subjekte, in deren Mitte ein Drittes, das Objekt, entsteht, verstanden wird. Denn die urphänomenologische Begegnung von Licht im Regenbogen als Sinnbild spiegelt wider, was in jeder Sinneswahrnehmung auf je eigene Weise auftritt. Dadurch ist das, was sich als Objekt eines Erkenntnisakts zeigt, nach Cusanus eigentlich eine Relation zwischen dem Schöpfergott, welcher die Dinge schafft, und dem Schöpfermenschen, der die Erkenntnis der Dinge schafft. Die Idee der doppelten Partizipation wertet folglich die Stellung des Menschen als eines selbständigen Gegenübers zu Gott in der Erkenntnis auf. Damit tritt das zweite Problem aus De coniecturis erneut in den Gesichtskreis: Der Mensch unterscheidet sich in der Form seiner Partizipati-
11 Vgl. dazu D. O’Connell, „Notes on color as terminus lucis in diaphono“, in: I. Bocken/H. Schwaetzer (Hgg.), Spiegel und Portät. Zur Bedeutung zweier zentraler Bilder im Denken des Nicolaus Cusanus, Maastricht 2005, 247–260. Ferner dazu: H. Stahl, „Das ‚Eine‘ oder ‚Nichts Anderes‘. Aleksej Losevs Deutung des Cusanischen ‚Non aliud‘“, in: H. Schwaetzer/K. Zeyer (Hgg.), Das Europäische Erbe im Denken des Nikolaus von Kues. Geistesgeschichte als Geistesgegenwart, Münster 2008, 339–366, hier: 358f.
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on, die sich erkennend vollzieht, qualitativ grundlegend von den übrigen Geschöpfen.
4. Die neue Anthropologie In den Opuscula entwickelt Cusanus eine neue Anthropologie, ohne daß dabei von einem fundamentalen Bruch zu sprechen wäre – weder werkimmanent noch geistesgeschichtlich. Geistesgeschichtlich ergibt sich das Konzept des Menschen als eines lebendigen Bildes Gottes als Frucht einer Auseinandersetzung mit Meister Eckhart.12 Den berühmten Codex Cusanus 21 hat sich Nikolaus bekanntlich 1444 schreiben lassen.13 Die Auseinandersetzung mit dem gegen Eckhart gerichteten Pantheismusvorwurf in Form der Identifizierung von Schöpfer und Geschöpf ist es, die Cusanus letztlich zur Reformulierung seiner Anthropologie führt. Im Nachverfolg dieser Entwicklung läßt sich zugleich sehen, wie das Partizipationsmodell von De coniecturis überwunden wird. Dazu ist zunächst auf die werkimmanente Ausgangsbasis zu verweisen. Bereits die Schrift über die Konjekturen hält folgende Bestimmung des Menschen bereit: „Est igitur homo microcosmos aut humanus quidem mundus. Regio igitur ipsa humanitatis deum atque universum mundum humanali sua potentia ambit. Potest igitur homo esse humanus deus atque, ut deus, humaniter potest esse humanus angelus, humana bestia, humanus leo aut ursus aut aliud quodcumque. Intra enim humanitatis potentiam omnia suo exsistunt modo.“14
Der Möglichkeit nach enthält der intellektuelle Kosmos des Menschen alles, und der erkennende Mensch wird intellektuell zu dem, was er denkt.15 Der Ton dieser Stelle liegt weniger auf dem inhaltlichen eines „humanus deus“; denn „humanus deus“ steht folgerichtig gleichwertig neben „humanus leo“. Es ist vielmehr die Methodik und Fähigkeit eines intellektuellen Kreierens selbst, welche den menschlichen Proteus auszeichnet und 12 H. Schwaetzer, „,Viva imago Dei‘ – Überlegungen zum Ursprung eines anthropologischen Grundprinzips bei Nicolaus Cusanus“, in: I. Bocken/H. Schwaetzer (Hgg.), Spiegel und Porträt. Zur Bedeutung zweier zentraler Bilder im Denken des Nicolaus Cusanus, Maastricht 2005, 113–132. 13 Zum Verhältnis von Cusanus zu Eckhart vgl. zuletzt: S. Frost, Nikolaus von Kues und Meister Eckhart. Rezeption im Spiegel der Marginalien zum Opus tripartitum Meister Eckharts, Münster 2006. Ferner wird der Band 4 des Jahrbuchs der Meister EckhartGesellschaft (von Georg Steer und Harald Schwaetzer herausgegeben) 2010 zu Cusanus und Eckhart erscheinen. 14 De coni. II c. 14 (h III n. 143). 15 Der Gedanke ist durchaus traditionell; er findet sich etwa auch bei Eriugena, der schon für De quaerendo Deum Pate stand.
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ihm damit den Titel eines „Microcosmos“ verleiht. In dieser Erkenntnisfähigkeit liegt gemäß der Idee der Konjektur die Möglichkeit, mehr oder minder adäquat den jeweiligen Erkenntnisinhalt zu erzeugen. Von hier aus liegt eine Idee wie diejenige der „viva similitudo“ nahe. Ihre Einführung geschieht anhand der beiden Spiegelgleichnisse aus De dato und De filiatione. Die Schrift De dato patris luminum ist laut Aussage ihres Editors Paul Wilpert nicht eindeutig zu datieren. Sie muß vor 1449 geschrieben sein, weil sie in der Apologia doctae ignorantiae erwähnt wird. Wilpert meint, sie sei im Umkreis von Über Gotteskindschaft entstanden; für seine Ansicht, sie sei nach derselben entstanden, gibt er keine eigene Begründung.16 Auch eine Abfassung kurz vor derselben kann als vermutet werden. Wackerzapp hält die Schrift für die erste unter den kleinen Schriften und vertritt sogar eine Abfassung vor 1444.17 Die Datierung vor 1444 ist unwahrscheinlich aufgrund der deutlichen Präsenz Eckharts in der Schrift; eine Datierung vor De filiatione Dei hingegen scheint mir plausibel. Cusanus’ Ziel in der Schrift ist es, das Verhältnis zwischen dem gebenden Gott und dem aufnehmenden Geschöpf darzulegen.18 Dabei legt er 16 Eines der Argumente, die man anführen kann, ist die Tatsache, daß die Handschriften die Werke in dieser Reihenfolge enthalten, so etwa der Cod. Cus. 218. Dabei ist freilich darauf hinzuweisen, daß die Reihenfolge der Werke nicht historisch ist; auf die Schrift De docta ignorantia folgt beispielsweise zunächst die Apologia doctae ignorantiae und erst dann De coniecturis. Auch steht De beryllo am Ende und der Trialogus de possest folgt dem Compendium. 17 Vgl. H. Wackerzapp, Der Einfluß Meister Eckharts auf die ersten philosophischen Schriften des Nikolaus von Kues (1440–1450), Münster 1962, 13. Er argumentiert mit einer Nähe der Schrift zu De docta ignorantia II, c.2. 18 Der Anfang von De dato patris luminum ist schon allein deswegen von Bedeutung, als er eine Bestätigung dafür gibt, daß es auch von dieser Schrift her eine direkte Linie zu den Idiota-Dialogen gibt. Flasch (K. Flasch, Nikolaus von Kues, Geschichte einer Entwicklung, Frankfurt am Main 1998, 251ff.) hat in seiner genetischen Darstellung des Cusanus zwischen der deutschen und der italienischen Phase des Kardinals streng getrennt. Dabei arbeitet er neben der Licht-Metapher – nach dem dunklen Deutschland komme Cusanus ins lichte Italien – vor allem mit dem Gegensatzpaar von „leicht“ und „schwer“. Die „Leichtigkeit der schweren Dingen“, das sei das neue Motiv, welches sich ab der Schrift Idiota de sapientia Bahn breche. Leider rächt sich auch in diesem Punkt, daß Flasch die kleineren Schriften, um die es uns hier geht, sehr pauschal abgehandelt hat. Daß er damit einen Zentralpunkt in der Entwicklung des Cusanus übersehen hat, wird auch an dieser Behauptung klar. Die aus dem ‚tiefen‘, ‚dunklen‘, ‚schweren‘ Deutschland stammende Schrift De dato patris luminum beginnt nämlich gleich eingangs mit der Bemerkung – ich zitiere nach einer Übersetzung, die in Kürze in der Reihe des Institutes erscheinen wird –: „Es war, wie ich glaube, des seligsten Apostels Absicht, uns auf leichtem Wege zu allem, was wir ersehnen, hinzuführen“, De dato patris c. 2 (h IV n. 92). Auch die Leichtigkeit ist also ein Motiv, welches in den ‚kleinen Schriften‘ vorbereitet ist.
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Wert auf eine Differenzierung zwischen dem Schöpfergott, dem einen Jesus Christus und den übrigen Menschen. Die Geschöpfe bedürften der Gnade des Schöpfers, weil ihre Möglichkeit niemals vollständig Wirklichkeit sei, abgesehen von dem einen Jesus Christus.19 Warum er diese Unterscheidung hervorhebt, wird ersichtlich, wenn wir uns dem zweiten Kapitel zuwenden. Eingangs betont er, den eigentümlichen Gehalt des Bibelwortes herausschälen zu wollen; damit lenkt die Schrift, ohne ein weiteres Wort darüber zu verlieren20, in Eckhartsches Fahrwasser ein. Denn Cusanus gibt folgende Problemstellung: „Videtur igitur omnem creaturam quodammodo deum esse.“
Das wird über den Gedanken begründet, daß Gott der Geber nur des Besten ist, das Beste aber er selbst ist, weswegen er sich also selbst gibt, was eine Identität von Schöpfer und Geschöpf nach sich zu ziehen scheine. Dann heißt es wiederum pointiert: „Videtur igitur quod idem ipsum sit deus et creatura, secundum modum datoris deus, secundum modum dati creatura. Non erit igitur nisi unum, quod secundum modi diversitatem varia sortitur nomina.“21
Auf zwei Dinge sei aufmerksam gemacht. Erstens formuliert Cusanus den Sachverhalt, den man Eckhart glaubte anlasten zu können. So finden sich in der Bulle etwa diese zwei Sätze Eckharts verurteilt: „Alles, was der göttlichen Natur eigen ist, das ist alles dem gerechten und göttlichen Menschen eigen“ und:
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De dato patris c. 2 (h IV n. 94). In der kritischen Ausgabe (h IV) ist an dieser Stelle kein Hinweis auf inkriminierte Aussagen Eckharts oder Parallelen dazu enthalten. 21 Ebd. n. 97: „Es scheint also, daß jedes Geschöpf auf irgendeine Weise Gott ist. Gott allein ist nämlich der vollkommen gute oder der beste. Wenn folglich das Geschöpf die beste Gabe ist, scheint jedes Geschöpf, da es sehr gut ist, ein geschenkter Gott zu sein. Nichts nämlich kann er geben, das nicht seinem Vermögen untersteht. Notwendigerweise liegt nämlich im Vermögen des Gebers das, was gegeben wird. In dem Vermögen des Guten liegt das Gute. Das Beste aber ist nichts anderes als das Eine, Einfache, Unteilbare, weil es das Beste ist. Es kann also nichts anderes geben als sich selbst. Das Beste ist das Verströmen seiner selbst, aber nicht in Teilen, weil das Beste nur das Beste sein kann. Denn es ist alles das, was es sein kann. Deshalb ist sein Sein seine Bestheit und Ewigkeit. Es teilt sich folglich ohne Verminderung mit. Es scheint also, daß Gott und Geschöpf dasselbe sind – der Weise des Gebers entsprechend Gott, der Weise der Gabe entsprechend Geschöpf. Es wird also nur ein einziges existieren, das der Verschiedenheit der Modi gemäß verschiedene Namen erlangt. Eben dieses wird ewig sein nach der Weise des Gebers und zeitlich nach der Weise der Gabe, und es wird Schaffender und Geschaffenes sein etc.“ (Übers.: H.S.). 20
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„Alles, was Gott, der Vater, seinem einziggeborenen Sohn in der menschlichen Natur gegeben hat, das hat er alles mir gegeben.“22
Zweitens wird dieser Gedanke an das Problem von Einheit und Vielheit geknüpft. Bestünde der Pantheismusvorwurf zu Recht, so wären Schöpfer und Geschöpf eins, und eine Vielheit im eigentlichen Sinne gäbe es nicht. Von hier aus wird ersichtlich, wie sich der Kontext Eckhartscher Gedanken unter Häresie-Verdacht und die Umdeutung des Partizipationsdenkens ineinander fügen. Es bleibt zu zeigen, wie sich daraus die neue Anthropologie entwickelt. Einen ersten Versuch unternimmt Cusanus im Spiegelgleichnis von De dato patris luminum.23 Das Spiegelgleichnis selbst hat dabei die Stellung eines Paradigmas, nicht diejenige eines bloßen Beispiels; denn nach demselben heißt es weiter: „Verschiedene Beispiele sollen uns helfen, das Gesagte zu begreifen“.24 Es lautet folgendermaßen: „Dein Antlitz wird, indem es die Gleichheit seiner Proportionen vervielfältigt, verschiedenartig in einem Spiegel aufgenommen, demgemäß, daß der Spiegel, der das Aufnehmen ist, je verschieden ist; in dem einen nämlich klarer, weil das Aufnehmen des Spiegels klarer ist, im anderen dunkler; aber in keinem jemals so, wie das Antlitz selbst ist. Denn daß es in einem Anderen auf andere Weise aufgenommen wird, das ist notwendig so. Nur ein einziger Spiegel 22
H. Denzinger/A. Schönmetzer, Enchiridion Symbolorum, Freiburg u.a. 37. Aufl. 1991, 401; Es finden sich viele Stellen dieser Art, zum Teil noch eindeutigeren Charakters, vgl. z.B. Predigt 10 (Largier I 126), Predigt 12 (Largier I 142), Predigt 24 (Largier I 280, 290), Predigt 28 (Largier I 322), Predigt 29 (Largier I 332), Predigt 39 (Largier I 422), Predigt 41 (Largier I 442 f.), Predigt 46 (Largier I 490 ff.). 23 Auch Eckhart kennt das Spiegelgleichnis, freilich in noch eingeschränkterer Form, vgl. dazu Predigt 9 (Largier I 112) und Predigt 16A (Largier I 182); eine Stelle, die in den Prozeßakten aufgeführt worden ist und die Cusanus insofern bekannt gewesen sein kann. Ferner Predigt 57 (Largier I 610). Beide Stellen heben darauf ab, daß das Spiegelbild automatisch entsteht, ohne aktives Zutun dessen, der gespiegelt wird und alle nur möglichen Bilder bereits in sich trägt. Weitaus dichter an Cusanus’ Überlegungen ist eine Stelle aus Sermo V,1 (LW 4, 35 f.): „si diceremus quod facies intuentis diversa specula est in ipso intuente naturaliter et secundum omnem proprietatem naturalem rerum et ibi tantum, in nullo vero speculorum est secundum esse nec sub aliqua proprietate, quae competit seu debetur ipsi faciei, ut est in natura et in vultu intuentis, nec calida nec frigida scilicet. Quod si dicamus, ut quidam volunt, quod in quolibet speculorum sive oculorum, in quibus relucet ipsa facies, sit ipsamet facies per substantiam, eo quod aliter non videremus faciem ipsam nec aliter posset vere dici quod sciremus sive cognosceremus rem quamlibet, nisi ipsa res huiusmodi et ipsa rei substantia esset in quolibet cognoscente, quamvis sub alio et secundum aliud esse: si, inquam, sic dicamus, erit exemplum perfectius.“ Eckhart verwendet dieses Gleichnis im Hinblick auf die ebenfalls verurteilte Abendmahlsfrage, die Cusanus seinerseits in Sermo CCXXXV zu rechtfertigen versucht hat. Eckhart insistiert darauf, daß das Spiegelgleichnis dann perfekter wäre, wenn dem Spiegelbild zugleich auch ein Sein mitgeteilt würde, sei es auch in oder an einem anderen Sein. 24 De dato patris c. 2 (h IV n. 100).
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ist ohne Makel, nämlich Gott selbst, in dem das Antlitz so aufgenommen wird, wie es ist, weil jener Spiegel keinem Ding, das existiert, ein Anderes ist, sondern gerade das, was in all dem existiert, was existiert, weil er die universale Gestalt des Seins ist.“25
Nikolaus unterscheidet also eine Vielzahl von Spiegeln, die je nach eigener unterschiedlicher Fähigkeit das Gespiegelte aufnehmen. Dabei wird aber das Gespiegelte in keinem Spiegel so aufgenommen, wie es an sich ist. Offenbar befindet sich die Stelle ganz auf dem Boden der Konjekturenlehre. Die Differenz zwischen Schöpfer und Geschöpf bleibt unmißverständlich gewahrt. Freilich erkauft sich Cusanus in dieser Fassung des Spiegelgleichnisses die strikte Trennung von Schöpfer und Geschöpf mit einem hohen Preis: Das Gleichnis ist nicht in der Lage, die Wandlungsfähigkeit des menschlichen Erkenntnisvermögens in qualitativer Entwicklung wiederzugeben. Es nivelliert auf diese Weise auch die Differenz zwischen dem Menschen und den übrigen Geschöpfen. Das Spiegelgleichnis, welches im klassischen Sinne als Partizipationsmodell gezeichnet wird, befreit zwar vom Vorwurf, dem Eckhart sich ausgesetzt sah, aber um den Preis, die Fähigkeiten des Menschen herabzusetzen. Es ist deutlich, daß dieses nicht des Cusanus letztes Wort sein kann. In der Tat bietet De filiatione in seinem mittleren dritten Kapitel die bekannte erweiterte Fassung des Spiegelgleichnisses, welche jetzt diese Mängel mit der Einführung der „viva similitudo“ beseitigt.26 Es gebe, so heißt es in De filiatione, einen einzigen, vollkommenen Spiegel; dieser sei der Logos. Als einziger sei er das vollendete Bild der väterlichen Einheit und der gesamten Welt. Er spiegle alles vollkommen und ohne jeden Makel. Um diesen vollkommenen Spiegel herum stünden im Kreise andere Spiegel, unvollkommene Spiegel, die gekrümmt, verzerrt, getrübt seien. Diese Spiegel spiegelten den einen vollkommenen Spiegel in der Mitte wider. Sie symbolisieren die Geschöpfe. Unter diesen Spiegeln gebe es besondere Spiegel; sie könnten sich selbst begradigen und reinigen. Diese Spiegel sind die Menschen. Sie können also lebendige Spiegel des vollkommenen Spiegels sein und dessen Sein von ihrem Standpunkt her vollkommen exakt oder auch gekrümmt, je nach ihrer eigenen Verfassung, widerstrahlen. 25
Ebd. n.99: „Facies enim tua aequalitatem superficialis dispositionis de se multiplicans recipitur in speculo varie, secundum quod speculum, quod est receptio, varium fuerit, in uno quidem clarius, quia specularis receptio clarior, in alio obscurius, sed in nullo umquam uti est facies ipsa. In alio enim aliter recipi necesse erit. Solum est speculum unum sine macula, scilicet deus ipse, in quo recipitur uti est, quia non est illud speculum aliud ab aliquo quod est, sed est id ipsum quod est in omni eo quod est, quia est universalis forma essendi.“ 26 Vgl. H. Schwaetzer, „Viva similitudo“, in: ders. (Hg.), Nicolaus Cusanus. Perspektiven seiner Geistphilosophie, Internationale Tagung junger CusanusforscherInnen am Institut für Cusanus-Forschung vom 24. bis 36. Mai 2002, Regensburg 2003, 79–94.
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Das Bild macht folgendes deutlich: Es gibt erstens eine klare Differenzierung zwischen Schöpfer und Geschöpf durch die Unterscheidung von Mittelpunkt und Umkreis. Zweitens gibt es jetzt auch eine klare Unterscheidung des Menschen von den übrigen Geschöpfen, indem der Mensch als sich selbst gestaltendes Erkenntniswesen bestimmt ist. Drittens bietet die Idee des vollkommenen Mittelspiegels ein grundlegendes Paradox. Der vollkommene Mittelspiegel selbst ist das einzige, was nicht gesehen werden kann; denn sonst wäre er nicht vollkommen. Von dem vollkommenen Mittelspiegel kann das menschliche Geschöpf nur wissen, weil es selbst erlebt, wie es je und je momenthaft in einer geglückten Erkenntnis intellektuell tatsächlich zu etwas wird, ein „leo humanus“, wie De coniecturis beispielhaft formulierte. Diese Erfahrung einer im Jetzt sich vollziehenden Evidenz einer Geradheit des Spiegels, welche es erlaubt, auf diese indirekte Weise vom Mittelspiegel zu wissen, tritt an die Stelle, welche vorher die Gottesgeburt im Menscheninnern einnimmt; sie tritt seit und mit dieser Erfahrung von De filiatione in den Hintergrund, wie Klaus Reinhardt gezeigt hat.27 Diese Idee des Cusanus, daß die Differenz zwischen Gott und Mensch durch die unterschiedliche Stellung gewahrt bleibt, während eine partielle Angleichung der Spiegel aneinander geschehen kann, hat zwei Konsequenzen. Erstens ist ein solches Modell nicht mehr als Teilhabe im Sinne eines Geschenks von oben als eines überfließenden Geschenks beschreibbar. Ein solcher Partizipationsgedanke ist hier am Ende seiner Leistungsfähigkeit angekommen. Zweitens tritt offenbar ein anderer Gedanke an dessen Stelle: derjenige einer beweglichen, sich je und je vollkommner und weniger vollkommen gestaltenden „similitudo“. Der positive Grenzbegriff dieser „similitudo“ kann aber niemals die „Einheit“ sein; denn vor dieser Einheit und den mit ihr verbundenen Problemen, mit denen Eckhart sich mit welchem Recht auch immer konfrontiert sah, schützt die unaufhebbare Distanz zwischen Mittelspiegel und Umkreisspiegel. Der leitende Zielbegriff kann deswegen nicht mehr die Einheit sein, sondern nur noch die bei bestehender Distanz sich ereignende „Gleichheit“ sein. Damit ist deutlich, wie von dem erkenntnistheoretischen Interesse des Cusanus her das Partizipationsmodell durch ein dynamisches Gleichheitsmodell modifiziert wird. Die „similitudo“ der „imago“, ihr „Assimilieren“ etc. werden zentrale Bewegungen auf den christologischen Grenzbegriff der „aequalitas“ hin, welche zwischen Einheit und Vielheit steht.
27 K. Reinhardt, „Das Thema der Gottesgeburt und der Gotteskindschaft in den Predigten des Nikolaus von Kues“, in: K. Reinhardt/H. Schwaetzer, Nikolaus von Kues als Prediger, Regensburg 2004, 62–78, hier vor allem 70f.
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5. De Genesi Abschließend bleibt es, den Befund anhand des letzten und zu den IdiotaSchriften hinüberführenden Ansatzes der Opuscula zu überprüfen. Ausdrücklich widmet sich De Genesi der Frage nach dem Ursprung der Einheit, aus dem Vielheit wird. Man kann verstehen, daß Nikolaus, der in seiner Reformulierung des Verhältnisses von Gott und Mensch bis jetzt primär von Seiten des Menschen aus gedacht hatte, nun sich seiner Idee auch von der Bewegungsrichtung von der Einheit Gottes zur Vielheit der Welt vergewissern will. Um den grundsätzlichen Ansatz von De genesi deutlich zu machen, sei auf die ersten Passagen der Schrift geblickt.28 Der Ausgangspunkt der Überlegungen ist eine Kritik an den „Platonici“. Sie hätten zu Unrecht das „Unum“ dem „Idem“ vorgezogen.29 Was bewegt Nikolaus zu dieser Kritik an den neuplatonischen ‚Henologen‘, etwa Proklos? Zwar stellt er ebenfalls gleich eingangs alle Rede vom Ursprung unter konjekturalen Vorbehalt (n. 143), aber es folgt dann doch ein recht bestimmtes Plädoyer für einen Vorzug der Bezeichnung von „idem“ vor derjenigen von „unum“. Getroffen wird die Entscheidung für das „idem“ im Angesicht der Frage des Gesprächspartners Konrad, wie aus dem ersten Grund – schon als „idem“ bezeichnet – alles Verschiedene und Entgegengesetzte habe entstehen können. Es ist also offenkundig, daß eine Kritik an den „Platonici“ hinsichtlich der Benennung des ersten Grundes, aus dem die Vielheit entsteht, in den klassischen Raum der Partizipationslehre gehört und daß diese in der Form, wie sie die „Platonici“ vertreten, von Cusanus nicht akzeptiert wird. Der entscheidende Grund, den Nikolaus für seinen Vorzug des „idem“ angibt, liegt interessanterweise dann genau auf einer Ebene jenseits der Benennbarkeit. Trotz des konjekturalen Vorbehalts wird also ausdrücklich ein übersprachlicher Geltungsgrund in Anschlag gebracht. Es heißt: „Tu vero concipito idem absolute supra idem in vocabulo considerabile. Tale est, de quo propheta loquitur, quoniam est ipsum idem absolutum omni diversitati et oppositioni suprapositum, quoniam idem. [...] Universale et particulare in idem ipsum idem, unitas et infinitas in idem idem.“30
28
Wesentliche Anregungen für das Verständnis dieser Stellen verdanke ich dem Beitrag von Kazuhiko Yamaki auf der 2. internationalen Cusanus-Konferenz von Lateinamerika in Buenos Aires. Ich verweise auf seinen in den Tagungsakten erscheinenden Beitrag. 29 De gen. c. 1 ( h IV n. 145): „Nicolaus: Volo etiam ut attendas quomodo deus alibi vocatur unus et idem. Nam qui virtutibus vocabulorum diligentius operam impertiti sunt, adhuc ipsi idem unum praetulerunt, quasi identitas sit minus uno.“ 30 De gen. c.1 (h IV n. 145)
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Der Grund für den Vorzug des „idem“ gegenüber dem „unum“, den Nikolaus angibt, liegt demnach darin, daß das „idem“ geeignet ist, beide Seiten der Gleichung, das „unum“ wie die Vielheit zu begründen. Dazu muß man auf das absolute „idem“ schauen, so der Kueser. Dieses „idem“ garantiert die Identität des einen ersten Grundes mit sich selbst ebenso wie die Identität alles vielen, welches ohne eine je eigene Identität keine Vielheit bilden könnte: „Non enim potest diversum esse diversum nisi per idem absolutum“, heißt es wenige Zeilen später.31 Mit einer weiteren Spitze gegen die Platoniker diskutiert der Text dann das Problem der Partizipation. Nikolaus sagt, sein Gesprächspartner solle sich um die „Platonicorum quamvis subtilis consideratio“, es gebe ein erstes, welches nicht partizipierbar sei, nicht kümmern. Als Begründung fügt er, erneut mit einer gewissen polemischen Spitze an: Wie auch immer der Modus der Partizipation sei („qualicumque modo particeperetur“), es müsse in jedem Falle gelten, daß die Dinge als Dinge nicht sein könnten, wenn sie nicht, insofern sie mit sich identisch seien, am Identischen partizipierten. Es ist also ganz offenkundig, daß Nikolaus vom „idem“ her ein Konzept einführen will, welches das platonische Teilhabeproblem anders als die „Platonici“ lösen will. Der Hauptpunkt der anderen Lösung wird auch schon sichtbar: Indem das „idem“ auch die Vielheit konstituiert, da die jeweiligen Elemente als solche mit sich identisch sein müssen, gewinnt das Viele eine eigene Autonomie gegenüber der Einheit, die aber gerade aus dem ersten Grund des Identischen sich ableitet. Dabei wird das „idem“ auch aus der jetzt eingenommen ontologischen Perspektive als transzendentale und zugleich transzendente (die Begriffe im neuzeitlichen Sinne genommen) Bedingung der Möglichkeit von Sein gedacht; das „idem“ steht nicht an der Spitze einer ontologischen Seinspyramide.32 Die Figur, die Cusanus vorführt, ist also exakt dieselbe, wie wir sie im Ringen um ein Verständnis der Stellung des Menschen gegenüber Gott gesehen haben: die Aufwertung der dunklen Seite in der „figura p“, die doppelte Partizipation, die Bestimmung des Menschen als „viva imago“. Man kann mit einem gewissen Recht behaupten, daß die Struktur der Argumentation bezüglich des „Idem“ und diejenige um die „viva imago Dei“ mindestens analog sind. Hier wie dort wird die Selbständigkeit des dem ersten Grunde Gegenüberstehenden aus der absoluten Beschaffenheit eben dieses Grundes, der etwas von sich selbst seinem Gegenüber mitteilt, begründet. Gott begabt den Menschen mit seiner Schöpferkraft, zwar nicht 31
Ebd. n. 146. Die Idee, von einer transzendentalen Transzendenz her zu denken, findet sich im 20. Jahrhundert bei Heinrich Barth, von dem die Terminologie hier geliehen ist; sie scheint mir aber auch der Sache nach für das cusanische Verständnis zu passen. 32
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absolut, aber im Intellektuellen. Das absolute „idem“ begabt die Verschiedenheiten mit seinem „idem“, zwar nicht absolut, aber so, daß Verschiedenheit ermöglicht ist. In beiden Fällen entzieht sich das Prinzip aufgrund seiner transzendenten Transzendentalität einer jeden Gegenüberstellung. Aus dieser Perspektive ist auch der folgende Übergang folgerichtig. Nikolaus läßt sich selbst feststellen, daß es das Wesen des „idem“ ist, im Sinne eines „idem facere“ tätig zu sein. Da nun das absolute „idem“ sich nicht selbst vervielfältigen kann – es wäre dann ja nicht mehr absolut – erfolgt dieses eingeschränkt. Die gerade aufgewiesene Strukturparallelität zwischen „idem“ und dem Gott, der sein lebendiges Bild schafft, ist offenkundig. Darüber hinaus aber ist festzuhalten, daß Nikolaus den Modus dieser Identitätsbildung im weiteren eine „assimilatio“ nennt. Diese „assimilatio“ erinnert von Seiten der Geschöpfe an jenen Prozess der lebendigen Spiegel, sich selbst an Gott anzugleichen. Es ist daher nur folgerichtig, wenn Nikolaus diesen gesamten ersten Gedankengang mit den Worten schließt: „Hinc sancti creaturam dei dixerunt similitudinem ac imaginem.“33
Das neue Partizipationsmodell will also ausdrücklich im klassischen Modus der Ontologie die epistemologische Selbständigkeit des Menschen als des lebendigen Bildes Gottes klären. Die Einführung des „idem“ an der Stelle des „unum“ hat zum Ziel, was in den vorigen Schriften von Seiten des Menschen her erklärt war, nun von Seiten des Ursprungs und seiner Genesis nach zu betrachten. Dabei erlaubt es das „idem“, so Nikolaus, anders als das „unum“, die Absolutheit des ersten Grundes zu wahren und es zugleich und als solches als konstitutives Moment der Vielheit anzunehmen. Um die Tragweite dieser Überlegungen zu verstehen, muß noch ein letzter Gedanke angeführt werden. Führt man sich ein weiteres Mal den Gedanken vor Augen, daß das „diversum“ nur ein „diversum“ durch das „idem“ sein kann und formuliert den Gedanken so, daß das absolute „idem“ zugleich das Begrenzende jedes einzelnen ist, also eigentlich das einzelne als einzelnes bestimmt und definiert, dann wird einem die Nähe zum späteren „non aliud“ sofort klar. Nikolaus fehlt hier sprachlich noch das „non aliud“. Aber der Gedanke: „Non enim potest diversum esse diversum nisi per idem absolutum“ ist offenbar bruchlos überführbar in: „Diversum est non aliud quam diversum“. Diese Überlegung wird nicht angeführt, um anzudeuten, daß Nikolaus von De genesi bis De non aliud eigentlich nichts Neues mehr entwickelt, im Gegenteil: ihm fehlt ja gerade noch jenes „non aliud“ und damit auch die gesamte Überlegung zur Definition und zur Gleichheit, die aus der 33
Ibid. n. 149.
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Anthropologie noch ihren Weg in die Partizipationslehre finden muß. Vielmehr soll nur deutlich werden, welches das Zwischenglied für die weitere Entwicklung ist: Zwischen dem „idem“ und dem „non aliud“ steht der weitere Ausbau der „aequalitas“-Spekulation. Es ist gerade einer der reizvollen Punkte der cusanischen Überlegungen zum „non aliud“, daß dieses sowohl das „idem“ wie das „aequale“ meinen kann. Da ich diese Entwicklung an anderer Stelle ausführlich nachgezeichnet habe,34 sei hier nur darauf verwiesen, daß die „aequalitas“ mit einer gewissen Folgerichtigkeit den weiteren Ausbau der „idem“-Spekulation fortführen wird, im Ausgange von jenem Gedanken der „assimiliatio“ als Tätigkeit der „viva similitudo“. Wenn Nikolaus dann in De non aliud auf die Idee der Partizipation zurückgreift, dann geschieht dies in deutlichem Anschluss an De genesi, und man versteht seinen dortigen Partizipationsbegriff nur adäquat, wenn man die Entwicklung der Opuscula vor Augen hat. Das sei an wenigen und kurzen Hinweisen zum Schluß verdeutlicht. Recht im Anfange von De non aliud (n. 13) findet sich die Wendung, daß Cusanus das „non aliud“ dem „unum“ vorziehe; diese Bemerkung ist wie im Falle von De genesi mit einer Kritik an den Platonikern wie Proklos verbunden, wiewohl die Schrift gerade ihm ausdrücklich viel verdankt. Das „non aliud“ wird also in genau derselben Weise und Absetzung wie das „idem“ eingeführt. In den Propositiones (n. 123) wird der Gedanke der Partizipation in einer Weise beschrieben, die derjenigen aus De genesi entspricht. Denn Cusanus verwendet die proklische Triade von imparticipabile, participabile, participans in dem Sinne, daß das „non aliud“ für alle drei Bezeichnungen in Frage kommt, indem es die transzendente wie transzendentale Voraussetzung aller drei ist. Zunächst ist es als der alles konstituierende göttliche Name in seinem Ansich ein imparticipabile. Zugleich aber ist das non aliud dasjenige, was allem einzelnen sein Sosein garantiert, wie Cusanus am Beispiel von „Der Himmel ist nichts anderes als der Himmel“ deutlich macht. Dadurch erweist sich das „non aliud“ aber drittens als die eigentliche Substanz einer Sache.35
34
H. Schwaetzer, Aequalitas. Erkenntnistheoretische und soziale Implikationen eines christologischen Begriffs bei Nikolaus von Kues. Eine Studie zu seiner Schrift De aequalitate, Hildesheim/Zürich/New York 2. Aufl. 2004. 35 Vgl. dazu C. D’Amico, „Partcipación y alteridad“, in: J. M. Machetta (Hg.), Nicolás de Cusa: Acerca de lo no-otro o de la definición que todo define. Nuevo texto crítico original (edición bilingüe), Buenes Aires 2008, 286–295.
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6. Resümee Damit haben die Überlegungen versucht zu zeigen, wie eine Entwicklungslinie im Partizipationsdenken des Nikolaus von Kues dieses in Rücksicht auf den originären Ansatz seines Denkens umformt. In Übereinstimmung von sprachstatistischem und inhaltlichem Befund kann diese Linie in der Entwicklung von De coniecturis zu De genesi aufgezeigt werden. De coniecturis operiert intensiv mit dem Partizipationsmodell; es sind aber zwei Probleme inhärent, die Nikolaus in der Folge auch beobachtet. Zum einen denkt er Partizipation in den beiden Bewegungsrichtungen von Licht und Finsternis, und zum anderen hat er aus diesem Grunde einen gegenüber der übrigen Schöpfung am Schöpfer orientierten Begriff vom Menschen. In den kleinen Schriften führen diese beiden Punkte zur klaren Ausformulierung des Gedankens der doppelten Partizipation und zur Bestimmung des Menschen als eines lebendigen Bildes Gottes. In De genesi reflektiert Nikolaus denselben Prozeß vom Ausgangspunkt des Ursprungs und des Werdens aus dem Ursprung her. In bewußter und gewollter Absetzung von den „Platonici“ wird durch Rekurs auf das „idem“ ein Modell entworfen, welches bei Absolutheit des „idem“ doch eine Autonomie des Vielen, insonderheit der „imago et similitudo“, gegenüber dem Schöpfer erlaubt. Die Dynamisierung des Verhältnisses von Schöpfer und Geschöpf mit Blick auf den Menschen hat zu ihrem Verhältnis- und Grenzbegriff denjenigen der Gleichheit, da dieser geeignet ist, die absolute Identität absolut zu halten. Ein „idem ac“ bezeichnet immer zwei Dinge oder Wesen, die qua Differenz nur „aequale“ zueinander sein können – sonst wären sie eins. Diese Argumentation mit dem „principium identitatis indiscernibilium“ erlaubt die Perspektive auf das „non aliud“ in der Spätphilosophie des Nikolaus von Kues. Diese Umformung der Partizipationslehre erklärt, weshalb sie nach den Opuscula innerhalb des cusanischen Denkens in den Hintergrund tritt.
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Einheit und Vielheit als Problem des Partizipationsgedankens
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Einheit und Vielheit – eine Herausforderung für die transzendentale Dialektik Jean Greisch Franz Rosenzweigs Stern der Erlösung1 beginnt mit einer Betrachtung „Über die Möglichkeit das All zu erkennen“. Der Stern entstand bekanntlich in den zwei letzten Kriegsjahren des Ersten Weltkriegs. Hinter dem Vorwurf, daß das abendländische Denken „von Ionien bis Jena“ (GS 2, 13), d.h. von Parmenides bis zu Hegel, ein Totalitätsdenken gewesen ist, für das Gott, Mensch und Welt unzertrennliche Größen sind, die nicht unabhängig voneinander gedacht werden können, steht die existentielle Grunderfahrung des Soldaten Franz. Er weiß, daß sein Leben bereits am nächsten Tag zu Ende sein kann, ohne daß „Gott“ und die „Welt“ in irgendeiner Weise von diesem „privaten“ Ereignis betroffen sind: „Sterben kann nur der Einzelne, und alles Sterbliche ist einsam“ (GS 2, 4). In der Terminologie des soeben erschienenen Buches von Jean-Luc Marion: Certitudes négatives2, könnte man sagen, daß es sich hierbei um eine „negative Gewißheit“ besonderer Art handelt. In Anlehnung an die Betrachtung Rosenzweigs möchte ich mich hier auf das Wagnis einer Betrachtung „Über die Möglichkeit, Einheit und Vielheit zusammen zu denken“ einlassen. In Anspielung an Rosenzweigs Formel „von Ionien bis Jena“ führt sie mich in einem ersten Schritt „von Ephesus bis Tübingen“.
1
F. Rosenzweig, Der Stern der Erlösung, in: Gesammelte Schriften, Bd. 2, Den Haag 1976 (= GS 2). 2 J.- L. Marion, Certitudes négatives, Paris 2010. Der Einleitungsparagraph des Buches macht deutlich, daß es sich hierbei um einen originellen Versuch handelt, Kants Begriff der „negativen Größe“ im Rahmen einer Phänomenologie, deren Schlüsselwort „Gegebenheit“ („donation“) lautet, fruchtbar zu machen.
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1. „Einheit und Vielheit“: von Ephesus bis Tübingen (1) Ephesus: Von Heraklit, dem „Dunklen aus Ephesus“, ist uns ein Spruch überliefert, der eine gewaltige, bis in die Zeit des deutschen Idealismus hineinreichende Nachgeschichte hat: „ouk emou, alla tou logou akousantas homologein sophon estin hen panta einai.“ „Habt ihr nicht mich, sondern den Sinn vernommen, so ist es weise im gleichen Sinn zu sagen: Eins ist alles“ (DK 22 B 50, übers. von Bruno Snell). Wie immer man dies „Eins“ und „Alles“ auch verstehen mag, ein Punkt scheint auf jeden Fall klar zu sein: Auch wenn Heraklit von den „Philosophen“ verlangt, daß sie „vieler Dinge kundig“ (DK 22 B 35) sein müssen, warnt er sie doch unermüdlich vor einer blinden, geist- oder vernunftlosen „Polymathie“: „Vielwisserei lehrt keine Vernunft“ (DK 22 B 40). Insofern kann man sich fragen, ob die heraklitische These: „das Weise ist das Eine“ nicht das eschatologische Fernziel jeder authentischen Philosophie, und wohl auch jeder Theologie ist. Ihre Aufgabe besteht darin, „den einsichtsvollen Willen zu verstehen, der alles durch alles (panta dia pantôn) hindurch steuert“ (DK 22 B 41). Natürlich gibt es viele mögliche Weisen, sich diesem Ziel anzunähern. Zwei Wege scheinen mir besonders wichtig für unsere Fragestellung zu sein: a) Wenn wir uns die Philosophiegeschichte vor Augen führen, ist der Weg, den die Neuplatoniker beschritten haben, nämlich der Aufstieg der Seele zum Ureinen, besonders interessant für unsere Überlegungen, weil nirgendwo so intensiv mit der Problematik von Einheit und Vielheit gerungen wurde wie bei diesen Denkern. Zwischen der negativen Unbestimmtheit der Materie, die Plotin als das Andere schlechthin bezeichnet3, und der positiven Unbestimmtheit des obersten Prinzips entfalten sich verschiedene Stufen der Einheit und Vielheit, die wir in ihrer Eigentümlichkeit erfassen müssen, die wir (d.h. die Seele) aber auch durchschreiten müssen, um zum Ureinen aufzusteigen. Die Seele, so könnte man sagen, wird hier zum Umschlagplatz einer „Metaphysik der Umkehr“ (métaphysique de la conversion), deren Nachwirkungen insbesondere bei Augustinus, dem wohl größten „Metaphysiker der Umkehr“ im christlichen Bereich, besonders deutlich spürbar sind, gerade weil er die Bedrohung des „defluxus in multum“4 gleichsam am eigenen Leib verspürt hat. Besonders faszinierend an der neuplatonischen Henologie, in die mich Jean Trouillard
3
Vgl. S. Breton, Matière et dispersion, Grenoble 2003. „In multa defluximus“ (Confessiones X, 29, 40; PL 32, S.796). Existentiell interpretiert von Heidegger in seiner Phänomenologie des religiösen Lebens, Gesamtausgabe Bd. 60, Frankfurt am Main 1995, 205ff. 4
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während meiner Pariser Studienjahre „eingeweiht“ hatte5, ist, daß das Unsagbare hier in doppelter Gestalt in Erscheinung tritt: Dem Unsagbaren der Materie, die der minimalen Bestimmtheit mangelt, derer die Sprache bedarf, um eine Aussage über irgendetwas machen zu können, steht die Unsagbarkeit des Ureinen gegenüber, die die Fassungskraft der menschlichen, stets zusammengesetzten, diskursiven Sprache übersteigt. b) Der zweite, nicht so unmittelbar ins Auge springende Weg führt über Kants transzendentale Dialektik. Der Frageraum, den die kritische Frage: „Was kann ich wissen?“ absteckt, endigt mit einer Lehre vom „transzendentalen Schein“, in welcher der kritische Denker sich mit der „natürliche[n] und unvermeidliche[n] Dialektik der reinen Vernunft“ befaßt, „die der menschlichen Vernunft unhintertreiblich anhängt, und selbst, nachdem wir ihr Blendwerk aufgedeckt haben, dennoch nicht aufhören wird, ihr vorzugaukeln, und sie unablässig in augenblickliche Verirrungen zu stoßen, die jederzeit gehoben zu werden bedürfen“ (KrV B 354f.). Was hier zur Frage steht, ist die Einheit des Wissens selbst, das mit den Sinnen anhebt, von diesen zum Verstande übergeht, und mit der Vernunft endigt, „über welche nichts Höheres in uns angetroffen wird, den Stoff der Anschauung zu bearbeiten und unter die höchste Einheit des Denkens zu bringen“ (KrV B 355). In dieser Fragestellung spielt die Unterscheidung zwischen dem Verstand als „Vermögen der Regeln“ und der Vernunft als „Vermögen der Prinzipien“ eine fundamentale Rolle. Während der Verstand ein „Vermögen der Einheit der Erscheinungen vermittelst der Regeln“ ist, ist die Vernunft als „oberste Erkenntniskraft“ „das Vermögen der Einheit der Verstandesregeln unter Prinzipien“. Es handelt sich hierbei, wie Kant unterstreicht, um eine „Vernunfteinheit“, die „von ganz anderer Art ist, als sie von dem Verstand geleistet werden kann“ (KrV B 359). Worin diese „ganz andere Art der Einheit“ besteht, werden wir in der Folge näher zu erörtern haben. Kehren wir aber zunächst nach Ephesus zurück. Zur Einstimmung in unsere Frage ist ein zweiter Spruch Heraklits erwähnenswert, den uns Klemens von Alexandrien6 überliefert hat: „hen, to sophon, mounon legesthai ouk ethelei kai ethelei Zênos onoma“ (DK 22 B 32). „Eins, das einzige Weise, läßt sich nicht und läßt sich doch mit dem Namen des Zeus (des ‚Lebens‘) benennen.“ Hier ist nicht der Ort, uns näher mit den Übersetzungs- und Interpretationsproblemen zu befassen, die dieses Fragment aufwirft. Wichtig ist einzig und allein die Tatsache, daß Heraklit den Eigennamen des Zeus verfremdet, indem er auf dessen Bedeutung anspielt: zên ist das Infinitivum praesens von zaô: „leben“. Indem er die Aufmerksamkeit auf den Namen Zeus lenkt, wirft Heraklit das Pro5 Siehe insbesondere J. Trouillard, La mystagogie de Proclos, Paris 1982 und ders., L’Un et l’âme selon Proclos, Paris 1972. 6 Stromata V, 115, 1.
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blem auf, „welcher Name dem Einen zugelegt werden muß, insofern das Eine der Name der Weisheit ist.“7 „Das Heraklitische Eine ist“, Marcel Conche zufolge, „nicht das rein Eine, sondern das einigende Eine“. Conche versteht es als ein „kosmisches Eines“, das die Gegensätze miteinander vereinigt – „jenseits von Gut und Böse“, wie er hinzufügt. Dieses „lebendige und konkrete Eine“ will nicht und will nur mit dem Namen des „Zeus“ bezeichnet werden, d.h. mit einem Gottesnamen, der selbst mit dem „Prinzip des All-Lebendigen“ identisch ist, das „alles Lebendige innerlich durchdringt“. Es will nicht nur mit dem Namen des Zeus benannt werden, weil es als immanent Eines auch den Tod enthält. Es will nur mit dem Namen „Zeus“ benannt werden, weil das Leben pyr aeizôon, ewig brennendes und unauslöschliches Feuer ist. Leben und Tod sind Heraklit zufolge nicht ebenbürtig: „Die Welt ist durch und durch lebendig, denn der Tod ersetzt nur ein Lebendiges durch ein anderes, so daß er keinen Zugriff auf die Welt als Ganzes, als Ort des immerwährenden Lebens hat.“8 Wie andere Fragmente bestätigt auch dieses, daß die vorsokratischen Denker eine einschneidende kulturelle Schwelle überschreiten, „in welcher der Mensch neue Worte erfindet, um die ‚Sache selbst‘ zu bezeichnen. Es sind die Worte eines strengen und nüchternen Registers, die es erlauben, näher an die Sache selbst heranzukommen, die ihrerseits einheitlicher ist.“9 Zu diesem strengeren und nüchterneren Begriffsvokabular gehört auch das Verbum „Sein“, das feierlich in der Vergangenheit, der Gegenwart und der Zukunft gebraucht wird. Das Eine ist das, was immer war, immer ist und immer sein wird. Die hier entstehende neue Begriffssprache ist die einer „Heno-logie“, einer „Sopho-logie“ und einer „Onto-logie“, die von drei verschiedenen Seiten herkommend, sich der „Sache selbst“ anzunähern versucht. Die kritische Distanz gegenüber dem überlieferten System der Götternamen stuft diese auf den Rang indiziärer Zeichen für etwas sehr schwer zu Findendes, das nach der Prägung eines neuen Sprachregisters ruft, herab. „Ausschlaggebend ist nicht, ob man dieses Register henologisch, sophologisch oder ontologisch nennt! Wesentlich ist, daß es erfunden werden mußte.“10 Heraklit ist eine Art von Proto-Phänomenologe, dem es wesentlich um die Erfassung der Sache selbst, ohne sprachliche Schnörkel und Ausschweife, geht: „Wenn es sich darum handelt, den Sinn der größten Dinge in Worte zu fassen, kann man die Worte nicht rein zufällig,
7
M. Conche, Héraclite, Fragments, Paris 1986, 243 (= Héraclite, Fragments). Conche, Héraclite, Fragments, 244. 9 C. Ramnoux, Héraclite ou l’homme entre les choses et les mots, Paris 1958, 23 (=Héraclite). 10 Ramnoux, Héraclite, 304f. 8
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ähnlich wie Würfel ausstreuen. Sie müssen sorgfältig gefügt werden, in Fügungen, die der Natur der Dinge entsprechen.“11 Das Neutrum: to sophon („das Weise“) oder hen (das „Eine“) sind typische Wortprägungen eines neuen Begriffsvokabulars, das die traditionelle Theologie der Gottesnamen zugunsten einer neuen Hierarchie dreier Weisen des Redens: „Verbergen“, „Zeichengeben“, und „Aussagen“ überwindet. Die einfache Alternative: Verwerfung oder Übernahme der alten Redeweisen, wird hier zugunsten eines Konvenienzarguments überwunden: „Die Namen der gängigen Tradition werden nicht absichtlich ausgemerzt. Man verwendet sie jedoch mit einem Hintergedanken. Man faßt sie als Zeichen auf, die der zur Sprache zu bringenden Sache nicht vollständig angemessen sind, und die sich ihrem Zugriff entzieht.“12 Bekanntlich drückt Heidegger in einigen seiner Schriften das Verhältnis zwischen dem neuen post-metaphysischem Verständnis des Seins als „Ereignis“ gegenüber dem traditionellen Verständnis in der Schreibweise: Sein aus. In ähnlicher Weise könnte man die dialektische Gleichung in DK 22 B 32 auf folgende Formel bringen: hen to sophon („Das Eine Weise“) = Zeus. Diese Gleichung setzt voraus, daß „hen to sophon“ ein oberstes Prinzip bezeichnet, dessen Auszeichnung gerade in seiner radikalen Abgetrenntheit (bzw. in der späteren Begrifflichkeit: in seiner „Absolutheit“) besteht. Diese „Absolutheit“ wird in DK B 108 ausdrücklich erwähnt: sophon esti pantôn kechôrismenon („Das Weise ist von allem geschieden“). Während die deutsche Schule der Heraklit-Interpreten dazu neigt, das hen to sophon als ein Quasi-Prinzip zu verstehen, betonen die angelsächsischen Interpreten eher die Neuheit der geistigen Einstellung des Denkers. In beiden Fällen hat die in B 108 erwähnte Trennung, aufgrund derer das Eine oder das Weise „einzig und allein abgesondert werden muss“13, eine existentielle Bedeutung für den Denker, der sich seiner radikalen Einsamkeit bewußt geworden ist. (2) Tübingen: Am 12. Februar 1791 schreibt der junge Friedrich Hölderlin eine Widmung ins Stammbuch seines Freundes Hegel. Es sind zwei Verse aus Goethes Iphigenie, aus einem Gespräch zwischen Pylades und Orest: „Lust und Liebe sind die Fittige / zu großen Taten.“ Dieses Freundschaftswort ist zugleich das geheime Losungswort einer neuen Generation von Intellektuellen, die ihr eigenes Fazit aus dem Pantheismusstreit gezogen haben. So jedenfalls kann man den berühmten Vermerk verstehen, der entweder von Hölderlin selbst oder von Hegel stammt: „Symbolum: hen kai pan.“ 11
Ramnoux, Héraclite, 369. Ramnoux, Héraclite, 245. 13 Ramnoux, Héraclite, 372. 12
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Die geistige Landschaft des Anfangs des 19.Jahrhunderts, die von Hölderlin, Schelling und Hegel, den wohl berühmtesten Tübinger Stiftlern, entscheidend geprägt wurde, ist Heidegger zufolge die Zeit der Vollendung der Metaphysik in der Gestalt der „Onto-theo-ego-logie“14. Der Anspruch, „das All zu erkennen“ und in seiner Einheit zu erfassen, erhält hier seinen kanonischen Ausdruck in der Idee des Systems. Es ist jenes System, das Hegel in seiner „Wissenschaft der Logik“ entfaltet, die zugleich eine „Ontologie“, eine „Ousiologie“ und eine „Theologie“ ist. Es ist kein Zufall, daß Heideggers berühmter, am 24. Februar 1975 in Todtnauberg gehaltener Vortrag über die „onto-theo-logische Verfassung der Metaphysik“ aus einer Seminarübung über Hegels Wissenschaft der Logik hervorgegangen ist, eine Tatsache, die viele Interpreten dieses Vortrags aus den Augen verloren haben. Für Heidegger besteht kein Zweifel daran, daß auch Schelling „metaphysisch, d.h. onto-theologisch, aber in der höchsten Vollendung“15 gedacht hat. In der Gestalt, die ihr Schelling verliehen hat, verweist die „Onto-theo-logie“, als „mögliche, aber immer nur rückblickende Kennzeichnung der Grundfrage der Philosophie“, anders gesagt, das „ständige Widerspiel zwischen der theologischen Frage nach dem Grund des Seienden im Ganzen und der ontologischen Frage nach dem Wesenden des Seienden als solchen“16, bereits über sich hinaus auf Nietzsches „Willen zur Macht“, d.h. auf diejenige Gestalt der Onto-theo-logie, in der die Vollendung der Metaphysik in ihre Verendung umschlägt. Wie würde demgegenüber wohl der Leibspruch der heutigen Stiftler lauten? Etwa: „Pluralität und Fragment“ bzw. „Pluralität und Differenz“? Immer wieder machte sich im Verlauf der Philosophiegeschichte die Warnung vor der „Polymathie“ hörbar. Vielleicht ist sie aber zu keiner Zeit nötiger gewesen als heute, wo das gewaltige Spinnennetz des „Web“ uns Zugang zu allem möglichem Wissensstoff verschafft, über dessen Qualität wir uns im Unklaren sind und von dem wir nicht einmal wissen, was wir damit anfangen können. Damit befinden wir uns in einer noch mißlicheren Lage als diejenige, die Hegel in seiner Phänomenologie des Geistes unter dem Titel des „sich entfremdeten Geistes“ beschrieben hat: Hier hat „derjenige Geist, dessen Selbst das absolut diskrete ist, [...] seinen Inhalt sich als eine ebenso harte Wirklichkeit gegenüber, und die Welt hat hier die Bestimmung, ein Äußerliches, das Negative des Selbstbewußtseins zu sein. Aber diese Welt ist geistiges Wesen, sie ist an sich die Durchdringung des 14
M. Heidegger, Hegels Phänomenologie des Geistes, in: Gesamtausgabe, Bd. 32, Frankfurt am Main 1980, 183. 15 M. Heidegger, Schellings Abhandlung über das Wesen der menschlichen Freiheit (1809), Tübingen 1971, 212. 16 Ebd. 79. Auf derselben Seite findet sich das Schema, das Heideggers Verständnis der Onto-theo-logie zusammenfasst.
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Seins und der Individualität; dies ihr Dasein ist das Werk des Selbstbewußtseins: aber ebenso eine unmittelbar vorhandene, ihm fremde Wirklichkeit, welche eigentümliches Sein hat und worin es sich nicht erkennt.“17 Achtzig Jahre nach dem Erscheinen dieser Kritik an der Selbstentfremdung des Geistes finden wir eine weitaus schärfere Kritik bei Friedrich Nietzsche, jenem Denker, der als Vorläufer und Schutzpatron aller zeitgenössischen Denker angerufen wird, die dem christlichen „MonotonoTheismus“18 und damit verbunden, dem „metaphysischen“ Begriff der Einheit im Namen des plurale tantum der „Willen zur Macht“19 ein unüberwindliches Mißtrauen entgegenbringen. Daß der Zeitgeist sich gerne mit fremden Federn schmückt, sei es auch nur, um kurzweilige Pfauenräder vor laufenden Fernsehkameras zu schlagen, hat Nietzsche mit einer seltenen Klarsichtigkeit vorausgesehen. Besonders eindrücklich ist hier der „Vom Lande der Bildung“ betitelte Passus im zweiten Teil von Also sprach Zarathustra.20 Hier, wo der Denker „weit hinein“ in die Zukunft flieht – möglicherweise eine Zukunft, die inzwischen bereits unsere Gegenwart geworden ist –, überfällt ihn „ein Grauen“ angesichts des „buntgesprenkelten“ Anblicks des Bildungsbürgertums seiner Zeit: „Ich lachte und lachte, während der Fuß mir noch zitterte und das Herz dazu: ‚hier ist ja die Heimat aller Farbentöpfe!‘ sagte ich. Mit fünfzig Klexen bemalt an Gesicht und Gliedern: so saßet ihr da zu meinem Staunen, ihr Gegenwärtigen! Und mit fünfzig Spiegeln um euch, die eurem Farbenspiele schmeichelten und nachredeten! Wahrlich, ihr könntet gar keine bessere Maske tragen, ihr Gegenwärtigen, als euer eignes Gesicht ist! Wer könnte euch erkennen! Vollgeschrieben mit den Zeichen der Vergangenheit, und auch diese Zeichen überpinselt mit neuen Zeichen: also habt ihr euch gut Versteckt vor allen Zeichendeutern! Und wenn man auch Nierenprüfer ist – wer glaubt wohl noch, daß ihr Nieren habt! Aus Farben scheint ihr gebacken und aus geleimten Zetteln“ (KSA 4, 153).
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G.W.F. Hegel, Phänomenologie des Geistes, in: Theorie-Werkausgabe, Bd.3, Frankfurt am Main 1970, 359f. 18 Fr. Nietzsche, Der Antichrist § 19, in: Kritische Studienausgabe, Bd. 6, München 1980 (= KSA 6), 185: „Zwei Jahrtausende beinahe und nicht ein einziger neuer Gott! Sondern immer noch und wie zu Recht bestehend, wie ein ultimatum und maximum der gottbildenden Kraft, des creator spiritus im Menschen, dieser erbarmungswürdige Gott des christlichen Monotono-Theismus! Dies hybride Verfalls-Gebilde aus Null, Begriff und Widerspruch, in dem alle Décadence-Instinkte, alle Feigheiten und Müdigkeiten der Seele ihre Sanktion haben!“ 19 G. Abel, Nietzsche: Die Dynamik der Willen zur Macht und die ewige Wiederkehr, Berlin/New York 1988. 20 Fr. Nietzsche, Also sprach Zarathustra, in: Kritische Studienausgabe, Bd. 4, München 1980 (= KSA 4).
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Könnte es nicht sein, daß Nietzsche hier nicht nur seinen Zeitgenossen einen Spiegel vorhält, sondern auch uns Heutigen, die wir vielleicht noch viel „buntgesprenkelter“ sind? „Alle Zeiten und Völker blicken bunt aus euren Schleiern; alle Sitten und Glauben reden bunt aus euren Gebärden. Wer von euch Schleier und überwürfe und Farben und Gebärden abzöge: gerade genug würde er übrig behalten, um die Vögel damit zu erschrecken“ (KSA 4, 154).
Mehr als einmal traktierte Nietzsche in seinen Schriften die „Metaphysiker“, die in seinen Augen eigentlich nur einer einzigen Gattung, nämlich der Gattung der „Platoniker“ angehören, als „verflogene Vögel“. Hier aber, wo er seinen „unglaubwürdigen“ Zeitgenossen die Leviten liest, verwandelt er sich selbst in einen Vogel der weit in die Zukunft vorausfliegt. Damit bricht auch die Frage des Glaubens und der Glaubwürdigkeit mit neuer Wucht in ihm auf: „Alle Zeiten schwätzen wider einander in euren Geistern; und aller Zeiten Träume und Geschwätz waren wirklicher noch als euer Wachsein ist! Unfruchtbare seid ihr: darum fehlt es euch an Glaube. Aber wer schaffen mußte, der hatte auch immer seine WahrTräume und Stern-Zeichen – und glaubte an Glauben!“ (KSA 4, 154).
Weil der Denker in seiner Gegenwart keine Heimstatt finden kann, bleibt ihm nur die Aussicht eines erst noch zu entdeckenden zukünftigen Landes, dessen nähere Beschaffenheit uns hier nicht zu beschäftigen braucht: „So liebe ich allein noch meiner Kinder Land, das unentdeckte, im fernsten Meere: nach ihm heiße ich meine Segel Suchen und suchen. An meinen Kindern will ich es gut machen, daß ich meiner Vater Kind bin: und an aller Zukunft – diese Gegenwart! Also sprach Zarathustra“ (KSA 4, 155).
2. Einheit und Vielheit und die Grundpostulate der Metaphysik Wer sich heute, im sogenannten „post-metaphysischen Zeitalter“ noch mit dem Thema „Einheit und Vielheit als metaphysisches Problem“ beschäftigt, mag dabei von der wehmütigen Stimmung ergriffen werden, die Stefan Georges Einleitungsgedicht „Komm in den totgesagten Park“ des 1895 entstandenen Zyklus „Das Jahr der Seele“ evoziert: Komm in den totgesagten park und schau: Der schimmer ferner lächelnder gestade Der reinen wolken unverhofftes blau Erhellt die weiher und die bunten pfade. Dort nimm das tiefe gelb das weiche grau Von birken und von buchs – der wind ist lau.
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Die späten rosen welkten noch nicht ganz. Erlese küsse sie und flicht den kranz. Vergiss auch diese letzten astern nicht Den purpur um die ranken wilder reben Und auch was übrig blieb von grünem leben Verwinde leicht im herbstlichen gesicht.
Für viele unserer Zeitgenossen ähnelt die vormalige Metaphysik mehr oder weniger dem „totgesagten Park“ des Dichters, es sei denn, daß die in ihr einen verlassenen Friedhof sehen, indem nur Leichenfledderer noch etwas zu suchen haben.21 Die besten von ihnen erkennen sich in den Schlußversen wieder: Was vom einstmals „grünem Leben“ der vormaligen Metaphysik noch übrig bleibt, versuchen sie, „leicht im herbstlichen gesicht“ zu „verwinden“, und eben dadurch die Möglichkeit eines „andersanfänglichen Denkens“ zu begründen. Besonders gut passen diese Verse zur Art und Weise, wie Heidegger, nach der Kehre im Seinsdenken der Jahre 1936–38, die Aufgabe einer „Verwindung“22 der Metaphysik in der Gestalt der „Onto-theo-logie“ in Angriff genommen hat. Auffällig an Heideggers Argumentation ist, wie wenig Beachtung er der neuplatonischen, „henologischen“ Komponente der Metaphysik schenkt. Wie wäre es, wenn man Heideggers Definition der Metaphysik als „Onto-theo-logie“ in die Frage der „henotheologischen“ Verfassung der Metaphysik verwandeln würde? Könnte es nicht sein, daß damit auch Heideggers „theologische“ Reizfrage „Wie kommt der Gott in die Philosophie, nicht nur in die neuzeitliche, sondern in die Philosophie als solche?“23 nicht nur anders formuliert werden müßte, sondern auch die philosophiegeschichtlich überaus fragwürdige Antwort, daß „Causa sui“ „der sachgerechte Name für den Gott in der Philosophie“24 ist, unhaltbar wird? Seit meinen Pariser Lehrjahren hat diese Frage mich immer wieder umgetrieben. Zwei Buchtitel, die damals einen nachhaltigen Einfluss auf mich ausgeübt haben, bezeichnen die extremen Pole eines Spannungsfeldes, das mich auch im Rahmen dieses Aufsatzes noch beschäftigt. Einmal Jacques 21
Für eine scharfe Abrechnung mit der gängigen Rede vom „Tod der Metaphysik“ vgl. neuerdings: F. Nef, Qu’est-ce que la métaphysique, Paris 2004, 19–139. 22 M. Heidegger, „Die Überwindung der Metaphysik“, in: ders., Vorträge und Aufsätze I, Pfullingen 3. Aufl. 1967, 63–91, hier: 70f.: „Die Überwindung der Metaphysik wird seinsgeschichtlich gedacht. Sie ist das Vorzeichen der anfänglichen Verwindung der Vergessenheit des Seins. […] Die Überwindung bleibt nur insofern denkwürdig, als an die Verwindung gedacht wird. Dieses inständige Denken denkt zugleich noch an die Überwindung.“ 23 M. Heidegger, „Die onto-theo-logische Verfassung der Metaphysik“, in: ders., Identität und Differenz, Pfullingen 1957, 35–73, hier: 52. 24 Ebd. 70.
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Derridas frühe Aufsatzsammlung La dissémination25, in der er den in Auseinandersetzung mit Husserls erster Logischen Untersuchung eingeführten Begriff der „différance“26 zu einer grundsätzlichen Kritik aller „métaphysique de la présence“ ausweitet. Heideggers Kritik an der Onto-theo-logie wird hier noch durch den Vorwurf des „Logozentrismus“ und des „Heliotropismus“ verschärft. Jede Metaphysik kreist offen oder heimlich um die unsichtbare Sonne eines einigenden Prinzips, und sie beruft sich auf die einigende und versammelnde Kraft des Logos. In seiner ein Jahr vor Derridas Dissémination erschienenen großen Abhandlung Du Principe, die mit der Widmung „Parentibus ignotis / Ignoto Deo“ anhebt, stellt Stanislas Breton, mein verehrter Lehrer und Doktorvater, eine grundsätzliche Besinnung auf die beispiellose Krise, die der Begriff des „Prinzips“ in unserer Zeit durchlitten hat, an. In Anbetracht der Tatsache, daß wir immer noch in der Zeit der „Prinzipienlosigkeit“ leben, lohnt es sich gewiß, dieses Buch nochmals zu überlesen und vielleicht sogar zu übersetzen. Unter „Prinzip“ versteht Breton, im Rückgriff auf eine alte Tradition, „das, woraus etwas anderes in irgendeiner Weise hervorgeht“. Anstatt diesen Begriff zu substantialisieren, bemüht er sich, ihn funktional und dynamisch als Beziehung, Bewegung und Energie zu verstehen. Während die Begriffe des Ursprungs und des Beginns eher auf die Morgenröte aller Dinge verweisen, weist der Begriff des Prinzips über die verschiedenen Projektionen des Totalitätsdenkens hinaus. Insofern ist er ein Funktor einer radikalen Transzendenz, die sich im Bereich der Metaphysik und der Theologie, sowohl in der Gestalt des „Nichts“ des „Alls“ und der „Eminenz“ widerspiegeln kann. Man könnte insofern mit Breton und Ricoeur von einer „fonction méta“ („Meta-funktor“) sprechen, ein Schlüsselbegriff, mit dem ich mich im Rahmen dieses Aufsatzes nicht näher befassen kann.27 Besonders interessant ist die Analytik der Grundpostulate der Metaphysik, die Breton im sechsten Kapitel seines Buches entfaltet. Den Begriff des Prinzips, ebenso wie den der Einheit, kann man nicht nur indikativisch-hypostatisch, sondern auch postulatorisch als eine Grundforderung des metaphysischen Denkens verstehen. Diesbezüglich unterscheidet Breton drei Grundpostulate: das („henologische“) Postulat der Einheit, das („ontogenetische“) Postulat der Genese, und das („epistrophische“) Postulat der Rückkehr.28 25
J. Derrida, La dissémination, Paris 1972. J. Derrida, La voix et le phénomène, Paris 1967, 76ff. 27 Vgl. hierzu meine Ausführungen in J. Greisch, Le cogito herméneutique. L’herméneutique philosophique et l’héritage cartésien, Paris 2000, 173–247. 28 S. Breton, Du Principe. L’organisation du pensable, Paris 1972, 193 (= Du Principe). 26
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a) Das erste Postulat stipuliert, daß „jede Vielheit, welche sie auch sein mag, nur in Bezug auf das Eine sein und gedacht werden kann.“29 Dieses prinzipielle Verlangen nach einer minimalen Einheit betrifft sowohl den Denkenden als das Gedachte. Hier erscheint das „Prinzip“ in erster Linie ein Ordnungsprinzip. b) Das zweite Postulat lautet: „Für jedes x gilt, daß wenn x existiert, x nur existiert und gedacht werden kann in Bezug auf einen Ursprung, dessen Resultat es ist.“30 Bei näherer Betrachtung zeigt sich, daß dieses Postulat sich eng mit dem ersten verknüpft: „Die Quelle, auf die es sich beruft, ist eine Quelle, und zwar eine einzige“.31 c) Auch das dritte Postulat scheint indirekt mit der Idee der Einheit zusammenzuhängen: „Für jedes x gilt, daß wenn es vielfältig ist und wenn x existiert, x nur existiert und gedacht werden kann als Streben nach der Einheit und der Quelle, aus der es hervorgegangen ist.“32 Offenbar hängen alle drei Postulate innerlich miteinander zusammen. Sie erlauben, wie Breton im vierten Teil seines Buches nachweist, uns eine präzise Vorstellung vom „Ende der Metaphysik“ (bzw. von der „Krise und der Kritik der Idee des Prinzips“) zu machen, anstatt daß wir uns damit begnügen, wie man das gewöhnlich tut, das „Ende der Metaphysik“ im Brustton der Überzeugung oder im raunenden Tonfall eines Orakels zu verkünden. a) Die erste Vorstellung dieses Endes betrifft das „henologische“ Postulat. Hier gerät die Metaphysik unter den dreifachen Verdacht einer falschen Vereinheitlichung (Nietzsches Kritik am christlichen „MonotonoTheismus“), die dem Primat des Differenzdenkens weichen muß, einer illusionären Faszination gegenüber der Einzigkeit, die zugunsten der uferlosen Vielfalt überwunden wird (singulare tantum gegen plurale tantum), und eines hierarchischen Ordnungsdenkens, das durch ein Denken ersetzt wird, das auf die Irreduzibilität des Unkoordinierbaren schwört.33 b) Das zweite Ende der Metaphysik bricht an, wenn der „ontogenetische“ Ursprungsgedanke unhaltbar wird, wenn, anders gesagt, das „En archê“ des Prologs des Johannesevangeliums, oder das „Bereshit barah Elohim“ am Anfang der Genesis nicht mehr nachvollziehbar ist. „Anfang“ „Ursprung“, „Beginn“ (initium): Die Aura, die seit jeher, nicht nur im metaphysischen und theologischen, sondern bereits im mythologischen Denken diese Urworte umspielt hatte, wird vom grauen Neutrum eines unver-
29
Breton, Du Principe, 194. Breton, Du Principe, 196. 31 Breton, Du Principe, 198. 32 Breton, Du Principe, 196. 33 Breton, Du Principe, 294. 30
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bindlichen „Alls“ verschluckt, das keine bevorzugten Augenblicke oder Ereignisse, sondern nur noch beliebige Zeitpunkte kennt. c) Wer sich keine „Archeologie“ mehr leisten kann, für den kann es auch keine „Eschatologie“ mehr geben, bzw.: Wenn das „Alpha“ unaussprechlich geworden ist, kann auch das „Omega“ nicht mehr ausgesprochen werden. Damit bricht auch das epistrophische Postulat zusammen. Es wird entweder durch das schlechte Unendliche des ewigen „und so weiter“ oder der endlosen Flucht nach vorne ersetzt. Die hier skizzierte Kritik der Postulate, von denen die Möglichkeit jeder Metaphysik abhängt, hat ein doppeltes Interesse: Einmal rückt sie den inneren Zusammenhang der Begriffe des Sinns, der Finalität und der Erfüllung in den Vordergrund.34 Zum andern lenkt sie den Blick auf drei Wesensmomente dieser Postulate: Einzigartigkeit, Präexistenz-Ursprung, Rückkehr als Erfüllung, denen ebenso viele Operationen entsprechen: Identität, Transitivität, Reflexivität, die in der einen oder anderen Weise einem „Selbst“ zugeschrieben werden müssen. Wenn diese Kritik zutrifft, dann liefert sie uns zugleich, gleichsam als Kontrastfolie, das Bild einer radikal pluralisierten Welt, die nicht einmal mehr den vereinheitlichenden Namen „Welt“ (kosmos) verdient. Ein solches Universum ist kein Universum mehr, sondern, wie Odo Marquard zu Recht bemerkt, ein „Multiversum“. Ist aber ein solches „Multiversum“, das keinem anderen Gesetz als dem der reinen Multiplizität untersteht – wobei der Begriff „Gesetz“ selbst schon höchst fragwürdig ist! –, überhaupt denkbar und aussprechbar? Selbst das narrative Multiversum von Tausendundeine Nacht ist einheitlicher, als man glauben könnte. Einmal, weil jede Einzelerzählung dem narrativen Gesetz der „Synthesis des Heterogenen“ (Paul Ricoeur) unterworfen bleibt, zum andern, weil der Akt des Erzählens selbst eine Verwandlung hervorruft, die es Scheherazade ermöglicht, den Todeswunsch des Königs in eine Liebesbeziehung zu verwandeln. Ferner wäre ein solches Multiversum quellen- und ursprungslos und eben deshalb jener radikalen Streuung („dissémination“) unterworfen, die in der neuplatonischen Kosmologie die Materie kennzeichnet. Enthält aber der Begriff einer radikalen „Heterologie“ nicht eine contradictio in adiecto, weil die versammelnde und einigende Funktion des Logos in radikalem Widerspruch mit der reinen Streuung steht? Das Viele als Vieles ist zu keiner „Rückkehr“ und Umkehr fähig. Als reine Exteriorität kann es sich immer nur weiter verstreuen. Das so verstandene „Multiversum“ wird durch nichts anderes als die Konjunktion „und“ zusammengehalten. Damit kommt Breton zum Schluss, daß eine Welt, die sich im Zeichen einer radikalen „Prinzipienlosigkeit“ versteht, nichts anderes als der ursprungslose („an-archische“) und 34
Breton, Du Principe, 298.
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unumkehrbare Hervorgang einer Vielheit ist, die bar jeglicher Form von Einheit ist und nur der Notwendigkeit der Wucherung ihrer Andersheit folgt“.35
3. Das Orientierungsbedürfnis der Vernunft und das Problem der transzendentalen Dialektik Wenn wir diese Analysen nachzuvollziehen versuchen, wird sich vermutlich früher oder später, und sicher nicht zufällig, das Stichwort „Orientierungslosigkeit“ zu Worte melden. In den letzten Jahrzehnten des 18. Jahrhunderts, zur Zeit des sogenannten „Pantheismusstreits“, ist dieses Stichwort schon einmal an der Tagungsordnung gewesen, wie ein Blick auf Kants berühmten Aufsatz: „Was heißt: sich im Denken orientieren?“, der 1786 im Oktoberheft der Berlinische Monatsschrift veröffentlicht wurde, zeigt. Ebenso wie Kants Aufsatz „Was ist Aufklärung?“ handelt es sich in erster Linie, wie Ernst Cassirer klar gesehen hat, um ein philosophisches Manifest, das die Grundidee einer kritischen Transzendentalphilosophie zusammenfaßt, sodann um eine prinzipielle Stellungnahme im „Pantheismusstreit“ und schließlich um eine Besinnung über den Begriff der Orientierung selbst. Kant zufolge leben wir heute in schwierigen Zeiten, in denen wir es uns nicht mehr leisten können, ähnlich wie Mendelssohn, alle Fragen im Rückgriff auf den „gesunden Menschenverstand“ oder den „Gemeinsinn“ zu lösen. Nur „der erweiterte und genauer bestimmte Begriff des Sich-Orientierens“ (WDO A 307) kann uns in dieser Lage weiterhelfen. Die Vernunft verfügt nämlich, „wenn sie von bekannten Gegenständen (der Erfahrung) ausgehend sich über alle Grenzen der Erfahrung erweitern will“ über keine objektiven Gründe der Erkenntnis mehr, sondern nur noch über einen subjektiven Unterscheidungsgrund: „das Gefühl des der Vernunft eigenen Bedürfnisses“ (WDO A 310).36 Kants Aufsatz bezweckt, ein für allemal klarzustellen, daß nur die Transzendentalphilosophie imstande ist, unser intellektuelles Orientierungsbedürfnis zu befriedigen. Die kritische Vernunft, die nicht mehr beansprucht, ihre Erkenntnisse auf objektive Prinzipien zu begründen, pocht auf ihr Grundrecht, „etwas ohne zureichende objektive Gründe vorauszusetzen“. Es ist, um die Schlüsselformel der Abhandlung zu zitieren, „das Recht des Bedürfnisses der Vernunft [...] als eines subjektiven Grundes, etwas vorauszusetzen und anzunehmen, was sie durch ob35
Breton, Du Principe, 311. Vgl. W. Stegmaier, „‚Was heißt: Sich im Denken orientieren?‘ Zur Möglichkeit philosophischer Weltorientierung nach Kant“, Allgemeine Zeitschrift für Philosophie 17 (1992), 1–16 und ders., Philosophie der Orientierung, Berlin/New York 2008, 78–97. 36
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jektive Gründe zu wissen sich nicht anmaßen darf; und folglich sich im Denken, im unermesslichen und für uns mit dicker Nacht erfüllten Raume des Übersinnlichen lediglich durch ihr eigenes Bedürfnis zu orientieren“ (WDO A 311). Kants transzendentale Dialektik beschäftigt sich im Grunde mit nichts anderem als eben diesem Grundbedürfnis der Vernunft, das man ebenso gut als „Interesse der Vernunft“37 bezeichnen kann. Damit komme ich auf die oben nur kurz gestreifte Frage nach der Eigentümlichkeit der „Vernunfteinheit“ zurück, durch die diese sich grundsätzlich vom Verstand unterscheidet. Ihre Aufgabe bestimmt Kant klar und deutlich in folgendem Satz: „daß die Vernunft im Schließen die große Mannigfaltigkeit der Erkenntnis des Verstandes auf die kleinste Zahl der Prinzipien (allgemeiner Bedingungen) zu bringen und dadurch die höchste Einheit derselben zu bewirken suche“ (KrV B 361). „In der Tat“, erläutert Kant, „ist Mannigfaltigkeit der Regeln und Einheit der Prinzipien eine Forderung der Vernunft, um den Verstand mit sich selbst in durchgängigen Zusammenhang zu bringen, so wie der Verstand das Mannigfaltige der Anschauung unter Begriffe und dadurch jene in Verknüpfung bringt“ (KrV B 362). Im Gegensatz zur Verstandeseinheit kann die Vernunfteinheit nicht die „Einheit einer möglichen Erfahrung“ (KrV B 363) sein. Kant bezeichnet diese Vernunftbegriffe mit dem Namen „transzendentale Ideen“, ein Begriff, der sich nur vor einem platonischen Hintergrund verstehen läßt. „Plato bemerkte sehr wohl“, betont Kant, „daß unsere Erkenntniskraft ein weit höheres Bedürfnis fühle, als bloß Erscheinungen nach synthetischer Einheit buchstabieren, um sie als Erfahrung lesen zu können“ (KrV B 370f.).38 Insofern will er den „Ausdruck Idee seiner ursprünglichen Bedeutung nach in Schutz nehmen“, indem er die Idee als „notwendiger Vernunftbegriff“ bestimmt, „dem kein kongruierender Gegenstand in den Sinnen gegeben werden kann“. Für die uns interessierende Frage, ob der „transzendentale Gebrauch der reinen Vernunft“ (KrV B 376) eine unendliche Anzahl von transzendentalen Ideen zuläßt oder nicht, hängt alles von der Vorstellung ab, die man sich vom Verhältnis zwischen der Verstandeseinheit und der Vernunfteinheit macht. Kant zufolge kann es nur drei Arten von Vernunftschlüssen geben: kategorische, hypothetische und disjunktive Schlüsse. In jedem von ihnen steht das Verhältnis „der Totalität der Bedingungen zu einem gegebenen Bedingten“ (KrV B 379) zur Debatte. Nun gibt es aber nur drei Möglichkeiten, den Begriff des Unbedingten zu bestimmen. Dem kategori37 A. Hutter, Das Interesse der Vernunft. Kants ursprüngliche Einsicht und ihre Entfaltung in den transzendentalphilosophischen Hauptwerken, Hamburg 1992. 38 Bekanntlich ist diese These der Auslöser von Hans Blumenbergs Untersuchung über die „Lesbarkeit der Welt“ gewesen. Vgl. H. Blumenberg, Die Lesbarkeit der Welt, Frankfurt am Main 1986.
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schen Vernunftschluß entspricht das „Unbedingte der kategorischen Synthesis in einem Subjekt“ (die transzendentale Idee des Ich), dem hypothetischen Schluss die „hypothetische Synthesis der Glieder einer Reihe“ (die transzendentale Idee der Welt), dem disjunktiven Schluss die „disjunktive Synthesis der Teile in einem System“ (der transzendental geläuterte GottesBegriff). Auf diese Weise gelingt es Kant, die drei Hauptgegenstände der vormaligen Leibniz-Wolffschen Metaphysica specialis, nämlich „Seele“, „Welt“ und „Gott“ verläßlich, und über jeden Zweifel erhaben, in der Vorstellung zu verankern, die eine kritisch geläuterte Transzendentalphilosophie sich von der „Vernunfteinheit“ macht. Diese Sicherstellung eines „Systems der transzendentalen Ideen“ muß freilich mit dem Preis des Verzichts auf den konstitutiven Gebrauch der Ideen, der sie als Erfahrungsgegenstände besonderer Art betrachten würde, bezahlt werden. Warum die Transzendentalphilosophie nur einen regulativen Gebrauch und keinen konstitutiven Gebrauch der Ideen zuläßt, versteht man erst richtig, wenn man Kant Schritt um Schritt bei seiner systematischen Dekonstruktion der „Paralogismen der reinen Vernunft“ bzw. der „Topik der rationalen Seelenlehre“ (KrV B 402), der „Antinomien der reinen Vernunft“, die der rationalen Kosmologie zugrundeliegen, und schließlich der rationalen Theologie begleitet. Bei näherem Zusehen zeigt sich, daß das Problem der Einheit und der Vielheit auf jeder Ebene sich in einer verschiedenen Form stellt. Was die rationale Seelenlehre anbelangt, verwendet Kant eine besondere Sorgfalt auf die Analyse des „Paralogismus der Simplizität“, weil dieser in seinen Augen „der Achilles aller dialektischen Schlüsse der reinen Selenlehre“ (KrV A 352) ist. Hier hängt alles davon ab, daß „die Einfachheit [...] der Vorstellung von einem Subjekt“ „nicht eine Erkenntnis von der Einfachheit des Subjektes selbst“ (KrV A 355) bzw. daß „das einfache Bewusstsein keine Kenntnis der einfachen Natur unseres Subjekts“ (KrV A 360) impliziert. Der transzendentale Begriff der Welt, als „unbedingte Einheit der objektiven Bedingungen in der Erscheinung“ (KrV B 433), dem wir in der Gestalt der hypothetischen Vernunftschlüsse begegnen, baut sich Kant zufolge auf vier Kategorien auf: „Zusammensetzung des gegebenen Ganzen aller Erscheinungen“, „Teilung eines gegebenen Ganzen in der Erscheinung“, „Entstehung einer Erscheinung überhaupt“ und „Abhängigkeit des Daseins des Veränderlichen in der Erscheinung“ (KrV B 443). Unter den hiermit verbundenen Antinomien ist es die zweite, die uns mit dem Problem der Einheit und der Vielheit konfrontiert. Der Vergleich von Thesis und Antithesis zeigt, daß „das Dasein des schlechthin Einfachen aus keiner Erfahrung oder Wahrnehmung, weder äußeren noch inneren, dargetan werden“ kann, daß also „das schlechthin Einfache [...] eine bloße Idee“ ist,
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„deren objektive Realität niemals in irgendeiner möglichen Erfahrung kann dargetan werden, mithin in der Exposition der Erscheinungen ohne alle Anwendung auf den Gegenstand“ (KrV B 464). Die dritte Idee ist der als „transzendentales Ideal“ bestimmte Gottesbegriff, anders gesagt die „unbedingte Einheit der objektiven Bedingungen der Möglichkeit der Gegenstände überhaupt“ (KrV B 433). Kant zufolge ist dies „das einzige eigentliche Ideal, dessen die menschliche Vernunft fähig ist, weil nur in diesem einzigen Falle ein an sich allgemeiner Begriff von einem Dinge durch sich selbst durchgängig bestimmt, und als die Vorstellung von einem Individuum erkannt wird“ (KrV B 604). Für Kant besteht kein Zweifel daran, daß das „Ideal des Urwesens“, anders gesagt „Gott, im transzendentalen Verstande gedacht“ (KrV B 608), „auch als einfach gedacht werden“ (KrV B 607) muß. Von daher kann man sehr gut verstehen, warum die Kantische Dekonstruktion der rationalen Beweisgründe für die Existenz Gottes gerade mit dem ontologischen Gottesbeweis anhebt, und wofür Kant den Fachausdruck „Ontotheologie“ (KrV B 660) geprägt hat.
4. „Metaphysik“, „Metalogik“ und „Metaethik“: Eine Weiterführung der transzendentalen Dialektik? Der Schluß meiner Betrachtung führt mich zu meinem Ausgangspunkt zurück: Offenbar stehen im Hintergrund von Rosenzweigs Versuch, den Totalitätsgedanken zu überwinden (bzw. in der Diktion Heideggers: „zu verwinden“), gerade die drei transzendentalen Ideen, mit denen Kant sich in seiner transzendentalen Dialektik auseinandersetzt. Auch in Rosenzweigs Denken spielt der Begriff der Orientierung eine Schlüsselrolle, selbst wenn er ihm, aufgrund der Verbindung mit dem Begriff der „Offenbarung“, eine völlig neue Stoßrichtung verleiht. Kant zufolge greift die Vernunft als Vermögen der Ideen über die Grenzen alles Erfahrbaren hinaus. Eine sich ihrer Grenzen bewußte selbstkritische Vernunft kann nur einen regulativen, nicht aber einen konstitutiven Gebrauch von den Ideen machen. Diesen Unterschied könnte man folgendermaßen erläutern: Für die reine theoretische Vernunft, die sich einzig und allein mit der Frage „Was kann ich wissen?“ befaßt, sind „Welt“, „Ich“ und „Gott“ nichts als reine Fluchtpunkte, denen keine möglichen Erfahrungsgegenstände entsprechen. Das negative Fazit aus dieser These ist, daß die drei Wissenschaften, die den Bereich der sogenannten „Metaphysica specialis“ im Sinne Wolffs abstecken – rationale Kosmologie, rationale Psychologie und natürliche Theologie – gegenstandslos sind und kritisch „dekonstruiert“ werden müssen, eine systematische Dekonstruktion, die Kant denn auch in seiner transzendentalen Dialektik voll-
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zieht. Es wäre freilich ein verhängnisvoller Irrtum, wenn man hieraus schließen wollte, daß die Ideen selbst wesenlose Gespenster sind, mit denen die Vernunft überhaupt nichts mehr anfangen kann. Wäre dies der Fall, dann würde der Unterschied von „Verstandeserkenntnis“ und „Vernunfterkenntnis“ selbst hinfällig werden, mit dem Ergebnis, daß ein durch und durch orientierungslos gewordenes Denken in nichts anderem als in der kumulativen Anhäufung immer neuer Erfahrungsurteile bestehen würde. Zugleich wäre damit der Weg zu einer Postulatenlehre, in der die Begriffe „Freiheit“, „Unsterblichkeit“ und „Glückseligkeit“ einen auf das moralische Handeln bezogenen Sinn gewinnen, versperrt. Auch wenn Kants transzendentale Dialektik die drei transzendentalen Ideen nur im Horizont der Frage „Was kann ich wissen?“ entfaltet, kann man sich fragen, ob er nicht gerade damit einen entscheidenden Beitrag zu der von Rosenzweig geforderten „Dekonstruktion“ des Totalitätsgedankens geleistet hat. Diese Dekonstruktion bedeutet aber gerade nicht, daß Kant das „henologische Postulat“ zugunsten eines an-archischen plurale tantum aufgeben würde. Ein metaphysisches plurale tantum würde nämlich voraussetzen, daß es eine unkontrollierbare Vielzahl transzendentaler Ideen gäbe, eine Hypothese, die offenbar widersinnig ist, weil sie dem Orientierungsbedürfnis der Vernunft nicht gerecht wird. Noch deutlicher offenbart sich diese Orientierungsfunktion, wenn man mit Franz Rosenzweig die Kantischen Ideen als elementare, nicht aufeinander reduzierbare „Urwirklichkeiten“ bzw. „Tatsächlichkeiten“ versteht. Das Eigentümliche dessen, was Rosenzweig in einem seiner Briefe an Margrit Rosenstock als „Faktizismus“39 bezeichnet, ist, daß er die Frage nach der spezifischen Einheit, die jeder der drei transzendentalen Ideen zugeschrieben werden kann, ausdrücklich thematisiert. Bildlich gesprochen: Tragen „Gott, „Welt“ und „Mensch“ die gleiche feldgraue Uniform, oder müssen wir für jede von ihnen die Frage der Einheit neu stellen? Indem Rosenzweig die vormalige Metaphysik in eine „Metaethik“ („Mensch“), eine „Metaphysik“ („Gott“) und eine „Metalogik“ aufspaltet, lädt er uns dazu ein, die Differenz zwischen der Einheit Gottes, der Einheit der Welt und der Einheit des Menschen zu bedenken. Eine „Metaphysik“, die eigentlich eine philosophische und zugleich theologische Theologie ist, kann sich nicht damit begnügen, Eingottglauben und Vielgötterei, Monotheismus und Polytheismus gegeneinander auszuspielen. Ob wir es uns allerdings leisten können, mit Kant zu behaup-
39 F. Rosenzweig, Brief an Margrit Rosenstock, 13. November 1918, in: ders., Die „Gritli“-Briefe. Briefe an Margrit Rosenstock-Huessy, hrsg. von I. Rühle/R. Mayer, Tübingen 2002, 187.
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ten, daß diese Alternative längst obsolet geworden ist40, ist eine ganz andere Frage. Früher oder später muß sie sich mit dem Begriff der Einzigkeit Gottes beschäftigen41, die in religionsphilosophischer Hinsicht eine der großen Streitfragen ist, durch die sich die drei abrahamitischen Religionen voneinander unterscheiden. Eine „Metaethik“, die sich mit dem menschlichen Selbstverständnis befaßt, unterscheidet, Rosenzweig zufolge, drei grundsätzliche Möglichkeiten, die Einheit des Selbst zu denken, denen ebenso viele phänomenale Gestalten zugeordnet werden können. Die erste, negative Bekundung des Bewußtseins des Einzelichs manifestiert sich in der Gestalt des Trotzes und der Auflehnung, auf die man Nietzsches Formel: „Vor allem: verwechselt mich nicht!“ anwenden kann. Ihr phänomenologischer Ausdruck ist der Held der griechischen Tragödie, der selbst dem unerbittlichen Schicksal und den unsterblichen Göttern die Stirn bietet. Die zweite Grundgestalt ist die überwältigende Erfahrung des Geliebtseins, die ihren literarischen Ausdruck im Hohelied der Liebe gefunden hat, ein Text, der sowohl wortwörtlich als auch mystisch verstanden werden kann. Die Liebe vereinzelt, ohne zu isolieren. Die dritte Grundgestalt ist die Verantwortung für die Welt. Hier hängt sehr viel davon ab, wie man Liebe und Verantwortung zueinander in Beziehung bringt. In der Interpretation von Lévinas werde ich nur aufgrund meiner Verantwortung für den Anderen als Anderen ein Einzigartiger, d.h. biblisch gesprochen, ein „Auserwählter“. Demgegenüber behauptet Jean-Luc Marion, daß der Andere als Anderer im Sinne von Lévinas immer noch ein beliebig auswechselbarer Anderer ist, der erst in der Erfahrung der Liebe radikal „singularisiert“ wird. Die „Metalogik“ geht davon aus, daß die Welt kein abgeschlossenes Ganzes, ein „Kleinod“ im Sinne des griechischen Wortes „Kosmos“ mehr ist. Nicht nur, weil seit der beginnenden Neuzeit die Welt ein unendliches Universum ist, dessen Weite, wie Pascal klar erkannt hat, uns einen gehörigen Schrecken einjagen kann: „Le silence éternel de ces espaces infinis m’effraie“.42 Sondern auch, weil die Menschenwelt, die wir als Weltbürger bewohnen, indem wir uns aktiv oder passiv am „großen Spiel des Lebens“ beteiligen, noch jener Einheit mangelt, die ein friedliches Zusammenleben der Menschen ermöglicht. Auch in dieser Hinsicht liefert uns Rosenzweig einen entscheidenden Fingerzeig, wenn er darauf hinweist, daß die Welt
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„Daher sehen wir bei allen Völkern durch ihre blindeste Vielgötterei doch einige Funken des Monotheismus durchschimmern, wozu nicht Nachdenken und tiefe Spekulation, sondern nur ein nach und nach verständlich gewordener natürlicher Gang des gemeinen Verstandes geführt hat“ (KrV B 618). 41 Vgl. hierzu S. Breton, Unicité et monothéisme, Paris 1989. 42 B. Pascal, Pensées, 406.
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erst im eschatologischen Symbol des „Reiches Gottes“ diejenige Einheit erhält, die im griechischen Begriff des „Kosmos“ postuliert war.
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Hegel: Die Einheit des Begriffs Anton Friedrich Koch
Teil I: Hegel über die Einheit des Begriffs1 Hegels Henologie, seine Lehre vom Einen oder, wie er sagt, vom Eins, gehört in die Logik des Fürsichseins. Anders als Platon würde er das Eine nicht als Prinzip des Ideenkosmos oder des sich entwickelnden logischen Raumes gelten lassen; das Prinzip ist vielmehr in nuce der Begriff und in logischer Entfaltung die absolute Idee, die sich sodann frei in ihr Anderes, die Natur, entläßt, aber in ihrem Anderen bei sich bleibt und sich als absoluter Geist aus dem Anderssein wiederherstellt. Der Begriff ist also nicht das Eine selbst, wohl aber eines: die Singularität des ganzen logischen Raumes. Diese Singularität tritt in der Wissenschaft der Logik zunächst in Vorformen, als Sein und Wesen, auf. Der Begriff hat somit ein Werden, ein langes Werden aus Sein und Wesen, dessen Darstellung die objektive Logik, und zweitens näher ein kurzes Werden aus der Wechselwirkung, dessen Darstellung der Übergang von der objektiven zur subjektiven Logik ist. Er hat drittens eine paradigmatische Auftrittsform, auf die Hegel im Vorspann zur subjektiven Logik verweist; in seiner freien Existenz nämlich ist er „nichts anderes als Ich oder das reine Selbstbewußtsein“ (WdL 1816, 12). Viertens schließlich hat der Begriff eine interne Struktur, die ebenso trinitarisch wie enigmatisch ist. Seine Momente – Allgemeinheit, Besonderheit und Einzelheit – durchdringen einander und bleiben doch unterschieden. Jedes von ihnen ist auch selbständig und der ganze Begriff, aber dieser kollabiert deswegen keineswegs in das abstrakte Einerlei des unbe1 Der erste Teil dieses Aufsatzes wurde am 28. Februar 2010 auf der Tagung „Einheit und Vielheit als metaphysisches Problem“ im Christkönigshaus Stuttgart-Hohenheim vorgetragen. Dem Vortragsformat waren mehrere Passagen geopfert worden, die ursprünglich zum Text gehörten. Nachfragen in der Diskussion, besonders zur Rolle der Schöpfung im Hegelschen System, haben mich bewogen, einen zweiten Teil anzufügen und darin einiges des Entfallenen zu reaktivieren und mit neuen Überlegungen zu verbinden, zu denen die Tagung durch Vorträge und Diskussionen Anregung gab.
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stimmten Seins, sondern wahrt seine Artikulation als ein Ineinanderschweben der selbständigen Momente und als, im Ansatz, schon eine dihairetische Baumstruktur unterschiedener Begriffe. Er scheint, wie Hegel sagt, in einem Doppelschein nach außen und nach innen, nach außen ins jeweils noch Allgemeinere und nach innen in die Selbstbesonderung bis hinab zur Einzelheit. Mit den genannten vier Punkten – langes Werden, kurzes Werden, paradigmatische Auftrittsform, Momentstruktur – ist die Gliederung von Teil I vorgezeichnet.
1. Sein, Wesen, Begriff Hegel unterscheidet zwischen dem reinen Denken selber und der äußeren Reflexion des Theoretikers. Am Anfang versucht das Denken, das Sein zu erfassen: „Sein, reines Sein, ohne alle weitere Bestimmung“ – für das reine Denken nämlich; denn in äußerer Reflexion wird das Sein sogleich bestimmt als unbestimmt, unmittelbar, unvergleichlich, leer, reines Anschauen, reines Denken, schiere Negativität. Sein und Negativität – darin deutet sich an, daß der Theoretiker zwei minimale, alternativlose Investitionen tätigen muß, damit das reine Denken vor seinen Augen in Gang kommt. Durch vollständige Abstraktion isoliert er zunächst das singuläre Unbestimmte, genannt Sein, das er dem reinen Denken als ein Unmittelbares zu denken gibt und das mit dem reinen Denken alsbald verschmilzt zu einem leeren intellektuellen Anschauen seiner selbst. Durch sehr elementare Überlegungen findet er sodann die Negation, verbal verstanden, also die Verneinung, als die alternativlose logische Operation am Sein. Diese doppelte Investition, des Seins und der Verneinung, wirft als ersten Gewinn die Negation, jetzt nominal verstanden, ab, zunächst das flüchtige Werden als die Negation des Seins, dann das stabilere Dasein als die Negation des Werdens. Dabei wird das Negierte vom Negierenden vernichtet und das Negierende vom Negierten gezeichnet, nämlich bestimmt. So ist das Dasein als siegreicher Nachfolger des Werdens zwar wiederhergestelltes Sein und Realität, aber als vom unterlegenen Werden bestimmt zugleich Negation im nominalen und jetzt sogar terminologischen Sinn. Wollten wir im Gleichnis sprechen, so könnten wir die Operation der Verneinung einer mahlenden Mühle vergleichen, das unmittelbare Sein dem zu mahlenden Korn und das Negative des Seins dem erzeugten Mehl. Wenn das alles wäre, hätten wir freilich eine kurze Seinslogik zu gewärtigen: Sein, Verneinung, Werden – Ende. Daß es weitergeht, liegt offenbar daran, daß das Mehl wieder in die Mühle eingegeben und noch einmal ge-
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mahlen wird: der Schritt vom Werden zum Dasein. Aber spätestens, wenn das Mehl zum dritten oder vierten Mal gemahlen wird, droht Langeweile. Doch da zeigt sich in der Logik (ohne daß wir näher darauf eingehen könnten) etwas höchst Bemerkenswertes, was den Rahmen des Mühlengleichnisses sprengt: Die Operation der Verneinung variiert systematisch mit ihren Ein- und Ausgaben, während eine Mühle, abgesehen vom Verschleiß, im Mahlen konstant bliebe. Und es zeigt sich alsbald etwas noch viel Bemerkenswerteres: Keine Mühle kann sich im Leerlauf ihr ursprüngliches Mahlgut „ermahlen“, wohl aber kann die Operation der Verneinung sich im Leerlauf ihr eigenes Operandum liefern, wie für den Bereich der Umgangssprache der Lügnersatz belegt, der seine eigene Negation ist: „Dieser Satz ist nicht wahr“. Wenn Hegel von doppelter Negation spricht, wird man also immer darauf achten müssen, was genau er meint: a) eine iterierte Negation von der Form „~(~(p)“, zum Beispiel das Dasein, das die Negation der Negation des Seins ist, b) eine selbstbezügliche Negation, zum Beispiel das Andere seiner selbst, den ersten markanten Fall selbstbezüglicher Negation in der Logik, oder c) eine iterierte Negation, die zugleich selbstbezüglich ist, zum Beispiel das Maß, das zum einen die Negation der Quantität und die Negation der Negation der Qualität ist und das sich zum anderen am Ende der Seinslogik als die umfassende, alles Sein in absolute Indifferenz versenkende selbstbezügliche Negation herausstellt. Angesichts dieses aporetischen Endes wird in der Wesenslogik das Verneinen im Leerlauf zum alleinigen Prinzip erhoben. In der Seinslogik kam es nie rein, sondern stets so vor, daß auch Unmittelbares mit im Spiel blieb. Halb sollte sich das Mehl dem eingekauften Mahlgut und halb dem Leerlauf der Mühle verdanken; halb war das mit sich identische Etwas unmittelbares Dasein, und halb war es das Andere seiner selbst. Mit diesen Halbheiten wird nun aufgeräumt. Die vermeintlich unmittelbare Ersteingabe in die Verneinungsmühle, das reine Sein, ist nur Schein und zur Gänze ein Resultat der autarken Verneinung. Für den Logiker ist das erfreulich, weil er im nachhinein seine erste theoretische Investition, das Sein, als reinen Profit, nämlich als das Produkt der zweiten Investition, derjenigen der Verneinung, erkennt. Zu Beginn der Seinslogik glaubte er, er müsse Mühle und Mahlgut besorgen; jetzt sieht er, daß die Mühle gereicht hätte, denn sie ermahlt sich ihr Mahlgut selbst. Für die Wesenslogik hat also nur noch die Verneinung die Rolle eines Unmittelbaren. Aber tatsächlich ist sie nur die Vermittlung, die sich dem, was sie jeweils vermittelt, geschmeidig anpaßt. Sie variiert, wie gesagt, mit ihren Ein- und Ausgaben, ist also nichts Festes und Unmittelbares gegen sie. Dies wird am Ende der Wesenslogik manifest, wenn sich nämlich zeigt, daß die Mühle nicht nur ihr Mahlgut, sondern ipso facto sogar sich selbst ermahlt. Natürlich kann keine Mühle sich selbst ermahlen, ihre Kör-
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perlichkeit steht dem im Wege; wohl aber soll im reinen Denken die Operation der Verneinung sich im Vollzug selbst konstituieren, nämlich als der Begriff. Damit würde auch sie sich am Ende der Wesenslogik als theoretischer Reingewinn entpuppen und wäre die Voraussetzungslosigkeit des reinen Denkens, die anfangs nur „an sich“ vorhanden, aber durch die beiden Minimalinvestitionen des Theoretikers noch verdunkelt war, nunmehr gesetzt. Wenn das Wesen die nicht nur selbstbezügliche, sondern auch autarke Negation war, die ihr Operandum als ihr Resultat aus dem Nichts erzeugte, so ist der Begriff die absolute Negation, die mit ihrem Operandum und Resultat zugleich sich selbst als Operation erzeugt. Der Begriff ist absolute Operationalität; für ihn gilt das Gleichungsgefüge: Operandum = Resultat = Operation. Aber die hier gleichgesetzten Termini sollen keinesfalls in völliger Unterschiedslosigkeit zusammenfallen; denn das ergäbe wieder das reine Sein des Anfangs: den Begriff in seiner Schwundform als abstraktes Einerlei. Vielmehr soll die Identität von Operation, Resultat und Operandum eine konkrete sein, aus der sich diese drei Termini stets auch wiederherstellen lassen. Operation, Resultat und Operandum sind aber nicht ohne weiteres dasselbe wie Allgemeinheit, Besonderheit und Einzelheit. Es ist also vorerst noch nicht klar, inwiefern die absolute Operationalität gerade den Namen „Begriff“ verdient und durch diese drei Momente gekennzeichnet ist.
2. Die Wechselwirkung als das Setzen ihrer selbst Unmittelbar – in seinem kurzen Werden – geht der Begriff aus der Wechselwirkung hervor. In Wechselwirkung stehen am Ende der Wesenslogik die aktive und die passive Substanz, deren Differenz als aktive und passive freilich in der Wechselwirkung schon entfallen ist, da jede als aktive auf die andere einwirkt und als passive eine Einwirkung von ihr erfährt. An sich ist also die Angleichung von aktiver und passiver Substanz bereits geleistet, wenn die Wechselwirkung einsetzt. Was fügt die Wechselwirkung dem noch hinzu? Die einzige Differenz der beiden Substanzen ist ihr Status, aktive bzw. passive Substanz zu sein. Nur dieser Status steht der Wechselwirkung zur Disposition. Jede der beiden Substanzen macht daher in der Wechselwirkung die jeweils andere, die zunächst passiv ist, zur aktiven Substanz und ipso facto sich selbst zur passiven. In der Wechselwirkung wird also die Statusangleichung der beiden Substanzen sowohl vorausgesetzt als auch erst geleistet. An und für sich waren Statusgleichheit und Wechselwirkung schon vorhanden, im Vollzug der Wechselwirkung werden sie eigens „gesetzt“. Die Wechselwirkung „setzt“ demnach sich
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selbst so, wie sie an und für sich schon vorhanden war; eben dadurch ist sie causa sui, wenn auch, wegen ihrer vorgängigen Vorhandenheit, paradoxerweise eine parasitäre causa sui. Das Paradox einer causa sui, die an sich schon vorhanden sein muß, damit sie sich setzen kann, wird aufgelöst im Begriff, der dasselbe wie die Wechselwirkung, nur ohne deren Selbstwiderspruch sein soll. Weil das An-und-für-sich-Sein und das Gesetztsein im Falle des Begriffs identisch sind, kann man von einer parasitären causa sui nun nicht mehr sprechen. Die causa sui, die der Begriff ist, gibt sich ihr An-und-für-sich-Sein, indem sie sich setzt, d.h. sich sichtbar macht für das reine Denken, das sie im übrigen selber ist; und ihr An-und-für-sich-Sein ist gar nichts anderes als ihr Sich-Setzen, also ihr sich für das reine Denken, das sie selber ist, sichtbar Machen. Der Begriff ist insofern die reine Manifestation seiner, ist reine Selbsttransparenz; nichts Opakes, unvermittelt Unmittelbares ist mehr übrig. Die absolute Operationalität ist Selbsttransparenz. Hilft uns das zu begreifen, mit welchem Recht Hegel sie als den Begriff faßt und mit welchem Recht er dem Begriff die Momentstruktur der Allgemeinheit, Besonderheit und Einzelheit zuspricht? Was letztere (die Momentstruktur) angeht, so wird man unabhängig von Hegel, etwa mit Kant, unter einem Begriff eine Allgemeinvorstellung verstehen. Allgemeinvorstellungen aber kommen in unterschiedlichen Graden der Allgemeinheit vor und bilden dihairetische Baumstrukturen, in denen sie einander sub- und koordiniert sind. So wird deutlich, daß zur Allgemeinheit wesentlich die Besonderheit gehört. Ferner ist jeder Begriff in einer Baumstruktur auch ein einzelner; aber diese Einzelheit scheint ihm auf den ersten Blick völlig äußerlich zu sein. Allerdings wird Hegel Wert darauf legen, daß die Einzelheit eines Begriffes keineswegs trivial ist, sondern ihm seine Selbständigkeit in der Baumstruktur sichert. Aber davon später. Unabhängig von Hegel läßt der Begriff noch eine weitere Beziehung zur Einzelheit erkennen, daran nämlich, daß an den Endverzweigungen der Baumstruktur der Übergang vom Allgemeinen zum Einzelnen unaufschiebbar fällig wird. Unter einem allgemeinen Begriff stehen nicht nur besondere Begriffe, sondern auf andere Weise auch diejenigen Einzelnen, die seinen Umfang ausmachen, die aber ihrerseits im allgemeinen keine Begriffe mehr sind, sondern zum Beispiel Dinge in Raum und Zeit. Hegel freilich legt Wert darauf, daß auch Einzelne als solche noch Begriffsform haben und dem Begriff keineswegs fremd gegenüberstehen.
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3. Das reine Selbstbewußtsein als paradigmatische Auftrittsform des Begriffs Da wir den Begriff als restlose Selbsttransparenz erkannt haben, läßt sich seine interne Verflechtung sowohl mit der Allgemeinheit als auch mit der Einzelheit an einem prominenten und paradigmatischen Beispiel aufzeigen, nämlich am Fall des reinen Selbstbewußtseins. Das „Ich denke“ der transzendentalen Apperzeption ist nach Kants eigener Lehre so etwas wie der reine und maximal allgemeine Begriff, unter den alle meine Vorstellungsinhalte fallen. Sie alle müssen vom „Ich denke“ begleitet werden können, das ihr gemeinsames Merkmal und ihre analytische Einheit ist und ihre synthetische Einheit oder konkrete Allgemeinheit zur Voraussetzung hat. Aber die transzendentale Apperzeption ist unbeschadet ihrer Allgemeinheit auch jeweils das Selbstbewußtsein eines individuellen Subjekts. Höchste Allgemeinheit und unhintergehbare Einzelheit fallen im reinen Selbstbewußtsein zusammen, ein Sachverhalt, den Hegel in den Vorbemerkungen zur Begriffslogik wie folgt würdigt: „Der Begriff, insofern er zu einer solchen Existenz gediehen ist, welche selbst frei ist, ist nichts anderes als Ich oder das reine Selbstbewußtsein. […] Ich ist der reine Begriff selbst, der als Begriff zum Dasein gekommen ist. […] Ich aber ist diese erstlich reine sich auf sich beziehende Einheit, und dies nicht unmittelbar, sondern indem es von aller Bestimmtheit und [allem] Inhalt abstrahiert und in die Freiheit der schrankenlosen Gleichheit mit sich selbst zurückgeht. So ist es Allgemeinheit […]. Zweitens ist Ich ebenso unmittelbar als die sich auf sich beziehende Negativität Einzelheit, absolutes Bestimmtsein, welches sich anderem gegenüberstellt und es ausschließt: individuelle Persönlichkeit. Jene absolute Allgemeinheit, die ebenso unmittelbar absolute Vereinzelung ist […], macht […] die Natur des Ich als des Begriffes aus.“ (WdL 1816, 12f.)
Realphilosophisch tritt die Einzelheit des Begriffs demzufolge frei als individuelle Persönlichkeit hervor. Zugleich bekundet sich darin die Allgemeinheit, und dies zweifach: erstens im Außenverhältnis der Individuen, in welchem sie dasselbe Allgemeine, nämlich individuelle Persönlichkeiten als solche sind, und zweitens im Binnenverhältnis jedes Individuums, sofern sein Bewußtsein die konkrete Allgemeinheit aller seiner Vorstellungsinhalte ist. Man sieht hier, daß Hegel sich dem Rätsel der Inkarnation stellen will: Wie kann der ganze logische Raum – „den aller Welt Kreis nicht beschloß“ – in einer (und jeder) individuellen Persönlichkeit zur freien Existenz und zum Dasein kommen? Auch das Rätsel der Trinität handelt er sich absichtsvoll ein: Wie kann der eine Begriff sowohl Allgemeines als auch Besonderes als auch Einzelnes und darin jeweils der ganze Begriff sein? Die erste Frage zielt nicht unmittelbar auf die interne Struktur des Begriffs und ist hier nicht unser Thema (siehe aber Teil II). Um die zweite Frage beantworten zu können, müssen wir nun zu verstehen versuchen, mit welchem
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logischen Recht – unabhängig vom Beispiel des Selbstbewußtseins – Hegel das, was aus der Wechselwirkung resultiert, den Begriff nennt und durch Allgemeinheit, Besonderheit und Einzelheit charakterisiert sieht.
4. Artikulation und Einheit des Begriffs Um vom Werden des Begriffs zu seinen Momenten zu kommen, müssen wir uns zunächst klarmachen, daß jenes Werden, wie Hegel zu Beginn seiner Darstellung des allgemeinen Begriffs feststellt, „die Bedeutung des Gegenstoßes seiner selbst [hat], so daß das Gewordene vielmehr das Unbedingte und Ursprüngliche ist“ (WdL 1816, 33). Hegel sagt nicht, Sein und Wesen seien für uns früher als der Begriff, aber an sich sei der Begriff das Frühere; es geht nicht um die Differenz zwischen dem, was für uns, und dem, was an und für sich der Fall ist, sondern nur um letzteres. Nicht nur wir in unserer äußeren Reflexion, sondern auch der Begriff selber kommt aus dem Sein und dem Wesen zu sich als dem Unbedingten und Ursprünglichen. Er hat eine intern teleologische Verfassung; er ist von seinen Derivaten her. Aus ihnen kommt er auf sich zu als auf ihren Ursprung. Dieser bemerkenswerte Sachverhalt wird ihm seine interne Artikulation und seinen Status sichern müssen, das Prinzip seiner Artikulation und selbstbestimmend zu sein. Ich folge weiter Hegels Ausführungen vom Beginn des ersten Unterabschnitts – A. Der allgemeine Begriff – des ersten Kapitels der Begriffslogik: „Das Sein ist in seinem Übergang zum Wesen zu einem Schein oder Gesetztsein und das Werden oder das Übergehen in Anderes zu einem Setzen geworden, und umgekehrt hat das Setzen oder die Reflexion des Wesens sich aufgehoben und sich zu einem Nichtgesetzten, einem ursprünglichen Sein hergestellt.“ (Ebd.)
Damit sind die beiden Übergänge, vom Sein zum Wesen und vom Wesen zum Begriff, angesprochen. Der erste führt vom Sein zum Gesetztsein und der zweite vom Setzen zurück zur Wiederherstellung des Seins. Achten wir zunächst auf den ersten. Von der Sphäre des Seins ist am Ende der Seinslogik nur noch der ewige Widerspruch der Negation-ihrer-selbst übriggeblieben, der sich nicht mehr durch die Annahme eines seinsinternen Übergangs zu einem Nachfolgersachverhalt beheben läßt. Der Wahrheitsanspruch des reinen Denkens muß vielmehr preisgegeben werden: In der abschließenden Negationihrer-selbst erfaßt es kein Sein mehr, sondern kreist leer in sich, tritt sich selbst in den Weg und versperrt sich den Zugang zu dem, was der Fall ist. Dies ist die leere Immanenz des absoluten Scheins, dem alles Wahre transzendent bleibt. Mit ihm setzt die Wesenslogik neu ein, trotz allem opti-
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mistisch. Denn verborgen hinter dem Schein oder in ihn eingehüllt muß als sein lichtscheues Prinzip die noch unverstandene, weiterführende Negation der ganzen Sphäre des Seins angenommen werden. Hegel nennt sie das Wesen – in Übereinstimmung mit unserem üblichen Sprachgebrauch, in dem wir Wesen dasjenige nennen, was sich hinter den äußeren Phänomenen als ihr inneres Prinzip verbirgt. Dorthin freilich vermag das reine Denken nicht durchzudringen, sondern bleibt von seinem intendierten Gegenstand getrennt, auf der Seite des Scheins bzw. dann der Erscheinung und schließlich einer Wirklichkeit, die immer noch dunkle Flecken blinder Notwendigkeit in sich birgt. In der Sphäre des Wesens ist das reine Denken insofern nicht mehr unmittelbares Erfassen seines jeweiligen Gegenstandes, sondern Reflexion in Beziehung auf diesen. In dieser Reflexion wird das Wesen vom Denken postuliert, gesetzt, aber gesetzt als nicht gesetzt, d.h. vorausgesetzt, und zwar notwendigerweise vorausgesetzt als das, was seinerseits den Schein setzt, auf dessen Seite unser Denken und Erkennen reflexiv in sich kreist. Selbst noch am Ende der Wesenslogik, als die Substanz und die Ursache, bleibt das Wesen verborgen, ein Lichtscheues. Nicht von ungefähr gelang es (einerseits) Hume zu zeigen, daß sich die Begriffe der Substanz und der Ursache nicht aus dem herleiten und rechtfertigen lassen, was wir wahrnehmen, und (andererseits) Kant, sie gleichwohl zu rechtfertigen, indem er nachwies, daß das Reale eine kategoriale Struktur besitzt, die wir, weil sie nicht wahrnehmbar ist, in diskursiver Spontaneität in es hineinprojizieren müssen, aber als etwas, das dem Realen unabhängig von unserer Projektion schon zukommt. Betrachten wir nun den zweiten Übergang, vom Wesen zum Begriff. In ihm hat sich, wie zuvor zitiert, „das Setzen oder die Reflexion des Wesens […] aufgehoben und sich zu einem Nichtgesetzten, einem ursprünglichen Sein hergestellt“. Das Denken ist wieder bei seinem Gegenstand und eins mit ihm. Aber diese Unmittelbarkeit im Verhältnis von Denken und Sein ist wiederhergestellt als vermittelte Unmittelbarkeit und Resultat des Selbstbezugs und der Selbstaufhebung der Verneinung. Daher ist nun das Innere und Wesentliche auf der einen und das Äußere und Phänomenale auf der anderen Seite oder ist das An-und-für-sich-Sein und das Gesetztsein ein und dasselbe; und so ist der Begriff die Manifestation seiner selbst. Dies galt dem Werden des Begriffs. Mit Blick auf den Gegenstoß im Werden fährt Hegel fort: „Der Begriff ist die Durchdringung dieser Momente, daß [erstens] das Qualitative und ursprünglich Seiende nur als Setzen und nur als Rückkehr-in-sich ist und [zweitens] diese reine
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Reflexion-in-sich das Anderswerden oder die Bestimmtheit ist, welche ebenso daher unendliche, sich auf sich beziehende Bestimmtheit ist.“ (Ebd.)
Das erste Moment ist die Bewegung vom qualitativen Sein zum Setzen und vom Setzen zur Rückkehr-in-sich, also die Herbewegung des Begriffes zu sich aus dem Sein und dem Wesen. Das zweite Moment ist die Hinbewegung des Begriffes von sich als der transparenten Reflexion-insich zu seinen Derivaten, zunächst aber erstens zum Anderswerden oder der Bestimmtheit, wobei diese zugleich zweitens als unendliche, selbstbezügliche Bestimmtheit verstanden werden muß. In diesen Stationen erkennen wir zunächst die Allgemeinheit als den Ausgangspunkt der Hinbewegung in der transparenten Reflexion-in-sich des Begriffes, sodann die Besonderheit im Anderswerden oder der Bestimmtheit und schließlich die Einzelheit im unendlichen Selbstbezug der Bestimmtheit. Der Begriff ist nun gar nichts anderes als die Durchdringung dieser gegenläufigen Bewegungen, der Herbewegung vom Sein über das Wesen zur absoluten Operationalität und der Hinbewegung von dieser als dem Allgemeinen über das Besondere zum Einzelnen. Doch diese Beschreibung der Hinbewegung ist zunächst noch thetisch. Immerhin wissen wir am Ende der Herbewegung, d.h. am Ende der objektiven Logik, daß eine gegenläufige Hinbewegung immer schon stattgefunden haben muß. Wir müssen nun zeigen, 1) daß am Zielpunkt der Herbewegung das Allgemeine entsteht als der Ausgangspunkt der Hinbewegung, 2) daß die Hinbewegung vom Allgemeinen zu dessen Anderswerden oder Bestimmtheit führt, die im Kontext der Allgemeinheit als Besonderheit zu fassen ist, 3) daß der Zielpunkt der Hinbewegung die selbstbezügliche Bestimmtheit ist, die im Kontext der Allgemeinheit und Besonderheit als Einzelheit zu fassen ist, und 4) daß mit dem Zielpunkt in gewisser Hinsicht der Ausgangspunkt der Herbewegung, nämlich das unmittelbare Sein erreicht ist. Ad 1). Allgemeinheit. Am Ende der objektiven Logik erkennen wir, daß die in ihr dargestellte Herbewegung sich in die absolute Operationalität versammelt hat, um als Hinbewegung erneut daraus hervorzugehen. Dies ist die Magie des Anfangs der Begriffslogik. Hier, am Wendepunkt der Bewegungen, finden wir die konkrete Allgemeinheit des Begriffs. Das Sein und seine Kategorien, das Wesen und seine Bestimmungen sind in Transparenz aufgelöst und zugleich schon in abstracto als deren Derivate erkannt, müssen also wieder in concreto aus ihr hervorgehen können. Aber am Wendepunkt selbst haben wir zunächst nur den reinen Begriff, nur die reine Beziehung auf sich, d.h. die absolute Operationalität. Und so kann Hegel sagen: „Diese reine Beziehung des Begriffs auf sich, welche dadurch diese Beziehung ist, als durch die Negativität sich setzend, ist die Allgemeinheit des Begriffs.“ (Ebd.)
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Ad 2). Besonderheit. Wir wissen in abstracto, daß der allgemeine Begriff die Quelle begrifflicher Bestimmungen ist und daß er es ist kraft seines operationalen Charakters, seiner Negativität. In Hegels Worten: „Der Begriff ist […] so die absolute Identität mit sich [d.h. das Aufgehobensein des Unterschiedes, der nur in dieser Aufhebung vorkommt], daß sie dies nur ist als die Negation der Negation [d.h. als die Negation der Negation des Seins] oder als die unendliche Einheit der Negativität mit sich selbst [d.h. als absolute Operationalität].“ (Ebd.)
Jeder Auftritt der Negation erzeugt Bestimmtheit. Tritt sie als unendliche negative Einheit mit sich auf, so wird sie demnach unendliche Bestimmtheit und reine Selbstbestimmung erzeugen. Die erste oder einfache Bestimmtheit heißt in der Sphäre des Begriffs die Besonderheit; die zweite oder unendliche Bestimmtheit heißt Einzelheit. Doch das sind vorerst nur Namen. Fragen wir zunächst nach dem Profil der Besonderheit. Das erste Kapitel der Begriffslogik hat die Unterabschnitte: „A. Der allgemeine Begriff. B. Der besondere Begriff. C. Das Einzelne“. Doch das Besondere wird im Abschnitt über den allgemeinen Begriff schon vorbesprochen, und zwar mit folgender Begründung: „Insofern [das Allgemeine] die Bestimmtheit in sich hat, ist sie nicht nur die erste Negation, sondern auch die Reflexion derselben in sich. Mit jener ersten Negation für sich genommen ist es Besonderes, wie es sogleich [in Unterabschnitt B] wird betrachtet werden; aber es ist in dieser Bestimmtheit wesentlich noch Allgemeines; diese Seite muß hier [im ersten Unterabschnitt, d.h. unter der Überschrift „Der allgemeine Begriff“] noch aufgefaßt werden.“ (WdL 1816, 36)
Auch das Besondere also ist noch allgemein und gehört insofern in den Unterabschnitt über die Allgemeinheit. Es ist allgemein, weil zu den Konditionen des Begriffs selbst die einfache Bestimmtheit und die erste Negation schon in sich reflektiert sind. Die Besonderheit kann also gefaßt werden als die in sich reflektierte Bestimmtheit des Begriffs. Als in sich reflektiert ist sie absolute Operationalität und allgemein. Als reflexiv zugespitzte Bestimmtheit ist sie dem Eins des Fürsichseins verwandt, aber hier, in der Sphäre des Begriffs, nicht Eins, sondern Einzelnes. So fehlt denn der Besonderheit nichts von dem, was der Allgemeinheit oder der Einzelheit zukommt – und jeweils auch umgekehrt, und nur deswegen kann jedes der drei Begriffsmomente auch selbständig als der ganze Begriff auftreten. Aus jedem Begriffsmoment läßt sich jedes andere ohne weiteres herleiten; wer eines von ihnen kennt, kennt sie alle, wie man auch eine bestimmte Schachfigur nicht kennen kann, ohne alle Figuren zu kennen. Insbesondere gilt für das Verhältnis des Allgemeinen und des Besonderen folgendes. Der allgemeine Begriff bestimmt sich, indem er sich in seinem Doppelschein zu einer elementaren dihairetischen Baumstruktur erweitert: Er räumt neben sich seinem Anderen, also dem Besonderen, und damit zugleich über sich (und dem Besonderen) einem höheren Allgemeinen, das
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wiederum er selbst ist, einen Platz ein. In diesem Dreiecksverhältnis ist das Allgemeine, nämlich das höhere, die Gattung, und sind das Allgemeine, nämlich das niedere, und das Besondere die Arten: das allgemeine Allgemeine und das besondere Allgemeine. Auch das Besondere ist ja, wie gesagt, allgemein und insofern tatsächlich am Platz als eine Art der Gattung Allgemeines. – Nun vollziehen wir einen Übergang in der Akzentuierung von der Seite des Allgemeinen nach der des Besonderen. Beide Arten der Gattung sind als Arten Besondere, also das besondere Besondere und das allgemeine Besondere, und tatsächlich hat sich ja das Allgemeine besondert, als es dem Besonderen neben sich Platz machte. Die Gattung der beiden Besonderen ist dann aber das generische Besondere. Nun haben wir ein neues, doch dem vorigen äquivalentes Dreiecksverhältnis: die Gattung Besonderes und ihre beiden Arten, das Besondere und das – ebenfalls besondere – Allgemeine. So durchdringen sich Allgemeinheit und Besonderheit ohne Rest. Ad 3). Einzelheit. Das Allgemeine ist gleichursprünglich Besonderes und Einzelnes. Denn die Einzelheit ist, in Hegels Worten, „schon durch die Besonderheit gesetzt; diese [die Besonderheit] ist die bestimmte Allgemeinheit, also die sich [qua Allgemeinheit] auf sich beziehende Bestimmtheit, das bestimmte Bestimmte.“ (WdL 1816, 53)
Zunächst sei kurz an die seinslogischen Ursprünge der Bestimmtheit erinnert: Der negierende Nachfolger wird vom negierten Vorgänger bestimmt, so das siegreiche Dasein vom unterlegenen Werden. Sofern aber beide Seiten einmal nebeneinander bestehen im geteilten logischen Raum, negieren und bestimmen sie sich wechselseitig und in einem Zug, so das Etwas und das Andere. In seiner Bestimmtheit trägt das Etwas dann fremden Einfluß und Gezeichnetsein durch Anderes als seine Qualität in sich. Diese Fremdbestimmtheit reicht als Bestimmung sogar bis in das Ansichsein des Etwas und macht es zu einem Endlichen. Im Begriff aber sind alle opaken und unmittelbaren Reste und mit ihnen alle Fremdbestimmung und Endlichkeit getilgt: „Der reine Begriff ist das absolut Unendliche, Unbedingte und Freie.“ (WdL 1816, 33) Nun ist, wie Hegel sagt, die Einzelheit schon durch die Besonderheit gesetzt. Solange wir nur das reine Allgemeine für sich betrachten, stellt sich die Frage der Einzelheit nicht, obwohl auch das Allgemeine schon als solches in sich reflektiert und selbstbezügliche Negativität ist. Sobald jedoch das Besondere neben das Allgemeine tritt, zählt das In-sich-Reflektiertsein beider ipso facto als Einzelheit. Das Allgemeine und das Besondere greifen nicht negierend und bestimmend eins ins andere ein, sondern leisten, was vom jeweils anderen zu gewärtigen wäre, jeweils schon für sich und sind als Einzelne gefeit gegen den zerstörerischen Einfluß von außen. So kehrt das Allgemeine aus seiner Besonderung als Einzelnes in
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sich zurück und erhält sich durch die Besonderung hindurch als der ganze Begriff. Die Einzelheit ist insofern die Rückkehr des Begriffes in sich selbst aus der Besonderung. Ad 4). Unmittelbares Sein. Doch dieser erfreuliche Sachverhalt ist nicht die ganze Wahrheit über die Einzelheit (sonst wäre, weniger erfreulich, die Begriffslogik kürzer als ihr erstes Kapitel). Vielmehr fügt Hegel einen neuen Gedanken an, mit dem die Entwicklung des Begriffs zu der Idee anhebt: „Die Einzelheit ist aber nicht nur die Rückkehr des Begriffes in sich selbst, sondern unmittelbar sein Verlust. Durch die Einzelheit, wie er darin in sich ist, wird er außer sich und tritt in Wirklichkeit.“ (WdL 1816, 56)
In seiner Rückkehr findet sich der Begriff nicht nur wieder, sondern verliert sich auch und tritt in Wirklichkeit. Dies läuft auf seine Teilung in sich als wiedergefundenen und sich als verlorenen hinaus. Als wiedergefundener bleibt er Allgemeines; als verlorener ist er Fürsichseiendes oder Eins und auch dessen erscheinungslogisches Pendant, das Diese. Aber er ist Eins und Dieses ohne deren jeweilige Außenbezüge, d.h. ohne Repulsion zu vielen Eins und ohne äußeres „Monstrieren“, wodurch ein Seiendes sonst zum Dieses wird. In der skizzierten Teilung des Begriffs hat sich die „Beziehung seiner selbständigen Bestimmungen […] verloren“ (WdL 1816, 57). Außerhalb dieser Beziehung aber sind das Einzelne und das Allgemeine nicht mehr jeweils der ganze Begriff, sondern fixe Termini des Urteils, die durch die Kopula verbunden werden. Wenn wir nun in Gedanken die Kopula des Urteils von ihrer Vermittlerrolle zwischen einzelnem Subjekt und allgemeinem Prädikat isolieren und rein für sich betrachten, so ist sie das unmittelbare Sein des logischen Anfangs. Damit hätten wir also in der Hinbewegung des Begriffs vom Allgemeinen über das Besondere zum Einzelnen nunmehr den Ausgangspunkt für die objektlogische Herbewegung gefunden. Aber dieser Ausgangspunkt liegt in der Begriffslogik brach, was kein Schaden ist, da er in der objektiven Logik schon zu seinem Recht kam. In der Begriffslogik wird vielmehr von der Vermittlerrolle der Kopula gerade nicht abstrahiert und die durch sie geknüpfte Beziehung des Einzelnen und Allgemeinen im Urteil zum Ausgangspunkt der logischen Entwicklung gemacht. Zum Schluß komme ich noch einmal auf die Beziehung der selbständigen Bestimmungen des Begriffs zurück. Was verhindert den Kollaps dieser Beziehung in abstrakte Identität? Hegel sieht die Sache offenbar so. Anders als in der Seins- und Wesenslogik sind die Übergänge zwischen Begriffsbestimmungen frei: Man kann, muß sie aber nicht vollziehen, und man läßt, wenn man sie vollzieht, keine verbrannte Erde hinter sich zurück. In den seinslogischen Übergängen wird eine Kategorie durch ihren Nachfolger vernichtet, und wenn man dabei im Kreise geht, etwa von der
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Qualität zur Quantität und wieder zurück zur Qualität, so resultiert am Ende – in der absoluten Indifferenz des Maßes – die allseitige, totale Vernichtung. In der Wesenslogik scheinen die Bestimmungen ineinander. So hat sich die absolute Identität den Unterschied und der absolute Unterschied die Identität integriert – und zugleich unterworfen. Jede der beiden Bestimmungen tritt mit dem totalitären Anspruch auf, das ganze Wesen zu sein. Dieses wird dadurch zu einem Kippbild, das zwischen zwei konkurrierenden totalitären Ansichten seiner schwankt. Erst im Begriff haben wir stabile Denkbestimmungen, deren eine in der anderen bei sich und deren jede in sich reflektiert ist. So ist an die Stelle zerstörerischen Übergehens und repressiven Ineinander-Scheinens das getreten, was Hegel „die freie Macht“ und „auch die freie Liebe und schrankenlose Seligkeit“ nennt: „ein Verhalten seiner zu dem Unterschiedenen nur als zu sich selbst“ (WdL 1816, 35f.). Von außen betrachtet mögen die Begriffsbestimmungen als wechselseitig bzw. holistisch definiert erscheinen wie die Schachfiguren, denen nur ihre Verkörperungen in Holz oder Kunststoff eine Art Selbständigkeit verleihen. Die Begriffsbestimmungen hingegen sind selbständig von Hause aus und ohne äußeren Zusatz. Jede ist wie der Begriff als solcher generativ bezüglich des eigenen Gehaltes. Daß sie außerdem zwanglos ineinandergreifen wie die Schachfiguren, tut dem keinen Abbruch; sie sind auf diese Weise in ihrem Anderen jeweils ganz bei sich.
Teil II: Einheit und Vielheit über Hegel hinaus Die Frage nach der Inkarnation des Begriffs wurde oben beiseite gesetzt. Da Hegel den Begriff nicht exklusiv in einem ausgezeichneten, sondern inklusiv in allen Menschen verkörpert sieht, läßt sich diese Problematik mit der des Übergangs von der Logik zur Realphilosophie als dem systematischen Ort der Schöpfung verbinden und außerdem auf einige Themen beziehen, die während der Tagung zur Sprache kamen. Der Begriff entwickelt sich ausgehend von seinem Selbstverlust im Urteil hin zum Schluß als seiner zunächst subjektiven Wiedergewinnung und weiter über die innerlogische Vorwegnahme der Natur im Abschnitt „Objektivität“ bis zu der Idee als der Übereinstimmung seiner mit der Realität, zuletzt schließlich zur absoluten Idee, in welcher der ganze Gang der Logik als die – erst am Ende profiliert hervortretende – logische Methode inbegriffen ist. Nicht die Knospe, die Blüte oder Frucht ist nach einer vielzitierten Hegelschen Bemerkung in der Vorrede zum System (de facto zur Phänomenologie des Geistes) die Wahrheit über die Pflanze, sondern der ganze pflanzliche Prozeß. Für den logischen Prozeß gilt erfreulicherweise,
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daß er sich an seinem Ende noch einmal eigens in der absoluten Idee zur Methode verdichtet, so daß die Idee für den ganzen logischen Prozeß und seine Wahrheit einstehen kann. Der als Idee in seine Vollendung gekommene logische Prozeß nimmt sich nun frei „in die Unmittelbarkeit des Seins“ zusammen und ist „als die Totalität in dieser Form – Natur“ (WdL 1816, 305). Das ist der Übergang zur Realphilosophie, in dem das Grundereignis konzipiert wird, das in der Theologie als Schöpfung firmiert. Ein Übergang ist dies freilich nur in einem losen Sinn; denn „in dieser Freiheit findet […] kein [eigentlicher, qualitativer, zerstörerischer] Übergang statt; das einfache Sein, zu dem sich die Idee bestimmt, bleibt ihr vollkommen durchsichtig und ist der in seiner Bestimmung bei sich selbst bleibende Begriff. Das Übergehen ist also hier vielmehr so zu fassen, daß die Idee sich selbst frei entläßt, ihrer absolut sicher und in sich ruhend. Um dieser Freiheit willen ist die Form ihrer Bestimmtheit ebenso schlechthin frei – die absolut für sich selbst ohne Subjektivität seiende Äußerlichkeit des Raums und der Zeit.“ (Ebd. 305f.)
Das sind starke Worte, die reichlich Stoff zu erläuternden Bemerkungen und kritischen Nachfragen bieten. Ich nenne für die folgende Behandlung drei Punkte. Die Idee bestimmt sich 1) frei zur Natur und ist in dieser 2) „ihrer selbst absolut sicher und in sich ruhend“ und die Natur „vollkommen durchsichtig“ für sie; dennoch ist 3) die Form der Bestimmtheit der Natur nicht von (endlicher) Subjektivität gezeichnet, sondern auf ihre naturgemäße Weise ebenfalls frei, nämlich „die absolut für sich selbst […] seiende Äußerlichkeit des Raumes und der Zeit“. Ad 1). Freiheit. Gott schafft aus Freiheit, d.h. mit moralischer, nicht mit metaphysischer Notwendigkeit. Dieses klassische Theorem findet sich mutatis mutandis auch bei Hegel. Die metaphysische Notwendigkeit gehört wie der Zufall noch der Sphäre des Wesens an, ist so blind – unableitbar und undurchsichtig – wie dieser und enthält ihn sogar in sich als dunklen Rest. (Im Fall der Naturnotwendigkeit, die wir jeweils a posteriori als factum brutum erkennen, ist das ganz offensichtlich; aber auch die metaphysische und sogar die im engen Sinn logische, aussagen- und prädikatenlogische, Notwendigkeit hat, wenn Quines Kritik der Modalitäten zutrifft, noch etwas Faktisches.) Mit dem Übergang vom Wesen zum Begriff wird die dunkle Notwendigkeit zur durchsichtigen Freiheit verklärt, die nicht das Andere der Notwendigkeit, sondern eben diese selbst als restlos mit sich vermittelte und in sich transparente ist. (Es liegt insofern nahe, insbesondere vor Kantischem Hintergrund, die Freiheit als moralische, in sich vernünftige und aufgeklärte Notwendigkeit zu fassen.) Aber nicht nur die Idee entläßt sich frei und wird Natur, sondern aus der Natur und in der Form ihrer Bestimmtheit, Raum und Zeit, entstehen freie Individuen, in denen
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die Idee schließlich als absoluter Geist zu sich zurückkehrt. In theologischer Übersetzung: Gott schafft in Freiheit freie Wesen seinesgleichen. Ad 2). Transparenz und Heilsgewißheit. Während in einer heterodoxen theologischen Schöpfungslehre (wie sie in der Diskussion einmal anklang) behauptet werden könnte, Gott schaffe nicht „monokausal“ Wesen, die seiner Allmacht gänzlich preisgegeben wären, sondern neidlos nach seinem Bilde Freie, in deren unforcierter Liebe er sich zu genießen hoffe, und lasse sich damit auf das Wagnis eines kausalen Pluralismus ein, der den als Heilsgeschichte intendierten Weltprozeß dann ergebnisoffen gestalte und ins kosmische Unheil ausschlagen könne, bleibt die Hegelsche Idee – in der Natur und in den freien Individuen – „ihrer selbst absolut sicher und in sich ruhend“. Der Weltprozeß ist in allem, worauf es ankommt, nicht ergebnisoffen, sondern in Freiheit festgelegt darauf, daß „die ewige an und für sich seiende Idee sich ewig als absoluter Geist betätigt, erzeugt und genießt“ (so die Schlußworte der Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften, § 577). Zwar behält bei alledem die Kontingenz ihr Recht, wie auch alle anderen im Gang der Logik abgelegten Vorstadien des Begriffs in der Äußerlichkeit von Raum und Zeit wieder auferstehen und faktische Nachhaltigkeit gewinnen und jeweils zwar logisch, nicht aber zeitlich überwunden sind; aber alles Kontingente und Undurchsichtige ist doch eingehegt in der und eingebettet in die Heilsgeschichte der transparenten Idee. Diese bleibt unbeschadet der logisch genehmigten Rolle des Zufalls sich ihrer „absolut sicher“ und die Natur wie dann erst recht das Geistige „ihr vollkommen durchsichtig“. Natürliche und moralische Katastrophen kommen vor und Individuen gehen in ihnen schmählich zugrunde; doch könnten sie sich damit trösten, daß langfristig aus den Kontingenzen ihrer schlimmen Schicksale das weltgeschichtlich Notwendige und Gute hervorgeht – wenn das denn ein Trost wäre. Hier wird die Inkarnationsproblematik relevant. Das Individuum in seiner Einzelheit ist jeweils auch der ganze Begriff; aber dessen Inkarnation vollzieht sich in der äußeren Stellenmannigfaltigkeit von Raum und Zeit, in der unbestimmt viele identische Exemplare seiner auftreten können. Anders als die Begriffsmomente des Allgemeinen, Besonderen und Einzelnen sind bzw. haben die individuellen Persönlichkeiten keine unterschiedenen Bestimmungen gegeneinander. Der realphilosophische Sachverhalt der Inkarnation kann folglich nicht nach dem innerlogischen Sachverhalt der Trinität modelliert werden. Verschieden sind die Individuen nur durch ihre unbestimmt vielen kontingenten Eigenheiten, darunter ihre Positionen in Raum und Zeit, und diese beiden Seiten, daß sie identische Einzelfälle des Begriffs sind und daß sie kontingente und insbesondere positionale Eigenheiten haben, kommen nicht in gediegene Einheit zusammen. So ist schwer abzusehen, wie das Hegelsche System der individuellen Persön-
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lichkeit eine Würde angedeihen lassen könnte, die über die allgemeine Würde eines Falles des Begriffs hinausginge. Als Fälle des Begriffs sind die Individuen transparent füreinander: eines, was das andere ist, und dabei schon rein als solche, nicht erst dank ihren Kontingenzen und Dunkelheiten, jeweils in sich reflektiert. Kontingent sind unter anderem das jeweilige Leid und der jeweilige Tod des Individuums, ihm wesentlich als einem inkarnierten Einzelnen höchstens Leid und Tod als solche. In der Frage, wie auf dieser Grundlage der Weltprozeß zu begreifen und moralisch zu bewerten sei, bleibt sicher viel Raum für alternative Ausarbeitungen von Hegels Ansatz und alternative Deutungen seines Wortlauts. Aber wie ein Individuum im Untergang Trost soll finden können – etwa aus dem Gedanken an den fortdauernden Selbstgenuß der ewigen Idee? –, wird nicht leicht zu sagen sein. Auf „Dieter Henrichs Weg zu einer Metaphysik bewußten Lebens“ aus „der Logik der Subjektivität zur All-Einheit“ hat Klaus Müller dargelegt, daß die Subjektivität unbeschadet ihres evidenten Maßes an Selbsttransparenz einen Grund außerhalb ihrer habe und anerkennen müsse, dessen Verfassung ihr aber epistemisch unzugänglich und dunkel bleibe und Gegenstand nur von Hypothesen sein könne, die wie die Kantischen Postulate der reinen praktischen Vernunft zwar vollkommen vernünftig, aber grundsätzlich nicht verifizierbar, sondern als Hypothesen unhintergehbar seien. In der Diskussion über seinen Vortrag wurde daran erinnert, daß schon Schelling unter Verweis auf einen unvordenklichen Grund des Bewußtseins Hegels Lehre von der Selbsttransparenz des Begriffs, der Idee, des Geistes kritisiert und zurückgewiesen habe. Daher wird man vielleicht sagen dürfen, daß Henrich und Müller einer Schellingschen Problemdiagnose eine in der Methode Kantische Kur folgen lassen, die ihrem Inhalt nach allerdings eine All-Einheitslehre und insofern weniger Kantisch als Spinozanisch ist. Vertreten würde von ihnen demnach eine Theorie des All-Einen als des epistemisch unzugänglichen Grundes der Subjektivität im Modus einer vernünftigen Postulatenlehre – eine monumentale und verlockende Theoriemöglichkeit. Ich werde unten selber für eine All-Einheitslehre plädieren, die eine (an einer Stelle abgeschwächte, an einer anderen verstärkte) Variante der skizzierten ist. Was aber zunächst Schellings Hegelkritik angeht, so ist ein argumentatives Patt zu konstatieren, das sich im Rahmen einer Metaphysik, die wie die Hegelsche als theoretische Wissenschaft auftritt, nicht brechen läßt. Dies bedarf der näheren Ausführung. Theoretische Wissenschaft ist standpunktneutral, in der Formulierung ihrer Theoreme spielen indexikalische Ausdrucksmittel daher keine inferentielle Rolle. Dies gilt ersichtlich für die Mathematik, eine – wenn nicht die mustergültige – theoretische Wissenschaft a priori; ihre Sprache kennt
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keine Indikatoren, und das Tempus Präsens, in dem ihre Lehrsätze umgangssprachlich formuliert werden, liegt logisch brach; es werden keine Schlußfolgerungen daraus gezogen. Die Physik ist eine theoretische Wissenschaft a posteriori; bei der Formulierung ihrer Theoreme kommt sie mit wenigen implizit durch die Grundgleichungen definierten Grundbegriffen und im übrigen mit mathematischen Ausdrucksmitteln aus, und ihre Belege sucht sie nicht in reichhaltiger Erfahrung, sondern in standpunktneutral beschreibbaren und beliebig wiederholbaren Experimenten, und räumt so der Wissenssicherung Vorrang vor dem Erkenntniszuwachs ein. Die Metaphysik ist ihrem Anspruch nach eine theoretische Wissenschaft a priori wie die Mathematik, aber anders als diese (und die Physik) keine „reife“, sondern eine „vorparadigmatische“ Wissenschaft im Kuhnschen Sinne dieser Termini, also kein Unternehmen, in dem Phasen „normaler“ Wissenschaft und des Rätsellösens sich mit Grundlagenkrisen und Revolutionen abwechseln, in denen jeweils neue gegen alte Paradigmen durchgesetzt werden. Sie ist vielmehr ihre auf Dauer gestellte Grundlagenkrise; der Schein von Normalität und einvernehmlichem Rätsellösen kann sich in ihr nur dank kontingenten Schulbildungen und Professionalisierungen und unter deren je verengten Blickwinkeln einstellen, d.h. nur in der Gestalt der Scholastik. Historische und hermeneutische Wissenschaften andererseits sind nicht theoretisch im umrissenen Sinn, also nicht standpunktneutral, nicht experimentell, nicht spröde gegen indexikalische Ausdrucksmittel. Aber auch sie sind Wissenschaften im Sinne kunstgerecht geregelter und methodisch kontrollierter Erweiterungen oder Vertiefungen des allgemeinen Spiels des Gebens und Forderns von Gründen. Die Geschichtsschreibung ist eine nichttheoretische Wissenschaft a posteriori, die sich indexikalischer Ausdrucksmittel bedient und ihre Belege nicht aus Experimenten, sondern aus Quellen schöpft, und Heideggers phänomenologische Hermeneutik oder hermeneutische Phänomenologie in Sein und Zeit eine nichttheoretische Wissenschaft a priori, die indexikalisches Denken nicht nur thematisiert, als Jemeinigkeit, sondern sich auch wesentlich von einem Standpunkt unhintergehbarer Jemeinigkeit aus zu Gehör zu bringen sucht. Nun zum Patt zwischen Schelling und Hegel in der Metaphysik als theoretischer Wissenschaft. Hegel kann geltend machen, daß alle begrifflichen und argumentativen Ressourcen, die für eine Grundsatzkritik nach Art Schellings zur Verfügung stehen, in der Wissenschaft der Logik ihren Ort und eine jeweilige Überbietung im Fortgang des zum Begriff und weiter zur absoluten Idee führenden Gedankens haben. Insbesondere wird er ein Verharren Schellings in wesenslogischen Denkfiguren diagnostizieren, denen zufolge das Denken leer in sich selbst gespiegelt auf der einen und das substantielle Wesen epistemisch unerreichbar auf der anderen Seite
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steht. Ein leeres Denken dieser Art kann sich, darin stimmt Hegel zu, einen dunklen Grund im Wesen nur voraussetzen, etwa im Geist einer Kantischen Postulatenlehre, und sich dann nie mit ihm zusammenschließen, ihn nie erkennen. Es und sein unerreichbarer Gegenstand und Grund sind, wenn man dem Gang der Wesenslogik folgt, aber nichts Letztes; vielmehr zeigt der Übergang zum Begriff, daß sich der Gegenstand manifestiert und sich ipso facto mit dem Denken in vollkommener Transparenz vermittelt. Schelling kann replizieren, daß der Übergang zur Realphilosophie kein Analogon der Schöpfung, sondern ein logikimmanenter Zug wäre, wenn die Idee in ihrer freien Selbstentlassung sich nicht einer Alterität öffnete und aussetzte, die tiefer reicht als das innerlogische Anderssein, das theoretisch domestiziert und nie Alterität im strengen Sinn, sondern stets mit Rückholgarantien verbunden ist. Einmal aber müssen die logischen Trokkenübungen ein Ende nehmen und muß das beginnen, wofür sie Vorübungen waren. Dann jedoch ist alles ganz anders, und man wird am Aufkommen radikaler Andersheit erkennen, daß die Sphäre logischer Exerzitien tatsächlich zurückgelassen wurde. Die Hegelsche Duplik wird darauf abstellen, daß keine Alterität so radikal gedacht werden kann, daß sie nicht mehr unter das innerlogische Anderssein subsumierbar wäre, und dagegen wird man im Sinne Schellings wiederum auf das grundsätzlich Außerlogische des Realen in Raum und Zeit verweisen können, etwa unter Berufung auf Platon, dessen Timaios im gleichnamigen Dialog das durch Vernunft (nous) Hervorgebrachte von dem durch blinde Notwendigkeit Entstehenden unterscheidet und davon spricht, daß die Vernunft über die Notwendigkeit durch Überreden (peithein) herrscht (47e–48a) und daß es neben dem seienden Ideenkosmos und dem werdenden sichtbaren Kosmos noch ein Worin (en hôi) für das ideengezeugte Werdende gibt, in dem bzw. aus dem es geboren wird (50d). Wie soll ein Philosoph in welcher transzendentalen oder wie auch immer zu nennenden Deduktion je der Vernunft einen Rechtstitel für den Bereich jenes Worin, der chôra, gegen die blinde Notwendigkeit sichern können? Es bleibt hier nichts als vernünftige Überredung, vernünftiger Glaube, Hypothesen und Postulate der reinen Vernunft – und die Hoffnung, daß sich das Andere der Vernunft der Überredung immer schon ergeben haben möge. Doch vielleicht hapert es mit der Ergebung. Das ist der Grundsatzverdacht, unter dem die Logik und die Theorie der Identität, namentlich das Tertium non datur und der Satz des Nichtwiderspruchs, „p ~p“ und „~(p ~p)“, sowie das identitätstheoretische Axiom „x=x“ und das Axiomenschema „~(x=y Fx ~Fy)“, seit alters stehen. Sind dies am Ende nur erhabene Macht- und Ansprüche der Vernunft, um deren Einlösung sie im Sumpf des Werdens und des Nichtidentischen mit vergebener Mühe ringt und weiß, daß es über ihre Kräfte geht?
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Ob Hegels Philosophie Mittel hat, diesem Verdacht und der ihm innewohnenden Tendenz zum Vernunftdefätismus wirksam zu begegnen, ist, wie gesagt, durch theoretische Wissenschaft nicht entscheidbar, denn der theoretischen Wissenschaft ist als blinder Fleck ein Präjudiz zugunsten der Vernunft eingebaut, im Falle der Hegelschen Logik sogar mit der zusätzlichen Beruhigung, hier werde die Macht des Widerspruchs und der Nichtidentität frank und frei anerkannt und zum Guten gewendet und werde gezeigt, daß auf den spekulativen Karfreitag ein spekulatives Ostern folgt. Aber das philosophische Denken muß über die theoretische Wissenschaft und ihren argumentativen und doktrinalen Reichtum hinausgehen und die Subjektivität in Raum und Zeit auch eigens von deren endlichem Standpunkt aus betrachten. Die Endlichkeit darf nicht gleich zu Beginn, etwa mit dem Sein als der äußersten Schwundform des unendlichen Begriffs, übersprungen, sondern muß ausgehalten werden, bis sich das Unendliche, Unbedingte, All-Eine, in der Philosophie als Möglichkeit, in mystischem Erleben unter günstigen Umständen als wirklicher Vollzug der Einswerdung, zu erkennen gibt. Ad 3). Subjektivität in Raum und Zeit. Die „Form der Bestimmtheit“ der Natur ist nach Hegel nicht von (endlicher) Subjektivität geprägt, sondern „die absolut für sich selbst […] seiende Äußerlichkeit des Raumes und der Zeit“. Doch in Wahrheit ist diese Äußerlichkeit nie „für sich selbst“, sondern stets nur in Beziehung auf je mich als endliche, in ihr verkörperte Subjektivität; andernfalls wäre durch die schiere raumzeitliche Stellenmannigfaltigkeit das Prinzip der identitas indiscernibilium verletzt. Und umgekehrt ist Subjektivität nur als in Raum und Zeit verkörperte. Die Logik zehrt für ihre Gültigkeit demnach davon, daß unhintergehbar jemeinige Subjektivität in Raum und Zeit auftritt, die nicht als Einzelfall von Subjektivität überhaupt mißverstanden werden darf und deren unhintergehbarer Jemeinigkeit die radikale Alterität des je anderen Subjekts sowie überhaupt ein Mitsein der Subjekte entspricht, das nicht begriffslogisch – als synthetische Allgemeinheit je besonderer Einzelner – analysierbar ist. (Aus gut nachvollziehbarem, wenn auch nicht zwingendem Grund hat Heidegger die Rede von Subjektivität daher aufgegeben und sich mit dem Kunstwort „Dasein“ beholfen.) Diese Lehre habe ich unter der Bezeichnung „Subjektivitätsthese“ schon verschiedentlich im Druck vertreten.2 Ich lege sie im folgenden zugrunde. Man könnte sie formulieren als die Behauptung, daß zu jeder möglichen Welt Subjekte gehören und daß jedes mögliche Subjekt in einer Welt verkörpert ist; aber das wäre wieder von dem Standpunkt der Standpunktlosigkeit aus gesprochen, den die theoretische Wissenschaft einzunehmen 2
Vgl. z.B. A. F. Koch, Versuch über Wahrheit und Zeit, Paderborn 2006, Teil II, Kapitel 1.
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versucht. Auf dem Binnenstandpunkt hermeneutischer oder phänomenologischer Wissenschaft wird man statt dessen sagen müssen, daß es etwas wie Welt nur gibt und geben kann für je mich, ohne daß damit eine idealistische These aufgestellt werden soll. Auch je mich gibt es im Gegenzug ja nur als „geworfen“ in eine Welt, in der ich mich immer schon vorfinde. Heidegger hat diesen Standpunktwechsel von der Philosophie als theoretischer zur Philosophie als hermeneutischer Wissenschaft in Sein und Zeit vollzogen (und später sogar das wissenschaftliche Philosophieren als solches zugunsten eines alternativen – weder wissenschaftlichen noch dichterischen – Denkens sui generis hinter sich lassen wollen). Auf diesem neuen Standpunkt verbietet sich die Annahme, die individuellen Persönlichkeiten seien füreinander in der Weise transparent, daß in der Grundstellung – „default position“ – jeweils eine in der anderen bei sich sei oder zumindest sein könne. Vielmehr ist die Grundstellung durch radikale Alterität und Dunkelheit (der Subjekte füreinander) geprägt; nur im lichten logischen Überbau fingieren wir das Ideal der Transparenz, doch im wahren Leben ist das im Anderen endlich einmal zu sich Finden und bei sich Sein die ganz unwahrscheinliche Ausnahme: Ergebnis größter Anstrengung, glücklichsten Zufalls oder gnädigster Fügung. Auf dem neuen Standpunkt wird man den Entzug des Grundes nicht mehr wesenslogisch denken als die epistemische Unzugänglichkeit von einem an und für sich wohlbestimmten Seienden. Epistemologie und Ontologie, Entzug und Nichtsein, Unverborgenheit und Sein gehen vielmehr zu gleichen Paaren. Das Reale ist an ihm selber nicht so, daß es sich zur Gänze zeigen und fürs Erkennen transparent machen könnte, sondern ist physis, die sich nach einem bekannten Satz des Heraklit zu verbergen liebt, und zwar so, daß das jeweils an ihr Verborgene auch an und für sich verborgen – wie aus dem Sein gefallen – ist. Nichts Wohlbestimmtes an der Physis ist ganz transparent, nichts Wohlbestimmtes an ihr ganz undurchsichtig, sondern in allem ist die Physis jeweils sowohl transparent als auch opak, sowohl offenbar als auch verborgen in wechselnden Graden, und dies jeweils in untrennbarer Verschränkung von Transparenz und Verborgenheit. Das argumentative Patt ist nun zum Nachteil Hegels gebrochen, weil der Standpunkt der Kritik der einbettende, unhintergehbar jemeinige, der Hegelsche Standpunkt aber der eingebettete, kunstgerecht neutralisierte und abstraktiv ausgedünnte der theoretischen Wissenschaft ist. Hegel folgt, vereinfachend gesprochen, dem Parmenideischen Hauptstrom der westlichen Philosophie, und Heidegger bringt den Heraklitischen Nebenstrom wieder zum Vorschein, wenn auch, wie es zunächst aussehen mag, um den Preis der Unhintergehbarkeit des Standpunktes der Endlichkeit. Dieser Preis wäre, darin ist Hegel recht zu geben, allerdings zu hoch, denn daß
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„das Endliche absolut sei, solchen Standpunkt wird sich freilich irgendeine Philosophie oder Ansicht oder der Verstand nicht aufbürden lassen wollen“ (WdL 1832, 127). Es kommt also in der Philosophie darauf an, das Gerüst der Endlichkeit, in dem wir uns vorfinden, theoretisch zu durchdringen und auf mögliche Schlupflöcher hin abzuklopfen, durch die wir ins Freie entkommen können. Wenn wir aber ins Freie und ins Glück kommen, dann außerhalb der Philosophie, denn Glück bedeutet mehr, als auf philosophische Weise „verständigt zu sein über seine Stellung in der Einheit der Wirklichkeit“3, es kann daher auch philosophisch Unvorbereiteten zuteil werden; aber die Philosophie kann uns versichern, daß wir im Glück keiner Blicktäuschung erliegen. Die Aufgabenstellung für eine Philosophie des All-Einen ist damit deutlich anspruchsvoller geworden: zu zeigen, wie ich im All-Einen, obwohl es sich in seiner partiellen Unverborgenheit stets auch an ihm selbst entzieht, und wie ich zugleich in anderen Individuen, obwohl deren Alterität und meine Jemeinigkeit unhintergehbar und füreinander dunkel bleiben, dennoch zu mir finden und mich in allem und allen genießen kann in „freier Liebe“ und „schrankenloser Seligkeit“. Ausgehend von der Subjektivitätsthese, aber im Überstieg über sie, müßten in dieser Absicht Begriffe von dem, was Zeit und Raum begründet: ein Begriff der Ewigkeit als der ursprünglichen, nichtsukzessiven Zeit und ein analoger Begriff des wahrhaft unendlichen, ursprünglichen, nicht mehr durch Äußerlichkeit geprägten, sondern intensiven „Raumes“, entworfen und Möglichkeiten erkundet werden, wie unsere Subjektivität als in ihrem Kern ewige und rein intensive Leiblichkeit ins All-Eine eingezeichnet und ohne Widerspruch mit ihm identifiziert werden könnte. Die Aussichten für ein derartiges Theorieprogramm sind wohl nicht die besten, aber ein Versuch wäre der Mühe wert. Andererseits ist die Aufgabenstellung auch ermäßigt, denn es genügt der Nachweis der Möglichkeit des so konzipierten All-Einen. Es bedarf keiner Postulatenlehre mehr – gleichviel, ob in ihr der vernünftige Wunsch nach harmonischer Einheit-mit-sich des bewußten Lebens oder die Implikationen vernünftigen Sollens oder andere Vernunftbedürfnisse artikuliert werden –, um eine prinzipiell entfallende unmittelbare Beziehung unserer Subjektivität zum All-Einen, so gut es geht, zu ersetzen. Denn wenn jene Beziehung durch die Philosophie erst einmal als möglich erwiesen ist, muß ihr wirkliches Zustandekommen nicht mehr postuliert, sondern kann im Lebensvollzug erwartet werden. Es seien also unsere Lenden umgürtet und die Lampen brennend, vielleicht, daß uns ein Glück nach Art der tiefen und gediegenen Beseligung widerfährt, die dem Romanhelden zuteil wur3
J. Brachtendorf, „Subjektivität, Metaphysik, Religion – Dieter Henrichs Theorie der Religionen“, Theologie und Philosophie 78 (2003), 1–22, hier: 22.
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de, als ihm alles schon verloren schien und er in einer Hofeinfahrt unversehens auf ungleichem Pflaster zu stehen kam wie Jahre zuvor im Baptisterium von San Marco.
Literaturverzeichnis Primärliteratur Hegel, G.W.F.: Wissenschaft der Logik, hrsg. in zwei Teilen von G. Lasson. Erster Teil 1932, Nachdruck Hamburg 1971. Zweiter Teil 1934, Nachdruck Hamburg 1969 (= WdL).
Sekundärliteratur Brachtendorf, J., „Subjektivität, Metaphysik, Religion – Dieter Henrichs Theorie der Religionen“, Theologie und Philosophie 78 (2003), 1–22. Koch, A. F., Versuch über Wahrheit und Zeit, Paderborn 2006.
Ontologische Totalität und ethische Differenz bei Lévinas Branko Klun Die Frage nach einer Vielheit, die sich auf keine Einheit zurückführen läßt, steht im Zentrum der philosophischen Suche, die Lévinas zeitlebens beschäftigt hat. Sein Denken ist dabei jedoch von Anfang an nicht erkenntnistheoretisch, sondern ethisch motiviert, weshalb die traditionelle Fragestellung in einem anderen Kontext und mit einer neuen Begrifflichkeit artikuliert wird. Lévinas identifiziert das Eine weitgehend mit dem Selben und erörtert dabei das Problem, ob dieses Selbe durch etwas radikal anderes überwunden werden kann. In der für Lévinas bekannten Frage nach dem Anderen qua Anderen geht es im Grunde darum, eine Vielheit im Sinne der personalen Differenz zu erschließen, was mit seinem Verständnis der Ethik korreliert. Während Lévinas in seinen früheren Werken noch um einen kritischen Dialog mit dem Begriffspaar von Einheit (Totalität) und Vielheit (Pluralismus) bemüht war, tritt diese Auseinandersetzung in seinen späteren Schriften immer seltener auf. Der Grund dafür liegt in einer veränderten methodischen Sicht. Diese läßt keine allgemeine Perspektive mehr zu, die eine Betrachtung über Einheit und Vielheit durchaus voraussetzt, und zieht sich auf die ethisch gedeutete, je schon vom Anderen gekennzeichnete und von ihm in Anspruch genommene Subjektivität zurück. Die Differenz verlagert sich somit in das Subjekt selbst, wofür die Begriffe von Einheit und Vielheit kaum noch relevant sind. Dennoch aber bleibt die Frage aktuell: Wie soll die „Verstrickung“ (intrigue) (AQE 31, JS 68) des Anderen im Selbst, die Differenz vor jeder Einheit, angemessen gedacht werden? Lévinas radikalisiert die Differenz und seine Kritik an der Einheit (Totalität) bis zu jenem Punkt, wo ein neues Verständnis des Logos, der Logik und der Bedeutung erforderlich wird. Der Bruch der Einheit führt somit nicht zu einer neuen Befürwortung der Vielheit, sondern zur Frage nach der ethischen Bedeutung dieser Differenz, die jedoch weiterhin auf die zwischenmenschliche Beziehung angewiesen bleibt.
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1. Die Herrschaft des Selben und die Ankunft des Anderen Auch wenn sich Lévinas auf die phänomenologische Methode beruft und „den Geist der Phänomenologie für sich in Anspruch nimmt“1, beginnt seine Deutung unseres In-der-Welt-seins mit einer eigenartigen Abstraktion. Nicht die Vielheit bestimmt unsere alltäglichen Erfahrungen, sondern eine sonderbare Einheit. Im Gegensatz zur traditionellen philosophischen Frage, wie in der Mannigfaltigkeit und Verschiedenheit der Erfahrungen das Einigende und somit das Eine zu finden sei – was unser Verstehen auszeichnet –, geht Lévinas davon aus, daß der scheinbaren Vielheit eine alles einigende Einheit zugrunde liegt. Diese Überlegungen sind eng mit dem Begriff des Selbst und des Seins verbunden. Der Mensch ist das einzige Seiende, das von einer grundlegenden Offenheit gekennzeichnet ist. Es ist die Offenheit des Verstehens, die in Husserls Sprache „Intentionalität des Bewußtseins“ oder bei Heidegger die „Erschlossenheit des Daseins“ heißt und die in der Philosophiegeschichte unterschiedlich beschrieben wird (wie etwa die „Seele, die gewissermaßen alles ist“ bei Aristoteles und Thomas von Aquin2). Der Mensch vermag seine Welt und sich selbst als seiend zu verstehen. Die Offenheit des Menschen bleibt für Lévinas nicht nur auf das Verstehen reduziert, sondern gründet in einer tiefer liegenden Offenheit der Leiblichkeit, die als eine „Intentionalität des Genusses (jouissance)“ (TI 100, TU 179) das menschliche Leben in der Welt bestimmt. Die Welt ist zwar nicht das Ich, das Subjekt, sie ist aber auch nicht etwas wirklich anderes. Die Offenheit des Subjekts bedeutet nämlich eine Transitivität seines Existierens, weshalb „leben“ oder „sein“ beim Menschen zu transitiven Verben werden (DEHH 100, SdA 69). Das Subjekt „lebt seine Welt“, d. h. die Offenheit des Menschen bezieht sich notwendigerweise auf ein Korrelat, auf etwas, was der Mensch in seiner Offenheit „lebt“. Indem aber die Welt zum „Akkusativobjekt“ des Subjekts wird, kommt es zu einer Vereinnahmung, zu einer Assimilation seitens des Subjekts. Lévinas beschreibt diese Erfahrung als Rückkehr des Subjekts, das zwar auf etwas anderes (Objekt, Welt) ausgerichtet ist, sich dieses Andere jedoch in der Weise des Erlebens oder Erkennens aneignet, es sich zu eigen macht und somit zu sich selbst zurückkehrt. Das Andere, das sich in der Erfahrung der Welt manifestiert, ist für Lévinas nur scheinbar anders. Indem die Welt im Genuß oder im Verstehen berührt wird, verliert sie ihr Anderssein und wird auf das Eigene, auf das Selbe zurückgeführt, „reduziert“. Die Reduktion des Anderen auf das Selbe bedeutet die Herrschaft des Einen und stiftet eine Einheit, die von Lévi1
Im Vorwort zur deutschen Übersetzung von Totalité et infini (TI) – TU 7. Aristoteles, De Anima III 8, 431b21; Thomas von Aquin, Quaestiones disputatae de veritate q. 1, a. 1. 2
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nas auch Totalität genannt wird. Die Einheit, die im Selbst des Subjekts gründet, duldet nämlich keine wirkliche Andersheit und besitzt einen gewalttätigen, totalitären Charakter. Wenn wir uns auf Lévinas’ Auseinandersetzung mit der Phänomenologie beschränken, dann wirft er der Intentionalität vor, daß sie unfähig ist, etwas wahrhaft anderem zu begegnen. Der phänomenologische Gegenstand ist eben das Phänomen, das als Resultat der intentionalen Akte des Bewußtseins und der sich gebenden „Sache“ angesehen werden muß. Die Phänomenologie betont, daß das Wie des Zugangs (der Modus unserer intentionalen Offenheit, mit der wir an das zu Erkennende herangehen), das als solches immer und notwendigerweise zur Erkenntnis gehört, für das Was der erscheinenden Sache (Phänomen) von entscheidender Bedeutung ist. Diese Herangehensweise, die durch intentionale Akte beschrieben werden soll, heißt phänomenologisch auch Horizont. Das, was ist bzw. erkannt wird – wobei beides phänomenologisch nicht zu trennen ist –, wird vom vorgängigen Horizont bestimmt, innerhalb dessen es sich als dieses (Phänomen, Was, Objekt) überhaupt erst zu konstituieren vermag. Lévinas sieht im Korrelationsapriori zwischen dem Wie des Zugangs und dem Was des Phänomens eine totalisierende Macht des Subjekts, das im von ihm mit konstituierten Objekt nur seinem eigenen Selbst begegnet. In ähnlicher Weise übt Lévinas auch Kritik am Denken Heideggers. Bei ihm wird die Intentionalität zur Erschlossenheit des Seinsvollzugs. Die Offenheit des Daseins vollzieht sich als ein Verstehen des Seins, das als vorgängiger Horizont für das Verständnis jedweden Seienden bestimmend ist. Das Sein steht bei Heidegger nicht auf der Seite der „Sache“, sondern gründet im (Verstehen des) Dasein(s). Vereinfacht könnte man es als das grundlegende Wie des verstehenden Zugangs beschreiben, das die nachträgliche Konstitution eines jeden Seienden bestimmt. Die transzendentale Rolle des Seins verbindet Lévinas mit seiner Allgemeinheit (Universalität) und setzt ihr die Partikularität des Seienden entgegen. Die Totalität des Einen deckt sich mit der Universalität des Seins. Damit etwas als seiend erscheinen kann, bedarf es nach Lévinas der Vermittlung des Seinshorizontes. Das Sein bestimmt zugleich die Sinnhaftigkeit: „einen Sinn zu haben“ erfordert die Angewiesenheit auf das Sein (DQVI 96, GPh 84). Ein Sinn, der über die alles vereinnahmende Totalität des Seins hinausgehen würde, ist schlicht und einfach unmöglich. Diese gegenseitige Bestimmung zwischen dem Logos (der Logik, dem Sinnvollen) und dem Sein ist für Lévinas die Grundannahme der Ontologie, die für das westliche Denken die Erste Philosophie (prôtê philosophia) darstellt. Die gesamte westliche Philosophie, die nach der Erkenntnis dessen, was ist (dem Sein), strebt, birgt für Lévinas eine totalitäre Tendenz in sich; sie bleibt gegenüber der wahren Andersheit und echten Transzendenz verschlossen (TI 13, TU 51).
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Aus der Dialektik zwischen dem Selbst und der Welt als seinem Akkusativobjekt entwickelt Lévinas seine spezifische Deutung des Seins. Für das Selbst bedeutet „zu sein“, sich im scheinbar Anderen der Welt selbst zu finden bzw. sich selbst zu bestätigen. (Zu) Sein besagt, an sich selbst, an seinem eigenen Sein, interessiert zu sein. Da aber das Selbst in der Immanenz seines Seins an keine Grenze stößt, schlägt diese grenzenlose Totalität in Einsamkeit um. Das Sein, das keine Andersheit kennt, wird für Lévinas zu einem anonymen und unpersönlichen Existieren. Das „Il y a“, das factum brutum des bloßen Daseins, zeigt das eigentliche „Wesen“ des Seins: die unaufhörliche Reiteration des Eigenen, die alle Vielfalt aufsaugende und nivellierende Kraft einer totalitären Einheit. Lévinas ist bemüht, diese Deutung des Seins durch Erfahrungen phänomenologisch zu bekräftigen (Schlaflosigkeit, eine Fülle der Leere, das Murmeln der Stille – u. a. EE 111,VS 80; TA 26–27, ZA 22–23), was jedoch nur teilweise gelingen kann. Offensichtlich bedarf es eines hohen Maßes an Abstraktion, um zu einer solchen Idee der Totalität und des Seins zu gelangen. Angesichts dieser „ontoegologischen“ Totalität stellt sich die Frage, ob ein Ausbruch (évasion), ein Transzendieren der Totalität möglich ist. Für den frühen Lévinas verbirgt sich darin das eigentliche Anliegen der Metaphysik. Die Metaphysik hat wesentlich mit der Suche nach Transzendenz zu tun. Nur kann eine solche Transzendenz nicht mit Hilfe der Vernunft erreicht werden. Um die Transzendenz zu wissen oder sie gar (als seiend) zu erkennen, würde bedeuten, sie auf die Immanenz des Verstehens und des Seins zu reduzieren. Eine Erkenntnis der Transzendenz stellt sich als kontradiktorische und unmögliche Aufgabe dar. Und dennoch bestimmt dieses unmögliche Verlangen nach Transzendenz den Menschen zutiefst. Im Unterschied zu den Bedürfnissen (besoin), die durch den Austausch mit der Welt gestillt werden, besteht im Menschen ein Verlangen oder ein Begehren (désir), das über jedes Bedürfnis hinausgeht und nach einem völlig anderen, nach einem absoluten Jenseits, nach radikaler Exteriorität strebt (TI 3, TU 35). Dieses Begehren hat nicht zum Ziel, zum eigenen Selbst zurückzukehren, sondern über sich selbst hinauszugehen, sich selbst zu transzendieren, wenngleich dies unlogisch und unmöglich zu sein scheint. Wenn die Transzendenz nicht auf dem Weg der Erkenntnis erreichbar ist, dann muß es eine Alternative geben: „Der Königsweg der metaphysischen Transzendenz ist die Ethik“ (TI XVII, TU 32). Lévinas glaubt, daß die radikale Andersheit völlig anders „geschieht“ und daß sie eine neue Sichtweise verlangt, um als solche wahrgenommen zu werden. Das absolut Andere ist der oder die Andere. Der Bruch der Totalität erfolgt mit der Ankunft des Anderen. Die Begegnung mit dem anderen Menschen unterscheidet sich grundsätzlich von jeder sonstigen Gegebenheit eines Phänomens. Obwohl der
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Andere in der Welt erscheint, transzendiert er zugleich seine leibliche Phänomenalität. Das Gesicht, das den privilegierten Ort der Erscheinung des Anderen ausmacht, entbirgt und verbirgt ihn zugleich. Die Anwesenheit des Anderen, schreibt Lévinas, „besteht darin, sich der Form zu entledigen, die ihn gleichwohl manifestiert“ (DEHH 194, SdA 221). Wenn wir unseren intentionalen Blick auf die physische Gegebenheit des Gesichts fixieren, verfehlen wir den Anderen. Streng genommen entzieht er sich unserem intentionalen Blick, und gerade diese Weigerung, intentional gefaßt zu werden, macht seine eigentümliche „Gegebenheit“ aus. Das Mehr, das den Anderen charakterisiert, ist für Lévinas radikal anders als die phänomenale Logik des Seins. Es äußert sich in erster Linie darin, daß das Gesicht spricht. Doch ist diese Sprache nicht die vernünftige Rede des mit Logos begabten Menschen, sondern eine Ansprache vor jeglicher Verlautbarung. Das Gesicht des Anderen spricht mich an im Sinne eines ethischen Anspruchs. Dieser Anspruch ist für Lévinas ein Imperativ, nämlich das Gebot, das an mich ergeht: „Du wirst nicht töten“ (TI 173, TU 285). Auf diese Weise manifestiert sich der Andere als absolute Transzendenz, die sich einerseits jedem intentionalen Zugriff (Erkennen, Verstehen) entzieht, andererseits aber keine reine Negation bleibt, sondern auf eine neue Weise zu mir in Beziehung tritt. Lévinas führt somit eine zweifache Ordnung ein, und der Mensch wird ähnlich wie bei Kant „Bürger zweier Welten“.3 Neben der Ordnung des Seins (Ontologie, Phänomenologie) gibt es eine Ordnung der Ethik. Das Gesicht als das „Gesichtete“ gehört zum Sein, zugleich aber geht es mit seinem unsichtbaren ethischen Überschuß über das Sein hinaus. Diese ethische Transzendenz des Gesichts, die uns berechtigt, „visage“ als „Antlitz“ zu übersetzen, nennt Lévinas auch Epiphanie (DEHH 173, SdA 198). Lévinas ist bemüht, die Eigenartigkeit dieser ethischen Offenbarung „phänomenologisch“ zu beschreiben. Der Andere, der im Antlitz zum Ausdruck kommt, ist losgelöst von jedem intentionalen Horizont. Er ist kein Seiendes, das sich erst aufgrund eines vorgängigen Seinsverständnisses konstituieren könnte. Er offenbart sich aus sich selbst und kraft seiner selbst (kath’ hauto). Statt einer Vermittlung des Seins haben wir es beim Antlitz mit einer Unmittelbarkeit des ethischen Anspruchs bzw. des Rufes (appel) zu tun, die von der Unabhängigkeit und Souveränität des Anderen zeugt. In diesem Sinne vermag die Begegnung mit dem Anderen die Einsamkeit der egologischen Seinstotalität zu durchbrechen. Der Andere kommt von an3 Lévinas fühlt sich mit der praktischen Philosophie Kants „besonders verwandt“ (DEHH 98, SdA 118). Mehr zum Verhältnis zwischen Lévinas und Kant in N. Fischer, „Ethik und Gottesfrage. Zu ihrer Beziehung im Denken von Lévinas und Kant“, in: E. u. K. Düsing/H.-D. Klein (Hgg.), Geist und Sittlichkeit. Ethik-Modelle von Platon bis Lévinas, Würzburg 2009, 299–324.
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derswo und läßt sich nie auf diese Totalität reduzieren. Die selbstgenügsame Welt des Einen bekommt einen Riß; der Andere stört das Selbst auf eine Weise, die keine Ruhe eines harmonischen Ganzen mehr erlaubt.
2. Pluralismus und Asymmetrie Die radikale Transzendenz des Anderen ist für Lévinas die Bedingung für einen Pluralismus, der die Herrschaft des Einen bzw. der Totalität zu brechen vermag. Sie ist zugleich die Bedingung für eine echte Beziehung zum Anderen. Der frühe Lévinas – nicht zuletzt unter dem Eindruck der Kriegsereignisse (EE 10–13, VS 12–15) – sah in der Tat die größte Gefahr für den Menschen in seiner Unterordnung unter eine anonyme und unpersönliche Allgemeinheit bzw. Totalität. Dabei erweist sich die Vernunft allein mit ihrer wesentlichen Angewiesenheit auf die Universalität als kaum geeignet für die Überwindung dieser Gefahr. Wie kann aber die Totalität dermaßen radikal in Frage gestellt werden, daß sie nicht wieder zu sich selbst, zur Wiedergutmachung eines allumfassenden Ganzen gelangen kann? Die traditionelle Antwort auf diese Frage dürfte die Befürwortung der irreduziblen Individualität des Menschen bieten, die sich jeder Universalisierung widersetzt. In seiner frühen Schrift De l’existence à l’existant (Vom Sein zum Seienden – EE, VS) stellt sich Lévinas in erster Linie gegen Heidegger und plädiert für eine Umkehrung des Prioritätsverhältnisses zwischen dem Sein und dem Seienden zugunsten des Letzteren. Das Sein in seiner Verbalität ist ein anonymes und unpersönliches Geschehen. Als „Unverborgenheit“ bzw. als Geschehen der Wahrheit ist das Sein für Lévinas ein Werk der Universalität. Den Menschen vom Sein her zu verstehen, ihn in den „Dienst“ des Seins zu stellen (Mensch als Dasein, als Offenheit für das Sein), setzt für Lévinas den Menschen der Gefahr aus, ihn an eine anonyme Macht auszuliefern. Deshalb soll man dem Seienden im substantivischen Sinne den Vorrang einräumen. Der Mensch ist zuerst ein Seiender im Sinne der Individualität und erst als solcher kann er in Beziehung zum Mitmenschen treten. Eine echte Beziehung duldet für Lévinas keine Vermittlung, auch nicht die des Seins. Um diese Individualität des Menschen zu betonen, verwendet der frühe Lévinas den Begriff der „Hypostase“ (EE 140–141, VS 101–102). Der Mensch ist jenes Seiende, das das allgemeine Sein transzendiert, indem es sich inmitten des Seins als „Innerlichkeit“ hypostasiert bzw. substantiviert. Dennoch aber bleibt die Hypostase weiterhin auf das Sein angewiesen – oder mit Lévinas’ Worten an das Sein „gekettet“ (ZA 30, TA 36). Es wurde bereits deutlich, daß das Selbst in einem dialektischen Verhältnis zur Totalität steht und daß diese gerade die Unmöglichkeit darstellt, etwas ra-
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dikal anderem zu begegnen. Lévinas erblickt daher in der Pluralität vereinzelter Hypostasen bzw. Subjekte keine Überwindung der Totalität. Er schreibt: „Der Pluralismus zeigt sich in der westlichen Philosophie nur als Pluralität der Subjekte. Niemals zeigt er sich im Sein dieser Seienden. Der Plural ist dem Sein der Seienden äußerlich; […] Die Einheit allein hat das ontologische Privileg“ (TI 251, TU 401). Wenn die Subjektivität als irreduzible Einzelheit in Bezug darauf verstanden wird, daß sie „ist“ (als seiend), erweist sich die Pluralität der Subjekte als eine nur scheinbare, weil durch diesen Seinsbezug eine neue Universalität bzw. Einheit errichtet wird. Es vermag sich nach Lévinas auch keine Potenzierung der Vereinzelung, wie etwa bei Kierkegaard,4 von diesem Seinsbezug zu befreien und damit die Totalität zu durchbrechen. Der Einheit bloß eine Vielheit entgegenzusetzen, würde nur zu einer internen Differenzierung der Einheit („Vieleinheit“) führen, wobei die Totalität als solche intakt bliebe. Ein wahrer Pluralismus hätte zu bedeuten, daß die Singularitäten einander so fremd sind, daß sie keine Allgemeinheit bilden können und daß kein übergeordnetes Ganzes errichtet werden kann. Es müßte sich um „eine radikale, von der numerischen Mannigfaltigkeit verschiedene Vielfalt“ (TI 195, TU 319) handeln. Ein solcher Pluralismus würde es erforderlich machen, daß am Anfang eine Differenz steht, die durch keine Einheit behoben oder (im dialektischen Sinne) aufgehoben werden kann. Das ist freilich eine starke Forderung. Im Prinzip (im Sinne von „Anfang“ und „Grundsatz“) müßte es einen Riß der Differenz geben, der jede nachträgliche Vereinheitlichung verunmöglichen würde. Eine solche Differenz ist für Lévinas die ethische Transzendenz des anderen Menschen. Der Andere „bildet keine Mehrzahl mit mir. Die Gemeinsamkeit, in der ich ‚Du‘ oder ‚Wir‘ sage, ist nicht ein Plural von ‚Ich‘. Ich, Du sind nicht Individuen eines gemeinsamen Begriffs“ (TI 9, TU 44). Der Andere ist für Lévinas der in seiner Fremdheit mit mir Unvergleichbare. Streng genommen unterhalte ich keine Beziehung zum Anderen, wenn eine Beziehung etwas Gemeinsames zwischen Beziehungsgliedern voraussetzt. Die Beziehungsinitiative geht vom Anderen aus, der in meine Welt einbricht, ohne sich ihr auszuliefern. Der ethische Ruf des Anderen, der an mich ergeht, verläuft „à sens unique“, ohne Gegenseitigkeit von Kommunikation. Deshalb ist die paradoxe Beziehung zur Transzendenz, oder besser: die Beziehung der Transzendenz zu mir, von einer grundlegenden Asymmetrie charakterisiert (TI 190, TU 311).5 Die Asymmetrie als 4 Lévinas schreibt vom „egoistische[n] Schrei der Kierkegaardschen Subjektivität […], die noch um ihr Glück oder ihr Heil [d.h. um ihr Sein, B. K.] besorgt ist“ (TI 282, TU 444). 5 Mehr zur Frage des Transzendenzbezugs in R. Esterbauer, Transzendenz-„Relation“. Zum Transzendenzbezug in der Philosophie Emmanuel Lévinas’, Wien 1992, 87ff.
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eine unmittelbare Folge der Differenz, die sich nie aufheben läßt, bildet für Lévinas die Bedingung für einen Pluralismus. Eine symmetrische, d. h. wechselseitige Beziehung würde nämlich bedeuten, daß ein gemeinsames „métron“ (Maß) und eine übergreifende Einheit vorausgesetzt werden müßte. Wie aber bereits deutlich wurde, ist diese Asymmetrie nicht als ein Manko, sondern als Überschuß zu verstehen: Die Andersheit des Anderen liegt primär nicht in der Unmöglichkeit verstanden zu werden, sondern im Exzeß seiner ethischen Offenbarung, „an dem Überschuß der Epiphanie des Anderen, der mich mit seiner Erhabenheit beherrscht“ (TI 196, TU 321). Der ethische Anspruch des Anderen, der meine endliche Aufnahmefähigkeit unendlich übersteigt und dem ich nie angemessen („symmetrisch“) entsprechen kann, zeugt von einem ethischen Geschehen, das das symmetrische „Maß“ der Ontologie übersteigt. Die asymmetrische Differenz ermöglicht eine ethische Unendlichkeit, die der ontologischen Totalität fremd ist. Daß diese Unendlichkeit für das Verstehen des Menschen und seiner Würde von zentraler Bedeutung ist, braucht nicht eigens betont zu werden. Wenn Differenz und Asymmetrie den Vorrang haben, kann man dann immer noch von einem Pluralismus sprechen? Die Rede von einer Vielheit, Mannigfaltigkeit oder vom Pluralismus setzt eine allgemeine Perspektive voraus. Eine radikale Asymmetrie erlaubt dagegen nicht, einen Gesamtblick auf das Ganze zu werfen. Sie bringt notwendigerweise methodische Konsequenzen mit sich. Lévinas ist sich von Anfang an bewußt, daß wir uns dem Anderen nicht generell nähern können. Statt die Beziehung zum Anderen durch die modale Präposition „mit“ (mit dem Anderen zusammen sein, Miteinandersein) artikulieren zu wollen, sollte für Lévinas vielmehr der Modus „vor“ dem (Antlitz des) Anderen als ursprünglicher begriffen werden.6 Nicht in einer allgemeinen Betrachtung des Mitseins, sondern in der Situation „von Angesicht zu Angesicht“ (face-à-face) kann sich der Andere in seiner Ursprünglichkeit geben. Vor dem Antlitz des Anderen stehend kann ich mich nicht über uns beide erheben und von einem gemeinsamen Plural sprechen. Kein Miteinandersein vermag die ursprüngliche Differenz des „Vor dem Anderen“ zu überbrücken oder gar aufzuheben.
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Es handelt sich zugleich um eine Polemik gegen Heidegger und sein Existential des „Mitseins“ (SuZ §26, 118).
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3. Der Eine in seinem Für-den-Anderen Diese methodologische Konsequenz erklärt das, was bei den Kommentatoren von Lévinas als „Wende“ oder „Kehre“ in seinem Denken diskutiert wird.7 In der Tat gibt es in Lévinas’ späteren Schriften, vor allem in seinem zweiten Hauptwerk Jenseits des Seins (AQE, JS), ein verschärftes Problembewußtsein für die Folgen seines denkerischen Ansatzes. Wenn die Differenz und Asymmetrie als so grundlegend erachtet werden, dann kann das Subjekt nicht mehr als eine (ontologische) „Einheit“ verstanden werden und der Andere ist nicht diejenige Exteriorität, der das Subjekt erst nachträglich begegnet. Die ethische Ordnung kehrt die ontologische Ordnung um. Wenn ich dem Anderen begegne, kommt sein ethischer Anspruch nicht als etwas Äußerliches auf mich zu, sondern weckt in mir die Verantwortung, die mich schon seit jeher bestimmt. Noch vor dem Bewußtsein, das für Lévinas die ontologische Ebene des Subjekts charakterisiert, werde ich von einer Verantwortung für den Anderen bestimmt, die meinem Sein (das mit dem Bewußtsein korreliert) vorausgeht. Anders gewendet: Der eigentliche Kern der Subjektivität ist nicht das bewußte Selbst, sondern eine ethisch gedeutete Subjektivität im Sinne der Verantwortung. Die asymmetrische Spannung, die früher als eine äußerliche Beziehung zwischen mir und dem Anderen beschrieben wurde, verlagert sich nun in die Tiefe meiner Innerlichkeit. Der Andere bestimmt mich im Kern meiner Subjektivität, die nun als eine einzige Antwort (als Verantwortlichkeit) auf seine ethische Forderung verstanden wird. Die ethische Subjektivität wird auf diese Weise dem ontologischen Bewußtsein entgegengesetzt. Das Bewußtsein steht für die Selbstkonstitution, für die reflexive Errichtung des eigenen Selbst und die Selbsthabe. Im Bewußtsein walten Identität und Präsenz. Für Lévinas ist aber diese Selbstbegründung des Bewußtseins trügerisch. Die phänomenologischen Analysen der Zeitlichkeit, der passiven Synthese und der Sinnlichkeit (Leiblichkeit) zeigen die Grenzen dieser Selbsthabe und enthüllen eine „heteronome“ Bestimmung des Bewußtseins, das erst nachträglich seine Einheit und Identität bilden kann.8 Für Lévinas zeigt sich darin, daß das Subjekt in seinem 7
Die Wende befürworten u. a. S. Strasser, Jenseits von Sein und Zeit. Eine Einführung in Emmanuel Lévinas’ Philosophie, Den Haag 1978, 219ff., W. N. Krewani, Emmanuel Lévinas. Denker des Anderen, Freiburg/München 1992, 54 und K. Huizing, Das Sein und der Andere. Lévinas’ Auseinandersetzung mit Heidegger, Frankfurt am Main 1988, 126. Petrosino behauptet hingegen, Lévinas’ Denken sei von keiner „mutation essentielle“ gekennzeichnet (S. Petrosino, „D'un livre à l’autre. Totalité et infini – Autrement qu’être“, in: J. Rolland (Hg.), Emmanuel Lévinas, Les Cahiers de La nuit surveilée, Lagrasse 1984, 194–210, hier: 201). 8 Vgl. u. a. den Aufsatz „Intentionalität und Empfindung“ (DEHH 145–162, SdA 154–184).
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Grund von etwas anderem, was dem bewußten Subjekt vorausgeht, bedingt wird. Und diese Vorbestimmung wird ethisch verstanden. Das-Andere-imSelben (AQE 32, JS 69), „l’Autre-dans-le-Même“, erhält eine ursprünglich ethische Bedeutung im Sinne von: der-Andere-in-mir. Diese ethische Subjektivität jenseits des Bewußtseins trägt der Logik des Seins entgegengesetzte Züge. Sie ist keine synthetische und synchrone Tätigkeit, die eine Einheit und Präsenz hervorzubringen und zu erhalten vermag, sondern ein ethisches „Geschehen“ der Differenz, worin das Selbst in der Verantwortung zum Anderen „übergeht“, wo das Subjekt für den Anderen aufgeht. Statt eines Seins, das als Stand, Bestand und Bestätigung des Eigenen aufgefaßt wird, handelt es sich bei der ethischen Subjektivität um eine Enteignung des Selbst, um ein Transzendieren des eigenen Seins in der Hingabe für den Anderen. Dies nennt Lévinas auch „désintéressement“ im Sinne der Selbstlosigkeit, die etymologisch auch als „Sich-vom-SeinLösen“ übersetzt wird (AQE 3, JS 23). Wie kann aber von einem ethischen Subjekt die Rede sein, wenn die Subjektivität nicht mehr als eine Einheit, sondern als eine ethisch gedeutete Differenz (als Nicht-Indifferenz) interpretiert wird? Kommt es nicht zu einer neuerlichen Auflösung des Subjekts? Lévinas antwortet mit einem andersartigen, ethischen Verständnis von „Einzigkeit“ (unicité), der keine ontologische Einheit zugrunde liegt. Die Einzigkeit des Einen – wobei es sich nicht um das Eine, sondern um den Einen (oder die Eine) handelt – besteht in der Einzigkeit seiner ethischen Berufung. Der Eine steht nie allein und für sich, sondern immer in einer unauflösbaren Verbindung: derEine-für-den-Anderen (l’un-pour-l’autre). Das Wichtigste dabei ist das Wort „für“, das das ethische Geschehen der Verantwortung ausdrückt: Der Eine schöpft seine Einzigkeit aus seinem „Für-den-Anderen“. Die Einzigkeit dieser Verantwortung beruht nicht auf der ontologischen Voraussetzung eines seienden Subjekts, sondern im paradoxen Aufgehen der ethischen Subjektivität für den Anderen. Lévinas spricht von einer Einzigkeit ohne Identität (unicité sans identité – AQE 73, JS 136), wobei die Identität als grundlegende ontologische Relation betrachtet wird (als ein Werk des „Idem“, die zwei Relata zur Einheit verbinden kann).9 Als Beispiel für die ethische Subjektivität führt Lévinas (AQE 190, JS 327) die Antwort des biblischen Menschen auf den Ruf Gottes an: „Hier bin ich, sende mich“ (Jes 6,8). Die Subjektivität des Berufenen besteht in seinem Antwortcharakter; sein Dasein geht in seiner Sendung, in seinem Für-den-Anderen auf. Anhand dieses Beispiels wird auch der Unterschied zwischen der on9
„Einzigkeit ohne Identität: dieser Ausdruck meint eine Einzigkeit, die nicht in der Identität aufgeht, ohne sich als das Gegenteil der Identität zu bestimmen“ (L. Tengelyi, „Einzigkeit ohne Identität bei Lévinas“, Studia Phaenomenologica VI (2006), 59–71, hier: 71).
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tologischen und der ethischen Subjektivität besonders deutlich. Der Selbstkonstitution als „Ich-bin-da“ (Da-sein) wird das ethische „Hier bin ich“ (Ich als ein einziges Für den Anderen) entgegengesetzt. Die ethische Subjektivität als Antwort und Verantwortlichkeit schöpft ihre Einzigkeit daraus, daß mich in dieser Verantwortung niemand ersetzen kann, weshalb diese Verantwortung als ethisches principium individuationis fungiert. Der Eine besteht in der Einzigkeit seiner Verantwortung, ohne sich als ontologische Identität konstituieren zu können. Der-Eine-für-den-Anderen drückt die unaufhebbare Differenz zwischen mir und dem Anderen als eine ethische Indifferenz des Für (den Anderen) aus. Es wäre jedoch falsch, in diesem Syntagma eine allgemeine Struktur zu erblicken. Denn dabei handelt es sich um keine universelle Aussage über die Gegenseitigkeit der Verantwortung. Vielmehr bin der Eine immer ich selbst in meinem „Hier bin ich“. Und das Für ist genauso wenig eine allgemeine Präposition; es verkörpert die Einzigkeit meines eigenen „Fürden-Anderen“. Lévinas verwendet diese Struktur in Verbindung mit der Frage der Bedeutung. Es hat sich bereits gezeigt, daß das beabsichtigte Transzendieren der Ontologie auch an die Grenzen des Logos (des Logischen) stößt und diese zu überwinden trachtet. Der Logos – als Sinnhaftigkeit – muß von seiner exklusiven Angewiesenheit auf das Sein (Erschlossenheit) befreit werden. Es muß auch ein Bedeuten (signifiance) sinnvoll sein, das über die Seinslogik hinausgeht. Der-Eine-für-den-Anderen stellt so für Lévinas eine alternative und tiefere Weise des Bedeutens bzw. der Sinnhaftigkeit dar. In der Selbstlosigkeit des Für kommt es zu einem „Geschehen“ des Bedeutens, das sich auf keinen (Seins)Zustand reduzieren läßt. Die Verantwortung ist keine Weise zu sein und doch ist sie bedeutungsvoll; sie verkörpert in sich eine neue, ethische Art des Bedeutens. Der ethische Sinn liegt bei Lévinas jenseits des Seins. Ähnliches gilt auch für die Bedeutung eines jeden Wortes. Die Sinnhaftigkeit eines Wortes erschöpft sich nicht in der Allgemeinheit seiner „logischen“ Bedeutung. Das, was ein Wort bedeutet, verweist vielmehr auf einen tieferliegenden ethischen Horizont zwischen dem Einen und dem Anderen. Bevor ein Wort durch die Universalität seiner Bedeutung eine Gemeinschaft zwischen mir und dem Anderen stiftet, entspringt es einer ursprünglichen Differenz der Verantwortung: es ist ein Wort, gesagt für den Anderen. Lévinas führt hier eine Unterscheidung zwischen dem Gesagten und dem Sagen ein (AQE 6, JS 29). Dem Gesagten (das, was ich sage) geht ein Sagen als ethische Offenheit, als Verantwortung für den Anderen voraus. In der Unmöglichkeit, das Sagen im Gesagten zu thematisieren, spiegelt sich die Transzendenz der ethischen im Bezug zur ontologischen Ebene wider.
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Wenngleich beim späteren Lévinas der äußerliche Pluralismus zugunsten einer ethisch gedeuteten Subjektivität in den Hintergrund rückt, wird die Frage nach dem Pluralismus in einem anderen Kontext erneut aktuell. In meiner ethischen Beziehung zum Anderen habe ich nie mit nur einem Anderen zu tun. Es gibt immer auch den Dritten. Es gibt Andere im Plural, auch wenn ich im gegebenen Moment nur vor dem Gesicht eines Anderen stehe. Aber in ebendiesem Moment „bedrängen mich […] auch all die Anderen, die Andere sind für den Anderen“ (AQE 201, JS 344). Wenn ich für mehrere andere gleichzeitig verantwortlich bin, entsteht das Problem, wie ich meine Verantwortung teilen, wie ich mehreren anderen gerecht werden soll. Auf diese Weise stellt sich die Frage nach der Gerechtigkeit. Die Anderen sind zwar nicht miteinander zu vergleichen (deshalb spricht Lévinas nicht von einem Pluralismus der Anderen im Sinne eines Allgemeinbegriffs, sondern immer vom Anderen und vom Dritten) und doch muß ich sie vergleichen, ich muß um eine Symmetrie zwischen ihnen – zum Zwecke der Gerechtigkeit – bemüht sein. Angesichts der Vielheit der Anderen, wenn wir uns dennoch diesen Begriff erlauben, kommt es zum Denken, Erwägen, Teilen, wo Koexistenz und Gleichzeitigkeit (Synchronie) herrschen. Dies alles aber sind Attribute der ontologischen Ebene. Für Lévinas haben das Denken und das Sein bzw. das Denken des Seins ihren Ursprung in der ethischen Suche nach Gerechtigkeit. So kommt es auch zu einer gewissen Rehabilitierung der Ontologie. Die Allgemeinheit wird nicht mehr als ein Werk der Totalität betrachtet, sondern als eine Suche nach Gerechtigkeit. Philosophie, Vernunft, Erkenntnis schöpfen ihren Sinn aus der ethischen Berufung zur Gerechtigkeit.10 Dennoch behält die Differenz den Vorrang und setzt der Allgemeinheit klare Grenzen. Meine eigene Subjektivität ist aus diesem Ganzen herausgenommen. Die Kopräsenz und Symmetrie betreffen immer nur die Anderen, meine Anderen. Ich hingegen bleibe derjenige, für den der Andere und der Dritte ihre absolute Transzendenz bewahren. Ich bleibe unendlich verantwortlich, auch wenn ich diese Verantwortung zwischen dem Anderen und dem Dritten teilen muß. Auf diese Weise will Lévinas verhindern, daß der Übergang zum Denken und zur Gerechtigkeit die unendliche Berufung der Ethik relativieren würde. Was als ursprünglich ethisches Geschehen zwischen mir und dem Anderen beschrieben wurde, behält weiterhin seine Radikalität, obwohl nun das Denken und die Symmetrie miteinbezogen werden. Im Hinblick auf die Subjektivität stärkt die Gleichzeitigkeit des 10 Der Begriff der Gerechtigkeit in Jenseits von Sein, der als Symmetrie an die griechische Tradition des „suum cuique“ anknüpft, müßte allerdings unterschieden werden von der Gerechtigkeit, wie sie in Totalität und Unendlichkeit als Differenz und Asymmetrie gedeutet wird („Die Gerechtigkeit besteht darin, im Anderen meinen Meister anzuerkennen“ TI 44, TU 97).
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Anderen und des Dritten die Rolle des Bewußtseins, wenngleich dieses weiterhin ethisch bedingt wird. Lévinas gelangt somit zu einem differenzierten Pluralismus. Die Differenz behält den Vorrang, aber auch die Einheit im Sinne der Allgemeinheit hat ihre Berechtigung. Die Frage nach dem Einen und dem Vielen wird innerhalb eines neuen, ethischen Horizontes gestellt. Weder die Einheit (das Eine) noch die Vielheit (der Pluralismus) sind „gut“, sondern die Beziehung im Sinne „Der-Eine-für-den-Anderen“ – oder auch „Der-Eine-füralle-Anderen“11 – ist das eigentliche „metaphysische“ Prinzip. Das Sein, wie zur Genüge deutlich wurde, ist nicht konvertibel mit dem Guten. Das Gute entspringt einer Differenz, die als Nicht-Indifferenz eine ursprünglich ethische Bedeutung hat und die sich nie in eine Einheit übersetzen läßt.
4. Schluß: Differenz und das biblische Erbe Lévinas macht keinen Hehl daraus, daß sich sein Denken an der jüdischen Tradition inspiriert und geht sogar so weit zu sagen: „Mein Anliegen ist es immer wieder, diesen Nicht-Hellenismus der Bibel in hellenistische Termini [d.h. in die Sprache der Philosophie, B. K.] zu übersetzen“ (DQVI 137, WGD 107). Es wäre jedoch falsch, daraus zu schließen, daß der Rekurs auf religiöse Quellen die philosophische Glaubwürdigkeit von Lévinas’ Denken gefährdet. Vielmehr soll das philosophische Denken für die Herausforderung der religiösen Botschaft geöffnet werden. Die Differenz, wie sie Lévinas versteht, gehört zweifellos zum festen Bestandteil der jüdisch-biblischen Tradition. Sie hat im Denken der griechischen Philosophie keine Entsprechung. Diese Differenz äußert sich auf verschiedenen Ebenen, wobei ich nur einige erwähnen möchte: So besitzt – erstens – der biblische Gott im Bezug zur Welt eine absolute Transzendenz. Dies drückt 11 „L’un-pour-tous-les-autres“ ist ein Ausdruck von Didier Franck, der diesem Übergang vom „Duo zum Trio“ (AQE 203, JS 347) skeptisch gegenübersteht. Mit dem Übergang von der Ethik zurück zur Ontologie ist für ihn das gesamte denkerische Unternehmen von Lévinas in Frage gestellt (D. Franck, L’un-pour-l’autre. Lévinas et la signification, Paris 2008, 225ff.). Zur Thematik des Dritten bzw. der Anderen „im Plural“ vgl. B. Waldenfels, „Singularität im Plural“, in: ders., Deutsch-Französische Gedankengänge, Frankfurt am Main 1995, 302–321, R. Bernasconi, „Wer ist der Dritte? Überkreuzung von Ethik und Politik bei Lévinas“, in: B. Waldenfels/I. Därmann (Hgg.), Der Anspruch des Anderen. Perspektiven phänomenologischer Ethik, München 1998, 87–110, P. Delhom, Der Dritte. Lévinas’ Philosophie zwischen Verantwortung und Gerechtigkeit, München 2000, P. Zeillinger, „,eins, zwei, viele …‘ – oder: Ohne selbst, aber in Gemeinschaft. Der Einbruch des Anderen-im-Plural bei Lévinas“, in: M. Flatscher/S. Loidolt (Hgg.), Das Fremde im Selbst – Das Andere im Selben. Transformationen der Phänomenologie, Würzburg 2010, 225–247.
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sich in der Idee der Schöpfung aus. Das Geschaffensein eines jeden Seienden besagt die Unmöglichkeit, zum letzten Grund zu werden bzw. das Ganze zu begründen.12 Keine vom Menschen gedachte Universalität vermag sich über diese „vorursprüngliche“ Differenz zu erheben. Die Vernunft mit ihrer Universalität und Notwendigkeit kann die Schöpfung nicht begründen – sie bleibt eine freie Tat des souveränen Schöpfers. Aber diese „abgründige“ Freiheit Gottes, die die Notwendigkeit der Vernunft transzendiert, hat eine eminent ethische Bedeutung: Sie ist die Grundlosigkeit der Güte, ein Geschenk ohne Grund. Der Bruch mit der Universalität und Notwendigkeit will besser sein als ihre „Vernünftigkeit“. Dann spricht – zweitens – der transzendente Gott den Menschen an (Offenbarung). Am Anfang steht eine personale Beziehung, die den ursprünglichen Rahmen der Ethik bildet.13 Der Mensch (be)findet sich in der Rolle eines Antwortenden, was auch auf den zwischenmenschlichen Kontext übertragen wird. Nicht die Frage nach einem gelungenen Leben, nach meiner Selbstverwirklichung, bestimmt die Ethik, sondern die Suche nach (m)einer angemessenen Antwort auf den Anspruch des Anderen. Die Differenz bzw. Asymmetrie in der Beziehung ist die Quelle einer nie endenden und somit unendlichen Verantwortung für den Anderen. Die Differenz, die sich als eine ständige Spannung nie entlädt, ist besser als die harmonische Ruhe einer Vereinheitlichung. Und nicht zuletzt äußert sich – drittens – der Bruch mit der Universalität in der „Partikularität“ des auserwählten jüdischen Volkes. Aber diese Erwählung seitens des „Herrn des Universums“ muß einen universalen Sinn haben. Nicht eine egoistische Bestätigung Israels, sondern dessen universale Berufung bzw. Verantwortung „für“ die Anderen, für die gesamte Menschheit, steht im Zentrum dieses Denkens. Die Partikularität bzw. Singularität, die sich in keine übergeordnete Totalität integrieren läßt, ermög12
Phänomenologisch gesehen kann man nicht mit einer Idee der Schöpfung beginnen, sondern nur mit der „Erfahrung“ (mit dem „Phänomen“) des Geschaffenseins. Aber diese einzigartige Erfahrung bzw. die zu ihr gehörende Deutung birgt in sich eine paradoxe Situation, die bei Lévinas auch als radikale Passivität beschrieben wird: „Geschöpf, aber von Geburt an verweist oder atheistisch und gewiß seinen Schöpfer nicht kennend, denn würde es ihn kennen, könnte es insofern noch seinen Anfang annehmen [assumer]“ (AQE 133, JS 232). Pointierter gesagt: Sogar mein eigenes Geschaffensein kann nicht erkannt werden, wenn darin eine Bemächtigung über meine Herkunft impliziert wird. Die Lévinas’sche Ethik der Differenz und Passivität kann nicht ohne den Bezug zu diesem biblischen Hintergrund verstanden werden (vgl. R. Visker, The Inhuman Condition. Looking for Difference after Lévinas and Heidegger, Dordrecht/Boston/London 2004, 11f.). 13 Die Differenz wird überbrückt durch das Sprechen. Es handelt sich um eine Verbindung durch das Wort („un lien de parole“ – C. Chalier, L’alliance avec la nature, Paris 1989, 54), das die Beziehung stiftet. In dieser sprechenden Beziehung wird aber die Differenz nicht aufgehoben, sondern bestätigt und erhalten.
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licht positiverweise ein Geschehen des „Guten“, ein paradoxes Für-denAnderen, das besser ist als die Universalität der Totalität. Die Priorität der Singularität wirkt sich unmittelbar auch auf den Status der Sprache und des Logos aus. Die Universalität des Logos kann nicht als einzige Quelle des Sinnhaften betrachtet werden. Die paradoxe Logik der Differenz (des Anderen) im Innersten des Logos hat ihre eigene, ethische Weise der Bedeutung bzw. des Sinnes. Die bei diesen Ausführungen sich zeigende Nähe zu Derrida, einem wichtigen Weggefährten von Lévinas, ist keinesfalls zufällig. Lévinas sieht die griechische Philosophie und die jüdisch-biblische Tradition nicht als Gegner, sondern als Partner, wobei er an eine erweiterte „Rationalität“ glaubt, die über den engen, auf der ontologischen Identität beruhenden Sinn- und Seinsbegriff hinauszugehen vermag. Nur stellt sich dabei das Problem, inwieweit Lévinas diesem Anliegen in seinem Denken gerecht wird. Seine Auseinandersetzung mit der westlichen Philosophie, vor allem mit der Phänomenologie, läßt viele Fragen offen. Der Vorwurf eines totalitären Charakters des Verstehens und des Seins, bei dem Lévinas’ Kritik ansetzt, erweist sich zumindest als fragwürdig.14 Freilich kann das Verstehen des Menschen (seine Vernunftfähigkeit im Allgemeinen) als eine vereinnahmende Kraft des Begreifens im Sinne des „Greifens“ nach dem Anderem gesehen werden. Muß sie aber nicht schon zuvor positiv als eine Offenheit aufgefaßt werden? Diese Offenheit ist nicht die trügerische Falle, die das Andere gefangen nimmt, sondern eine Öffnung gegenüber dem Anderen, dem sie Raum gewähren will, damit er als anderer sein kann. Die Phänomenologie legt zwar großen Wert auf die Thematisierung der Offenheit (Intentionalität, Verstehen des Seins), das Ziel aber ist das Andere bzw. die „Sache selbst“, damit sie so (erkannt) sein kann, wie sie sich von sich selbst her gibt. Ihr geht es um die Suche nach jenem Wie der Offenheit (was von einem Möglichkeitscharakter der Offenheit spricht), worin sich das Was des erkannten Anderen möglichst ursprünglich gibt. Lévinas hingegen gewährt dieser ontologischen Ebene keine „Möglichkeit“ und besteht auf einer kompromißlosen Trennung zwischen Ontologie und Ethik. Dennoch bleibt das Anliegen, das Lévinas verfolgt, eine echte Herausforderung für das Denken. Die Differenz des Anderen stört unablässig jeden Versuch, eine harmonische Einheit des Logischen herzustellen. Diese Differenz bezieht sich in erster Linie auf die personale „Einzigkeit“ des Menschen bzw. auf die zwischenmenschliche Beziehung. Sie ist kein neutraler Pluralismus, sondern Nähe – ein weiterer Schlüsselbegriff von Lévinas –, die die Anderen zu meinen Nächsten macht. 14
Zu Lévinas’ Kritik am Seinsbegriff von Heidegger vgl. B. Klun, Das Gute vor dem Sein. Lévinas versus Heidegger, Frankfurt am Main et al. 2000, 78f.
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Literaturverzeichnis Primärliteratur Heidegger, M., Sein und Zeit, Tübingen 16. Aufl. 1986 (= SuZ). Lévinas, E., Autrement qu’être ou au-delà de l'essence, La Haye 1974 (= AQE). Dt. von Th. Wiemer, Jenseits des Seins oder anders als Sein geschieht, Freiburg/München 1992 (= JS). Ders., En découvrant l'existence avec Husserl et Heidegger, Paris 1967, 5. Aufl. 1994 (= DEHH). Dt. von W. N. Krewani, Die Spur des Anderen. Untersuchungen zur Phänomenlogie und Sozialphilosophie, Freiburg/München 1983(= SdA). Ders., De Dieu qui vient à l’idée, Paris 2. Aufl. 1986 (= DQVI). Dt. von Th. Wiemer, Wenn Gott ins Denken einfällt. Diskurse über die Betroffenheit von Transzendenz, Freiburg/München 1985 (= WGD). Nicht enthalten in der deutschen Übersetzung ist der Artikel: Ders., „Gott und die Philosophie“ (= GPh), in: B. Casper (Hg.), Gott nennen. Phänomenologische Zugänge, Freiburg/München 1981, 81–123. Ders., De l'existence à l’existant, Paris 2. Aufl. 1978 (= EE). Dt. von A. M. Krewani und W. N. Krewani, Vom Sein zum Seienden, Freiburg/München 1997 (= VS). Ders., Le temps et l’autre, Paris 5. Aufl. 1994 (= TA). Dt. von L. Wenzler, Die Zeit und der Andere, Hamburg 1984 (= ZA). Ders., Totalité et infini. Essai sur l’extériorité, La Haye 1961, 3. Aufl. 1968 (= TI). Dt. von W. N. Krewani, Totalität und Unendlichkeit. Versuch über Exteriorität, Freiburg/München 1987 (= TU).
Sekundärliteratur Bernasconi, R., „Wer ist der Dritte? Überkreuzung von Ethik und Politik bei Lévinas“, in: B. Waldenfels/I. Därmann (Hgg.), Der Anspruch des Anderen. Perspektiven phänomenologischer Ethik, München 1998, 87–110. Chalier, C., L’alliance avec la nature, Paris 1989. Delhom, P., Der Dritte. Lévinas’ Philosophie zwischen Verantwortung und Gerechtigkeit, München 2000. Esterbauer, R., Transzendenz-„Relation“. Zum Transzendenzbezug in der Philosophie Emmanuel Lévinas’, Wien 1992. Fischer, N., „Ethik und Gottesfrage. Zu ihrer Beziehung im Denken von Lévinas und Kant“, in: E. u. K. Düsing/H.-D. Klein (Hgg.), Geist und Sittlichkeit. Ethik-Modelle von Platon bis Lévinas, Würzburg 2009, 299–324. Franck, D., L’un-pour-l’autre. Lévinas et la signification, Paris 2008. Huizing, K., Das Sein und der Andere. Lévinas’ Auseinandersetzung mit Heidegger, Frankfurt am Main 1988. Klun, B., Das Gute vor dem Sein. Lévinas versus Heidegger, Frankfurt am Main et al. 2000. Krewani, W. N., Emmanuel Lévinas. Denker des Anderen, Freiburg/München 1992. Petrosino, S., „D'un livre à l’autre. Totalité et infini – Autrement qu'être“, in: J. Rolland (Hg.), Emmanuel Lévinas, Les Cahiers de La nuit surveilée, Lagrasse 1984, 194–210. Strasser, S., Jenseits von Sein und Zeit. Eine Einführung in Emmanuel Lévinas’ Philosophie, Den Haag 1978.
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Tengelyi, L., „Einzigkeit ohne Identität bei Lévinas“, Studia Phaenomenologica VI (2006), 59–71. Visker, R., The Inhuman Condition. Looking for Difference after Lévinas and Heidegger, Dordrecht/Boston/London 2004. Waldenfels, B., „Singularität im Plural“, in: ders., Deutsch-Französische Gedankengänge, Frankfurt am Main 1995, 302–321. Zeillinger, P., „‘eins, zwei, viele …‘ – oder: Ohne selbst, aber in Gemeinschaft. Der Einbruch des Anderen-im-Plural bei Lévinas“, in: M. Flatscher/S. Loidolt (Hgg.), Das Fremde im Selbst – Das Andere im Selben. Transformationen der Phänomenologie, Würzburg 2010, 225–247.
Aus der Logik der Subjektivität zur All-Einheit Dieter Henrichs Weg zu einer Metaphysik bewußten Lebens Klaus Müller
1. Einleitende Klarstellung1 Ich bin vor etwa 30 Jahren auf Dieter Henrich aufmerksam geworden. Ein in Rom gehörter Hegelvortrag des damaligen Heidelberger Philosophen hatte mein Interesse geweckt. Bald darauf bot sich mir die Gelegenheit, den soeben nach München Berufenen zwei Semester lang zu hören. Zugleich waren seine beiden Essaysammlungen Selbstverhältnisse (Henrich 1982a) und Fluchtlinien (Henrich 1982b) erschienen. Und obwohl in den Vorlesungen wie in diesen Publikationen – mit einer Ausnahme (Henrich 1982c) – von Religion und Theologie so gut wie keine Rede war, drängte sich mir damals hartnäckig die Intuition auf, das, was da im Gravitationsfeld des Gedankens selbstbewußter Subjektivität entfaltet werde, berge religionsphilosophische und fundamentaltheologische Potentiale hoher Brisanz. Im katholischen Milieu hatte sich für diesen Zusammenhang schon länger niemand mehr wirklich interessiert, geschweige denn stark gemacht. Der Letzte war (um die 150 Jahre zuvor) Anton Günther in Wien gewesen. In näherem Zusehen gelangte ich zur Überzeugung, daß alle etwaig an Dieter Henrichs Denken anzuschließenden religionsphilosophischen und fundamentaltheologischen Reflexionen ihren Ausgang beim Gedanken des unverfüglichen Grundes von Selbstbewußtsein zu nehmen hätten.2 Die 1
In die nachfolgenden Überlegungen gehen umfänglich überarbeitete und erweiterte Teilstücke aus zwei anderen Abhandlungen über Dieter Henrich ein. Es handelt sich um K. Müller, „;…was überhaupt wirklich und was ein erstes Wirkliches ist‘. Mit Dieter Henrich unterwegs zu letzten Gedanken“, in: G. M. Hoff (Hg.), Auf Erkundung. Theologische Lesereisen durch fremde Bücherwelten, Mainz 2005, 149–165; K. Müller, „Gedanken zum Gedanken vom Grund. Dieter Henrichs Grenzregie der Vernunft an der Schwelle zur Gottesfrage“, Wiener Jahrbuch für Philosophie XL (2008), 211–227. 2 Vgl. K. Müller, Wenn ich „ich“ sage. Studien zur fundamentaltheologischen Relevanz selbstbewußter Subjektivität, Frankfurt am Main u.a. 1994 (= Wenn ich „ich“ sage), Kap. 7.
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2007 erschienenen Weimarer Vorlesungen Denken und Selbstsein (Henrich 2007), die Leopold-Lucas-Preisrede Endlichkeit und Sammlung des Lebens (Henrich 2009) aus dem Jahr 2008 sowie den erst vor kurzem publizierten Text über Selbstbewusstsein und Gottesgedanke (Henrich 2010) habe ich diesbezüglich mit großer Genugtuung gelesen. Der Verdacht, es gehe dabei nur ums eigene Rechthaben, erledigt sich allein deshalb schon von selbst, weil eine Aufnahme von Dieter Henrichs einschlägigen Gedanken wegen seiner Verschränkung mit der Denkform der All-Einheit binnentheologisch zu einer Transformation des Gottesgedankens führt, die die Form einer veritablen Kritik des herkömmlichen Monotheismus gewinnt. Theologisch führt sie alternativlos ins Geviert dessen, wofür der Fichte- und SchellingSchüler Karl Christian Friedrich Krause den Titel „Panentheismus“ geprägt hat. Ich sehe zwingende Gründe, einer künftigen, der aufgeklärten Spätmoderne gewachsenen und für den Disput der Religionen kompetenten Theologie eben diesen Weg vorzuzeichnen und habe ihn meinerseits in der Überzeugung, damit auch einer katholischen Grundintuition zu entsprechen, bereits eingeschlagen.3 In seiner Fortsetzung bestärkt mich, wenn ich in dem jüngsten einschlägigen Henrich-Text lese, im Gedanken eines Welt- und Selbstbewußtsein übergreifenden und einbegreifenden Absoluten seien „[…] alle rationalen Konzepte miteinander vereinigt, die an den Grenzen dessen aufkommen, was sich als Gegenstand erkennen und beherrschen lässt“ (Henrich 2010, 21) –
und daß das darin implizierte durchgängig gründende Einbezogensein des Endlichen ins Unendliche eine Vermittlung von Gott und Selbstsein fasse, welche das, was Mystik heißt, einer rationalen Fundierung unterziehe (vgl. Henrich 2010, 14). Freilich kann es an dieser Stelle nicht einfach nur um die Zustimmung zu einem theologisch aufregenden philosophischen Programm gehen. Ich verbinde mit dieser Zustimmung vielmehr die Option, daß gerade der christlichen – und partiell besonders der katholischen – Tradition des Gottdenkens ein tiefes Gespür dafür eingeschrieben ist, daß, wenn man Gott als Grund menschlichen Selbstseins faßt, dies auch theologisch nur in Abweichung von Bildern aus der alltäglichen Welterfahrung geschehen kann. Einleuchten wird diese Überlegung allerdings nur, wem beständig vor Augen bleibt, daß Henrich selbst zu dieser Option für AllEinheit nicht durch den direkten Anschluß an antike, mittelalterliche oder moderne Varianten dieses Gedankens gekommen ist, sondern ausschließlich aus der Logik seiner sich über mehr als ein halbes Jahrhundert hinstreckenden Bemühungen um eine Theorie bewußten Lebens. Insofern
3
Vgl. K. Müller, Streit um Gott. Politik, Poetik und Philosophie im Ringen um das wahre Gottesbild, Regensburg 2006 (= Streit um Gott).
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lohnt es sich, den denkerischen Weg dorthin zunächst in seinem eigenen Verlauf etwas nachzuzeichnen.
2. Frühe Weichenstellung „Die Entwicklung des bedeutenden Geistes, der nicht haltlos im Strome der Einflüsse schwimmt, vollzieht sich fast immer in gediegener Kontinuität. Denn die Fülle seiner sachlichen Leistung hat ihren Grund und findet ihre Begründung in der Einheit eines prinzipiellen Gedankens, der so ursprünglich in ihr wirkt, daß sie dem Andrang der Äußerlichkeit Widerstand zu leisten vermag.“ (Henrich 1952, 6)
So lautet der Schlußsatz der Einleitung von Dieter Henrichs Dissertation über Max Weber, mit der er 1950 dreiundzwanzigjährig als Meisterschüler von Hans-Georg Gadamer promoviert worden ist. Aus dem Abstand von 60 Jahren läßt sich dieses Diktum uneingeschränkt als autobiographisches Programm lesen. Ich kenne keine andere Formulierung aus dem riesigen Œuvre Henrichs, die präziser das denkerische Profil der eigenen Leistung des schon lange Emeritierten auf den Punkt brächte. Der einheitsstiftende prinzipielle Gedanke im Massiv seiner systematischen und historischen Leistungen entspringt der Frage, was es denn bedeute, ein bewußtes Leben zu führen, und konkretisiert sich im Begriff selbstbewußter Subjektivität. Die Aufklärung und Auslegung dieses Begriffs in allen mit ihm verbundenen Hinsichten zieht sich als Grundstrom durch das Gesamtwerk Henrichs auch dort, wo man das auf den ersten Blick nicht vermuten würde. Diese Kontinuität hat ihn sich keineswegs den von der Sache her nahe liegenden Traditionen verschließen lassen: Henrich gehört unbeschadet seiner Meisterleistungen der Erschließung und Aneignung der philosophischen Moderne, namentlich des deutschen Idealismus, zu den Protagonisten der kontinentalen Rezeption sprachanalytischer Traditionen angelsächsischer Provenienz. Zugleich hat ihn sein Beharren auf der leitenden Frage nach dem bewußten Leben in Gestalt kraftvoller philosophischer Gedankenfolgen dem Ansturm naturalistischer, kommunikationsphilosophischer und systemtheoretischer Programme widerstehen lassen, die mehr oder weniger das Ziel teilten bzw. teilen, den Gedanken selbstbewußter Subjektivität als eine der Selbstaufklärung nicht mehr fähige Illusion zu entzaubern. Daß er dabei über längere Phasen in den Schlagschatten philosophischer Moden geriet, sich bisweilen nachsagen lassen muß, auf ähnliche Weise rätselhaft zu sein wie der späte Schelling und auf den albernen Zitations-Rankings – wenn überhaupt – im unteren Mittelfeld auftauchte, hat ihn nicht beirrt. Mit dieser Überzeugung von der Ursprünglichkeit der ihn leitenden Intention ist er m. E. zum mit Abstand markantesten deutschsprachigen Vertreter einer Metaphysik nach Kant geworden. Das „nach Kant“ ist dabei glei-
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chermaßen als „secundum“ und „post“ Kant zu begreifen: Die Standards der Kantischen Metaphysikkritik lassen sich nicht mehr hintergehen, so daß jede Metaphysik secundum Kant nur eine Metaphysik der Endlichkeit sein kann. Zugleich verlangt das bei Kant ungedacht und ungeklärt Gebliebene eine Überschreitung, für die sich Henrich unter Einbezug phänomenologischer und sprachanalytischer Instrumente vor allem an Fichte, Hegel und Hölderlin orientiert. Weil sich Henrichs denkerische Leistung so über weite Strecken eingelassen in eine vielfächrige Auseinandersetzung mit klassischen Traditionen und zeitgenössischen Konzepten entfaltet, scheint mir geraten, zunächst in einen kursorischen Parforceritt durch sein Gesamtwerk einzutreten, um von dort her in der Analyse jene Transparenz zu gewinnen, die eine angemessene Rekonstruktion des systematischen Zentrums seines Denkens und seiner philosophischen wie theologischen Konsequenzen erlaubt.4
3. Längsschnitt eines Denkweges Fünf Jahre nach der erwähnten frühen Promotion erfolgte in Henrichs Assistentenzeit bei Gadamer im Wintersemester 1955/56 die Habilitation. Die dem Verfahren zugrundeliegende Habilitationsschrift trägt den Titel Selbstbewußtsein und Sittlichkeit und ist bis heute nicht veröffentlicht. Folgt man dem Wortlaut der Bibliographie5 – darunter Monographien und kommentierte Editionen zwischen mehr als 800 oder 1700 Seiten –, dann spielt Theologie (mit Ausnahme des Buches Der ontologische Gottesbeweis von 1960) gemäß den Titeln im Schaffen Henrichs eine eher begrenzte Rolle. Doch nichts könnte trügerischer sein als dieser Eindruck. Von Anfang zumindest seiner Heidelberger Lehrtätigkeit an beschäftigt ihn zentral die im wesentlichen durch Kant vorgenommene Transformation der überkommenen Metaphysik einschließlich ihrer Gotteslehre in der Moral4
Einführungen und Auseinandersetzungen sehr verschiedenen Zuschnitts mit D. Henrich vgl. in Müller, Wenn ich „ich“ sage; P. B. Heider, Jürgen Habermas und Dieter Henrich. Neue Perspektiven auf Identität und Wirklichkeit, Freiburg/München 1999, dazu die Rezension von K. Müller, Theologische Revue 96 (2000), Sp. 244–245; B. Mauersberg, Der lange Abschied von der Bewußtseinsphilosophie. Theorie der Subjektivität bei Habermas und Tugendhat nach dem Paradigmenwechsel zur Sprache, Frankfurt am Main 2000; G. Hindrichs, „Metaphysik und Subjektivität“, Philosophische Rundschau 48 (2001), 1–27 (= Metaphysik und Subjektivität); R. Litz, „… und verstehe die Schuld“. Zu einer Grunddimension menschlichen Lebens im Anschluß an Dieter Henrichs Philosophie der Subjektivität, Regensburg 2002; J. Brachtendorf, „Subjektivität, Metaphysik, Religion – Dieter Henrichs Theorie der Religionen“, Theologie und Philosophie 78 (2003), 1–22 (= Subjektivität, Metaphysik, Religion). 5 Vgl. http://www.philosophie.lmu.de/mitarbeiter/henrich/ma_henrich.htm [10.1.2010].
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theologie. Nicht nur ein erheblicher Teil seiner Kant-Arbeiten bezieht diesen Prozeß ein. Seit kürzerem schiebt sich diese Forschungsperspektive bei Henrich geradezu monumental in den Vordergrund, vor allem durch seine kommentierte Edition von Immanuel Carl Diez’ Briefwechsel und Kantische(n) Schriften mit dem Untertitel Wissensbegründung in der Glaubenskrise Tübingen – Jena von 1997 im Umfang von 1090 Seiten. Diez war zu eben der Zeit Repetent am Tübinger Stift, als dort Hegel, Hölderlin und Schelling ihre ersten denkerisch eigenständigen Schritte unternahmen; Diez selbst rang – geleitet vor allem von Kant-Studien und in Kritik der herkömmlichen Theologie – um eine Konzentration auf Grundfragen der Philosophie – jetzt Henrich im Wortlaut –, „um auch in den Grundfragen der Theologie seiner Zeit einen sicheren Stand gewinnen zu können“6.
In Henrichs Edition und Interpretation werden so auf einmalige Weise die konkreten theologischen Quellkontexte der klassischen deutschen Philosophie erschlossen – und dies im übrigen mit einer Detailkenntnis der damaligen theologischen Diskussionslagen, die man innerhalb der Theologenzunft lange würde suchen müssen. Die systematische Auswertung dieser Quellen bildet den Auftakt einer zweibändigen Monumentalmonographie mit dem Titel Grundlegung aus dem Ich (Henrich 2004), in der Henrich auf bisher nicht dagewesene Weise Licht in die Reaktionen jener jungen Theologen am Tübinger Stift bringt, die, von Kants kritischer Philosophie ausgelöst, die Vorgeschichte des Idealismus bilden und schließlich jene Denkprogramme der klassischen deutschen Philosophie auf den Weg bringen, ohne die die Diskussionslagen der europäischen Philosophie und Theologie bis heute überhaupt nicht begriffen werden können. Henrich kann zeigen, wie die philosophisch-theologischen Formationsprozesse jener Jahre – unbeschadet ihrer spekulativen Kühnheit und Ranghöhe – durchgängig mit der existenziellen Selbstverständigung der Betroffenen, namentlich der Frage, ob sie evangelische Theologen bleiben und/oder Pfarrer werden können, unauflöslich verwebt sind (vgl. Henrich 2004a, 111). Untrügliches Indiz dafür ist, daß sich die Spuren der entscheidenden Weichenstellungen, aus denen zum Teil großräumige Theorieprojekte hervorgehen sollten, bis in Predigten der jungen Theologen zurückverfolgen lassen (Henrich 2004b, 1054. 1691–1692). Wen das kritische Denken Kants überzeugte und darum zu unverkürzter Rezeption bewegte, konnte nicht anders, als von seinem Glauben Abschied zu nehmen oder die tra6
I. C. Diez, Briefwechsel und Kantische Schriften. Wissensbegründung in der Glaubenskrise Tübingen – Jena (1790–1792). Hrsg. von D. Henrich. Unter Mitwirkung von J. Weyenschops. Mit Beiträgen von J. L. Döderlein, A. F. Koch, P. Schmoetten, M. Stamm, V. Waibel, Stuttgart 1997, XIII.
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genden Grundbegriffe der Theologie – namentlich den Gottesbegriff und den der Offenbarung – grundstürzend zu transformieren (vgl. Henrich 2004b, 1054, 1691–1692). Den heißen Kern dieser Debatten bildete Kants Moraltheologie in ihren beiden Stufen und für die Nach-Kantianer bald auch deren unausgeschöpft gebliebene Ressourcen. Darum kulminiert Henrichs Opus magnum in einem meisterlichen Kapitel über Die Moraltheologie auf dem Weg zum Absoluten (Henrich 2004b, 1467–1548), in dem m. E. zugleich auch die Standards einer philosophischen Theologie für heute formuliert sind. Grundlegung aus dem Ich bildet zusammengenommen mit den umfänglichen Hölderlin-Studien, wie sie Henrich vor allem in der Monographie Der Grund im Bewußtsein von 1992 (Henrich 1992)7 niedergelegt hat, „eine[...] Art von Diptychon“ (Henrich 2004a, 883, Anm. 255) zur Vergegenwärtigung des Idealismus als einer in keiner Weise ausgeschöpften Motivquelle für die Orientierung eines bewußt geführten Lebens. Die Distanz zu den damals entfalteten Programmen, die für ihre Wiederaufnahme heute unabdingbar ist, wird von der kritisch-genetischen Rekonstruktion ihrer Entdeckungszusammenhänge gewährleistet, für die Henrich den Namen „Konstellationsforschung“ (vgl. Henrich 1991, 27–46) geprägt hat. Der existenzphilosophische Impetus im Denken Dieter Henrichs macht sich aber nicht nur als Hintergrundmotiv in der Vielschichtigkeit seines Œuvres geltend. Immer wieder schafft er sich explizit und systematisch Ausdruck in Analysen und Reflexionsgängen, die um den philosophischen Glutkern selbstbewußter Subjektivität kreisen: Das beginnt einsetzend, nota bene, 1955 mit einer diesbezüglich einschlägigen 42-seitigen Rezension (vgl. Henrich 1955) der zweiten Auflage von Heideggers Kant und das Problem der Metaphysik, von der G. Hindrichs zu Recht sagt, der junge Dozent habe mit ihr den subjekttheoretischen Ansatz Heideggers von innen aufgesprengt, weil er habe einsichtig machen können, daß das Erkenntnissubjekt seine eigene Wurzel, die Einheit von Sinnlichkeit und Verstand, die Heidegger selbst kritisch gegen Kant in der Einbildungskraft hatte finden wollen, prinzipiell nicht erkennen kann – und zwar deswegen, weil dafür
7
Die von Brachtendorf aufgebotenen Einwände gegen eine Qualifikation Hölderlins als Repräsentanten einer eigenständigen philosophischen Position nehmen sich wenig überzeugend aus. Vgl. J. Brachtendorf, „Hölderlins eigene Philosophie? Zur Frage der Abhängigkeit seiner Gedanken von Fichtes System“, Zeitschrift für philosophische Forschung 52 (1998), 383–405. Vgl. dagegen die kenntnisreiche Einleitung von J. Kreutzer zu Hölderlin in: J. Chr. F. Hölderlin, Theoretische Schriften, Hamburg 1998, VII–LIII .
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„[…] das ‚Ich denke‘ sich selbst in seinen Grund übersteigen [müßte; K.M.]; das aber kann nicht geschehen, da das ‚Ich denke‘, das alle meine Vorstellungen muss begleiten können, die 8 Voraussetzung noch des erkennenden Selbstüberstiegs wäre.“
Damit sind im Grunde in diesem ersten einschlägigen Text bereits die beiden Leitmotive freigesetzt, die Henrichs Subjektreflexionen bis heute durchherrschen: Zum einen die selbst einem Heidegger (und nicht nur ihm) zur Falle gewordene Gefahr, bei der Aufklärung von selbstbewußter Subjektivität in Zirkel verstrickt zu werden, zum anderen die Unerkennbarkeit der Einheit und des Grundes von Subjektivität – Henrich spricht diesbezüglich meist von „Dunkelheit“ oder „Unverfüglichkeit“ des Auftretens von Selbstbewußtsein für sich selbst. Sofern Objekterkenntnis unabtrennbar mit Selbsterkenntnis verfugt ist, genauer gesagt: ein Selbstverhältnis mit Kant als Bedingung der Möglichkeit eines jeden Weltverhältnisses in Anschlag zu bringen ist, greift diese Dunkelheit von Selbstbewußtsein hinsichtlich des eigenen Auftretens in doppelter Weise auch noch über die unmittelbare Frage des Grundes hinaus: Denn zum einen stehen alle Einzeldinge der Welt in Ordnungsverhältnissen, ohne daß daraus die Einheit von Einzelding und Ordnung in irgendeiner Weise klar würde (denn keines von beiden läßt sich auf das andere zurückführen oder aus ihm erklären). Zum anderen tritt auch das selbstbewußte Ich in der Doppelung von weltkonstituierender Zentralinstanz und gleichzeitigem Element dieser Welt auf, als Subjekt in seiner unvertretbaren Einmaligkeit und als Person qua marginales Element in der Vielheit der Weltdinge, ohne daß die Einheit beider Auftrittsweisen ihrerseits aufgeklärt wäre. Das heißt zusammengenommen: Das Selbstverhältnis ist klar hinsichtlich seines Bestandes, weil das „Ich denke“ mit einem Moment cartesianischen Wirklichkeitswissens einhergeht, aber dunkel hinsichtlich seines Aufkommens; das Weltverhältnis ist klar hinsichtlich seiner Funktion, dunkel hinsichtlich seines Bestandes als Einheit von Einzelnem und Ordnung; die Einheit beider Verhältnisse im wirklichen Subjekt ist klar hinsichtlich ihres Bestandes, dunkel hinsichtlich ihrer Ermöglichung. Im Bannkreis der – man könnte vorsichtig sagen – Auslotung und begrifflichen Einhegung dieser gestuften Dunkelheit stehen mehr oder weniger alle Arbeiten Henrichs, die das Selbstbewußtseinsproblem behandeln. Allerdings sind es gar nicht so viele, die das unmittelbar und ausschließlich tun, gleichwohl haben diese Arbeiten, die man auch voneinander abhebbaren Entwicklungsstufen in Henrichs Denken zuordnen kann, die deutschsprachige Diskussion um Selbstbewußtsein nach 1970 im wesentlichen bestimmt. Das gilt namentlich für die Arbeit Fichtes ursprüngliche Einsicht von 1967 (Henrich 1967), mit der er das Zirkularitätsproblem in 8
Hindrichs, Metaphysik und Subjektivität, 5.
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der Aufklärung auf eine so markante Weise zur Debatte stellte und dessen Lösung Fichte zuschrieb, daß sich in einem Teil der Literatur dafür der Name „Erste und zweite Henrich-Schwierigkeit“ eingebürgert hat (wenngleich das Fichtesche wie das Henrichsche Copyright in der Sache immer wieder eingegrenzt oder in Zweifel gezogen wurden). Im Kern geht es dabei darum, daß Selbstbewußtsein nicht als Ergebnis einer Selbstreflexion zu erklären sei, weil (a) für das Zurückkommen eines Ichs auf sich dieses Ich schon vorausgesetzt werden müßte, und (b) das auf sich zurückkommende Ich unter den vielen anderen Objekten seiner Vorstellung schon von sich als sich wissen müßte, um sich identifizieren zu können. Die Aporie dieser Zirkularitäten nimmt Henrich zum Ausgangspunkt, Selbstbewußtsein als ein präreflexives Vertrautsein mit sich zu fassen, das seinerseits aus einem ichlosen oder nicht-egologischen Grund hervorgehend zu denken sei. Das ist die Quintessenz seines ersten großen Theorieversuchs von 1970 (vgl. Henrich 1970). Über eine kaum in größere Öffentlichkeit gelangte Zwischenstufe, die im wesentlichen um eine angemessenere sprachliche Fassung der Präreflexivität ringt9, kommt es dann zu einer mehrfachen Vertiefung und Weitung des Problemsyndroms von Selbstbewußtsein: Durch Einbezug von Kantischen Reflexionen wird die Stellung des Subjekts gegenüber der Welt weiter geklärt, der Einbezug Hegelscher Operationen erlaubt eine präzisere Beschreibung der Stellung des Subjekts in der Welt und durch die Ausarbeitung der seit der Stoa erfaßten und durch Hobbes radikalisierten Verknüpfung von Selbstbewußtsein mit dem Gedanken der Selbsterhaltung erhält der Gedanke der Unverfüglichkeit des eigenen Grundes von Selbstbewußtsein für dieses eine Tiefenschärfe, über die er vorher noch nicht verfügte und die nicht folgenlos bleibt: Denn zum einen kommt es dadurch zu einer Neuverortung des Subjektgedankens in der Philosophie der Moderne insgesamt – was sich erhalten muß und nicht über das eigene Auftreten verfügt, kann kein Herrschersubjekt sein, auch wenn ein Heidegger, ein Lévinas und etliche Theologen das unentwegt wiederholen. Zum anderen steigert dieser Konnex die Sensibilität dafür, daß sich philosophisch zumindest ein Stellen der Frage nach dem Wovonher des Aufkommens selbstbewußter Subjektivität aufdrängt. Nicht zuletzt Henrichs Hölderlin-Arbeiten spielen dabei eine tragende Rolle.10 Jahre zuvor schon waren wesentliche Motive aus ihr zusammen mit den drei genannten anderen Strängen in einen erneuten Theorieversuch eingegangen, der zugleich programmatisch zumindest andeutete, in welche 9 Vgl. dazu die Wiedergabe von unpubliziert gebliebenen Henrich-Textpassagen in M. Frank, Zeitbewußtsein, Pfullingen 1990, 114–125. 10 Vgl. dazu ausführlicher K. Müller, „Gedanken zum Gedanken vom Grund. Dieter Henrichs Grenzregie der Vernunft an der Schwelle zur Gottesfrage“, Wiener Jahrbuch für Philosophie XL (2008), 211–227.
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Richtung sich für Henrich überhaupt die Suche nach einer umfassenden Theorie von Selbstbewußtsein und damit einer Formbestimmung bewußten Lebens bewegen müßte – wenn denn überhaupt eine solche Theorie sollte entfaltet werden können. Der Essay Selbstbewußtsein und spekulatives Denken von 1982 (Henrich 1982d) endet mit einem Satz, der einerseits fast wie ein Versprechen klingt, andererseits aber auch so etwas wie einen zur Aufmerksamkeit gemahnenden Ton anschlägt: „In einer Zeit, die von der fortschreitenden Wissenschaft und der verfeinerten Begriffsanalyse entweder theoretisches Heil erwartet oder die endgültige Befriedung und Befriedigung in theoretischer Enthaltsamkeit, muß der Kantische Imperativ ‚sapere aude!‘ das ‚speculari aude!‘ betont in sich aufnehmen: Habe den Mut, über Deine Welt hinauszudenken, um sie und zumal Dich selbst in ihr zu begreifen.“ (Henrich 1982d, 181)
Die kulturelle Entwicklung in der Folgezeit seit Mitte der 80er Jahre des 20. Jahrhunderts sollte der Sorge, die sich da im Appell an den Mut zur Spekulation im Sinne eines philosophischen Hinausdenkens über die Welt bekundet, sein gutes Recht geben. Längst nämlich ist so etwas wie eine Inflation subjektivitätstheoretischer Einlassungen diversester Couleur und Provenienz im Gange, die Henrich nicht ohne Ironie als gegenwendigen Pendelschlag zur Konjunktur von wie auch immer angelegten Naturalisierungsprogrammen interpretiert, wenn er schreibt: „Betont lässige Indifferenz, auch gegen jedes sich Mühen um Begründungen, und die Bereitschaft zur Unterwerfung in einer der Sektenreligionen des Selbst sind somit zwei Ausdrucksformen ein und derselben Bewußtseinslage.“ (Henrich 1998, 54)
Unvermindert stellt er darum solchen Subjektivitätssurrogaten Grundlagenbesinnungen entgegen, die die klassischen Traditionsressourcen kritisch aneignen wie gleichermaßen zeitdiagnostisch sensibel auf ihre Anschlußfähigkeit an neue Herausforderungen vernünftiger Selbst- und Weltbeschreibung achten, wie sie etwa die alles durchherrschende Medialität oder aber der gentechnische Komplex heraufführen. In diesem Sinne hat Henrich Subjektivität als Prinzip (Henrich 1999a) entfaltet und dann das in diesen Grundsatzüberlegungen anvisierte Potential vernunftgeleiteter Humanität in einer Vorlesungsreihe mit dem Titel Versuch über Kunst und Leben (vgl. Henrich 2001) breit entfaltet (vgl. vertiefend Henrich 2003). Die philosophische Ästhetik gehört dabei unabtrennbar ins Zentrum von Henrichs Subjektgedanken, sofern Kunst deswegen im menschlichen Leben Resonanz (Henrich 1999a, 72; ders. 2001, 9. 23) findet, weil weder Welt noch Subjektivität selbstexplikativ sind und die sie durchherrschenden konfligierenden Tendenzen, aus denen die schon genannte komplexe Dunkelheit in der Verfassung des Subjekts, der Welt und im Verhältnis beider hervorgeht, im geglückten Kunstwerk symbolisch zum Austrag kommen – was eben umgekehrt bedeutet, daß die ästhetische Reflexion
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Medium einer das Ganze im Fragment gewärtigenden Selbstaufklärung von Subjektivität werden kann. Die nicht-selbstexplikative Subjektivität weist dabei nicht nur auf eine Welt, sondern gleichermaßen auf einen Grund ihres Hervorgangs hin, der sich freilich, wenn sie auch hinsichtlich ihrer eigenen Verfassung nur näherungsweise beschrieben werden kann, „[…] in keine Art von Präsenz bringen lässt, die es dann ermöglichen würde, einen Aufweis oder einen Beweis in Gang zu bringen. Den Grund in eine Präsenz zu ziehen würde nämlich bedeuten, daß die wissende Selbstbeziehung hintergangen werden könnte, was wiederum voraussetzt, daß sie zunächst einmal adäquat zu explizieren wäre.“ (Henrich 2001, 56)
Unter dieser epistemischen Hypothek tritt die Frage des Grundes von Subjektivität in Subjektivität als Prinzip und in Versuch über Kunst und Leben nachgerade gebieterisch in den Vordergrund. Und schon zuvor hatte Henrich in einer Thesenreihe von 1995 diesen Zug seiner Subjekterkundung auf den durchaus zeitgeistwiderständigen Nenner gebracht, daß von Gott zumindest sollte sprechen können – jetzt wörtlich – „wem die Philosophie von dem Ort, an dem die Fragen an der Grenze des Wissens bewegt werden, nicht zu irgendeiner Spezialität unter anderen geworden oder vielmehr heruntergekommen ist.“ (Henrich 1997, 10)
Das überspringt keineswegs, daß auf diese Weise nur ein Gottesgedanke entfaltet werden kann, hinsichtlich dessen die Frage offen bleibt, ob ihm auch eine bindende Realität zuzusprechen sei, wenngleich philosophisch auch noch darüber nachzudenken ist, von woher diese Frage eine Beantwortung erfahren könnte (Henrich 1997, 12). Aber selbst das darf nicht so verstanden werden, als suchte Henrich in einer Art gütiger Altersmilde die Nähe zu Denkfiguren christlicher Theologie, nachdem er schon in einem Essay von 1982 sehr unmißverständlich kenntlich gemacht hatte, daß er eine wirkliche Versöhnung der beschriebenen konfligierenden Tendenzen in der Welt- und Selbstbeschreibung letztlich nur der spekulativen Philosophie zutraue und allenfalls eine Konvergenz zwischen dieser und der monistischen Grundstruktur fernöstlicher Religionen erkenne, dagegen die theistischen Traditionen im wesentlichen für verschlissen halte (vgl. Henrich 1982c). Die so respektvolle wie unnachgiebige Rückfrage, die er diesbezüglich jüngst an seinen Freund und Opponenten Michael Theunissen richtete, der eine angemessene Antwort auf die Frage, was der Mensch sei, im Ende chronotheologisch an die durch die christliche Tradition vergegenwärtigte Dimension eschatologischer Hoffnung bindet, läßt das unzweideutig sein (vgl. Henrich 2002)11, wenn er repliziert: 11 Vgl. dazu auch M. Theunissen, „Der Gang des Lebens und das Absolute. Für und wider das Philosophiekonzept Dieter Henrichs“, Deutsche Zeitschrift für Philosophie 50 (2002), 343–362.
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„Ich denke, daß doch alles dafür spricht, die Bahn des Zeitdenkens nicht so zu fixieren, daß den Menschen angesonnen werden muß, ihr gesamtes Dasein in eine Zukunfterwartung zu konzentrieren, deren Erfüllung ein Leben nach dem Tode voraussetzt und die schon deshalb für sie niemals schlechthin gewiß werden kann. Die Erwartung könnte beruhigter aus einer Gegenwart des Lebens und der in ihr gelegenen Gewißheit hervorgehen, die auch von Erfahrungen bestimmt ist, welche nicht in einer letzten Analyse vor dem Bild wahrhafter Erfüllung als eitel und nur notbeladen abzuwerten sind.“ (Henrich 2002, 39)12
In der Leopold-Lucas-Preisrede von 2008 wird diese Möglichkeit präsentischer Lebensvollendung in Gegenüberstellung zur christlichen Eschatologie der Auferstehung wie zugleich zum Naturalismus vertieft ausgelotet und affirmiert. Allerdings handelt es sich bei dieser existenzphilosophischen Ortsbestimmung und ihren religionsphilosophischen Konsequenzen keineswegs um eine mehr oder weniger dezisionistische Option (vgl. Henrich 2004c). Vielmehr ergibt sich diese Wendung in Henrichs Subjektmetaphysik aus deren Genesis und dem Aufkommen einer auf die Selbstbeschreibung in „letzten Gedanken“ bezogenen Wahrheitsfrage, die so lange unabweislich ist, als ein Subjekt seinem Dasein in der Welt in irgendeiner Weise Bewandtnis zuerkennt (vgl. Henrich 2001, 40).
4. Der Gang in die All-Einheit Zu selbstbewußter Subjektivität gehört für Henrich das unhintergehbare Wissen, nicht aus sich selbst begreifbar und eben dadurch auf nicht mehr abzudrängende Weise auf die Frage nach einem Grund der wissenden Selbstbeziehung verwiesen zu sein.13 Die Tatsache, daß sich das Ganze 12 In einer freien Replik auf den Vortrag Theunissens [vgl. Theunissen 2002] bei einem Symposion zum 75. Geburtstag Henrichs im Juli 2002 in München hat Henrich in bewegendem Ernst erklärt, er habe deswegen nicht Theologe sein können, weil es ihm unmöglich war, in einer solchen Exklusivität wie „der christliche Theologe Theunissen“ den Gedanken geglückten Lebens so exklusiv wie dieser an das Eschaton zu binden. – Kritische, wenn auch wohl nicht radikal genug durchgehaltene Anfragen an Theunissen vgl. diesbezüglich bei S. Scharf, Zerbrochene Zeit – gelebte Gegenwart. Im Diskurs mit Michael Theunissen, Regensburg 2005. – Wie sich der Ausschluß jeglichen präsentischen Versöhntseins ohne ein theologisches Widerlager wie bei Theunissen ausnimmt, vgl. in Gestalt der tragizistischen „theoria negativa“ (27) einer schwarzen Absenz-Metaphysik bei Hindrichs, Metaphysik und Subjektivität, 25–27. Wohin aber in ihr mit jenem Hauch von Versöhntheit, der doch auch zu bewußt gelebten Leben – selbst noch in Situationen der Not oft – gehört? – Eine frappante und philosophisch folgenreiche Parallele zu Henrichs Votum für das Präsens geglückten Lebens findet sich im Werk von Leo Strauss und seinem lebenslangen Ringen um das Verhältnis von Offenbarung und Philosophie. Vgl. dazu H. Meier, Das theologisch-politische Problem. Zum Thema von Leo Strauss, Stuttgart 2003, bes. 69–70. 13 Vgl. Müller, Wenn ich „ich“ sage, 539–552.
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von Selbstbewußtsein nicht von einer Analyse seiner Teilmomente her rekonstruieren läßt, andererseits aber auch die etwaige Annahme eines Schöpfungsaktes durch die Unterstellung eines schaffenden Subjekts von grundsätzlich derselben Wissensart (vgl. Henrich 2009, 95) das Problem nur verschieben würde, legt nahe, Selbstbewußtsein auf eine gründende Instanz noch komplexerer Verfassung als die eigene, zu erklärende Subjektivität zurückzuleiten. Unter dieser Voraussetzung gilt: „Wir können in der deskriptiven Einstellung nicht über die Grenzen dessen hinauskommen, was uns durch die Verfassung unseres Wissens vorgegeben ist. In ihr ist aber die wissende Selbstbeziehung von prominenter Bedeutung, [... aber; K.M.] wir können nicht erwarten, daß sie uns dazu instand setzt, sie aus dem Grunde, den wir ihr voraussetzen, Schritt um Schritt herzuleiten. Können wir sie doch, wie sich erwies, schon ihrer Verfassung nach nur annäherungsweise beschreiben. Ein Grund des Wissens von mir, wie immer er zu fassen ist, läßt sich überhaupt nur als eine Hypothese denken, die aber in keiner Verifikation zur erwiesenen Erkenntnis zu wandeln ist.“ (Henrich 1999a, 65)
Das bedeutet: Einerseits muß der dem Selbstbewußtsein vorauszusetzende Grund einem gegenständlichen Erkennen entzogen sein, weil sein Auftreten in Gestalt einer Präsenz ein Hintergangen-werden-Können der wissenden Selbstbeziehung implizierte (vgl. Henrich 2001, 56. 148). Andererseits gilt aber genauso, daß durch den Gedanken vom gründenden Grund der wissenden Selbstbeziehung „[...] eine weitere Klasse von Wirklichem definiert [ist; K.M.], und zwar eine solche, zu der sich das seiner selbst bewußte Leben allein aufgrund dessen in ein Verhältnis setzen kann, daß es sich als nicht seiner selbst schlechthin mächtig versteht.“ (Henrich 1999a, 69)
Unbeschadet seiner eben erläuterten Hypothetizität erweist sich der Gedanke vom Grund kraft der Verfaßtheit des ihn notwendig auf sich ziehenden Selbstbewußtseins aufs Engste mit dem Wirklichkeitswissen verfugt, das es selbst charakterisiert. Kraft dessen, daß es uns als Subjekte überhaupt nur dadurch gibt, „daß wir in unseren Gedanken und kraft ihrer für uns wirklich sind“ (Henrich 2001, 36),
gehört die wissende Selbstbeziehung inklusive ihres Gedankens vom Grund, der – weil nicht gegenständlich – nur ein „Grund im Bewußtsein“ (Henrich 1992, vgl. Ders. 2001, 272–273) sein kann, zu jenen Denkbewegungen, die – wie nach einem Diktum Theodor W. Adornos wohl alles Philosophieren, das wirklich ein solches ist – um den ontologischen Gottesbeweis kreisen.14 Insofern verdankt sich auch die erneute Zuwendung Henrichs zum Anselmischen Argument von 2007 in Selbstbewusstsein und Gottesgedanke (Henrich 2010) nicht einem wie immer gearteten histori14
Vgl. Th. W. Adorno, Negative Dialektik, Darmstadt 1998, 378. – Vgl. die Aufnahme dieses Topos in Henrich 1999, 205.
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schen Interesse, sondern der Bemühung um eine weitere Vertiefung der Theorie bewußten Lebens. Henrich selbst erinnert daran, daß er mit seinen Erwägungen zum Grund von Selbstbewußtsein, die nicht einfach die Frage nach der Realität dieses Grundes beantworten, wohl aber ein Nachdenken implizieren, „von woher diese Frage erwogen und beantwortet werden mag“ (Henrich 1997, 12), an eine Debatte anschließt, die schon Kantianer zu Zeiten ihres Namensgebers in Anschluß an dessen mehrstufige (und nie wirklich zum Abschluß gebrachte) Moraltheologie (vgl. Henrich 2004b, 1501–1548) umtrieb: ob Kants These, daß wir unbeschadet des Ausschlusses gegenständlicher Erkenntnis des Absoluten und entsprechender Beweise zu notwendigen Annahmen über es kommen müssen, nach sich zieht, daß diese Annahmen unter ein „als ob“ zu stellen und mithin als „[...] unausweichliche und zugleich lebensspendende und nur als solche wohlmotivierte Fiktionen“ (Henrich 2001, 60)
zu behandeln seien. Oder ob – etwa mit Fichte – dafür zu votieren sei, daß Überzeugungen so tiefreichender Lebensbedeutung, durch die sich überdies alle anderen Überzeugungen zu einem Ganzen fügen, gegen einen solchen Vorbehalt ein Wahrheitssinn zuzusprechen oder – je nach dem – abzuringen sei. Diese Frage nach der Wahrheit von Fiktionen legt sich dadurch nahe, daß selbst noch den entschiedensten Distanzierungen von einem letzten gründenden Wirklichkeitsgehalt Auskunft darüber abverlangt ist, „aus welchem Leben sie hervorgehen und was es heißen würde, in ihrem Sinne ein Leben zu führen“ (Henrich 1999a, 43),
weil das Leben, auf das solche Distanzierungen bezogen sind und aus dem die an diese anschließenden Fragen aufkommen, kraft seiner Bewußtheit um sich und darin um sein Wirklichsein weiß. Wenn es sich bei der Fiktion nicht einfach um eine Funktion im Dienst eines bestimmten Zwecks handelt, sondern um so etwas wie einen Abschlußgedanken, in dem sich sammelt, was ein bewußtes Leben als solches bewegt, dann kommt es, wenn Subjektivität sich nicht selbst dementiert (vgl. Henrich 2001, 61), zu einer Wirklichkeitskontinuierung zwischen dem, was ist und wahr ist, und dem, was um dieses Wahr- und Wirklichseins willen angenommen wird. Der Wahrheitssinn des cartesianischen Moments selbstbewußter Subjektivität greift über auf die „letzten Gedanken“, in die diese sich einschreibt in dem Maß, in dem sich solche Gedanken als Träger eines mit sich in seinem Gang versöhnten Lebens bewähren. Natürlich ist damit keine metaphysische oder gar religiöse Einsicht erschlichen, denn: „Ein solcher Wahrheitsbezug, in den sich das bewußte Leben als solches einfügt, kann nur dadurch eintreten, daß es die Synthesis aller seiner Lebenstendenzen, die es zunächst als ei-
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gene Leistung zu vollziehen hat und erfährt, zuletzt als Vollzug eines Geschehens begreift und neu orientiert, in das alle seine eigenen Vollzüge einbegriffen sind.“ (Henrich 1999b, 148)
Das besagt: Wahrheit kann Fiktionen nur im Horizont einer holistischen Denkform zugesprochen werden, einer also, die alle theoretischen und praktischen epistemischen Leistungen und damit alle Weisen von Wissen im Letzten in einer Ganzheit von Verstehen zusammenführt (vgl. Henrich 2001, 61–62). Aus dieser veritativen Logik legt sich von selbst nahe, daß eine solche Form der Selbstverständigung bewußten Lebens dazu hinleitet, den gründenden Grund von Subjektivität in Gestalt eines wirklichkeitsverbürgenden Gedankens monistischer All-Einheit zu fassen.15 Jedenfalls sieht sich Henrich durch seinen existenzphilosophischen Impetus auf diesen Weg geleitet und dafür zusätzlich dadurch ermutigt, daß sich in diesem Zusammenhang aus subjekttheoretischer Quelle anderweitig kaum oder nicht zu gewinnende Aufklärungen über das Aufkommen, die Struktur, die Differenz und Strittigkeit der großen Religionen gewinnen lassen (aber das ist ein eigenes Thema für sich).16 Wird so in einer von Parmenides und Heraklit herkommenden und über Spinoza und die Tübinger Frühidealisten führenden Spur das Endliche in einem Unbedingten einbegriffen gedacht, muß auch die intrinsische Konsequenz dieses Gedankens mitbejaht werden: „Was wirklich als das Absolute gedacht wird, kann zu endlichem nicht in einer Relation von einem zum anderen stehen. Denn dann hätten beide aneinander eine Grenze, und es widerspräche sich, eines der Relata für absolut zu erklären. Wenn also nicht nur von dem einem Absolutem (sic!), sondern auch von Endlichem muss gesprochen werden können, dann wird das Endliche dem Binnenbereich des Absoluten zugeschrieben werden müssen.“ (Henrich 2009, 97)
Denkbar ist eine solche Lösung freilich nur, weil das All-Einheitsdenken derart verfaßt ist, daß es gerade nicht alles Bestimmte, Differenzierte verschwinden läßt, wie Kritiker gern (und ohne Beleg) behaupten. Es wird geleitet von der transzendentallogischen Intention, Differenz nicht als ein 15 Brachtendorfs diesbezüglicher Dezisionismusverdacht [vgl. Brachtendorf, Subjektivität, Metaphysik, Religion, 17–22] greift deshalb ins Leere, erst recht die These, Henrich habe mit der Subjekt-Person-Differenz eine philosophische Theoriefrage in eine Lebensfrage umgedeutet – die Präsenz dieses Antagonismus bei F. Hölderlin, Th. Mann, E. Cioran oder J. Updike etwa spricht eine ganz andere Sprache. 16 Vgl. dazu vorerst: K. Müller, „Konstrukt ,Religion‘. Religionsphilosophischer Vorschlag zur Behebung eines religionstheologischen Defekts“, in: J. Quitterer/A. Schwibach (Hgg.), Der Aufgang der Wahrheit. Die Konstruktion der Wirklichkeit, Zagreb 2001, 31–51; K. Müller, „Überhangpotentiale. Über das genuine Profil von Religion in der philosophischen Moderne und seine theologische Verständigungskraft“, in: K. Dethloff/L. Nagl/F. Wolfram (Hgg.), Religion, Moderne, Postmoderne. Philosophischtheologische Erkundungen, Berlin 2002, 321–343.
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Ursprüngliches in Geltung zu setzen, weil diese nur auf der Folie einer Einheitsintuition überhaupt in seiner begrifflichen Struktur und Leistung faßbar wird, dabei aber schon kraft des „All-“ in der „All-Einheit“ eben Vieles eingeschlossen zu denken und in seiner Vielheit nicht auszulöschen (sonst bräuchte man gar nicht von „All-“ zu reden!). Und wenn so das Viele von Wesen simultan mit dem auftritt, was über alle Differenzen hinaus greift als All-Eines, aus dem die Vielheit des Einzelnen überhaupt erst hervorgeht, ist dieses All-Eine in jedem Moment des Auftretens der Einzelnen der Vielheit in diesen gegenwärtig und verleiht ihnen zugleich in ihrer Einzelheit eine Bedeutung, „die auf nichts anderes relativ ist.“ (Henrich 2006, 72–106, vgl. Henrich 2009, 97) Dies geschieht genauer gesagt dadurch, daß die Einzelnen in ihrer je eigenen Verfassung dem korrespondieren, was die Einheit am All-Einen charakterisiert, weil dieses die Einzelnen sonst nicht einschlösse, sondern nur zusammenfaßten (vgl. Henrich 2007, 267–269). Dieses Einende von All-Einem und Einzelnen liegt nachgerade auf der Hand, weil es bereits von der Beschreibung des Ganzen als eines All-Einen impliziert wird: „Das All-Eine ist jenes selbstgenügsame Eine, das sich ursprünglich in Alles differenziert hat oder kraft seines Wesens ursprünglich in Alles differenziert ist. Diese Selbstdifferenzierung ist die Eigenschaft, die an die Stelle der ursprünglichen Differenz zwischen der Einheit und den Vielen getreten ist. […] Die Vielen sind in ihm als dem All-Einen eingeschlossen und daher mit ihm von der grundsätzlich gleichen Verfassung. Daraus folgt ganz unmittelbar, dass den im All-Einen eingeschlossenen Vielen gleichfalls die Eigenschaft der Selbstdifferenzierung zugesprochen werden muss.“ (Henrich 2007, 269f.) –
das macht den Selbststand der Einzelnen im All-Einen aus und vollzieht sich kraft deren Endlichkeit als Selbsterhaltung. Kommt die alternative Option einer Ursprünglichkeit der Differenz17 auch zu einer solchen Nobilitierung des Einzelnen (was sie doch eigentlich prätendiert)? Mir will scheinen: Nein! Darum kann gerade die All-Einheit auch dem schärfsten aller Argumente, dem Schwert der Theodizee, standhalten: „Auch die Hinfälligkeit des Einzelnen und sein Gang in ein Ende, das ihm für definitiv gilt, werden vom Gedanken der All-Einheit nicht aufgehoben. Selbst das Leid und die Angst in diesem Vergehen werden von ihm nicht abgestoßen, sondern umgriffen. Denn dass das Einzelne seinen Ort im All-Einen hat, bedeutet nicht das Dementi, sondern die definitive Bestätigung seiner Endlichkeit, die wiederum sein Vergehen und somit alles einschließt, was das Endliche in seinem Vergehen befällt. Insofern bleibt dieser Erfahrungsart immer etwas gemeinsam mit dem Bewusstsein vom Ausstand der Bergung des bewussten Lebens – wenn denn solche Bergung nur das sein könnte, was in den Religionen Erlösung und Beseligung heißt.“ (Henrich 2006, 104) 17
Philosophisch denke ich diesbezüglich an E. Lévinas, theologisch etwa an die einschlägigen Überlegungen bei M. Striet, „Antimonistische Einsprüche im Namen des freien Gottes“, in: K. Müller/M. Striet (Hgg.), Dogma und Denkform, Regensburg 2005, 111–127.
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Wer im christlich-theologischen Raum nach affirmativen Korrespondenzen dieses philosophischen Gedankens suchte, könnte etwa beim Cusaner, bei Teresa de Jesus, Wladimir Solovev, Karl Rahner, Alfred Delp und Jochen Klepper fündig werden, um willkürlich nur einige zu nennen.18 Sofort sei eingeräumt, daß, wer solchermaßen ein Stück monistischen Weges von Parmenides/Heraklit bis Platon und dann nochmals von Spinoza bis Hegel mitgeht, ein – so Henrich wörtlich – „Warnzeichen zu beachten“ (Henrich 2007, 266, vgl. 265–266) hat: daß jedes Begreifen des einzelnen Subjekts aus einer solchen ursprünglichen Einheit dem Subjekt nur dann einen Lebenssinn aufschließt, wenn seine Hinfälligkeit darüber nicht gleichsam durch Verunendlichung überblendet, sondern gerade in dieser wahrgenommen und festgehalten wird (vgl. auch Henrich 2009, 99). Eben dies aber wird jenen leicht fallen, die die basalen Intuitionen des Christlichen, namentlich die Bilder einer inkarnatorischen Homiletik mit sich führen. Nichts steht eindringlicher für jene Fragilität des Einzelnseins als die Ikonen von Betlehem und Golgota. Ohne das Richtmaß ihres semantischästhetischen Potentials kommt kein theologischer Monismus aus. Umgekehrt aber kann ohne Monismus der hinter diesen Potentialen stehende christomorphe Gottesgedanke nicht jene Universalität entfalten, die er seit Anbeginn theoretisch wie praktisch beansprucht, denn erst in seinem Licht gewinnen biblische Dicta wie jenes „die Welt ist durch ihn geworden“ (Joh 1, 10) oder das „in ihm wurde alles erschaffen“ (aus Kol 1, 16) einen Sinn, der den Titel „ontologisch“ verdient. Eine Theologie freilich, die sich selbst ernst nimmt, wird nicht umhin können, für die ontologischen Verpflichtungen, die sie mit ihrer Gottrede eingeht, auch intellektuell aufzukommen.
Literaturverzeichnis Primärliteratur Adorno, Th. W., Negative Dialektik, Darmstadt 1998. Henrich, D., Die Einheit der Wissenschaftslehre Max Webers, Tübingen 1952 (= Henrich 1952). Ders., „Über die Einheit der Subjektivität“, Philosophische Rundschau 3 (1955), 28–69 (= Henrich 1955). Ders., Der ontologische Gottesbeweis, Tübingen 1960 (= Henrich 1960). Ders., Fichtes ursprüngliche Einsicht, Frankfurt am Main 1967 (= Henrich 1967). Ders., „Selbstbewußtsein. Kritische Einleitung in eine Theorie“, in: R. Bubner/K. Cramer/R. Wiehl (Hgg.), Hermeneutik und Dialektik. Aufsätze I. Methode und Wissenschaft, Lebenswelt und Geschichte. Tübingen 1970, 257–284 (= Henrich 1970).
18
Belege vgl. in Müller, Streit um Gott, 245.
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Sekundärliteratur Brachtendorf, J., „Hölderlins eigene Philosophie? Zur Frage der Abhängigkeit seiner Gedanken von Fichtes System“, Zeitschrift für philosophische Forschung 52 (1998), 383–405.
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Autorenverzeichnis Emil Angehrn Professor für Philosophie an der Universität Basel. Johannes Brachtendorf Professor für Philosophische Grundfragen der Theologie an der Eberhard Karls Universität Tübingen. Markus Enders Professor für Christliche Religionsphilosophie an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg im Breisgau. Norbert Fischer Professor für Philosophische Grundfragen der Theologie an der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt. Jean Greisch Professor für Religionsphilosophie und Katholische Weltanschauung (Guardini Professur) an der Humboldt-Universität zu Berlin. Jens Halfwassen Professor für Philosophie an der Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg. Stephan Herzberg wissenschaftlicher Assistent am Lehrstuhl für Philosophische Grundfragen der Theologie an der Eberhard Karls Universität Tübingen. Branko Klun Professor für Philosophie an der Universität Ljubljana. Anton Friedrich Koch Professor für Philosophie an der Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg. Klaus Müller Professor für Philosophische Grundfragen der Theologie an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster. Harald Schwaetzer Professor für Philosophie an der Alanus Hochschule für Kunst und Gesellschaft, Alfter bei Bonn.
Personenregister Abel, G. 163 Adorno, Th. W. 228 Aertsen, J. A. 110 Anaxagoras 24, 29 Anaximander 29 Angehrn, E. 5, 15–33, 39 Anselm von Canterbury 91, 124, 228 Aristoteles 1, 5f., 8, 16f. , 22–24, 32, 35–59, 68, 71, 88, 94, 114f., 117, 129, 200 Arnou, R. 77 Augustinus 4, 7f., 83–108, 119, 124, 127, 132, 158
Diez, I. C. 221 Dillon, J. M. 70 Dionysius Ps.-Areopagita 127, 139 Dodds, E. R. 70 Dörflinger, B. 92 Drecoll, V. H. 83, 85
Basilius 127 Beierwaltes, W. 61, 71f., 76–78, 120– 122, 125, 130–132 Bernasconi, R. 211 Bernhard von Clairvaux 124 Blumenberg, H. 72, 170 Bocken, I. 140, 143f. Boethius 43, 118, 127 Bormann, K. 63, 70 Brachtendorf, J. 1–13, 197, 220, 222, 230 Breton, St. 10, 158, 166–169, 174 Buber, M. 2
Feldmann, E. 88 Ferejohn, M. 42 Ferwerda, R. 72 Fichte, J. G. 220, 224, 229 Fischer, N. 7, 83–108, 203 Flasch, K. 64f., 83, 128f., 145 Foucault, M. 120 Frank, M. 224 Frede, M. 50 Frost, St. 144
Cassirer, E. 169 Chalier, C. 212 Charrue, J.-M. 70 Code, A. 44 Conche, M. 160 Curd, P. 23f. D’Amico, C. 138, 153 Delhom, P. 211 Delp, A. 232 Demokrit 29 Derrida, J. 10, 120, 166, 213 Diels, H. 18, 23
Eckhart 3, 8f., 109–136, 144–149 Empedokles 16, 29 Enders, M. 9, 109–136 Eriugena, Johannes Scotus 127, 141 Esterbauer, R. 205 Eyck, Jan van 141
Gadamer, H.-G. 63, 90, 219f. Gaiser, K. 66 George, St. 164 Gerson, L. P. 50 Goethe, J. W. 91f., 161 Goris, W. 118, 124f. Graeser, A. 68 Gregor von Nyssa 127 Greisch, J. 10f., 157–176 Günther, A. 217 Hager, F.-P. 40 Halfwassen, J. 6, 61–82, 111f., 114, 129, 135 Hartmann, N. 84, 103
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Personenregister
Hegel, G. W. F. 4, 11, 19, 75, 135, 157, 161–163, 177–198, 220f., 224, 232 Heidegger, M. 4, 11, 19, 85–87, 97, 158, 161f., 165f., 172, 193, 195f., 200f., 204, 206, 213, 222–224 Heider, P. 220 Henrich, D. 3, 11, 13, 192, 217–234 Heinrich, K. 26 Heraklit 10, 15f., 30, 158–161, 196, 230, 232 Herzberg, St. 1–13, 35–59 Hesiod 21 Hindrichs, G. 220, 222f., 227 Hobbes, Th. 224 Hölderlin, F. 120, 161f., 220–222, 224, 230 Homer 21 Horn, Chr. 68, 70 Huber, G. 74f. Huizing, K. 207 Husserl, E. 166, 200 Hutter, A. 170 Iber, Ch. 30 Imbach, R. 111–115 Ivánka, E. v. 86 Jaeger, W. 47f. Jaspers, K. 72 Kant, I. 4, 10, 13, 63, 83, 86f., 89, 92, 94, 99, 103–105, 157, 159, 169–173, 181f., 184, 190, 192, 194, 203, 219– 223, 225, 229 Kany, R. 104 Kierkegaard, S. 205 Kleist, H. 83f. Klemens von Alexandrien 159 Klepper, J. 232 Klun, B. 12, 199–215 Koch, A. F. 11, 177–198 Kobusch, Th. 110 Krämer, H.–J. 62, 64, 66, 73 Kranz, W. 18, 23 Krause, K. C. F. 218 Krewani, W. 207 Kreutzer, J. 222 Lacrosse, J. 76f. Leibniz, G. W. 171
Lévinas, E. 4, 12, 84, 87, 174, 199– 215, 224, 231 Leukipp 29 Litz, R. 220 Lloyd, A. C. 57 Luther, M. 84f. Lyotard, J.-F. 120 Maimonides, M. 9, 125, 128f., 134 Mansfeld, J. 18, 28 Marion, J.-L. 120, 157, 174 Marius Victorinus 72, 127 Mauersberg, B. 220 Meier, H. 227 Meijer, P. 61 Mendelssohn, M. 169 Müller, K. 13, 192, 217–234 Nef, F. 165 Nietzsche, F. 10, 16, 22, 26, 28, 84f., 162–164, 167, 174 Nikolaus von Kues 3f., 9f., 93, 104, 137–156 O’Connell, D. 143 Oehler, K. 76 Owen, G. E. L. 40, 42 Owens, J. 47–49, 51 Pannenberg, W. 54f. Parmenides 2, 5, 15–33, 37, 39f., 61, 63, 157, 230, 232 Pascal, B. 174 Patzig, G. 45, 47f. Petrosino, S. 207 Platon 3, 5f., 8f., 16, 18, 23, 25, 29–32, 36f., 50, 54, 61–63, 65–74, 83, 90, 93f., 114, 137, 141, 150f., 170, 177, 194, 232 Plotin 3, 6, 61–82, 86, 90, 97, 126–128, 158 Proklos 72, 74f., 77, 112, 118, 126, 138, 150, 153 Rahner, K. 232 Ramnoux, C. 160f. Rapp, Chr. 39f., 43, 45 Reale, G. 62 Reinhardt, K. 149 Ricoeur, P. 166, 168
Personenregister Rilke, R. M. 91, 99 Rist, J. 77 Rosenstock, M. 173 Rosenzweig, F. 11, 157, 172–174 Schadewaldt, W. 18 Scharf, S. 227 Scheler, M. 84 Schelling, F. W. J. 11, 162, 192–194, 219, 221 Schmitz, H. 26 Schneider, W. C. 141 Schwaetzer, H. 9f., 137–156 Schulz, W. 129, 135 Seneca 124 Sokrates 30 Solovev, W. 232 Speusipp 67, 70 Spinoza, B. de 83, 192, 230, 232 Stahl, H. 143 Stegmaier, W. 169 Stephenson, G. 130 Strasser, St. 207 Striet, M. 231 Szlezák, Th. A. 39, 62, 66, 69
239
Teichner, W. 85 Tengelyi, L. 208 Teresa de Jesus 232 Theunissen, M. 21, 26, 226f. Thomas von Aquin 4, 8f., 51–59, 84, 92, 94, 103, 111, 117, 121, 200 Thomas, M. 138f. Trouillard, J. 158f. Tugendhat, E. 18f., 35f., 40 Van der Meer, M. 140 Visker, R. 212 Volkmann-Schluck, K.-H. 68 Wackerzapp, H. 145 Waldenfels, B. 211 Weber, M. 219 Wilpert, P. 145 Wippel, J. F. 58 Wolff, Ch. 172 Xenophanes 29 Zeillinger, P. 211 Zenon 21, 28, 31
Sachregister Absolute, das 2–4, 6, 9, 13, 63, 65, 69– 78, 111, 124, 218, 222, 229f. Abstraktion 17, 21, 27f., 178, 200, 202 actus purus 6, 22, 50f. Ähnlichkeit 39, 50, 54f., 56f., 71 All-Eines 13, 192, 195, 197, 231 All-Einheit 9, 13, 69, 124, 130, 132, 134, 192, 218, 227–232 Allmacht 84, 98, 103, 122f., 191 Analogie 4, 8, 45, 53–56 Andere, der 1, 12, 84f., 174, 203f., 205–207, 210 Andersheit/Alterität 4, 11f., 67, 77, 90, 140, 169, 194f., 196f., 201f., 206 Anthropologie 9, 140, 144–149, 153 Apperzeption, transzendentale 182 Aufstieg 6f., 66f., 69, 76, 96–98, 130, 142, 158 Autonomie 2, 9f., 103, 137, 140f., 151, 154 Begriff 11, 31f., 54, 177–198, 205 Bestimmtheit 6, 24, 32, 36, 45, 50f., 62f., 69–74, 78, 113, 115, 121, 133, 159, 182, 185–187, 190, 195 Bewußtsein (s.a. Geist, Selbstbewußtsein) 76f., 141, 174, 192, 200f., 207, 211 causa sui 165, 181 Christus, Christologie 7, 89, 94, 95– 105, 146 conditio humana 87 coniectura 139f., 143 Denkbarkeit 6, 61–63, 71 Determinismus (s.a. Freiheit) 83f. Dialektik 4, 11, 31f., 39, 70 – transzendentale 10, 157–175
Differenz 2–4, 10, 12, 25, 31f., 113, 120, 131, 149f., 162, 180, 199–213, 230f. eidos (s.a. Form, substantielle) 23f., 32, 38, 45, 73 Eine, das 3–6, 8, 11, 15, 27, 30f., 61– 78, 110, 117f., 120f., 124f., 133–135, 158, 160f., 167, 177, 199f., 208, 211 – absolutes/überseiendes 6, 8f., 125 – als Ursprung/Prinzip 2, 63, 66f., 72f., 118, 177 – als Ziel 2, 76, 124 – Begriff des 1f., 23, 30, 116 – seiendes 8, 68f., 73 Einheit – Begriff der 1, 12, 32, 134 – der Vernunft 10, 159, 170f. – des Verstandes 10, 159, 170 – des Begriffs 11, 177–198 Einheitsbedürfnis 63–65 Einung/Einswerdung 3, 78, 124, 131 Einzelding 45, 223 Emanation (s.a. Hervorgang) 4, 139 Endlichkeit 13, 101f., 187, 195–197, 220, 231 Erscheinung 15f., 20, 67f., 159, 170– 172, 184, 203 Ethik 2, 12, 110, 173f., 199, 202f., 210, 212f. Ewigkeit 7, 11, 89, 93f., 98, 197 Existenz 40, 50, 62f., 119, 133, 135, 177, 182 existenzphilosophisch 222, 227, 230 Fluchtpunkt 10, 172 Form, substantielle (s.a. eidos) 6, 8, 24, 32, 45, 51 Freiheit 86f., 98, 101, 173, 182, 190f. – endlicher Wesen 84, 87f., 98, 101– 105
Sachregister – Gottes 105, 190f., 212 Gegenwart 5, 21f., 66, 76–78, 100, 124, 227 Geist (s.a. Bewußtsein, Selbstbewußtsein) 72, 75–77, 111 – absoluter/göttlicher 9, 115, 122f., 125–127, 131, 134f., 177, 191 – endlicher/menschlicher 9, 88, 95, 100, 102f., 140 – Geistseele 113, 135 – Selbstentfremdung des 162f. Geschöpf 4, 7f., 10, 54–56, 58, 83f., 90–92, 94, 97f., 100–105, 110f., 113– 115, 121f., 124, 126, 132, 140, 144– 149, 152, 154 Gleichheit 10, 39, 71, 149, 152, 154, 182 Glück/Glückseligkeit 132, 173, 197, 227 Gnade 87f., 103–105, 146 Gott 1, 3f., 6–10, 29, 37, 46f., 49–58, 78, 83–105, 109–135, 141–154, 158, 165, 171–174, 190f., 208, 211f., 218, 226 – Gottesname 114f., 160f. – Gottesbegriff 83, 119, 124, 172, 222 – Gottesbeweise 73, 92, 94, 172, 220, 228 – Gottesgedanke 86, 218, 226, 232 – Gottesprädikate 111 – Wesen Gottes 99, 127, 129–131, 135 Grund 1f., 6, 8, 67, 72, 98, 135, 150– 152, 162, 169f., 208, 212, 223 – der Denkbarkeit 62f. – der Vielheit 2, 6, 66, 125 – des Seins 6, 62, 65 – des Bewußtseins/der Subjektivität 192, 196, 217f., 223f., 226, 228–230 Henologie/henologisch (s.a. Reduktion, henologische) 2–4, 119, 165–167, 173 Hervorgang (s.a. Emanation) 4, 93, 125, 127, 169, 226 Hypostase 127, 204f. Hypothese 30, 192, 194, 228 Idee 29–32, 67–69, 142, 170f., 188, 190–194
241
– absolute 4, 11, 177, 189f. – Kosmos der 8, 68f., 177, 194 – transzendentale 10f., 170–173 Identität 2–4, 25f., 31f., 39, 70, 116, 123, 126, 129, 146, 151, 154, 168, 186, 188f., 194, 207–209, 213 Inkarnation 182, 189, 191 Intellekt 9, 76, 111–115, 119, 122, 124–131, 134f., 144, 149, 152, 169, 178 Intentionalität 12, 76f., 200f., 213 Kategorien 5, 40, 99, 171, 185 Kausalität 7, 48, 84, 90, 101f., 104 Kontingenz 32, 92, 191f. Leben 13, 22, 26, 67, 75, 83f., 96, 98, 100f., 127, 130, 157, 159f., 200, 212 – bewußtes 11, 13, 192, 197, 217–232 Leiblichkeit 12, 197, 200, 207 Liebe 7, 11, 16, 77, 95–97, 124, 134, 174, 189, 191, 197 – göttliche 84f., 87, 92–94, 97f., 100, 132 Logos 15, 111, 148, 166, 168, 199, 201, 203, 209, 213 Materie 23, 38, 44f., 52, 115, 122, 126, 158f., 168 Metaphysik – als (theoretische) Wissenschaft 36– 39, 192–196 – nach Kant 219f. Mischung 18, 20f., 23, 26, 28f., 31 Monismus 5, 23f., 30, 36, 39, 46, 51f., 56, 83, 232 Mystik 78, 110, 218 Nähe 43, 213 Negation (s.a. Verneinung) 31, 55, 70f., 74f., 117, 130, 178–180, 183f., 186, 203 Nichts/Nichtsein/Nichtseiendes 5, 7, 17, 19–22, 26, 29–32, 62–65, 75, 93, 101, 117f. Notwendigkeit 26, 32, 90, 184, 190, 194, 212
242
Sachregister
Ontologie 5, 8, 12, 17, 31, 41, 44, 47, 152, 162, 196, 201, 203, 206, 209f., 213 Onto-Theologie 4, 86, 162, 165f., 172 Orientierung/Orientierungsbedürfnis 3, 10, 169, 172f., 222 Ousiologie 8, 44f., 162 Panentheismus 218 Pantheismus 144, 147, 161, 169 Partizipation 9f., 50, 57f., 137–140, 144–154 – doppelte 141–144 Phänomenologie 12, 193, 200f., 203, 213 Pluralismus 12, 29f., 36, 191, 199, 204–206, 210f., 213 Postulate 164–169, 173, 192, 194, 197 Prinzip 1f., 6, 8, 10f., 25, 29f., 35–51, 63, 65f., 72, 112, 114, 118–120, 127, 133f., 152, 158–161, 166f., 169f., 177, 179, 184, 195, 205, 211, 225f. – Begriff des 10, 35–38, 40, 166–169 Priorität 8f., 38, 65, 71, 117, 120, 204, 213 – logisch-noematische 65 – ontologische 6, 44, 47 pros hen 5, 41–58 Raum, logischer 11, 177, 182, 187 Realphilosophie 11, 189f., 194 Reduktion 12, 200 – henologische 6, 65–69, 124–126 – noologische 125f. Relation 3, 24f., 27, 42, 121, 127, 143, 208, 230 Rückkehr 7, 10, 12, 77, 96f., 125, 127, 166, 168, 184f., 188, 191, 200 Schein 1, 4, 19, 26f., 31, 159, 179, 183f. Schöpfung 4, 15, 85, 88–100, 102–105, 140, 142, 154, 189–191, 194, 212, 228 Seele (s.a. Geistseele) 2, 7, 10, 67, 76– 78, 87f., 101f., 131, 158, 171, 200 Sein 1, 4–9, 11f., 16–32, 35–37, 40, 49f., 52, 54–58, 62f., 65, 68f., 73–75, 84f., 97, 101f., 110–119, 122–126, 133, 148, 151, 160f., 165, 177–180,
183–185, 188, 190, 195f., 200–205, 208–211, 213 – Begriff des 2, 8, 17, 21, 35f., 40f., 43, 50, 73, 213 – Fülle des 22, 73, 115, 124 – Grade des 49f., 54 – Merkmale des 20–25, 40 – Weisen des 40f., 44, 49, 51, 53 Selbst, das 78, 202, 204, 208 Selbstbewußtsein (s.a. Bewußtsein, Geist) 11, 13, 63, 75f., 162f., 177, 182f., 217, 223–225, 228f. Spiegel 10, 83, 145–149, 152 Spontaneität 8, 102, 184 Subjektivität 12f., 63f., 114f., 129, 135, 141, 190, 192, 195–198, 199, 205, 207f., 210, 217–232 – ethische 207–210 – Grund der 13, 192, 223, 226f., 230 Substanz 6, 8, 22, 24, 36, 42–51, 54f., 83, 121, 153, 180, 184 Teilhabe s. Partizipation Transzendenz 3, 6, 12, 25, 57f., 66f., 73–75, 78, 126, 151, 202, 205 – absolute/echte/radikale/reine 6, 12, 70–76, 166, 201, 203f., 210f. – ethische 203, 205 Transzendentalien 8f., 23, 110, 118, 125, 131, 133 Totalität/Totalitätsdenken 4, 6f., 12, 17, 32, 68, 73f., 130f., 157, 166, 172f., 190, 199–213 Trinität/trinitarisch 11, 88, 98, 102, 104f., 127, 130, 134, 177, 182, 191 Unbedingtes s. Absolute, das Unbestimmtheit 114, 158 Unendlichkeit 70, 93, 206 Universalität 8, 12, 32, 201, 204f., 212f., 232 Universum 68, 139, 141, 168, 174, 212 Unsagbarkeit 31, 72, 159 Ursache (s.a. Kausalität) 6, 8, 36–45, 47–57, 72, 94, 112f., 123, 184 Verantwortung 12, 174, 207–210, 212 Vermittlung 5, 29f., 32, 179, 201, 203f., 218
Sachregister Verneinung (s.a. Negation) 71, 74f., 116f., 131f., 178–180, 184 Vollkommenheit 6f., 9, 50, 52, 55f., 90f., 93, 103, 112f., 115, 117f., 131f. Wahrheit/Wahrheitsanspruch 5, 16–20, 22f., 27f., 31, 52, 84, 96f., 110f., 117, 131, 140, 142, 183, 204, 227, 229f. Welt/Weltganzes 3, 7, 10, 12, 16, 58, 63, 67f., 83, 89f., 92–94, 100, 102, 139f., 142, 148, 150, 157, 160, 168, 171–174, 195f., 200, 202–205, 211, 223–227 Wesen/Washeit 24, 32, 43, 55, 62f., 68f., 72f., 75, 99, 113, 117f., 124,
243
126f., 129f., 131, 135, 177, 180, 183– 185, 189f., 193, 202 Wille 84, 90, 92–94, 103, 131, 158 – schöpferischer 85 – zur Macht 84f., 162f. Zahl 23, 68, 117–123 Zeit 7f., 11, 21f., 25, 87, 92, 95, 98, 100–105, 181, 190f., 194–197, 207, 227 – Sein der 7, 88f., 94, 100–105 Zeitlosigkeit 5, 21f., 25f. Ziel 2f., 6, 22, 50, 52, 85, 87, 94f., 98, 101, 103f., 124, 131, 185, 202, 213 Zufall 27, 190f., 196